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Full text of "Der Türmer 20.1917-18, Band 2"

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Der Türmer 

Kriegsausgabe 
Herausgeber: J. E. Freiherr von Grotthuß 


Zwanzigſter Jahrgang Band II 
(April bis September 1918) 


Stuttgart 
Druck und Verlag von Greiner & Pfeiffer 


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“THE LIBRARY 
THE UNIVERSITY 
OF TEXAS 


Inhalts⸗ Verzeichnis 


Gedichte 
ö Seite Seite 
Baͤte: Dorfrühlingsabend . . ... . . 19 Zungnickel: FGrühlingsvefe . . . . . 104 
Bauer: Zuverliht - . - .».. 22.0. 258 Koch: Junge Mutter 205 
— Beſtärkunn g 485 Koppin: Abend . nine 110 
Brauer: Frũhlings tag 64 — Sommerſe ele 458 
— Im Gras 397 Krannhals: Oſteen 4 
Britting: Der Soldaie 301 Krauß: Friede 209 
Bruch: Raſt in der Mittagswieſe 448 Leffler: Einem Toten 443 
— An eine Abendwolldte 496 Lermontoff: Das Gebel 255 
Doderer: Nachtge fühl 555 Oſtmark: Sommerwolkten 349 
Frank: Lebnskitte . . ...... 50 Seidel: Der Mutter Einkehr zu ſich ſelbſt 58 
v. Grotthuß: Die Nacht 261 — Gewißheit 249 
— Das Sträußlein aus Moos 352 Steinmüller: Nacht- Sonette 162 
Hauck: Schickſaal ls. 344 Storck: Noſegge nu 392 
— Abend 500 Anger: Nächte im Felde 550 
Heidſieck: Die Schladt . . . . . . . 16 Walter: Holde Verlockung 305 
— Wenn ich das erft wüßte! . 159 Weiß- v. Ruckteſchell: Paſſion 1 
— Grabſchrift auf ein Kriegerdenkmal 211 — Zerſtörte Heimat . . ...... 10 
Hein: Abgelöſt in den Frühling! 112 — Ewigkeiten 199 
— Sommermorgen 492: A. s 547 
Heitmüller: Richthofen 156 Zimmer: Theodor Storn i 295 
Novellen und Skizzen 
Duenſing: Knaben konzert 210 Rohde: Gedankenſplitter 76. 176 
Hein: Marzmärchen 20 Schlaikjer: Der alte voß 484 
— Ein halber Tag 296 Schmitt: Wie ih die Wunſchfee inter- 
v. Holten: Die Mutter 449 Viedte . 459 
Kohne: Konrad Nordmann 250 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland. 554 
Dauerwaree 595 Schultheis: Gibralta e 102 
Rreis: Wofür? 153 Stoſch: Des Echeneis letzte Fahrt. 59 
Lüdtke: Die Mutter auf dem Schlacht- Von dem Zungen, der ſeine Kuh an 
zt; e? 2 Een 49 Anſeren lieben Herrn verkaufte. 160 
Reifinger: Der Grübler und der Krieg 11 Weer: Feldgrau und kunterbunt. 200 
Müller: Das Einjährige ſtirbbtte . 259 Weiß w. Rudtefchell: „Ich hunn aach 
Henne. 545 e Glick geſeigůhee g 30⁴ 
Aufſätze 
An die Herren Lloyd George, Painlevé Bender: Clauſewiii z 450 
und Wilſoon n 67 — Clauſewitz zur polniſchen und belgi- 
Aus dem Briefe eines Kanoniers an ſchen Frage 509 
feine Fraùuuu)uuQſͤ 65 Biedenkapp: Braſilianerdank . . 167 


IV 


Biedenkapp: Der Vater der fäulnisfreien 
Wund behandlung 
— Bureaukratie und Auslandskunde 
Bierbrauer: Die deutſchen Kohlen; und 
Eiſenerzlagerſtätten als Macht- 
faktoren im Weltkriege 
Bley: Deutſchland oder die Angelſachſen 
Boettger Seni: Jenſeits von Schützen; 
graben und Stacheldraht i 
Corbach: Engliſch-deutſche Freundſchaft? 2 
— Wilſon und das deutſche Anſehen 
Diers: Von der Frauenfrage, wie ſie 
heute iſt 
— Was die heutige Frauenbewegung 
leiſtet, und was ihr fehlt f 
Döhler: Irland und England 
Donzow: Maze ppa in der Weltliteratur 
Duenſing: Knabenkonzert 
Eſcherich: Deutſchtum im alten Polen 
Froſt: Frauenpflichten 
Göhler: Kleinſtadtmuſit 
Gr.: Die Balten 
— Die Fünfzig jährigen 
— Polniſches Theater 
— Die Anabhängigkeitserklärung Eft- 
lands und Livlands und die ruſſiſche 
Gefahr 
— Arteilsfähigkeit 
Politik 
— Großfürft Nikolai Nitolajewitih . . 
— Drei Sadverftändige des „Berliner 
Tageblattes“ 
— Die Wolga Deutſchen 
ahnungsloſe Deutſchland 
— Chamberlain über die rumäniſchen 
Juden 
— Nervenzuſammenbrüche als Grund- 
lagen deutſcher Politik 
— Adel 
— Mehr Vertrauen 
— Der Nord im Dienſte unſerer Feinde 
Grotthuß: Deutſchlands größte Gefahr 
— UAnſere „moraliſche Offenſive“ 
Grund: Parteigeiſt und Weltpolitik 
Hadina: Weihnacht und Oſtern 
— Peter Rofegger 
Haefcke: Neuorientierung und Ver- 
ſtändigung auf deutſcher Grund- 
lage 


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Inhalts -Verzeichnis 
Seite 
Haefke: Die Berliner Akademie der 

Wiſſenſchaften und Bismarck. . 458 
— Oer Treppenwitz der Weltgeſchichte 511 
Heyck: Die Wiedererſtehung ünjexee 

Diplomatie. 51 
Hildebrand: Der Mann ohne Vaterland 111 
Smendörffer: Politik und Völkerpſycho⸗ 

Die an EEE REDNER 357 
Klein: Goethe als Regierender .. 506 
v. Kleiſt: Amerikaniſche Getreidepreiſe 302 
Klemm: Viribus uni tis 5 
v. Mackay f: Sibirien und das oft- 

aſiatiſche Problen 455 
Oehlerking: Zeſus aus Nazareth 124 
Oeſtreich: Die Kriegsorganiſation der 

Konſu menten 157 
Pfaff: Ein Kranz auf Auguſt Vilmars 

„ a Ba ee 405 
Poulimenos: Griechenland im Weltkrieg 355 
NR.: Der Einfluß der Seemacht im 

Großen Kriege 70 
Riegelsberger: Ein Schandnial auf der 

deutſchen Erde 548 
Seidl: Kriegs verlängerung 17 
Sierke: Heil- und Unheiltunft . . . 212 
Schäff: Die Wohlweislichen 481 
Schlaikjer: Das Deutſchtum in der 

deutſchen Hauptſta dee 70 
— Die Berliner Bühnen im verfloj- 

ſenen Kriegs winter 559 
Schmitt: Von der Weltgeltung des 

deutſchen Fil nis 256 
Schuber: Von Geld und anderen Dingen 195 
St : Erinnerungskrän ze 118 
— Stilwandlungen und Frrungen 122 
— Oeutſcher Kunſtſchutzx )) 460 
Storck: Frenſſens Kriegsroman 28 
— Frank Wedekind 73 
— Das deutſche Buch als Faktor in 

Weltwirtſchaft und Weltpolitik. 168 
— Elfälfifihes - - - - » >. 20... 215 
— „Notre-Dame“ als per 220 
— Ferdinand Hodler 265 
— Ein Hildebranddraſnaa 312 
— Theater und Muſik im preußiſchen 

Abgeordnetenhaune 514 
— Gedenktage (Boß. — Gebhardt. — 

Burkhardt. — Gounod.) . - . - - 565 
— Zum Tode Peter Gaſts 558 


Inhalts Verzeichnis 


Submarinus: Das feindliche Doppel- 
geſicht 
Thieme: Dermögensabgabe oder Reichs- 
ſteuer? 


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Selte 


Weer: Feldgrau und kunterbunt 


385 Wetzel: Volkslied und Kunſtgeſang. 


Beſprochene Schriften 


Mheißer: Im Oberelſa ß 220 Heuß-Rnapp: Bürgerkunde und Volks- 
Bernays: Zuſammenhang von Frauen- wirtſchaftslehre für Frauen 2 
fabrikarbeit und Geburtenhäufig- Levy-Rathenau: Die deutſche Frau im 
keit in Deutſch land. 399 ( ²ĩð 
Bötticher: Die Freyhofffss 219 Lienhard: Jugend jahre 
Braunlich: Kurländiſcher Frühling im Lilienfein: Hildebrand. 
Weltkr inne 119 Radomski: Die Frau in der öffentlichen 
Brentano: Elſäſſer Erinnerungen 217 Armen pflege 
vruck: Ich warte 219 Reventlow, Graf E.: Der Einfluß der 
Her Treppenwitz der Weltgeſchichte 511 Seemacht im Großen Kriege 
Frenſſen: Die Brüden 28 Schirmacher: Die moderne Frauen- 
Grube: Bei deutſchen Brüdern im Ar- bewegung - ggg 
wald Brafiliens . - .. 2... 119 Strupp: Unſer Recht auf Elſaß-Loth- 
Hartmann: Stilwandlungen und r- Ringen 
rungen in den angewandten Künſten 122 
Türmers Tagebuch 
der Krit 31. 77. 127. 177. 225. 270. 522. 569. 411. 462. 515. 
Literatur 
Das deutſche Buch als Faktor in Welt- genſeits von Schützengraben und 
wirtſchaft und Weltpolitik.. 168 Stacheld rail 
der Treppenwitz der Weltgeſchichte 511 Noſegger, Peteeeee eee 
Ein Hildebrand Drama 312 Stilwandlungen und Frrungen 
Ein Kranz auf Auguſt Vilmars Grab 405 Theater und Muſik im preußiſchen Ab- 
Elſaſſiſcheeeee 215 geordnetenhauſ eee 
Erinnerungskränze (Hanns v. Zobel- Theater-Rundſchau: Das Deutſchtum in 
tig 7. Timm Kröger f.) 118 der deutſchen Hauptſtade 
Frenſſens Kriegsroman („Die Brüder 28 — Die Berliner Hühnen im verflof- 
Cedenktage (Voß. — Gebhardt. — jenen Kriegs winter 
Burkhardt. — Gounod.) 3665 Wedekind, Frank 
e 506 


Goethe als Regierender 


Bildende Kunſt 


Gedenktage (Voß. — Gebhardt. 


Burkhardt. — Gounod.) 565 


460 Sodler, Ferdinand 


Stilwandlungen und Irrungen 


122 


VI Anbalts-VBerzeichnis 
Mufit 
Seite Seite 
Gedenktage (Voß. — Gebhardt. — „Notre-Dame“ als oper 220 
Burkhardt. — Gounod.j) . » 563 Theater und Muſik im preußiſchen Ab- 
geſus aus Nazareth (Bibl. Oratorium geordneten harr 314 
von Keußler hh 124 Volkslied und Runftgefng . . . . . 407 
Kleinſtadtmuſie 320 Zum Tode Peter Gaſtss 558 
Noch ein Jeſus- Oratorium 450 
Auf der Warte 
Ach, wie ſparſa.¶ 96 „Deutſch und charakterlo . 471 
, 585 Oeutſche — „Gutmütigkeit!“ . . 384 
„Als Macht zu Macht“?“ 90 Deutſche Kulturpolitik 574 
AND a en ar ea 526 Deutfhe Rückſtändig keit 145 
Arſchluß Livlands und Eſtlands — keine Die beiden Deutſch land 44 
andere Löſunnn g 534 Die beiden Erzberge nu 280 
Atelierfeſte und Verwandtes 140 „Die Mehrheit dieſes Hauſess. 9 
Auch das noch????“ “ 256 „die Zeit des Bettelns ift vorüber“. 474 
Auch die hochgeſchätzten Amerikaner! 381 Diplomaten nach ihrem Herzen . . . 133 
Auch du, Brutuoees2822mtn. 381 Ein altes Geſchichtche n 575 
Auch ein Erfolg 45 Ein deutſcher Botſchafter — Englands 
Aug’ um Auge, Zahn um Zahn 478 gluͤcklicher Sternn?sssssss 88 
Ausländiſche Hetze, Die Großzüchtug Ein „deutſcher“ Verlegen 145 
DE Ar ae a, Ä 284 Ein engliſcher Wunſch erneuert 236 
Baltenlands Selbftbeftimmmgsreht . 190 Ein künftiger Botſchafter des Deut- 
Bayern und Tirol 254 ſchen Reiches 52⁵ 
Belgien als Zugeſtändnis an die Sozial- Ein paar Stichproben 47 
Demokratie? ed 421 Eine Glanzleiſtun g 285 
Belgiens künftige Bündniſſe 90 Eine „innere Angelegenheit“ Rumäniens 524 
„BerichtiguniFnn gg 96 England und Elſaß-Lothringen 255 
Blut und Leben fürs Vaterland.. 425 Englands Gen ig 529 
Blutsbewußtfein . . - - 2.2... 95 Engliſche Offenherjigkeiten . . .:. . 287 
Bodenſchätze im Baltenlande . . . 255 Entwertung der geiſtigen Berufe, Die 141 
Bruch mit dem „Syſtem B“, Ein. 382 Ehrendoktor Moſſe in der Erſten badi- 
Das Gewiſſen der deutſchen Literatur 576 ſchen Kammer 47 
Das junge Deutſch land. 37 Ehrenkreuz für Frontkämpfer, in 42 
Das Lob der nationalen Armut.. 575 Erzberger auf Reiſeens 155 


Das Rührmichnichtan des Großkapitals 527 


Das unglückliche LSangdę 352 
Delbrück, Profeſſoo e 472 
Der Engländer und der Japaner 427 
Der heilige Snob 479 
Der Katze die Schelle umgehängt . 331 
Der Mann mit der eiſernen Maske 377 
Der ſchwebende öſterreichiſche Staats- 
Gdanle 45 
Der Weltkrieg iſt keine Familien- 
angelegenheit 188 


Erzberger und die katholiſchen Intereſſen 281 


Es wirt 44 
Eſtniſche Selbſtbeſtimmung 256 
Feindliche Maſſenverbreitung der 
Lichnowſkyſchen Denkſchrift . . 189 
Folgerichtigkeit der deutſchen Staats- 
lunit ge 475 
„Frankfurter Zeitung“ und freie Mei- 
nungsduße rung 572 
Franzöſiſche Gefangene in die 2. Klaſſe 
— Deutſche Bürger in die 3. Klaſſe! 526 


233 


Anbalts-⸗Verzalchnle 


Franzõſiſche Patrioten 
Franzöſiſche Überfegungstunft . . 
Für wen kämpfen wir? 
Seſundes Volks urteil... 
Glückliches Oſterreich! 
Graf Nirbach, der Tod und das „Ber- 
iner Tageblatt“ 
Kling (Straf) als Reichskanzler 
5. Hintze, Herr 
gohenlohe-Seheimnis, Das 
Zdeale Geſinnung, tadelloſer Ruf 
Japan und Bethmann ⸗Erzberger-Politit 
Japans großer Schlag 
Jedem das Seine 
Kaiſerbrief und Kamarilla 
Käufliche Ehrendoktor, der 
Kein Frieden ohne Rohſtoffe! 
Kein Mittel iſt zu ſchmutzig! 
Keine Märtyrer ſchaffennn 
Kerngeſunde Heiratskandidaten : 
Kinoſchönheit auf Freiersfüßen, Die 


IS o 1 we „ „ 


Klarſtellung der Kanzlererklärung über 


eis 4 . wis 
Kleiner Rechenfehler, ein 
Rleifts Grab und Franzoſengelder 
Kolonialfilm, Ein deutſcher 
„Kramarſch ausgewieſen!“ 
Res und Recht. 
Krim und Pafewalt 
Kuhlmann 
Rühlmannrede, Der Kern der 
Kunſt und Politik 
Kurzſichtig keit der Hochfinanz 
Lichnowſky-Einfluß 
Lichnowſky Skandal, Der 
Livlands und Eſtlands Selbſtbeſtim- 
mungsrecht 
Lloyd George oder — „Vorwärts“? 
London — Weltbankhaus geweſen! 


Metallbe ſchlagnahme, uur 
Noskauer „Genoſſe“ gegen den „Vor- 
wärts“, Ein 
Nach dreieinhalb Kriegsjahren! 
Nachrichten diene 
Neutralität des Päpſtlichen Stuhles, 
Die 
Nicht ſachliche Gründe, ſondern „öffent- 
liche Meinung 


Noch eine Erinnerung an Herrn v. Beth- 
mann-Hollweg 
„Norddeutſche Allgemeine“ bittet um 
Verzeihung, Die 
Norweger gegen den „ ſcheinheiligen 
Humbug“, Ein 
Nur Mangel an Regie? 
„Ohne Schuld“ 
Oſterreichiſche ZenſhhWWW2l’ 
Politik und Kriegführunng 
Politiſcher Beruf und politiſche Zurech- 
nungsfähigkeit 
Polniſcher Güteraufkau ... . 
Prinzen des Hauſes Bourbon-Parma, 
Die 
Profeſſor Delbrüds Pathologik 
Propaganda⸗Miniſterium, Ein . 
Reichsſchädling in Litauen, Der 
Reichstag im Volksurteil, der 
Ruſſiſcher als ruſſiſ - - - - - - - 
„Rußland“ als Strafe 
Schafft Politiker! 
Scheidemanns Zuſammenarbeit 
dem Feinde 
Scherr, Johannes, 
Chauvinismus 


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mit 


über deutſchen 


Schmock-Geiſt 
Schwarze Liſten 
Schweiz — unabhängig? Die 
Sozialdemokrat über den Anſchluß 
Baltenlands, Ein 
Sozialdemokrat über die „baltiſchen 
Barone“, Ein 
Soziale Fuͤrſorge 
Starker Tabak 
Taſtverſuch des Grafen Czernin, Ein 
Tirpitz 
Traumwandler und Märtyrer 
Trefflicher Merkſpruch, Ein 
Um unferer „guten Beziehungen“ willen 
Anbegreiflich oder unglaublich? 
„Und dieſe Leute dirigieren eine Mil- 
lionenpartei!“ 
„Angehörige Bezeichnung“, Eine 
Unnötige Wertvernichtung 
Valuta 
van de Velde, Herr 
„Verantwortung“, Die 


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VIII 

Seite 
Verg leiaRg hh 48 
Verhängnisvoller Fehler, ein. . 421 
Verpõdbe lung 479 
Verſchleppten Balten in Sibirien, Die 157 
Verſchleuderter Schatz, ein 426 
Verſchmähte Fügung - g 285 
Volksrat für auswärtige Intereſſen 332 
Von den Weiner Hoftheatern . . . . 576 
Von Northeliffe zu Lammald. . . 92 
Wanderflegel und Wandervögel 528 
Waruſmnmmnm ie 5 188 
Warum England ein Großpolen will. 522 


Inhalte -Verzeichnis 


5 N Seite 
Wie erſcheint unſern Kriegsgefangenen 
die Heimand .. 236 
Wie Erzberger zu feinem Einfluß ge- 
ang!!! 232 
Wie ſie es machen 429 
Wie werden wir dajtehen? . . . . . 474 


Wo bleibt das deutſche Intereſſe? .. 191 
Wogegen der Fall Lichnowſky ver- 


ſchwindee????ʒ;?;: 154 
Woher kommt's s? 4 
Wohlverd ien 572 
Wozu in die Ferne ſchweifen? 234 


Warum greifen die Engländer an?. 572 Zeitgemäße Betrachtung, eine 89 
Warum haben wir noch keinen Frieden? 470 Zeitgeſchichtliche Feſtſtellung, Eine . . 138 
Wahrzeichen deutſcher Selbſterniedri⸗- Zuckerfabrik Stuttgart, die 238 
gung 385 Zum Blutabzei cen 535 
Was dem Baltenlande not tut 232 Zur engliſch- nordamerikaniſchen Ver- 
Wem folgen ies 334 brüderung . » 222000. 424 
Weltwirtſchaftlicher Generaliſſimus, Ein 476 Zur Pinchologie des Parmabriefes 186 
Wenn der andere aber nicht will —! 42 Zur Reform der Diplomatie 426 
Wer find diefe Leutes 451 Zur Strecke gebrachte 480 
Wie es ſein — könnte 380 Zböoeigleiſige Meinungsſchiebung . . 378 
Kunſtbeilagen und Illuſtrationen 
Heft Heft 
Duſchet: Nedarjtädthen . . » 2... 11 König: Am Weiher... 2220. 19 
Gärtner: Der Müber . . . 2.2... 21 Sander-Herweg: Interieur 16 
Heyne: Kruzifrtrrrrr nnn 15 Strahtmann: Nach dem Regen. 15 
Notenbeilage 
Faißt: Herr, du meine Stärke. — Frühlingslied. — Herr Walter von der Vogelweide 
C/]... ⅛ð⅛ d ⁰ Be 15 


Kruzifix Heinrich Seyne 
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Beilage zum Türmer) 


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A Jabra. Erſtes Aprilhefr 1218 Bet 


Beft 15 


Paſſion Won Alice Weiß⸗v. Rudtteſchell 


3 Nebel, Nebel, ſink auf Weltenbrände! 
Blut'ger Regen, ſtröme doch zu Ende! 

Tod! erſchöpfe deine Hungersgier! 

Keiner kennt ſich — wir ſind nicht mehr wir! — 
Keiner kann in dieſen Schreckenstagen 

Noch ſein Bild — das Bildnis Gottes — tragen — 
In die Stirnen gräbt ſein Mal das Tier! — 5 


Jeſus Chriſtus ſteigt vom Himmel nieder, 

And ſie ſchlagen ihn ans Kreuze wieder. 

Und die Sonne will nicht fürder ſcheinen, 

Und die Frauen müſſen bitter weinen. 

Durch Marias Seele geht das Schwert, 

Nacht wird Tag — und Tag in Nacht verkehrt, 
And in Finſternis ſtirbt der Gerechte. 


Hocken um das Kreuz die Kriegersknechte, 
And ſie würfeln um den Rock des Herrn... 


And der Oſtertag iſt nicht mehr fern. 


2 2 


Der Türmer XX. 15 = - | 


2 Habina: Weihnacht und Oſtern 


Weihnacht und Oſtern 
Von Prof. Dr. Emil Hadina (Wien) 


Tannenzweig. Matt und trocken, hatte er doch ſein grünes Gewand 
zu retten gewußt, und ein dünnes Engelshaar, das durch feine müden 
Nadeln ſchlängelnd hinlief wie ein feiner, ſilberner Märchenbach 
durch öden, verwunſchenen Wald, gab ihm noch etwas Glanz und reputierliches 
Ausſehen. Reſte einer verſunkenen Welt, einer ſagenhaft verklungenen Zeit voll 
Licht und Zauberkraft. Doch zur Dämmerſtunde, zwiſchen Tag und Dunkel, er- 
zählte das Zweiglein noch immer ſein verhalltes Märchen. Als der Weihnachts- 
baum den Weg des Srdifchen ging und in praſſelnden Feuergluten den Dank fand, 
den wir ſo oft für treue Liebe bereit haben, da blieb ein Zweiglein verſchont, damit 
den heimatloſen ſeligen Traum hier ein letztes Aſyl erwarte. Und in ſtillen Stunden 
ward dieſer Traum der längft verrauſchten Weihnacht mit aller Süße und Wehmut 
in dem engelshaargeſchmückten Tannenzweig noch immer lebendig. Während 
draußen die Schlittenſchellen klangen, rauſchten bei mir noch immer aus weiter 
Ferne die Weihnachtsglocken, alle Liebe jener begnadeten Zeit wandelte chriſt⸗ 
nachtſtill um meine verträumte Schreibtiſchecke, und die armſelige Tannenreliquie 
glühte in ſtolzer Erinnerung zu neuer, duftender Herrlichkeit auf, wenn meine 
Lippen, als ſprächen fie ein dankbares Abendlied, halb unbewußt wieder begannen: 
„Stille Nacht, heilige Nacht.“ 

Heute aber fand ich einen neuen Gaſt im Zimmer, das Kind einer ganz 
anderen Welt: ein junges, ſilbergraues Weidenkätzchen in ſamtenem Kleid, ein 
zartes Frühlingsprinzeßchen mit hellen Oſtergedanken. Voll Sonne und Leben 
blühte ſogleich das Zimmer. Der Weihnachtszweig ſah, daß fein Feierabend ruhm- 
los endigen müffe, und ließ ſich und feinen Gram in den Flammen erſterben. An 
ſeiner Statt fand das lenzliche Palmenfräulein Heimat und Recht hinter dem 
Bildrahmen. Wie ein Totenbann fiel es von mir, Weihnacht war ausgeträumt, 
Frau Oſtara herrſchte, die junge, ſonnige, mit dem ſieghaften Lachen. 

Weihnacht und Oſtern — fie find zwei Rivalinnen, die den Erfolg wechſelnd 
ſich abringen, jahraus, jahrein. Und doch innig verwandte Geſpielen, die Zwillings- 
ſchweſtern Moll und Dur, ſinnvolle Bilder deutſcher Sehnſucht und deutſcher Kraft. 

Wohl waren es urſprünglich rein chriſtliche Feſte und trugen als ſolche ein 
graues Kleid ohne nationale Farben. Doch das deutſche Volk ſchloß die blaſſen, 
blutarmen Fremdlinge mit Wärme ans Herz und goß ſein rotes, pochendes Leben 
in ihre Adern. Und ſpendete hier ſehnendes Träumen, dort tatenfordernden Lebens- 
trotz; hier märchenhaft holde Poeſie voll ſinnender Kerzen und Silberfäden, dort 
die friſche Herbigkeit jauchzender Morgenverheißung und Sonnenahnung; hier von 
ſeinem frommen, gläubigen Kinderherzen und dort vom ſaftigen Mark ſeiner 
ſtarken, ſchaffenden Arme. So wurden Weihnacht und Oſtern die heiligen Feier- 
zeiten des deutſchen Volkes. — 

Weihnacht iſt ein Feſt der Enge, einer trauten, behüteten Heimlichkeit. 
Feſte Wände, künſtliches Licht und künſtliche Wärme wollen die Abhängigkeit von 


Hadina: Weihnacht und Oſtern 3 
dem großen ſtürmenden Leben da draußen bannen. Weihnacht ſchließt ein paar 
Menſchen, die ſich gut find, in einem lieben ſtillen Winkel zu einer kleinen eigenen 
Velt ab und wölbt aus Chriſtbaumſternen und Flittergold einen freundlichen 


Himmel darüber. Alle Liebe zum Vertrauten, Übertommenen, zur Überlieferung 


und zu altem Brauch, das fromme Gedenken auch gegen das unſcheinbarſte Ding, 
wenn eine liebe Hand nur darüberftrich oder die kleine Gabe unter den Weihnadte- 
baum legte, dieſe zarten Saiten der Volksſeele kommen zur Chriſtzeit wie innige 
Veihnachtsroſen zur Blüte. 

Oſtern aber ruft gebietend hinaus in die große, wirkliche Welt, wo die 
Säfte des Lebens kreiſen und nach Geſetzen ewiger Arbeit aus den Mühen des 
Heute ein ſtarkes Morgen erſtehen ſoll. Da winkt fo viel Schaffensfülle und Wirk- 
möglichkeit, fo viel braches, unbebautes Schollenland, fo viel unerreichte, noch un- 
genoſſene Ferne. Und die deutſche Sehnſucht ins Große und Weite, dieſe zweite 
Seele in der Bruſt unſeres Volkes, der Wille zur Tat hüllt ſich in Oſtergewandung, 
und am Feſte der Auferſtehung ſpricht dieſer Prediger ſeine machtvollſte Sprache. 

Über den Feſttagen der Weihnacht ſchwebt ſtill der Engel der Vergangen- 
heit. Für uns Erwachſene wenigſtens, denen das Glück unmittelbaren Weihnachts- 
genuſſes verloren ging. Auch wenn wir der Gegenwart froh ſind, wenn helle 
Kinderaugen blitzen und jubeln, wenn ein freundliches Geſchick es noch gnädig 
verlieh, Weihnacht zu halten im Kreiſe all derer, die unſere Kindertage erhellten 
und ſonnten, borgt dieſes Freudenfeſt dennoch immer ſeinen ſchönſten Glanz von 
der Krone verſunkener Kindheit. Das ſtellt all ſeinen Lichtern ſeltſame Schatten zur 
Seite, gibt aller freudigen Oberfläche eine wehe Tiefe. Und der ſchwermütige 
Gedanke der Vergänglichkeit flicht feine dunklen Ranken gerne ein in die ſchimmern⸗ 
den Silberfäden und Chriſtbaumketten. Ver ſah nicht mitten im froheſten Glück 
des heiligen Abends einen jähen Augenblick das graue Schattenbild kommender 
Weihnachtsfeſte, vielleicht ſchon des nächſten Chriſtabends, wo alle Liebe, alle 
Güte und Laune des lebendigen Heute in ewigem Schweigen, in ewiger Kälte 
erſtarb! Vergangenheit und Vergänglichkeit heiligen freilich die Weihnacht, da 
fie die kleine Stunde froher Gegenwart in den ſtillen, geheimnisvollen Ring ver- 
ſunkener und ungeborener Zeiten fügen. Aber mit dunklen Untertönen, zu 
Moll gedämpft, klingt darum allen tieferen Naturen das freudigſte RNauſchen der 
Weihnachtsglocken, der hellſte Jubel dieſer ſeligen Zeit. 

Oſtern läutet mit den frohen und ſtarken Glocken der Zukunft. Hier ift 
alles Hoffnung und Lebenskraft, eine ſtolze Erwartung freier, frühlingsheller 
Sonnentage. Tod, wo iſt dein Stachel, Hölle, wo iſt dein Sieg?! Es wirkt eine 
unbezwingbare Kraft in dieſem alten frommen Oſtertrotz, wie immer man zur 
Kirchenlehre ſteht. Jeder Funke von Wehmut, jeder Schatten reſignierender Be- 
trachtung fehlt, vor den Strahlen der Oſterſonne bleicht alle rüdblidende Sehn- 
ſucht wie ein nächtlicher Traum. Wir alle blicken zu Oſtern in die kommende Zeit, 
wir alle glauben an eine Zukunft und recken ihr freudig die Arme entgegen. — 

Und Weihnacht iſt endlich ein Feſt der Einbildungskraft und des Mär- 
chens. Nicht nur, weil ſie in winterlicher Dunkelheit auf Augenblicke ein Licht 
aufleuchten läßt, nicht nur, weil ſie unzählige kleine Welten baut und ihnen goldene 
Träume und ſehnſüchtige Kindergedanken ſpinnt, nicht nur, weil ſo raſch wie 


4 N Rrannhals: Oſtern 


Märchenzauber die Poeſie dieſer Zeit wieder zerbricht. Die ganze Idee dieſes 
Feſtes, wie es im deutſchen Volke heimiſch wurde, iſt ein wunderbar ſchöner, tief 
ergreifender Märchentraum. Es iſt die Botſchaft der Liebe, die im letzten Grunde 
die Welt beherrſcht, zu der die Menſchheit berufen iſt. Mich erſchüttert es immer 
aufs neue, wenn ich am Weihnachtstag, während alle wieder einmal ans goldene 
Märchen glauben, die einzigartige wehe Pracht der Einleitungsſätze beim Evange⸗ 
liſten Zohannes leſe: „Das Licht ſcheinet in der Finſternis — und die Finſternis 
hat es nicht begriffen. Der Herr kam in ſein Eigentum — und die Seinen nahmen 
ihn nicht auf.“ Das iſt die tiefe Tragik alles Menſchentums, daß es nach Licht ruft 
und nach Erlöſung — und daß es das Licht nicht begreift und ſeine Erlöſer kreuzigt. 
Nur in verſonnenen Märchen findet es eine harmoniſche Welt, und Weihnacht 
iſt der ſchönſte und ergreifendſte dieſer ſehnſüchtigen Märchenträume. 

Aber Oſtern iſt Wahrheit und Kraft. Klar und hell liegt die Welt, furcht- 
los und feſt ſchauen wir ins Auge der Wirklichkeit. Kein Märchen verſchönt ſie, 
keine ſüße Lüge ſpinnt über die Nachtſeiten des Lebens einen flitternden Traum. 
Wir nehmen es doch mit ihm auf, wir find groß und mündig und ſcheuen auch herbe 
Wahrheiten nicht. Denn buntbewegte, ewig ſich verjüngende Kräfte ſprühen in 
aller Geſtaltung des Lebens, ſprühen auch in unſeren Armen, in unſerem Hirn. 
Dieſe Wahrheit tröſtet und erweckt eine neue, ſtarke, märchenloſe Gläubigkeit. Von 
den Hügeln, auf die der freie Schein der Oſterſonne fein goldenes Bad ergießt, 
weht friſcher Wind. Es geht Oſtern entgegen, dem Leben und der Kraft 

Doch wir brauchen beides: Märchen und Wahrheit, Sinnen und 
Schaffen, Enge und Weiten, Vergangenheitsliebe und Zukunftshoff— 
nung. Wir brauchen Weihnacht und Oſtern. Aus beiden bauen wir das Haus 
unſeres Lebens. 


Oſtern Von W. A. Krannhals 


Es wölbt die Nacht im Schein der Sterne Aus allem Sterben, aller Gräber Stille 


Den Himmelsraum, Blüht neuer Glanz, 

In weiter ſonnenheller Ferne Pochender, junger Sonnenwille 

Heben ſich kaum Windet den Kranz, 

Die Frühlingsblüten mit leiſem Beben. Glüdhafte Stimmen zum Himmel ſteigen, 
O du heiliges ſüßes Erdenleben Grünende Zweige ſich zärtlich neigen 
Erwady’ vom Traum! Sm Flimmertanz. 


Nun hebt auch ihr euch auf aus all dem Bangen 
Und zaget nicht! 

Die ſchmerzende Feſſel, die euch gefangen, 
Zerbricht, zerbricht! 
Sehet, die ſtrahlenden Engel ſchreiten 
Über die wachende Erde und breiten 
Siegendes Licht! 


2 


* 


Rlenun: Viribus unitis 5 


Viribus unitis 
Von Max Klemm 


Vorbemerkung der Schriftleitung: Ohne nach einer Richtung vorgreifen zu wollen, 
555 wir dieſe den Nerv unſeres Volkslebens berührenden Vorfchläge zu eindringlicher Erörterung. 


ie Finanzminiſter der einzelnen Staaten ſind gegenwärtig nicht zu 
beneiden. Die Flut der immer höher anſchwellenden Kriegslaſten 
) droht ihr ſorgſam zuſammengezimmertes Gebäude, wenn nicht gar 
ne wegzuſchwemmen, ſo doch den Aufenthalt darin ſehr unwohnlich zu 
hoben. Bis jetzt find wenig Vorſchläge bekanntgeworden, die imſtande wären, 
dem ſchweren Übel gründlich und auf die Dauer abzuhelfen. Und doch iſt es un- 
bedingt notwendig, wenn die Lebenskraft des Staates ihre wohltätige Wirkung 
auch ferner betätigen und ſich weiter entwickeln ſoll, daß zwei Hauptfragen gelöft - 
oder mindeſtens einer Löfung nahegebracht werden ſollen. 

Oie erſte Frage iſt: Auf welche Weiſe und mit welchen Mitteln laſſen ſich die 
unheimlich anſchwellenden Kriegslaſten am zweckmäßigſten verzinſen und all- 
maͤhlich abbauen? 

And die andere Frage, die auf den erſten Blick dieſer vollſtändig fern zu liegen 
ſcheint, aber doch mit ihr auf das engſte verwandt iſt, lautet: Wie läßt ſich die in 
dem Bund der mitteleuropäiſchen Staaten vereinigte Kraft- und Machtfülle am 
beſten und ſicherſten, möglichſt ohne Anwendung vertraglicher Zwangsmittel, 
für die Zukunft kraftvoll und lebensfähig erhalten und verwerten? 

Es iſt kein Zweifel, daß im letzten Grunde der Staatenbund in dieſem Kriege 
den Sieg davongetragen haben wird, dem es am erſten gelingt, ſeine Finanzen 
wieder auf einen erträglichen Fuß zu bringen. Dieſem Ziel ſtehen die größten 
Schwierigkeiten entgegen. Vor allem iſt es zunächſt die ins Rieſenhafte angewachſene 
Höhe der Kriegsſchulden, deren Höchſtpunkt noch lange nicht einmal erreicht iſt, die 
jedes, ſelbſt das kräftigſte Mittel als unwirkſam erſcheinen läßt. Was bisher geſchehen 
iſt, ſelbſt die inzwiſchen durch den Reichstag im vorigen Frühjahr erledigte Steuer- 
vorlage trägt den Stempel des Verlegenheitsmittels auf der Stirn. Das Mittel kann 
nur vorübergehend wirken, gründlich und ausgiebig wirkt bis jetzt keines der ange; 
wandten Mittel. Die Zeit der Steuerchen nach der Art der Streichhölzer, Cham 
pagner- und Automobilſteuer iſt vorüber. Es wäre unklug, wollte der Staat wieder 
in ſeinen alten Fehler verfallen und die Finanzkrankheit mit einer Menge kleiner 

Pillen zu heilen verſuchen, wo nur große durchgreifende Gewaltmaßregeln helfen. 

Man hat ſchon, namentlich von ſozialdemokratiſcher Seite, den Vorſchlaͤg 
gemacht, den Abbau der Schulden in der Hauptſache auf den Beſitz abzuwälzen 
und eine einmalige Vermögensabgabe bis zu 50 „ ſogar befürwortet, ohne dabei 
zu bedenken, welche große Gefahren ein ſolcher Vorſchlag in ſich ſchließt, denn 
man weiß, daß es die Henne abſchlachten hieße, die die goldenen Eier legt, wollte 
man die Vermögen ſo belaſten, daß jede fernere Vermögensanſammlung eine 


Gefahr für den Beſitzer in ſich ſchlöſſe und dadurch unmoglich gemacht würde. 


6 Rlemm: Viribus unltis 


Die Vermögen follen natürlich herangezogen werden, jedoch in vernünftigen Gren- 
zen, und innerhalb ſolcher iſt es unmöglich, dieſer ungeheuren Kriegslaſt wirkſam 
beizukommen. 

Als durchgreifende Mittel fallen einem zunächſt Monopole ins Auge. Allein 
auch dieſe bieten beträchtliche, ja faſt unüberwindliche Schwierigkeiten. Ein Tabats- 
monopol findet eine ſo umfangreiche und blühende Induſtrie, daß das zur Ab- 
löſung notwendige Kapital fo ungeheuer fein müßte, daß der Ertrag ſchon von 
vorneherein in Frage geftellt wäre. Mehr Ausſicht böte ein Getreidemonopol, zumal 
da man bei der gegenwärtigen Verſtaatlichung des ganzen Getreide- und Mehl- 
vertriebs auf ſchon Vorhandenes aufbauen könnte. Allein die deutſche Regierung 
ſcheint bis jetzt dieſer Maßregel nicht ſehr geneigt zu ſein. Wenigſtens wurde die 
erſte Nachricht von der Einführung eines Getreidemonopols mit auffallendem Eifer 
amtlicherſeits beſtritten. Dies iſt wohl erklärlich, denn ein deutſches Getreide- 
monopol wäre eines der härteſten Schläge von uns gegen unſere treuen Bundes- 
genoſſen von Oſterreich-Ungarn. 

Und doch muß ſchließlich ein Weg gefunden werden, der Licht in die ver- 
wirrten und dunkeln Finanzverhältniſſe bringt. Und der Gedanke iſt naheliegend, 
ob nicht das, was dem einzelnen Staat innerhalb ſeiner beſchränkten Grenzen 
aus eigener Kraft zu erreichen nicht möglich iſt, nicht gewonnen werden kann, 
wenn die vielen verſtreuten Kräfte geſammelt und zu einem ungeheuren großen 
Kräftebund vereinigt werden, ſo daß ſchließlich der Erfolg nicht ausbleiben kann. 
Dieſe Gedankenverbindung hat den in weiten Kreiſen als hervorragenden Wirt- 
ſchaftspolitiker bekannten Oberbürgermeiſter Dietrich von Konſtanz veranlaßt, 
zu einem außerordentlichen Vorſchlag, der nicht nur alle beſtehenden großen 
Schwierigkeiten zu beſeitigen imſtande wäre, ſondern der auch die wichtigſten 
ſtaatsrechtlichen Weiterungen zur Sicherheit des Deutſchen Reiches und des be- 
ſtehenden Bundesverhältniſſes der Mittelmächte zur Folge hätte. 

Er ſchlägt vor, ein Getreidemonopol einzuführen, aber es gleichzeitig 
auf Oſterreich-Ungarn, und um es vollends ganz wirkſam zu machen, auch auf 
Bulgarien und Rumänien auszudehnen. Dieſe tief in die Verhältniſſe der 
genannten Staaten eingreifende Maßregel hat als logiſche Folge die Notwendigkeit 
nach ſich zu ziehen, daß ſämtliche Staaten, die an dem Getreidemonopol teilnehmen, 
auch ihre ſämtlichen Kriegsſchulden zuſammenwerfen und gemeinſam 
verwalten müßten. Es ift ohne weiteres einleuchtend, daß eine derartige Gewalt- 
maßregel einen verblüffenden Eindruck machen muß, weil ſich alle Einzelfolgerungen 
im Augenblick gar nicht überſehen laſſen. Aber bei gründlicherer Prüfung werden 
ſich ſo außerordentliche Vorteile zeigen, daß mindeſtens eine eingehende Prüfung 
des ganzen Planes ſich ſehr empfehlen dürfte. 

Vor allem ließe ſich ein ſolches Getreidemonopol als eine Finanzquelle erſten 
Ranges mit einer Ergiebigkeit und einer ſich allen Verhältniſſen anpaſſenden 
Gleichmäßigkeit nutzbar machen, wie man ſie bisher noch nicht erſchaut hat. Und 
dieſes Ziel würde erreicht, ohne daß irgendwelche Verteuerung des Brotes not- 
wendig wäre. Der Znlanderzeuger in ſämtlichen genannten Staaten wäre die 
Sorgen, wie und wo er ſein Getreide unterbringen ſoll, für immer los und hätte 


Klemm: Viribus unitis 7 


mit einem feſtſtehenden Preiſe zu rechnen. Nach Kriegsende muß man ſowieſo 
mit aller Sicherheit damit rechnen, daß von einem Sinken der Getreidepreiſe auf 
dem Weltmarkt gar keine Rede fein kann wegen der ſchlechten Welternte und an- 
geſichts des Tonnagemangels zum überſeeiſchen Transport. Welcher Vorteil wäre 
es für den Verbraucher, wenn ihm bei ſolchen Verhältniſſen ein mäßiger Brotpreis 
ſichergeſtellt wäre! Wie ließe ſich ferner ein ſolches Rieſenmonopol zur Ausnützung 
der Weltmarktkonjunktur in weiteſtem Maße verwerten! Ja der Weltmarktpreis 
könnte entſcheidend dadurch beeinflußt werden. Eine politiſche Waffe erſten Ranges 
hätten wir in der Hand, indem wir durch Kauf oder Verweigerung der Abnahme 
von Getreide auf Staaten, die darauf angewieſen find, viel entſchiedener ein- 
wirken könnten, als auf dem Wege des Zollkriegs. Dabei iſt die Wirkung eines 
ſolchen Getreidemonopols nur um ſo umfaſſender, je mehr Getreidearten in das 
Monopol einbezogen werden. Es iſt eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob es ſich 
auf Weizen beſchränken, oder Roggen, Gerſte und Mais mit umfaſſen ſoll. Tritt 
man dieſer Maßregel näher, ſo empfiehlt es ſich, ſie gleich ſo umfaſſend als möglich 
auszugeſtalten. 

Für Oſterreich, Ungarn und Rumänien wären die Vorteile womöglich noch 
größer als für Deutſchland. Namentlich ungarn und Rumänien find auf die Aus- 
führung ihres überſchüſſigen Getreidevorrates angewieſen. Für fie iſt es Lebens- 
frage, daß ihre Landwirtſchaft regelmäßigen und gutbezahlten Abſatz hat. Dieſer 
ließe ſich nicht beſſer und ſicherer gewährleiſten, als mit dem Monopol. Die Sorge 
der ſchwierigen und teueren Verfrachtung wäre behoben, da das Monopol ſelbſt 
dafür ſorgen würde. 

Man weiß, daß die wirtſchaftliche Annäherung von Deutſchland und Öfter- 
reich- Ungarn ihre Hauptſchwierigkeit in dem wirtſchaftlichen Gegenſatz des Cha- 
rakters der beiden Länder hat. Während Oeutſchland neben ſeiner Landwirtſchaft 
hauptſächlich feine bedeutende Weltexportinduſtrie zu berückſichtigen hat, wird der 
Charakter, je weiter wir nach Oſten kommen, immer mehr landwirtſchaftlich. 
Ungarn und Rumänien vollends ſind rein Landwirtſchaft treibende Länder. Unter 
dieſen Umſtänden iſt eine wirtſchaftliche Annäherung außerordentlich erſchwert 
wegen der Verſchiedenheit der Intereſſen. 

Aber mit einem Schlag wären alle dieſe Widerſtände und Schwierigkeiten be- 
hoben durch ein gemeinſames Getreidemonopol. Es wären für alle Länder die 
landwirtſchaftlichen Intereſſen gleich, und jedes Land wäre in der Lage, da für feine 
Land wirtſchaft geſorgt iſt, feinen anderen Aufgaben, fo wie es feine eigenen Vor- 
teile verlangen, unbeeinflußt nachzugehen. Man wird Sſterreich- Ungarn und Bul- 
garien nicht zu nahe treten, wenn man die Tatſache erwähnt, daß die Schuldenlaſt 
dieſer Staaten, die ſchlechte Valuta und die drohende Gefahr einer Papiergeld- 
wirtſchaft ein wenig erfreuliches Bild von ihrem Finanzſtand geben. Die Vorteile 
eines ſolchen gemeinſamen Monopols zuſammen mit der gemeinſamen Kriegs- 
ſchulde nverwaltung wären fo groß, daß man eine Ablehnung etwa aus falſchem 
Stolz nicht verſtehen könnte. 

Die Verwaltung des zwiſchenſtaatlichen Monopols und der gemeinſamen 
Kriegsſchulden müßte in die Hand gemeinſchaftlicher Organe gelegt werden, zu 


8 8 | Rlemm: Viribus unitis 


denen die fich beteiligenden Staaten je nach der Größe ihres Intereſſes im Ver- 
hältnis eine Anzahl teils von den Staatsoberhäuptern zu ernennenden, teils von 
den Parlamenten zu wählenden Vertreter ſtellen würden. Der Sitz der een 
wäre in Berlin, die Verhandlungsſprache deutſch. 

Die Erträgniſſe des Monopols kämen nicht zur Verteilung, ſondern würden 
zur Verzinſung und Tilgung der Kriegsſchulden gemeinſchaftlich verwendet. 

Da hiezu aber die Einnahmen nicht vollſtändig ausreichen würden, fo ſchlägt 
Dietrich als eine weitere Geldquelle eine Kohlenſteuer in Form einer Förde- 
rungsgebühr vor. Es darf dabei eingeſchaltet werden, daß Oberbürgermeijter 
Dietrich dieſe Kohlenförderſteuer dem deutſchen Reichsſchatzſekretär ſchon im Sep- 
tember 1916 mündlich in Vorſchlag gebracht hat. Es liegt nun vor allem die Frage 
nahe, ob es ſich empfiehlt, auch dieſe Kohlenförderungsſteuer auf alle Staaten 
des Getreidemonopols auszudehnen, und dieſem Gedanken ſteht hindernd im Wege, 
daß Oſterreich- Ungarn bedeutend weniger Kohlen ſchürft als Deutfchland, und daß 
Rumänien überhaupt keine Kohlen hat. Deutſchland würde alſo bei einer Aus- 
dehnung der Kohlenſteuer auf alle genannten Staaten eine ungeheure Summe 
frei und ohne Gegenleiſtung an ſeine Bundesgenoſſen aus der Hand geben. 

Dennoch aber wäre die Ausdehnung diefer Kohlenſteuer auf alle verbündeten 
Staaten warm zu befürworten, denn die unwägbaren Gewinne einer ſolchen 
Gemeinſamkeit auf ſtaatsrechtlichem Gebiet in Form einer unabſehbaren Kräftigung 
des ganzen Mächtebundes wären fo groß, daß ſich über den Geldverluſt wohl weg- 
gehen ließe. Es könnte auch vielleicht in Erwägung gezogen werden, ob nicht Ru- 
mänien zu einem gemeinſchaftlichen Petroleummonopol gedrängt werden 
könne, wodurch ſich wieder einige 100 Millionen zugunſten der Gemeinſamkeit 
gewinnen ließen. Wenn ſchließlich Bulgarien bei dieſer Neuordnung am meiften 
begünſtigt wäre, fo hätte es das auch wohl verdient. Bedenkt man, welchen Bienft 
es uns durch feinen rechtzeitigen Übertritt auf unſere Seite geleiſtet hat, was es 
uns erſpart hat, dadurch, daß es unſere Feinde nicht unterſtützt hat, ſo wird man 
auch fein Einverſtändnis geben können, ihm eine beſondere Vergünſtigung zu⸗ 
kommen zu laſſen. 

Eine gemeinſame Verwaltung von Getreidemonopol, Kohlenförderſteuer 
mit Ausfuhrgebühren und dem Petroleummonopol würde den Betrieb verein- 
fachen und verbilligen, man würde Beamte ſparen und überſichtliche Verhältniſſe 
ſchaffen. Es iſt wohl anzunehmen, daß dieſe drei Rieſenmonopole bei richtiger 
Verwaltung und Ausnützung, namentlich wenn ſie einmal einige Jahre ungeſtörten 
Fortgang hinter ſich haben, imftande find, die Verzinſung und Abbauung der ge- 
meinſamen Kriegsſchulden zu bewältigen. Aber damit iſt ihre volle Wirkſamkeit 
noch nicht erſchöpft. Vielmehr tragen fie den Keim zu weiterer fruchtbarer Ent- 
wicklung in ſich. Es läßt ſich wohl mit der Zeit an das Petroleummonopol und bie 
Kohlenfördergebühr ein Elektrizitätsmonopol anſchließen. Welche Ausſichten 
öffnen ſich, wenn man mit dieſer Neuordnung der Finanzen zugleich die ganze 
Kanalverbindungsfrage unter allen dieſen Ländern zur Löſung bringen 
würde! Wenn nur jährlich aus den Rieſenerträgniſſen 100 Millionen Mark ver- 
traglich abgezweigt würden, für Ranalbauten, fo wären in abſehbarer Zeit die 


Aemm: Viribus unit is N N 0 


— 


donau-Oderverbindung, die Regulierung des Oberrheins bis zum Boden- 
fee, die Donau-Main verbindung, die Donau -Elbe verbindung, die 
Donau-Bodenfeeverbindung und die Schiffbarmachung der Donau bis 
Ulm, ferner die vielen Ranalbauten Oſterreichs und Ungarns ohne Belaſtung 
der angrenzenden Staaten fertigzuſtellen. 

Welcher Vorteil wäre es, wenn ſtändig ohne Unterbrechung die Laſtkähne 
Kohlen vom Oberrhein auf dem Waſſerwege nach dem fernen Oſten bringen 
und auf der Kückfahrt landwirtſchaftliche Erzeugniſſe nach Deutſchland ſchaffen 
könnten! 

Und dann noch ein Gedanke. In den Kriegsanleihen aller verbündeten 
Staaten ſind unermeßliche Summen baren Geldes feſtgelegt. Schon heute 
bildet es eine ſchwere Sorge der Finanzleute, woher fie das genügende Bargeld 
beiſchaffen ſollen, wenn nach Friedensſchluß namentlich die mittleren und kleinen 
Anleihezeichner ihr Geld notwendig brauchen. Die ODarlehenskaſſen reichen bei 
weitem nicht aus. Da ließe ſich wohl denken, daß bei dieſen ungeheuren Umſätzen 
dieſer gemeinſamen Monopolverwaltung auch ein großer Teil ſich zur Beftie- 
digung dieſes Bargeldmangels in Form von Vorſchüſſen oder Darlehen nutzbar 
machen ließe. 

Wie gewaltig und trotzig iſt doch der Gedanke, daß auf dieſe Weiſe der ganze 
mitteleuropäifhe Staatenverband gegen alle Zwiſchenfälle und Gefahren mit 
feiner Volksernährung ſichergeſtellt wäre auf alle Zeiten! Und zugleich 
wäre eine Grundlage geſchaffen, die die Verbündeten enger und feſter aneinander- 
ſchließen würde, als es Verträge je vermöchten. Ein fruchtbarer Boden wäre 
geſchaffen, auf dem nicht nur jeder der beteiligten Staaten, weil er mit einem 
Schlag feine ſchwerdrückenden Finanzſorgen los wäre, ſich mit unge- 
ſchwächter Kraft den eigenen wichtigen Staatsaufgaben zuwenden könnte, ſondern 
es wäre auch Raum gegeben zum Ausbau weiterer den Vorteil aller fördernder 
Einrichtungen. 

Es liegt klar auf der Hand, daß dieſe gewaltige Neuordnung hier nur in den 
notdürftigften Umriſſen angedeutet werden konnte. Sie wird auch mit manchem 
heftigen Widerſtand rechnen müſſen, denn eine ſo tief eingreifende Maßregel wirkt 
auch wieder zerſtörend auf viele Verhältniſſe. Allein der Krieg hat die ganze Welt 
jo in ihren Grundfeſten erjchüttert, daß zur Heilung der entſtandenen Schäden 
man ſich auch zu großen weitgreifenden Entſchlüſſen aufraffen muß. Auf den aus- 
getretenen Geleiſen der ſeitherigen Bahnen kommen wir nicht weiter. Die Not 
der Zeit verlangt gebieteriſch große Gedanken. Der gemachte Vorſchlag gibt 
einen Fingerzeig, von dem nur zu wünſchen wäre, daß ihn die maßgebenden Stellen 
nicht ohne weiteres unter den Tiſch werfen, ſondern daß fie ihn wohlwollend prüfen, 
annehmen und in ihrem Sinne ausbauen. 

Die Durchführung des großartigen Planes dürfte um fo leichter zu bewerk⸗ 
ſtelligen ſein, als er nur Vorteile bringt. Und angeſichts der in Ausſicht ſtehenden 
großen Lichtpunkte follten einzelne Opfer, die etwa zu bringen wären, keine aus- 
ſchlaggebenbe Rolle ſpielen dürfen. Man denke doch an das Jahr 1871. Die Fuͤrſten 
der Bundesſtaaten des Deutſchen Reiches brachten damals dem großen Gedanken 


10 Weiß -v. Ruckteſchell: Zerſtörte geiniat 


der Einheit des Reiches zulieb freudig große Opfer von ihrer Selbſtändigkeit. 
And wie ſich dieſe Opfer gelohnt haben, das zeigt die Widerſtandsfähigkeit, die das 
Deutſche Reich im gegenwärtigen Kriege ſo glänzend bewährt hat. 

Möge ſich dieſer großzügige, auch zu notwendigen Opfern bereite Sinn 
wiederum bewähren, wenn es gilt, die ſtaatsrechtlichen und finanziellen Verhältniſſe 
der verbündeten Staaten in Mitteleuropa neu zu ordnen! 


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=. —̃ — — 


0 


Geritörte Heimat Von Alice Weiß⸗v. Rudtefchell 


Sch habe nun ſo lange ſchon 
Geträumt den einen Traum 

Vom Wiederſehn beim Friedensklang 
Zn meiner Heimat Raum, 


Dann ging ich durch mein Vaterhaus 
gm alten Baltenland 

Und bebend grüßte jeden Stein 

Das Streicheln meiner Hand. 


Nun iſt der Traum wohl ausgeträumt — 
Mein Herze glaubt's fo ſchwer — 

Die Heimat werd' ich wiederſehn, 

Das Vaterhaus nicht mehr. 


Nun iſt's in Flamm' und Rauch verdampft, 
Wo's ſtand, iſt alles tot, 

Mein grüner Garten iſt zerſtampft, 

Von Blut mein Boden rot. 


And meine Erde nicht mehr mein, 
Die grüftegähnend ſtarrt, — 

Die Fremde kann nicht fremder ſein, 
Als mir die Heimat ward! 


Nun iſt im weiten Erdenrund 
Mein Herz des Zufalls Spiel, 
And meine Sehnſucht ohne Grund, 
Mein Wandern ohne Ziel! 


Mein Herz — ein frierend Bettelkind 
Seht nackt und bloß einher, 

Und feine Tränen trinkt der Wind 
And führt ſie übers Meer. 


2 


Meifinger: Der Grübler und der Krieg ll 


Der Grübler und der Krieg 
Von Karl Meifinger 


eit zwei Jahren liegen wir in einem Städtchen am Südrand der 
Ardennen, belgiſch mit einer Spur deutſchen Einſchlags. Es war 
1916. Ein Sommernachmittag, heiß ohne Schwüle, ein Höhe- 
O punkt des Jahres. | | 

Mein Kamerad forderte mich zu einem Spaziergang: „Komm mit, aber 
tu mir den Gefallen und ſchweige.“ Zch nickte nur, denn ich kannte ihn. Er war 
ein ſonderbarer Menſch. Er wußte genau, wie ſehr er vom Durchſchnitt abwich. 
aber das bedrückte ihn nicht. Sein Tun entſprang der innerſten Natur ſeines 
Veſens, es war wahrhaftig ſo und darum recht. Wer ihn nicht näher kannte, 
hieß ihn hochmütig, eingebildet, denn er verzichtete auf Geſellſchaft. Ich hatte 
einmal verſucht, ihn mehr mit Menſchen zuſammenzubringen. Er hatte ab- 
gewehrt: „Laß mich. Ich weiß das. Der Durchſchnittsmenſch braucht immer 
und überall „Geſellſchaft'. Eigne Gedanken, mit denen er ſich beſchäftigen 
könnte, hat er nicht. Er fühlt feine Unzulänglichkeit; er merkt, daß trotz feines 
Daſeins eine Lücke, ein Defizit vorhanden iſt, daß er — bildlich geſprochen — 
den Umkreis, der ſeinem Geiſte vorbehalten iſt, nicht ausfüllt. Daher dann das 
Beſtreben, dieſe Leere durch andere ausfüllen zu laſſen. Ich haſſe die Dutzend- 
köpfe, die Allediegleichen, die Maſſenartikel.“ Da ließ ich ihn gewähren. 

Wir trugen beide denſelben Vornamen und glichen uns äußerlich ſo ſehr, 
daß man uns in der Dämmerung oft verwechſelte. Innerlich beſtand ein Unter- 
ſchied, doch kein Gegenſatz. Ich fühlte ohne Neid feine Überlegenheit, und er 
war dankbar, einen Menſchen zu haben, der bereit war, ihn anzuhören, wenn 
er — felten einmal — das Bedürfnis hatte, ſich auszuſprechen. Er war ein Grüb- 
ler. Der Krieg, den er nie als Frontſoldat miterlitten, hatte ihn gepackt und das 
rubige Gleichmaß feiner Seele erſchüttert. Der Krieg! Mit dieſem Problem 
rang er. Der ſchreiende Widerſpruch der ſchreckensvollen Geſchehniſſe unſrer 
Zeit zu allen überkommenen Begriffen von Gott und Menſchentum zerſchnitt 
ihm die Seele, und er zerbrach an dieſem Zwieſpalt, den er im tiefſten Innern 
fühlte, ohne ihn überwinden zu können. Sein Denken ſuchte umſonſt des Rätſels 
Löſung, ſein Glaube war ſolcher Erprobung nicht gewachſen. 

Zum Walde? Ein Nicken: wir waren einig über den Weg. Der führte — 
verboten — quer über den Bahndamm, einen Rain hinauf und in der Acker- 
furche zu einem ſchmalen Sträßchen, das genau die höchſte Linie einer langhin- 
geſtreckten Hügelkette markiert. Da ſtanden wir einen Augenblick ſtill. Sn langen 
flachen Wellen kommen die Ardennen von Norden herab und klingen langſam 
aus. Hellſte Sonne über den Bergen. Und doch! Ein Herbes, Verhaltenes, 
Gepreßtes des‘ wie ein Schleier über dem Bilde der Landſchaft. Oder find es 
unſere Augen, die dieſen Schatten hineinſehen in die ſonnenfrohen Farben? 
Unglüdlihes Land! 


12 a Melfinger: Der Grübler und der Krieg 


Rechts hinunter an einem Ginſterhang leitet ein Weg mit ausgefahrnen 
Gleiſen in den Wald. Geheimnisvoller Ardennenforſt, biſt du das Vorbild Böck⸗ 
lins geweſen zu ſeinem „Schweigen im Walde“? Kaum ſichtbar taſtet der Pfad 
durch hohe düſtre Tannen, ein Nadelteppich erſtickt jedes Geräuſch der ſchreiten⸗ 
den Füße. Zerzauſte Flechtenbärte hängen von rauhen Stämmen, und Pilze 
mit gedankenvoll-ſchiefgeneigten Köpfen ſtehen umher wie ein komiſcher Land- 
tag von Wichtelmännern. Im Grunde, wo Sonnenlicht ſieghaft die Waldnacht 
durchbricht, ein Bach. un darübergeſtürzt ein Baumſtamm als willkommener 
Steg. — 

Wir ſtehen auf einer Waldblöße. Vergeſſene Einſamkeit. Wo liegt die 
Welt, wo iſt Krieg? Die Sonne wirft glühendes Licht vom flimmernden Him- 
mel, und ein Summen iſt in der Luft von tauſend Inſektenflügeln. Mannshoher 
Adlerfarn verbirgt uns völlig. Unter dem Erlengebüſch brennen die roten Kerzen 
des Weiderichs, dazwiſchen gelbſternige Lyſimachia. Drüben am abgeholzten 
Hange ein Farbenüberſchwang: meterhohe Weidenröschen zwiſchen Vogelbeeren 
und Fingerhut, maßlos üppig, undurchdringlich. Und über allem ein ſüßer Duft, 
gemiſcht aus hundert Gerüchen von Gras und Kraut und Blüten. 

Jenſeits dieſes lichtfrohen Eilands ſteigt ein junger Kiefernſchlag bergan. 
Umſonſt ſpannt der das blaugraugrüne Spitzengewebe feiner Wipfel gegen die 
Sonne und wehrt ſich mit ſpitzen Nadelfingern. Sie ſpottet ſeiner, und lachend 
ſchwirren ihre Strahlen durch fein Geäſt und finden den Boden und ſtreicheln 
ihn und wärmen und locken, bis Grashälmchen daraus ſprießen, langes, ſchönes, 
weiches Gras. 

„Nicht weiter! Hier bleiben wir.“ Mütze, Rock und Stiefel fliegen auf 
einen Haufen. Der andere entkleidet ſich ganz. Wir liegen im Gras und laſſen 
uns koſen vom Licht der fernen Sonnenmutter. Die ſcheint ſo warm, Gras- 
hälmchen umſchmeicheln Nacken und Füße, ein leiſes Säuſeln und Surren iſt 
rings um uns und über uns. Fetzt ſchlafen! Schlafen und Vergeſſen! Kein 
Krieg mehr. — Frieden. — — Stille. — — — 

„Zum Schlafen hatt’ ich dich eigentlich nicht mitgenommen.“ Ich fuhr 
verwirrt in die Höhe. Mein Kamerad ſtand lächelnd vor mir. Dann ernſt wer- 
dend: „Du haſt ja recht. Schlafen und träumen iſt beſſer als wachen und 
grübeln.“ 

Zch ſuchte mich zu entſchuldigen: Merkwürdige Gefühle befchleichen mid, 
wenn ich im Sonnenſchein im Graſe liege. Ich fühle mich fo geborgen, beruhigt, 
erlöft. Ich bin daheim. Se älter ich werde, je mehr empfinde ich dieſe Zufammen- 
gehörigkeit mit allem Lebendigen, und ich bin glücklich in dieſem Gefühle des 
Angeſchloſſenſeins an die unendliche Natur. Die Erde iſt unſre Mutter. Soll 
ich nicht ſchlafen und träumen dürfen, wenn ich bei ihr bin? 

Er ſtimmte zu. „Ja. Auch mir iſt oft, als wuͤchſe ich aus der Erde wie eine 
Blume. Dann möchte ich Bäume und Büſche und alles Lebendige umarmen als 
meine Geſchwiſter. Wie hat ſich der Menſch, indem er ſich über die Erde erhob, 
doch ſelbſt ausgeſtoßen aus dem Paradieſe, iſt fremd geworden in n Heimat- 
garten.“ 


ar 


Meiflnger: Der Grübler und der Krieg 15 


Ich ſchwieg, denn ich wußte, er wollte keine Unterhaltung. Plötzlich zuckte 
er lauſchend auf. Seit einiger Zeit war ein Knurren und Murren in der Luft 
wie von argwöhniſchen Hunden. Jetzt ſchwoll es an und war wie das gröhlende 
Brüllen hungriger Beſtien. 

„Die Kanonen von Verdun“, ſagte ich leiſe. Er nickte haſtig und ein ver- 
ächtliches Lachen umzuckte feinen Mund. 

„Du willſt dich vor Enttäuſchungen bewahren? Zch rate dir, denke gering 
von den Menſchen! Unſre Feinde belehren mich. Hörſt du, ſie brüllen uns zu 
mit Kanonenmäulern, daß ſie für Kultur und Sitte kämpfen. Sie ſtreiten für 
edelſtes Menſchentum, und weil wir's nicht glauben, werfen ſie Eiſenbrocken, 
die ſplittern in Scherben wie zerſchlagene Töpfe und freſſen lebendiges Menfchen- 
fleiſch. Es iſt grauenhaft!“ Er ſchlug die Hände vor die Augen. „Tiere und 
Menſchen hielt ich für Geſchwiſter. Ich Narr! Vo wäre ein Tier, das alle Kräfte 
der Natur zuſammenraffte wie ein Teufel, die eigne Gattung zu vernichten? 
Das tut kein Tier. Das tut der Menſch, das Übertier.“ 

Das Entſetzen ſchüttelte ihn. Ich ſuchte zu beruhigen. Er ſah mich ſtarr, 
wie abweſend, an, noch immer lauſchend, als ſuche ſein Ohr in dem Gedröhn 
einen beſtimmten Ton. Seine Seele bebte unter jenem unheimlichen Grollen, 
das im ſonnigen Frieden dieſes ſtillen Waldwinkels dreifach wahnvoll ſchien. 
Plötzlich ſagte er ganz unvermittelt: „Wenn dieſer Krieg der letzte wäre, dann 
hätte die Menſchheit einen gewaltigen Schritt vorwärts getan dem unbekannten 
Ziele ihrer Entwicklung entgegen. Und einmal muß der letzte Krieg kommen! 
Man mag immerhin den Weltfrieden eine Utopie ſchelten; darauf hinzuarbeiten 
bleibt doch unſre Pflicht! Er iſt ein Ideal. Welches Ideal iſt je erreicht wor- 
den? Sind vollkommene Gerechtigkeit und Freiheit, Humanität und alle Tugen- 
den nicht ebenſo unerreichbar? Und doch ſind ſie Ziele, Richtungspunkte, und 
die Menſchheit drängt ihnen nach mit der lechzenden Begierde erlöfungsbedürf- 
tiger Seelen.“ Und nach einer kleinen Pauſe: „Es gibt Vernunftheiraten und 
Liebesehen. Die heutigen Völkerbünde ſind Vernunftheiraten. An ihren Früchten 
ſollt ihr ſie erkennen! Es muß anders werden, es muß anders werden, ſollen 
nicht Blutopfer in alle Ewigkeit zum Himmel rauchen! Wenn Geld erraffen 
nicht mehr den Inhalt des Menſchenlebens bildet, wenn jeder einzelne zu einer 
höheren Auffaſſung vom Zwecke des Daſeins ſich hinaufgearbeitet haben wird, 
dann wird aus dieſer wahren Menſchwerdung des einzelnen die Menſchwerdung 
der Völker und Nationen ſich von ſelbſt ergeben, und dann werden Kriege wie 
Reſer unmöglich fein. Und daran ſollſt du helfen!“ 

Es klang wie ein Gebot. Er lag auf den Knien, die gefalteten Hände auf 
den Erdboden geſtützt; das Sonnenlicht umfloß feine Geſtalt. So ſah er aus wie 
ein Betender. 

„Wenn das der Sinn des Krieges iſt,“ ſprach er feierlich, „fo find alle ge- 
ſegnet, die dafür kämpfen und darben.“ 

„Der Sinn des Krieges! Hat der Wahnſinn einen Sinn?“ 

Er ſah mich forſchend an. „Eine Gegenfrage: Hat die Welt einen Sinn?“ 


„ga!“ | 


14 Meifinger: Der Grübler und der Krieg 


„Warum meinſt du das?“ 

„Weil es ein widerſinniger Gedanke iſt, daß dieſer ungeheure Aufwand 
an Kraft, den wir ‚die Welt“ heißen, ganz ſinnlos ſei, weil es mir unerträglich 
iſt, das Daſein für zwecklos zu halten.“ 

„Das iſt kein Beweis. Aber immerhin. Es iſt auch mein Standpunkt. 
Dann aber hat auch der Krieg einen Sinn, denn er iſt ein Teil der Welt.“ 

„Ich geb' es zu. Aber was iſt fein Sinn?“ 

„Ich weiß es nicht. Warten wir fein Ergebnis ab. Das Ergebnis des Krieges 
iſt der Sinn des Krieges; es gibt keinen anderen.“ 

„Ich weiß wohl, was du unter ‚Ergebnis‘ verſtehſt. Und wenn er kein 
ſolches ‚Ergebnis‘ haben wird?“ 

„Dann — — war er ſinnlos!“ | 

Schweigen. Das Brüllen der ſtählernen Raubtiere zitterte in der ſonnigen 
Luft. Der gequälte Ausdruck kam wieder in ſein Geſicht. 

„Man ſagt, der Krieg ſei Strafe und Mittel zur Beſſerung. Das kann nicht 
ſein! Wie kann ein Krieg, der ärgſte Rückfall der Menſchheit in Barbarei, die 
Menſchen beſſern? Ein Krieg, der das Roheſte und Tieriſchſte im Menſchen weckt, 
der Haß und Vernichtung, Lüge und Mord zum Tagewerk von Millionen macht? 
Treibt man den Teufel aus durch Beelzebub?“ 
| Er ſtand auf. Ich merkte, er wollte noch etwas fagen, aber er zauderte, 
ob er ſprechen ſollte. Liebkoſend ſtrichen feine Finger über einen Kiefernzweig, 
der wie eine Straußenfeder vor ſeinem Auge ſchwankte. Aber ſeine Gedanken 
gingen weit im Grenzenloſen. Er hatte mir halb den Rüden gekehrt. Und plöß- 
lich, als fürchtete er, es könne ihn reuen, begann er: 

„Ich glaube, die Beſchäftigung mit religiöſen Dingen iſt mehr ein ſpät 
zutage tretendes Ergebnis der Erziehung, als eine Frucht eignen Nachdenkens. 
Wenigſtens ſcheint mir, daß vielen Menſchen die Beſchäftigung damit nur des- 
halb ſo ſchwer fällt, weil ſie in ihrer Kindheit nie darauf hingewieſen worden 
ſind. Und fpäter find fie ‚zu klug“ dazu. Aber wenn ſchon Vorurteile die ſchlimmſten 
Hinderniſſe auf dem Wege zu klarer Erkenntnis ſind, ſollte nicht Freidenkertum 
ſelbſt ein Vorurteil ſein? Wieviel Köpfe ſind erleuchtet genug, ſich ihrer klugen 
Unwiſſenheit bewußt zu fein? 

Was wiſſen wir von Gott? Gott? Millionen ſprechen dieſes Wort, aber 
es ſind nicht zwei, die mit dem gleichen Worte die gleiche Vorſtellung verbinden. 
Ein jeder braucht einen anderen Gott für ſeine Bedürfniſſe und Nöte, ein 
jeder hat einen anderen Gott, denn jeder ſieht feine Charaktereigenſchaften in 
ſeinen Gott hinein. Jeder einzelne, jedes Volk, jedes Zeitalter. Aber die heißeſten 
Herzenswünſche einer ganzen Menſchheit reichen nicht hin, um einem Gotte 
Eigenſchaften aufzuzwingen, die ihm fremd find.“ 

Er hatte ein junges Bäumchen geſaßt und umklammerte es mit beiden 
Händen, als ob er es zerpreſſen wollte. Und ein Schluchzen war in feiner Stimme, 
als er nun fortfuhr: „Wenn ſo ein Menſchenherz vom Peitſchenhieb des Krieges 
getroffen ſich aufbäumt in raſendem Schmerze, dann gellt der wilde Schrei der 
Anklage: Du Gott der Liebe, wie konnteſt du das geſchehen laſſen! Millionen- 


2 


Meifinger: Der Grübler und der Neleg 15 


fach tönt dieſes Kreiſchen faſſungsloſeſter Verzweiflung, ſeitdem der Krieg die 
zitternde Menſchheit geißelt. Zwiſchen brutalſten Tatſachen und liebſtem Wunſch⸗ 
Raubes taumelt der aufgeſchreckte Menſch, und ratlos bleibt allein als Weisheit 
letzter Schluß: Es iſt kein Gott! 

Doch dieſe furchtlos-furchtbare Folgerung iſt falſch! Wohl iſt ein Gott! 

Der Urgrund alles Seins und aller Entwicklung Ziel, des ganzen Univerſums 
letzte, tiefſte Einheit, der Sinn alles Geſchehens, der Zweck des Daſeins, das Un- 
geheure der Welt und alles Geheimnis, das ſie durchbebt, und alle Kraft, die in 
ihr wühlt und ſchafft und die ſie treibt und trägt, Gedanke und Wille und alle 
Sehnſucht des Menſchenherzens und alles Wunder und Rätſelhafte im Leben 
und im Sterben: das iſt Gott! Wohl lebt ein Gott! Aber — er iſt nicht fo, wie 
wir & wünſchten, daß er ſei! Ich weiß nicht, wie er iſt. Er iſt wie die Welt, gut 
und böſe zugleich! Du hoher, unbekannter Gott! Lichtſucher waren die Men- 
ſchen, ſeitdem der erſte Gedanke in einem Menſchenhirn aufzuckte. Nun laß ihn 
endlich kommen, den Lichtbringer, den Rätſellöſer, der unſer hellſtes neues 
Wiſſen mit tiefſt-uraltem Fühlen in Einklang bringe, daß er den Zwieſpalt töte, 
der unſre Seelen zerbricht!“ 

Er hatte es in höchſter Ekſtaſe gerufen. Die Arme emporgeſtreckt, blickte er 
ſtarr in die blaue Höhe. Auf einmal ſanken ſeine Arme herab, er ſah ſich ſuchend 
um, ſchuͤttelte den Kopf und plötzlich brach er zuſammen. Erſchrocken ſprang ich 
hinzu. Sein Körper war nicht ſtark genug geweſen, dieſer äußerſten Erregung 
ſeiner nach dem Höchſten greifenden Seele ſtandzuhalten. 

* * 


* 

Mein Freund hat nie mehr über dieſe Dinge geſprochen. Die Natur hatte 
mit ſoviel Verſchwendung die geiſtige Seite ſeines Weſens ausgeſtattet, daß ſeine 
körperliche Bildung benachteiligt worden war. Seine Kräfte ſchwanden von 
Tag zu Tag. Es wäre ein Verbrechen geweſen, eine Unterredung zu ſuchen, die 
neue Erſchuͤtterungen bringen konnte. 

Eines Herbſtnachmittags gedenke ich noch. Wir gingen zuſammen zu einem 
Hügel, der ohne Schroffheit aus der Ebene wächſt. Weißſtämmige Birken mit 
goldfarbenem Laube ſtanden wie Körper gewordenes Licht gegen den blauen 
Himmel. Herbſtſonne ſchimmerte auf jedem Zitterblättchen, daß es wie von 
innen durchleuchtet ſchien. Ergriffen ſtanden wir und betrachteten dieſe ſtumme 
Offenbarung ewiger hoher Schönheit. Da ſagte mein Freund: „Dieſe Birken 

ſind ein Gleichnis meiner ſelbſt. Heute ſprühen ſie und glänzen wie Licht, das 
nie erlöfchen könnte. Komme wieder nach acht Tagen, und du wirſt nichts mehr 
finden als totes Geſtrüpp.“ 


* * 
* 


Dezember. Mein Kamerad lag ſeit Wochen im Lazarett. Hoffnungslos. 
ich hatte ihn beſucht. Sein Lager ſtand am Fenſter, frei ſchweifte der Blick ins 
Weite. Ein wundervoller Wintertag. Ein Farbendreiklang beherrſchte die ganze 
Natur: braungrau die weitgedehnten Wälder an den Bergen, goldblau der reine 
Himmel und weiß die Fläche der Erde. Kühl und weiß. So ruhig, ſo klar die 
ganze Natur. Und ſtille. Ein Krankenzimmer iſt ſo ſtill und weiß. Die ganze 
Erde ift ein Lazarett. — — 


16 8 Heidfled: Die Schlacht 


Die ſcheidende Sonne blutet. Ein Feuerſtrom quillt aus geöffnetem Him- 
melstor über die weiße Weite; jede Erhebung der Fläche glüht, ein Leuchten 
glänzt auf aus dem bleichen Schnee. Die kampfmüde Erde lächelt, ein krankes 
Kind, dem zitternde Mutterhände die feuchte Stirne ſtreicheln. 

Ich ſpüre den Druck einer heißen Hand. Mein Freund ſitzt aufrecht in feinem 
Bette. Die glänzenden Augen, die ſoviel Schönheit der Natur mit nie geſtilltem 
Durſte tranken, ſtarren verzückt in jenes lichte Wunder. Verklärend ſchmeichelt 
ein Abglanz auf ſeinen blaſſen Wangen. Er atmet tief und ruhig. Dann ſieht 
er mich an mit langem feſtem Blicke und legt ſeine beiden Hände in meine. — 

Plötzlich — was iſt? Ein fahles Grau huſcht über den weißen Schnee und 
würgt das goldene Leuchten, blaue Schatten fallen ein, ſtarr wird das Antlitz 
der Erde. — Ein Grauen greift nach meinem Herzen. 

Sind wir ein Spiel von jedem Oruck der Luft? — An dieſem Abend 
ſtarb mein Freund. ö 


9 


FRA Y See 
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Die Schlacht Von Hans Heidfied 


Einſchneidendes Praſſeln: — Maſchinengewehr. — 
Verworrene Stimmen; — Granaten. — 

Sprung auf! — Eine Welle am Graben her; 
Rauch; Erde und klappernde Spaten. 


„Hier! Hier!“ — Lautes Rufen. — Ein Stoß, — ein Schrei! — 
Blut. — Orähte, gleich zuckenden Armen. — 

Zerſchoſſene Tanks — eine Straße — — vorbei! — 

Ein Chriſtusbild. — „Zefus! — Erbarmen!“ — —- 


Stumpffinnige Blicke. — „Verrückt!“ — Wer rief? — 
Schrapnells. — Ein zerſchmetterter Schädel. — 

Ein Sterbender, röchelnd. Ein Liebesbrief, 
Zerknittert: — „Mein herziges Mädel!“ 


Am Ziel! — Tiefe Trichter. — Ein Kolbenſchlag. 
Aufatmen. — Ein Sprung in den Graben. — — 
Rotſchimmernde Wölkchen. Erwachender Tag. — 
Auf einſamen Feldern zwei Raben. 


Seidl: Kricgeverlängerung 17 


Kriegs verlängerung 
Von Dr. Otto Seidl 


raf Hertling hat den Wunſch Naumanns erfüllt, noch deutlicher und 
ausdrücklicher zu erklären, daß wir „Belgien nicht behalten wollen“. 
Er verzichtet aber auf die naheliegende Drohung, daß wir Belgien 
doch behalten werden, wenn England und Japan — Frankreich und 
Belgien ſelbſt gegenüber haben wir ja Fauſtpfänder — uns unſere überſeeiſchen 
Schutzgebiete nicht zurückgeben. Warum wird diefe Drohung nicht ausgeſprochen? 
Warum wird ſo getan, als wäre die Rückgabe der Kolonien durch Japan und 
England, die keinen Fußbreit ihrer Gebiete verloren haben, während ihre feft- 
ländifhen Bundesgenoſſen von uns niedergeworfen oder ſchwer beſchädigt ſind, 
eine Selbſtverſtändlichkeit, falls wir nur dieſe „wiederherſtellen“? 

Der Grund, daß die naheliegende Drohung nicht ausgeſprochen wird von 
unſeren Staatsmännern, liegt darin, daß ihre Wirkung zu unſicher iſt. Würde ſich 
Belgien dadurch veranlaßt ſehen, England um Rückgabe der deutſchen Schutz- 
gebiete zu erſuchen und im Falle der Ablehnung dieſer Bitte nach einem Sonder- 
frieden mit uns zu ſtreben? Wohl nicht. Der deutſchen Regierung aber bliebe, 
nachdem die Drohung ſich als wirkungslos erwieſen, nichts übrig, als einzu— 
geſtehen, daß ihre ganze Rriegsziel- und Friedenspolitik verkehrt 
war, nie darauf berechnet, den Gegner einzuſchüchtern, vom Siege des Deutfch- 
tums in Europa zu überzeugen, ſondern immer nur ſo geartet, daß die Sozial- 
demokratie, auch ſoweit ſie einem deutſchen Siege abgeneigt iſt, mitmachen 
konnte. 

Ich ſehe einen Fehler der Vaterlands-Partei, deren Mitglied ich bin, darin, 
daß ſie nicht eingeſteht, daß wir außerhalb Europas den Krieg verloren haben und 
auf die überſeeiſchen Schutzgebiete verzichten müſſen, wenn wir den Sieg in Europa 
behaupten wollen. Zur Rückerwerbung der außereuropäiſchen Gebiete iſt das in 
Europa ſiegreiche Heer völlig außerſtande, und es fragt ſich, wie lange es über- 
haupt noch Politiker in leitenden Amtern dulden wird, die ihm ſeine Leiſtung, den 
Sieg in Europa, verſchandeln und ihm Unmögliches zumuten: durch Kämpfe in 
W und Belgien Afrika zurückzuerobern. 

Es iſt richtig, daß der Januſchauer nur die Wirkung der Friedensreſolution 
und der Verzichtfriedenspolitik auf die Feinde berechnet, nicht ihren ethiſchen 
Gehalt und ihre „edlen Motive“. Mit der von Naumann geprägten Formel „Mein 
Lund, mein Recht!“ können wir den Engländern aber nichts beweiſen. Uns 
könnten damit die Wahehe und die Hottentotten kommen. Die Formel würde ſich 
für. die Bulgaren eignen, die von ihrem Siege „nichts weiter“ wollen als die 
Vollendung ihrer nationalen Einigung auf Koſten ihrer beſiegten Nachbarn. Würde 
der Reichstag das gleiche für das Oeutſchtum fordern und die Zurückſtellung ent- 
gegenſtehender dynaſtiſcher Belange verlangen, fo könnte man höchſt einverſtanden 
ſein. Aber davon, daß Deutſchböhmen mit dem Hungertode bedroht 
wird durch die Tatſache, daß es nicht vom preußiſch-deutſchen Kaiſer, Bus 

Der Türmer XX, 13 


S 
— N, 2 
En 


7 


18. Seidl: KNriegsverlängerung 


vom Kaiſer der Tſchechen regiert wird, ift nie die Rede. Das Deutſchtum zeigt 
ſich völlig unklar über die Ausſichten, die ſich ihm in Europa auf Grund ſeines 
militäriſchen Sieges eröffnen, und erfüllt durch die beſtändig betonte Friedens- 
Sehnſucht nur immer wieder die Feinde mit Siegeshoffnung. Wenn England 
ſich nicht mit Neuſeeland, Auſtralien und Südafrika auf den Tod verfeinden will, 
hat es keine andere Möglichkeit als die, ſeine feſtländiſchen Bundesgenoſſen immer 
wieder durch Hinweis auf die Ermattung bei den Mittelmächten zum Feſthalten 
an ihren europäiſchen Eroberungszielen zu veranlaſſen. 

Bei uns aber fürchtet die Vaterlands-Partei offenbar, die „kolonialen Kreiſe“ 
in das Lager der Friedensreſolutionäre zu treiben durch das Eingeſtändnis, daß 
die Kolonien dauernd verloren ſind. Mit ihrem Streben, die Beſtätigung des 
deutſchen Sieges in Europa zu ſichern, lädt ſie bei den breiten Volksmaſſen lieber 
den Vorwurf der Kriegsverlängerung auf ſich. Die wirkliche Kriegsverlängerin 
iſt natürlich die Sozialdemokratie mit ihren ausgeſprochen reaktionären Kriegs- 
zielen: Ein Friede „ohne Annexionen und Entſchädigungen“ iſt ja das ſchlimmſte, 
was der Menſchheit blühen könnte! Er bedeutete Wiederherſtellung der Überlebt- 
heiten, Angeheuerlichkeiten, Unerträglichkeiten, die den Krieg herbeigeführt haben. 
Alle Opfer an Sitte, Menſchenleben, Gütern wären umſonſt gebracht. Die Über- 
lebenden würden durch keine Verbeſſerung, keinen Fortſchritt entſchädigt für ihre 
Opfer und Leiden! 

Vorläufig überläßt das Heer es ja der Bureaukratie ganz nach deren Be- 
lieben, die Friedensſehnſucht des Volkes durch eine begütigende Unſchulds- und 
Beteuerungspolitik hinzuhalten und durch dieſe fromme Täuſchung dem Heere 
wenigſtens das Weiterkämpfen zu ermöglichen. Mehr verlangt ja auch die Sozial- 
demokratie nicht, als gelegentliches, möglichſt energiſches Abrücken von den „annexio- 
niſtiſchen“ Kriegszielen der „Alldeutſchen“, höfliche Verbeugung vor dem pazifiſtiſchen 
Prinzip. Wie aber, wenn Volk und Heer ſich darüber klar und darin einig werden, 
daß fie in ihrem gemeinſamen Ziel („baldiger dauernder Friede auf Grund deutſcher 
Sicherung als Ausdruck des deutſchen Sieges“) hintergangen werden? Warum 
ſollten Heer und Volk nicht bei dem reichen Erfahrungsſtoff allmählich zu der 
pſychologiſchen Schulung gelangen, die für dieſe Auffaſſung allerdings Vorbedin- 
gung iſt? Oder glaubt und hofft (21) man etwa, das Volk würde dem Heere 
die Schuld an der Kriegs verlängerung geben, weil das Heer immer ſiegt und ſiegt 
und damit einen Verzichtfrieden verhindert? Naumann hat Äußerungen getan ...! 

Aber die ehrlichen Friedensfreunde können ſich leicht rechtfertigen, wenn 
ſie nur die Frage der Kolonien richtig behandeln lernen. Nachdem die Schweizer 
Pazifiſten (Prof. Broda in Bern) uns für die Abtretung von Oberelſaß und Loth- 
ringen ein „blühendes Kolonialreich in Afrika“ verſprechen, ſind alle afrikaniſchen 
Pläne belaſtet mit dem Bedenken, daß ihre Hervorhebung durch uns — Frankreichs 
Siegeswillen und Streben nach Elſaß-Lothringen ausſichtsreich erſcheinen läßt 
und kräftigt. Aber ſelbſt wenn wir zu günſtigeren Bedingungen in Afrika große 
Erwerbungen oder Rüderwerbungen machen könnten, iſt zu bedenken, daß dieſe 
erſt wieder langwierige, koſtſpielige blutige Kriege erfordern würden, da wir die 
Autorität über die Niederraſſen längſt verloren haben. Und ſelbſt wenn eines 


L 


Yäte: Dorfrüblingsabend 19 


gelänge, dieſe ſchließlich wiederherſtellen zu laſſen, wären wir im Verkehr mit 
unferen Kolonien immer von dem Wohlwollen des ſeegewaltigen England ab- 
hängig, deſſen Seeherrſchaft wir durch den rückſichtsloſen U- Boot-Krieg wohl 
ſchädigen, aber keineswegs durch die unſere erſetzen konnten. 

Freilich, wenn einmal das Eingeſtändnis gemacht iſt, daß — aus Rückſicht 
auf das Heer — der Sieg in Europa reſtlos ausgenützt und rückſichtslos behauptet 
werden muß, weil der Krieg außerhalb Europas völlig und hoffnungslos verloren 
iſt, dann wird der Regierung nichts anderes mehr möglich fein, als ſich der Vater 
lands-Partei in die Arme zu werfen und auf die Zufriedenheit der Sozialdemo- 
kratie zu verzichten. Bezüglich Belgiens wäre es wohl noch immer das beſte, nur 
die kleinen hochdeutſchen Gebiete zu behalten, Wallonien Frankreich zur Aus- 
ſöhnung anzubieten, durch Zuweiſung von Flandern an Holland dieſes mit ſeinen 
reichen Kolonien für uns zu gewinnen. Wird aber ein Kanzler, der den wirklich 
baldigen Frieden unter Verzicht auf das Verlorne, aber auf Grund des deutſchen 
Sieges in Europa durchſetzt, wird dieſer Kanzler noch viel anders ſein können 
als der, den ſich v. Oldenburg (Januſchau) erſehnt? 


Vorfrühlingsabend Won Ludwig Bäte 


Nun ſpinnt das Dorf der ſtille Abend ein, 
Die blauen Schatten heben ſich gemach 
And breiten ſacht das weiche Schwingenpaar 
Um Eichenknorren, Feld und Bauerndach. 


And immer ſchluchzt ein ſüßer Droſſellaut 
Von eines alten Hauſes ſteilem Firft ... 
O daß in ſeiner ſcheuen Melodie 

Mein übervolles Herz nicht jäh zerbirſt! 


Das Lebenswunder ringt ſich ſtark empor, 
Die jungen Halme träumen neues Brot. 
Verlöſchend fließt der ſüße Vogellaut 
Hinüber in gedämpftes Abendrot. — — 


20 | Hein: Märzmäͤrchen 
Märzmärchen 
Vom Kriegsfreiwilligen Alfred Hein 


lieb der Urlauberzug mitten im Walde ſtehen. Einige ſagten zwar, 
es ſei wohl der Dampf ausgegangen. Aber ich glaube, der Frühling 


A2 


kam. Und da erſtaunte der olle Urlauberzug denn doch — — — Za, 
ja, ſo war's — oder vielleicht hat gar ein Engelein dem Lokomotiv- 
führer leisfilbern zugeflüſtert: Bft! Merkſt du nichts — —? 


Hatte ich auch noch eben brennende Eile, nach Haus zu gelangen, der Früh- 
ling iſt einer, der ſelbſt dieſen heißen Wunſch vergeſſen macht. 

Ich weinte faſt, daß ihn die andern noch gar nicht zu beachten ſchienen. Nicht 
etwa trug er ſchon fein hellgrün oder gar buntes ſonnblitzendes Gewand. Nein, 
nein, die Erde lag voll ſchwarz zerrinnenden Schnees. Nur der blauen Himmelstiefen 
Zartheit, das Beben des Waldes und die Wolken. Da waren aberhundert, und 
jede luſtig und jede leicht und die eine roſaleis und die andre gülden angehaucht. 
Dieſe Wolken erinnerten an lang lang vergeſſene Kinderzeiten. Und dieſe Kinder- 
zeiten ſagten wieder: Glaub’ es nur ruhig! Es find Frühlingsfarben, die die Wölk 
chen haben! Glaub' es nur! Und ſiehe, die Wölkchen verſtanden mich wieder wie 
als Kind. Iſt der Frühling kommen? fragte ich und faltete die Hände. Würden 
wir ſo lächelnd verwehen, wenn nicht in ſeine leuchtende Ewigkeit? ſangen einige, 
die ſüßeſten, lichteſten Todes zerfloſſen.. 

And eine heiter weiße, die wie ein Täſchchen ausſah, das von ganz ſachten 
Traumſchleiern umhaucht Elflein trugen, ſank in den Wald hinein. Darin waren 
die Schneeglödlein. . . 

Hatte mir das der Frühling ſelbſt geſagt? — Voher ſollt' ich's ſonſt wiſſen? 

Die Kameraden werden ungeduldig und brummen: Bummelei! Da ſchaue 
ich ſie lachend an mit ſicher ganz verträumten Augen. 

„Ich gloob gor, der Friiling iſt kimma!“ meinte ein ſchleſiſcher Landwehr 
mann. Ich nickte freudig. 

Wir machten das Fenſter auf. Weiche, kühle, zitternde Winde trugen uns 
Unfagbares ahnenden Abend in den Wagen. Es war ganz ſtill. 

Langſam glitt der Zug in die Dämmerung weiter. Ein taumelnder Shwarm 
zerfließender Nebelunholde ſchlich von den andächtigen Wieſen. 

Bald war die Nacht da. Sie gab Myriaden Sterne in ſattem reinem Dunkel- 
blau. Sie dehnte das Land mondüberſilbernd ſo klar, daß man die Elfen im Walde 
huſchen ſah und weit, weit her hörte, wie ein Mädchen Sehnſucht ſanng. 

Waren die Mienen bei der Abfahrt von der Front noch hart, ja, manche 
verbiſſen, — jetzt ſaßen wir alle mit gefalteten Händen, das Herz voll träumender 


‚Erinnerungen, die Augen aber ſprachen übergroß und ſanften Glanzes: Noch nie 


kan der Frühling fo ſchön. 

Lächelnd ſchlief einer nach dem andern ein. 

Mir aber floſſen die Hände immer wieder in den lauen feinen Wind 
bis ich einträumte, da war's, als hätten ſich die Hände in leichte Blüten verwandelt 
und mein Leben ſelbſt wäre das eines ſtill erblühenden Baumes in einer einſamen 


frühlingerwartenden Wieſe. 


a — — 


— — 


x 
= 


1 


SI 


= 


VE 8 14 


Die Balten 


d Fer hat von den drei baltiſchen Provinzen, Kurland, Livland, Eſtland, dieſer 
\ ee deutſchen Kolonie, zu reden ſich getraut, als im Auguſt vor drei Jahren 


IS 

Kamen? „Die baltiſchen Männer, die zu uns von der großen Sehnſucht ihres Lebens zu ſprechen 
anhoben,“ erinnert Dr. Richard Bahr in der „Kölniſchen Zeitung“, — „der ſelben Sehnſucht, 
die ſie einſt aus der ſchwärmeriſch geliebten Heimat ins Mutterland zurückgetrieben hatte, 
ſah man — die Schlacht an den Maſuriſchen Seen war längſt geſchlagen — wie Schwärmer 
und Querköpfe an, die für ihr und der Ihren kümmerliche Einzelſchickſale den deutſchen Staat 
zu engagieren ſich erkühnten. Etwas beffer iſt es ſeither geworden, etwas, nicht viel. Hier. 
und da im Reich bildeten ſich bald größere, bald kleinere Gemeinden, in der Oberſchicht der 
deutſchen Bildung nebenbei mehr als im Mittelftand und in den breiten Maſſen, den Hanfe- 
ſtäd ten leichter als im Binnenlande, die ihre Teilnahme und ihre Wünſche bis an die Dina 
und die Baltiſche See trugen. Aber ſie glichen dem Prediger in der Wüſte, die große Mehr- 
heit der Nation blieb ungerührt. Selbſt die gar nicht geringe Zahl der Politiker und Beamten, 
die man zu Beſuchsfahrten erſt nach Kurland und dann nach Riga lud, kam über ein gewiſſes 
vornehm-läſſiges Neuigkeitsintereſſe nicht hinaus. Auch jetzt noch konnte es geſchehen, daß 
in einem immerhin führenden Blatt des deutſchen Bürgertums die in dieſer Zuſpitzung ſchlecht⸗ 
hin närriſche Frage geſtellt wurde: Kurland oder Afrika? (Wobei der in Volkswirtſchaft di— 
lettierende Verfaſſer, als ob es ſich dabei um unüberbrückbare Gegenſätze handelte, für Afrika 
ſich entſchied.) Weil aber die Balten anders find als die Reichsdeutſchen, aus Gründen der 
Geſchichte und der Geographie einſtweilen anders fein müſſen, ward auf fie von den feld- 
grauen Verwaltern des Landes, alſo von Deutfhen auf Deutſche, das bitter ätzende Wort 
dom ‚Edelpanje‘ gemünzt. 

Die Stunde der Entſcheidung naht. Was fie bringen wird, vermag niemand zu kün- 
den. Nur das eine, daß ſie ſo oder ſo Bleibendes ſchaffen muß. Flutet die deutſche Welle 
noch einmal von den baltiſchen Geſtaden zurück, ſo iſt, was bisher immerhin ein 
Außenpoſten deutſcher Kultur war, endgültig für ſie verloren. Denn ob dann eine 

andere Macht den vöoͤlkerrechtlichen Schutz der ſelbſtändig gewordenen Oſtſeelande übernimmt, 
ob nach einem ſchon vor langen Jahren entworfenen Plan, deſſen Ausführung nur der Aus- 
bruch des Krieges hintanhielt, der nun, nach dem Erſticken der Stolipinſchen Agrarreform, 
doppelt landhungrige großruſſiſche Bauer feine Maſſen bis an das Meer vorſchiebt — für 
Deutſchtum und deutſches Weſen wird dort oben kein Raum mehr ſein. 

Früher pflegte man, um einen Rechtstitel zu haben für die kühl abweiſende Gebärde, 


mit der man ihnen begegnete, den Balten nachzureden, ſie hingen in ihres Herzens Grunde 


22 Die Bolten 


doch an Rußland. Sie ſtrebten zum Zarenhofe, dem ſie Diplomaten und Militärs in großer 
Zahl lieferten, und wären auch anſonſten eifrige und gefügise Diener des Zarismus. Richtig 
daran iſt, daß im Ablauf der Generationen, bis in bie Zeiten Alexanders II. verhältnismäßig 
häufig, hernach doch recht ſpärlich Balten nach Rußland abgewandert und dort zu Würden, 
Amtern und hohen Ehren gediehen find. Manche darunter, die nachher innerlich zu Ruſſen 
und gelegentlich wohl auch zu gehäſſigen und fanatiſchen Vorkämpfern der ſlawiſchen Idee 
wurden. Dennoch waren das, bei Licht beſehen, nur Ausnahmen. Wer dergeſtalt fortzog, 
war nach Rußland‘ gegangen und galt der Heimat, mit der ihn kaum noch ein Band 
verknüpfte, als verloren. Aber Hand aufs Herz: wohin hätte der Überſchuß der Talente, 
der nach einer Tätigkeit im großen Verlangenden, denn auch ſich wenden ſollen? Offnete 
das Mutterland ihnen etwa gaſtlich und bereitwillig die Arme? Mußte nicht viel- 
mehr ein jeder von uns, den ein heißes Temperament von der Scholle der Väter vertrieb, 
ſich und fein Recht am deutſchen Staate erſt mühſelig durchſetzen? Scholl ihm nicht immer 
wieder, was gerade auf die Hochgeſtimmten und Enthuſiaſtiſchen wie ein Peitſchenhieb wirkte, 
die hochmütige Rede entgegen: ‚Du biſt ja gar kein Oeutſcher, biſt ein Ruffe‘? Was 
Wunder, daß juſt die Feinfühligſten, die am zarteſten Empfindenden, ſich gekränkt, beleidigt, 
verbittert nach ein paar in froſtiger Einſamkeit verlebten Semeſtern wieder heimwärts wandten 
oder dahin, wo ſie ſich nicht erſt durch ein Gebirge von Eis hindurchzuquälen hatten? Freilich, 
auch die im Baltikum Gebliebenen taten ihre ſtaatsbürgerliche Schuldigkeit und hielten den 
jeweiligen Zaren die Treue; mitunter mit einer Hingabe, die ſchon in triefende Loyalität 
ausartete. Ich habe das früher nicht begriffen und habe mich deshalb als junger Burſch von 
meinen Landsleuten, mit denen mich heute die innigſte Arbeits-, Gefühls- und Gefinnungs- 
gemeinſchaft vereint, getrennt. Seither habe ich einſehen gelernt, daß anders die Aufgabe, 
die ſie ſich geſtellt hatten oder die ihnen vielleicht auch vom Schickſal geſtellt war, kaum ſich 
löſen ließ. Nur indem ſie bedingungslos der Obrigkeit, die Gewalt über ſie hatte, 
gaben, was der Obrigkeit war, konnten ſie, wennſchon in immer enger werdendem Bereich, 
hoffen, ſich ihre deutſche Art zu retten und ſie aufzubewahren für eine beſſere 
Zeit. Immer aber blieben dieſe. Balten von dem dunkeln Gefühl getragen, daß, wie wir 
altmodiſchen Leute ſagen, die Wege Gottes wunderbar ſind, noch nicht aller Tage Abend 
wurde und es Ehrenpflicht ſei, der ungewiſſen Zukunft hier ein deutſches Beſitztum zu 
bewahren. 

Heute naht man den Balten in Deutfchland mit dem Vorwurf heimlicher Ruſſen- 
freundſchaft nicht mehr. Sie haben in den Kriegsſtürmen, in denen ſie ja immer nur die 
von hüben und drüben mißhandelten und beargwöhnten Objekte waren, ihre deutſche Ge- 
ſinnung vieltaufendfältig bewieſen. Haben unter Gefahren für Leben und Eri- 
ſtenz für unſere Gefangenen geſammelt und geopfert, find um deswillen in Scharen 
nach Sibirien und in die Kerker des europäiſchen Rußlands gewandert, und ſelbſt 
für die am ſtärkſten von Lopalitätsbedenken Angekränkelten hat der Sturz des zweiten Niko⸗ 
lai, dieſes vielleicht treuloſeſten aller Romanow, das letzte Band zerrifjen. Dafür be- 
ſtreitet man ihnen nun auf Grund ihrer Zahl die Legitimation, im Namen des Landes zu 
reden. Man heißt fie geringſchätzig ‚die dünne deutſche Oberſchicht“ oder, wenn man ſich den 
Applaus der Galerie zu ſichern wünſcht, ‚Die paar baltiſchen Barone“, obgleich ſchon ein flüch- 
tiger Blick auf die zahlreichen, über alle Univerſitäten und Redaktionskanzleien Deutſchlands 
verſtreuten Balten lehren müßte, daß ſo ganz unbeträchtlich das bürgerliche Element in den 
Oſtſeeprovinzen nicht fein könnte, das fo viele Schößlinge noch ins Reich zu entſenden ver- 
mochte. Dennoch trifft es zu: zahlenmäßig find die Oeutſchbalten eine Minderheit, find 
ſie ſogar ein beſcheidener Bruchteil der Bevölkerung. ... Das Bild ändert ſich indes, wenn 
man erwägt, daß die 1070300 Letten ein Völkerſplitter nur, kein Volk ſind, dem An- 
ſchluß möglichkeiten an größere ftammesgenöffifhe Siedelungen, ein völkiſches 


Mageppa in der Weltliteratur 23 


Hinterland überhaupt fehlen. Über das verfügen die 885200 Eſten, die Bewohner Eit- 
und Norblivlands, allerdings: die Finnen ſind mit ihnen gleichen Stammes. Aber die haben 
je und je zu Deutſch land geneigt, und die nun von ihnen erſtrittene Selbſtändigkeit war 
fast durch die ganzen hundert Jahre, die die Verbindung mit Rußland währte, das Ziel ihres 
Strebens. Aber die Statiſtik ift nur ein roher Notbehelf, und Zahlen reichen niemals aus, 
den Reichtum des Lebens und den vollen Inhalt menſchlicher Verhältniſſe zu erfaſſen. Ar- 
alter deutſcher Kolonialbeſitz iſt da oben, wo noch um die Wende des 18. Jahr- 
hunderts von Reval bis Mitau die niederſächſiſche Mundart erklang. ODeutſch iſt 
die Kultur des Landes und die Art des Wohnens, deutſch Rechtsanſchauungen und Sitte und 
der Glaube, der ſeit dem Jahrhundert der Reformation die Baltenmark nächſt Schweden zur 
fefteften Heimſtätte der neuen Lehre machte. Und deutſche Pfarrherren ſchufen Letten wie 
Eiten ihre Schriftſprache und ſchrieben ihnen die erſten Bücher. Wo ein Volkstum fo tiefe 
Spuren in das Antlitz eines Landes grub, wird man ihm als mitbeſtimmendem 
Faktor auch bei zahlenmäßiger Minderheit ſchon noch geſtatten müffen, da es 
um die größten und letzten Entſcheidungen geht, mitzureden und mitzuraten. 

Es iſt ja gar nicht wahr, daß dort an den Geſtaden der Baltiſchen See ein ewiger 
Rampf zwiſchen den Deutſchen und der Urbevölkerung, zwiſchen den ‚baltifchen Junkern“ 
und den lettiſchen und eſtniſchen Bauern geweſen iſt. Fehler find von den baltiſchen Deut- 
ſchen gewiß begangen worden. Man braucht da nicht gleich mit den land flüchtigen letti- 
ſchen Sozialre volutionären, die neuerdings von Bern und Zürich aus die deutſche Welt 
über die Verhältniſſe im Baltikum aufklären und — ein immerhin neckiſches Verfahren — 
mit Vorliebe von reichsdeutſchen Politikern als Kronzeugen gegen uns zitiert zu 
werden pflegen, mit dem Zeitalter der Hörigkeit und Leibeigenſchaft zu beginnen. In dieſem 
deichen haben allerorten im Grunde die nämlichen Zuſtände geherrſcht. Vom Ausgange 
des Dreißigjährigen Krieges bis zu den Stein-Hardenbergſchen Reformen hat auch der deutſche 
Bauer keinen Anlaß gehabt, im Landedelmann unter allen Umftänden feinen Vohltäter zu 
verehren. Dann aber haben dieſe vielgeſchmähten Junker freiwillig und ohne jeden 
äußeren Oruck das Befreiungswerk in die Hand genommen und ſo ehrlich haben 
ſie's damit gemeint, daß fie ſelber ſich feſſelten und banden, um einem jeden Ver— 
ſuch des Baue rnlegens von vornherein den Weg zu verſperren. Der Bauer iſt dar- 
über im lettiſchen Teil wie im eſtniſchen emporgekommen und gediehen. 

Den Reſpekt, den manchmal vielleicht widerwillig gewährten, hatten die Balten auch 
in den Zeiten ſchwerſter Zerwürfniſſe, die zumeiſt doch die Folge ruſſiſcher Verhetzung 
waren, nicht verloren. Immer wor, auch gleich nach der Revolution wieder, der Gutsbeſitzer — 
und nicht nur in Fragen der ländlichen Wirtſchaft — der Vertraute und Ratspfleger feiner 
gmterſaſſen. Inzwiſchen wurden fie dann auch politiſch zu Kampfgenoſſen.“ 


S 
Mazeppa in der Weltliteratur 


er Beſiegte hat immer unrecht. Die Richtigkeit dieſer menſch lichen Weisheit haben 

viele große Männer der Vergangenheit erfahren müſſen, deren einzige Schuld 

vielleicht nur darin lag, daß fie auf ihre Schultern jene Aufgaben aufbürden woll- 
vg die erſt den fpäteren Generationen in ihrer ganzen Tragweite zu verftehen und zu löſen 
beſchieden war. Zu den intereſſanteſten dieſer vergeſſenen, weil beſiegten Perſönlichkeiten 
gehört auch die tragiſche Figur des unglücklichen Widerſachers Peters I. — Zwan Maze ppa, 
eines im Jahre 1709 verſtorbenen Hetmans der Ukraine und trotzdem, feinen politiſchen Zielen 
nach, eines der modernſten Europäer. Die bekannten Oichter der Weltliteratur, Maler 


24 Mazeppa in der Weltliteratur 


und Tonkünſtler, die dieſe Figur zu ihrem Schaffen infpirierte, haben das längſt verſtanden. 
Aber ihn ſchrieben ihre [hönen Poemen George Byron und Victor Hugo, ihm widmeten 
ihre Gedichte und Dramen Freiligrath und Rudolf Sottſchall, der Ruſſe Puſchkin und 
der Pole Slowacki, und eine ganze Menge von ukrainiſchen, tſchechiſchen, ſchwed iſchen, ruf- 
ſiſchen und polniſchen weniger bedeutenden Dichtern. Er wurde ſogar zum Helden eines Mimo- 
dramas, welches in den achtziger Jahren viele entzüdte.. 

Das jetzige Geſchlecht, für das die großen Streite und Geſtalten des alten Oſteuropas 
durch den Nebel der Vergeſſenheit umhüllt ſind, wird freilich mit den Achſeln zucken: Was 
fanden dieſe Dichter in der Geſchichte Mazeppas ſo Reizvolles und Intereſſantes, um gerade 
ihn der Vergeſſenheit zu entreißen? Der wilde Ritt eines nackten, auf dem Rücken des nie 
gezäumten Steppenpferdes angebundenen Pagen (woe ihn uns Byron darſtellt) — der auf 
dieſe ſchreckliche Weiſe die fügen Stunden büßen mußte, welche er mit der Frau feines fpäteren 
Räders verbrachte —, iſt gewiß ein dankbares Thema für jeden Dichter. War aber das Ver- 
brechen des Pagen in dem von abenteuerlicher Poeſie umgebenen Leben der damaligen 
Ukraine etwas fo Seltenes? Oder beſaß die Strafe des kühnen Lieblings der ſchönen Gräfin 
eine ſolche abſchreckende Wirkung, daß man es der Mühe wert hielt, fie für die Nachwelt zu ver- 
ewigen, und zwar nicht nur in der Oichtkunſt, ſondern auch auf der Leinwand eines Bernet 
oder in den brauſenden, vorwärtsſtürmenden, gleich dem Stampfen des galoppierenden Pferdes 
dröhnenden Akkorden der ſymphoniſchen Dichtung eines Liſzts? Nein, die romantiſche Ge- 
ſchichte allein konnte es nicht ſein, die das tiefe Intereſſe mancher Sterne der Weltliteratur 
und Kunſt für die Perſönlichkeit Mazeppas erweckte! Um ſo weniger, da weder Byron noch 
Hugo, noch Sottſchall und Freiligrath weltfremde Schöngeiſter waren, die nur vor der 
Göttin der Schönheit ihre Knie beugten, und deren Herz für die großen Fragen ihres Zeitalters 
verſchloſſen war. Etwas ganz anderes feſſelte ihren Geiſt an Mazeppa. Byron gehörte zu 
jener jetzt ſelteneren Art der Briten, die für die Freiheit der unterjochten Völker ihr Leben 
opfern möchten, Hugo — ein unruhiger und vielleicht für uns unnatürlich pathetiſcher Geiſt — 
führte einen erregten Rampf gegen Napoleon le petit, wie er Napoleon III., dieſe unglückliche 
Parodie ſeines genialen Onkels, nannte. Die Deutſchen Freiligrath und Gottſchall waren 
auch Freiheitsſchwärmer und Freiheitsſänger. Sie alle, für die die Zeit der Poltawaſchlacht 
nicht ſo weit entfernt lag, ſahen in Mazeppa nicht ſo ſehr einen abenteuerlichen Höfling, wie 
einen Verbündeten Karls XII. Dem Kämpfer für die Freiheit von Hellas und dem Geg- 
ner des napoleoniſchen Deſpotismus war der Geiſt Mazeppas verwandt. Mit Intuition — die 
die Gabe der Frauen und Dichter iſt — haben fie, trotz aller Fälſchungen der ruſſiſchen Hiſtoriker, 
in Mazeppa den Kämpfer für dasſelbe Ideal entdeckt, um deſſenwillen man jetzt Millionenheere 
Weſteuropas nach Oſten warf. Mit angſtvollen Vorahnungen von der wachſenden mosto- 
witiſchen Macht erfüllt, die weder Leibniz noch dem großen Friedrich fremd waren, er- 
blickten ſie in dem aufgebundenen Reiter einen Prometheus, der — die gewaltige Aufgabe des 
20. Jahrhunderts vorgreifend — das Steigen der ruſſiſchen Macht allein brechen wollte. Nicht 
der Frevel an dem Hausfrieden eines polniſchen Grafen, ſondern an der Zukunft Ruß- 
lands als einer Weltmacht, den ſich Mazeppa erlaubte, erweckte für ihn die Sympathien der 
Dichter. Und nicht die Strafe, die einen kühnen Ehebrecher erreichte — geſchmackloſes Thema 
„ergreifender” Kinodramen! — ließ fie zur Feder greifen, ſondern das tragiſche Schickſal ein es 
Helden, der mit dem dumpf unabweisbaren Siegeszug der Mojra, der emporſteigenden 
Macht Rußlands, ſein Schwert zu kreuzen wagte. 

Gewiß nicht alle Autoren faſſen auf ſolche Weiſe die Figur Mazeppas auf. Byron 
iſt dieſe Auffaſſung faſt ganz fremd. Er, der fein Gedicht unter dem blauen Himmel Staliens 
ſchrieb, wo er die ganze Tragik einer Liebe zu einer einem anderen angetrauten Frau erlebte, 
ſah in Mazeppa nur einen Leidensgenoſſen. Der große Brite nennt die Geliebte Mazeppas 
Thereſa, und genau fo hieß Signora Guiccioli, geborene Gräfin Gamba, die das Herz des 


. 


Mazeppa in der Weltliteratur ö 25 


Dichters in Italien entflammte. Die ſchönen Szenerien — die Wälder, die Bäche und Steppen 
der Ukraine, die Byron vorbeiziehen läßt, die ſchickſalsſchwere Schlacht und der heldenhafte 
Schwedenkönig, all das iſt nur das Milieu, ein bunter Teppich, auf welchem Scheherazade 
figt und ein Märchen aus Tauſend und einer Nacht — das ewig neue Märchen von dem be- 
trogenen Ehemann und ſeinem glücklichen Nebenbuhler — erzählt. Aber auch Byron war 
der tiefe Inhalt von Mazeppas Leben, das, hiſtoriſch betrachtet, an dieſem „dread Poltawa's 
day“ beendet wurde, nicht verſchloſſen, und faſt wie eine dunkle Prophezeiung der heutigen 
Tage klingen die nachſtehenden Worte, in denen der Dichter ſagt, daß das ee nur 
vorübergehend in das Zarenlager überging — 
Bis einſt ein ſchreckensreicher Tag, 

Ein Jahr der ewiglichen Schmach, 

In fürchterlichen Blutgerichten 

Viel ſtolzer Namen follt’ vernichten 

Zu größtem Schiffbruch, tieferem Falle — 

Ein Grab für einen — Schlag für alle. 

Für Hugo iſt Mazeppa das Sinnbild eines kämpfenden Geiſtes, der alle ihm angelegten 
Feſſeln zerreißt und raſend vorwärtsjagt. Nicht umſonſt hat er als Motto für ſein Gedicht das 
Byronſche Away! Away! gewählt. Bezeichnenderweiſe findet man Hugvs Mazeppa in dem 
Buche „Les orientales“, das den Freiheitskampf Griechenlands feiert. 

Noch deutlicher tritt die Geſtalt des hiſtoriſchen Mazeppa bei A. Puſchkin auf. Der 
Ruſſe verſtand ihn gut, und deshalb haßte er ihn auch mit ganzer Kraft feines leidenfchaft- 
lichen Talentes. Für ihn (in ſeinem Poem „Poltawa“) war der ukrainiſche Hetman der Mann, 
welcher die Stützen des heiligen Rußlands umwerfen wollte: eine hinterliſtige Natur, ein 
Blutſchänder und Intrigant, bei dem Puſchkin, hätte er 50 Jahre fpäter gelebt, ſicher die Züge 
eines „verbrecheriſchen Typus“ nach Lombroſo entdeckt hätte. Für ihn iſt es ein Dämon in 
menſchlicher Geſtalt, der Ormuzd, der gegen den Ariman-Beter feine frevelhafte Hand erhoben 
hatte. Aber ſogar Puſchkin konnte dem Leſer die wahre Größe ſeines Helden nicht verdecken, 
welchen er zwar als eine böſe, aber doch eine Kraft darſtellt, als einen Mann, der nicht zögerte, 
feine 70 Jahre, feine Liebe und die Gnade des Zaren (Peter hat für ihn ſogar den Titel eines 
Fürſten des Heiligen Römiſchen Reiches erlangt) auf dem Altar feines unglücklichen Vater 
landes — der Ukraine — zu opfern. Mit wahrer Poeſie beſchreibt Puſchkin das allgemeine 
Murren in der Ukraine, leiſe und doch gefährlich, wie der herannahende Sturm bei dem Gerücht 
von dem Vordringen Karls, den Haß gegen die Moskowiter, der nur eines Funkens bedurfte, 
um in hellen Flammen emporzulodern, die tiefe Liebe Motrenas zu ihrem Pagen — Mazeppa. 
Freilich unterläßt der ruſſiſche Dichter nicht, die Hinrichtung zweier ukrainiſchen Oberſten 
-- Iskra und Kotſchubej — zu ſchildern, die den geplanten Verrat ihres Hetmans dem 
Zaren aufdeckten, und die als Verleumder von ihm ihrem Gegner ausgeliefert wurden. Aber 
was bedeutete das Blut dieſer Renegaten ihrer Nation im Vergleich zu jenem Blutbade, das 
Peter in der Hetmanſchen Reſidenz — Baturin — einige Jahre ſpäter anrichtete? Mit einem 
geſpalteten Gefühl der Genugtuung, daß das entſtehende Rußland die Schlacht bei Poltawa 
gewonnen hat, und der Angſt, daß es doch anders hätte werden können, endet Puſchkin. 

Bei Gottſchall verdrängt der Hetman vollkommen den Pagen. Er iſt eine Herrſchernatur 
im Stile Wallenſteins (offenbar ſtand der Dichter unter dem Einfluß dieſes Schillerſchen Helden). 
Mazeppa ift nach ihm „ein Mann 

Von Kopf zu Fuß von eiſenfeſtem Willen 

Und einem Streben, das dem Höchſten gilt! 

. . . Das Ziel, nach dem fein Leben drängt, das Ende 
Des ſtolzen Wachstums ſeiner Größ' und Macht, 
Der goldne Kronenreif der Ukraine!“ 


26 Mazeppa in der Weltilterakur 


Der Zar wollte den Rebellengeiſt, der in den Steppen wohnte, tilgen und das ukrainiſche 
Volk, ein „flüchtiges Gewölk“, zuſammenballen, „daß es im Strahle ſeiner Sonne glüht“! 
Wie den Met, den ihm Mazeppa reicht, will er der Ukraine Freiheit bis zur Hefe trinken. Dieſe 
Einigungspläne Peters, der die Ukraine mit ſeinem Reiche verſchmelzen wollte, ſchreckten 
Mazeppa ab. Er will nicht in feinem Vaterlande „nur Sporen an den großen Reiterftiefeln, 
mit denen Rußland bis zum Nordpol ſpringt“ ſehen. „Den freien Söhnen dieſer weiten Steppen, 
vor denen Türken und Tataren flohen, wie Tauben vor dem Habicht“, paſſen die zentraliſtiſchen 
Abſichten des moskowitiſchen Zaren nicht, und der gre ſe Hetman rollt die Fahne der Rebellen 
auf! Der deutſche Dichter hat die hiſtoriſche Rolle Mazeppas vollkommen richtig eingeſchätzt 
und begriffen, und es klingen beinahe wie Klage und Vorwurf den ſpäteren Generationen die 
Worte, die Gottſchall dem ſterbenden Mazeppa in den Mund legt, daß niemand da iſt, der 
„den Traum des Lebens ihm von ſeiner Stirne küßte“! | 

Schwebte vielleicht dieſer blendende Traum auch dem genialen Liſzt vor, als er feine 
ſymphoniſche Dichtung „Mazeppa“ ſchuf? Jede Auslegung eines Tonkunſtwerkes iſt freilich 
bedingt, und das Verſtändnis eines Muſikſtückes zumindeſt perſönlich, aber wenn auch Liszts 
ſymphoniſche Dichtung in unſerer Phantaſie zuerſt das Bild eines ſtampfendes Roſſes hervor- 
ruft, das durch Wälder und Felder dahinraſt — ſo dringt meiner Meinung nach auch etwas 
anderes hindurch. Die Töne ſind zu ernſt und nicht diejenigen, die in ungariſchen Melod ien 
gewöhnlich die perſönlichen Erlebniſſe des einzelnen wiedergeben. Die Schatten der eigenen 
Vergangenheit, die ſolche Melodien erwecken, ſtellen ſich nicht vor unſere Augen, und die Erinne- 
rungen der eigenen Erlebniffe erfüllen nicht das Herz des Zuhörers mit Schmerz bei den Tönen 
des Liſztſchen „Mazeppas“. Nein! In den Gedanken erſcheint ein anderes Bild, welches ich, 
ich weiß nicht wo, geſehen habe: Ein weites Feld, der blaue Himmel der Ukraine, Pappeln, 
zerbrochene Lafetten, Pferdekadaver, hie und da weggeworfene Gewehre — und im wilden 
Ritt jagen durch den krummen Steppenweg zwei Reiter, ein Jüngling und ein Greis, der 
Schwedenkönig und Mazeppa. Meines Erachtens hat der große Meiſter den Hetman ver- 
ſtanden b 

Wer von allen dieſen Verherrlichern Mazeppas hat dieſen eigenartigen Mann am 
beſten verſtanden? Was war eigentlich dieſer intereſſante Charakterkopf Europas des achtzehnten 
Jahrhunderts? Ein leichtſinniger „Chevalier“ im Stile d'Artagnans von Alexander Dumas? 
Ein Freiheitskämpfer? Oder eine verkörperte Undankbarkeit mit der Seele eines Machiavell? 
3h glaube alles zufammen. Mazeppa war nicht eine fo einfache Natur, um mit einem 
Worte charakter iſiert werden zu können, und es ſcheint, daß jeder von den großen Dichtern, 
die ihn beſangen, bloß einige Züge ſeiner mächtigen pſychiſchen Geſtalt erkannt hat. Gewiß 
war er auch ein Frevler — wie ihn Byron darſtellt —, für welchen keine Heiligkeit dieſer Welt 
ſo hoch ſtand, daß er ſie nicht herunterzureißen verſuchte, wenn es ſein mußte. Gewiß war er 
auch jener unruhige Geiſt, wie bei Hugo. Lebte und wirkte er doch in einer, um mit Auguſte 
Conte zu ſprechen, „kritiſchen Epoche“, als der beſtehende Status quo in Oſteuropa hin und 
her ſchwankte, indem er einem anderen, Kommenden den Platz räumen mußte. Freilich war 
er auch, wie ihn uns Sottſchall darſtellt — ein Freiheitskämpfer. Dieſer fließend lateinifch 
ſprechende Hetman, der in ſeiner Reſidenz Baturin einen Souverän ſpielte, verachtete das 
rohe und plumpe Moskau und wollte alles eher als an dieſes für jeden damaligen Ukrainer 
barbariſche Reich gebunden fein. Sein Land, welches bereits im 17. Jahrhundert Ge lehrte und 
Buchdrucker nach dem fernen Moskau ſchickte, keine Leibeigenſchaft kannte und von den glor⸗ 
reichen Traditionen eines gluͤcklich überſtandenen Befreiungskrieges gegen Polen beſeelt war, 
war von den Reformen Peters I. wenig entzückt, zumal ſie in erſter Linie zur Zentraliſation der 
Staatsgewalt führten. In der Oppoſition dagegen fanden ſich Mazeppa und fein Volk zu- 
einander. Es wäre töricht, dem Unternehmen Mazeppas irgendwelche perſönliche Gründe zuzu- 
ſchreiben. Er, ein ſiebzigjähriger Greis, ohne Frau und Kinder — welche perſönlichen Motive 


* 


Mazeppa in der Weltliteratur N 27 


konnten ihn zu feinem Verrate verleiten? Wenn ein am Grabe ſtehender Menſch durch per- 
fönlihe Motive zu irgend etwas ſich verleiten läßt, fo geſchieht es nicht ut, ſondern höchſtens 
quia, z. B. wegen der Racheluſt. Aber dieſer mit Gnaden und Achtungsbeweiſen feines Herr- 
ſchers beinahe überſchüttete Regent der Ukraine — wofür perſönlich ſollte er ſich an Peter 
rächen? Im Gegenteil, fein perſönlicher Nutzen hätte ihn eher auf die Seite Peters führen 
ſollen, bei ſeinen Plänen der Vernichtung der ukrainiſchen Selbſtändigkeit! Daß Mazeppa 
einen anderen, gefährlicheren Weg wählte, beweiſt, daß nicht er ſelbſt, ſondern fein Land und 
deſſen Wohl für ihn das Höchſte war. Deshalb hat auch der greife Hetman weder ſich ſelbſt noch 
die Nachwelt betrogen, als er feine Anhänger unmittelbar vor feinem Anſchluß an Karl ver- 
ſicherte: „Angeſichts des allmächtigen Gottes ſchwöre ich, daß ich fo vorgehen will, weder wegen 
meines Privatnutzens, noch um höherer Ehren willen, noch zur Bereicherung oder aus irgend- 
welchen anderen eigennützigen Wünſchen, ſondern wegen euch aller, wegen eurer Frauen und 
Kinder, wegen des gemeinſamen Wohles unſeres armen Vaterlandes, meiner Mutter Ukraine, 
und wegen der Bewahrung und Erweiterung der Freiheiten des ſaporogiſchen Heeres, damit 
ihr weder von der moskowitiſchen, noch von der ſchwediſchen Seite zugrunde gerichtet werdet.“ 

Trotzdem hatte auch teilweiſe Puſchkin recht: das Spiel, das Mazeppa mit Peter ein 
ganzes Jahr (von Oktober 1708 bis Oktober 1709) ſpielte, indem er ihm vorſpiegelte, ſein 
treueſter Diener zu ſein, gleichzeitig aber alle militäriſchen Vorbereitungen zum Empfange 
Karls traf, fo daß von feinem Verrat der Zar faſt am Tage feines Übertrittes zu Karl erfuhr, — 
hätte der gelehrigſte Schüler Machiavellis nicht beſſer machen können! 

So verſchieden auch alle dieſe Dichter Mazeppa ſchildern, jo ift doch einer feiner Cha- 
tatterzüge ihnen allen gleich aufgefallen, nämlich feine ungeheure Willenskraft, die Wil- 
lenskraft einer geborenen Herrſchernatur, die über alle Hinderniſſe hinweg zur Verwirklichung 
ihrer Ziele ſchreitet, wie der Byronſche Page durch Wälder, Flüſſe und Berge. Leute, die 

ſolche Willenskraft beſitzen, die man wie Mondſüchtige zu ihren Taten drängt, wurden immer 
vom Volke mit irgendeiner myſtiſchen Ehrfurcht umgeben, als Botſchafter und Träger einer 
unbekannten, höheren Gewalt. 

Alle Dichter haben auch Mazeppa als von einer höheren Gewalt erfaßt dargeſtellt, 
als würde er von einer dunklen Kraft, die in ihm wohnte, zu feinem Handeln getrieben. Ma- 
zeppa tat, was er tat, weil er anders gar nicht konnte — „was wir ſind, wir ſind es, weil wir 
müſſen“, denn „in der Tiefe unſerer Seele wohnt ein dunkles Müffen“ (Sottſchall). War 
vielleicht dies „Müſſen“ Mazeppas eine unklare Vorſtellung von der Ewigkeit jener Idee, 
für welche er ſein Leben hingegeben hatte: der Idee eines hiſtoriſch notwendigen Kampfes 
zwiſchen Weſten und Oſten, deſſen bloß eine — wohl blutige — Epiſode die Schlacht bei Pol- 
tawa war? Ahnte Mazeppa vielleicht, daß er ein Spielzeug in der Hand der Weltgeſchichte 
war, die durch ihn den ſpäteren Generationen ihren Weg zeigen wollte? 

Mazeppa fiel, und fein Wagnis ward vergeſſen. „Hätt’ er geſiegt, es war ein Königs- 
flug, gefeiert von der Welt, — ſo aber ſind's nur Pagenſtreiche, über die man lacht“ (Gottſchall). 

Und darüber lachte man wirklich! Nicht aber die Künſtler und Dichter, die mit ihrer 
Intuition fühlten, daß die Sache ihres Helden mit feinem Sturze noch nicht abgetan iſt. 
Und fie hatten recht! Es ſcheint, daß wir wieder in jener großen Zeit leben, der Zeit der Ver- 
geltung, welche Byron vorausfagt. In der Zeit, da die wichtigen Fragen des achtzehnten Jahr- 
hunderts — das Verdrängen Rußlands vom Baltiſchen und Schwarzen Meer —, die Mazeppa 
mit ſeinem königlichen Verbündeten löſen wollte, wieder aufgerollt ſind. 

In den weiten, mit dem Blut der Kämpfer für die Freiheit ihres Landes getränkten 
Steppen der Ukraine, in denen einſt das Echo der Poltawaſchlacht ertönte, rollt wieder dumpf 
der Ranonendonner. 

Geht der Geiſt Mazeppas wieder um? Omytro Donzow 


ur 


2. Frenſſens Kriegesroman 


Frenſſens Kriegsroman 


C e s iſt das Große und damit folgerichtig auch das Furchtbare dieſes Krieges, daß ſich 
BJ ihm keiner körperlich, geſchweige denn geiſtig und ſeeliſch, entziehen kann. Wer es 
ES N. kann, ſtellt ſich damit nur das Zeugnis innerer Unlebendigkeit aus. Wilhelm Raabe 
hat einmal (31. Dezember 1884) in der bitteren Antwort auf einen offenbar verbitterten Brief 
Wilhelm Zenſens geſchrieben: „Wenn mir etwas in meinem Autorenleben eine Genugtuung 
gewähren könnte, ſo wäre es dieſes, daß ich damals (1870) unter all dem Augenblickspathos 
gelaſſen habe den ‚Dräumling‘ ſchreiben können“. Im jetzigen Kriege hätte ſich Raabe nicht 
fo einzukapſeln vermocht; er hätte es ſicher auch nicht gewollt, trotzdem ihn manche Ereigniſſe 
in ſeiner bitteren Meinung über den Wert der Deutſchen als Nation hätten beſtärken können. 
Das ungeheure Erlebnis des Deutſchtums als Volkstum hätte ihn nicht ruhen laſſen. Jedenfalls 
iſt es heute ein Zeichen von Blutleere für den Künſtler, wenn er nicht verſucht, irgendwie in 
das ungeheure Werden, in das chaotiſche Gären der Zeit geſtaltend miteinzugreifen. Einen 
ſolchen Ewigkeitsdünkel, der ſich gar nicht an die Zeit verpflichtet fühlte, bringt nur ein im 
Grunde geift- und gefühlloſes Aſthetentum auf. 

Hinzu kommt der Einfluß der äußeren Literaturverhältniſſe. Vor allem kann ſich der 
Romanſchriftſteller der Erkenntnis nicht verſchließen, daß ſeine Werke zu einer gewiſſen Kurz- 
lebigkeit verurteilt find. Auch dort, wo das Abbild der Welt nur Hintergrund iſt für die Ent- 
wicklung eines mehr durch Dauerhaftigkeit des Problems ausgezeichneten Menſchenſchickſals, 
bewirkt doch dieſe Zeitgebundenheit des Hintergrundes zum mindeſten eine Erhöhung der 
Wirkung, fo lange auch dieſer Hintergrund für die Mitlebenden wichtig iſt. Ich erkläre mir 
daraus die raſche Schaffensweiſe auch jener erzählenden Schriftſteller, die vor dem Verdacht 
des Ausnutzenwollens einer günftigen äußeren „Kombination“ von vornherein geſichert find. 
Es iſt nicht das Haſchen nach den beſſeren Erfolgsmöglichkeiten des Tages, ſondern der innere 
Zwang, in deſſen Entwicklung einzugreifen, der ſie antreibt. Das Maß dieſer „Aktualität“ 
wird bei jeder künſtleriſchen Perſönlichkeit ein anderes ſein. Zwei Grundrichtungen aber bleiben 
zu unterſcheiden. Bei der einen liegt die ſchöpferiſche Urzelle in der Idee des Zeitgeſchehens. 
Der Oichter wird von ihr erfaßt, ſucht fie zu veranſchaulichen, und die einzelnen Menſchen 
und deren Schickſale ſind ihm nur Oarſtellungsmittel. Die kürzlich hier beſprochenen Romane: 
Frekſa's „Gottes Wiederkehr“ und Clara Viebigs „Töchter der Hekuba“ ſind dafür Beiſpiele. 
Die andere Gruppe behält ihr Schwergewicht in der Menſchendarſtellung. Hier wird es darauf 
ankommen, zu zeigen, wie eigenartige Menſchen ſich gegenüber dem in ihr Leben gewaltſam 
hereinbrechendes Erlebnis des Krieges verhalten. Peter Dörfflers gleich im erſten Kriegsjahre 
erſchienener Roman „Der Krieg im ſchwäbiſchen Himmelreich“ war dafür geradezu ein Schul- 
beifpiel, Suftap Frenſſens foeben erſchienener Roman „Die Brüder“ (Berlin, G. Groteſche 
Verlags buchhandlung; geb. & 6.50) iſt ein Meiſterwerk dieſer Gattung. 

Jawohl, ein Meiſterwerk. Auch ich habe immer zunächſt einen ſtarken Widerſtand zu 
überwinden, wenn ich Frenſſen Leſe. Ich habe ihn bei dieſem Buche ſtärker empfunden, als 
bei einem früheren. Ich werde in einfache Verhältniſſe zu äußerlich ſehr einfachen Menſchen 
geführt; der Dichter betont ihre Verſchloſſenheit and Wortkargheit. Er aber macht ſehr viele 
Worte, ſagt alles ſehr breit, und ſagt es nie einfach. Da verehrt die kleine Bauerndirne ihren 
verſtändigen Bruder „heiß“; ein andermal hört fie „mit blanken Augen zu, das lange edle 
Geſicht voll ſchweren, ſüßen Ernſtes und faſt Feierlichkeit, fo als wenn er ihr eine goldene Krone 
auf die Decke legte“. So faſt auf jeder Seite. Aber fei es, daß der Dichter ſelbſt im weiteren 
Verlauf „natürlicher“ wird, ſei es, daß er uns in ſeinen Stil hineinzwingt, jedenfalls iſt nach 
einem halben Hundert Seiten wenigſtens mein Widerſtand gebrochen und ich ſchwimme be- 
haglich und beglückt auf dieſem ruhig fließenden Strome einer ſicheren, nie gehemmten Ex- 


Frenſſens Rriegsreman 29 


zählungskunſt. Das Fremdartige in ihr wird mir zum Reiz und ſtimmt für ein Gefühl zu der 
Stammesart der dargeſtellten Menſchen, die in ihrer frieſiſchen Steilheit meinem Alemannen- 
tum auch zunächſt ſehr fernſtehen, bis ich ihnen nach längerem Zuſammenſein vertrauensvoll 
die deutſche Bruderhand ſchũtteln möchte. Nun wird mir des Dichters Stil zum Genuß. Seine 
gehäufte Bildhaftigkeit bereitet mir die Freude geſteigerter Anſchauung. Er läßt einmal einen 
jungen Menſchen, der für ein geſchichtliches Ereignis einen gar nicht ſchulmäßigen Vergleich 
wählt, ſich alſo rechtfertigen: „Der Mann, der dieſes Geſchichtsbuch geſchrieben hat, hat dieſes 
nicht gefagt, weil er keine Kraft und keine ordentlichen Ausdrücke im Leibe hat. Wenn ich eifrig 
werde, kommen mir immer ſolche Worte, und die find gut. Man fieht die Dinge dann ordent- 
lich. Wenn andere Menſchen ſolche Worte nicht haben ... ich habe fie; und will und kann ſie 
nicht aufgeben. Ich kann mir doch die Zunge nicht abbeißen?“ (S. 100.) 

Nein, das ſoll Frenſſen wahrlich nicht tun. Denn wie ſchön iſt es, wenn er für die beim 
Kriegsausbruch von allenthalben nach Hauſe Stürmenden die Sorge, nur ja rechtzeitig bei ihrem 
Truppenteil zu fein, in folgende Worte kleidet: „Sie hatten alle das Gefühl. . . ſahen alle irgend- 
wo im Geiſt ... auf dem Hof einer Kaſerne ... eine Lücke in einer langen Reihe, wo gerade 
ſie ſtehen ſollten. Sie ſahen eine blauſchwarze Linie in dem Kaſernenhof ſtehen und ſahen 
einen Offizier ſich fragend umſehen, und ſahen ſich und viele andere hinlaufen, um ſich in die 
Reihe zu ſtellen, daß ſie voll würde.“ (S. 160.) Oder wenn ein junger Menſch voll reicher 
Pläne ſich in die Zerſtörung durch den Krieg findet. Er ſitzt mit ſeiner Freundin oben im Glocken- 
turm vor einer Glocke: „Er ſchwieg eine ganze Weile, während fie ſchluchzte. Dann fagte er 
unſicher, wie ein Menſch, der ſich im Dunklen vorwärtstaſtet: Daß Gott mir hilft, wie er dem 
alten Meifter geholfen hat bei feinem Glockenguß, das glaube ich gewiß... Er wird ſchon helfen, 
daß der Guß fertig wird, wie er ihn beſchloſſen hat. Aber das kann ich durchaus nicht wiſſen: 
Hilft er mir fo, daß er mich leben läßt, oder daß er mich fallen läßt ... und mich anderswo ver- 
wendet .. . Denn er hat ja Arbeit genug.“ (S. 261.) And noch ein drittes Bild, weil dieſe 
Stellen ja auch eine Vorſtellung des ganzen Stils vermitteln: „Er erging ſich in unzähligen 
großen Gedanken, die wie Vögel im Nebel, die man nicht ſieht ... aber man hört fie ziehen. 
vor ihm vorüberflogen.“ (S. 263.) 

Allmählich findet man es ganz in der Ordnung, daß Tun und Denken einfacher Menſchen 
„gefeiert“ werde. Gewiß liegt der beſondere Wert dieſes Lebens im Vermeiden aller feier- 
lichen Geſte, jedes großen Wortes. Aber warum ſoll der Künſtler, dem die Schönheit dieſes 
ſchlichten Tuns voll aufgegangen iſt, nicht ſelber darob zum ergriffenen Pathos gelangen? 
Man hat bei Frenſſen das Gefühl, als ob er immer wieder ergriffen werde durch dieſe Schönheit 
und Größe im äußerlich fo ſchmuckloſen Handeln des Volkes. Und wenn er ſchildert, wie die 
Matroſen auf dem Vachſchiff bei der erſchütternden Begegnung zweier Brüder es einzurichten 
wiſſen, daß die beiden miteinander allein ſind, ſo wirkt die breite Ausmalung dieſer einfachen 
Szene als das verdiente hohe Lied auf ein ſeeliſches Feingefühl in rauheſter Form. 

Frenſſens Buch iſt eigentlich eine Familiengeſchichte. Die Otts ſind Hofbauern in der 
Marſch. Flensburg liegt in der Nähe, die Nordfee iſt nur eine Stunde fern. Im jungen Ge- 
ſchlecht dieſes kinderreichen Hauſes haben ſich die Anlagen des wortkargen, ſchwer bedächtigen 

Vaters und der phantaſievollen friſch zugreifenden Mutter verſchieden gemiſcht. Aber eins 
bat ſich in allen eher noch verſtärkt. Ein fremder Menſch, der als Knecht auf den Hof gekommen 
ift, wird durch dieſe eine Eigenſchaft zu einem dummen Streich getrieben, nur weil es ihn ge- 
radezu zwingt, dieſe eigentümlich auf ſich ſelbſt beruhende Familie einmal etwas durcheinander- 
zuwirbeln. „Ihr wart euch immer ſelbſt genug, und ich merkte wohl, daß dies Benehmen nicht 
allein Scheuheit, ſondern auch eine Art Hochmut war. Ihr wart doch eigentlich alle überzeugt, 
daß die Otts die vornehmſten Menſchen wären und weder Rat, noch Hilfe, noch Umgang nötig 
hätten,“ (S. 465.) Und Harm, der geruhigſte unter den Söhnen, der ſich über alles Tun und 
Lafſen genau Rechenſchaft gibt, kommt auch zur Erkenntnis, daß, wenn all das ſchwere Erleben 


30 Frenſſens Nriegsrome 


ihm und den Seinigen etwas einbringen ſoll: „fo muß es das fein, daß wir den Menſchen zu 
getaner, demütiger, zutraulicher, gütiger werden“. (S. 476.) Bis es dahin kommt, ſchlägt dieſen 
Menſchen gerade ihre Gediegenheit, ihre innere Steilheit — das Wort iſt ſehr bezeichnend 


ſtört, weil die Urſache ſich nicht feſtſtellen läßt. Am meiſten wird die etwas phantaſtiſch ver- f 
anlagte Tochter gepackt, der Schreck macht fie krank, und der ihr in Liebe zugetane Knecht fliehthi N) 
von dannen. Nun gerät das Wädchen, in deſſen jungem Gemüte auch die Liebe zum Knecht 
Wurzel geſchlagen hat, in religiöfe Uberſpanntheit. Der Vater verdächtigt feinen beſonders ff 
ſtolzen Sohn Eggert des Pfeifens; der jagt ergrimmt in die Welt hinaus und die daheim ſind 
nun völlig übereinander. In ihrem ſtolzen Weſen verbohren ſich alle. Der vernünftige Harm, 
der jugendliche Träumer Reimers, und der ſtill verſonnene Klaus, vermögen allenfalls ſich 
ſelber durchzuhelfen. Der Vater gerät in einen gefährlichen Seelenzuſtand. Da kommt der 
Krieg. Harm, der nach ſeinem nach Amerika geflohenen Bruder Eggert geſucht hat, kann die 
perſönliche Begegnung mit dieſem nicht mehr abwarten und eilt in die Heimat. Er kommt als 
erſter auf einen der kleinen Fiſchdampfer, die den aufreibenden, weil eintönigen Wachtdienſt 
in der Nordſee zu verſehen haben. Ganz meiſterlich iſt die Schilderung des Kleinlebens in dieſer | 
engen Welt, die doch immer mit einzelnen Fäden an die größten Ereigniffe gebunden iſt. Für 
ihn perſönlich iſt das Wichtigſte das Zufammentreffen mit feinem Bruder Eggert, der auf einem 
neutralen Schiff die Heimreiſe gewagt hat. Sie kommen dann beide auf das Großkampfſchiff 
Below. Oer junge Reimers iſt natürlich als begeiſterter Freiwilliger losgezogen, aber auch N 
den an feinem Haufe wie eine Rage hängenden Landſtürmer Klaus holt die Not des Vater a 
landes aus feinem Winkel heraus. Wie die innere Entwicklung der Brüder in der Linie zur Be 1 
freiung vom unbewußten Hochmute, zur Selbſtdemütigung aus Liebe zu den andern mit den 
großen Kriegsereigniſſen verbunden iſt, verdient höchſtes Lob. Die Schilderung der Schlacht d 
am Skagerrak iſt innerlich gepadter, als das berühmte Schlachtgemälde „Gravelotte“ im „Jörn. 
Ahl“. Auch das Leben auf dem U-Boote kommt anſchaulich heraus. Reimers ſtirbt den jungen 
Heldentod; der ſtolze Eggert kommt als Einarmiger heim. Der für gewöhnlich beinah feige 5 
Klaus gewinnt das Ehrenzeichen, weil ihm das Ausharren einer einmal übernommenen Pflicht 
als Selbſtverſtändlichkeit im Blute liegt. Der alte Vater erringt durch Demütigung nicht nur 
die Liebe des entfremdeten Sohnes, ſondern den Frieden mit ſich ſelbſt. Das ſind ans Tiefſte 
greifende Stellen in dem Buche, das auch ſonſt noch eine lange Reihe eigenartiger Menſchen 
an uns vorüberziehen läßt. Der Paſtor Bohlen, den von Zeit zu Zeit die Krankheit der Trunk 
ſucht heimſucht, und die äußerlich beſonders ſteile, dabei an innerem Humor reiche Jungfer 
göbke Suhl, find unvergeßlich. 0 
Soll ich nun noch einige Vorbehalte geltend machen? Ach nein, wir wollen doch einem 
Künſtler nicht Widerſtand leiſten, ſondern uns freudig dankbar hingeben. Ich ſtimme Frenſſen 
zu: „Der Rünftler iſt der Menſchen Freude und Notwendigkeit; der Kritiker nur ihre bittere 
Notwendigkeit.“ Zch fühle nicht den Beruf, der paar Tropfen Bitterkeit in einem reichgefüllten 
eudenbecher knurrend zu gedenken. Freuen wir uns des Buches! 
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Der Krieg. 


ir haben den Frieden mit Rußland, und die Bedeutung dieſer 
* Tatſache ſoll in nichts gemindert werden. Aber der papierene 
N Vertrag von Breſt-Litowſk gibt uns noch keine Bürgſchaft, daß 
D unſer Friedenswille in die Tat umgeſetzt und nicht in fein Gegen- 
teil verkehrt wird. Das haben uns nicht nur die Verhandlungen mit Trotzki-Braun⸗ 
ſtein und Genoſſen bewieſen, das beweiſt uns auch das Verhalten der Bolfchewili- 
Regierung nach dem Abſchluß des Vertrages. Mit Recht weiſt darum Paul 
D. Bernoulli in der „Süddeutſchen Zeitung“ darauf hin, daß wir es auch bei 
künftigen Friedensſchlüſſen mit Partnekn zu tun haben werden, die ſelbſt 
nach vertraglich feſtgeſetzten Friedensbedingungen dieſe nicht erfüllen wollen: 
wer erinnere ſich nicht der Durchbrechung der Algericasakte durch Frankreich 
in Marokko, in Friedenszeiten? N | 
„Diefes lehrt uns, daß wir zur Durchführung unſerer Friedensnotwendig- 
keiten tatſächlich reale Garantien, d. i. Machtmittel in der Hand behalten 


bei uns darüber im unklaren ſein, daß nach erfolgter militäriſcher Niederlage 
unſerer Gegner in Ermangelung des errungenen Vernichtungsſieges jene bemüht 
ſein werden, uns am Verhandlungstiſch und im kommenden Frieden 
hereinzulegen. u 8 
Dann gute Nacht, gutmütiger Zipfelhauben-Michel! Darüber beſteht jeden- 
falls in allen Teilen des deutſchen Volkes die vielgeprieſene Einmütigkeit der Auf- 
faſſung, daß die Ententediplomaten den unfrigen bei weitem überlegen find. Wir 
glauben, hierüber beſtehen keine Zweifel, und wir haben nicht weiter nötig, Bei- 
ſpiele hierfür anzuführen. Denn Bismarck ift ja tot — und fein Geiſt lebt aller 
dings nur in einer, heutzutage ſelbſt vom Miniſtertiſch aus geſchmähten, Minder- 
‚heit überzeugungskräftig und betätigungsbereit fort. ö 
Armes Deutſchland! — 
Wir aber wiſſen, daß wir ohnmächtig ſein werden, ſobald wir unſere 
überlegenen Machtmittel aus der Hand geben, bevor die internationale 


müſſen, wollen und ſollen wir nicht überall übertölpelt werden. Kein Tor wird 


32 Zürmers Tagebuch 


Friedensmaſchine eine gute Zeit lang zu unſerer Zufriedenheit wieder regelrecht 
arbeitet. Und diejenigen, welche dieſe Tatſächlichkeit zu betonen nicht müde wurden, 
die „Alldeutſchen“, dürfen im Reichsparlament ungeſtraft und ohne Ordnungsruf 
mit dem Ausdruck „Maulhelden“ beſchimpft werden! Geradezu klaſſiſch iſt über- 
dies, wie ſich Mehrheitsabgeordnete zugunſten nationaler Minderheiten in außer- 
deutſchen Staaten (Polen, Rußland uſw.) ins Zeug legen; indeſſen wird von 
ihnen im eigenen Vaterland die auf dem Boden der vaterländiſchen Geſchichte 
fußende nationale ‚Minderheit‘ befehdet und ihr das Recht der Meinungsäuße- 
rungen und Überzeugungstreue abgeſprochen. Ja man ſcheut ſich nicht, einem 
Bund, der ſich zuſammengeſchloſſen hat, um für das Vaterland Partei zu er- 
greifen und außer dem keinen Zweck und kein Ziel kennt, ſolange der Krieg tobt —, 
Zerſplitterungsſucht der nationalen Geſchloſſenheit vorzuwerfen, während man 
nach dem Vorbild mit anderen demokratiſchen Zielen eine Art Gegenreformation 
betreibt und eine Liga gründet als „Bund für Freiheit und Vaterland“. 

Dieſer neue Bund erhält die Sanktion der ‚Mehrheit‘, ſomit der Regierung, 
denn beides iſt jetzt eins: wer hörte ſchon je von Befehdung dieſes Bundes? Aber 
die Vaterlandspartei wird als eine Rotte von Annexioniſten, wilden Eroberern, 
Kriegsverlängerern und Kriegsgewinnern hingeſtellt, — die allerdings den Krieg 
gewinnen wollen und nicht für ein totes Rennen, für ein Hornberger Schießen, 
für einen verdammten Peſſimismus Blut und Gut ene und 
verſchachern laſſen wollen. 

So ſieht die vielgerühmte Toleranz der Mehrheitsapoſtel, ſo die Betätigung 
des Burgfriedens und die gepredigte Einmütigkeit aus. 

Kein Papſt, kein Wilſon und kein Kanzler braucht dem deutſchen Volke 
erſt noch auseinanderzuſetzen, daß wir an die Stelle der Gewalt und der 
Macht die Herrſchaft des Rechtes und der Sitte geſetzt ſehen wollen. Gerade das 
wollen wir ja, und wir fordern vor allem Gerechtigkeit hinſichtlich der Lebens- 
notwendigkeiten unſeres Volkes. Da wir es aber mit Völkerſchaften zu tun haben, 
die uns überfallen, geknebelt und bereits im vierten Jahr in dieſen dreimal ver- 
fluchten Krieg hineingepreßt haben — da haben wir, weiß Gott, kein Verlangen 
danach, uns ſelbſt ohnmächtig zu machen. Wohin ein machtloſes Volk kommt, in 
welchem der Geiſt der Revolution blüht, dieſes Muſterbeiſpiel erleben wir jetzt 
an dem von den Herren Volkskommiſſaren regierten großruſſiſchen Volke: ohn- 
mächtig iſt es dem Einfall fremder Völker preisgegeben. Und dieſen Zuſtand ſehnt 
der Abgeordnete Herr Cohn für unſer teures Vaterland herbei, ungeſtraft! Die 
Genoſſen ſolcher Geſinnung bezeichnete der Kanzler Michaelis mit dem rechten 
Namen — aber dies gefiel der Mehrheit nicht, und der aufrechte deutſche Mann 


wurde mundtot gemacht und mußte gehen. — — — 


Wir ſollen zu allem ſchweigen und auf das Dogma der Mehrheit 
ſchwören??? — — — 

Millionenfaches Menſchenleben und Lebensglück hat unfern Volk der Krieg 
vernichtet, unwiderbringlich. Namenloſes Leid hat er gehäuft. Geſundheit ver- 
ftümmelt und auf Lebensdauer geſchwächt. Am Mark unſeres Volkes hat der 
Krieg gezehrt durch Unterernährung, Erbitterung, Opfer. Opfer um Opfer haben 


Tuners Tagebuch | 35 


wir gebracht an Blut und Gut. Doch ſieghaft blieb uns der Geiſt, der Entbehrungen 
nicht achtend, und ſiegend blieb unſer Schwert, wo immer es ſchlug. Es ging ja 
für die Ehre, für den Ruhm und die Größe des Vaterlandes. Was kann es Leuch- 
tenderes geben im Leben? 

Will man uns das alles nehmen? Für was ſollen wir dann noch weiter 
Opfer bringen? 

Wer darf heute ws von Ruhm ſprechen? — er wird zum Chaupviniften 
geſtempelt. 

Was gilt der Mehrheit das Wachſen und die Größe des Vaterlandes? Seit 
dem großen Kurfürſten hat jeder Hohenzoller ſein Reich vergrößert, zur Macht 
und zur Ehre deutſchen Namens, zur Furcht und zum Schrecken der Feinde. Waren 
die Hohenzoller alle nicht Preußens und ſchließlich Deutfchlands Stolz und Freude? 
Haben die Hohenzollern durch Tatkraft und Energie, durch Mut und Gottvertrauen 
nicht aus des alten deutſchen Reiches ‚Streufandbüchfe‘, der Mark Brandenburg, 
im Laufe der Jahrhunderte ein mächtiges Preußen geſchaffen, um das ſich das 
große Deutſche Reich herumkriſtalliſierte, welches dem ganzen Erdball Wider- 
tand leiſtet? Und das, was früher Stolz und Freude und Lohn für Opfer und 
Taten brachte, ſoll heute Anrecht und Sünde fein? Es ſei denn eine Entſchädi⸗- 
gung im weiten wilden Afrika? 

Sind wir jetzt reif fürs Narrenhaus? — Unſere Feinde können nicht anders 
denken; rechnen ſie und hoffen doch darauf, daß ihrer immer noch mehr werden, 
die hineingehören — leider immer mehr mit größerer Berechtigung. ‚Die Neigung, 
ſich für fremde Nationen und nationale Beſtrebungen zu begeiſtern, auch dann, 
wenn dieſelben nur auf Koſten des eigenen Vaterlandes verwirklicht werden 
können, iſt eine politiſche Krankheitsform, deren geographiſche Verbreitung ſich 
auf Oeutſchland leider beſchränkt.“ Dies ſagte allerdings nur Bismarck, der ja 
überlebt iſt. — ! — 

Oder geht es etwa nicht auf Koſten des eigenen Vaterlandes, das deutſche 
Blut, das für Polen gefloſſen iſt? Wo bleibt der Dank? 

Geht es etwa nicht auf Koſten des eigenen Vaterlandes, wenn wir fremden 
Völkerſchaften, deren Freiheit mit deutſchem Blut erkämpft und mit deutſchen 
Milliarden bezahlt wurde, Selbſtbeſtimmung der Staatszugehörigkeit einräumen, 
uns ſelbſt dafür aber am Leben verſtümmeln und verkrüppeln, an Hab und Gut 
verelenden laſſen?. 

O sancta e 

Und die Bedingungen? Unſerem Volk wurden inzwiſchen neue Menſchen⸗ 
opfer an Volkskraft und Vermögen zugemutet. Opfer für den Ruhm, die Größe 
und die Ehre des Oeutſchen Reiches? 

„Was heißt Ehre? Kann Ehre ein Bein geſund machen?“ fo jagt Shake 
ſpeares Falſtaff, und wir Deutſchen? — — 

Oer deutſche Soldat kennt noch die alte Ehre. 

Im Weiten ſchützt uns die waffenſtarrende Eiſenmauer von deutſchen 
Menſchenleibern und ſpeienden Feuerſchlünden, gewärtig des Befehls, fprung- 
dereit wie ein Löwe. Neue Opfer, ohne Zahl, ſind wir zu geben bereit, am eigenen 
Oer Cürmer XX, 15 5 


34 Zürmers Tagebuch 


Leib und am Leben und Vermögen. Für was? Für die Selbſtändigkeit 
Belgiens, für die Nachbarſtaaten oder für unſere Verbündeten? 

Zeder Tropfen Blut und jeder Pfennig, der nach 3½ Kriegsjahren jetzt 
noch vom deutſchen Volk verlangt wird, wäre ein Verbrechen, wenn es für 
nichtdeutſche Ziele und Zwecke gilt. Eine bloße Verteidigung laßt ſich jetzt 
mit weit geringerem Einſatz an Menſchen und Mitteln erreichen.. 

Die ſogenannte nationale Minderheit, ſchließt der Verfaſſer mit berechtigtem 
Ingrimm, iſt kein Tier, mit dem ein Kind Schindluder ſpielen kann, das es be- 
ſpucken, ihm die Glieder ausrupfen, das es ſtoßen, quälen und ſchließlich zertreten 
kann. Unfer Ende iſt noch nicht da, wird niemals da fein. ö 

Nein, die Vaterlands-Partei, und das heißt: alles, was aufrecht deutſch ftebt 
und geht, iſt — dieſen Kummer muß ſie ihren Gegnern ſchon bereiten — nichts 
weniger als tot. Von Rechts wegen, fo äußert ſich der tapfere, durch keine Rück- 
ſichten (ſelbſt die allerheiligſten der Partei!) beſtechliche Warner und Mahner 
D. Traub in der „Täglichen Rundſchau“, müßte fie das nach den manchen Reichs- 
tagsreden längſt ſein, — mauſetot! „Aber wir leben und wollen leben, nicht aus 
Eigenſinn oder Selbſtgerechtigkeit, ſondern aus Liebe zum deutſchen Vaterland. 
Man hat uns im Reichstag behandelt wie die unanſtändigſte Geſellſchaft; 
man hat uns beinahe auf dieſelbe Linie geftellt, wie die Hetzer der ver- 
räteriſchen Streiktage, und jeder, der politiſch nicht ganz mit Blindheit ge— 
ſchlagen ift, ficht das Rezept, nach welchem planmäßig gearbeitet wurde: der 
unangenehme Eindruck des Streiks ſollte weggewiſcht werden; denn der 
Reichstagsblock darf nicht in die Brüche gehen. Alſo ſuche man die Sache abzulenken. 
Darum: Los auf die Vaterlands-Partei! Das iſt das beſte Opium, um zu vergeſſen, 
vor welchen Abgrund der Streik das Deutſche Reich und ſeine Ver— 
bündeten geführt hat. Gottlob, daß Millionen Deutjcher da find, die es trotzdem 
nicht vergeſſen. Damals wurden viele hellſehend und ſind es geblieben. Das 
merkt ein jeder: auf dieſer Seite der Streikbefürworter hält man nicht unbedingt 
zum deutſchen Vaterland! | 

Wir richten eine klare Frage an die Führer der Mehrheitsparteien und 
an ihren Führer, Herrn v. Payer: „Glauben Sie an den Sieg der deutſchen 
Waffen, oder glauben Sie nicht daran?“ Hier entſcheidet fich alles. Das 
Getöſe der Verleumdungen von geldlicher Abhängigkeit, von ſchwerinduftriellen 
Einflüſſen, von alldeutſchen Phantaſien iſt ja alles äußerlich. Es iſt nur zugeſtutzt, 
um Leute bange zu machen, die nicht tiefer ſehen. Nein, hier liegt die Haupt- 
entſcheidung: Hat die Führung der Mehrheitsparteien etwas getan, 
um den Siegeswillen Hindenburgs zu ſtärken?“ Darauf möchte ich eine 
Antwort ‚ohne Hörner und Zähne“. Ich ging zur Vaterlands-Partei, weil ich mit 
wachſendem Schrecken merkte: Sozialdemokratie, Freiſinn und Zentrum glauben 
jetzt in ihren Führern nicht mehr an den Sieg, gehen nicht mit Hindenburg und 
tun ſogar unter der Hand alles, um dem deutſchen Volk dieſen Siegeswillen als 
Torheit auszureden. Das Wort: ‚Ein Narr, wer noch an einen deutſchen Sieg 
glaubt‘, bleibt die gemeinſame Loſung dieſer führenden Taktiker des Keichstags⸗ 
blocks. Die Vaterlands-Partei iſt in meinen Augen nichts als der Grund 


Zürmers Tagebuch | 55 


von Oeutſchen, die entſchloſſen find, zu ſiegen und die Früchte des 
Sieges für das Vaterland einzuheimſen. Es wäre überheblich von mir, 
dieſe Meinung überhaupt auszuſprechen, wenn ſie die Meinung von mir, dem 
einzelnen wäre. Aber ich bin in Deutſchland weit genug herumgekommen, um zu 
fagen: Dieſe Loſung eines deutſchen entſchloſſenen Siegesbunds hat die Herzen 
der Deutſchen aus allen Parteien der Vaterlands-Partei zugeführt. Das größte 
Rätſel bleibt mir, warum gerade die Fortſchrittliche Volkspartei es iſt, welche trotz 
ihrer amtlichen Beſchlüſſe die Vaterlands-Partei mit ausgeſuchtem Haß verfolgt. 
In den amtlichen Beſchlüſſen der Fortſchrittlichen Volkspartei iſt nämlich die Teil- 
nahme an der Vaterlands-Partei nicht verboten; denn in Bremen und in der 
Pfalz ſtehen fortſchrittliche große Gruppen auf dem Boden der Vaterlands-Partei, 
von Einzelperſonen in den verſchiedenen Landesteilen zu ſchweigen. Trotzdem 
wird gerade von der Volkspartei der Kampf gegen uns am leidenſchaftlichſten 
geführt. Prof. Götz in Leipzig hat unſerer Erinnerung nach in der „Hilfe“ einmal 
ausgeſprochen, daß das deutſche Volk aus der Hand Erzbergers keinen Frieden 
wünſche. Aber jetzt verdächtigt er mit den gleichen Vorwürfen von ſchwerindu— 
ſtrieller Korruption und Zeitungsankauf die Vaterlands-Partei und ſchüchtert 
Gutglãubige ein, die den logiſchen Schluß nicht ziehen, daß das, Berliner Tage- 
blatt“ und „Frankfurter Zeitung“ doch ebenſo vom Gelde leben und hier 
Geld zu jeder Gründung willkommen iſt, wenn es eine Zeitung ihres Geiſtes be- 
trifft. Es tut weh, einen hochgeſchätzten Akademiker ſolche Polemik treiben zu 
ſehen. Nein und nochmals Nein! Wir laſſen uns nicht verbittern. Aber wir ar- 
beiten in der Vaterlands-Partei, weil wir den Willen zum Sieg ſtärken, weil wir 
dem Volk fein Vertrauen auf die U-Boote nicht untergraben, weil wir Hindenburg 
glauben, weil uns die ewigen Nörgeleien am Hauptquartier leid ſind und weil 
wir wiſſen, daß Deutſchland nicht mit Mißtrauen, ſondern allein mit Glauben 
an ſeine Aufgabe ſiegen wird. 

Das ,Fpreußiſche Verfahren“ im Oſten hat ſich glänzend geredt- 
fertigt: Truppen marſchieren zu laſſen als Antwort auf Trotzkis elendes Ge- 
ſchwätz. Die Reichstagsmehrheit hätte das nicht getan. Kaiſer, Kanzler und Haupt- 
quartier haben es getan. Ihnen hat das deutſche Volk den Frieden im Oſten zu 
verdanken. Herr Erzberger hat zwar nachträglich erklärt, daß die jetzigen Friedens- 
bedingungen im Oſten durchaus im Rahmen der Reichstagserklärung vom 19. Juli 
liegen. Wir wollen uns nicht über dieſes dialektiſche Meiſterſtück freuen; wir freuen 
uns ganz ſachlich. Denn auch die böſen Alldeutſchen wollten nicht weiter, als 
Moltke einſt gewollt, nämlich bis zum Peipusſee gelangen. In einem Punkt wird 
aber auch Herr Erzberger nicht widerſprechen: Getan hat er nichts dazu, um dieſe 
Friedensbedingungen herbeizuführen, vorzubereiten, um ſie dem deutſchen Volk 
als die ſegensreichen Markſteine ſeiner Zukunft verſtändlich und begehrlich zu 
machen. f ; 

Das, preußiſche Verfahren“ im Innern hat ſich glänzend bewährt. 
Wäre die Regierung in den Streiktagen nicht feſt und ſichergeſtanden und hätte 
die Verhandlungen abgelehnt, dann wäre auch München und Wien nicht ſo ſicher 
in die Zukunft hineingegangen. Die ‚Freifinnige Zeitung“ hat damals auch klare 


36 | " Zürmers Tagebuch 


und eindrucksvolle Töne gefunden, und man merkte etwas von der Solidarität 
derer, denen das Vaterland über alles geht. Das war kein vorübergehender Ein- 
druck, wie jetzt die Reichstagsverhandlungen glauben machen wollen. Das war eine 
geſchichtliche Erfahrung. Wir halten ſie feſt, hoffen und arbeiten, daß die Regierung 
in einem Streikwiederholungsfall ebenſo wenig mit ſich ſpaßen läßt im zntereſſe 
des ganzen deutſchen Volks. 

Unſre Sntereffe liegt nicht beim Reichstagsblock, ſondern beim Sieg des 
deutſchen Vaterlands, beſonders England gegenüber. Wir wiſſen, daß Mil- 
lionen ebenſo denken trotz dieſer Reichstagsverhandlungen. Wir ſprechen niemand 
die Vaterlandsliebe ab, der nicht in unſern Reihen kämpft. Aber wir verbitten uns 
mit deutſchem Ernſt, daß man uns unſere Vaterlandsliebe in den Staub herab- 
zieht.“ 

Man braucht ja nur die Tatſachen reden zu laſſen. Schon die eine, nicht aus 
der Welt zu ſchwätzende genügt: als unſere Vertreter in Breſt-Litowſk nach den 
„Grundſätzen“ und Weiſungen der angeblichen Reichstagsmehrheit verhandelten, 
war der Erfolg ein Weltſkandal und ein Weltgelächter, Schlimmeres noch: Herauf- 
beſchwörung ernſteſter Gefahren für das Reich, ſchwere innere Erſchütterungen 
und Opferung deutſchen Blutes an alle ſeeliſchen und körperlichen Martern und 
Todesarten. Als dann unter dem eiſernen Zwange der CTatſachen die unheil- 
vollen Wege jenes angeblichen Mehrheitswillens verlaſſen werden mußten, als 
nach den einfachen, in den Dingen ſelbſt gegebenen Richtlinien der f „All- 
deutſchen“, „Aberannexioniſten“, „ſchwerinduſtriellen Vaterlandsparteiler“ und 
wie die Koſenamen ſonſt lauten, gehandelt werden mußte, da wurde die im 
Sumpf feſtgefahrene Karre mit eins wieder in ſicheres Gleis und ſchnelle Be- 
wegung gebracht, und der Friede wurde von der bewaffneten Hand gemacht, 
nicht von den einen Frieden erwinſeln Wollenden. 

Wie wurde man doch — es iſt noch gar nicht ſo lange her — als armer Trottel 
mitleidig belächelt oder als gemeingefährlicher Apoſtel einer „wüſten Eroberungs- 
politit“ angeödet, wenn man dieſelbe Meinung vertrat, die ſchließlich keine andere 
war, als die des großen Moltke: daß unſere natürliche und gegebene ſtrategiſche 
Grenze am Peipusſee gezogen ſei. Nun iſt dieſe Grenze längſt erreicht worden, 
und es iſt unſer freier Entſchluß und die Unterwerfung des großruſſiſchen Kriegs- 
willens unter unſeren Siegesfriedenswillen, wenn unſere Truppen nicht in Beters- 
burg einmarſchiert ſind. Jetzt haben wir das herrliche Gelöbnis unſeres Kalſers, 
daß den baltiſchen Deutſchen für alle Zeiten ihr Oeutſchtum geſichert werden ſoll! 

Im vorigen Hefte konnten die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Streſe- 
mann über das baltiſche Deutſchtum in feiner großen Reichstagsrede vom 20. Fe- 
bruar nur kurz herangezogen werden. Sie ſtehen aber auf einer Höhe der Auf- 
faſſung und dringen mit ſo viel Verſtändnis in den Kern der Frage ein, daß den 
Leſern eine Wiedergabe im Wortlaute ſicher willkommen ſein wird. Nicht nur 
um baltiſche Vergangenheit und Gegenwart handelt es ſich, ſondern mehr noch 
um baltiſche Zukunft. Der Redner ſchilderte zunächſt die troſtloſen Zuſtände im 
damals noch unerlöſten Livland und Eſtland: wie dort ieder die „Freiheit“ hatte, 
einen deutſchen Gutsbeſitzer niederzuſchießen oder niederzuſchlagen wie einen 


Türmers Tagebuch 37 


tollen Hund, ohne Beſtrafung dafür zu finden, es ſei denn, daß ihm vielleicht noch 
eine Belohnung dafür zugeſichert werde. Dann — unter wiederholter ſtürmiſcher 
Zuſtimmung: a 
„In manchen Kreiſen der deutſchen Offentlichkeit iſt bezweifelt worden, 
ob die Dinge derartig lägen. Man hat es jo hingeſtellt, als wenn irgendwie eine 
offizlſe Stimmungsmache eingeſetzt hätte. Ich habe zu meinem Bedauern 
im ‚dorwärts‘ geleſen, daß man auch ſagte, dieſe eſtländiſchen und livländiſchen 
Gutsbeſitzer hätten ſich überhaupt nur aus Angſt vor der Aufteilung ihres Landes 
Heulſchland zugewendet. Nun, wenn es wirklich fo wäre, fo gilt für die deutſchen 
Etundbeſitzer dieſer Provinzen jedenfalls das ſelbe, was der Herr Kollege Groeber 
bezüglich der deutſchen Bauern im Cholmer Gouvernement geſagt hat, d. h. wir 
hätten durchaus ein Intereſſe daran, zu verhindern, daß da, wo bisher deutſcher 
Grundbeſitz in deutſchen Händen war, alles durch eine Regierung, deren Zeit— 
dauer nur ſehr beſchränkt erſcheint, in ein Chaos und in die größte Verwirrung 
geſtuͤrzt wird. 

Aber es handelt ſich nicht in erſter Linie um den materiellen Schaden, der 
dem einzelnen hier zugefügt wird. Ich darf bezüglich dieſer materiellen Frage 
daran erinnern, daß lange, ehe die Revolutionäre in Rußland ans Ruder kamen, 
noch unter der zariſtiſchen Zeit die Gutsbeſitzer in Kurland ſich bereit erklärten, 
für den Fall der Lostrennung von Rußland ein Drittel ihres Landes an 
Deutſchland abzutreten, um dadurch die. Möglichkeit einer deutſchen 
Rolonifation zu ſchaffen. Es drängt ſich uns die Frage auf, ob wir Tatſachen 
zuſehen können, wie diejenigen Deutſchen in den baltiſchen Landen, die allen 
Verfolgungen, aller Not und allen Schwierigkeiten zum Trotz durch ſieben Jahr- 
hunderte hindurch an der deutſchen Sprache und deutſchen Kultur feſtgehalten 
haben, weil fie Deutfche find, hingemordet, hingeſchlachtet werden. Ich muß 
ſagen, wir wären kein Volk von Anſehen und Ehre, wenn wir das ruhig mit an- 
ſehen würden, ohne hier einzugreifen. Es wäre nicht zu verſtehen, wenn wir, die 
für die Freiheit uns volksfremder Nationen eingetreten ſind, nicht unſer Herz in 
erſter Linie ſchlagen ließen für die Balten, die mit uns eines Blutes ſind. Es klingt 
ſo oft von der äußerſten Linken uns entgegen, wenn man ein Wort für die deutſchen 
Balten ſpricht: Dieſe 7 oder 9 % der Bevölkerung des Baltikums! Gewiß, die 
Balten ſind keine Mehrheit im Lande, ſie ſind eine Minderheit. Um ſo höher 
muß man es ſchätzen, daß ſie trotz dieſer Minderheit gewußt haben, ſich ihr 
Veutfchtum derartig zu erhalten, derartig auch kulturell und geiſtig die Führenden 
qu bleiben, wie ſie es getan haben. In anderen Ländern, über dem großen Waſſer, 
wo Hunderttauſende und Millionen von Oeutſchen ſaßen, die in der Lage waren, 
ſich durchzuſetzen, wie find da die ſpäteren Generationen amerikaniſiert, wie haben 
ſie ihre ehrlichen deutſchen Namen preisgegeben, wie haben ſie ſehen müſſen, wie 
wir dort die Kulturdünger für andere Nationen geweſen find, Wie war dort in 
Chicago, Milwaukee, Cincinnati und anderwärts ein fo ſtarker deutſcher Einſchlag, 
daß ſie eine deutſche Stadt hätten bleiben können, wenn der Enkel geblieben wäre, 
was einſt der Großvater war! Hier in den Oftfecpropinzen waren die Balten viel 
mehr bedrängt als je ein Oeutſch-Amerikaniſcher in den Vereinigten Staaten war, 


-. 


m 


38 Zürmers Tagebuch 


und durch alle Schwierigkeiten zariſtiſcher Verfolgung hindurch haben ſie ihre 
deutſchen Schulen, ihre deutſchen Zeitungen, ihre deutſche Bildung ſich erhalten. 
Wenn Sie heute nach Riga, nach Mitau, wenn Sie in das dortige Land kommen, 
dann tritt Ihnen ein Deutſchtum entgegen, jo rein, jo unverfälſcht 
und jo ideal, daß man manchmal wünſchen möchte, es wäre im Reichs- 
deutſchland in derſelben Weiſe zu finden. So muß die Stimmung in 
Deutſchland geweſen fein, als noch ein einheitliches Deutſchland erſtrebt und er- 
träumt wurde. Denn der Deutfche empfindet vor allem das als Ideal, was er mit 
ſeinem Herzen erſehnt. Wenn das Erſehnte dann Tatſache wird, wenn das Grau 
des Alltags allmählich über das Erſehnte kommt und Jahr und Jahrzehnte ver- 
gehen, kommt über ihn das Vergeſſen über das Alltäglichgewordene. Dort iſt 
noch die große Sehnſucht nach der Vereinigung mit Oeutſchland, dort haben die 
Balten in ihrem livländifchen Kalender mit vollem Recht — von ihrer eigenen 
Grundſtimmung ausgehend — das Goetheſche Wort ſich zum Motto genommen: 
„Pfeiler, Säulen kann man brechen, aber nicht ein freies Herz.“ Mit dieſe m 
freien, ſich zu Oeutſchland bekennenden Herzen haben fie ſich dort 
gegen Rußland durchgeſetzt; kommen ſie in größter Lebensgefahr über 
die ruſſiſchen Linien herüber, haben ſie heute, wo über das Geſchick 
von Eſtland und Livland noch nichts beſtimmt iſt, ſich in ihrer Ritter- 
ſchaft für den Anſchluß an Oeutſchland erklärt, wohlwiſſend, daß fie 
ihren Kopf verwirkt haben, wenn das nicht durchgehen würde. Starke 
Perſönlichkeiten treten uns dort entgegen, die nicht die Hajt und Unruhe des Er- 
werbsſinnes ſo ideallos gemacht hat, wie wir dies manchmal in Oeutſchland finden, 
ſondern die in dem Streben nach Allgemeinbildung, in dem Streben nach Schaffung 
von Perſönlichkeitswerten uns als Deutſche aus alter guter Zeit erſcheinen. Und 
wie die Ritter, fo das Bürgertum in den Städten. Niemals iſt mir mehr die Stim- 
mung der Meiſterſinger aus dem alten Nürnberg zum Ausdruck gekommen als 
in der Stunde, da ich die Gildenſtube von Riga ſah, als ich ſah, wie dort auch unter 
ruſſiſchem Druck bis zum letzten das deutſche Leben ſich entfaltet hat. Und wenn wir 
nach Dorpat gelangen, wo eine geiſtige Hochſchule liegt, von der unendlich viel zur 
Befruchtung deutſchen Weſens ausgegangen iſt, wenn wir neben Kurland auch 
Livland und Eſtland beſetzt haben, dann hoffe ich, daß auch der Tag kommen wird, 
„Vo dieſe alte deutſche Erde 
im Schutz des großen Reiches liegt.“ 

Das bedeutet nicht die Annexion dieſer Gebiete, aber es bedeutet ein freies 
Baltikum in enger Anlehnung an Ocutſchland unter unferem militäriſchen, poli- 
tiſchen, geiſtigen und kulturellen Schutz. Ich glaube, es wäre eines der ſchönſten 
Ziele dieſes Weltkrieges, wenn wir dicſes Stück treuen Deutfchtums fo bewahren, 
jo einig mit uns verſchmelzen können, wie es von ihnen ſelbſt gewünſcht wird. ..“ 


es 


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2 — 


—— 


Nur Mangel an Regie? 


ie ſonderbare, höchſt ſonderbare „Regie“, 
mit der die Rede des erſten Lords der 
engliſchen Admiralität, Sir Erik Geddes, in 
Reihsdeutfchland verbreitet wurde, wird in 


der „Deutſchen Zeitung“ wie folgt unter 


die Lupe genomnien: 

Die engliſchen Miniſter kämpfen redne- 
riſch einen Zweifrontenkrieg. Nach innen in 
der Verteidigung durch geheuchelte Sicher- 
heit, durch Verſprechungen, durch tröſtende 
Aufmachung der Sachlage. Zum Reichs- 
fenſter hinaus, auf uns zu, im Angriff. 
Was ſie ihren Leuten zu deren Beruhigung 
erzählen, muß zugleich dazu dienen, uns 
ause inander zu reden. Die Uhr ſteht auf 
fünf Minuten vor Mitternacht. Der ſtärkſte 
Zauber muß herhalten! Die Taktik an ſich iſt 
richtig und gut. Und die Helfer im feindlichen 
Lager ſind auf dem Poſten. Man muß ihnen 
bis zum letzten Augenblick in die Hände reden. 
Und vor allen Dingen nicht mit der Wimper 
zucken dabei; vielleicht wirkt es trotz alledem 
noch. So wie der Glücksritter nicht mit der 
Wimper zuckt, wenn er den letzten Louis aus 
der Taſche holt. Er ſetzt ihn mit kalter Ge- 
laſſenheit, läßt ſich beſonders dann nichts an- 
merken, wenn dieſer Louis nicht nur der letzte, 
jendern noch obendrein falſch iſt. 

derart hat Geddes im Unterhaus die 
‚fatale Geſchichte von den deutſchen Verluſten 
an Unterfeebooten zum beſten gegeben. 
Er hat ſchon früher auf dieſe Verluſte hin- 
gewieſen, indeſſen verbot ihm bisher das 
militäriſche Intereſſe, näher zu verraten, 
wie groß ſie ſind. Anſcheinend hat dieſes 
Intereſſe nunmehr hinter dem Gebot der 


— —— 


Stunde, das die Anwendung der ſtärkſten 
Beſchwörung erfordert, zurücktreten müſſen. 
So hat er ſich denn offenbart: von fünf 
Unterjeebooten, die Seebrügge verlaſſen, 
kehren immer nur vier wieder zurück. 

Die Enthüllung iſt gleich fatal für ihn, wie 
für uns. Für ihn, wie das Scho zeigt, weil 
offenbar kein Menſch im Vereinigten König- 
reich Sir Eric fein Märchen glaubt. Man 
erkennt, daß die Münze, die er auf den Tiſch 
wirft, nicht koſcher iſt. Für uns, weil es bei 
uns Leute genug gibt, die derlei mit 
Wonne aufgreifen und es minierend 
weiter tragen. Wie fie neulich die Räuber- 
geſchichte von den 200000 Amerikanern — 
oder war es nicht gleich eine halbe Million? — 
an der Front in Frankreich mit Wolluſt auf- 
gegriffen und für ihre Zwecke weiter getragen 
haben. 

Nun muß man ſich über den Mangel an 
Regie wundern, mit der die Rede Sir Erics 
in Deutfchland verbreitet worden iſt. Fort 
und fort wird die Preſſe, insbeſondere die 
Berliner Preſſe, und zwar mit gutem Grunde 
erſucht, die Reden feindlicher Staats- 
männer nicht ohne kritiſche Beleuch— 
tung ins Land hinaus zulaſſen. Es ge- 
ſchieht dies aus der klaren Erkenntnis heraus, 
daß ſolche Reden in erſter Linie auf Wir- 
kung im deutſchen Publikum berechnet 
ſind. Man kennt eben unſere Schwächen. 
Die Preſſe trägt dem gern und ſachgemäß 
Rechnung, foweit fie einen glücklichen Aus- 
gang des Kriegs will. Auch ſoweit ſie ihn 
offen oder heimlich nicht will, kann ſie ſich der 
Aufforderung nicht entziehen; allzu ſehr 
bloßſtellen möchte man ſich ſchließlich auch 
bei ihr nicht. So ſagt auch ſie zu der gegneri- 


e —.— 


10 


ſchen Rede, was dazu geſagt werden muß. 
Sie ſagt es vielleicht mit ſüßſaurer Miene 
und ohne Begeiſterung, aber ſie ſagt es. 

Wenn ſie es nicht zu ſagen braucht, iſt es 
ihr natürlich lieber. Und auch die vaterländiſch 
geſinnte Preſſe kann die kritiſche Ergänzung 
der gegneriſchen Kundgebung nicht liefern, 
wenn ihr die Zeit dazu nicht gelaſſen 
wird. So war es aber diesmal bei der 
Geddes-Rede. Das amtliche Telegraphen- 
bureau hat ſie in Berlin am Donnerstag etwa 
um 2 Uhr nachmittags ausgegeben. An- 
mittelbar vor Abſchluß der Abend- 
blätter alſo; von irgend einer Möglich- 
keit, ein paar Worte dazu zu ſagen, w ır 
nicht mehr die Rede. Sir Eric hat in 
Berlin beſſeren Erfolg gehabt, als in Eng- 
land; ſeine U-Boot-Hiftorie iſt hier nicht durch 
niederträchtige Bemerkungen der Zeitungen 
um ihre Wirkung gebracht worden, wie dort. 
Ihre Echtheit konnte nicht erſt geprüft werden. 

Eine bedauerliche Nachläſſigkeit, ein ſträf- 
licher Mangel an Umſicht, — wenn nicht 
etwa etwas ganz anderes! Denn man 
kann auch an anderes denken. Die Sache 
liegt nämlich ſo. Die Leute, die, gleichviel ob 
aus innerpolitiſchen Gründen, aus dem Be- 
dürfnis, das ihnen drohende Strafgericht für 
frühere Sünden zu hintertreiben, aus all- 
jüdishen Beſtrebungen oder ganz unmittelbar 
als aus unſichtbaren Quellen geſpeiſte Agenten 
Englands, einen dem uns aufgedrängten 
Rifito und unferen Opfern entſprechenden 
Ausgang des Krieges und mit ihm jede Stär- 
kung des verhaßten „herrſchenden Regimes“ 
unter allen Umftänden hintertreiben wollen — 
ſie alle haben durch die ſchließliche Geſtaltung 
der Dinge im Oſten ſoeben einen ſchweren 
Schlag erlitten! Für ſie gilt es jetzt zu retten, 
was zu retten iſt. Was deshalb, koſte es, 
was es wolle, verhindert werden muß, iſt ein 
ahnlicher Ausgang des Krieges im Weſten, wie 
er im Oſten bereits eingetreten iſt. 

So bald als möglich müſſen auf der Grund- 
lage deulſchen Verzichts Feiedensunterhand- 
lungen mit den Weſtmächten in Gang ge- 
bracht werden. Vor allen Dingen: ke in 
neuer deutſcher Sieg! So ſpielen allerlei 
Einflüſſe gegen die Ausführung der Abſichten 


Auf der Warte 


für unſere weitere Kriegführung im Weſten, 
die, mit Recht oder Anrecht, unſerer Oberſten 
Heeresleitung nachgeſagt werden. Es ſind 
Leute genug an dieſen Treibereien beteiligt, 
die ſich dort, wo ſie es für wünſchenswert 
halten, Eingang und Gehör zu ſchaffen 
wiſſen, — vielleicht ſich auch beides nicht erſt 
zu ſchaffen brauchen. 

And dann gilt es, die endliche Abſtellung 
dieſes niederträchtigen U-Boot -Krieges durch- 
zuſetzen, der ebenſo alle Pläne derſelben Kreiſe 
zuſchanden macht! 

Das Vertrauen der Nation in ſeine Durch- 
führbarkeit und feinen Erfolg muß fallen! 
Sie wiſſen es und — Sir Eric weiß es auch! 
Beiden iſt durch den Zeitpunkt der Ver— 
öffentlichung der Geddes Rede wieder 
einmal ſtark in die Hände gearbeitet 
worden. Sit ein auf Wirkung gegen uns 
berechnetes Reuter Telegramm ſo wichtig, 
daß es unbedingt nach Schema F. des Wolff- 
bureau behandelt werden muß? Kam ſeine 
Veröffentlichung zwei Stunden ſpäter nichr 


noch zurecht? Eine ſonderbare Regie! 


Der Keichsſchädling in Litauen 


r muß doch in alles feine Finger hinein- 
ſtecken! Mit Stolz hat er ſich ſogar 
dazu bekannt, daß er den reichsſchädlichen 
Beſchluß des litauiſchen Landesrates herbei- 
geführt habe, in dem dieſer, im Gegenſatz zu 
ſeiner früheren Entſchließung, ſich gegen ein 
engeres Verhältnis zum Deutſchen Reiche er- 
klärt! „Herr Erzberger,“ ſchreibt die „T. R.“, 
„it bekanntlich entgegen den deutſchen 
Intereſſen für völlige Unabhängigkeit der 
Litauer; ſie, bis zu 86 v. H. Analphabeten 
dem Einfluß des Polentums ſchon durch den 
ſtarken Grundbeſitz der Polen in Litauen aus- 
geliefert, ſollen nicht unter deutfhen. 
Einfluß kommen, ſondern ſollen tun und 
laſſen können, was ſie wollen, ſollen ſich 
zu Polen oder Rußland ſchlagen können, 
wodurch wir Kurland verlieren und im Oſten 
einen ſtarken polniſchen Block erhalten könn- 
ten. Es würden alſo Zuſtände an unſeren Oſt⸗ 
grenzen Platz greifen, die ſchlimmer wären, 
als die vor dem Kriege; unſere Grenzen 


Auf der Marte 


wären weniger denn je geſichert. Alles das 
liegt fo klar zutage, daß nur Unverſtand oder 
pollliſche Einſeitigkeit es nicht ſehen will. 
Bei Herren Erzberger wird uns das nicht 
wundern können, und ebenſowenig wird es 
übertaſchen, daß fein Organ, die „Germania“, 
wild aufbegehrt angeſichts der Nachricht, daß 
det Ranzler anſcheinend nicht auf dem Boden 
det Erzbergerſchen litauiſchen Politik ſtehe. 
60 ruft fie nach dem Reichstage und fagt, 


fie, das Organ des allmächtigen Herrn Erz- 


berger, halte es ‚für ausgeſchloſſen“, daß 
„nun der Kurs geändert fei‘, d. h. der Re- 
gierung wird anheimgegeben, zu erklären, 
daß fie den Wünfchen Erzbergers entſprechend 
an ihrem Programm feſthalte, nämlich der 
loyalen Durchführung! des Selbſtbeſtim- 
mungsrechtes der Randvölker. ‚Der Reichs- 
tag, der ſich in ſeiner Friedenspolitik mit der 
Reichsregierung bisher in jo vollkommener 
und erfreulicher Übereinftimmung gefunden 
hat, wird ſicherlich danach fragen müſſen, 
was nun im Oſten werden ſoll. Um die Ant- 
wort der Regierung iſt uns nicht bange. 
Sie wird die Übereinſtimmung mit dem 
Parlament weder preisgeben können 
noch wollen, am allerwenigſten um der Ge- 
lüͤſte der Annexioniſten willen.‘ 

Hier wird alſo deutlich zwiſchen den Zeilen 
der Regierung gedroht und es wird ihr noch- 
mals verſichert, daß fie ſich nicht des „Rück- 
halts der Volksmehrheit“ berauben ſolle, alſo 
der Zuſtimmung der Herren Erzberger und 
Scheidemann. Um die Erzbergerſchen Be- 
ſtrebungen noch von der anderen Seite zu 
unterſtützen, verſuchen ſeine Kreiſe bekannt- 
lich, ſächſiſch-württembergiſche Prinzenkandi- 
daturen zu unterftügen, in der Richtung: ein 
wabhängiges Litauen mit einem deutſchen 
Prinzen an der Spitze zu ſchaffen, fo daß 

die deutſchen Intereſſen ähnlich gewahrt 
erſche inen — wie einſt in Bukareſt. Im 
Reichstage wird hoffentlich in dieſe Beſtre⸗ 
bungen gründlich hineingeleuchtet werden. 
Dle litauiſche Frage iſt der Kernpunkt der 
ganzen Oſtfrage. Werden hier dieſelben 
Fehler gemacht, wie am 5. November 1916 
in den polniſchen Fragen, dann geben wir 
alle Trümpfe aus der Hand, die wir ſeit 


41 


dem ruſſiſchen Friedensſchluß beſitzen und 
ſorgen für eine neue Erſtarkung Rußlands 
und für Verwirklichung etwaiger Revanche 
pläne der jeweiligen Petersburger Regierung. 


„Ohne Schuld“ 


Dort mit der kindlichen Meinung, als habe 
die engliſche Einkreiſungspolitik den 
Weltkrieg hervorgerufen, als ſei Deutfchland 
ohne Urjache das Opfer einer finſteren Welt- 
verſchwörung geworden! Bei einer mehr 
ſachlichen Betrachtungsweiſe habe ſich das 
ſcheinbar Willkürliche der Rataftrophe mehr 
und mehr als unvermeidliches Ergebnis lang- 
ſam gewordener Mißverhältniſſe in der Ver- 
teilung der Weltkräfte und einer unnatür- 
lichen, im weſentlichen aber ohne „Schuld“ 
entſtandenen Uberſpannung eben dieſer Kräfte 
erwieſen. In den Ereigniſſen liege eine 
fällige, wenn auch kaum beweisbare Not- 
wendigkeit. == 
Mit derartigen Ausführungen ſucht der 
Aſthetiker Scheffler in der freiſinnigen „Voſ⸗ 
ſiſchen Zeitung“ darzulegen, daß der Weltkrieg 
eine unabweisliche Notwendigkeit war, nicht 
verhütet werden konnte und von keiner Seite 
verſchuldet wurde. Der freiſinnige deutſche 
Michel lebt wieder auf und wird in England 
als Vertreter des guten alten Volkes der 
Denker und Träumer freudig begrüßt werden. 
Bismarck beſorgte die Möglichkeit eines 
Koalitionskrieges gegen Deutſchland, wußte 
ihn aber zu verhindern und würde ihn ohne 
Zweifel verhütet haben, wäre er bei Leben 
und am Ruder geblieben. Kein Staatsmann, 
ſagte er, hat das Recht, einen Krieg zu be- 
ginnen, nur weil er ihn nach ſeinem Ermeſſen 
in gegebener Friſt für unvermeidlich erachtet. 
Er hielt jeden Krieg, auch den ſiegreichen, 
für ein Unglück. Er erſah das Bedürfnis des 
Volkes nach Frieden und war ſich ſeiner 
Verantwortlichkeit bewußt. Die engliſche 
Einkreiſungspolinik hatte Bündniſſe geſchaffen, 
die im Kriegsfall ganz Europa in Mitleiden- 
Schaft ziehen mußten. Militäriſch, polliſch 
und wirifchaftli waren die Folgen eines 
großen Krieges unberechenbar. Von der 
Klugheit der verantwortlichen Politiker durfte 


42 


man daher die Erhaltung des Friedens er- 
hoffen. Eine ehrgeizige und gewiſſenloſe 
Hofkamarilla in Petersburg veranlaßte den 
Ausbruch des Krieges. Verſchuldet haben ihn 
indeſſen die leitenden Kreiſe in England mit 
ihren Vertretern in Petersburg und Paris 
und mit Hilfe einer gehäſſigen oder käuflichen 
Preſſe. Der Krieg im Auguſt 1914 war keine 
unbedingte Notwendigkeit und hätte vielleicht 
noch weit hinausgeſchoben werden können. 
Handelte es ſich aber, wie der freiſinnige 
Aſthetiker behauptet, bei dem großen Kriege 
nicht um Willkür, ſondern erfüllte ſich nur 
ein Geſetz der Geſchichte, dann läßt ſich das 
freiſinnige Verlangen nach Schiedsgerichten 
und Weltfrieden nicht begreifen. Denn das 
neue freiſinnige Geſetz der Geſchichte würde 
darüber unbekümmert hinweggehen und alle 
Weltfriedensabmachungen umſtürzen. Was 
iſt nun freiſinnige Wahrbeit? P. D. 


Wenn der andere aber nicht 
will —! 

n der „Oeutſchen Politik“ ereifert ſich ein 

Feldgrauer gegen die Vaterlandspartei. 
100 Milliarden Kriegsentſchädigung iſt ihm 
zuviel für das arme England, deſſen Staats- 
männer glatt erklärt haben, daß ihnen 100 
Milliarden nicht zuviel wären, um es völlig 
zu ruinieren. 

Dem Verfaſſer iſt der Krieg mit ſeinem 
Morden und Blutvergießen zuviel wie uns 
allen. Er will Schluß gemacht ſehen, er 
will den Krieg los ſein. „Verehrter Herr,“ 
wird ihm im „Größeren Deuiſchland“ ge- 
antwortet, „wenn Sie Tpyhus haben und 
wochenlang im Fieber lagen, ſo begreife 
ich Ihre Ungeduld vollkommen, wenn Sie 
rufen: ‚gebt Schluß mit dem Typhus, ich 
mache nicht mehr mit, ich will ihn los fein.‘ 
ga lieber Freund, der Typhus läßt Sie 
aber nicht los und der Typhus macht 
keinen Schluß. Alſo können Sie den Kampf 
auch nicht aufgeben, ſondern Sie müſſen 
kämpfen und geſund werden wollen, ſonſt 
werden Sie es nicht. Das verbiſſene England 
läßt nicht locker, läßt nur locker, wenn wir 
Flandern aufgeben und die engliſchen Be- 


Auf ber Warte 


d ing ungen erfüllen, alſo uns zu feinen 
Sklaven machen; dann tſt England zu- 
frieden, dann können Sie auch Frieden haben.“ 
; * 
Ein Ehrenkreuz für Front- 
kämpfer 
ls wir zum großen Kampf zogen, war 
uns allen das Eiſerne Kreuz in der 
Erinnerung an andere gewaltige Zeiten 
deutſcher Vergangenheit ein heiliges Zeichen. 
Wir betrachteten jeden der alten und neuen 
Kreuzträger mit heiliger Ehrfurcht. Freilich 
das iſt im Laufe der Kriegsjahre anders ge- 
worden. Es hat für uns leider — verloren. 
Und keine Beſchönigungen und Verteidi- 
gungen werden erreichen, daß uns das Kreuz 
von Eiſen wieder das Zeichen heiliger Achtung 
und Verehrung werde. 

Es iſt zu ſpät, zu verbeſſern, was einmal 
verſehen iſt. Aber es iſt nicht zu ſpät, ein 
neues Kreuz zu ſchaffen, ähnlich dem, was 
an unſrer Väter Großtaten erinnert. Ein 
ähnliches ſchlichtes Kreuz, ohne Unterſchied, 
für Offizier und Mann. Eines, das nicht ver- 
liehen wird nach Gunſt und ſonſtigem Ver- 
dienſt, ſondern allein nach einer für jeden 
nachweisbaren Tatſache: ein Kämpferkreuz, 
ein Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Das nicht 
der erlangen kann, der in der Etappe war. 
Nicht der, der hinter der Front war, und wenn 
er noch ſo große Verdienſte hätte. Sondern 
nur eben für die, die „drin“ waren. Und 
ohne Unterſchied für Nang und Stand. 
Auch nicht als „beſondere“ Auszeichnung. 
Sondern nur einfach als Feſtſtellung für eine 
Tatſache, eben die, daß er im Furchtbarſten, 
in Grauen und Schrecken, in Not und Tod 
mit geftanden gegen den Feind. Und keinem 
vorenthalten, ſondern eben verliehen an alle, 
die dieſe Tatſache einſchließt. Da ſei kein Unter- 
ſchied. Denn das müſſen wir ſagen, jeder der 
im Kugelregen des Weltkrieges ausgehalten, 
verdient eine ſolche beſondere Auszeichnung. 

Es wird ja auch eine Feldzugsmünze wie- 
der ausgegeben werden an alle, die den Feld- 
zug mitgemacht, gleichviel, wo ſie geſtanden. 

Warum ſollie nicht ein einfaches ſchlichtes 
Kreuz die noch einmal kennzeichnen, die das 


Auf der Warte 


an der Stelle taten, die ſo manches, die ſo 


viele Opfer forderte. Aus Kanonenmetall 
etwa eroberter Geſchütze am ſchwarzweißroten 
Band würde ein ſolch einfaches Zeichen zu- 
gleich ein Stolz werden. 

Dies ſtolze Zeichen dürfte einzig und 
allein das von ſeinem Träger ſagen: „Ich 
babe in des Vaterlandes größter Not 
den Fe ind abgewehrt mit meiner Kraft 
und meinem Blut, habe mein Dater- 
land gedeckt mit meinem Fleiſch und 
Bein, habe geſtanden in Not und Tod 
und Grauſen und Gefahr und tat fo 
meine heilige Pflicht!“ 

Das würde viele, viele ausſöhnen, die voll 
Trauer und Bitternis ſehen, daß der, der in 
der Front ſteht, der dem Feinde die Bruſt 
bieten mußte, auch nicht den einen Vorzug 
genoß, daß ihm eine Auszeichnung einzig 
und allein vorbehalten blieb. 

Darum für alle Frontkämpfer ein Ehren- 
kreuz, das ihnen auch äußerlich die Ehre gibt, 
die ihnen gebührt, und ſtolz würde jeder 
wohl darauf ſein, weil es nichts kündete, 
als das eine, ſchlichte: Wir waren dabei! 

Und die Tatſache nimmt keiner. Sie iſt 
und bleibt unſer Heiligtum, weil ſie uns ſagt, 
daß wir darum auch vor uns ſelber beſtehen 
können. Aber warum ſollte fie ein ſolches 
Ehrenkreuz nicht haben? 

Und zudem würde dieſe Klarſtellung als 
eine Tat der Gerechtigkeit auch eine Ver- 
ſöhnung ſein. .. Zt die für die, die das 
Schwerſte trugen, etwa nicht notwendig? 
W. K. 


Oſterreichiſche Zenſur 


Wi in allen kriegführenden Ländern, ſo 
entwickelt auch in Oſterreich die Preß⸗ 
enfur eine äußerſt umfangreiche und ein- 
gteifende Tätigkeit. Das bekunden in den 
oͤſterreichiſchen Zeitungen und Zeitſchriften 
die zahlreichen leeren Stellen, die das Walten 


der Zenſur zum Ausdruck bringen. Trotz. 


dieſer ſonſt ſo ſcharfen Zenſur durfte die 
ſozialdemokratiſche Wiener „Arbeiterzeitung“ 
in einem Berliner Briefe von der deutſchen 
Vaterlandspartei ſchreiben, an ihrer Spitze 
ſtehe „der berüchtigte () Großadmiral 


45 


Tirpitz, einer der Haupturheber und Haupt- 
ſchuldigen des Weltkrieges“... „ „eine neue 
Gemeinheit dieſerſkrupelloſen Bande“ 
uſw. Hatte man in Wien ſchon vergeſſen, 
was man den Anterſeebooten des Herrn 


von Tirpitz zu danken hat? 
% 


Auch ein Eifolg 


wei Notizen, die die Runde durch die ganze 
Tagespreſſe machten: 

1) Schmachvolle Behandlung verwun- 
deter Kriegsgefangener durch die Eng- 
länder. 

Aus Mitteilungen der im November 1917 
zur Internierung in der Schweiz von England 
nach Frankreich verbrachten deulſchen Kriegs- 
gefangenen wird erſichtlich, in welch ſcham- 
loſer Weiſe ſich die Engländer auch noch bei 
dieſem Liebeswerk gegen das Völkerrecht ver- 
gehen. Der Transport der ſchwerkranken Ge- 
fangenen, die ſich zum Teil nur auf Krücken 
fortbewegen konnten, erfolgte in einem Vieh- 
dampfer. Über zweiunddreißig Stunden ſetz⸗ 
ten die Engländer die invaliden Gefangenen 
einem Transport unter unwürdigen Verhält- 
niſſen aus. Weil dieſe Maßnahmen eine 
Roheit und Niedertracht bekunden, die wir 
unſeren Kriegern gegenüber nicht dulden, hat 
die deutſche Regierung bei der engliſchen Re- 
gierung ſofort energiſchen Proteſt eingelegt. 
2) Der Kronprinz bei den engliſchen 

Austauſchgefangenen 

Nach einem Bericht der „Times“ ſtattete der 
Kronprinz vor ihrer Abreiſe in die Heimat den 
in Aachen untergebrachten engliſchen ſchwer⸗ 
verwundeten Austauſchgefangenen einen Be- 
ſuch ab. Ein Augenzeuge ſchildert den Be- 
ſuch folgendermaßen: „Sämtliche Gefangene, 
Offiziere, Unteroffiziere und Mannſchaften, 
waren in Rote-Kreuz- Baracken untergebracht 
und harrten ihrer Abfahrt, als plötzlich jemand 
rief: ‚Der Kronprinz iſt hier!“ Natürlich war 
man allſeits überraſcht. Jeder Zweifel wurde 
aber alsbald durch das Erſcheinen des Rron- 
prinzen ſelbſt, der ſich in Begleitung von drei 
höheren Offizieren befand, widerlegt. Der 
Kronprinz ſchien ſich bewußt zu ſein, daß ſein 
Beſuch unter ganz beſonderen Umſtänden 


AA 


ſtattfand, die den Fluß der Unterhaltung 


etwas erſchwerten. Se in Benehmen war 
indes in jeder Beziehung taktvoll. Allem 
Anſchein nach fand der Kronprinz es indes 
leichter, ſich mit den Unteroffizieren und 
Mannſchaften zu unterhalten, als mit den 
Offizieren, die, mit einer Ausnahme, ſämt- 
lich der Fliegertruppe angehörten.“ 

Alſo immerhin ein Erfolg. Das Blatt 
des Lord Northcliffe, zuvor Miſter Harms- 
worth, urſprünglich Herrn Stern, geruht dem 
Kronprinzen des Deutſchen Reiches buld- 
vollſt zu beſcheinigen, daß er ſich ſo weit ganz 
taktvoll benommen habe. Wenn wir nun 
nur nicht gleich zu ſtolz werden. St. 


x 


Es wirft 


nter der Spitzmarke: „Kein Verkauf 

» des Dampfers Brandenburg“ wurde 
ſchon im Herbſt vorigen Jahres aus Ber- 
lin gemeldet: „Die von einigen Blättern 
verbreitete Nachricht, daß der Dampfer 
„Brandenburg“ des Norddeutſchen Lloyd an 
die norwegiſche Amerikalinie verkauft worden 
ſel, iſt unrichtig. Wohl hat die norwegiſche 
Amerikalinie für den Dampfer ein An- 
gebot gemacht, das jedoch vom Nord- 
deuifchen Lloyd nicht angenommen worden 
if. Nach den bisher von der Reichs- 
leitung befolgten Grundſätzen iſt auch 
nicht zu erwarten, daß die zu dem Ver— 
kaufe erforderliche Genehmigung er— 
teilt werden würde.“ Könnte es wohl 
ein beſſeres Zeugnis für die Erfolge des 
U Boot-Krieges geben, als daß man ſchon 
damals vom „neutralen“ Norwegen An- 
gebote auf deutſche Schiffe machte? 
Wo der Vater dieſes Gedankens zu ſuchen iſt, 
wiſſen wir ja. Die Schiffsraumnot mußte doch 
ſchon gewaltig groß geweſen fein, daß man 
einen fo ausfichtslofen, wenn nicht geradezu ver- 
zweifelten Verſuch unternahm. Und heute —? 


Nebenbei ein Streiflicht, wie man im 


Auslande den deutſchen Michel noch immer 
bewertet! Wir ſollen unſere ſchönen 
Schiffe hergeben, damit England nicht 
unſerem UBoot-Krieg unterliegt! 

0 Schol. 


Auf der Warte 


Die beiden Deutſchland 


wei Oeutſchland findet die „Deutſche 

Zeitung“ innerhalb der Reichsgrenzen. 
„So unfaßlich das ſcheint, vor allem in einem 
Weltkrieg ſcheint. Dieſer Zwieſpalt iſt aber 
Tatſache, und Tatſachen muß man klar er- 
kennen, nicht um ſich ſchwächlich drein zu 
finden, nein, um fie kräftig anzupacken. Tat- 
ſache iſt: zwei Deutfchland gibt es innerhalb 
der Reichsgrenzen. 

Das eine, völkiſche, wurzelt in der großen, 
alten Vergangenheit, in deutſcher Ge— 
ſchichte und Kultur, es ſteht auf Macht, 
es will Sicherung, es erkennt die deutſchen 
Notwendigkeiten: Auf uns ruht die Laſt 
Europas. (Friedrich der Große.) Es erſtrebt 
das Maß von Freiheit, das mit der Sicherheit 
des Ganzen irgend vereinbar‘. (Bismarck.) 
Es weiß, daß wir das Errungene ſtets wieder 
zu verteidigen haben. (Moltke.) Ihm gilt 
tatſächlich Peutjchland, das fo ganz eigen- 
artige Land und Volk, über alles. 

Das andere Oeutſchland hängt an feinem 
Volkstum nicht. Es denkt und fühlt über- 
völkiſch oder wähnt's zu tun. Die harte 
große Vergangenheit iſt ihm „Bedruckung“, 
die große reiche Kultur „Rückſtändigkeit'. 
Macht? Nein. Verſöhnung. Sicherung? 
Nein: Verbrüderung; Pflicht, Hingabe an 
die Allgemeinheit? Nein: Freiheit, „Demo- 
kratie“, wie jene demokratiſchen Mufterländer 
und friedlichen „Demokratien“, die uns ſeit 
1914 mit allen Mitteln bekämpfen. Nicht 
Deutſchland, nein, Partei und Klaſſe über 
alles. 

Man hat fie ihr Land und Volk, die 
eigene Klaſſe ausgenommen, haſſen ge 
lehrt. Der Haß macht ſie blind gegen die 
deutſchen Notwendigkeiten. Die Hochgebil- 
deten unter ihnen leben in einer Nebelwelt 
undeutſcher Schlagworte, find Weltbürger, 
während das eigene Haus brennt. 

Das völkiſche Deutſchland denkt ſenkrecht 
in feſtumriſſenen, wurzelhaften, völtifchen 
Eigenarten, die, erdkundlich-geſchichtlich ge- 
geben, die Völker voneinander trennen, ihren 
Wert, ihre Kultur bedingen und ſie einander 
unähnlich machen. 


Aut der Warte 


Das unvölkiſche Oeutſchland denkt wage- 
recht, es durchbricht die völkiſchen Trennungen 
für eine Schicht, das Proletariat, ſchafft einen 
weltumfpannenden Ring, der alle völkiſche 
Ggenart in Freiheit, Gleichheit, Brüderlich- 

telt verwiſcht, das völkiſch Wurzelhafte ent- 
wurzelt. 

Auf dies unvölkiſche Deutſchland 

rechnet der Feind. 

Oer Kampf geht darum: bleibt Oeutſch- 
land eine völkiſche Wirklichkeit? Oder wird 
es ein örtlicher Begriff, ein Raum Mittel- 
europae, deſſen großes, hochbegabtes Volk 
in der roten Internationale unterging?“ 


* 


Der ſchwebende öſterreichiſche 
Staatsgedanke 


er iſt denn noch, außer den Deut- 


15 ſchen, deim alten öſterreichiſchen 


Staatsgedanken?“ fragt Emil Ludwig in der 
„Voſſ. Ztg.“ (Nr. 643). „Sind es die Tſche⸗ 
chen, deren Trennungsmanifeſte nur durch 
ihre Offenheit ſtärker auffallen als die der 
andern Slawen? Sind es die Ungarn, die 
nur eben noch den Kaiſer zum Könige wollen? 
Sind es die Polen, die, ebenſo verſtändlich 
wie ihre preußiſchen Brüder, nach der Ver- 
einigung mit den nun befreiten ruſſiſchen jtre- 
ben? Oder die Süͤdſlawen, deren Traum von 
einem eigenen Staate, durch den Krieg belebt, 
zwifchen einer kroatiſchen, einer ſloweniſchen, 
einer antiſerbiſchen Löſung ſchwankt und 
nur darum vorläufig minder gefährlich ſcheint? 
Oder die Ruthenen, die einer Angliederung 
ihres öſtlichen Galiziens in die Gemeinſchaft 
ihrer polniſchen Todfeinde mit vollem Rechte 
viderftreben und, nach Kultur und Religion 
dem Oſten zugeneigt, ſich den Millionen ihrer 
tuſſiſchen Brüder anzugliedern ſuchen, die, 
ebenfalls befreit, die große Ukrainiſche Re- 
publik gebildet haben?“ 

Die Oeutſchen in Lſterreich, aber auch 
die im Neiche hätten allen Grund, ſich dieſe 
Frage mit ihren naturnotwendigen, nicht zu 
umgehenden Folgefragen ſehr, ſehr ernſthaft 


zu überlegen. Gr. 
* 


Keine Märtyrer ſchaffen! 


n einer Prima zu Königsberg i. Pr. wird 

das Thema geſtellt: Warum bin ich ſtolz, 
ein Deutfcher zu fein? Darauf erheben fi 
zwei junge Leute nichtgermaniſcher Raffe 
und weigern ſich, den Aufſatz zu ſchreiben, 
weil fie ſich „nach den jüngſten Vorkomm- 
niſſen nicht als Oeutſche fühlten“. Die vor- 
geſetzte Behörde, das Provinzialſchulkollegium 
zu Königsberg, das in der Sache angerufen 
wird, ſieht jedoch vom Einſchreiten ab, da 
es „keine Märtyrer ſchaffen wolle“. Dieſe 
Nicht-Deutfchen dürfen alſo die deutſche 
Schule ruhig weiter in Anſpruch nehmen. 
Die Märtyrer aber ſind nun die deutſchen 
Lehrer, die ſolchen Geſellen ihre Zeit und 
Arbeitskraft zu opfern gezwungen werden. 

4 E. K. 


Kerngeſunde Heiratskandidaten 


wei Heiratsanzeigen aus einer Nummer 

der „Frankfurter Zeitung“: 

„Akad. geb. Kfm., Sohn eines Maſchinen⸗- 
fabrikanten, 26 Ff. alt, ev., vermögend, kern 
geſund und lebensluſtig, möchte bald ein 
ebenfalls vermögendes, intereſſantes, luſtiges 
Mädel heiraten, um ein geſchmackvolles 
Eheleben ſchon in der Jugend zu erleben und 
einen pſychiſchen Ausgleich zu haben..“ 

„Vermögender, ſolider Inhaber altange- 
ſehener bedeutender Weingroßhandlung in 
ſchöner rhein. Badeſtadt, Eigentümer berr- 
ſchaftl. Beſitzung, ſowie großer Weingüter, 
35, evang., kerngeſund, ſucht paſſende, lebens- 
friſche, gut bürgerl. haushälter. erzogene 
Lebensgefährtin aus der Weingegend mit 
nachweisbar größerem Vermögen. 

Wenn man in der Kriegszeit das beſte 
Teil ſeiner Geſundheit gelaſſen hat und von 
dieſen kerngeſunden Heirarskandidaten lieſt, 
dann bedauert man es doch ſehr, daß ſolche 
Herren ihre kernige Geſundheit an die Markt- 
tafel ſchreiben können, ohne dem feldgrauen 
Wams Tribut geleiſtet zu haben, wie alle 
andern ſowohl kerngeſunden als auch weniger 
kerngeſunden deutſchen Männer. 

Das lebensluſtige Söhnchen des vielleicht 
Granaten machenden Maſchinenfabrikanten, 


40 


das „ſchon in der Jugend feinen pſychiſchen 
Ausgleich mit einem intereſſanten Mädel“ 
haben will, iſt offenbar unabkömmlich. Und 
eigentlich müßte man dasſelbe von dem 
35jährigen kerngeſunden Weingutsbeſitzer an- 
nehmen. 
Daß es, und wohl namentlich am reich 
beſetzten Tiſch des Lebens, noch immer Leute 
gibt, die in ihrem Benehmen auf das Emp- 
finden des Heeres derjenigen nicht gebührend 
Rückſicht zu nehmen wiſſen, die im Kriege 
gelitten und geblutet haben! 

Ein Spaß, wenn das Bezirkskommando 
den beiden kerngeſunden Heiratskandidaten 


ein Angebot machte! G. 
* 


Woher kommt's? 


llenthalben macht man jetzt die Wahr- 

nehmung, daß ſich die Berufsgruppen 
zu einer Art von Konſumvereinen zufemmen- 
ſchließen. Und eigenartigerweiſße geſchieht das 
nicht nur, um durch Mafſſeneinkauf günſtigere 
Preiſe zu erzielen, jondern es iſt dieſen Ver— 
einigungen auch möglich, Waren zu erhalten, 
die ſonſt der allgemeinen Verbrauchsregelung 
unterſtellt ſind. So hat z. B. kürzlich ein 
Eiſenbahnarbeiterverband auf den Kopf je 
fünf bis neun Pfund Speck, Schinken und 
Schmalz kartenfrei verteilen können, und 
zwar nicht etwa ein Verband in dem ſchlechter 
verſorgten Weſten oder in einer Großſtadt, 
ſondern in einem mittelgroßen oſtdeutſchen 
Provinzſtädtchen. Woher kommen die Hun- 
derte von Zentnern, deren Vorhandenſein 
das vorausſetzt? Ohne Mitwirkung irgend- 
welcher amtlicher Stellen iſt das doch nicht 
denkbar! Es gibt ſogar Familien, die durch 
ihre Mitglieder an mehreren Konſumvereinen 
beteiligt ſind und von verſchiedenen Seiten 
zugleich in der angegebenen Weiſe bedient 
werden. Einſpruch zu erheben ift auch da- 
gegen, daß ſich nun alierorts die ſtädtiſchen 
Beamten, denen zum Teil die Lebensmittel- 
verforgung ſelber unterſtellt iſt, zu ſolchen 
Vereinigungen zuſammenſchließen, ſoweit ſie 
nicht rein wirtſchaftliche Vorteile dabei im 
Auge haben, und daß die Stadtverwaltungen 
das ihnen vielfach zuſtehende Derfügungs- 


Auf der Warte 


recht dazu verwenden, ihren Angeſtellten 
außergewöhnliche Bewilligungen zu gewäh- 
ren. Das ſollte ſchon um des Volksſriedens 
willen vermieden werden. E. K. 


Soziale Fürſorge 


Deo neue Bezugsſcheinregelung für Stoffe 
und Kleider bringt Beſtimmungen, die 
wieder einmal den Glauben an die ſoziale 
Fürſorge des Staates zu erſchüttern im- 
ſtande find. Keinerlei Unterſcheidung be- 
ſonderer Fälle, kein rückſichtsvolles Eingehen 
auf Ausnahmen, ſondern nur grob gezogene 
Rich elinien nach unbeugſamem Schema. Ge- 
wiß mag ein ſtrenges und tatkräftiges Ein- 
greifen nötig ſein, denn es iſt offenkundig, daß 
noch immer recht weitgehender Verbrauch an 
Kleidern und Kleiderſtoffen ſtattgefunden hat, 
fo daß man ſich über die bisherige Weitherzig⸗ 
keit ſchon hat wundern müſſen. Aber dieſer 
unangebrachten Weitherzigkeit entſpricht nun 


rückſichtsloſes Draufgehen; ſeit Einrichtung 


der Bezugsſcheinpflicht fehlt die vorſicht ig 
maßvolle Mittellinie. Zu große Strenge ſoll 
den neuen Beſtimmungen auch gar nicht ein- 
mal vorgeworfen werden, aber, was ſchlimmer 
ift, Unwirtſchaftlichkeit und ſoziale Rüdjihte- 
loſigkeit. Es wird neuerdings verlangt, daß 
für jedes zugebilligte Kleidungsſtück das ent- 
ſprechende, nicht mehr gebrauchsfähige ab- 
geliefert wird, um durch die Reichsbekleidungs- 
ſtelle anderswie verarbeitet zu werden. Zt es 
ganz und gar verwendungsunfähig, ſo iſt die 
eidesſtattliche Verſicherung vorgeſehen, daß 
das Stück unbrauchbar bzw. nicht mehr vor- 
handen iſt. Wie einſchneidend dieſe Bejtim- 
mungen für die minderbemittelten Familien, 
und zwar für die mit Kindern, ſind, hat man 
wohl nicht erkannt. Denn ſonſt hätte man ſich 
doch wohl gehütet, die ganze ſogenannte 
Familien- oder Hausſchneiderei zu unter- 
binden. Selbſt das ſogenannte „Nachtragen“ 
der Kinder iſt nur noch durch „Schiebung“ 
möglich, d. h. dadurch, daß man deren Alter 
verſchweigt oder falſch angibt. Von Rechts 
wegen iſt eine Familie gezwungen, jeden 
Mantel, den ein Kind ausgewachſen hat, ab- 
zuliefern, um einen neuen dafür einzukaufen, 


Auf der Warte 


ohne Rüͤckſicht darauf, ob er vielleicht auf ein 
jüngeres Kind übertragen werden könnte. 
Und die Neuverarbeitung getragener Stücke 
iſt gänzlich unterbunden. Wer aber weiß, bis 
zu welchem Maße bei den minderbemittelten 
Familien gerade in dieſer Zeit die Sparfam- 
keit ging, wird begreifen, welche Belaſtung 
bei den geradezu unerſchwinglichen Kleider- 
und Stoffpreiſen dadurch hervorgerufen wird. 
Und was gewinnt der Staat auf dieſe Weiſe 
für ſich? Nichts, ſondern er verliert noch dazu 
Arbeitskraft. Denn beſſer ausnutzen kann er 
die getragenen Sachen auch nicht; außerdein 
iſt er aber gezwungen, die Leiſtung der Ver- 
arbeitung auf ſich zu nehmen, die ſonſt von 
der Familie übernommen wird. Und irgend- 
welche Bureauſchwierigkeiten liegen doch 
wahrlich nicht vor, um eine größere Rüdjicht- 
nahme zu verbieten. Es brauchte nur eine 
Amtauſchbuchung erlaubt zu werden; das ab- 
zuliefernde Stück verbleibt der Familie, wird 
aber in der dafür beabſichtigten Art der Ver- 
wertung angerechnet. Die kleine damit ver- 
dundene Mühe der Buchung muß man ſich 
ſchon gefallen laſſen. E. K. 


Ein paar Stichproben 


Weich ein Schlag von Männern heute 
die Geſchicke des deutſchen Volkes 
mehr oder minder maß; und richtunggebend 
beeinflußt, davon gibt Prof. Hans Haefke in 
der „Oeutſchen Tageszeitung“ ein paar Stich- 
proben: 

„Es ſei nur an die Rede Scheidemanns 
erinnert, mit der er am 28. Juni 1915 im 
Reichstage die in zwölfter Stunde ein- 
gebrachte Militärvorlage bekämpfte! Nur 
einige Perlen! „Wir glauben nicht nur nicht, 
ſondern wir wiſſen, daß Frankreich gar 
nicht daran denkt, uns an die Kehle zu 
ſpringen.“ „Ohne Anlaß, ohne Not, wie 
Herr Erzberger feſtgeſtellt hat, hat man 
dieſe Vorlage der Welt ins Geſicht geſchleu- 
dert.“ Wir brauchen alſo Herrn Erzberger 
nicht noch ſelbſt zu zitieren. 

Zn Wirklichkeit ſpielen die Führer der 
Demotratie und ihre Trabanten als Staats- 


Berlin 


47 


männer einen um ſo komiſcheren Zwickel, als 
fie ihre Phantaſtereien mit einem Selbſt- 
bewußtjein vortragen, das im geraden Gegen- 
ſatz ſteht zu ihrer bodenloſen Unwiſſenheit. 

So ſpendete Herr Theodor Wolff in der 
„bedeutendſten Zeitung Deutſchlands“ kürzlich 
aus dem unermeßlichen Schatz ſeiner hiſtori- 
jchen Kenntniſſe die Weisheit, daß es dem 
deutſchen Volke nicht zu verargen ſei, wem 
es für ſich die demokratiſche Staatsform ver- 
lange, die die Athener ſchon vor 2400 Jahren 
gehabt hätten. Ganz abgeſehen davon, daß 
das deutſche Volk ſich kaum nach der Demo- 
kratie ſehnt, weiß alſo Herr Theodor 
Wolff anſcheinend nicht, daß die atheniſche 
Demokratie eine Herrſchaft von viel- 
leicht 50000 Vollbürgern über minde— 
ſtens 200 000 Rechtloſe war. Herr Theo- 
dor Wolff weiß nicht, daß dieſe ſogenannte 
Demokratie ihre größten Leiſtungen voll- 
brachte, als nach Thucydides „in Wirklichkeit 
die Herrſchaft des erſten Mannes (des Arifto- 
traten Perikles) beſtand“. Herr Theodor Wolff 
weiß nicht, daß, als die Führung ſpäter auf 
die Maſſe der Vollbürger überging, es mit 
Athens Herrlichkeit ſchnell und ein für allemal 
ein Ende nahm ...“ 

1. 


Ehrendoktor Moſſe in der Erſten 
badiſchen Kammer 


M ſchreibt uns von beſonderet Seite: 

Die Verleihung des juriſtiſchen 
Ehrendoktors an Herrn Moſſe hat in der 
badiſchen Erſten Kammer ein Nachſpiel ge- 
habt. Als Grund der Verleihung der 
höchſten Würde, die eine deutſche Univerfität 
vergeben kann, war am 4. Dezember in den 
doch ſicher von den berufenen Organen der 
Univerfität bedienten Heidelberger Zeitungen 
folgendes angegeben: 

„Herr Rudolf Moſſe hat . .. der jurifti- 
ſchen Fakultät unſerer Hochſchule zum daut- 
baren Gedächtnis an Theodor Mommſen 
die Summe von 100000 & (I) als Stipendien; 
ſtiftung zur Verfügung geſtellt, um Heidel- 
berger Studenten den Winteraufenthalt in 
und Berliner Studierenden den 


28 
Sommeraufenthalt an füdweftdeutfchen Uni- 
verjitäten zu ermöglichen.“ 

Man weiß, welchen Sturm der Entrüftung 


dieſe ſeltſame Ehrung bei den Dozenten und 
Studenten an allen deutſchen Hocfchulen 


entfacht hat. Nun werden wir durch eine Er- 


klärung des Vertreters der Univerfität Heidel- 
berg in der Erſten Kammer überraſcht, wo- 
nach jene „vielangefochtene Ehrenpromotion“ 
nicht nach der Stiftung Zug um Zug, fondern 
„aus einem inneren Anlaß zuſtande kam, der 
von der Stiftung, die eine halbe Million 
betrug, ausgelöſt wurde“. Die ganze Be- 
wegung wegen dieſer Promotion habe ledig- 
lich antiſemitiſche Tendenzen gehabt. 

Herr Oncken, der dieſe Orakelſprüche 
von ſich gab, wird ſich wohl etwas deutlicher 
ausdrücken müſſen. Weiß doch ganz Heidel- 
berg, daß die halbe Million nicht Zug um 
Zug, ſondern zum größten Teil erſt nach der 
Promotion ſpendiert wurde, und wer will 
ih wundern, wenn eine von dem Dekan 
Heinsheimer betriebene offenkundig ſemitiſche 
Ehrung an andern Aniverſitäten anti- 
ſemitiſche Gegenwirkungen auslöſte? 


Herr van de Velde 


der Kunſtgewerbler, verdankt ſeinen Ruhm 
nächſt ſich ſelber den deutſchen Kunſtſchrift- 
ſtellern. Er war lange Profeſſor und Staats- 
beamter in Weimar, und er ſpricht vollkom- 
men gut deutſch. Der Geburt nach ſollte er 
Vlame ſein, aus Antwerpen, doch Namen 
können täuſchen. Am 28. Januar d. g. hielt 
er in Zürich einen Vortrag über Ruskin und 
van de Velde als den Klügeren von beiden. 
Der Vortrag fand ſtatt in der Reihe der 
Veranſtaltungen des Gottfried-Keller-Hauſes. 
Herr v. d. Velde trug den Züͤtichern in fran- 
zöſiſcher Sprache vor. 

Wir haben an dieſer Begebenheit, da ſie 
Ausländer unter ſich betrifft, keine Kritik zu 
üben. Der tote Gottfried Keller vermag es 
ja auch nicht mehr. Aber für uns Deutfche 
bemerkenswert iſt ſie als der Fußtritt, der 
einer übertriebenen Aſtheterei mit ihrem 


Auf der Warte 


Unterton von Vaterlandsloſigkeit zum nicht 
unverdienten Lohn wird. = F. 


Ein trefflicher Merkſpruch 


gegen die krampfhaften Verſuche, dem deut- 
ſchen Volke die Lateinſchrift aufzureden, 
findet ſich in Meiſter Roſeggers „Heimgärt- 
ners Tagebuch“ (neue Folge, 1917, bei Staad 
mann): 

„Warum will man im deutſchen Volke 
den Lateindruck einführen? — Weil man 
den deutſchen Oruck nicht überall leſen kann, 
antworten fie. — Nun, dann werden wir 
uns auch wohl die deuifhe Sprache abge- 
wöhnen müfjen. Die kann man ja auch nicht 
überall verſtehen. Und endlich werden wir 
auch die deutſche Weſenheit wegwerfen. 
Man kann fie ja nicht überall begreifen. Am 
wenigſten begreifen ſie die, ſo uns die deutſche 
Schrift wegnehmen möchten. Nein, wir leben 
zuvörderft für uns ſelbſt und laſſen unſerer 
Sprache, unſerem Schrifttum nicht den 
deutſchen Rock ausziehen. Wem du heute 
den Rod gibſt, der will morgen die Haut.“ 


* 


Vergleich 


on dem, was den ſtaatlichen und fitr- 
lichen deutſchen Niederbruch um und 
nach 1800 eigentlichſt verſchuldet, von der 
Zeitgeiſtigkeit oder „Ubergeiſtigkeit“ des enden- 
den 18. Jahrhunderts, ſagt Fichte, wie fie „gar 
flach, kränklich und armſelig geworden, dar- 
bietend als ihr höchſtes Gut eine gewiſſe 
Humanität, Liberalität und Popularität, 
flehend, daß man nur gut ſein möge und dann 
auch alles gut ſein laſſe, überall empfehlend 
die goldene Wittelſtraße, d. d. die Ver- 
ſchmelzung aller Gegenſätze zu einem 
dumpfen Chaos; Feind jedes Ernſtes, jeder 
Konſequenz, jedes Enthuſiasmus, jedes 
großen Gedankens und Entſchluſſes und 
überhaupt jedweder Erſcheinung, welche über 
die lange und breite Oberfläche um ein weni- 
ges hervorragte, ganz beſonders aber verliebt 
in den ewigen Frieden“. H. 


Verantwortlicher und Hauptſchtiftleiter: Z. E. Freidere von Grotthuß + Bildende Kunſt und Muflt: Dr. Kerl Store 
Alle Zuschriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗ Berlin 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Heinrich Heyne 


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Ariegaanagabe 
Rorananeher: J. C. Rreiherr von Grotthnk 


XX. Jahrg. Zweites Aprilhett 1918 | Beft 14 


Die Mütter auf dem Schlachtfeld 
Von Franz Lüdtke 


a liegen die großen, guten Jungen; trüb und trüber wird ihr Auge, 
NW Heißer der Atem, matter die Stimme — — aber mit dem letzten 
) bißchen Kraft des Mundes oder des Herzens rufen ſie: Mutter! 
a And die Mütter kommen! Sie müſſen doch bei ihren großen, 
guten Zungen fein! Die Mütter kommen, alle, alle; die, die noch im Lichte gehen, 
und die, die ihren Söhnen ſchon vorangeſchritten iind... Sie kommen alle. 
Haben ſie doch einſt in Stunden des Schmerzes ihr Kind aus dem rätfel- 
vollen Dunkel eines Argeheimniſſes hineingeführt in die taufriſche Helle des 
Lebens, und Liebe hieß der Weg, den ſie gegangen. gebt wallen fie wieder den 
Weg der Liebe; aber nun gilt's, das Kind zurückzuleiten, aus den Räumen des 
Achts in die Kammern des Ounkels und der Rätſel: und wieder iſt's der Schmerz, 
der den Pfad der Mütter heiligt. und jede Mutter heißt Maria 
Die großen, guten, tapferen Jungen ſind, da's nun ans Sterben muß, von 
neuem wie die Kindlein geworden, gläubige, dankbare Kinder, die ſehnſüchtig 
nach ihrer Mutter verlangen. Wie war's doch früher? Wenn's ins Finſtere ging, 
in die Rätfel der Nacht und des Schlafes? Mutter, riefen fie da — und die Mütter 
kamen. Und falteten den Kindern die Hände, beteten mit ihnen, küßten ihre 
Stim und fangen fie zur Ruhe, 
Wiegenlieder .. . alte, felige Wiegenlieder . . . 
Der Surmer XX, 14 4 


50 Frank: Lebenstette 


Und heut, auf dem Schlachtfeld? 

Die Mütter ſind gekommen, mit Schritten des Schmerzes, auf Wegen der 
Liebe, und geleiten ihre Kindlein ins Dunkle, in die Rätſel der Nacht... beten 
mit ihnen ... küſſen ihre Stirnen ... und über das Schlachtfeld hallt, endlos, 
endlos, das Lied der Mütter, die ihre großen, guten Zungen in den Schlummer 
ſingen 


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Lebenskette Von Karl Frank 


Hinter Tod und Untergang 
Grünt ein neues Leben, 
Wie verſchwiſtert im Geſang 
Höh’n und Tiefen ſchweben. 


Aber allem Dunkel harrt 
Schon ein Stern der Stunde, 
Wo die blinde Gegenwart 
Aufhorcht ſeiner Kunde. 


Durch den froſterſtarrten Baum 

Geht ein ahnend Strecken, 

Und im letzten Winterflaum 

Hört die Erde wie im Traum 

Klingen ſchon den Schritt des jungen Reden, 
Oer die Tore ſiegend ſprengt 

Und des Lebens Banner 

Jubelnd in den Lüften ſchwenkt. 


Herd: Sie Wiedererſtehung unſerer Diplomatie 851 


Die Wiedererſtehung unſerer 
Diplomatie 
Von * Dr. Ed. Heyck 


„Es taget vor dem Walde, 
Stand uf, Kätterlin. 

Die Haſen laufen balde, 
Stand uf, Kätterlin! 
Oullöhiholdrioho — 

Du biſt min, ſo bin ich din.“ 


s kommt jetzt beſtändig anders, nachdem die hochdiplomatiſchen 
Schriften der Bethmannſchen Politik die Periode der „merklichen“ 
) Weltveränderungen für ex erklärten, „und weil mein Fäßlein trübe 
läuft, geht auch die Welt gleich auf die Neige“. Aus der ungeheuren 
Entladung aller natürlichen und chemiſch zugemiſchten Triebkräfte, die als gärende 
Segenſätze angeſammelt waren, beginnt es zur Klärung und Auseinanderſetzung zu 
kommen. Noch iſt unendliches dafür zu tun, mehr noch, als in den Dingen, in den 
Köpfen. Aber doch ſchon jeder Sehende erkannte, wie jetzt die Weltgeſchichte mit 
der eignen Hand die Dinge neuſchöpferiſch ordnet, — wie fie aus dem Chaos, das 
die Politiker vollends erſt zuwege brachten, den Schlamm der Lüge, die Waſſer des 
Quatſches und die auftaucheuden Veſten des Werdenden ſcheidet. 
| „In jedem Punkte hat fie es gut für uns Oeutſche, als die Rechtlichen, ge- 
führt. Daß auch diesmal, Ende 1917, England oder feine Entente nicht die Geiftes- 
gegenwart hatten, ſo lange die dem Herrn Trotzky glatt von uns zugeſtandene 
Wartefriſt von Breſt-Litowſk lief, den neuen Pariſer Frieden und Wiener Kongreß 
aus dem ſoundſo vielten präſentierten Angebot zu gewinnen. Sodann, daß 
die erſte Verhandlung in Breſt noch wieder unfertig ausging, wie anfangs 1814, 
die von Chatillon, ſo daß auch von dieſen Gegnern ein neuer Gneiſenau aufatmend 
ſagen konnte: „Napoleon hat uns beſſere Dienſte geleiſtet, als das ganze = Der 
Diplomatiker.“ 

Es war unbeſchreiblich gut, daß unſere Diplomatiker in Breſt — und zwar 
bei öffentlicher Zuſchauerkorona ſo, daß wir fie mal in natura ſehn konnten und 
nicht bloß das feifige Berliner Tageblatt an die Kammertür beſtellt ward — vorder- 
hand eine Fuchsmenſur ſchlugen. Gegen die mauernden Advokaten von Rußland, 
denen die männliche ehrliche Abſicht fehlte, ihren Klienten zu vertreten und nichts 
anderes. Man ſtelle ſich vor, die Herren Zivildiplomaten ohne militär-gefunde 
Bonne wären mit dieſer noch immer Bethmänniſchen Zugeſtändnisfreudigkeit, 
von der die gefährliche Wartefriſt und die für fie perſönlich gleich unvorſichtige 
Welt-Offentlichkeit zwei durch die Stärke unſerer Poſition keineswegs erforderte 
Proben waren, mit dieſer „gegenſeitigen freundſchaftlichen Herzlichkeit“, von der 
die anfänglichen Berichte ſchwögten, mit dieſer Schiefladung von ungeſchickten 
Kenntniſſen zur ernſthaften Pro- patria-Suite mit den in Streichern und Haken- 
quarten alt-eingepaukten Gegnern zum Weltkongreß losgeautelt, nach Berlin, 
Kopenhagen oder am Ende noch Stockholm. Von den Kenntniſſen waren zweifellos 


52 Hey: Die Wiedererſtehung unferer Diplomatie 


neuefte Geographie ſeit Hindenburg ſchwach, Formalien und Schimmelreiten gut; 
meinten ſie doch ums Haar, ſie ſeien da, um zuvörderſt die Integrität Rußlands 
herzuſtellen, da man nur ſo mit ihm korrekt verhandeln könne. Daß man die 
auftauchenden Ukrainer zuerſt anſtarrte wie die Hirten von Bethlehem die un- 
bekannten drei Könige von Morgenland, kann doch kaum eine fromme Verſtellung 
geweſen ſein. Denn Moral und Betragen waren in allem tadellos. 

„Welt-Kongreß!“ So hatten durch Jahre die Denker und Dichter erwartet, 
die Dereinspazififten geflennt, Beth- und Scheidemann die Hebel ihrer Inter- 
nationale, der goldenen und roten, in ſchweizeriſchen und Stockholmer Ron- 
ferenzen vorprobiert. Wie der Selbſtvernichtung Schlußſtein hing der allgemeine 
Kongreß über uns, wie ſchier nicht abzuwenden. Eine Warnung Nadoslawows 
gegen „Kongreß“, die er amtlich im Sobranjeausſchuß tat, ward mittels wolff- 
telegraphiſcher Verſtandes- und Grenzſperre aus der reichsdeutſchen Preſſe viel- 
bezeichnend ferngehalten. Zedes weiterblickende Familienblatt verſah ſich ſeit 
1915 mit ſeinem Feſtbeitrag „Friedenskongreſſe“. (So konnte man wenigſtens 
feſte dagegen ſchreiben.) Wozu hat der Deutſche in der Schule Geſchichte „ge- 
habt“, wenn er nicht gleich an die großen Kongreſſe dachte? Waren ſie nicht vor 
allem der „Präzedenzfall“, der den Diplomaten ziert und woraus ihm der Ver- 
ſtand wird? Wo zwar das beſcheidenſte Nachdenken mit Hilfe der Präzedenzfälle 
hätte ſagen müſſen, wie das für uns ausgehen werde. 

Für alles, was fie uns Gutes im Sinn trägt, bediente ſich unſerer Gegner 
die Weltgeſchichte. Dafür daß Rumänien losſchlug, daß Italien gegen Öfterreich 
ſelbſtlos weiterkämpft, ſollten fie einen Abguß aus der Siegesallee zum National- 
geſchenk erhalten. Und die Oberjakobiner des Sopjet-Konvents verdienten ihn 
nicht minder. Schon für die „Offentlichkeit“ jener Verhandlung. Hätten fie bie 
Humanität und die Völkerbefreiung, für die ſich der ganze Welt-, Rede und 
Kriegsbrand eintrachtsvoll ereifert, letzlich in Livland, Eſtland, Finnland nicht ſo 
auf die Spitze getrieben, daß von den beglückten Völkern bald nichts außer ihrer 
Selbſtbeſtimmung lebend blieb, ſo wären auch dieſe Vertreter von „Rußland“, das 
gar nicht ihr Vaterland iſt, wohl noch zum Weltkongreß gekommen. Ihre zwei 
Partituren lagen fertig: in Moll der demokratiſierte Weltkongreß, wo dann die 
heilige Staatszerſetzungs-Allianz feierlich beſiegelt werde, in Dur der revolutionäre 
Weltkonvent. Der Weltkrieg, worin die ariſchen Nationen ſich matt kämpfen, war 
die nie wiederkehrende Hochkonjunktur, zu dieſem Finale zu gelangen. 

3b habe im Türmer ſchon viel früher auf das Verhältnis: Trotzky 
contra Lenin gedeutet. Seit Beginn der ruſſiſchen Revolution iſt der Vorgang 
der gleiche, ward ſchon recht ſichtbar unter Kerensky. Der Ruſſe meint, er mache 
ſein Spiel, und die fremden Kibitze nehmen die Karten vom Tiſch und ſtecken ſie 
in ihre Hand. Übrigens ſchon innerhalb der letzten zariſchen Regierung ſpielte der 
von den ewig gleichen Legenden umhüllte Kampf der Mardochai und Haman, 
und mit den Unterliegenden fällt noch ihr guter Name mit. Der Abſcheu gegen 
die Antiſemiten ſoll die Welt erfüllen. Nur niemals bekommt ſie die Nennungen, 
die nach der andern Seite kompromittierend oder allzu deutlich find. Höllifch 
paſſen da die telegraphiſchen Agenturen auf, ſo wie die Wolffſche nun ſchon länger 


' 


Heyck: Die Wledererſtehung unſerer Diplomatie 53 


von dem Brüſſeler Präſidenten des Appellationshofs notgedrungen berichten muß, 
mit dem ſich die deutſche Amtsmacht zu befaſſen hatte, und all ihre namenloſen 
Umſchreibungen der Perſönlichkeit ſparen könnte, wenn der ſo vlamenfeindlich 
fühlende Herr nicht Levy hieße. — Mit dem Sturz des Zarentums rückten die 
judiſchen Rechtsanwälte in die wichtigen Ämter und Präſidien ein, und in den 
weiter ſich abwandelnden Phaſen breitete ſich die ſelbſttätige Vermehrung ftamm- 
verwandter Lenker aus. Selbſt die Nordd. Allg. Zeitung (26. 2. 18) erzählt 
davon, daß die Nommiteevorſitzenden in Livland, die die Ermordungen beſtimmten, 
„alles junge Menſchen von 21 und 22 Zahren, faſt ausnahmslos Zuden“ waren. 

So ringen die zwei Seelen der Revolution um die Bolſchewiki-Herrſchaft, unter 
dem Anſchein der Einheit, den ſie beide aufrechthalten müſſen, und verkappt 
im Tohuwabohu von Widerſinn und Undeutlichkeit, das überall durch die beteiligte 
Machkunſt bewirkt wird. Die Großruſſen jeglicher Parteiſtellung haſſen volklich den 
Njemez, er iſt ihnen etwas Ahnliches wie der Zude, und unſer unvermeidliches 
reichsdeutſches Heroldsausblaſen kapitaliſtiſch-wirtſchaftlicher Ziele beſtätigt ſie darin. 
Andersherum aber auch, um endlich zu ſich ſelbſt zu kommen, mußten ſie mit 
Deutſchland kurzweg Frieden wünſchen. Die Trotzky uſw. haſſen uns noch mehr, 
aber nicht als volksnationale Ruſſen; ihnen iſt das ruſſiſche Bolſchewikitum die 
Maſchine, um die ganze Welt für ihre Ziele platt zu walzen. Nach dem ruſſiſchen 
Muſter mit Hilfe des „Volkes“ wollen ſie und ihre mehr oder minder verſchwiegenen 
Freunde in den übrigen Ländern die geſchichtlichen Gewalten ausheben. Mit 
der Ungeduld und Voreiligkeit, die einmal ihre Eigenſchaft iſt, meinten ſie jüngſt, 
Europa ſei ſchon zum Generalſtreik nebſt den davon erhofften Folgen reif. Es 
iſt die. für fie tragiſche Kehrſeite davon, daß fie jo überreichlich von jeder Art 
dußerem Erfolg verwöhnt find. Die Arbeit in und mit der Oberflächlichkeit iſt 
ihr Lebensboden, aber auch immer das, wodurch fie ſchließlich doch nicht an das 
Sanze kommen. Ihre Fruchtbäume wachſen üppig heran, aber darunter hört 
die Tagesſchicht auf, die ſie als fleißige Regenwürmer gelockert und mit ihrem 
Sroßſtadtmüll und Intellektualismus und wie dieſe Kunſtmittel heißen, fo trefflich 
durchdüngt haben; die geilen Wurzeln geraten in taube gewachſene Lagerungen, 
die ſie nicht mehr annehmen. Und einige ſind immer, die auch ſo klug ſind und 
noch etwas klüger. Sie können abwarten, weil die Uneigennützigkeit die nicht ſo 
zappeligen Nerven hat, weil fie ihr „Mül törnen“ kann, was zu Pomuchelskopps 
Zamnier Häuning nie konnte und was auch in der Advokatenpraxis nicht geſchult 
wird. So ſcheint das unvordringliche Durchhalten des reklameloſen Lenin aufzu- 
jaſſen zu fein. 

Zu was die Verhandlungen von Breſt-Litowſk waren, haben nun Roſenfeld— 
Ramenjew (in Ropenhagen) und Trotzky ſelber zum beften gegeben und am weid— 
lichſten der in der Schweiz berühnite „ruſſiſche Kurier“ und Abgeſandte Holzmann, 
auch einer natürlich, aus Warſchau. Sie legten bloß, wie fie ſich bei der ſchönen 
mittelmächtlichen Geduld auf die derweil geſponnenen Fäden verließen: die 
Zündſchnur in Dur, das zweiſträhnige Geflecht in Moll, Hoffnung auf die 
Ententcländer und auf Wien und unſeren Reichstag. Vom Deutſchen Reichstag 
gehen begreifliche auswärtige Vorſtellungen um, die denn doch ſich irren. Immer— 


54 Heyd: Die Wiedererſtehung unferer Diplomatie 


hin fährt Scheidemann fort, die „Zertrümmerung Rußlands“ nicht gutzuheißen. 
Alſo das unſchädliche Zerbröckeln des Koloſſes, der in ſeiner Kompaktheit und in 
feinem notwendigen Bedürfnis, ans weſtliche Meer zu rücken, uns einmal begraben 
mußte, nach den Balten und Finnländern die Deutſchen und Nordgermanen. 
Bis dahin natürlich will der Grundſatzmann nicht denken. Dieſe politiſche Art 
zu denken kennt weder Entwicklung, noch Gewordenheit, ſie iſt zeitlos, wie ſie 
abſolut und ewig tot iſt. Belgien iſt Belgien, und Rußland iſt Rußland. 

Kein Sterblicher weiß, ob ohne den militärischen Mit Bevollmächtigten zur 
Breſter Verhandlung — der im Reichstag entſchuldigt werden mußte — die Oiplo- 
maten nicht heute noch, Dezember, Januar, Februar, (März) nach Ronferenzen- 
brauch mit ihren „Ruſſen“ ſäßen. Daß General Hoffmann dieſe Verhandelei mit 
klarem Wort bezeichnete, war der Hieb in das Fadenknäuel, der nicht kommen durfte. 
Jetzt war's von höchſter Spannung, aufzupaſſen. Richtig, in Wien die Arbeiter- 
zeitung, beſſer zu nennen die Arbeiter-Bearbeitungs-Zeitung, hatte ſchon den 
Hieb mit Adler-Auge aufgefangen. Der deutſche General hat mit dem Säbel 
geraſſelt! Wenn das Wort nicht zieht, auch mitten im Kriege, was foll dann ziehn? 
Richtig, ſie wagten in Berlin gar nicht mehr die Augen aufzuſchlagen. Tagelang 
mit dem alten Unbehagen ſah man die Zeitung wieder kommen, ob fie noch nicht 
Hoffmanns Kaltſtellung brächte? — Schon aber wieder kam der weitere Verlauf 
durch den Gegner. Der um Schutz bittende Ruf der eſtniſch-livländiſchen ver- 
faſſungsberechtigten Ritterſchaft war ſchon wochenalt, war von Berlin aus nicht 
verlautbart worden, — Balten! Ritter, Junker! Das konnte bei der „Mehrheit“ 
peinlich werden, „Schutz“ konnte Geſchrei verkappter Annexion erregen. Nun, 
die roten Horden mordeten Nichtdeutſche, Letten, Eſten, Finnländer genug, Ver- 
nunft und Empörung ertrugen's nicht mehr und am 18. Februar verzunderte der 
Waffenſtillſtands-Zwirnsfaden. Ein bündiger Griff ans Schwert, an den — Säbel, 
und wir genasführten werbenden „Verſtändiger“ hatten das Jawort des Friedens. 

Bereit ſein iſt alles! bleibt immer das Wort der großen Wirklichkeit. Wo aber 
die Politik unmännlich, dukig, feig, mundredig wurde, gilt nun: Geſchrei iſt alles! 
3m Cholmer Bezirk wohnen viel mehr Ukrainer als Polen, aber ſowie nur das 
Polentum ein unberechtigtes Geſchrei erhebt, dreht ſich die Haltung und Selbſt- 
achtung derer in Wien, die den Vertrag geſchloſſen, wie eine Windfahne um. Ohne 
all den verlogenen Widerſinn, welchen England dem Weltkrieg zum begleitenden Welt- 
gefaſel gab, hätte auch Bethmanns Regierung, von ſich allein aus, ſolche ſelbſt- 
verneinend Kriegspolitik gar nicht fertig bringen können. So aber hatte fie in jenem 
gegen uns erregten Geſchrei die Richtlinien, was fie verſäumte und unterließ, was ſie 
vorzeitig als Deutſchland fernliegend erklärte, was fie zur vermeinten Genugtuung 
des Auslands auf die deutſche Tagesordnung ſetzte. Während weltgeſchichtliche Tra- 
gödien andauernd an fremden Völkern den Unſegen und die Frevel ihrer Eintags- 
regierungen vor die Augen aller Zeitgenoſſen ſtellten, ſtieg ſie ſo tief herunter, 
die Werte totzuſchweigen und mit eigener Hand zu zerſchnitzeln, die vielleicht nicht 
immer in der Perſon des Monarchen, wohl aber in der höheren Verantwortlichkeit 
der vererbenden Krone und Oynaſtie und der fie umgebenden herzhaft treuen 
Diener liegen. Zur gleichen Zeit, da dieſe ſich auf das Helleuchtendſte und Er- 


geyck: Die Wiedererſtehung unſerer Diplomatie 55 


greifendſte erwieſen, mäſtete die Regierung den Vorwärts und das Berliner 
Tageblatt. | 

Die kritiſche Mitarbeit unſerer Publiziſten an den Aufgaben der Staatskunſt 
würde mehr ausrichten, fie ſtieße bis zu den Amtern durch, bildeten auch die deutſchen 
Schriftſteller und Schriftleiter eine Einheitsfront, wie jo erfolgſtark nicht nur in 

unſerem Lande, ſondern in der ganzen Weltverzweigung die der Gegenſeite tun. 
Aber auf gut germaniſch iſt jeder — ein paar Ausnahmen — der Neiding des andern, 

am naͤchſten desjenigen, der das Gleichgerichtete wie er zu ſagen hat. Es bleibt tonlos, 

iſt fruchtloſe Predigt in der Wüſte, daß der ſelbſtändige nationale Publiziſt die 
Dinge, wie fie find und wie fie fein follten, in zahlreichen Einzelperſonen deutlicher 
als gar ſo oft der Amtsmann ſieht. Denn jener hat allerdings leichter, ſie durch die 
Luftlinie zu ſehn; da ſtehn ſie im klaren und richtigen Umriß wie ein halbfernes 
Gebirge. Der Amtsmann bieſtert ach in dieſes Tales Gründen mitten im Gebirg 
herum. Dante am Anfang der Comedia — er nannte ſie aus anderen Gründen 
ſo — gibt eine Beſchreibung davon. Er erwähnt die vielen Bäume, den Wolf, 
(einen zwar nur, die nebenamtliche Meinungspolitik telegraphiſcher Agenturen 
war noch nicht erfunden); „vor jenem mußte tief mein Mut ſich neigen in Furcht 
beklommen“, und fo iſt er voller Anſpielungen. Obendrein aber trägt unſer Di- 
plomat als Schutzbrille noch das Aktenbündel, was Dante nicht tat und die italieni- 
ſchen Politiker von 1914 bekanntlich auch ſich ſchenkten. Mitunter haben zwar 
gewiſſenhafte deutſche Staatsmänner durch den Aktenboden hindurch auch wieder 
herausgeſehn und das, was ſchriftlich dazwiſchen enthalten war, im rechten 
Augenblick herauszuziehen gewußt, daß es mit Donnerſchlagwirkungen traf, hoͤld- 
lüfterne Anträge Napoleons III. u. ä. mehr. Aber durch Bethmann ward feliger, 
ins Unrecht ſich ſelbſt zu ſetzen, ftatt rechtzeitig andere, und feit man die Röntgen- 
ſtrahlen erfunden hat, iſt das Durch-die-Akten-Hindurchſehen auch zugrunde ge- 
gangen, wie alle freien Künſte, wenn ſie der Wiſſenſchaft verfallen. 

Die Wiſſenſchaft und die Bureaukratie ſind engſte Schweſtern. Sie ſind Anker 
und Pendel der Diplomatie. Das war in dem Weltmannstum einſtmaliger Diplo- 
maten die Krönung: „den Teufel im Leibe zu haben“, die in Klugheit und Mut der 
Bewegungsfreiheit bewurzelte Vollbringungsluſt. Heute geht der Diplomat dieſer 
Art über Bord, vielmehr er kommt gar nicht dazu, es zu werden, und in einem 
Geſellſchaftskreiſe, wo eigenes, gar noch nationales Herzblut ſich höchſtens betätigen 
kann, wenn man mit dieſem Herzfehler a. D. geworden iſt, da lebt man ſich leicht 
ein in die ſchönen Tage von Aranjuez. Alles, was man tun und wollen konnte, 


lag umzirkelt in Berliner „Direktiven“. Manche von ihnen zur Jagowzeit hat den 


beſcheidenen Hunior in den Geſandtſchaften auswärts erheitert. — Die nationale 
Triebkraft unſerer Politik war tot. Schon vor 1914 trat an höheren Stellen das 
ablehnende Bedürfnis zutage, ſie mit dem Begriff des Alldeutſchen durcheinander- 
zubringen. Deutſchland ſei beſtimmt zur kosmopolitiſchen „Kultur“. Die Gleich- 
ſetzung national-alldeutſch vor der öffentlichen Meinung vollendeten dann deren 
bevorzugte Generalpächter, als ihr im Auguſt 1914 unnötig beeiltes „großes um- 
lernen“ vorüber war und ſie nun den großen Zug durchs rote Meer auf die andere 
Seite machten. — Aber auch alle noch ſonſt politiſch-diplomatiſch bezweckte Tätig- 


56 Henck: Die Wiebererliching ımferer Diplomatie 


keit war erloſchen, die Vorbeugendes auf aktivem Wege gegen die Einkreiſung 
hätte zuſtande bringen können, müſſen. Erſatz für Politik blieben die Ober- 
direktiven der mehr oder minder internationalen Finanzmächte, die in Deutſch- 
lands beſtändig beteuerten „alleinigen wirtſchaftlichen Zielen“ des Pudels Kern 
darſtellten. Aus dieſem geliebten Gerede geht uns die unglüdfelige Neigung nach, 
Deutſchlands händleriſche und wirtſchaftliche Abſichten, ſtatt fie in engliſch-tatſäch- 
licher Weiſe ruhig zu verfolgen, in alle Weltrichtungen, ehe es noch irgend ſo weit 
iſt, auszututen. Nachdem man von deutſcher und Weltkultur bis zum Erbrechen 
geredet, erwidert man den Finnländern, die ihre Anlehnung an die deutſche Bil- 
dung betonen, mit der Betonung der „wirtſchaftlichen Hoffnungen“ Oeutſchlands. 
Daß Bulgarien unſer Verbündeter iſt — unſer allerwichtigſter, notwendigſter, 
der Türangelpfoſten, woran der ganze Berlin- Bagdad-Kram befeſtigt iſt und vor 
allem der große buntfenſtrige Zwiſchen- Windfang am guten Haken hängt —, das 
ward kürzlich noch wieder vergeßlich verbummelt über dem reicheren Rumänien; 
Radoslawow mußte zum ſoundſo vielten Mal nach Deutfchland fahren, mit feinen 
guten Trümpfen im Handkoffer, die er ja nicht für Kartenhäuſerbau und als Fidi- 
bus für feurige Pazifiſtenreden vergeudet hat. So las man's mit der Oobrudſcha 
auf einmal wieder anders, und Oeutſchland macht ſich Bulgariens Sache zu eigen. 
Venn es auch nicht fo freudig klang, wie man in der Friedens Vorfreude von den 
zu gewinnenden „künftigen Freunden“ geſprochen. — 

Von „gottgewollten Abhängigkeiten“ ſprach 1910, das Wort Bismarcks un- 
genau anbringend, der Staatsmann, den ſo oft zu nennen immer von ſelber peinlich 
wird. Keiner wie er vermehrte die vom guten Gott der Oeutſchen nicht gewollten. 
Zu dem goldenen Pol der Internationale ſetzte er in das amtlich bisher noch nicht 
anerkannte Ergänzungsverhältnis den roten Pol und vervollſtändigte jo die Axe 
für das, was aus der ſeiner Weltpolitik noch werden konnte. Es war die ſchöne 
Zeit des Stockholmer Vor-Kongreſſes, der ſich in der Schweiz begegnenden „feind 
lichen“ Finanzleute, wo über elſaß ; lothringiſche Teilabtretungen Palaver gehalten 
wurden, die vom telegraphiſchen Wolff als „Entgegenkommen einflußreicher 
Kreiſe“ empfohlen wurden, es war die Maienblüte der Bedeutung Scheidemanns. 
Bis eines Tages der perſönlichſte Vertrauensmann, Erzberger, ſich auf die unbe- 
grenzten Möglichkeiten beſann, politiſcher zu fein, als Beth- und Scheidemann 
zuſammen, und die Verſenkung mit dem einen ganz, dem andern halb nach 
unten ging. 1 

Bethmann war aber ſelber der Großpapa der Mehrheitsreſolution. Un- 
ermüdlich hat er an ſolcher Geiſtesverfaſſung gearbeitet, hat er, nachdem Oeutſch- 
land im Auguſt 1914 mit Jubel ſich von den Parteien befreit gefühlt hatte und 
ihre Steckenreiter abgeworfen, die Parteien wieder aufgebaut, und dieſer Bau 
gelang dem Mann der Kartenhäuſer. Den ganzen Aberwitz der Friedens Werbe- 
politik ſamt der Refolution, in der fie ſich überſchlug, konnte man in der beft- 
draſtiſchen Widerlegung beobachten durch das Beiſpiel — der deutſche Zeitungs- 
leſer wurde z. T. daran verhindert —, wie Bulgarien möglichſt deutlich und oft 
ducch den leitenden Minifter feine nicht fo ſchüchtern zufaſſenden Kriegsziele 
öffentlich kundtat, mit dem doppelten Erfolg: daß nirgends gegen ſie geſchrien 

0 


Heyd: Ole Wledererſtehung unſerer Diplomatie 57 


und gehetzt ward, weil man es als zwecklos einſah, und daß früh zur rechten Zeit 
die Sobranje ſie mit freudigem Oank für dieſe Staatskunſt und das Heer begrüßte. 

Vom Juli 1917, zuerſt noch wenig merklich, nahm nun doch die Weltgeſchichte 

die uns und das künftige Deutſchland angehenden Entwicklungen ſelber in die Hand. 
Die ſeit Kriegsbeginn namentlich von München ausgegangenen Aufklärungen und 
Deutungen über die Ukraine, die ruſſiſchen Fremdvölker, über die oſteuropäiſche Zu- 
kunft find heute keine „alldeutſche Hirnverbranntheit“ mehr. Nachdem in der 
Bethmann-Riezlerſchen „Weltpolitik“ vom Frühjahr 1914 — die mit hoffärtigem 
Mangel an Scham noch im Herbſt 1916 im unveränderten Geſchwafel des Textes 
neuaufgelegt wurde, mit aller Selbſtblamierung drin! — das „ewige Rußland“ 
als diplomatiſche Gewißheit aufgeſtellt und aus der „Geſchloſſenheit ſeiner 
Kaffe“ (7) mitbewiefen worden war. 

Aus dieſen Schwefelwolkenkuckucksheimen kehrte wie Elias im feurigen Wagen 
dieſes Februars zur Erde nun doch eine Diplomatie des Tatſächlichen zurück. 
Sie ſteht oft noch wie ein Neuling im Gelände, Neuorientierung über die Ge- 
ſchehniſſe 1914—1917 bis in die Kanzleien hinunter iſt unerläßlich. Und vieles 
wird ihr ſonſt nicht leicht gemacht. Am nächſten verbündelt iſt ſie mit einer Politik, 
die aus Nationalitätengründen — weil niemand da war, 1914 den Augenblick der 
ſtarken Staatsidee an der Stirnlocke zu faſſen — wieder beim Metternich redivivus 
anlangte, nur in recht verſchoſſener Couleur. Und in der deutſchen Heimatfront 
hinter ihr drohen die Politiker der inneren Entente. Bei alledem iſt es eine Freude 
zu ſehen, wie ſie jetzt, wo die fühlbare Hand der lebendigen Geſchichte ſie einfach am 
Kragen mitführt, auch im Lernen mit Siebenmeilenſtiefeln weiterkommt. Noch 
kuͤrzlich verlautbarte ganz im alten Betbmannſtil, welche „Bedingungen“ Rumd- 
nien uns () wohl machen würde, von unſerer Seite finde es das freundlichſte Ent- 
gegenkommen, nur wirtſchaftliche uſw. uſw. Auch dieſes Blättlein wandte ſich, ſieht 
der vielgeprüfte Leſer ſeiner Zeitung mit Vergnügen, und andere Zeichen und 
Wunder geſellen ſich hinzu. Fröhlich will man da in Kauf nehmen, wenn das, 
was man heute erkennt und vorausſieht, ſchon wieder auf überwundenen Strecken 
liegt, bevor es über Grenzzaun, Zenſuren und was der Gräben und Hürden mehr 
ind, endlich in den Druck gelangt. 

Nach Jahren und Fahren der kaltnaſſen Nebel klären ſich wieder die Wirklidy- 
keiten, ſinken die Dünſte um fie bernicder, die von Bethmanns druckſendem 
pythiſchem Oreifußſtuhl aufſtiegen, glänzt auf den Siegeshöhn ein hoffnungs- 
frohes Morgenlicht. Ex oriente lux! Daß es nun feine klare Lichtbahn nach Weſten 
ziehe! Nach allen den „Angeboten“ hören wir von Hertling wieder „Sicherung“! 
Das muß dann und wird dann auch die fein, durch die wir dem Vetter John, was 
ich im Doppelſinn ſehr ernſtlich meine, „näher“ kommen. Es führt kein 
anderer Weg zu feiner Achtung. Und wenn wir doch immer ſo viel ver- 
ſchenken wollten, jo bringen wir Oünkirchen feiner alten Heimat zu und ſchenken's 
den Dlamen zur Morgengabe wieder! Wie Riga von Livland zu Kurland kam. 
Und Calais iſt auch noch da. Es kommt jetzt beiderſeits die Zeit der diplomatiſchen 
beweglichen Konſtellationen, wo es die hübſchen indirekten Billardbälle zu 
verfuchen gibt. Man ſtudiere darüber nur das anſchauungsreiche Lehrbuch, be- 

% 


58 Seidel: Der Mutter Eintehr zu ſich felbft 


titelt „Geſchichte der Diplomatie in Koalitionskriegen“, worin wir bisher gar zu 
einfeitig die Rolle der ſiegreich Vertrauensvollen und zum Schaden dann auch 
noch von der Gemeinſamkeit der übrigen Verſpotteten und Ausgelachten ſpielten. 
Alſo, mit Italien mache der innige Vierbund feinen Frieden nur — zuletzt, der 
ſtärkt uns nicht ſo ſehr. 28. 2. 18. 


Der Mutter Einkehr zu ſich ſelbſt 
Von Ina Seidel 


Der Liebe, die da beiteln ging, 

An Berg und Baum und Strom ſich hing, 

Die wundernd ftand im Glanz und Licht 

Von fremdem Menſchenangeſicht, — 

Der Liebe, die nicht Ruhe fand, 

Sich arm und leer gab Herz und Hand, — 

Der Liebe wurde Ziel und Glück, — 
Glück, — Glück! 

Sie ſtrömt von Segen übervoll 

Ins Herz zurück, dem fie entquoll, 

Ins eigne Herz zurück. 


Sie iſt nun ledig aller Flucht, 

Sich Blüte ſelbſt und ſelbſt die Frucht. 
Sie iſt nun alle Sehnſucht los, 

Kreiſt mir vom Herzen durch den Schoß. 
Die Welt, die ich durchdrang mit Glut, 
Wiegt ruhig ſich in meinem Blut. 

So vieler Herzen Süßigkeit, 

Daraus ich Wonne trank und Leid, 
So Stern und Baum, Tier und Kriſtall, 
Die Liebe kehrte heim vom All, 

So milder Mond, ſo wilder Wind: 

Ihr wurdet eins in meinem Kind. — 


Stoſch: Des echenels letzte Fahrt f 59 


Des Echeneis letzte Fahrt 
Eine Geſchichte aus der Meereswelt 
Von Eva Marie Stoſch 


ie ein gleißendes Lichtband, in ſich bewegt und zitternd, läuft 
58 der Abendſonnenſtrahl über das weite, große, uferloſe Meer. 
204 Vom fernen Weſt rinnt er her, wo der goldrote Sonnenball dem 
288 Horizont entgegenſinkt. 
Und der Himmel wölbt ſich blaufahl bis auf jene gelben, roſigen und violetten 
Volkenſtreifen tief im Weſt. Und der weite, gewaltige Atlantik liegt wogend 
blaugrau. Alles dunkelt der Nacht entgegen — — alles verdämmert — — — 

Die Unendlichkeit des Meeres, und die erhabene Einſamkeit des Meeres 
find groß. Durch dieſe große, erhabene Meereseinſamkeit ſchwimmt der Fiſch 
Echeneis. Er gleitet dahin, unentwegt durch das bläulich dunkelklare Kriſtall. 
Denn er folgt dem großen Menſchenfiſch. 

Als er dem großen Menſchenfiſch zum erſtenmal begegnete, da wußte er, 
und fühlte er, daß dieſer fein Glück wär'. 

Und muß es nicht fo fein? — — Das iſt ein feltfames und geheimnisvolles 
Tier. Das iſt rieſengroß, und ſchlank, und waſſerfarben. Zur Tiefe ſinkt es hinab 
und kann am Grunde liegen. Dann wieder ſtreicht es wie ein Schiff der Menſchen 
droben zwiſchen den Wogenkämmen hin. 

Es iſt ein Schiff der Menſchen! Aber weil es ſo eigen iſt, und io ſtark, und 
durch die Flut dahinſchießt, und untertaucht wie ein gigantiſcher Fiſchleib, da 
wird es dem kleinen Echenels zur lebendigen Kreatur. Zum großen Menſchenfiſch! 

Der kleine Echeneis kennt die Schiffe der Menſchen wohl. Er iſt ihnen oft⸗ 


mals gefolgt — — er, den fie den „Schiffshalter“ nennen. Er hat an ihnen ſich 
feftgebaftet, und mit ihnen die Welt e von Nord nach Süd, von Oſt 
nach Weſt. 


Zetzt aber iſt er ledig und frei. 

Durch das dunkelklare Kriſtall gleiten fie beide dahin. Weit voraus der große 
Menſchenfiſch, grauſchwärzlich, lang geſtreckt. Hinterdrein — — ſehnſüchtig und 
begierig — — der kleine, bräunliche Schuppenträger Echeneis. 

Das gleißende Lichtband auf dem Waſſer iſt verblaßt. Der Sonnenball 
ſank tiefer, und wurde glutroter, und dann iſt er ertrunken. Nun iſt nur noch ein 


letztes Rotgelb und Violett über dem fernen Weſthorizont — — aber auch das 
verſchwindet. Das Dunkelfahl der Sommernacht legt ſich über Himmel und Meer 
— — die erſten Sterne blinken — — der Mond ſteigt auf. 


Wie aber das Licht des Mondes milchhell und machtvoll wird, gewahrt der 
Echeneis wieder etwas Neues und Seltſames. Da wirbelt etwas über ihm im 
Waſſer, ganz hoch droben, wo das Mondlicht die Flut durchhellt. Es wirbelt und 
dreht ſich — — und ſenkt ſich und ſteigt wieder auf — — und iſt türmchenſchlank, 
aber doch nur klein, und ſehr zart und fein. 


60 Stoſch: Des Echenets letzte Fahrt 


Da hält der Fiſch im Schwimmen ein, und ſteigt auch höher, denn das feine, 
zarte, wirbelnde Ding zieht ihn ganz merkwürdig an. Nun iſt er nahebei und 
ſtaunt mit großen, runden Augen, und ſpricht: „Grüß' dich — — wer biſt du, 
wunderbares Weſen?“ 

Vor ihm dreht ſich das Geſchöpfchen. Das Mondlicht fließt, wie durch das 
Kriſtall der Flut, jo durch den feinen, durchſchimmernden Leib, der wie ein Frucht 
chen aus matt roſigem Glas iſt. 

„Grüß' dich wieder. Ich bin nur Beros, die Melonenqualle, die Tänzerin.“ 

„Du tanzeſt bezaubernd — — ich muß dir zuſchauen. Du biſt ganz durch- 
ſichtig, und bewegteſt du dich nicht im Waſſer, ich glaube, man könnte dich nicht ſehen.“ 

„Nein, man könnte mich nicht ſehn, und das iſt mein Schutz vor Gefahren 
und Verfolgtſein.“ — — Dann wirbelt ſie ganz dicht an ihn heran, und um ihn 
herum. „Wer biſt denn du? — Du biſt ein komiſcher Geſelle von einem Fiſch. 
Auf dem Kopfe, gleich hinter der Nafe, haft du eine platte Scheibe, einen läng- 
lichen, flachen Schild. Was tuſt du damit?“ 

„Damit fauge ich mich feſt an meinen Gefährten, mit denen ich ſonſt zu 
wandern pflege.“ 

„So biſt du jetzt allein?“ 

„Ich bin allein — — ja freilich — — aber nur, um einem neuen Genoſſen 
mich anzuſchlie ßen, der mein Glück ſein wird. Darum kann ich auch nicht lange 
dir zuſchauen, ſchöne Tänzerin.“ 

„Ach — — bleibe noch. Du biſt ein drolliger Kumpan, aber du gefällſt 
mir. Ich glaube ſogar“ — — ſie ſchwenkt ſich vor ihm, und ſinkt, und ſteigt, und 
beim Steigen in mondlichthelleres Waſſer erglänzt fie ſelbſt immer lichter — — 
„ich glaube ſogar — — ich hab' dich lieb — —“ 

Der große Menſchenfiſch ſtreift weit voraus. Seht iſt er zur Oberfläche auf- 
getaucht. Am Drud der Waſſermaſſen, die fein rieſenhafter, harter Leib verdrängt, 
an dieſem Druck, der durch Flut und Wellenſchlag geht, fühlt Echencis fein Ver- 
bleiben. And er will ſich fortwenden von der kleinen Melonenqualle, dem anderen 
nach — — 

„Bleibe, bleibe“, flüſtert ſie, ganz nahe bei ihm. „Siehſt du nicht, wie ich 
leuchte und ſchimmere ini Mondenſchein — — bin ich nicht ſchön? Aber noch viel 
ſchöner kann ich fein. Wenn es dunkel iſt. Denn dann habe ich mein eigenes Glän- 
zen. Ein funkelndes Tanzkleid aus lauter Glanz.“ 

„Ja — — du biſt ſchön.“ 

„Bleibe — — bleibe — — ich hab' dich lieb.“ — — — 

Was rauſcht das Meer auf, dort drüben, wo der große Menſchenfiſch an der 
Oberfläche ſchwimmt? Man ſpürt weithin das ſchnell erregte Drängen ber Dajjer- 
maſſen. Wieder taucht das große Tier. 

Es taucht ein gutes Stück hinab, und gleitet dann ebenmäßig dahin, dort, 
wo kauin noch das Licht des Mondes einzudringen vermag. Dort, wo die Waſſer 
ruhiger find, weil kein Wellenſchlag binabwühlt. Nun ift es näher gekommen dem 
Echeneis und der Beros — — fie hören fein lautes, ſtöhnendes Atemraffeln. — — 
Nun ſenkt er ſich wieder tiefer — — — 


Stofh: Des Echenels letzte Fahrt | | 61 


„sp muß hinunter, hinunter,“ gurgelt Echeneis haſtvoll, „daß ich ſehe, 
wo es bleibt — —“ 

„Und ich folge dir“, flüſtert die kleine Tänzerin. 

So ſteigen auch ſie hinab, immer dem langen, rieſenhaften Schattenleibe nach, 
der unter ihnen ſinkt. Um ſie her wird es dunkler und dunkler — — nun ſehen 

ſie das ſchattenhafte Ungetüm nicht mehr, denn alles iſt ſchwarz. Sie hören es nur. 

Bald ſtecke ich mein eigenes Licht an“, raunt die kleine Beros dem Fiſche zu. 
„Venn ich mich erholt habe von des weißen Mondes Beſtrahlen. Das hatte mich 
doch angegriffen — — ach! — — Aber jetzt — — jetzt geht es — —“ 

Wie ſchwaches kleines Lichtzittern in all der großen Finſternis iſt es neben 
dem Echeneis. Und feine runden, ſtaunenden Augen erkennen die matten Um- 
tiſſe der Beros, erkennen ein Gleiten von Lichtfünkchen längs den feinen Rippen 
ihres ſchlanken Leibes. Und allmählich wird heller der zarte Schein. 

Nun gibt es von unten her einen ſchweren, dumpfen Ton, und ein Knirſchen. 
Aber der dumpfe Ton iſt bald vorbei, und zugleich verſtummte das ſeltſam ftöh- 

nende Raſſeln des Riefentiers. Nacht und Todesſchweigen und eine große Waſſer⸗ 
ſtille iſt umher. 

„Dein Freund liegt am Grunde“, jagt leiſe die kleine Melonenqualle. Und 
dann ſteigen auch ſie beide völlig hinab. 

Nichts würde der Fiſch erkennen können, wäre nicht das lichte Weſen da. 
Das ſchwebt vor ihm hin wie eine Leuchte in ſchwarzer Nacht. Es hat einen Schein 
um ſich, und in feiner nächſten Nähe ſieht er ein winziges Stück des Meeresbodens. 
zn kleinem Kreiſe ſtreicht er umher und fühlt zuweilen Tangbüſche, und einmal 
bemerkt er die ſchwachen Umriſſe eines Seeſterns. Er ſtößt ſich an eines Seeigels 
ſpitzen Stacheln, und ein anderer Fiſch ſchnellt hart an ihm vorbei. Doch ſtreift er 
ruhlos weiter, den großen Menſchenfiſch zu ſuchen. Der aber iſt in der Finſternis 
und Stille wie entſchwunden. 

„Ich muß warten, bis er ſich wieder regt“, fagt er endlich betrübt zur Beros, 
die immer nahe bei ihm iſt. 

„Tue das.“ 

Und die Minuten gehen lautlos hin, und es werden ihrer viele. 

„Weißt du, mein Freund, ſonſt bleibe ich droben, bis es Tag wird“, plaudert 
die kleine Tänzerin, die Zeit zu kürzen. „Dann erſt komme ich hier herab. Am 
ſchönſten kann ich oben meinen Reigen ſchwingen, denn dort iſt alles frei und leicht 
um mich her. — — Aber — — wirft du mich nicht lieben können? — — Was 
willſt du mit dem großen Menſchenfiſch; er ſtöhnt und raſſelt und iſt nicht ſchön. 
3b aber werde dir meine zierlichſten Tänze tanzen, in meinem eigenen Licht- 
gewande. Das wird noch ſchöner, noch viel ſchöner fein, als du vorhin es ſaheſt; 
aber der Mond darf nicht ſcheinen. Und noch viel gleißender als jetzt wird im Drehen 
und Schwingen mein Licht mich umfunkeln.“ 

„ach glaube es dir“, ſagt der Echenels. 

„Rannft du mich nicht lieben?“ 

„3H habe dich gern und bewundere deine Schönheit und deine Kunſt. 
Aber lieben kann ich nur das Große und das Starke. Meine Luſt iſt das weite 


62 Stoſch: Des Echenels letzte Fahrt 


Schweifen, und ich liebe jene, die mich mit ſich fortzutragen vermögen. Nannſt 
du das, kleine Beroß? — — Nein, du kannſt es nicht, aber verſtehe, daß meine 
Liebe und meine Wanderluft eins find. Nur eine Wanderliebe kenne ich.“ 

Oa ſagt die kleine Tanzfee nichts mehr, und es iſt, als werde ihr Lichtchen 
ſchwächer. Sie merken es beide nicht, daß dicht neben ihnen aus Tangdickicht der 
Vorderleib eines gewaltigen Scherenträgers ſich reckt. Das iſt des Meeres Philo- 
ſoph, der Hummer. 

Echeneis hebt noch einmal an: „Siehe, kleine Beros, ſolch eine Wanderliebe 
für mich, und ſolch ein Großer und Starker iſt der Menſchenfiſch. Und darum 
muß ich mit ihm ziehen — — er nur wäre mein Glück. Man fühlt es immer, kleine 
Beroëẽ, wenn einem das Glück begegnet.“ 

„ga — — man fühlt es“, flüſtert fie ganz traurig. 

„Ja — — man fühlt es“, ſagt jetzt neben ihnen auch der Philoſoph. Da 
ſchauen fie erſtaunt zu ihm hin, von dem fie in Beroés Lichthauch einen dunklen 
Schattenriß erkennen. Er aber fährt tiefſinnig fort: „So iſt es, glaubet es mir: 
wer feinem Glück begegnet, und es verſäumt — — dem verkehrt es ſich in Unglück 
und in Tod.“ 

Sie ſchweigen beide auf dieſe Worte. Und all die vielen Lichtfünkchen an 
dem ſchlanken Leibe der Tänzerin erzittern und erbeben. Sie ſchweigen lange. — — 

Dann iſt plötzlich in der Meeresnacht ein heftiger Ton. Ein Rattern und 
ein Raſſeln. 

Da zuckt Echeneis hoch. „Das iſt der Menſchenfiſch! Er will weiterziehen 
— F er will emporſteigen — — und ich muß ihm folgen.“ 

„Bleibe — — bleibe — —“ fleht die kleine Melonenqualle. Aber der Fiſch 
gleitet davon, dem dumpfen, raſſelnden Tone nach. Dem Waſſerbewegen nach, 
das wieder anhebt. Da folgt ſie ihm. | 

„wWillſt du durchaus hinauf, fo komme ich mit dir. Meinen Tanz mußt 
du noch ſehen, meinen allerſchönſten, im eigenen Licht. Vielleicht daß du den 
Menſchenfiſch vergißt und bei mir bleibſt.“ 

Ein großer, fremder Fiſch ſchießt an ihnen vorbei. Sie können ihn nicht 
ſehen, ſie ſpüren nur, wie er das Waſſer mit ſeinem Schwanze ſchlägt. 

Er hat die Worte der Beroö vernommen und ruft ihr zu: „Steige du nicht 
hinauf. Denn droben hat das große, weiße Licht des Himmels ſich verſteckt; das 
Meer wogt und toſt — — es iſt Sturm geworden.“ 

„Ach — — laß mich!“ 

„Ich warne dich. Du weißt, daß die Sturmwogen dich zerſchellen.“ 

Aber ſie antwortet nicht mehr. 

Mit feinem dumpfen Rattern, das aus des Leibes Tiefe kommt, fteigt der 
große Menſchenfiſch empor. Und ihm folgt der Echeneis. Und dem Echendis folgt 
die Heine Beros. 

Schwarz wölbt der Nachthimmel ſich über dem Ozean. Der Mond iſt fort. 
Es mögen finftere Wolken jagen — — man kann fie nicht erkennen. Zuweilen 
blitzt ein Stern. 


Stoſch: Des Schenels letzte Fahrt 63 


Das Meer iſt aufgewühlt. Es rollen die großen Wellen ſchwer daher. Sie 
überſchlagen ſich mit lautem Gebrüll, und in der lichtloſen Luft iſt ein Saufen 
und ein Pfeifen. 

In all der Finſternis und all dem Stürmen tanzt die kleine Beros. Sie 
tanzt, nach des Orkanes grauſem Tanzlied, ſo ſchön, ſo wunderſchön wie nie. Von 
den Waſſern läßt fie ſich hochtragen und wieder niederwerfen. Faſt iſt es kein 

eigenes Reigenſchwingen mehr. Faſt iſt es ein Tanzen mit dem Tod. 

Sie denkt nicht, was es ſei. Sie denkt nur, daß es ſicher ſchön iſt. Und daß 
die zarten Rippen ihres Leibes funkeln und ſprühen vor lauter Licht. Daß ein 
flatterndes Lichtkleid fie umwallt. Und daß ihr zierlicher Leib ſich hebt und ſenkt, 
ſich dreht und wendet — — und ganz die Augen deſſen blenden muß, der zuſchaut. 

Der Echeneis ſchaut ihr zu. Und feine runden Augen ſtarren fie an — — 


wahrlich — — ſie können nicht los! Auch er wird hochgehoben und hin und her 
geſchleudert von der Wogengewalt. Aber immer wendet er die Augen ihr zu — — 
er muß — — 


So ſchoͤn, fo feenſchön iſt der Lichtſchleiertanz der Berod im Sturm. 

Indeſſen entgleitet der große NPD: 

Und es kommt eine feder 9790 wilde, donnernde Woge. Die erfaßt 
die Meine Tänzerin und wirft fie ganz hoch empor — — fo hoch wie bisher noch 
nimmer. Dazu brüllt das Meer im Höllenakkord. 

Da vergehen dem Echeneis faft die Sinne, und feine Augen quellen hervor 
in einem Schrecken und Entſetzen. 

Und dann — — dann ſieht er die Waſſermaſſen wieder niederſtürzen, und 
in ihr ſpringen und treiben tauſend Lichtfünkchen — — tauſend einzelne, winzig 
Heine Feuerperlen — — 

Das Au die N Beroe, deren zarter Leib zerriffen ward. 

Es iſt ein grauer Morgen, der dieſer Sturimast folgt. Die Site ſteigt 
gar nicht auf, fie iſt verhüllt. Kein roter Strahl ift im Oſten des düfter verhangenen 
Himmels. 

Der Sturm hat ausgetoſt. Aber immer noch rollt das Meer in langen, ſchweren 
Wogen, gewaltig und aufgewühlt. In nicht zu großer Tiefe ſchwimmt der Echeneis 
dahin. Um ihn her iſt das Kriſtall der Fluten dunkelgrün und kalt, weil kein roter, 
warmer Sonnenſtrahl es durchglüͤht. 

Stier ſehen feine runden Augen in all das kalte Düfter — — und ſehen 
eigentlich nichts. Er denkt, daß die kleine Tanzfee hat ſterben müſſen, nur weil 
ſie ihn geliebt. Und daß er ſelbſt darüber ſein eigenes Glück und ſeine eigene Liebe 
verlor. Denn den großen Menſchenfiſch, ſo malt ihm die Hoffnungsloſigkeit, den 
wird er nun niemals wiederfinden. 

Niemals — — und was wird weiter geſchehen? — — Er hört die Worte des 
Meeresphiloſophen vom verſäumten Glück, das ſich in Unglück verkehrt und in Tod. 

Aber das Glück, das einer halten will, kann ſich nicht auch das in Tod ver- 
kehren? — — Auch das — — arme kleine Beros — — auch das. 


— — — — — — — — — — —— — — — — — — — 


6 Brauer: Frühlingstag 


Weiter gleitet der Echeneis dahin. Er hat kein Ziel — — nur eine große, 
große Leere iſt in ihm, und um ihn her. 

Da zieht ein ſtattliches Schiff ſeine Bahn durch den Ozean. Von Oſten kommt 
es, von Englands Küſte. Ganz nahe am Echeneis ſtreicht es hin. Und da er die 
Einſamkeit nicht mehr ertragen kann, ſo heftet er ſich an dieſes Schiffes Kiel. 

Er tut es ohne Lieb' und Freude. Und ſeufzt tief auf dabei, und fühlt: „Es 
wird meine letzte Fahrt ſein.“ 


— — — n — — m —¾— r— — — — ́ — — — — — — — — 


Stunden hernach. Und immer noch iſt alles wie vordem, iſt grau und fonnen- 
los und trübe — — Himmel und Meer. 

„Ich werde den großen Menſchenfiſch nie wiederſehen“, denkt Ccheneis, 
der unten am Schiffskiel haftet und ſo die Flut durchquert. 

Dann aber ſieht er ihn dennoch! Unter der Waſſeroberfläche, im dunkel- 
grünen Dämmer kommt er herangeglitten. Lang und ſchattenhaft. Schon will 
Echenels, im Entzücken, ſich loslaſſen von feinem Ort — — zu jenem ſchwimmen — 

Da löſt ſich etwas, ſchattengleich und ſchmal, wie ein neuer kleiner Menſchen 
fiſch von dem großen ab — — es ſchießt daher und ſchlägt in die Schiffswand ein. 


Ein Krachen wie Oonnerſchlag — — ein Schäumen und Sprühen — — ein 
Menſchenſchreien oben auf Deck — — 
Dann neigt ſich der ee ee Schiffsleib — — und verſinkt. 


— — — — — — — l — — — . — — — 


Der Echeneis f ſintt nicht mit zum Grunde. Ihn hat der Bote des großen 
Menſchenfiſches in ein Nichts zerriſſen. 
Zerriſſen — — wie die kleine Beros, die auch am Glüde ſtarb. 


. —— — r - — 
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1 — A r A 


Frühlingstag Von Helene Brauer 


Es liegen luſtige Heiligenſcheine 

Über jedem giebligen Haus, 

Die Schornſteine ſehn wie wunderlich kleine 
Stillvergnügte Heilige aus. 


Der Himmel iſt hoch und amethypſten 
Über den Häuſern aufgetan, 

Die Fenſter find blank, als ob fie wüßten: 
Nun geht das große Freuen an! 


Die ganze Nacht durch fauchten die Katzen 
Auf allen Dächern und gaben nicht Ruh“ 
Nun gehn die Schelmenwinde und ſchwatzen 
Den Mädchen Früh lingsgehe imniſſe zu 


r 


Aus dem Briefe eines Ranoniers an feine Frau 65 


Aus dem Briefe eines Kanoniers 
an ſeine Frau 


SIR Im Felde . . . 1918. 

( > Es iſt jetzt wieder die Zeit, wo Sehnſucht und Heimweh in verſtärktem 
N“ TA Maße das Herz erfüllen. — Wenn ich hier in den Garten ſehe und 
9. 


das Auge ſich nicht ſatt trinken kann an der Blütenpracht und dem 

in verſchiedenen Tönungen leuchtenden Grün, auf dem die Tauperlen 
z abheben wie Diamanten, dann ſchlägt die Freude an dem Schönen allemal in 
dauer um, weil ich alles dies nicht in der lieben Heimat mit Dir und unſerem 
leinen Buben genießen kann und mit Dir Zwieſprache halten über Gottes herr- 
ie Schöpfung und unſeren Buben unterweiſen und lehren, um feine Seele zu 
weten und empfänglich zu machen für all das Gute, das uns von Gott kommt. 
Aber noch immer wird Geduld von uns verlangt; noch immer heißt es ausharren 
bs zum Ende. — 

Ob uns nun wohl dieſe lange Zeit der Entbehrungen, des Kummers und der 
Schmerzen doch Segen bringt? Ob die Qualen dieſes Krieges die Geburtswehen 
einer neuen beſſeren Zeit ſind? — Ein großer und auch guter Zweck muß doch dieſer 
Leidenszeit zugrunde liegen, und je mehr ſich die Mammonsſucht und die Gemein- 
heit hervordrängt, je mehr ſie ſich anſtrengt, die Herrſchaft zu behaupten, deſto klarer 
wird es mir, daß uns dieſer Krieg zur Erkenntnis der Schmach dieſer Mammons- 
mechtſchaft dienen ſoll, damit wir uns aufraffen und die Sklavenketten ſprengen, 
um endlich freie Menſchen zu werden. Außer unſerer Verantwortlichkeit gegenüber 
dem Staate nur abhängig von Gott und den Naturkräften, von denen Er unſer Da- 
ſein abhängig gemacht hat, inſonderheit von Allmutter Erde. Auf ihr müſſen wir 
unſer Haus bauen; in fie müffen wir ſäen und pflanzen, um Nahrung zu erhalten. 

Frei können wir allerdings nur durch ſtrenge Selbſtzucht werden; dadurch, 
dat wir unſer Ich mit feinen Wünſchen feſt in unſere Gewalt bringen. So werden 
wir innerlich frei. Dieſe innerliche Freiheit bewirkt aber auch, daß wir die gott- 
gewollten Abhängigkeiten: die Abhängigkeit von der Erde und einem geordneten 
Semeinſchaftsweſen, die Verantwortlichkeit gegenüber dem Staate und unſere 
ſittliche Pflicht zur Arbeit nicht als Unfreiheiten empfinden. Die Abhängigkeit 
von einzelnen beſtimmten Mitmenſchen inſonderheit, wenn dieſe fie in unwürdiger 
Veiſe ausnutzen, wie das oft geſchieht, müffen wir aber als Unfreiheiten empfinden; 
daher wollen und müſſen wir einen Rückhalt haben, um frei wählen zu können, 
wenn wir unſere Arbeit dienſtbar machen wollen. Geld könnte uns wohl einen 
ſolchen Rüdhalt bieten; ſein Wert ift aber bedingt. Das zeigt uns der Krieg. Geld 
kann man nicht eſſen; außerdem kann es geſtohlen werden. Wir brauchen als 
Rüdhalt ein eigenes Stück Erde, das uns Platz bietet für ein Haus und einen Garten, 
auf dem wir das nötigſte Gemüſe, vielleicht auch etwas Obſt bauen und etwas 
Kleinvieh halten können. Welchen großen volkswirtſchaftlichen Wert eine große 
Menge ſolcher Heimftätten darſtellen würde, brauche ich Dir nach dieſem wohl 
nicht weite r auseinanderzufegen. | 

Der Currner XX, 14 | 5 


66 Aus dem Briefe eines Ranoniers an feine Frau 


Das müßte der Segen des Krieges fein, daß er uns dieſes Glück, ja dieſes ein- 
fache Menſchenrecht brächte. Das müßte der Oank des deutſchen Volkes an feine 
Krieger ſein, daß es denen, die den Beſtand des deutſchen Landes unter Einſatz 
ihres Lebens verteidigen und den Angehörigen derer, die ihr Leben dafür gelaſſen 
haben, ein Recht auf einen Teil dieſes Landes, groß genug für eine vor äußerſter 
Not ſchützende Heimſtatt gebe. Möchte doch jeder gute Deutſche die zwingende 
Notwendigkeit eines Geſetzes, das uns dies gewährt, erkennen und ſeine ganze 
Kraft zur Verwirklichung desſelben einſetzen! — | 

Rückſicht auf Kapitalsintereſſen müſſen zurückgeſtellt werden hinter das 
allgemeine Recht eines jeden Menſchen auf Verhältniſſe, die ihm die notwendigſten 
Lebensbedingungen gewährleiſten. Das find eben eine Wohnung, die er fein 
Eigen nennen kann, die ihm geſtattet, eine Familie zu gründen, und die ihm keiner 
der Kinder wegen ſtreitig machen kann; die im Gegenteil den Kindern eine Stätte 
des körperlichen und ſittlichen Gedeihens bietet, ihnen ein wirkliches Vaterhaus iſt. 
Ferner ein Garten, der uns wenigſtens das nötigſte Gemüſe und etwas Obſt trägt 
und Platz für Kleinviehhaltung bietet. Venn er auch nicht die Bedürfniffe voll 
deckt, ſo bietet er doch eine große Stütze und wird einem guten Menſchen eine 
Quelle echter Freude ſein. 

Es ift mir einfach unverſtändlich, daß man an den in Frage kommenden 
Stellen den tiefen Ernſt dieſer großen Frage nicht erkennen will und auf An- 
fragen, die das Kriegerheimſtättengeſetz betreffen, ſo lau mit einigen ſchönen 
Worten, die das Intereſſe bekunden ſollen, antwortet, aber gleich mit der Bremfe 
kommt und vor übertriebenen Hoffnungen warnt. — 

Sind Hoffnungen auf Ur⸗-Menſchenrechte nach dieſen unausſprechlichen 
Leiden und Anſtrengungen des ganzen Volkes, nach dieſen unſterblichen Taten un- 
zähliger Männer aus dem Volke, von denen die meiſten bisher dieſer Rechte noch 
nicht teilhaftig waren, noch übertrieben zu nennen? Leben wir nicht in einem 
chriſtlichen Staate, in dem die uralten, aber ewig zeitgemäßen Gottesgeſetze in der 
hehren Auslegung des Stifters der chriſtlichen Religion vor allen anderen befolgt 
werden müßten? — 

Wenn man mit glühender Liebe an ſeinem Vaterlande hängt, iſt es ungemein 
ſchmerzlich, daß man faſt bei niemand den Glauben findet, daß wir in abſeh- 
barer Zeit zu den geſchilderten rechtlichen Zuſtänden kommen. Trotz allem Optimis- 
mus kann man ſich einer gewiſſen Verbitterung nicht erwehren, wenn man mit 
den Kameraden von der Kriegerheimſtättenbeſtrebung ſpricht und faſt ausnahmslos 
mit bitteren Antworten abgeſpeiſt wird. Keiner will ſo recht an einen wirklich 
ſozialen Geiſt unſerer Regierung und Volksvertretung glauben. — 

Sch glaube ſicher, die Leiſtungen unſerer Truppen würden, wenn das über- 
haupt im Bereiche des Menſchenmöglichen liegt, übertroffen werden, wenn das 
Kriegerheimſtättengeſetz dem Entwurfe des Hauptausſchuſſes, dem nun ſchon über 
3300 Organiſationen angehören, entſprechend verwirklicht würde und damit jedem 
Krieger oder jeder Kriegerwitwe ein Rechtsanſpruch auf einen Teil feines Vater 
landes zuteil würde, den er perſönlich zu verteidigen hätte. Es iſt der ſehnlichſte 
Wunſch der meiſten Deutſchen. Daß er erfüllt würdet Das wäre der Segen dieſes 
grauenvollen Krieges. 

* 


— 


> 
* 
n 1 


An die Herren Lloyd George, Bainleve 
und Wilſon 


(Zur elſaß-lothringiſchen Frage) 


„England wird an der Seite feines Bundesgenoſſen Frankreich kämpfen, bis deſſen unterdrückte 
Kinder von dem fremden Joch befreit find.“ Llopd George, Liverpool, 12. Okt. 1917. 

„Samstag war ich in London, als Kühlmann ſagte, daß niemals ein Zoll deutſchen Bodens 
abgetreten werden würde. Dies war die Fehdeanſage in der elſaß-lothringiſchen Frage. Lloyd 
George gab zum erſtenmal eine förmliche Erklarung ab und antwortete Rühlmann mit einer andern 
ebelmütigen Fehdeanſage, indem er erklärte: England würbe an der Seite Frankreichs ſtehen, bis 
Frankreich Elſaß- Lothringen besannezioniert haben werde. Am nächſten Tage gaben die Vereinigten 
Staaten bie gleiche Erklärung ab.“ Painlevé, Kammerrede, 20. Okt. 1917. 


1 D. s iſt vermutlich ein liebenswürdiger Zug der menſchlichen Natur, dieſes wohlfeile 
| K 2 Mitleid und Zeitungsgejammer um das gefallene und unglückliche Frankreich; 
mir aber ſcheint es, auf das von Frankreich an feine deutſchen Bezwinger abzu- 
tretende Elſaß - Lothringen bezogen, ein ſehr müßiges, gefährliches und irregeleitetes Gefühl 
zu fein, und von engliſcher Seite bezeugt es eine fehr tiefe Unkenntnis der geſchichtlichen Be- 
ziehungen zwiſchen den beiden Ländern und der Art und Weiſe, wie die Franzoſen Oeutſch⸗ 
land viele Jahrhunderte hindurch behandelten. Für die Oeutſchen iſt es in dieſer Kriſe nicht 
eine Frage der „Großmut, des heroiſchen Mitgefühls und der Verzeihung einem gefallenen 
geinde gegenüber“, ſondern es handelt ſich um gründliche Vorausſicht und praktiſche Aber⸗ 
legung deſſen, was dieſer gefallene Feind aller Wahrſcheinlichkeit nach tun wird, wenn er 
einmal wieder auf den Beinen ſteht. 

Was dieſen Punkt anbelangt, fo ſteht im Gedächtniſſe der Oeutſchen, und zwar in 
fürchterlich lehrreicher Weiſe, die Erfahrung von vier Zahrhunderten geſchrieben; davon iſt 
jetzt in der Erinnerung Englands, wenn es jemals dort verzeichnet war, wenig oder gar keine 
Spur mehr vorhanden ... Keine Nation hatte jemals einen fo böfen Nachbarn, wie ihn 
Deutfchland während der letzten vierhundert Jahre an Frankreich gehabt hat: bös auf jede 
mogliche Weiſe, unverſchämt, raubgierig, unerſättlich, unverſöhnlich, fortwährend zum An- 
griffe bereit. a f - * Zu 

Nun aber gibt es in der ganzen Geſchichte keinen unverſchämten, ungerechten Nach- 
barn, der jemals fo vollſtändig, plötzlich und ſchmachvoll zerſchmettert wurde wie jetzt Frank⸗ 
reich von Deutſchland. Nach vierhundertjähriger ſchlechter Behandlung von ſeiten dieſes Nach- 
barn, dem das Glück im allgemeinen günftig war, hat Oeutſchland endlich die große Genug- 
tuung, feinen Feind fo prächtig am Boden zu ſehen, und die Deutſchen wären nach meiner 


N 
— 
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4 
= 


68 An die Herren Lloyd George, Valnievs und Wilſon 


ehrlichen Überzeugung eine törichte Nation, wenn fie jetzt, wo fie die Gelegenheit Dazu haben, 
nicht daran dächten, zwiſchen ſich und einem ſolchen Nachbarn einen feſten Grenzwall aufzu- 
richten. | | | 

Es gibt kein Naturgeſetz, von dem ich wüßte, keinen Ratſchluß des Himmels, der Frank- 
reich allein von allen irdiſchen Weſen der Verpflichtung enthöbe, einen Teil des geraubten 
Gutes zurückzugeben, wenn der Beſitzer, dem es entriſſen wurde, gelegentlich wieder die Hand 
darauf legt. Niemand, Frankreich natürlich für den Augenblick ausgenommen, vermag an 
ein ſolches Naturgeſetz zu glauben. Weder Elſaß noch Lothringen wurben in einer fo gött- 
lichen Weiſe gewonnen, um das wahrſcheinlich zu machen. Richelieus Verſchlagenheit 
und das großartige Langſchwert Ludwigs XIV., das find die einzigen Titel 
Frankreichs auf dieſe deutſchen Gegenden. Richelieu ſchraubte ſie los (und durch einen 
glücklichen Zufall war da ein gewiſſer Turenne, ein General, der mit ihnen abgetrennt wurde. 
Denn Turenne, glaube ich, war nach Abſtammung und Charakter vor allem ein Deutſcher .. ). 
Louis le Grand mit ſeinem Turenne, dem erſten General der neueren Zeit, führte das Werk 
zu Ende, nur daß Turenne das planmäßige Niederbrennen der Pfalz, vom Heidelberger 
Schloſſe abwärts, in einen rauchgeſchwärzten Trümmerhaufen, nicht genügend beſorgte, wes- 
halb es Ludwig einem andern zu übertragen hatte. Expreſſeriſche Geſetzesdeutung, ja wir 
können billig von äußerſt kühnen Advokatenkniffen ſprechen, ſpielte dabei eine große Rolle. 
Des großen Ludwigs „Chambres de Réunion“, die Metzer Kammer und die Kammer von 
Breiſach, ſtanden einſt in äußerſt üblem Rufe, und es wurden gegen fie viele Klagen laut, 
hier in England wie auch überall jenſeits des Rheins. Ludwig der Großartige, von ſeiner 
Erhabenheit abgeſehen, ſpöttiſch-höflich, gab keine Antwort. Auf ſeinen Münzen nannte er 
ſich ſogar „Excelsus super omnes gentes Dominus“, doch waren es zweifellos Advokaten 
eniffe der ſchlimmſten Sorte, deren er ſich bei der Erwerbung des Elſaß bediente. Ja, was 
Straßburg anbelangt, wurde es nicht einmal durch Advokatenkniffe, noch viel weniger durch 
das Langſchwert gewonnen: da arbeitete der große Herrſcher mit der Brechſtange des Ein- 
brechers. Straßburg wurde mitten im tiefſten Frieden beſetzt; der Magiſtrat, durch Geld be- 
ſtochen, verriet es an Ludwig, deſſen Truppen er eines Nachts in die Stadt einließ. Noch 
Metz, das jungfräuliche, noch irgendein anderes der drei Bistümer kam durch Waffengewalt 
an Frankreich, ſondern eher kraft eines ſchwindelhaften Pfandgeſchäftes. König Heinrich II., 
an ben ſich dieſe Städte, die proteſtantiſch waren, in ihrer äußerften Not wandten, erwarb fie 
im Jahre 1552 ſozuſagen als Pfänder. Mit fliegenden Fahnen, unter Trommelwirbel zog 
Heinrich ein, „nur um die deutſche Freiheit zu verteidigen, ſo wahr mir Gott helfe“; doch tat 
er nichts für den Proteſtantismus oder die deutſche Freiheit (die ſich bei dieſer Gelegenheit 
ſchnell ſelber zu helfen wußte), und als unverſchämter, ungerechter Pfandleiher weigerte er 
ſich, die Städte zurückzugeben; hatte er doch alte Rechte darauf, die für ihn ganz und gar un- 
zweifelhaft waren, und konnte ſie deshalb nicht zurückgeben. Auch ſeitdem wollte er nie, dem 
Drucke wie der Überredung unzugänglich. Der große Karl V., unter dem die Proteſtanten 
mündig wurden, verſuchte mit allen Kräften, bis er körperlich zuſammenbrach, ihn zur Heraus- 
gebe zu zwingen, doch er konnte nicht. Der jetzige Hohenzollernkönig, im Vergleich ein be- 
ſcheidener und friedliebender Mann, hat's gekonnt und durchgeſetzt. Mir ſcheint es ganz und 
gar gerecht, vernünftig und weiſe, daß Deutſchland aus ſeinem unvergleichlichen Feldzuge 
dieſe Länder wieder mit heimbringt, daß es ſeinen eigenen alten Wasgau („Vosges“), den 
Hunsrück, die drei Bistümer und andere ſtrategiſche Plätze ſtark befeſtigt und ſich fo in Zukunft 
vor franzöſiſchen Beſuchen ſichert. 

Die Franzoſen klagen ſchrecklich über den drohenden „Verluſt an Preſtige“, und jämmer- 
liche Zuſchauer rufen allen Ernſtes: „Entehrt nicht Frankreich, laßt die Ehre des armen Frank- 
reich unberührt!“ Gereicht es aber Frankreich zur Ehre, wenn es für die Scheiben zu zahlen 
ſich weigert, die es abſichtlich in ſeines Nachbarn Fenſter zerſchlagen hat? Der Angriff auf 


4 


An die Herren Lloyd George, Painlevs und Wilſon 69 


die Fenſter, das war ſeine Schmach. Ein Hohn auf jedes Volk war fein letzter Überfall auf 
Oeutſchland, nicht minder ſchimpflich war die Art, wie er von Frankreich durchgeführt wurde. 
Frankreichs Ehre kann nur durch Frankreichs tiefe Reue erkauft werden und durch ſeinen 
feſten Vorſatz, ſolches nie wieder zu tun, ja für alle Zukunft das gerade Gegenteil zu tun. Auf 
dieſe Weife mag Frankreichs Ehre mählich wieder in der Fülle ihres alten Glanzes er- 
strahlen 
Bor hundert Jahren war in England der lebhafte Wunſch und für eine Weile auch 
das wirkliche Beſtreben und die Hoffnung, Elſaß-Lothringen von Frankreich loszubekommen. 
ch Carteret, ſpäterhin Lord Granville genannt (kein Vorfahr, in irgendwelchem Sinne, 
feines jetzigen ehrenwerten Namensträgers), der, wenn wir den einzigen Lord Chatham aus- 
nehmen, nach der Meinung vieler der geſcheiteſte Staatsſekretär des Auswärtigen iſt, den wir 
jemals hatten, und vor allem der einzige Staatsſekretär, der Deutſch ſprach und ſich überhaupt 
in deutſchen Dingen auskannte, hatte ſich gerade dieſes Ziel geſteckt, und ſeine Ausſichten, es 
zu verwirklichen, waren prächtig, hätte ihn nicht unſer armer, guter Herzog von Newcaftle 
plötzlich durch kleinliche Kniffe daran gehindert und ihn ſogar aus ſeinem Amte hinausgeekelt 
in grämlichen Verdruß ... Daß nun Bismarck und mit ihm Oeutſchland bei dieſer günſtigen 
Gelegenheit dieſelbe Forderung erheben, iſt für mich keine Aberraſchung. Nach einer ſolchen 
Herausforderung und nach einem ſolchen Siege erſcheint der Entſchluß wirklich vernünftig, 
gerecht und ſogar beſcheiden. Betrachten wir alles, was feit dem denkwürdigen Zuſammen⸗ 
bruche bei Sedan geſchehen iſt, ſo zeugt es vorteilhaft von der Weisheit und der Mäßigung 
des Grafen Bismarck, wenn er feſt dabei bleibt, wenn er nicht mehr verlangt, entſchloſſen, 
nicht weniger anzunehmen, und in aller Gemütsruhe mit den paſſendſten Mitteln auf ſein 
Ziel losfteuert ... 
Beträchtliches Mißverſtändnis herrſcht noch in England über Herrn von Bismarck. 
Die meiften engliſchen Zeitungen ſcheinen mir Bismarck noch nicht richtig erkannt zu haben, 
ſie ſind erſt auf dem Wege dazu. Wenn der verrückte Bismarck und ſein ebenſolcher König 
por zehn Jahren überall mit Stafford und Karl I. in bezug auf unfer Langes Parlament 
verglichen wurden, jo iſt dieſes ſtehende Bild nun von der Erde verſchwunden, man hört nir- 
gends mehr ein Wort davon. Dänemark, dieſe pathetiſche Niobe, die ihrer Kinder gewalt- 
ſam beraubt wurde (es waren geſtohlene Kinder, und ſie wurden von der Niobe Dänemark 
herzlich ſchlecht erzogen), iſt auch faſt vergeſſen und wird es völlig werden, ſobald man die Ver- 
hältniſſe ordentlich kennt. Bismarck, ſoweit ich ihn verſtehe, iſt kein Mann von „napoleoni- 
ſchen“ Ideen, feine Ideen find denen Napoleons ganz und gar überlegen; er zeigt keine un 
bezwingliche „Ländergier“, noch iſt er von „gemeinem Ehrgeiz“ beſeſſen uſw.; nein, er ver- 
folgt Ziele, die weit darüber hinausgehen, und ſcheint mir in der Tat mit großem Geſchicke, 
mit beharrlichen, gewaltigen und erfolgreichen Mitteln nach einem Zweck zu ſtreben, der den 
deutſchen und allen anderen Völkern zum Segen gereicht. Daß endlich dieſes edle, gedul- 
dige, tiefe, fromme und tüchtige Deutſchland zu einer Nation zuſammengeſchweißt und an 
Stelle des prahleriſchen, aufgeblaſenen, gebärdereichen, ſtreitſüchtigen, unruhigen und über- 
empfindlichen Frankreich zur Königin des Feſtlandes werde, erſcheint mir als das hoffnungs- 
dollſte Exe ignis, das ich miterlebt habe. T. Carlyle 
Was ſagt Herr Lloyd George zu dieſer Erklärung ſeines berühmten Landsmannes? 
Sie ſteht in der „Times“ unter dem 18. November 1870, wo er ſie auf engliſch nachleſen mag. 
Beſonders lehrreich dürfte fie für Wilſon fein, der feines Zeichens früher Profeſſor der Ge- 
ſchichte war und jetzt jo blutige Reden gegen uns hält. Von Painlevé verfpreche ich mir 
wenig: als Mathematiker wird er Carlyle kaum kennen und als Franzoſe hat er keinen hiſto⸗ 
riſchen Sinn. Dr. J. B. Ambach aus Biederthal im Elſaß als Überſetzer 


ER 


4 


70 Her Einfluß der Seemacht im Großen Rriege + Das Oeutſchtum in der deutſchen Hauptſtadt 


— en der Seemacht im Großen Kriege 


Der nicht glaubt, daß nach dieſem Kriege das Tauſendjährige Reich feinen Anfang 
nehmen und es keine Kriege mehr geben werde, muß unausweichlich den Schluß 
8 ziehen, daß eben dieſer Krieg Maßſtab und Richtung für ſpätere Seerüftungen 
zu 2 habe. Er hat bis jetzt gezeigt und zeigt jeden Tag: 1. daß das Deutſche Reich eine 
Seemacht braucht, um ſein Leben im Frieden ſichern, im Kriege verteidigen zu können; 2. daß 
das Rückgrat und die Seele der deutſchen Seemacht nach wie vor, ja in ſteigendem Grade, 
eine ſtarke, ſtrategiſch bewegungsfreie Hochſeeflotte bleibt, mit dem Hochſeelinienſchiff als 
Keimzelle. Die Bedeutung und die Zukunft des Unterſeebootes wird damit nicht beeinträchtigt, 
aber die Hochfeeflotte trägt die Wirkungsmöglichkeit des Unterſeebootes und damit auch 
deſſen Einfluß, als eines Faktors der Seemacht im Seekriege, auf den Weltkrieg und die künf- 
tige Geſtaltung der Weltverhältniſſe. 

Zu dieſen Schlüſſen kommt Graf E. Re ventlow in feinem neueſten, nahezu 300 
Seiten ſtarken Buche: „Der Einfluß der Seemacht im Großen Kriege“ (Berlin 1918, E. S. 
Mittler & Sohn), worin er, obwohl militäriſch und politiſch alles noch im Fluß ift, und un- 
geachtet des Ausblicks auf mannigfache fpatere Ergänzungen und Richtigſtellungen, doch auf 
der Überzeugung fußt, daß die großen Grundzüge einer ſolchen Unterſuchung nach den bis- 


herigen Ereigniſſen der Kriegführung zur See bereits feſtliegen und durch keine noch kommen- 


den Ereigniſſe oder Aufſchlüſſe einer ſpäteren Geſchichte abgeändert werden können. Aus 
den Taten oder Tatenloſigkeiten der Flotten, aus ihren Erfolgen und Mißerfolgen ſowie aus 
ihren Fernwirkungen leitet der Verfaſſer das Beweismaterial für die Beantwortung von 
Lebensfragen des Deutſchen Reiches ab: Wie muß das Deutſche Reich nach dem Kriege ũber 
die Notwendigkeit der Seemacht für feine Zukunft denken? Zt die Orientierung der aus- 


wärtigen Politik Deutfchlands in Zukunft von den Seemachtfragen trennbar oder nicht? Sit 


die belgiſche Küſte vom Standpunkt der Seemacht und ihrer Verwendung dem Oeutſchen 
Reiche notwendig oder nicht? Die Benutzung des ungeheuren Erfahrungsſtoffes dieſes Krie- 


ges, ſagt der Verfaſſer, iſt eine Pflicht, die ſich nicht nur dem Marinefachmann aufdrängt, 


ſondern jedem politiſch Wirkſamen, der mittelbar oder unmittelbar Einfluß auf Abſtimmun- 
gen des Oeutſchen Reichstages beſitzt oder erlangen kann. Dazu gehört ebenſogut wie der 
Abgeordnete auch der Profeſſor der Volkswirtſchaft und der Mann der. Preſſe. Das Buch 
faßt nun den reichen Stoff in überſichtlicher Durcharbeitung zuſammen und will auf dieſe 
Weiſe dem Seeoffizier neue Anregungen, dem Politiker aber und dem intereſſierten Nicht- 
fachmann einen Leitfaden für die Abſchätzung der Wirkung unſerer Seemacht und für die 
Beurteilung ihrer Zukunftsbedürfniſſe geben. 


A 
Das Deutſchtum in der deutſchen Hauptſtadt 


(Berliner Theaterwinter) 


Y Zan fragt ſich immer wieder: Wie konnte das geſchehen? Wie war es möglich, daß 
eine große Berliner Bühne ſich dazu hergab? Aus welchen Sphären kam den 

ODirettoren der Entſchluß und woher nahmen fie den Mut zur Ausführung? 
Was veranlaßte fie, ſo rückſichtslos mit den Geſetzen des Berliner Theaterlebens zu brechen? 
Wußten die Herren Meinhard und Bernauer nicht, was ſie taten, als ſie im Theater an 
der Königgrätzer Straße ein deutſches Stück von einem jungen deutſchen Talent zur Auf- 
führung brachten? Noch dazu ein deutſches Stück, das nicht nur in unſern Landesgrenzen 


Das Deutfhtum in der deutſchen Haupiftabt 11 


entftand, ſondern auch die Eigenart unſeres nationalen Weſens zeigt? Daß ein junger deut- 
ſcher Schriftſteller für eine anſtändige, noble Arbeit in der deutſchen Hauptſtadt eine große 
Bühne findet, iſt ein fo unerhörter Vorgang, daß er auf normale Weiſe überhaupt nicht er- 
klärt werden kann. Wenn man nicht annehmen will, daß die löbliche Direktion einer vorüber⸗ 
gehenden Schwäche erlag, muß man ſchon an ein Wunder oder (was näher liegt) an irgend- 
welche heimlichen Schutzmächte glauben. Wir find in Berlin längſt fo weit, daß zehn aus- 
ländiſche Stücke, ſeien fie auch fo mißgeſtaltet wie Kamele, leichter das Nadelöhr der direkto⸗ 

tialen Kritik paſſieren, als daß auch nur e in Deutſcher ins Himmelreich der Premiere gelange. 

And die Herren Meinhard und Bernauer N ſchwerlich den Ehrgeiz, dieſen Zuſtand ändern 

zu wollen. — 

Wie dem nun aber auch ſei: Wilhelm Stücklen ſoll uns mit ſeiner „Straße nach 

Stein aych“ nicht weniger willkommen fein, weil er in Berlin mehr Glück fand, als ſonſt 

Schriftſtellern deutſchen Stammes zu begegnen pflegt. Ein Hauch von Talent und unberühr- 
ter Friſche liegt mit ſympathiſchem Schimmer über ſeinen drei Akten. Wie umfaſſend die 
Klaviatur feiner Begabung ſein mag, kann gegenwärtig niemand ſagen. Mit voller Sicher 
heit aber darf man annehmen, daß er ein Zugenderlebnis ſelbſtändig geſtaltet hat. Um die 
reizvolle Nichte eines Geheimrats bemühen ſich ein energiſcher Fabrikleiter, ein jugendlich 
'trãumender Aſſeſſor und ein reicher Geck, der ihr Steinaych als künftigen Herrenſitz anbieten 
kann. Die ſchlangenkluge Dame wird zunächſt von den Fünglingsträumen des Aſſeſſors an- 
gezogen, gibt ihn dann aber preis und ruft zwiſchen ihm und dem Fabrikleiter ein Duell her- 
vor. Am letzten Ende läßt ſie beide laufen und wählt mit praktiſchem Sinn den e Gecken, 
der ſie auf bekränzter Straße nach Steinaych führt. 
In der gläubigen Reinheit der jung erwachenden Liebe erblicke ich den eigentlichen 
Adel der Arbeit. Eine „ernſthafte Komödie“ hat Stücklen nach dem Antertitel ſchreiben wol- 
len, aber die Tragik hat die Führung behalten. Die verletzte Empfindung ſpricht fo ſtark, daß 
weder er noch wir zu einem Lächeln kommen. Sein Verſtand ſagt: „Es iſt im Grunde eine 
Poſſe, daß wertvolle Mannsleute ſich von dieſem weiblichen Nichts tödlich verwunden laſſen 
ſollen.“ In dem Stück aber klopft ſein Herz, und der Verſtand ſchweigt. Man ſpürt mehr 
die Wunde als die Poſſe. — 

Wenn man von Wilhelm Stücklen zu Herrn Ef ſig übergeht, verläßt man das Märchen- 
land, in dem junge deutſche Schriftſteller geſpielt werden, um wieder in den Alltag des Ber- 
liner Theaterlebens zurũckzukehren. Wer iſt Herr Eſſig? Das wiſſen Sie natürlich nicht, und 
wir anderen wußten es bis vor kurzem auch nicht. Keine künſtleriſche Leiſtung war mit dem 
Namen verbunden. Dann aber ſetzte plötzlich die theaterliberale Preſſe aller Schattierungen 
mit einer planmäßigen Reklame ein. In immer neuen Notizen wurde die ſtaunende Welt 
unterrichtet, daß beſagter Herr Eſſig Dramen geſchrieben habe. Die Zenſur wurde angegrif- 
fen, weil fie für dieſe Dramen das rechte Verſtändnis vermiſſen ließ. Mit hundert Stimmen 
ſprachen die Zeitungen den Namen „Eſſig“ und verwandelten einen völlig unbekannten Men- 
ſchen in eine aktuelle Berühmtheit. Daß nunmehr auch die Bühnenleiter eingriffen, verſteht 
ih von ſelber. Das König liche Schauſpielhaus, das in bezug auf die literariſchen Stich 
worte des Kurfürſtendamms in dieſem Fall merkwürdig hellhörig war, legte vor. Herr Alt- 
mann im Kleinen Theater folgte, und im Leſſingtheater bemühte ſich Herr Barnowsli, 
eiunprittes Stück von der Zenſur freizukriegen. In einer Zeit, die den deutſchen Dramatiker 
ſyſtematiſch aushungert, vermochte Herr Eſſig als der erkorene Liebling der Börſenpreſſe in 
einem einzigen Winter drei große Berliner Bühnen für feine Arbeiten zu gewinnen. Und 
was kam ſchlie lich dabei heraus? Im Königlichen Schauſpielhaus, wo der „Held vom Wald“ 
geſpielt wurde, langweilte ſich das Publikum halb tot, und im Kleinen Theater führte die auf- 
reizende Talentloſigkeit des „Fuhhandels“ zu einem wilden Theaterſkandal. Herr Bar- 
nowski aber wurde plötzlich ein ſtiller Mann und verfandte nicht mehr die kleinen Notizen, 


72 Das Oeutſchtum in der deuiſchen Haupiſtabt 


durch die die Bühnen das Publikum über ihre tragiſchen Kämpfe mit der Zenſur auf dem 
laufenden zu halten pflegen. Die Epiſode Eſſig war ausgeſpielt, nachdem fie in klaſſiſcher Weiſe 
entſchleiert hatte, mit welcher Unverfrorenheit man ſelbſt die Weener Kreaturen in den 


Vordergrund zu drängen wagt. — 


Wer demgegenüber das Schickſal des Oeutſchtums in der deutſchen Hauptſtadt kennen 
lernen will, mag ſich an Emil Gött halten. Jahre hindurch mußte für ihn in der nationalen 
Preſſe geworben werden, bevor Max Reinhardt ſich herbeiließ, draußen im dunkeln Oſten 
am ſchlechteſten Theatertag der Woche eine Arbeit von ihm zu ſpielen. Wir ſehen im „Edel- 
wild“ durchaus keine Offenbarung eines dramatiſchen Genies. Wir haben es ganz im Gegen- 
teil in der Tagespreſſe ſcharf kritiſiert. Vergleicht man es aber mit Herrn Eſſig oder mit dem 
giftigen Zeug, das fortgeſetzt in den Kammerſpielen das Licht der Welt erblickt, wirkt es wie 
Sphärenmuſik. Im fünften Akt ſchlägt fogar eine ſtarke künſtleriſche Flamme durch und ent- 
läßt das Publikum mit einem nicht alltäglichen Eindruck. Wie zweifelnd man ſich auch zum 
Oramatiker Emil Gött ſtellen mag: er überleuchtet weit die traurigen Schmarren des Aus- 
lands und des Kurfürſtendamms, für die immer wieder die erſten Bühnen bereitſtehen, und 
darum ſtimmte es wehmütig, daß man ihn, den Deutſchen, im dunkeln Oſten und am fchlechte- 
ſten Theatertag der Woche aufſuchen mußte. — 

In den dunkeln Oſten mußte diesmal auch der Berliner Bürgermeiſter Georg Re ite 
hinauswandern. Auch er wurde von Max Reinhardt in das „Volkstheater am Bülow- 
platz“ verbannt, wo Emil Gött geſpielt wurde. Man war einen Augenblick erſtaunt. Warum 
im Grunde? Der gute Bürgermeiſter iſt im Sinne des Kurfürſtendamms doch fo zahm und 
wohlerzogen. Er hat ſo gar nichts von männlichem Widerſtand und ungebrochener Kraft. 
Und trotzdem nach dem Oſten hinaus? 

Ja, die Sache hat diesmal einen Haken. Der nationale Aufſchwung zu Anfang des 
Kriegs war ſo jäh, daß er auch eine wohlgeordnete Bürgermeiſterſeele in Wallung brachte, 
und jo geſchah es Herrn Reike, daß er unter dem Namen „Blutopfer“ ein vaterländiſches 
Drama ſchrieb. Damals, zu Anfang des Kriegs, war auch Herr Max Reinhardt patriotiſch 
ergriffen und hielt es für zweckmäßig, das Stück für die Kammerſpiele zu erwerben. Seit 
dem ſind aber vier blutige Kriegsjahre ins Land gegangen und die Vaterlandsliebe iſt in der 
Börſenpreſſe von einer zähen Wühlarbeit für einen deutſchen Hungerfrieden abgelöſt worden. 
Mußte das unbeſonnen patriotiſche Stück des Herrn Bürgermeiſters alſo auf Grund vertrag 
licher Verpflichtungen geſpielt werden, konnte es nur im dunkeln Oſten geſchehen, wo das 
ſozialdemokratiſch verhetzte Arbeiterpublikum ſchon für die rechte Aufnahme ſorgen würde. 
Aſthetiſch brauchte man ſich darüber nun freilich nicht zu grämen. Wie meiſtens bei Herrn 
Reite handelt es ſich um eine anſtändig gewollte, aber ſchwache und dilettantenhafte Arbeit. 
Zum Los des Deutfhtums in der deutſchen Hauptſtadt liefert die Angelegenheit aber einen 
ſehr bezeichnenden Pinſelſtrich. — 

Wird die dramatiſche Geſellſchaft, die ſich unter dem Namen „Das junge Deutſch- 
land“ aufgetan hat, an dieſem Los etwas ändern? Wir glauben es nicht. In den Spalten 
des „Berliner Tageblatts“ iſt ſie mit einer Begeiſterung begrüßt worden, die darauf ſchließen 
läßt, daß ſie von nationaler Rückſtändigkeit in der glücklichſten Weiſe frei iſt. Nachdem fie in 
ihrer erſten Aufführung eine Arbeit geboten hatte, der man jugendlich-poetiſche Ergriffenheit 
nachrühmen konnte, betrat fie mit ihrer zweiten bereits die Wege einer Schauerdramatik, 
der auch ihre Anhänger keine nationalen Impulſe nachrühmen werden. Ein Herr Reinhard 
Soering ſperrte in der „Seeſchlacht“ ſechs Matroſen in den Panzerturm und ließ fie dort 
unter Wahnſinnsanfällen die vernichtende Granate erwarten. Was bei dieſer Gelegenheit 
geredet wurde, war von der traurigſten Talentloſigkeit. Die Nerven des Publikums ſollten 
lediglich durch die fieberhafte Erwartung der explodierenden Granate zum Beben gebracht 


werden. Erich Schlaikzer 
AD 


* 


Fran Webelind 75 


Frank Wedekind 


9. März iſt Frank Wedekind an den Folgen einer Operation geſtorben. Der Bericht; 
Nerſtatter des „Berliner Tageblatts“ telegraphiert: „Die letzten Stunden am Vor- 
mittag war er ohne Bewußtſein. Vorher hatte er einige Gedanken über Religion 
geäußert, Er fang dann halblaut die Weiſen feiner alten verwegenen Lieder vor ſich hin, aber 
der Unterton dieſer Melodien vibrierte von erſchütterndem Leid.“ 
Das Ende war alſo zwiejpältig und für den Zuſchauer vieldeutig, wie das vorangehende 
Leben. Gedanken über Religion und frivole Lieder, Redheit und inneres Weh, liegen un- 
vermittelt nebeneinander und wollen kein Ganzes bilden. In den Dramen des letzten Jahr- 
zehnts hat Wedekind immer wieder behauptet, eine ſolch einheitliche Natur zu ſein, die nur 
don der Welt mißverſtanden würde. Er betonte ſich dabei als Moraliſten, dem die Kunſt 
eigentlich nur ein Mittel für erzieheriſche Zwecke ſei. Wenn er dann, wie in der „Theodizee“ 
„Die, Zenſur“ bekundet: „Die Wiedervereinigung von Heiligkeit und Schönheit als göttliches 
ddol gläubiger Andacht, das iſt das Ziel, dem ich mein Leben opfere, dem ich ſeit früheſter 
Kindheit zuſtrebe“ — fo mag man ſich im erſten Augenblick als das Opfer eines mephiſtopheliſch 
mit einem ſpielenden Jronikers vorkommen. Aber ich glaube, er hat das doch ehrlich fo gemeint 
und meine, die Geſtalt Buridans in dieſem ſogenannten Drama decke ſich mit Wedekind auch 
inſofern, als es ihm niemals gelang, das Dafein naiv zu leben, als er die ihm wohl eingeborene 
Zwieſpältig keit nicht zu überwinden trachtete, ſondern als Mittel einer eigentümlich wollüſtigen 
und ſelbſtquäleriſchen geiſtigen Selbſtbeſpiegelung ausnutzte. Dieſes vollkommene Fehlen 
kuͤnſtleriſcher und menſchlicher Naivität bringt ihn zuletzt immer auch um die künſtleriſchen 
Wirkungen; denn ſelbſt jene Geſtalten, die wie Lulu rein animaliſch-triebhaft leben und handeln 
und deshalb im Weltprogramm Wedekinds die „unſchuldige Schönheit“ vertreten, werden von 
ihm zur Verkündung feiner Theorien mißbraucht. Durch jeden fo geſprochenen Satz aber zer; 
ſtört ſich in uns der Glaube an das rein Triebhafte in der Sprecherin, damit auch an ihre Un- 
ſchuld. Der Schulmeiſter Wedekind bringt immer wieder den Dichter um. Der Schöpfer kommt 
eben naturgemäß in ſeinen Geſchöpfen von ſich ſelber nicht los. „Darin bewährt ſich“, ſagt 
Buridan⸗Wedekind in dem oben erwähnten Stück, „der untilgbare Fluch, den ich in dieſes 
Erdendaſein mitbekommen habe! Was ich mit dem tiefſten Ernſt meiner Überzeugung aus- 
ſpreche, halten die Menſchen für Läſterung. Soll ich mich nun deshalb in Widerſpruch mit 
meiner Überzeugung ſetzen? Soll ich mit klarſtem Bewußtſein unecht, unaufrichtig, unwahr 
werden, damit die Menſchen an meine Aufrichtigkeit glauben?“ Und dann gleich noch einmal: 
„Was hilft alle Liebe zum Guten, wenn ſich das Gute nicht lieben laſſen will?“ 
Es liegt in einem ſolchen Satze doch eigentlich eine furchtbare menſchliche Verzweiflung. 
Und doch iſt das Schlimmſte im Falle Wedekind erſt, daß man auch bei einem ſolchen ſeeliſchen 
Notſchrei kühl bleibt, vielleicht aus Furcht, zum Narren gehalten zu werden. Oder iſt ſogar das 
noch nicht das Schlimmſte ? Sondern offenbart es fich erſt in den folgenden Sätzen: „Ich jam- 
merte nie über die ſchimpflichen Lebenslagen, in die mich das allgemeine Mißverſtändnis ge- 
taten ließ: ich nutzte vielmehr die ſchimpflichen Lebenslagen nur wieder dazu aus, um die 
ewigen SGeſetze klarzulegen, die ſich in ihnen offenbarten. Aber auch darin erſchien ich wieder 
als Spötter.“ Und es iſt geradezu unheimlich, wenn Wedekind ſich dann von feinem Wider- 
part antworten läßt: „Das haben Sie Ihrem doppelzüngigen Beruf zu danken! Wer traut 
einem Menſchen, der aller Welt gegen Eintrittsgeld auftiſcht, was er zu Hauſe mit ſich ſelbſt 
auskämpfen ſollte.“ 
gch habe einmal eine unvergeßliche, mich tief erſchütternde Stunde mit Wedekind erlebt. 
Wir hatten beide, ohne uns vorher zu bemerken, einer Probe in der Hellerauer Rhythmitſchule 
beigewohnt. Es war ſehr ſpät geworden, und der inzwiſchen auch ſchon verſtorbene 


74 Frank Webelind 


Dr. Wolf Dohrn packte uns beide mit ſchmunzelnder Schadenfreude in feinen Kraftwagen, 
der uns nach Dresden fahren follte. Halbwegs verſagte der Wagen, und wir mußten die Stunde 
zu Fuß nach Oresden gehen. Bei dieſem Wandern durch die ſchwarze Mitternacht brach es 
plötzlich aus Wedekind heraus. Was er geſehen habe, ſei eine Offenbarung, ſei die Einheit von 
Schönheit und Reinheit, und er berief ſich auf Plato, daß gut und ſchön dieſelben Begriffe 
ſeien und daß der Rhythmus, der die im menſchlichen Körper liegende Schönheitsſehnſucht 
durch die geordnete Schönheitsbewegung dieſes Körpers auszulöſen vermöge, fo auch der Er- 
zieher zum Guten und Woraliſchen ſei. Ich kannte damals die nicht auf die Bühne ge- 
langten jpäteren Bekenntnisdramen Wedekinds noch nicht und war durch dieſe Ausſprache 
nicht nur verblüfft, ſondern ſtand ihr, wie ich offen geſtehen will, auch etwas mißtrauiſch gegen 
über. Aber es iſt mir ſpäter doch klar geworden, daß ſich in dieſem Manne die Tragik des Ba- 
jazzo in einer ganz eigentümlichen Form abgeſpielt hat. 

Ich denke an fein Drama „Muſik“, das mit Muſik nichts anderes zu tun hat, als daß einige 
der auftretenden Menſchen ſich mit Muſik beſchäftigen. Da aber Wedekind beobachtet zu haben 
glaubt, daß für manche Muſikſchülerinnen die Muſik ein Mittel zur Erotik iſt und er alle Lebens; 
erſcheinungen nur mit Erotik in Verbindung zu ſetzen weiß, wird dieſes Geſchlechtliche für ihn zum 
Inhalt der Muſik und er betitelt dieſe Liebesgeſchichte zwiſchen Muſikſchülerinnen und Mufit- 
lehrer als „Muſik“. Aus einer gleichen Einſeitigkeit heraus könnte man den perſönlichen Fall 
Wedekind mit „moderne Literatur“ überſchreiben. Denn was ihn unfähig macht, dieſe perfön- 
lichen Dinge „mit ſich ſelbſt zu Haufe allein abzumachen“, was ihn veranlaßt, fie „gegen Eintritts- 
geld aller Welt aufzutiſchen“, iſt ſein Losgelöſtſein aus dem Volkstum, aus dem ſozialen 
Geſamtempfinden, ſein einſeitiges Eingeſtelltſein aufs Literariſche, ſtatt aufs Menſchliche. 
Darin aber iſt er in der Tat ein beſonders ſcharf geprägter Fall unferes allgemeinen Literatur- 
jammers, darin beruht andererfeits feine unleugbar ſtarke Wirkung auf das Publikum der Li- 
teraturzentren, während die Geſamtheit des Volkes mit feinen Werken als Kunſt nichts anzu- 
fangen weiß. Auch dieſe innere Lebensentfremdung hat Wedekind klar gefühlt. In der „Büchſe 
der Pandora“ ſagt er: „Das iſt der Fluch, der auf unſerer jungen Literatur laſtet, daß wir viel 
zu literariſch ſind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme, als ſolche, die unter 
Schriftſtellern und Gelehrten auftauchen. Unſer Geſichtskreis reicht über die Grenzen unſerer 
Zunftintereſſen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen, gewaltigen Kunſt zu 
gelangen, müßten wir uns möglichſt viel unter Menſchen bewegen, die nie in ihrem Leben 
ein Buch geleſen haben, denen die einfachſten animaliſchen Inſtinkte bei ihren Handlungen maß- 
gebend ſind.“ Wedekind merkt nicht, daß auch dieſe Anſchauung wieder rein literariſch, ja 
literatenhaft iſt. Da, was er unter „animaliſch“ verſteht, ein ganz enger Ausſchnitt aus dem 
Geſamtmenſchlichen iſt, muß er, wenn er alle Lebenserſcheinungen unter dieſem einſeitigen Ge- 
ſichtswinkel anſieht, nicht nur das Leben ſelber fälſchen, ſondern ſich auch ſelbſt um die Naivität in 
der Beobachtung des Lebens und damit um das koſtbarſte Gut des Künſtlers, die Freiheit, betrügen. 

Das gilt auch für das erfolgreichſte Werk Wedekinds, für die Kindertragödie „Frühlings- 
erwachen“. Es ſpricht kein einziger von dieſen Knaben wie ein Fünfzehnjähriger, fie find alle 
Dozenten ihrer Empfindungen, und wenn fie auf der einen Seite ihre Hilfloſigkeit und Ver- 
wirrtheit über die unklaren Gefühle bekunden, jo entwickeln ſie auf der nächſten Erziehungs- 
grundſätze für die Zukunft, die erſt als Folge der klaren Erkenntnis der Übelftände in der Ge- 
ſchlechtserziehung, deren Opfer fie ſelbſt find, eintreten können. Und wie kann ein Dichter, dem 
es um fein Volk ernſt iſt, der ein tragiſches Stück Leben vor uns aufrollen will, einem eine der; 
artige Reihe von Lehrerkarikaturen zumuten. Bereits in dem Namen „Bierzeitung“. Das heißt 
doch ſeine eigene Schöpfung morden. In einem ſolchen Verhalten offenbart ſich nicht nur ein 
künſtleriſcher, ſondern auch ein geiſtiger Mangel. Ob nicht überhaupt das ſtete Vordrängen 
von Anſchauungen und Lehrmeinungen, von „Gedanken“, letzterdings ein Zeichen dafür iſt, 
daß der Verfaſſer an alledem im Grunde arm iſt? Ein Künſtler von wirklich ſtarker Weltan- 


Frank Wedekind ö 75 


ſchauung, von einer die Welt umfaſſenden Gedankenkraft, erfüllt ſeine Geſchöpfe derartig mit 
der Kraft feines Geiſtes und ber Glut ſeines Herzens, daß all ihr Tun und Reden ganz natür- 
licher Ausfluß dieſes ſie erfüllenden Gehalts iſt. Sie haben es dann nicht nötig, immer ihre 
Lehrmeinung vorzutragen. Und wenn wir nun dieſe ſo anſpruchsvoll auftretenden Gedanken 
prüfen, wie klein und dürftig iſt doch im Grunde dieſe Welt, wie wenig geiſtige Arbeit und 
Ueſſchürfende Denkkraft ſetzt fie voraus. Am merkwürdigſten berührt bei einem, der den Mora- 
liſten fo ſtark betont, die Maſſe der Widerſprüche. Was Wunder, daß bei diefer Fülle von Wider- 
ſprüchen viele Leute in Wedekind nur einen pfiffigen Spekulanten auf die niedrigen Inſtinkte 
ſehen. Vedekind ſelbſt nennt ſich ja immer wieder „das Opfer einer ganz falſchen Anſchauung 
über ihn, als welche ſei, daß er, der die Heiligkeit des Fleiſches lehre, als ein Lehrer der Anfitt- 
lichkeit gelte. Er ſteht zwiſchen neun Huren, die Muſen des göttlih-rechten Lebens ſeien, als 
Apollo und muß zur Leier klagen, daß man ihn nicht für Apoll, ſondern für Priapus hält. Nun 
wird Wedekind zugeben, daß ſich das Publikum weniger für feine Moralität, als für den Va- 
ginismus ſeiner Frauengeſtalten intereſſiert“. (Franz Bley über Wedekind, Sternheim und 
das Theater. S. 37.) Ih habe abſichtlich hier einen Kritiker zu Worte kommen laſſen, der 
ſicher nicht der Überempfindlichkeit in ſexuellen Dingen verdächtig iſt. Denn damit ſollte man 
uns doch wenigſtens verſchonen, den Theatererfolg Wedekinds auf irgendeine andere Urſache 
zurückzuführen, als auf dieſe Befriedigung einer erotiſch eingeſtellten Phantaſie. Der erotiſche 
Dunſt, der ſeit 25 Jahren auf den Literaturzentren Oeutſchlands eine ſchwüle Gewitterluft 
angeſammelt hat, hat wie Treibhausluft bas Gedeihen dieſer Pflanzen begünſtigt. Anderer- 
ſeits iſt gerade Wedekind einer der Hauptſchuldigen an dieſer erotiſchen Durchſeuchung, die 
nichts mit friſcher kräftiger Sinnlichkeit zu tun hat. Auch künſtleriſch nicht. Es gibt nur wenige 
Dichter, deren Werke jo ſchwer hintereinander zu leſen find, die fo bald langweilig werden, 
wie Wedekind. Es gibt kaum einen namhaften Oichter, deſſen Sprache ſo ganz ohne Reiz, ſo 
in jedem Sinne unkünſtleriſch iſt, wie die Wedekinds. Nimmt man dazu, daß er, nach eigenem 
Geſtändnis übrigens, ein lehrhafter Moralpauker iſt, jo kann man für die merkwürdige Tat- 
ſache, daß auch die Berufskritik dieſe ſchweren Einwände gegen das Künſtlertum Wedekinds 
nicht geltend gemacht hat, eigentlich nur die eine Erklärung finden, daß fie ſich durch den brün- 
ſtigen Vorſtellungsgehalt der Welt des Dichters hat benebeln laſſen. 

Bei Wedekind ſelbſt muß man jedenfalls von einer derartigen Erotomanie ſprechen. 
Alle Erſcheinungen der Welt führen bei ihm zum Geſchlechtlichen. Es iſt eigentlich die einzige 
Beziehung, die er anerkennt, und es iſt nicht zu verwundern, daß ihm das Wort zugeſchrieben 
wurde, der ſozialiſtiſche Zukunftsſtaat müſſe die Wiedervereinigung von Kirche und Freuden 
haus bringen. Wedekind lehnt in der „Zenſur“ entrüſtet die Urheberſchaft dieſes Wortes ab; 
aber liegt es denn wirklich ſeiner Lehre fern? ! 

Ich glaube, Wedekind war von feiner Vergangenheit her belaſtet. Es ſtimmt ganz zu 
ſeinem Nebenſichſelberſtehen, wenn er auf ſeine Abſtammung ſo großen Wert legt. Sein Vater 
war der erſte aus einer alten oſtfrieſiſchen Beamtenfamilie, der nicht heimiſch ſeßhaft war. 
Wedekind ſelbſt erzählt: „Er war Arzt und war als ſolcher zehn Jahre lang im Dienſte des 
Sultans in der Türkei gereiſt. 1847 kam er nach Oeutſchland zurück und ſaß 1848 als Kon- 
deputierter (Erſatzmann) im Frankfurter Parlament. Im folgenden Jahre ging er nach San 
Franzisko und lebte dort 15 Jahre. Mit 46 Jahren heiratete er eine junge Schauſpielerin 
vom Deutſchen Theater in San Franzisko, die genau halb fo alt war wie er ſelber. Dieſe Tat- 
ſache ſcheint mir nicht ohne Bedeutung. Der Vater meiner Mutter war ein Selfmademan. Er 
hatte als ungariſcher Mauſefallenhändler angefangen und gründete Ende der zwanziger Jahre 
eine chemiſche Fabrik in Ludwigsburg bei Stuttgart. Im Verein mit Ludwig Pfau organiſierte 
er eine politiſche Verſchwörung, und beide wurden auf der Feſtung Aſperg eingeſperrt. Dort 
erfand mein Großvater die Phosphorſtreichhölzer. Nach ſeiner Freilaſſung errichtete er eine 
chemiſche Fabrik in Zürich und ſtarb 1857 im Irrenhaus in Ludwigsburg in vollkommener 


hr, 
Dive" 


76 Frank Wedekind 


Geiſtesumnachtung.“ Das Abenteuerliche, das ihm ſo im Blute lag, iſt in Frank Wedekinds 
Lebensgang genügend zur Geltung gekommen. 

Am 24. Juli 1864 in Hannover geboren, verlebte er feine Zugendjahre auf Schloß Lenz- 
burg bei Aargau in der Schweiz. Sein Studium in München brach er vorzeitig ab, wurde 1886 
Vorſteher des Reklamebüros der Maggi⸗Geſellſchaft, zog dann mit dem Zirkus Herzog herum, 
lebte auf Reiſen mit dem Feuermaler Rudinoff und war dann längere Zeit in Paris. Auch 
dort geriet er in nicht gerade ſolide Kreiſe. Zedenfalls ſoll der Marquis von Keith das Abbild 
eines auch ihn begönnernden abenteuerlichen Dänen ſein. 1890 ſetzte er ſich in München feſt 
und wurde dort Mitglied des bekannten Kabaretts der „Elf Scharfrichter“. „Frühlingserwachen“ 
bat ihn dann berühmt gemacht. 

Man ſieht, es iſt ſchon in beſonderm Sinne aufzufaſſen, wenn er von ſich ſagt: „Sch 
habe mein halbes Leben lang ohne Kunſt gelebt. Ohne Religion könnte ich nicht eine Minute 
leben.“ Dieſe Religion entbehrt jedenfalls der Reinheit, der inneren Anſchauung und der 
wirklich umfaſſenden Liebe. Daß ihm die Kunſt nicht unbedingte Lebensnotwendigkeit war, 
ergibt ſich bereits aus ſeiner Lehrhaftigkeit, der er ſeine Kunſtwerke dienſtbar machte. 

Karl Storck 


D 
—— 


A — 


Ein ganzer Irrtum kann glücklich machen, eine halbe Wahrheit nicht. 
* 
Am Ziele angelangt, erſchlafft die Kraft. Deshalb muß unſere Lebenskunſt dafür 
forgen, daß wir ſtets Ziele vor uns haben. 
7. 
Liebenswürdigteit iſt keine Tugend, ſondern höchſtens eine Fähigkeit. 
* 
Halbe Entſchlüſſe bringen meiſt ganzes Verſagen. 
* 
Ein zartes Gemüt iſt wie der Mond: es muß von einer Sonne beſchienen werden, um 


zu leuchten. 
* 


Die meiſten Menſchen, die einem andern Gutes tun, erfüllen damit nicht deſſen 
Wünſche, ſondern ihre eigenen. 
8 
Unſere Seele muß geſpannt ſein, um zu klingen. 
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Gemeinſames Unglück verbindet, gemeinſames Unrecht trennt. 


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ſcheidungstampf im Welten. Gott hat durch ſeine erleſenen Werk⸗ 
zeuge den Anfang zu einem herrlichen Siege unſerer unvergleich- 
O lichen Truppen geführt, und wir ſind alle des ſtarken, zuverſicht⸗ 
lichen Glaubens voll, daß der Ausgang das ſo überwältigend begonnene, wenn auch 


furchtbare Werk krönen, uns und all den anderen blutenden Völkern endlich die 


Pforten zum erſehnten Frieden aufſtoßen wird. Dennoch wäre es vermeſſen, 
an dieſer Stelle den letzten Entſcheidungen des göttlichen Waltens vorzugreifen. 
Anſere heißen Herzen ſchlagen mit den Kämpfern im Weſten, nicht einen Augen- 
blick können wir ihrer vergeſſen, — praktiſche politiſche Aufgaben werden uns 
hinter der Front zunächſt dort geſtellt, wo die Entſcheidung nach menſchlichem 
Ermeſſen bereits gefallen ift, im Oſten. 

Die Regierung, meint Georg Cleinow in den „Grenzboten“, habe inzwiſchen 


wohl wieder zahlreiche Warnungen aus den Kreiſen, die vor dem Kriege in irgend- 


welchen wirtſchaftlichen oder ideellen Beziehungen zu Rußland ſtanden, zu hören 
bekommen, doch ja nicht zu früh dauernde Verhältniſſe im Oſten zu ſchaffen, die 
einer ſpäteren Verſtändigung im Wege ſtehen könnten. „Die heute noch ſo denken, 
können es ſich nicht vorſtellen, daß Rußland nun einfach beiſeite geſchoben ſein 
und nicht doch wieder einen Machtfaktor darſtellen ſollte, nach dem Deutſchlands 
Politik ſich einzurichten haben werde. Bei den wirtſchaftlich intereſſierten, ebenſo 
wie bei einer gewiſſen Richtung von Kontinentalpolitikern, ſpielen die alten Vor- 
ſtellungen ſogar eine fo große Rolle, daß man bei ihnen dem Wunſche begegnet, 
Rußland möchte ſich ſo ſchnell als möglich wieder unter einem Zaren ſammeln, zu 
Kraft und Anſehen gelangen, damit es uns, nun durch Schaden klug geworden, 
wieder wirtſchaftlichen und politiſchen Rückhalt in den Welt- und Kontinental- 
geſchäften gewähren könnte; um dieſen Preis wären ſie ſogar bereit, alle Rußland 
abgenommenen Gebiete wieder herauszugeben. Dabei iſt ihr Blick ſtarr auf Mos- 
kau und Petersburg gerichtet, wo nach ihrer Meinung auch en Rußlands 
Macht liegen werde.“ N 


78 ö Türmers Tagebuch 


Auch Cleinow bekennt ſich zu dem Glauben, daß Rußlands Geſchick durch den 
bisherigen Zuſammenbruch nicht endgültig beſiegelt ſei: „Die Völker Rußlands 
werden ſich in irgendeiner Form wieder zu Macht und Anſehen zuſammenſchließen, 
und Rußlands angeblicher Zerfall wird ſich uns, wenn es ſeine innere Kriſe erft 
überſtanden hat, als eine Befreiung ſtarker, bisher gefeſſelter Kräfte enthüllen, 
die, auf ein gemeinſames Ziel geeint, Anſpruch auf Beachtung und Berückſichti- 
gung in der Weltpolitik heiſchen werden. Wir ſelbſt, unſre Kaufleute und In- 
genieure werden ihnen dabei helfen, und unſere Truppen ſind ſchon an der Arbeit, 
die dem Wiederaufbau von ganz Rußland dient, indem ſie die Ukraine von den 
Banden der Maximaliſten ſäubern und einer national bedingten Staatsgewalt 
helfen Wurzel zu ſchlagen; durch Beſetzung des Nordweſtgebietes und des Balti- 
kums zwingen wir ferner die Moskowiter, ſich auf ihre eigenen Angelegenheiten 
zu konzentrieren, was ſehr erheblich zur Konſolidierung beitragen dürfte. 

Eine ſolche Auffaſſung von der Zukunft Rußlands hat indeſſen nicht zur 
Konſequenz, daß unſere Regierung die Hände in den Schoß legt und die 
Entwicklung der beſetzten Gebiete deren Bewohnern ſelbſt überläßt. Der Gedanken- 
gang, der zu dieſer Forderung führt, hatte Berechtigung, ſolange Rußland nicht 
militäriſch zu Boden geworfen war und ſolange ſich nicht alle die Gebiete in 
unſeren Händen befanden, deren wir zur militäxpolitiſchen Sicherung gegen den 
Oſten bedurften. 1916 einen Polenſtaat zum Leben erwecken, ohne ihn feſt an 
unſerer Seite zu wiſſen, hieß einen Preis für zweifelhafte diplomatiſche Werte 
zahlen, der dieſen nicht entſprach! Die Eroberung Polens bot uns rein militäriſche 
Vorteile, die zur politiſchen Umprägung wohl zugunſten der Polen, nicht aber 
für uns ausreichten. 1918, nach dem Sonderfrieden mit der Ukraina und dem 
Frieden mit den Maximaliſten, liegen die Dinge weſentlich anders: wir haben 
damit erſt die Freiheit gewonnen, ſehr weittragende Entſchlüſſe wegen der beſetzten 
Gebiete zu faſſen und können nun Verhältniſſe ſchaffen, die geeignet ſind, die 
künftige Entwicklung eines neuen Rußland und unſerer Beziehungen zu ihm tief 
zu beeinfluſſen. Das iſt der ſpringende Punkt! Wollte die Regierung angeſichts 
des nunmehr vorhandenen Tatſachenmaterials die Hände in den Schoß legen, ſo 
ſchüfe fie durch ihre Antätigkeit nur Naum für die Gefahr, daß wir die Führung 
im Oſten, die unſere Armeen erſtritten haben, wieder verlieren und ſelbſt ins 
Schlepptau des politiſchen Willens eines künftigen Rußlands gerieten. 

Die neue Lage im Oſten wird durch folgende Tatſachen gekennzeichnet: In 
Nordrußland ſprechen alle Anzeichen dafür, daß die Maximaliſten, ſobald ſie aus 
der Ukraina verjagt find, einer neuen Regierung Platz machen werden, von der 
wir noch nicht mit Beſtimmtheit annehmen können, daß ſie in den Friedensvertrag 
eintritt; wir müſſen ſogar darauf gefaßt ſein, daß ſie mit Hilfe oder unter dem 
Druck Japans in einem beſtimmten Augenblick uns in irgendeiner Form feindlich 
gegenübertritt. Demgegenüber ſteht die Tatſache, daß zwei wichtige Teile des 
alten Rußland, nämlich Finnland und die Ukraina, nicht nur Frieden mit uns 
geſchloſſen haben, ſondern auch, wenn auch in Beſchränkung auf den Oſten, unſere 
Bundesgenoſſen geworden ſind; ihre Intereſſen laufen mit den unſrigen eine, 
wie es ſcheint, weite Strecke zuſammen. Von ihm und nicht von den Staats- 


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Zürmers Tagebuch 79 


zielen des alten Rußland haben wir auszugehen bei der Beurteilung, ob unſere 
Maßnahmen in Polen und Oünaland der Wiederaufnahme guter Beziehungen 
zu den Ruſſen entgegenſtehen werden oder nicht. Das alte Rußland beſteht im 
Augenblick nicht mehr; die Hüter der alten Ideale, die zum Kriege führten, find 
militäriſch und politiſch ohnmächtig. Durch die Geſtaltung der Verhältniſſe in 
den beſetzten Gebieten ſind wir befähigt, die Wiedergeburt des alten Rußland 
zu verhindern oder doch zu erſchweren. Alle Faktoren daſelbſt drängen ſich uns 
förmlich auf, dem neuen Rußland auch neue politiſche Bahnen zu weiſen. Das 
von uns beſetzte Gebiet eignet ſich in militärgeographiſcher, wirtſchaftlicher und 
ethnographiſcher Beziehung zur Schaffung von politiſchen Einheiten bis zum 
Staat einſchließlich, die ſich wirtſchaftlich und militäriſch ſowohl leicht gegen ein 
angreifend auftretendes Rußland verteidigen ließen, wie auch eine Verbindung 
zu dem neuorientierten Rußland herſtellen könnten. Die Bevölkerung dieſer 
Gebiete ſteht überdies in ihrer überwiegenden Mehrheit der gegenwärtigen Re- 
gierung Nordrußlands durchaus ablehnend gegenüber. 

Eſten, Letten, Litauer wollen von den Maximaliſten nichts wiſſen, — nur beim 
jüdiſchen und polniſchen Proletariat machen ſich ſtärkere Sympathien für fie 
bemerkbar. Es iſt zwar damit noch nicht geſagt, daß dieſe Nationalitäten ſich 
nun beſonders zu den Oeutſchen hingezogen fühlten... Aber darum geht es ihnen 
im Augenblick gar nicht, ſondern darum, wer ihnen ihren Beſitz ſicherzuſtellen und 
eine gewiſſe Garantie für friedliche Entwicklung zu geben vermag. Weil zufällig 
Deutſchland und nicht Rußland die Macht dazu hat, darum ſtehen fie auch auf 
unſerer Seite. Für uns bedeutet ſolche Stimmung vorläufig nur eine politiſche 
Chance im Kampf gegen das alte Rußland und die Entente, die ausgenutzt werden 
kann und muß zum wohl erwogenen Aufbau im Oſten und damit zur Geſtaltung 
unſerer ſpäteren Beziehungen zum neuen Rußland. 

Das neue Rußland, das aus dem bebenden Leibe der alten ‚Matuſchka 
Roffija‘ gewaltſam ans Licht ftrebt, deſſen Geburtsſtunde die ganze Welt mit 
Grauen und Staunen entgegenſieht, wie wird es ausſehen? welche Kraft wird es 
darſtellen? welche Ziele wird es verfolgen? 

Die ruſſiſche Revolution hat bisher, abgeſehen von den inneren Umwäl- 
zungen und von dem Einfluß auf die Lage der Mittelmächte, an poſitiven Er- 
gebniſſen nur eines für die große Politik gehabt: fie hat den Schwerpunkt des 
Ruffentums, der nach der Auseinanderſetzung zwiſchen den Kijewer und Moskauer 
Teilfürſten vor Jahrhunderten nach Norden gerückt war und dort künſtlich, beſonders 
nach der Offnung des Petersburger Fenſters nach Europa und zuletzt durch die auf 
Frankreichs Milliarden geſtützte Wirtſchaftspolitik feſtgehalten wurde, zurückfallen 
laſſen an ſeinen natürlichen Platz im Süden. Wird die Ukraina dieſe 
überragende Stellung ſich erhalten können und unter welchen Vorausſetzungen? 
Damit nähern wir uns dem Kern unſerer ganzen Oſtpolitik, der Frage, 
unter welchen Umſtänden die Wiedervereinigung Rußlands vorauszuſehen ift. .. 

Aus den Zuſtänden in Nordrußland folgern zu wollen, daß die Marima- 
liſtenherrſchaft das Volk unfähig machen werde, Jahrzehnte hindurch große Politik 
zu treiben, hieße die Nuffen unterſchätzen. Auch Nordrußland hat Schätze, mit 


80 | | Türmers Tagebuch 


denen es ohne weiteres wieder in enge Handelsverbindung zur Ukraina als will- 
kommener Kunde treten könnte: Gold, Platin, Edelſteine, Kupfer, Holz, Fiſche 
und — menſchliche Arbeitskräfte! Es ſind wahre Völkerwanderungen, die ſich um 
die Zeit der Ackerbeſtellung und der Ernte aus Nord- nach Südrußland wälzen, 


‚um dort in wenigen Wochen den Lebensunterhalt für den ganzen Winter zu ver- 


dienen. Zu Pfingſten aber beten Hunderttauſende von Pilgern aus allen Teilen 
Rußlands und Sibiriens in der Lawra zu Kijew um Befreiung von körperlichen 
Gebreſten. Gelänge es ſelbſt die großwirtſchaftlichen Beziehungen zwiſchen den 
beiden Gebieten durch Zölle, Tarife, Enteignungen und ſonſtige, dem ſozialiſtiſchen 
Almanach entnommenen Maßnahmen zu unterbinden, ſofern ſolches überhaupt 
im Intereſſe der Ukraina ſelbſt läge, dieſe in den Bedürfniſſen der breiten Maſſen 
wurzelnden Beziehungen ſind kaum zu unterbinden. Wehe dem dritten, der es 
etwa verſuchen wollte, eine Trennung herbeizuführen. Beide Teile würden ſich 
geeint gegen ihn wenden! 

Die Scheidung zwiſchen Mos kau und Kije w kann nur eine vorübergehende 
fein. Sie iſt alſo keine jener Tatſachen, mit der im Schachſpiel der Großen Politik 
als etwas Unerſchütterlichem zu rechnen iſt. Um ſo bedeutſamer wird für uns 
ſchon in der nächſten Zukunft die Entſcheidung fein, wer von den beiden Beteiligten 
die Kraft haben wird, bei der Wiedervereinigung die Führung zu übernehmen. 
Iſt es Moskau, und können deſſen wirtſchaftliche Bedürfniſſe ſich den Vortritt 
erkämpfen, jo wird der ganze politiſche Druck, den das alte Rußland auf die Oſt- 
ſee, auf das Baltikum, Finnland und die nordiſchen Staaten ausübte, neu und 
mit verſtärkter Kraft aufleben und uns in der Oſtmark und an der Weichſel ebenſo 
bedrohen, wie Schweden in feinen nördlichſten Bezirken. Zit es aber die Ukraina, 
jo wird Neurußlands Beſtreben nach Vorderaſien, Perſien, Zentralaſien gerichtet 
ſein, als unſer wirtſchaftlicher Wettbewerber und Verbündeter, nicht als nationaler 
Feind. Im erſteren Falle würde ſich ſehr bald eine Verſtändigung des neuen 
Rußland mit England und Amerika mit friedlicher Durchdringung des Baltikums 
im Gefolge erzielen laſſen; im zweiten wird Rußland eine ernſte Drohung gegen 
Indien ſein und mit uns das gleiche Intereſſe an freien Ausgängen aus dem 
Mittelmeer zu den Weltmeeren haben. Ein von der UAkraina geführtes Rußland 
ist weltwirtſchaftlich in erſter Linie Levanteſtaat, wenn Nordrußland führt, 
würde es in erſter Linie ein Oſtſeeſtaat werden. 

it ſich die Regierung über dieſe Alternative klar, jo wird fie wiſſen, daß 
alle ihre Maßnahmen im Oünaland mit einer Wirtſchaftspolitik in der Ukraina 
in Einklang gebracht ſein müſſen, die dieſe befähigen würde, die weltpolitiſche 
Führung des geeinten Rußland zu übernehmen. Gelingt dies nicht, ſo wird der 
Kampf ums Baltikum von neuem entbrennen und wir werden uns bald einer 
ähnlichen Koalition von Mächten gegenüberſehen, wie am Anfange des Weltkrieges. 
Auf die ungünſtigſten Möglichkeiten aber muß die Politik gerüſtet ſein. Darum 
werden die von uns an die Vereinigung des Baltikums zu einem großen 
Staatsweſen geknüpften Hoffnungen um fo eher in Erfüllung gehen, je ge- 
feſtigter dieſer Staat innerlich ausgebaut und je größere Vorteile er allen 
ſeinen Bewohnern zu bieten vermag, Vorteile, für die es ſich lohnte, im 


Sürmers Tagebuch 81 


äußerften Falle auch das Schwert zu ziehn, ſei es gegen die Moskowiter, 
ſei es gegen die Polen, oder eine von England vorgeſchobene Macht.“ 

Abweichend urteilt Paul Rohrbach über die Entſcheidung im Oſten. 
Eben dem Einwande, es ſei doch leicht möglich, ja wahrſcheinlich, daß die 
jetzt getrennten Teile des geweſenen Rußland, mindeſtens Großrußland und 

die Ukraine, ſich wieder zuſammenfinden, daß die Ruſſen ſich wieder erholen und 
dann auf Tod und Leben um die Wiedererlangung der ihnen entnommenen Ge- 
biete, vor allen der Oſtſeeküſte, kämpfen würden, — hält er entgegen: „Wie ſehr 
verkennt doch dieſe Meinung das wirkliche Ruſſentum und den neuen Stand der 
Dinge in Oſteuropa! Es hat viele Legenden üben Rußland gegeben, die in aller 
Welt, am meiſten in Deutfchland geglaubt wurden. Die eine Legende war die 
von der inneren Geſchloſſenheit Rußlands. Eine zweite war die von der vermeint- 
lichen Zarentreue und Kirchentreue des ruſſiſchen Bauern. Eine dritte war die von 
dem angeblich nicht vorhandenen tiefen Intereſſengegenſatz zwiſchen Rußland und 
Deutſchland. Eine vierte war und iſt noch heute die von den unerſchöpflichen natür- 
lichen Reichtümern Rußlands. Sie hängt zuſammen mit der Vorſtellung, Rußland, 
ja ſelbſt Sroßrußland, bleibe auch nach der jetzt erlittenen Niederlage ein Gebiet, das 
ſtark und entwicklungsfähig ſei und bald wieder zu Kräften kommen werde. Wer 
das glaubt, der kennt nicht Rußland. Rußland im ganzen genommen war ſchon 
vor dem Weltkriege eher ein armes als ein reiches Land, das heißt: auf den ge- 
waltigen Flächenraum und die große Einwohnerzahl des Reiches verteilt, ergaben 
feine Naturſchätze nur einen mäßigen Wert. Dabei iſt entſcheidend, daß fie keines- 
wegs über den ganzen Boden des einſtigen Reichs gleichmäßig verteilt liegen, 
ſondern ſich nach Süden hin, auf dem Gebiet der Ukraine, zuſammen— 
drängen. Die Ukraine iſt allerdings ein reiches Land. Sie hat das meiſte von 
dem fruchtbaren Lößboden, der ſogenannten Schwarzen Erde, ſie hat die meiſten 
und beſten Kohlen, die beſten Eiſenerze, ſie hat Mangan und Phosphorit, ſie hat 
faſt das ganze ruſſiſche Zucker- und Tabakland, große Ströme und Häfen am 
Meere. Auch Polen hat Naturſchätze, Kohle und Eiſen, Wald, Ackerland, und dazu 
eine dichte Bevölkerung. Litauen und das baltiſche Gebiet ſind waldreich und 
größtenteils fruchtbar, fie find reich an Flachsbaugebieten und können landwirt- 
ſchaftlich noch glänzend entwickelt werden. Auch ſteht die Bevölkerung, namentlich 
was die baltiſchen Oeutſchen, die Letten und die Eſten angeht, kulturell hoch. Finn- 
land iſt von alters her ein ganz weſteuropäiſches Kulturgebiet mit unerſchöpflichen 
Holzvorräten, reichen Waſſerkräften, wahrſcheinlich auch reich an Eiſenerzen, ſchönen 
Häfen, und einem Volk, das nach feiner Durchſchnittsbildung mit an die Spitze der 
europäiſchen Nationen gehört. 

Was aber hat denn Großrußland? Ein Volk, das für jede organiſatoriſche 
Kulturleiſtung unfähig iſt, das ſeine bisherige Machtpolitik nur mit Hilfe einer 
fremden Oynaſtie und fremder Hilfskräfte in der Verwaltung, im Verkehr, im Ge- 
ſchäft, in der Wiſſenſchaft, in der Induſtrie und auf jedem anderen Gebiet hat be- 
treiben können. Wenn Großrußland die Oeutſchen, die Polen und die Juden los 
iſt, dann iſt es überhaupt zu nichts mehr fähig. An der Schwarzen Erde hat Groß 


rußland mit Sibirien nur den geringeren Anteil. Seine Ackerfläche liegt zum 
Her Türmer XX, 14 6 


82 Türmers Tagebuch 


größten Teil auf eiszeitlichem Schuttboden und könnte nur durch eine hochentwickelte 
und koſtſpielige landwirtſchaftliche Technik ergiebig gemacht werden. Großrußland 
hat zu dem bisherigen ruſſiſchen Getreideexport jo gut wie nichts beigetragen, 
namentlich nicht mehr, ſeitdem in ſeinen Induſtriegebieten die Volksdichte und der 
Brotbedarf zunahmen. Es wird auch in Zukunft kein Getreide zu exportieren 


haben. Großrußland hat wenige, kleine und mangelhafte Kohlenvorkommen. 


Es hat Eiſenerzlager nur im Ural, aber die leiden darunter, daß es in der Nähe 
keine Kohle zum Verhütten gibt. Die Goldlager im Ural ſind in der Erſchöpfung 
begriffen, das Platin und die Halbedelſteine ſpielen volkswirtſchaftlich keine Rolle. 
Sibirien (falls es bei Großrußland bleibt) hat im Süden ziemlich große Strecken 
guten Ackerlandes, auch ſchwarze Erde. Die einſt ſo berühmten Bergwerke des 
Altaigebirges ſind ſtark ausgebeutet; die Goldſeifen in der Nähe des Baikal im 
oberen Lenagebiet geben noch Erträge, liefern aber doch keinen erheblichen Pro- 
zentſatz der Weltausbeute, können auch wegen der Kälte nur einige Monate im 
Jahr bearbeitet werden, und außerdem wird Japan ſie vielleicht für ſich nehmen. 
Wald gibt es im europäiſchen Rußland und in Sibirien maſſenhaft. In Sibirien 
iſt er faſt unverwertbar, wegen der Schwierigkeiten des Holztransportes, und 
auch in Nordrußland iſt es aus klimatiſchen und aus anderen Gründen nicht leicht, 
das gefällte Holz auf den Markt zu bringen. Immerhin ſtellen die nordruſſiſchen 
Wälder einen bedeutenden Wert dar. 

Nimmt man alles zuſammen, fo zeigt ſich, daß der zukünftige ruſſiſche Reſt- 
ſtaat Großrußland ein wirtſchaftlich ſchwaches Gebilde fein wird. Die Werte, die 
beim Ausbruch der Revolution vorhanden waren, find heute radikal verwüftet und 
die vorhandenen Überbleibfel werden weiter verwüſtet werden, wenn der ruſſiſche 
Bürgerkrieg fortdauert. Er iſt noch lange nicht zu Ende, ſondern ſteht in Groß- 
rußland erſt im Beginn. An Exportwerten wird das Hauptaktivum, mit dem das 
frühere Geſamtrußland auf dem Weltmarkte auftreten konnte, die Getreideausfuhr, 
fait ganz ausfallen. Vielleicht, daß Sibirien noch etwas Getreide wird liefern kön- 
nen, aber viel wird es nicht ſein. Die Butter- und Eierausfuhr wird bleiben. Von 
der Holzausfuhr wird in Wegfall kommen, was bisher die litauiſchen, polniſchen 
und baltiſchen Wälder lieferten; ebenſo ſteht es mit der Flachsausfuhr, die bisher 
größtenteils auf das baltiſche Gebiet entfiel. Auch die großruſſiſche Induſtrie wird 
zurückgehen. Im Petersburger Bezirk kann ſie ſich mit Hilfe engliſcher Kohle 
halten, im Moskauer Bezirk wird ſie von ukrainiſcher Kohle abhängig ſein. Die 
Vorſtellung, daß Großrußland zukünftig mit Gewalt werde gegen die 
Ukraine vorgehen können, um ſich die dortigen ‚Ergänzungen‘ feines 
Wirtſchaftslebens wiederzuholen, iſt darum irrig, weil dazu die groß- 
ruſſiſchen Kräfte nicht entfernt ausreichen werden. Großrußland wird 
zwar ein bedeutendes Gebiet umfaſſen und mit Sibirien 100 Millionen zählen (ob 
der Kaukaſus und Turkeſtan bei ihm bleiben, iſt zweifelhaft), aber es wird ein wirt- 
ſchaftlich, politiſch und militäriſch ſchwacher Staat ſein, mit entſprechend ſchwachem 
Auslandskredit und unerheblicher Rüſtungskraft, eine ganz und gar ungefährliche 
Größe. Wer da meint, daß von dort noch große Anſtrengungen würden 
ausgehen können, um die verlorene Stellung, die Oſtſeeküſte, die 


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Zürmers Tagebuch ö 83 


Ukraine, Finnland uſw. wieder zu unterwerfen, verkennt ganz und 
gar, daß mit der Abtrennung dieſer Randgebiete die großruſſiſchen 
Kräfte wieder auf ihr eigenes beſcheidenes Maß angewieſen find. Dazu 
kommt, daß in Großrußland die Auseinanderſetzung zwiſchen den ‚rechtgläubigen‘ 
Agrarſozialiſten unter Tſchernow und dem privatbeſitzlichen Bauerntum bevor- 
seht. Mit dieſem letzten werden ſich vermutlich auch alle anderen Kräfte verbinden, 

denen daran gelegen iſt, ſich ſelbſt und das Land foweit wie möglich noch aus dem 

erlittenen wirtſchaftlichen und politiſchen Schiffbruch wieder hinauszuretten. 

Tchrnow und feine Leute ſind Anhänger der alten primitiven Mir⸗Wirtſchaft, bei 

ber das Ackerland Eigentum der Gemeinde iſt, entſprechend bewirtſchaftet und immer 
nach einigen Jahren neu umgeteilt wird. In dies Syſtem wollen fie auch den neuen 
großen Land fonds hineinziehen, der aus den Ländereien des gewaltſam enteigneten 
Eroßgrundbeſitzes, aus den Staats- und den Rirchengütern beſteht oder vielmehr 
beſtehen ſoll, denn in Wirklichkeit iſt dieſer Landfonds gar nicht mehr zur Verfügung 
der Regierungsgewalt, ſondern die Bauern haben ſich längſt feiner bemächtigt. Sie 
haben ihn unter ſich verteilt und ſtehen mit Mehrladern und Maſchinengewehren 
bereit, ihn zu verteidigen. Vor allen Singen find das diejenigen Bauern, die durch 
die Stolypinſche Landreform bereits Eigenbeſitz haben oder ſich entſchloſſen haben, 
unter dem Einfluß der gegenwärtigen Verhältniſſe zum Eigenbeſitz überzugehen. 
Die Strömung dahin ſcheint durch den Krieg in Rußland verſtärkt zu fein. Militär- 
gewehre ſind in Rußland jetzt zu Hunderttauſenden herrenlos und ohne weiteres zu 
erhalten; Maſchinengewehre mit Patronen konnte man zuletzt von den Mafchinen- 
gewehr-Abteilungen zu 3 Rubel das Stück kaufen. Feldgeſchütze mit Munition 


koſteten 25 Rubel. Die Bauern auf dem flachen Land ſind alſo zum größten Teil 


ſchwer bewaffnet und viele von ihnen ſind gediente Leute. Die Eigenbeſitzer denken 
nicht daran, ihren Landraub herauszugeben, und mit ihnen können ſich die einſtigen 
Kadetten, Oktobriſten und Rechten verbünden unter der gemeinſamen Parole: 
Viederherſtellung des Privatbeſitzes! Gegenwärtig ſind alle früheren bürgerlichen 
Parteien mit untergeſchlüpft unter der Bezeichnung ,‚Sozial revolutionäre“. Dieſe 
bilden jetzt die Rechte; was ſich nicht mindeſtens Sozialrevolutionäre nennt, hat 
heute überhaupt keinen Anſpruch, dem Totgeſchlagenwerden zu entgehen. Man 
kann ſich denken, welche Ausſichten aus alledem ſich für Großrußland ergeben. . . 

Für alle Zukunft bildet die Schwäche des Großruſſentums die ſtärkſte 
Garantie des oſteuropäiſchen Friedens. Es iſt ein Irrtum, als ob wir 
fortan mit den Schwierigkeiten der Aufgabe belaſtet wären, die neuen oſteuro⸗ 
paͤſchen Staaten auf dem Boden des einſtigen Rußland gegen großruſſiſche Wieder- 
herſtellungsgelüſte zu verteidigen. Die Zeit, wo von Rußland die europäiſche Ge⸗ 
faht ausging, iſt vorüber. Die Kraft Oeutſchlands hat ihr ein Ende gemacht; fortan 
wird Deutfchland nach Oſten hin rückenfrei daſtehen. Das iſt ein weltgeſchicht- 


liches Ereignis und eine Wandlung in den tiefſten Grundlagen un- 


ſeres nationalen Oaſeins von einer Größe, die man ſich ſtaunend und dant- 
bar immer von neuem vor Augen halten muß, und die man gerade darum, weil 
ſie ſo unſagbar groß iſt, ſo langſam begreift. Alle auf dem bisher 


LKuſſiſchen Boden entſtandenen Staaten find lebensfähig. Die Ukraine iſt es, 


8 Zürmers Fagebuch 


Finnland iſt es, Litauen iſt es, das baltiſche Gebiet, falls es ſo organiſiert wird, 
iſt es auch. Auch Polen iſt es oder kann es werden, wenn ihm die richtigen 
Grenzen gezogen werden. All dieſe Gebilde werden aufrecht daſtehen, werden von 
Großrußland nichts, gar nichts mehr zu befürchten haben, und ſie werden durch 


ihre Lage und durch ihren wirtſchaftlichen Eigencharakter darauf hingewieſen 


ſein, nahe und freundſchaftliche Beziehungen zu dem mitteleuropäiſchen Wirt- 
ſchafts- und Kulturgebiet zu pflegen.“ 

So kann, ſo muß es werden, aber nur dann, wenn unſere Politik es ver- 
ſteht, das flüſſige Metall, als welches „Rußland“ Eindrücken von unſerer Seite 
je tzt noch zugänglich iſt, in eine Form zu lenken, die den Intereſſen der entſcheidend 
Beteiligten Rechnung trägt. Die entſcheidend Beteiligten ſind aber das Baltikum 
im geographiſchen, wirtſchaftlichen und militäriſchen Sinne und die Ukraine. Und 
da bin ich inſoweit der Meinung Cleinows: „Setzt heißt die Frage nicht: was machen 
wir mit den Nationalitäten der beſetzten Gebiete, ſondern: wie faſſen wir die 
Gebiete wirtſchaftlich zuſammen, um ſie zu leiſtungsfähigen Trägern einer 
Brücke unſerer Intereſſen nach dem Oſten zu machen? Das gilt ſowohl im wirt- 
ſchaftlichen, wie im politiſchen Sinne. .. Wollen wir den Ruſſen gewinnen, ihm, 
wenn nicht Vertrauen, ſo doch Achtung einflößen, ſo dürfen wir uns bei der Neu- 
ordnung der Oſtmark nicht krämerhaft um Kleinigkeiten kümmern. Alles, ſelbſt 
Orgien der Rache, würde der Ruſſe verſtehen, nur nicht kleinliche Engherzigkeit. 


Das würde ihn anwidern. Und wir müſſen die Ruſſen gewinnen, wollen wir auch 


nach dem Weltkriege Überfeepolitit und Weltpolitik treiben. 

Der Weg zum Herzen der Ruſſen führt nicht durch Nachgiebigkeit. 
Daß Deutſchland das fünfundvierzigmal größere Rußland zertrümmerte, das 
imponiert. Verſcherzen wir dieſe Stimmung nicht, um ſo weniger, als ſie 
vielleicht noch im Unterbewußtſein ruht. 

Wir können Rußland auf wirtſchaftlichen Wegen gewinnen durch die Art, 
wie wir die neue Oſtmark einrichten. Nicht vom Recht der Nationalitäten 
ausgehend, ſondern von wirtſchaftlichen Geſichtspunkten aus ſollten die Gebiete von 
der Oſtſee bis zum Pripet organiſiert werden. Fangen wir erſt einmal an, die 
eſtniſche, lettiſche, litauiſche, weißruſſiſche, jüdiſche und polniſche 
Frage in dieſen Gebieten löſen zu wollen, fo verfallen wir der Zer- 
ſplitterung und ertrinken im Kleinkampf durchaus nicht etwa heroiſch, 
ſondern abſolut lächerlich. (Das iſt ſo wahr, wie das Einmaleins; das ganze 
„Selbſtbeſtimmungsrecht“ kleiner Minderheiten iſt eine engliſch- amerikaniſche 
Leimrute nur für deutſche Gimpel. D. T.) Auch die Nationalitätenfragen müffen 


ſich über die Wirtſchaft löſen laſſen und zwar nicht durch uns, ſondern durch die 


zunächſt beteiligten Nationalitäten ſelbſt. Ein großzügiger Wirtſchaftsplan 
könnte alle die kleinen Völkerſchaften am Baltikum mit der Welt ver— 
binden, und dazu bedürfen ſie einer Weltſprache. Ruſſiſch oder deutſch, eine 
dieſer Sprachen wird der Bewohner der Oſtmark auch in Zukunft ſprechen müſſen. 
Wenn auch vor der Hand noch das Ruſſiſche überwiegt, ſo wachſen in dieſem edlen 
Wettſtreit die Chancen der deutſchen Sprache in dem Maße, in dem wir den 


gandelsverkehr, feine Wege und großen Organe, wie Banken und Preſſe, be- 


— P r . 4. Pop a he Er 


Zürmers Cagebuch 85 


* 


herrſchen und — wie wir es fertig bringen, den großpolniſchen Gedanken 
aus dem Baltikum fern zu halten. Seine Träger ſind der polniſche Groß— 
grundbeſitz in Litauen in erſter Linie und in zweiter die polniſchen Angeſtellten 
in Städten und Oörfern und auf Gütern des deutſchen Baltikums. 

Große politiſche Aufgaben laſſen ſich nicht nach einer einfachen Formel 
(dien; es ſind immer nebeneinanderlaufende und ineinandergreifende Berech- 
nungen aufzuſtellen. Die Polen ſind mit ihrem politiſchen Ehrgeiz ein 
ſtörendes Element zwiſchen den Deutſchen und Ruſſenz da ſie ſich trotz 

dreijährigen Mühens im Kriege von unſrer Seite nicht bereit erklären können, 
ohne Vorbehalt auf den Beſitz deutſcher Provinzen zu verzichten, ſo muß ihrem 
Ehrgeiz auf andre Weiſe der Nährboden entzogen werden. 

Aus dieſen beiden Aufgaben: Verſtändigung mit dem Ruſſentum und Über- 
windung des großpolniſchen Gedankens, ergibt ſich der Grundriß zu den Funde- 
menten der neuen Oſtmark. Zunächſt im Norden: Zuſammenfaſſung der 
Gebiete ohne Rückſicht auf die Nationalitäten zu einer wichtigen Wirt- 
ſchaftseinheit, in der der tüchtigſten und kultivierteſten, dabei auch kapital 
kräftigſten Nationalität ohne weiteres die führende Rolle zufiele. Ein Blick auf 
die Karte lehrt, daß die Achſe dieſer Einheit nur der Dünaftrom, bis herauf 
nach Polock, das ſind etwa 400 Kilometer, das Herz aber Riga, an der See 
und doch mitten im Lande gelegen, ſein kann. Riga zugleich Haupthafen 
für Rußland, die regulierte Düna, feine bedeutendſte Schlagader im 
Weltverkehr. Beide zuſammen auch das finanzielle Rückgrat des neuen Staates. 
Zhn bilde man aus Eſtland, Livland, Teilen des Gouvernements Witebſk, 
Kurland und Litauen, ohne eine hiſtoriſche Anknüpfung als Königreich 
in Realunion mit dem Deutſchen Reiche. 

Südlich davon folge als preußiſche Provinz Südpreußen, der nicht 

zur Ukraine gehörige Teil des Gouvernements Grodno, Lomſha und Plock, 
begrenzt im Süden durch Bug und Weichſel. Dies Gebiet ſei deutſches Koloni- 
ſationsland, ebenſo wie weſtliche Teile des Gouvernements Warſchau, Kaliſch 
und Petrikau. Das Siedelungsland wäre in erſter Linie den Donationsgütern, 
dann dem Großgrundbeſitz zu entnehmen. Etwa auszufiedelnde Bevölkerung 
wäre nach Weißrußland zu leiten, wo genügend Großgrundbeſitz zur Beſiedlung 
durch Bauern vorhanden iſt, und die geringe Bevölkerungsdichte auch ſonſt noch 
Yunderttaufenden Raum bietet. Ob es zweckmäßig wäre, dies Gebiet an Rußland 
jurüͤckzugeben, mag ſpäterer Erörterung vorbehalten bleiben. Der Reſt von 
Polen könnte zu einem vollſtändig ſelbſtändigen Staate gemacht werden, ſchon 
aus dem einen Geſichtspunkte, weil auch ein unſelbſtändiges Gebilde nie- 
mals aufhören würde, in der ganzen Welt gegen Oeutſchland zu in- 
trigieren. 

Ich meine, die hier vorgetragene Skizze einer Neuordnung unſerer Verhält- 
niſſe im Often kommt dem, was wir uns nur wünſchen können zu erreichen, am 
nächſten. Sie verteilt die Laſt des Baues auf viele Pfeiler zu entſprechenden Teilen. 
der ſchwächſte Punkt iſt die polniſche Ecke. Dort wird wegen des unfichern 
Baugrundes die Gefahr des Zuſammenſturzes beſtehen bleiben, ſolange die 


E 


86 Türmers Tagebuch 


deutſche Reichsregierung ſich zu durchgreifenden Maßnahmen nicht 
zu entſchließen vermag. Zu ſolchen Maßnahmen gehört das Recht der Aus- 
ſiedlung polniſcher Bevölkerungsteile aus den uns beſonders gefähr— 
denden Kreiſen von Ruſſiſch-Polen. 

Finden wir jetzt im Anſchluß an den Krieg nicht den Mut, diejenigen Po- 
ſitionen auf dem gewonnenen Schlachtfelde zu beziehen, die jedes Anrennen gegen 
unſere Geſamtſtellung von vornherein ausſichtslos machen würden, fo müffen 
wir darauf gefaßt ſein, daß der Kampf um den Boden auf preußiſchem Gebiet 
fortab in für uns nachteiligen Stellungen geführt werden muß.“ 

Nicht alles, was ich hier wiedergebe, möchte ich wörtlich und ohne weiteres 
unterſchreiben. Wenn ich dennoch dieſe Anſichten Cleinows zum Teil ſogar durch 
Sperrdruck hervorhebe, ſo geſchieht das, weil ich ſie beſonderer Erwägung 
wert erachte, und weil ſie grundſätzlich meinem eigenen Urteile in einer mich 
faſt überraſchenden Weiſe begegnen. Denn auch ich glaube nicht an eine endgültige 
Ohnmacht Rußlands, glaube vielmehr an ein Rußland, bei dem ſich die Ukraine 
und das ſogenannte Großrußland in der einen oder anderen Form wieder die 
Hand reichen werden. Gewinnt in dieſem Rußland das Moskowitertum aufs 
neue die Oberhand, dann haben wir das alte Rußland auf unſere Koſten zer- 
trümmert. Anfere Politik drängt ſich alſo die Aufgabe auf, die Ukraine in ihre 
nicht nur geſchichtlich, ſondern auch politiſch und wirtſchaftlich begründete Führer 
ſchaft wieder einzuſetzen und ſo lange zu unterſtützen, als fie unſerer Hilfe be; 
darf. All unſer Bemühen in dieſer Richtung wäre aber wiederum vergeblich, wenn 
wir in den Streitfragen zwiſchen Polen und Ukrainern nicht ganz ſachlich, aber 
ebenſo entſchloſſen, ſelbſt auf die Gefahr, öſterreichiſch-polniſche Sentimentalitäten 
unſanft zu berühren, die Ukrainer als das Volk behandelten, das ohne Vorbehalt 
mit uns Frieden geſchloſſen und für ſeine Befreiung ſelbſt gekämpft hat, ſtatt ſie 
als Geſchenk von uns entgegenzunehmen und dann auch nur mit Vorbehalt von 
Anſprüchen auf — deutſches Gebiet! Das dürfen unſere Staatsmänner auch 
nicht vergeſſen (wenn fie es gewußt haben oder wiſſen), daß die ruſſiſche Politik 
ſchon vor 1905 (alſo vor dem ruſſiſch-japaniſchen Kriege) weſentlich von Polen 
beeinflußt war. Gute Ruſſen getröſteten ſich noch angeſichts des gegenwärtigen 
Zuſammenbruchs: „Wenn ſchon wir Ruſſen nicht fähig ſein ſollten, das große 
Slawenreich aufzurichten, dann werden die Polen die Führung übernehmen.“ 
In der Tat: ohne Deutfche, Polen und Juden war ja das alte große Rußland nicht 
denkbar 

Es iſt in unſerem politiſch auf einen Formelkram zurechtgeſchuſterten Klein- 
deutſchland unendlich ſchwer, vom Schuſterleiſten abweichende Anſichten zu äußern, 
ohne befürchten zu müſſen, politiſch nicht „ernſt“ genommen zu werden. Nur die 
Meinung des „Profeſſors“ imponiert, will ſagen: das von irgend einer politiſchen, 
wiſſenſchaftlichen oder ſonſtigen Zunft Anerkannte. Innerhalb der Zünfte können die 
Meinungen ſo weit auseinandergehen, wie ſie wollen; ſie werden dann zwar von 
der anderen Zunft bekämpft, leidenſchaftlich bekämpft, aber immerhin „ernſt“ 
genommen. Oennoch erdreiſte ich mich, zu bekennen: ich glaube nicht, daß irgend 
eine unſerer politiſchen Zünfte auf der ganzen Linie recht behalten wird. Nicht 


a 


Zürmers Tagebuch 87 


einmal die mir am nächſten ſtehenden, fo innig ich das wünſchte. Sie könnten, 
würden recht behalten, wenn unſere politiſche Führung auf der Höhe unſerer 
militäriſchen ſtände, von Anfang des Krieges an geſtanden hätte. Eine politiſche 
Führung wie die Bismarcks, die aber nicht denkbar war ohne das Genie des Herzens 
Raiſer Wilhelms I. (dem darum der Name des Großen gebührt, weil er Größere 
zu finden und neben ſich, wenn's darauf ankam, ſogar über ſich zu dulden ver- 
mochte), würde aus dem Erze ſolcher militäriſcher Erfolge einen Frieden ſchmieden, 
wenn nicht ſchon geſchmiedet haben — dauernder als Erz. 

Nachdem aber unſere Regierung ſich unter die Vormundſchaft einer — in 
pelchem ahnungsloſen Friedensjahre gewählten? — „Mehrheit“ geſtellt hat, wird 
mjer Friede, damit das Wohl und Wehe unſeres Volkes auf abſehbare Zeiten 
mehr oder weniger von den perſönlichen Fähigkeiten, Neigungen, Vorſtellungen 
eines Herrn von Kühlmann, Erzberger, Scheidemann uſw. beſtimmt werden. 


Da Herr Haaſe wegen blutiger Abfuhr der „unabhängigen“ im Wahlkreiſe Nieder- 


barnim vorläufig entſchuldigt iſt, kommt er für dieſen — „Zahlabend“ (übrigens 
einmal ein gutes Wort Scheidemanns im Reichstage) zunächſt nicht in Betracht. 
Aber Erzberger wird die Sache ſchon machen. Wir wollen uns doch nichts vor- 
täufchen: gegen Erzberger iſt auch Scheidemann nur ein Waiſenknabe. 

Furchtbar iſt die Vorſtellung, lähmend könnte fie wirken: daß alle gigan- 
tiſchen Taten und Opfer im Sande verlaufen könnten, wenn wir uns nicht an die 
eine Zuverſicht klammern, daß der Deutſche Kaiſer ſich als den letzten und höchſten 
Entſchluß für die Friedensbedingungen vorbehalten hat: die Männer ſollen als 
die Vertrauten und Willensvollſtrecker ihres Kaiſers die Bedingungen beſtimmen, 
die den Frieden durch das geiſtgetragene Schwert errungen haben. 


Der Lihhnowfty-Standal 


wächſt ſich von Tag zu Tag immer ungeheuer- 
licher aus und hat ſchon heute fo empörende, 


ſo gemeingefährliche Tatſachen ans Licht ge⸗ 


fördert, daß man dreiſt behaupten darf: wenn 
hier von der Regierung nicht mit eiſerner Fauſt 
durchgegriffen wird, dann wird es um ihr 
Anſehen windig beſtellt ſein und wird man die 
Leute, die noch Vertrauen zu ihr haben, mit 
der Laterne ſuchen müſſen. Es ſoll ja nun, 
ſo wird „verlautbart“, ein Verfahren gegen 
den internationalen Fürſten und engliſchen 
Doktor von Oxford (warum nicht auch Heidel- 
berg?) bevorſtehen. Wir wollen alfo vorläufig 
noch abwarten, aber nicht vergeſſen! 

Zur Verbreitung der Denkſchrift im neu- 
tralen Auslande erfährt die „Deutfche Tages- 
zeitung“ u. a.: Der Armierungsſoldat Dr. 
Breitſcheidt trieb als Heeresangehöriger 
bereits im Herbſt 1917 mit der Schreib- 
maſchinen-Abſchrift der Oenkſchrift eine leb⸗ 
hafte Propaganda im Sinne der üblichen, 
jedes Nationalgefühl zerwühlenden Politik der 
unabhängigen Sozialdemokraten; auch lieh er 
die Schrift jedermann uſw. 

In der „Kölniſchen Volkszeitung“, dem 
Zentrumsblatte, das ſich der Erzbergerei zu 
erwehren ſucht, weiſt ein Mitarbeiter auf den 
Zuſammenhang der Lichnowſkyſchen Denk- 
ſchrift und der Erzbergerſchen Friedens 
entſchließung hin: 

Im vorigen Sommer ſchon war das 
Schriftſtück verbreitet! Frage: Auch ſchon 
vor der Zeit vom 6. bis 19. Juli 19172 
Wer ein gutes Gedächtnis hat, erinnert ſich 
heute mancher Wendungen in Reden und 
Zeitungsauffätzen, welche damals in die 


Offentlichkeit kamen undemit Sicherheit dar- 
auf ſchließen laſſen, daß den Urhebern die 
Denkſchrift bereits bekannt war — und noch 
mehr: daß ſie von Geiſt und Inhalt dieſer 
Denkſchrift beeinflußt waren. Wenn 


dieſe Beobachtung zutrifft, käme der Denk- 


ſchrift auch ein Anteil, und vielleicht kein klei- 
ner, zu an der Stimmung, an der ganzen Ge- 
fühls- und Gemütsatmofphäre, welche zu 
dem Reichstagsbeſchluß vom 19. Zuli 
1917 geführt hat. Auch dieſer Punkt wäre 
doch wirklich der Mühe wert, aufgeklärt zu 
werden. Nachdem die Oenkſchrift bekannt ge- 
worden iſt, ſoll man auch alles Licht ſchaffen 
für alle Umftände und Nebenumſtände, welche 
mitgewirkt haben. Da müſſen alle Rück- 
ſichten ſchweigen. 


* 


Ein deutſcher Botſchafter — 


Englands glücklicher Stern! 


Ge 1914 veröffentlichte der britiſch ge- 
ſinnte Zre Bernhard Shaw einen 
ſchon durch feine Überſchrift bezeichnenden 
Aufſatz „Der letzte Sprung des alten 
Löwen“. Darin ſchildert (nach einer zu- 
ſammenfaſſenden Wiedergabe im „Deutſchen 
Kurier“) Shaw an Hand des franzöſiſchen 
Gelbbuches die diplomatiſche Vorbereitung 
der von England geſuchten Auseinander- 
ſetzung mit Deutfchland, die es mit feinem 
alten Inſtinkt herbeizuführen trachtet, bevor 
der neue Rivale zu ſtark geworden iſt; ſpiegelt 
die beſorgte Enttäuſchung Eng lands 
über Deutſchlands Zurückweichen ge- 
legentlich der franzöſiſchen Marokko-Her⸗ 
ausforderung, beleuchtet ſeine wachſende 
Befürchtung, daß Deutfchland dem von 


Auf der Warte 


England erſtrebten gewaltſamen Entfchei- 
dungstampf überhaupt ausweichen wolle. 
„Ja bringt ein glücklicher Stern, der 
dem Löwen faſt immer geleuchtet hat, den 
Fürſten Lichnowſkp als deutſchen Bot- 
ſchaftet nach London“ und ſchafft damit 
nach Shaws Zeugnis die Vorausſetzungen, 
um Englands zielbewußte Pläne doch noch 
techtzeitig durchzuſetzen, indem man „Deutfch- 
land einreden könnte, daß der Löwe plötzlich 
don Liebe zu ihm entbrannt iſt, daß er 
unter die Pazifiſten gegangen iſt und nicht 
kãmpfen will“. Mit boshaft behäbigem 
gumor entwickelt Shaw, wie der deutſche 
Botſchafter in London, „ein ſcharmanter 
Mann mit einer ſehr ſcharmanten Frau“, 
unter geſchickter Behandlung Greys „täglich 
feſter wurde in ſeiner Aberzeugung, daß das 
Löwenherz ſich von Grund auf gewandelt hat, 
und daß der Löwe allgemach wirklich und 
richtig freundlich wurde. Grey hielt Lich- 
nowſky vielleicht für einen Toren, war aber 
deshalb nicht weniger nett zu ihm.“ Ihm 
zur Seite tritt Asquith, „der unter fpiegel- 
glatter, leuchtender Oberfläche uralte engliſche 
Tiefgründigkeit verbirgt, und in dem etwas 
von des Löwen Verſchlagenheit ſtecken könnte, 
ohne die ſpiegelglatte Oberflache zu trüben“. 
Und ihrer Verſchleierungs- und Zäufchungs- 
politik gelingt es, Deutſchlands beim Marokko⸗ 
handel erwachten Argwohn wieder einzu- 
ſchläfern. „Endlich, endlich überzeugten fie 
Deutſchland“ von Großbritanniens fo gut ge- 
ſpielter Harmloſigkeit. Unterdes aber „kauert 
der Löwe zum Sprung. Faſt noch ehe er 
ganz fertig iſt, läßt der Teufel von günftigem 
Seſchick den Erzherzog von Mörderhand fallen, 
ud Öfterreich ſieht Serbien endlich in feiner 
gend. Oſterreich ftürzt ſich auf Serbien, Ruß- 
land auf Oſterreich, Deutſchland auf Frank- 
teich; und nun endlich ſtürzt ſich auch 
der Löwe mit mächtigem Gebrüll auf 
ſeine Beute und gräbt im Nu ſeine Fänge 
und Pranken in den Leib ſeines Rivalen. 
Nicht für alle Pazifiſten und Sozialiſten der 
Belt läßt er den jetzt wieder los, bis er ſelbſt 
entweder tot am Boden liegt oder aber wie; 
der auf ſeinem Piedeſtal von Vaterloo.“ 
* 


89 


Eine zeitgemäße Erinnerung 


friſcht die „Deutſche Zeitung“ auf: 

Die Denkſchrift des Fürſten Lichnowfky 
und die des gleichgearteten „Pazlfiften“ 
Lammaſch an Kaiſer Karl wecken die Er- 
innerungen an einen Bund, in dem ſich im 
November 1914 wahlverwandte Geiſter zu- 
ſammenfanden, um im Sinne beſagter Denk- 
ſchriften zu wirken. Der Bund nannte ſich 
„Neues Vaterland“. Sein Vorſitzender 
war Rittmeiſter a. D. Kurt von Tepper-Laski. 
Kurz gefaßt lautete das Programm dieſes 
Bundes: „Verſtändigungsfriede“. Nach 
ſeinen Satzungen beabſichtigte der Bund „die 
direkte und indirekte Förderung aller Be- 
ſtrebungen, die geeignet ſind, die Politik und 
Diplomatie der europäiſchen Staaten mit 
dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs 
und des überſtaatlichen Zufammen- 
ſchluſſes zu erfüllen, um eine politiſche und 
wirtſchaftliche Verſtändigung zwiſchen den 
Kulturvölkern herbeizuführen“. Oer neue 
Bund verfügt über Schweſterorganiſationen 
in ganz Europa, ſelbſt in England. 

Aus der Reihe der Mitarbeiter, Ge- 
ſinnungsgenoſſen, Gönner und Freunde heben 
wir nur die folgenden Namen heraus: 
Lammaſch, Botſchafter a. D. Graf Anton 
von Monts, Geſandter a. D. Wirkl. Geheim- 
rat Graf von Leyden, Geheimrat Arnhold- 
Dresden, Hans Delbrück, Kurt Eisner, 
Helmut von Gerlach, Quidde. 

Selbſtverſtändlich bildete einen Haupt- 
punkt der Beſtrebungen dieſes Bundes die Be- 
kämpfung der Alldeutſchen. Die Berliner 
Geſchäftsſtelle hatte ſich zur Sonder- 
aufg abe den Vertrieb von Leitartikeln 
des Berliner Tageblatts gemacht, die 
von Freunden des Bundes wie dem Grafen 
von Monts und dem Fürſten Lichnowſky 
verfaßt waren. ö 

Selbſt der Bethmannſchen Regierung 
ſcheinen die internationalen Machenſchaften 
des Bundes „Neues Vaterland“ bedenklich 
oder gefährlich vorgekommen zu fein. Jeden 
falls wurde die Berliner Geſchäftsſtelle in 
der Tauentzienſtraße eines Tages geſchloſſen 
und ihre jüͤdiſche Vorſteherin verhaftet. 


90 


Im großen wiedererſtanden iſt das „Neue 
Vaterland“ in Geſtalt der Reichstagsmehrheit 
von Erzberger bis Scheidemann, die auch ihr 
Schlagwort „Verſtändigungsfriede“ dem ge- 
nannten Bunde entlehnt und wieder in Be- 
trieb geſetzt hat. | 


* 


„Als Macht zu Macht!“ 


er Pole Dr. Seyda, hatte im Preußi- 

ſchen Abgeordnetenhauſe eine Rede 
mit den Worten geſchloſſen: „Wir werden 
den mit der Ukraine abgeſchloſſenen 
Friedensvertrag niemals als Recht 
anerkennen!“ Die großpolniſchen Wünſche, 
wie fie im Verein mit der auſtro-polniſchen 
Löſung der Frage folange keuſch im Buſen 
verborgen geweſen waren, erblickten damit 
amtlich das Licht der Welt. Die Polen, ſchrei- 
ben die „Alldeutſchen Blätter“, träumen von 
einem Großpolen, das Galizien und das 
Cholmgebiet umfaßt, das möglichft weit nach 
Oſten reicht, zu dem Litauen ebenſo gehört 
wie Poſen und Weſtpreußen. Ein ſolcher 
Traum könnte Wirklichkeit werden, wenn das 
polniſche Volk im Laufe der Geſchichte einiger 
Jahrhunderte etliche Schlachten bei Tannen 
berg gegen Rußland, gegen Öfterreih und 
gegen das Deutſche Reich gewonnen hätte. 
Aber fo? Die Herren Polen verlieren den 
Boden unter den Füßen und ſchweben in 
einer ſeltſamen Welt der Vorſtellung! Dr. 
Seydas Rede öffnete nun manchen denn doch 
die Augen; der Mann war zu ſehr aus der 
Rolle gefallen. Und nun geſchah etwas ganz 
Merkwürdiges. 

Drei edle Polen kommen unter Führung 
des Grafen Ronikier nach Berlin und verhan- 
deln über die polniſche Frage nicht etwa mit 
der Regierung, nein, mit den Vertretern 
des Hauptausſchuſſes des Reichstages, 
der verfaſſungsgemäß zu Verhandlungen mit 
Vertretern einer auswärtigen Macht — das 
iſt das noch nicht ganz geborene „Königreich“ 
Polen — gar nicht befugt iſt. Die Heim- 
leuchtung im Preußiſchen Abgeordnetenhauſe 
hat den Herren Polen Angſt gemacht, und 
ſie verlegen ſich aufs Verhandeln. Edel und 
großmuͤtig, wie Polen nun einmal find, er- 


Auf der Warte 


klären fie ſich bereit, die bisherige polniſch⸗ 
preußiſche Grenze anzuerkennen. Man höre 
und ſtaune! Die Herren in Varſchau er- 
kennen die preußiſche Grenze an. Das iſt 
nett von den Leuten, wirklich nett. Aus 
Dankbarkeit ſollten wir ihnen das Cholm- 
gebiet und Land im Oſten bewilligen. Die 
ernſte, bitter ernſte Seite dieſer Angelegen- 
heit liegt in der einſeitigen Verſchiebung 
der verfaſſungsmäßigen Grundlagen 
des Deutſchen Reichs. Die von uns be- 
freiten Polen wenden ſich nicht an die deutſche 
Regierung, nicht einmal an den Reichstag, 
ſondern an die Reichstagsmehrheit, in 
Wahrheit an einige Führer der Parteien, 
die zufällig die Mehrheit beſitzen, und 
verhandeln als Macht zu Macht. 

So wie es für uns keine elſaß lothringiſche 
Frage“ gibt, fo auch keine polniſche Frage“ in 
bezug auf unſere öſtlichen Grenzen, die keiner- 
lei, Anerkennung“ von außen her bedürfen, die 
vielmehr wir, die Sieger, völlig frei nach unfe- 
ren Belangen und ohne irgend jemand dafür 
Entgelt“ ſchuldig zu fein, zu geſtalten nicht nur 
das Recht, ſondern auch die Pflicht haben. 
Sich dieſer Pflicht zu erinnern, ſich endlich 
einmal zu entſinnen, daß doch auch das 
deutſche Volk ein ‚Selbſtbeſtimmungs- 
recht“ habe, in das der großmuͤtige polniſche 
Vorſchlag der „Anerkennung“ der bisherigen 
Grenze aufs gröblichſte eingreife, wäre übri- 
gens Aufgabe der Herren Erzberger, 
Scheidemann, Naumann uſw. geweſen, 
als ihnen die Polen ihre gnädige Geneigtheit 
zu Verhandlungen kundgaben. 


Belgiens künftige Bündniſſe 


Noc wie vor machen die Engländer kein 
Hehl, wie fie ſich ſpäter das Verhält- 
nis von Belgien denken. Gewöhnt an den 
Erfolg einer pharifäifhen Politik, find fie 
durch dieſen auch verwöhnt worden, was ſie 
gleichgültiger macht und oft aus der Rolle 
fallen läßt. So ereifert ſich, was Reuter vom 
6. März zu verbreiten für richtig hält, der 
„Daily Chronicle“ über die letztvorliegende 
Rede des Grafen Hertling auch noch bei der 
Deutung, daß ſie die beabſichtigte Herſtellung 


Auf der Warte 


der belgiſchen Neutralität enthalte. Wie, 
man „will Belgien verhindern, feine gegen- 
wärtigen Bündnisbeziehungen weiter zu 
pflegen?“ „Das ſchuldige Deutſchland will 
ſeinem Opfer neuerdings vorſchreiben, es 
dürfe keine Schutzbündniſſe abſchließen!“ 
Gut alſo, zwiſchen uns ſei Wahrheit! 
England hat feine weitgehenden militäri- 
ſchen Pläne als belgiſcher Schutzherr längſt 
früher verlauten laſſen; hier aber wird die 
Wiederkehr jener „Neutralitäts“ Auffaſſung 
offen ausgeplaudert, wie ſie vor 1914 für 
England beſtand und ihm gegen Deutſchland 
dienen ſollte. Es iſt nicht anders, als wie es 
der klarblickende, noch mehr klarfühlende 
E. M. Arndt, unſer treueſter Volksmann, ſah. 
Um dieſen Schlüſſelpunkt der europäiſchen 
Schickſale wird von Deutſchland und England 
„in ewigen Zeiten geſtritten werden müſſen“, 
ſolange nicht eines der beiden das anerkannt 
erſtrittene Ergebnis ſichert. Aber die Volks- 
weiſen und Friedensanbahner jetziger Tage 
wollen ſtets erneut erſt durch Blut und Eiſen 
widerlegt — oft auch dann noch nicht be- 
lehrt — werden. ed. h. 


„Die Mehrheit dieſes Hauſes“ 


konnte in gewiſſen Fragen gar nicht fchärfer, 
dabei fachlicher gekennzeichnet werden, als 
durch den einen Satz des Abgeordneten 
Dr. Streſemann in der Reichstagsſitzung 
vom 19. März: 

„Den Grafen Ronikier und den Prin- 
zen Radziwill zwar erkennt die Mehrheit 
dieſes Hauſes als Vertreter des polniſchen 
Volkes an; baltiſche Barone aber follen 
unter keinen Umftänden als Vertreter des 
Baltentums gelten.“ 

Iſt es der verehrlichen „Mehrheit“ denn 
gar nicht möglich, nur fo viel Selbftüber- 
windung aufzubringen, daß ſie ſich nicht 
immer wieder durch das naive Bekenntnis 
ihrer Unwiſſenheit bloßſtellt? Wenn fie nur 
eine Ahnung hätte, wieviel mehr Letten und 
Eſten im Verhältnis hinter den „baltiſchen 
Baronen“ ſtehen, als polniſches Land volk 
hinter ihren polniſchen „Baronen“, dann 
würde dieſer „Mehrheit“ wohl ein Schimmer 


91 


aufgehen, wie unberufen ſie ſich jedem Kenner 
der tatſächlichen Zuſtände darſtellt. 

Es gibt wohl kaum ein Land, wo ſolche 
ſklaviſche Unterwürfigkeit des armen 
Volkes vor ſeinen Magnaten herrſcht, wie 
gerade in Polen. Das wird ſchon jeder Feld- 
graue, der dort nur hineingerochen und etwas 
Blick hat, bezeugen können. 

Vielleicht der größte Fehler unſerer preußi- 
ſchen Polenpolitik war ja der, daß wir die 
polniſchen Magnaten auf Koſten des ein- 
fachen polniſchen Volkes verhätſchelten, das 
von uns Gerechtigkeit und Schutz gegen ſeine 
„Erbherren“ erwartete. Der polniſche Land⸗ 
arbeiter war oft froh, wenn er von ſeinem 
polniſchen Herrn loskam und bei einem deut- 
ſchen Beſitzer ankommen konnte. Ließ auch 
bei dem manches zu wünfchen übrig, fo fühlte 
er ſich doch vor der ärgiten Willkür geborgen. 
— gest iſt es wahrſcheinlich zu ſpãt! 

Damit will ich durchaus nicht den polni- 
ſchen Adel als ſolchen angreifen — ich ſelbſt 
habe prächtige Menſchen unter ihnen gekannt. 
Aber im allgemeinen lagen die Verhältniſſe 
doch nun einmal ſo. Darum hat man ſich 
früher nicht gekümmert, und daran trägt 
natürlich auch die heutige „Mehrheit“ keine 
Schuld. Um ſo vorſichtiger ſollte ſie mit der 
Verausgabung ihrer ungetrübten, aber apo- 
diktiſchen Weistümer umgehen. 

Lieſt man dann noch die Ergüſſe gewiſſer 
Zeitungen und Redner über die baltiſchen 
Provinzen, Litauen, Weißrußland uſw., dann 
wundert ſich der Laie und ſtaunt der Fach- 
mann. Zſt er romantiſch veranlagt, glaubt 
er ſich in ein Märchenland verſetzt; geht ihm 
dieſe Gabe ab, feiert ſein Humor Orgien. 
War doch ſogar in einem führenden Berliner 
Blatte von einem „kuriſchen Volke“ als Be- 
völkerung Kurlands die Rede! 

Der Reichstag könnte nichts Beſſeres tun, 
als den anerkannt verfaffungsgemäßen Ver- 
tretern dieſer Länder die Entſcheidung zu 
überlaffen, wo fie der Schuh drückt und was 
ſie brauchen. Denn leider bilden die Mit- 
glieder des Reichstages, die, wie der Ab- 
geordnete Streſemann den Kern der Sache 
(wie vor allem die Unteilbarkeit Balten- 
lands und die Notwendigkeit enger An- 


92 


gliederung Litauens) erfaßt haben, nicht die 
„Mehrheit dieſes Hauſes“. Gr. 


Jedem das Seine 


Ale Rußland, deſſen Mitſchuld am Welt- 
kriege nur allzu gern über der Englands 
vergeſſen wird. Man leſe („Kreuzzeitung“ 
Nr. 149): 

Im Oktober 1909 entwickelte der Fürſt 
Swjätopolk Mirski in der Petersburger 
Wjedomoſti, dem von der Regierung fub- 
ventionierten Blatte des Fürſten Uchtomski, 
einen Plan zur Zertrümmerung Oeutſch- 
lands. Der Artikel beginnt mit der Erllä- 
rung, Rußland brauche einen Krieg „zur Er- 
friſchung der ſittlichen Atmoſphäre“. Jetzt 


fehle es an Mut und Ruhe zur Arbeit, weil 


die Lage unſicher ſei. Es fehle aber auch an 
Geld zu Agrarreformen. Deutſchlands 
Zertrümmerung „iſt für uns notwen- 
dig, ſowohl materiell, wie als ſittliche 
Forderung, und dabei wird uns Frankreich 
helfen“. Betreffs Englands iſt der Fürſt 
allerdings nicht ohne Sorge, kennzeichnet da- 
bei aber das Wefen der engliſchen Politik ganz 
zutreffend. ... Fürſt Swjäãtopolk Mirski rech- 
net deshalb nach dem Siege über Deutfchland 
mit einem Kriege mit England und Japan. 
Aber davor dürfe man nicht zurückſchrecken. 
Denn „ein Sieg über Oeutſchland ohne be- 
deutenden praktiſchen Gewinn, der nichts als 
unbezahlte Schulden einbringt, hat für uns 
keinen Wert. Nur die völlige Zertrümme- 
rung der deutſchen Macht wird es uns 
möglich machen, die Hunderte von Millionen 
zum Nutzen des Landes zu verwenden, die 
alljährlich für unſere Verteidigung und Be- 
waffnung ausgegeben werden.“ 
At 


Tirpitz 


ie freiſinnige „Voſſiſche Zeitung“ iſt ge- 

recht genug, folgenden Ausfuhrungen 

des Geheimen Regierungsrates Flamm Raum 
zu geben: 

„Der bisherige Staatsſekretär des Reichs 

marineamts, v. Tirpitz, hat bei all ſeinen 

Bauten, all ſeinen Maßnahmen, all ſeinen 


Auf der Warte 


Entſcheidungen ſtets den Gedanken verfolgt, 
daß ſie gegen England gerichtet ſein müßten 
und daß neben der Hochſeeflotte nur 
ein Fern-U- Boot in Betracht kommen 
könne, und es muß ebenſo klar ausgeſprochen 
werden, daß zwar die Entwicklung einer der 
artigen Waffe äußerſt ſchwierig war, daß 
aber, als der Krieg begann, keine Nation 
der Welt über derartig leiftungsfähige 
Anterſeeboote verfügte wie unſere 
Marine. Daß dann unter dem gewaltigen 
Druck des Krieges dieſe Waffe, ſowohl der 
Schiffskörper wie die Maſchinenanlage, außer- 
ordentlich vervollkommnet wurde, iſt begreif- 
lich, und deshalb ſtehen wir heute unmittel- 
bar vor dem durchſchlagenden Erfolg Eng land 
gegenüber. 

Wenn heute unſere Marine, ſowohl durch 
die Hochſeeflotte wie durch ihre unerreichten 
U-Boote, weſentlich zur Niederkämpfung 
unſeres ſchlimmſten Feindes, Englands, bei- 
trägt, jo erſcheint es nicht berechtigt, heute 
dem Mann Vorwürfe zu machen, dem 
wir überhaupt unſere Seemacht ver- 
danken; wer die techniſchen Vorgänge kennt, 
wer weiß, daß es unſinnig geweſen wäre, 
gerade England gegenüber, auf Koſten der 
Linienſchiffe und Kreuzer Unterjee- 
boote zu bauen, die vor 1914 techniſch 
nicht genügend ausgebildet waren und 
zu der beabſichtigten Waffe des Fernbootes 
entwickelt werden konnten, der wird ſicherlich 
unſere Marine und ihre Leitung anerkennen 
und ihnen Dank entgegenbringen. Eines aber 
ſollen wir niemals vergeſſen: Kein Mann 
iſt in England ſo gehaßt und gefürchtet 
wie Tirpitz, und deshalb gerade iſt er 
für uns der wertvollſten einer!“ 


Von Northcliffe zu Lammaſch 


ie die Tagesblätter mitteilten, iſt Lord 

Northcliffe zum Chef der engliſchen 
Propagandatätigkeit im feindlichen und neu- 
tralen Auslande ernannt worden. Nach allem, 
was bisher von dem edlen Lord bekannt ge- 
worden iſt, darf man nicht zweifeln, daß er 
ſich ſeiner Aufgabe eifrig annehmen und ſie, 
ſoweit die Umſtände geſtatten, vortrefflich 


Auf der Varte 


löfen wird. Daß die Umſtände aber für ihn 
günftig find, dafür bietet faſt jeder neue Tag 
Beftätigung. Insbeſondere in Oſterreich ſieht 
man eine Bewegung am Werke, die nicht 
anders arbeiten könnte, wenn fie Northeliffe 
ſelbſt in die Wege geleitet hätte. Damit ſoll 
nicht geſagt ſein, daß alles, was jetzt ſchon am 
Donauſtrande an Verhetzung geleiſtet wird, 
mit dem unverhüllten Beſtreben, zwiſchen die 
beiden eng verbündeten Mittelmächte einen 
Keil zu ſchieben und damit die Geſchäfte der 
Gegenſeite zu beſorgen, etwa auf mittelbare 
oder unmittelbare engliſche Anſtiftung zurück 
geht, jedenfalls aber läuft es parallel mit den 
engliſchen Beſtrebungen. Im zweiten März- 
hefte des Türmers wurde bereits ein be- 
achtenswerter Brief des Nobel preisträgers 
A. H. Fried an einen Wiener Großhändler 
und Großinduſtriellen (Rommerzialrat Zulius 
Meinl) mitgeteilt, der einen Einblick in die 
Machenſchaften unſerer Pazifiſten geſtattete. 
Noch weit wirkungsvoller geſtaltete ſich das 
jüngſte Auftreten des pazifiſtiſch-klerikalen 
Mitgliedes des öſterreichiſchen Herrenhauſes 
Dr. Heinrich Lammaſch, einftigen Pro- 
feſſors der Rechtsfakultät der Wiener Uni- 
verſität und k. k. Hofrates. In einer Rede, 
mit der er den gut deutſchen Ausführungen 
des Geheimen Rates Dr. Pattai entgegen- 
trat, behauptete der ſeinerzeitige Vertreter 
Öfterreihs bei den Haager Schiedsgerichts 


beratungen, Oſterreich- Ungarn fei nicht ver- 


pflichtet, dem Oeutſchen Reiche weiterhin 
Bundeshilfe zu leiſten, wenn das Reichs land 
Elſaß- Lothringen nicht diejenige Verfaſſung 
erhalte, die es nach Anſicht der Ententemächte 
haben müſſe. Erregte ſchon dieſe ebenſoſehr 
der Logik wie der Loyalität entbehrende 
Kundgebung des Intimus Friedrich Wilhelm 
Foerſters einen Sturm der Entrüftung in 
den deutſchgeſinnten Kreiſen Oſterreichs, fo 
war es vollends vernichtend für Lammaſch, 
als der hochangeſehene öſterreichiſche Hifto- 
riker Heinrich Fried jung, zuerſt in der 
Berliner „Voſſiſchen Zeitung“, dann, als 
Antwort auf die von Lammaſch unternomme- 
nen Ableugnungsverſuche, in Wiener Blät- 
tern mit vollſter Beſtimmtheit gegen dieſen 
die Beſchuldigung ausſprach, daß er eine 


95 


Denkſchrift ausgearbeitet und an allerhöchſter 
Stelle eingereicht habe, in der er den Rat 
erteilt, das Bündnis mit dem Deutſchen 
Re iche, weil es ein Hindernis des 
dauernden Friedens ſei, nach dem 
Kriege zu kündigen und dies jetzt ſchon, 
alſo während des Krieges, ſowohl der 
Regierung des Deutſchen Reiches wie 
den Regierungen der gegen die Mittel- 
mächte verbündeten Staaten mitzu- 
teilen. Beſſer konnte allerdings Herr Hof⸗ 
rat Lammaſch Lord Northeliffe nicht in 
die Hände arbeiten. Daß dieſer ſeinerſeits 
auch nicht müßig iſt, erhellt aus der Tatſache, 
daß ſeit einiger Zeit in Oſterreich die wildeſten 
Gerüchte auftauchen, die handgreiflich made 
in England find und alle den Zweck ver 
folgen, den weiteren Widerſtand der Mittel- 
mächte als ausſichtslos erſcheinen zu laſſen. 
So wird z. B. erzählt, die Franzoſen feien 
bereits in Bayern (I) eingefallen. Die Albern- 
heit dieſer Erfindung ſtimmt nur zu gut über- 
ein mit den bekannten geographiſchen Kennt- 
niſſen in den Ländern der Entente. Daß der 
Ausgangspunkt aller derartigen Tataren- 
nachrichten, wie das öſterreichiſche Kriegs- 
preſſequartier amtlich feſtſtellt, Prag iſt, 
von wo aus offenkundig niemals ab- 
geriſſene Fäden nach London und 
Paris laufen, ift nicht minder kennzeich⸗ 
nend für die politiſchen Verhältniſſe Öfter- 
reichs, wo Hochverrat faſt ſchon nackt auf 
allen Gaſſen läuft. —id— 
* 


Blutsbewußtſein 


Doch die Blätter geht die Mitteilung, daß 
am 15. März der Reichskanzler die Vor- 
ſtandsmitglieder der neugegründeten „Ver- 
einigung jüdifher Organiſationen Deutſch⸗ 
lands zur Wahrung der Rechte der Juden des 
Oſtens“ empfangen habe. Die Abordnung 
trug ihm die Wünſche der deutſchen Juden 
wegen einer Regelung der rumäniſchen 
Zudenftage im Zuſammenhang mit den 
Friedens verhandlungen in Bukareſt vor. Die 
Kaiſerliche Regierung verſicherte, daß ſie an 
einer befriedigenden Regelung der Zuden- 
frage Intereſſe nehme und ſie bereits zum 


94 


Gegenſtande von Beſprechungen im Rahmen 
der Friedensverhandlungen gemacht habe. 
Ich habe ſeither aufmerkſam unſere ganze 
linksſtehende Preſſe, auch die ſogenannte 
jüdifche, genau daraufhin verfolgt, ob fie nicht 
lebhaften Einſpruch gegen dieſes Vorgehen 


der „Vereinigung jüdiſcher Organiſationen 


Deutſchlands“ erheben würde. Da die Herr- 
ſchaften ja immer von der Gleichberechtigung 
aller Deutſchen ſprechen, war ein ſolcher 
Einſpruch unbedingt zu erwarten. Zunächſt 
ſchon gegen dieſe „Vereinigung jüdiſcher 
Organiſationen Deutſchlands zur Wahrung 
der Rechte der Juden des Oſtens“ an und für 
ſich. Die in dieſen jüdiſchen Organiſationen 
ſtehenden Juden behaupten doch, deutſche 
Staatsbürger zu ſein. Wie kommen ſie dazu, 
ſich um die Rechte der Staatsbürger eines 
anderen Staates zu kümmern? D. h. nur 
von ihrem ſonſt behaupteten Standpunkte 
aus, auf dem ſie, wenn wir andern deutſchen 
Staatsbürger nichtjũüdiſchen Blutes uns zu- 
ſammentun und um Wahrung der Rechte 
von deutſchen Staatsbürgern in anderen 
Staaten bei unſerer Regierung vorſtellig 
werden, ſofort Zeter und Mordio ſchreien. 
Dann heißt es, wir miſchten uns in fremde 
Angelegenheiten ein, was auf keinen Fall ge- 
ſchehen dürfe. Herr Scheidemann höhnt z. B., 
die Deutſchen in den baltiſchen Provinzen 
machten ja bloß 7½ aus, und gar Herr 
Cohn, die leuchtende Vertretung Nord- 
hauſens, begeifert den verzweifelten Not- 
ſchrei dieſer deutſchen Brüder als lügneriſche 
Mache. Wo bleibt denn jetzt Herr Scheide 
mann, da ja die Juden in Rumänien nur 5 % 
der Bevölkerung ausmachen? Wo bleibt gar 
Herr Cohn, deſſen oberſter Grundſatz doch iſt, 
daß jeder Staat ſeine Angelegenheiten für 
ſich abzumachen habe? Und mit welchem 
Rechte verlangen die Juden als Juden, daß 
Oeutſchland ſich für die Juden in Rumänien 
einſetze? Entweder find die Juden in Deutſch⸗ 
land Deutſche und die Juden in Rumänien 
Rumänen, — dann geht Deutſchland die 
Frage nichts an. Keinesfalls können fie für 
ihre Raſſegenoſſen von Deutſchland mehr ver- 
langen, als dieſes für die deutſchen Söhne 
außerhalb ſeiner Grenzen tut. Oder aber die 


Auf der Warte 


Juden in Deutſchland bekennen, wie es hier 
eigentlich der Fall iſt, daß ſie ein fremder Teil 
in unſerm Volkskörper find, der ſich eins fühlt 
mit den ihm bluts verwandten Teilen auch 
der uns feindlichen Völker. Dann iſt es erſt 
recht ein merkwürdiges Verlangen, daß 
Deutſchland da eingreifen ſoll. 

Ich möchte nicht mißverſtanden werden. 
Von ihrem Standpunkte aus haben die Juden 
allemal recht, und ich bewundere ſie, daß ſie 
ihr Blut nicht verleugnen und für ihre Bluts- 
verwandten mit aller Kraft eintreten, wo 
dieſe auch ſind. Eins aber darf ich dringend 
wünfchen: daß auch wir Deutſchen endlich ein 
derart ſtarkes Blutsbewußtſein betãtigen, und 
ein anderes muß man von den Juden und 
ihrer Preſſe in Zukunft verlangen: daß ſie 
nämlich jenen Deutfchen, die über dieſes Raſſe⸗ 
bewußtſein verfügen, nicht mehr in die Parade 
fahren, wenn ſie es in einer ähnlich kräftigen 
Weiſe betätigen, wie es die Juden für ihres 
gleichen als ihr ſelbſtverſtändliches Recht in 
Anſpruch nehmen. K. St. 


* 


Glückliches Oſterreich! 


er Türmer brachte (Heft 12, S. 698: 
„Eine ſonderbare Rechnung“) kritiſche 
Mitteilungen über die Verteilung der aus 
Rumänien ausgeführten Getreidebeftände 
zwiſchen Sſterreich-Angarn und dem Deut- 
ſchen Reiche. Als Ergänzung hierzu ſtellt ſich 
eine Kritik der Verteilung der aus der Ukraine 
auszuführenden Getreidemengen im „Ber- 
liner Korſo“ dar: „Der Friedensſchluß mit 
der Ukraine belebte in Deutfchland einige 
Hoffnungen, daß durch Zufuhren aus dieſem 
gelobten Land ſich unſere Ernährungs verhält 
niſſe etwas beſſern würden. Kundige wußten 
zwar hier von vornherein Beſcheid und krächz- 
ten alte Rabenweisheit. Den naiveren Ge- 
mütern aber ſchwamm ein Fell nach dem 
anderen weg. Sie laſen zuerſt in einer offizis- 
fen Verlautbarung am 9. März: „Immer wie 
der muß darauf verwieſen werden, daß der 
Abtransport ganz außerordentlichen Schwierig- 
keiten begegnet, jo daß ſicher noch einige Mo- 
nate vergehen werden, bevor die erſten Sen- 
dungen in Deutſchland eintreffen können 


Auf der Warte 


zu berückſichtigen iſt ferner, daß die 
Emährungsverhältniffe in Sſterreich 
bedingen, daß in erſter Linie Sendungen 
dorthin gehen.“ — Am 12. März lauteten 
die Mtteilungen ſchon klarer; die „Kölniſche 
gätung‘ war es, der aus Berlin (woher 
wohl) gemeldet wurde: ‚Die Art der Ver- 
tellung der aus der Ukraine zu erwartenden 
Gelteerorräte zwiſchen Deutſchland und 
Semi- Angarn iſt nunmehr dahin feſt⸗ 
gegeht, daz bis zum 31. Zuli Deutfchland und 
Öenig-Ungaen gleichviel erhalten, und 
ddat wird in der erſten Hälfte dieſes Ab- 
ſchnits (fo April-⸗Mai) Oſterre ich doppelt 
ſo vlel beziehen wie Oeutſchland, wäh- 
und danach bis zum 31. Juli die Verteilung 
ungekehrt erfolgt, fo daß alſo dann Deutſch⸗ 
Imd die doppelte Menge erhält.“ — Voraus- 
Kung für dieſe Verteilung iſt natürlich, daß 
man vor Beginn der Abtransporte die ver- 
fibre Ge ſamtexportmenge genau über- 
hen kann. Auf alle Fälle kann Öfterreich- 
pam Ende Mai nach Empfang von zwei 
Niltel des Exports der Ukraine fagen: ‚Hat, 
hal, während wir erſt abwarten müf- 
ſen vas Zuni-Fuli für Seutſchland de 
facto uͤbrigg eblieben iſt. Aber dieſe Hal- 
erung der Exportmengen aus der Ukraine 
berührt an ſich ſchon peinlich, da hier ein 
Llebzigmillionenvolk nur ebenſoviel 
hält wie ein Fünfzigmillionenvolk, 
wobei man ja kaum behaupten kann, daß 
Oſertelch⸗Angarn zur Erreichung des Ukraine; 
edens militäriſch mehr geleiftet hätte als 
deutschland, fo daß ſich aus dieſen Motiven 
85 Bevorzugung ableiten laſſen könnte. 
de ö. mit den Getreideanleihen ſteht, 
11 ſterreich-Angarn bei Oeutſchland 
’ Pig: Halbjahr gemacht hat, ſoll hier un- 
5 % bleiben; nicht unweſentlich aber ift 
En 5 Deutſchland in Friedenszeiten er- 
e auf die Einfuhr von Brotgetreide 
8 war, während die verbündete 
nien tie lich bekanntlich in dieſen Erzeug- 
5 eine Ausfuhr leiſten konnte. 
Gene 55 die Ernährungsverhältniſſe in 
nie do eoingent, daß Sendungen in erſter 
$eteliten = Sehen‘, wenn alſo dort im beſſer 
die in d nde größeres Bedürfn s herrſcht, 
em ſchlechter geſtellten, fo iſt b ieſe Tat- 


95 


ſache eben nur dadurch zu erklären, daß man 
ſich in Sſterreich- Angarn nicht an- 
nähernd ſo nach der Decke ſtreckt wie 
in Deutſchland und es ſich erfolgreich 
leiſten zu können glaubt, beſſer zu leben als 
bei uns. Mit dieſer Anſchauung ſtimmt ja 
auch die Tatſache überein, daß man in 
Deutſchland wegen Hafermangels den Be- 
ginn der Rennzeit von Mitte März auf Mai 
hinausſchiebt, während man in Oſterreich 
prompt wie in Friedenszeiten die Pferde- 
rennen in Alag am 31. März und in Wien 
am 14. April beginnen läßt! Nach der mora- 
liſchen Backpfeife, die uns die Offenherzig- 
keit des Fremdenblattes“ in Sachen Bülow- 
Kühlmann Mitte Januar verſetzte, wird jeder 
Verſtändige dieſe Deutfchland zugedachte Rolle 
des Hungerkünſtlers nur angemeſſen finden.“ 

Aus den Mitteilungen des Türmers ging 
hervor, daß Sſterreich- ungarn aus dem 
rumäniſchen Export 126000 Tonnen mehr 
anſtatt in Anbetracht und im Verhältnis der 
kleineren Bevölkerungszahl 231000 Tonnen 
weniger erhalten hat, was alſo ein Plus 
von 357000 Tonnen zugunſten von 
Öfterreih-Ungarn ergibt. Was dieſe 
357000 Tonnen für Deutſchland be- 
deuten, mag, wie das „Kleine Journal“ 
treffend bemerkt, auch daraus hervorgehen, 
was der holländ iſche Miniſter des Auße- 
ren am 18. März in der Kammer erklärte; 
er habe ſich, ſo erklärte er, an Deutſchland 
mit der Anfrage gewandt, ob Holland von 
Deutſchland innerhalb zweler Monate 
100000 Tonnen Getreide erhalten 
könne. Deutſchland habe erklärt, dazu nicht 
in der Lage zu ſein, weil die Bedürfniſſe 
von Oeutſchlands Bundesgenoſſen zuerſt ge- 
deckt werden müßten. Deshalb habe Holland 
der Forderung der Entente willfahren müſſen. 
Alſo ein gutes Viertel von dem, was 
Oſterreich- Ang arn aus Rumänien allein 
zuviel zugeteilt bekommen hat, hätte 
genügt, um die Vergewaltigung Hol- 
lands zu verhindern!! Was dies in mili- 
täriſcher Hinſicht, aber auch in feiner morali- 
ſchen Wirkung in Holland für Deutſchland 
bedeutet hätte, braucht nicht weiter aus- 
gefponnen zu werden. N 

* 


96 


Ach, wie ſparſam 


iſt unſere Königliche Oper! Nicht etwa bei 
den Tenorgehältern, in Kleidern und Aus- 
ſtattung. Bei alledem könnte man in der 
Kriegszeit manche Einſchränkung vertragen. 
Aber wer wird an dieſen großen Poſten knau- 
jern? Das ſchickt ſich nicht für ein königliches 
Theater. Nein, bei den Kleinigkeiten fängt 
man an. — Die Königliche Oper hat allen 
Muſikfreunden eine große Freude bereitet, 
indem ſie Liſzts „Legende von der heiligen 
Eliſabeth“ in einer guten Aufführung heraus- 
brachte. Nachdem das Befremden über die 
eigenartige Erſcheinung überwunden war, 
feſtigte ſich die Stellung des Werkes, und wir 
waren dabei, den Spielplan um ein edles 
Feſtwerk bereichert zu ſehen. Da mit einem 
Male verſchwindet die Legende vom Spiel- 
plan. Erſt freue ich mich, daß der Erfolg nicht 
jo raſch abgehetzt werden ſoll. Aber es ver- 
gehen Wochen, und es ſetzt ſich die Erklärung 
durch, das Werk ſei abgeſetzt, weil ein Nach- 


komme des Dichters Roquette Tantieme-An- 


ſprüche erhebe. Da Liſzt dreißig Jahre tot ift, 
ſind für die Muſik keine Anſprüche mehr zu- 
läſſig; aber vom Dichter her, von einem deut- 
ſchen Dichter her wären für jede Aufführung 
vielleicht zwei, drei vom Hundert abzugeben. 
Das vermag unſer Berliner Königliches 
Opernhaus nicht. Za, für des Franzoſen 
Thomas „Mignon“ wird freudig bezahlt. 
Auch als bei Bizets „Carmen“ derſelbe Fall 
eintrat, wie jetzt bei Lifzt-Roquette, erhob 
ſich kein Widerſpruch. Aber ein deutſcher 
Dichter?! Ja, das iſt was ganz anderes. 

4 K. St. 


„Berichtigung“ 


Ss Heft 10 brachten wir unter dem Titel 
„Auch ein ‚Ichwerinduftrielles‘ Blatt“ 
aus dem „Bafler Anzeiger“ eine Kritik der 
Verhandlungen von Breſt-Litowſk von über- 
legen - ſcharfer Verurteilung der ſchwächlichen 
Haltung der Vierbundsdelegierten. Da die 
reichsdeutſchen Blätter, die eine ähnliche 
Meinung vertraten, von gewiſſer Seite immer 


Auf der Warte 


als „von der Schwerinduſtrie gekauft“ ver- 
läſtert werden, wieſen wir ironiſch darauf 
hin, daß alſo offenbar auch das Schweizer 
Blatt „gekauft“ ſei. Die Fronie war fo greif- 
bar, daß es der Anführungszeichen gar nicht 
bedurft hätte, um ſie kenntlich zu machen. 
Aber dieſe „“ find obendrein ſorgfältig an- 
gebracht, denn — nebenbei bemerkt — wir 
glauben natüuͤrlich auch nicht daran, daß die 
„alldeutſche“ Preſſe gekauft iſt, erſt recht nicht, 
da es die Moſſe-Preſſe alle Tage behauptet. 

Aber — wie heißt's doch im „Fauſt“? — 
„Du mußt es dreimal ſagen.“ Wir erhalten 
vom „Bafler Anzeiger“ einen Brief, dem 
wir folgende Stelle entnehmen: „Wir zwei- 
feln keinen Augenblick daran, daß dieſe Auße⸗ 
rungen in ironiſchem Sinne gemeint waren, 
indem Sie damit andeuten wollen, daß 
andere dies von uns ſagen könnten, wie 
dies da oder dort bei Entwicklung ähnlicher 
Gebankengänge in Deutſchland geſchehen 
fein mag. Trotzdem müſſen wir Sie aber er- 
ſuchen, in Ihrer nächſten Nummer deutlich 
zu erklären, daß Sie eben fo geſchrieben hät- 
ten, weil Sie abſolut ſicher geweſen ſeien, 
daß der Bafler Anzeiger ein in jeder Hinſicht 
unabhängiges Organ ſei. Wir müſſen dieſe 
Mitteilung verlangen, weil die Faſſung Ihres 
Artikels zu Mißverftändniſſen immerhin An- 
laß geben kann, ſind wir doch auch tatſächlich 
aus Leſerkreiſen darauf aufmerkſam gemacht 
worden, daß die Nummer 10 des Türmers 
einen ſchweren Angriff gegen uns ent- 
halte.“ 

Wir geben dem „Bafler Anzeiger“ die ge- 
wünſchte Verſicherung gerne. Nur mit einer 
Einſchränkung: „ein in jeder Hinſicht un- 
abhängiges Organ“ iſt der Bafler Anzeiger 
nicht. Wir übrigene, wie dieſe „Berichtigung“ 
zeigt, auch nicht. Denn ſie iſt doch nur nötig, 
weil der „Bafler Anzeiger“ und auf dem um- 
wege über ihn auch wir von der — Begriffs- 
ſtutzigkeit einiger Leſer ſo abhängig ſind, daß 
wir den knappen Raum für eine „Berichti- 
gung“ verbrauchen müſſen, die keine iſt noch 
ſein kann, weil eben nichts zu „berichtigen“ 
war. D. T. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: J. E. Freiherr von Srotthuß Bildende Runſt und Muſik: Dr. Rarl Stord 
Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmerd, Zehlendorf ⸗Serlin (Wannſeebahn) 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


 STRAIHMANN. 


* 


* 


Karl Strathmann 


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2 


Beilage zum Türmer 


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TEEN 
Krransarber: J. C. Rreiherr von Grotthu 


VI. In.  Erften Maibeft 1818 Zen i 


_ Snglif-deutfe Freundſchaft? 2 
Von Otto Corbach 


8 ie Stimmung der engliſchen Gefangenen, hieß es kürzlich in den 
2, V P amtlichen Heeresberichten, habe ſich im Vergleich zu früheren Fahren 
>) ‚auffallend geändert: „Ihre hochmütige Haltung iſt verſchwunden, 
- eine bisher am Engländer ungewohnte Gedrücktheit und Unficher- 
beit tritt deutlich hervor. Die moraliſche Wirkung der Niederlage iſt ungeheuer. 


Zuſammen mit den ſchweren Verluſten an Blut und Material iſt dieſe Erſcheinung 


der größte Erfolg der ſiegreichen deutſchen Offenſive und folgenſchwerer als jeder 
engliſche Geländeverluſt.“ Wer mag die Richtigkeit dieſer Auffaſſung in Zweifel 
ziehen? Und ein ſolcher Stimmungsumſchwung vollzieht ſich im geſamten Angel- 
ſachſentum, auf den britiſchen Inſeln, in allen überſeeiſchen Beſitzungen Groß- 
britanniens, auch bei den Anglo-Amerikanern. Das moderne „auserwählte Volk“, 
das ſich kraft göttlicher Beſtimmung zur Beherrſchung der ganzen übrigen Welt 
berufen fühlte, iſt entehrt, entwürdigt, entheiligt, und zwar durch den entfcheiden- 
den Sieg eines Gegners, den man als Feind der Menfchheit, als die Verkörpe- 
rung alles Schlechten ſeit Jahren in aller Welt zu brandmarken ſuchte. 
Dabei handelt es ſich erſt um die Wirkung des Anfanges unſerer großen 
Offenſive; wie niederſchmetternd muß erſt ihr Endergebnis für das engliſche Selbſt⸗ 
bewußtſein ausfallen! Nichts bliebe zu tun übrig, als daß die Diplomatie das 


Werk unſerer großen Heerführer e indem ſie für die kommenden Friedens- 
Der Zürmer XX, 16 „ 


Y 


= 
. 


98 Corbach: Englifch-heutfche Freundſchaft? 


unterhandlungen die richtigen Folgerungen aus den kriegeriſchen Tatſachen zöge. 
Mit uns wären alle wachſenden, vorwärtsdrängenden Völker vom Alp der eng- 
liſchen Weltherrſchaft erlöſt. 

Leider muß man befürchten, daß eine der Grundvorausſetzungen für er- 
ſprießliche Friedensverhandlungen mit England bei uns vorläufig noch nicht vor⸗ 
liegt, nämlich die, daß der Geiſt, der unſer Auswärtiges Amt beſeelt, ein weient- 
lich anderer wäre als der, der die deutſche Außenpolitik vor dem Kriege beſeelte. 
Die Art und Weiſe, wie der frühere Staatsſekretär v. Jagow, offenbar nicht ohne 
Wiſſen und Billigung unſerer gegenwärtigen verantwortlichen Staatslenker, die 
Denkſchrift des Fürſten Lichnowfky teils „widerlegt“, teils ergänzt, muß in dieſer 
Beziehung argwöhniſch ſtimmen. Herr v. Jagow hat in feinen perſönlichen Be⸗ 
ziehungen zu England durch den Krieg nichts gelernt. Er ſteht ihm noch genau 
ſo vertrauensſelig gegenüber wie früher. Damals erſtrebte er eine „freundliche 
Haltung Englands zum Dreibunde“ und noch heute iſt er feſt überzeugt, daß ſich 
daraus ein „Friedensblock von unangreifbarer Feſtigkeit“ ergeben haben würde, 
wenn — die Mörder des öſterreichiſchen Thronfolgers feine Kreiſe nicht geſtört 
hätten! „Die ruhige Entwickelung wurde durch die Mordtat von Serajewo durch- 
kreuzt, und in der Schickſalsſtunde des Auguſt 1914 zog die engliſche Regierung 
— ſtatt den Frieden zu erhalten — es vor, ſich dem Kriege gegen uns anzuſchließen.“ 
Freilich, bis zu dem Augenblicke des Kriegsausbruches glaubte Herr v. Jagow trotz 
des blutigen Zwiſchenfalls an feine „ruhige Entwickelung“. Er ſchrieb an den da- 
maligen deutſchen Botſchafter in London, Fürſt Lichnowſky, Petersburg werde 
nach einigem Gepolter zurückweichen, und er äußerte zum italieniſchen Botſchafter 
Bollati, er glaube nicht, daß Rußland marſchieren werde, ſonſt würde es keinen 
Agenten nach Berlin geſchickt haben, der hier über Finanzfragen verhandeln ſollte. 
Herr v. Jagow iſt noch heute entzückt über die Möglichkeiten, die er aus ſeinen 
Annäherungsbeſtrebungen ableitete: „Die zunehmende Frredenta Staliens, feine 
Reibungen mit Sſterreich an der Adria, die ruſſophilen und ebenfalls irredentifti- 
ſchen Beſtrebungen Rumäniens hätten ihre Bedeutung verloren. Gegebenen- 
falls hätten die Oreibundverträge ſich dann modifizieren laſſen. Die Verbindung 
mit England würde auch gegen die Übergriffe Rußlands geſichert haben. Die 
Verpflichtungen, die unſer Bündnis auferlegte, wären dadurch gemindert wor- 
den.“ Oer Krieg überrafchte den fo träumenden Staatsmann wie den über feinen 
„Kreiſen“ ſinnenden Archimedes in Syrakus der feindliche Krieger, der ihn bei 
der Einnahme feiner Vaterſtadt erſchlug. „Daß England für die angedeutete 
Politik der Annäherung nicht zu haben geweſen wäre“, meint Herr v. Jagow, fei 
eine Theſe, die unſere einſtigen Anglophoben mit mehr Lungen- als Beweiskraft 
immer wieder verkündeten. „Keine Politik iſt jo anpaſſungs- und wandlungs- 
fähig wie die engliſche. Das Intrigenſpiel König Eduards VII. war nicht von 
ewiger Geltung, und weiterblidende Staatsmänner als diejenigen, denen die Ge⸗ 
ſchicke des Inſelreiches 1914 anvertraut waren — man denke an die Pitts, Disraeli, 
Salisbury —, haben andere Anſchauungen über die Orientierung Englands Nautſch⸗ 
land wie Rußland gegenüber vertreten. Auch nach dem Eintritt Deutſchlands in 
die Weltpolitik blieb die Welt groß genug, um beiden Reichen und Völkern ihre 


corbach: Englith-deufide Freundfhaft? E 


Betätigung neben- und miteinander zu geſtatten. Vorhandene Reibungsflächen 
ließen ſich durch Ausgleich zu beiderſeitigem Vorteil glätten. Die Abmachungen 
über Bagdad und die Kolonien, die bei Kriegsausbruch vor dem Abſchluß ſtanden, 
ſind Beweis dafür.“ | 

War es für Herrn v. Jagow als verantwortlichen Leiter des deutſchen Aus- 
wärtigen Amtes fo völlig einerlei, daß ſich beim Negierungsantritt König Eduards 
bie weltpolitiſchen Machtverhältniſſe ſeit den Tagen der Pitts, Disraeli, Salis- 
dury gründlich gewandelt hatten? Er ſieht in Englands weltpolitiſcher Neuorien- 
tierung nach dem Burenkriege nichts als ein „Intrigenſpiel König Eduards“. 
Eine ſonderbare Geſchichtsauffaſſung für einen modernen Staatsmann! 

Eine verläßliche engliſch-deutſche Freundſchaft hätte ſich für eine Reihe von 
Jahren während des Burenkrieges und der Boxerunruhen begründen laſſen. Da- 
mals ging der Verſuch einer Annäherung von England aus. Das Opfer, das wir 
bringen ſollten, erſchien uns zu groß: Rußlands „Freundſchaft“. Rußland hatte 
während des Burentrieges den britiſchen Einfluß in Aſien überall zurückgedrängt. 
Ein Verharren in der einſt „glänzenden“ Iſolierung mußte England am Hindu- 
tuſch wie in Perſien und vor allem in China unvermeidlich immer mehr Boden 
an Rußland verlieren laſſen. Schon vor dem Kriege hatte Rußland feine Macht- 
ſphäre immer weiter ausbreiten können. Vergebens ſuchte England in China 
eine kraftvolle Gegenbewegung gegen Rußlands Vordringen hervorzurufen. Im 
Kriege mit Japan offenbarte ſich die einſtweilen hoffnungsloſe Schwäche des 
Reiches der Mitte. Statt ſich nun auf die Seite des aufſtrebenden, mit ihm gleiche 

Ziele verfolgenden Japan zu ſtellen, ließ England die Rückgabe von Liautung zu 
und tat nichts, um das Sonnenaufgangsland gegen die Forderungen Rußlands, 
Deutſchlands und Frankreichs zu unterſtützen. Was Wunder, daß nach Ausbruch 
des Burenkrieges der ganze Norden Chinas ruſſiſcher Willkür faſt widerſtandslos 
preisgegeben war! Wäre Oeutſchland damals bereit geweſen, die Rolle zu über- 
nehmen, die England dann Zapan übertrug, fo wäre die Grundlage für eine Ver- 
ſtändigung gegeben geweſen. Zm Vangtſeabkommen, durch das England und 
Deutſchland übereinkamen, den „Status quo“ in China aufrechtzuerhalten, ſchien 
Deutſchland Neigung zu einer ſolchen Annäherung zu bekunden. Als jedoch die 
Londoner Regierung auf Grund dieſes Abkommens gegen das Vorgehen Rußlands 
in der Mandſchurei proteſtierte, erklärte Graf Bülow im Oeutſchen Reichstage, er 
wiſſe nicht, was Deutſchland gleichgültiger fein könne als das Schickſal der Man- 
dſchurei. Damit war Oeutſchland als Freund für England erledigt; es zögerte 
nun nicht mehr, ſich Japan zu nähern. 

Eine gegen das Zarenreich gerichtete deutſch-engliſche Politik wäre ſicher 
geeignet geweſen, den deutſch-britiſchen Wirtſchaftsgegenſatz, der ſchon damals 
die britiſche Handelswelt ſtark beunruhigte, zum mindeſten erheblich abzuſchwächen. 
Deutſchland hätte ſich, von England begünſtigt, vorwiegend einer wittfchafts- 
politiſchen Durchdringung Oſt- und Südoſteuropas widmen können; ein wohl un- 
ausbloiblicher, aber von einer wohlwollenden Neutralität Englands, vielleicht auch 
Frankreichs begünſtigter Krieg gegen Rußland, an dem ſich Japan ohne weiteres 
beteiligt haben würde, hätte Energien, die Deutſchland im Frieden dem induftriel- 


100 Cotbach: Engliſch · deutſche Freunbſchaft? 


len Wettbewerb gegen England widmete, gebunden, und nachher würde der Oſten 
und Südoſten dem deutſchen Unternehmungsgeift zu vorteilhafte Gelegenheiten 
zur Betätigung geboten haben, als daß er die engliſchen Kreiſe auf überſeeiſchen 
Märkten allzuſehr zu ſtören brauchte. 

Da es anders kam, bereitete ſich England auf eine gewaltſame Auseinander- 
ſetzung mit Oeutſchland vor. Man verhehlte ſich in London nicht, daß das Bünd- 
nis mit Japan nur von ziemlich beſchränkter Dauer fein könne, ja man ſah klar 
voraus, daß die gelbe Großmacht ſich ſpäter zum Todfeinde gerade Englands ent- 
wickeln würde. Alſo mußte die Spanne Zeit, bis Japan in feiner Entwickelung 
noch weit genug zurück ſein würde, um ihr feſte Schranken ziehen zu können, mit 
allen Mitteln ausgenutzt werden, Deutſchland unſchädlich zu machen. Ein fchonungs- 
loſer Verleumdungsfeldzug wurde gegen Deutſchland ohne weiteres eröffnet. 
„Überall,“ berichtete hierüber Generalkonſul Richard Kiliani in einem im Früh⸗ 
jahr 1915 gehaltenen Vortrage, „namentlich in Überſee erklangen die uns heute 
ſo vertrauten Leitmotive von der aggreſſiven und brutalen deutſchen Militär- 
macht, von deutſcher Junkerherrſchaft und mittelalterlicher Staatsauffaſſung, von 
Deutſchland als dem Feind der Menſchheitskultur im allgemeinen und der „Pax 
Britannica“ im beſonderen, der die Heinen Staaten bedroht und auf Argliſt, Krieg 
und Streit ſinnt. Es klang fo etwas durch wie ein Gegenſatz zwiſchen Licht, Frei- 
heit, Recht und Dunkel, Sklaverei und Willkür. Aus jedem Reiſebericht eines hol- 
ländiſchen Profeſſors z. B. wurden die Sätze herausgeholt, die uns räuberiſche 
Abſichten auf den niederländiſchen Inſelbeſitz andichteten, um dann wochenlang in 
Leitartikeln breitgetreten zu werden; die Proteſte der deutſchen Vertretung er- 
ſchienen in irgendeiner ſchwer auffindbaren Zeitungsecke. Wir waren ſo etwas 
wie internationale Strauchdiebe und Wegelagerer, die hinter jedem Buſch dem 
friedlichen Kaufmann auf allen Handelsſtraßen der Welt auflauerten; wir waren 
immer der Schurke im engliſchen Theaterſtück. Wir waren die tollen Hunde, die 
die Nachbarn an die Kette legen und bewachen mußten. Namentlich der preußiſche 
Zunker war der Schrecken der politiſchen Straßen Europas, der kleine Nationen, 
die ihm über den Weg kommen, blutend und zerquetſcht wegſchleudert. Wir be⸗ 
kämpften mit den unlauterſten Mitteln der Hungerlöhne und billigen Sträflings- 
arbeit und der Staatsſubventionierung von Truſts und Syndikaten das allein eines 
geſitteten. Volkes würdige Spiel der Kräfte, das in der britiſchen Welt herrſchte, 
und ſuchten überdies noch durch beſtellungswidrige Lieferungen minderwertiger 
Waren und Falſchdeklarationen Gewinne zu erzielen und Frachten zu ſchinden.“ 
Neben dieſer Hetze lief ein planmäßiger geheimer amtlicher Boykott einher. Wir 
wurden bei öffentlichen Lieferungen in engliſchen Kolonien, namentlich ſolchen 
der Kommunen, ausdrücklich ausgeſchloſſen, und auf der ganzen Welt gab es 
keinen Bahnbau, kein elektriſches Projekt und keine Staatsanleihe, vor dem die 
engliſche Politik nicht Hinderniſſe für uns aufgeworfen hätte. 

Inzwiſchen konnte Japan, auf das Bündnis mit England geſtützt, Rußland 
beſiegen, ſchwächen und ſeinen Anſpruch auf Vorherrſchaft in Oſtaſien zunichte 
machen. Zwar fiegten die Japaner mehr, als es ihren Bundesgenoſſen lieb ſein 
konnte, aber da es England mit amerikaniſcher Hilfe gelang, die gelbe Großmacht 


cocbach: Engliſch· deutſche Freundſchaftꝰ ! 101 


um die erhoffte Kriegsentſchädigung zu bringen, geriet dieſe in eine ſo drückende 
Abhängigkeit vom Londoner Geldmarkt, daß die britiſche Weltmacht für abſeh- 
bare Zeit vor ihr geſichert zu ſein ſchien. Gleichwohl ließ Großbritannien durch 
die Erneuerung des britifch-japanifchen Bündnisvertrages kurz vor Abſchluß des 
Friedens von Portsmouth eine ſolche Ausdehnung des japaniſchen Macht- 
ſpielraums zu, daß nur der feſte Entſchluß der engliſchen Staatsmänner, mit der 
„deutſchen Gefahr“ fertig zu werden, bevor Japan ſich aus feiner Schuldfnecht- 
ſchaft befreit haben könnte, das Wagnis erklären konnte, das für die engliſchen 
Lebensintereſſen mit der Begünſtigung japanifher Machtentfaltung verknüpft 
war. England überließ ſeine wichtigſten überſeeiſchen Intereſſen dem Schutze 
gapans, ſuchte in feinen Kolonien japaniſche Intereſſen zu begünſtigen, ſicherte 
ſich, nachdem es durch Einfügung einer befonderen Klauſel in den Bündnisvertrag 
mit Japan den Fall eines pe nchen Krieges aus feinen Bündnis- 
pflichten ausgeſchaltet hatte, heimlich die wohlwollende Neutralität Amerikas für 
die kommende Auseinanderſetzung mit Deutſchland und betrieb währenddeſſen 
nach Zuſammenziehung faſt ſämtlicher Seeſtreitkräfte in europälfchen Gewäſſern 
mit Hochdruck die Einkreiſung des Deutſchen Reiches. Für den früheren Staats- 
ſekretär des deutſchen Auswärtigen Amtes handelte es ſich dabei freilich um nichts 
als ein „Intrigenſpiel König Eduards VII.“, das nach deſſen Tode ſeinen Traum 
von einer in „ruhiger Entwickelung“ ſich bildenden, England mit dem Dreibunde 
feſt zuſammenſchließenden „Friedensblock von unangreifbarer Feſtigkeit“ nicht 
hätte zu ſtören brauchen, wenn die „Mordtat von Serajewo“ nicht geſchehen wäre!! 
Auch wenn das britiſche Weltreich dank unſerer Siege durchaus morſch aus 
dem Kriege hervorgeht, liegt die Gefahr vor, daß es ſeinen Lenkern gelinge, es 
durch ein dienſteifriges Oeutſchland nach Friedensſchluß wieder feſti— 
gen zu laffen. Alle Ergebniſſe der Friedensſchlüſſe im Oſten wären zu teuer er- 
kauft, wenn wir, um des Einverſtändniſſes der Weſtmächte willen, darauf ver- 
zichteten, den künftigen Frieden gegenüber den angelſächſiſchen Mächten zu einer 
Fortſetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu machen, es ſei denn, die Macht- 
haber in London und Waſhington bewieſen uns wirklich ein Entgegenkommen, 
an das fie vorläufig auch nicht im Traume zu denken ſcheinen. Zu einer erfolg- 
teichen Geltendmachung deutſcher Lebensintereſſen gegenüber der britiſch- ameri- 
Imifchen Diplomatie gehören aber Staatsmänner anderen Schlages als 
die, die in den letzten Jahren vor dem Kriege, nachdem ſie die geſamten gewaltigen 
weltpolitiſchen Machtverſchiebungen ſeit Ausbruch des Burenkrieges verſchlafen 
hatten, von einem deutfch-englifchen Friedensblock träumten, während das tückiſche 
Abion auf der Lauer lag, über uns herzufallen, ſobald wir uns erſt in einen Krieg 
mit den gegen uns planmäßig verhetzten Nachbarn verwickelt haben würden. 


102 Schultheis: Gibraltar 


Gibraltar 
Von L. M. Schultheis 


ib“ nannte es der junge engliſche „Sub“, der zum erſtenmal hinaus- 
kommandiert wurde — Gib, mit der Inſolenz des Weltreichbeſitzers, 
deſſen Epigonenhirn darauf ausging, das Unbegriffene oder Miß 
„ verftandene handlich und mundgerecht zu machen und vor allem 
es des „Anfinns“, d. h. etwaiger Anklänge an Romantik zu entkleiden, die ihm 
anhaften mochten. Er begrub damit den alten Abenteurer Tarik unter den Trüm- 
mern der arabiſchen Vokabeln, aber das wußte er nicht, ſcherte ib: aach keinen 
Strohhalm oder kein damn. Eines Tages ſtand er, mit tadelloſen Tennishoſen 
und Reitbrecches in feinem Kit, auf dem Säumchen Sand, das den Fels berändert, 
ſo ſelbſtverſtändlich und mit ſo gutem körperlichem und ſeeliſchem Gleichgewicht 
breitbeinig, wie das britiſche Reich auf andern hervorſtechenden Punkten des 
Aniverſums. Er ſah den Fels belebt von einer Handvoll Rotröcke, Tommies, 
die ein Endchen jener dünnen roten Kordel bildeten, mit der die Welt zu einem 
engliſchen Paket verſchnürt wurde; er war ſich der maskierten Batterien, deren 
große Rachen die Meerenge beherrſchten, fo ſelbſtverſtändlich bewußt, wie man 
etwa der eigenen Schwerkraft bewußt iſt, und da, wo er ſeinen Kit auspackte, 
war England. | 

Eigentlich aber war er in Spanien. Eigentlich ſtand er auf dem politifd 
erſtaunlichſten Fußbreit Geſtein, das die Erde aufweiſt. Die paar Quadratmeter 
Land waren, wenn man ſo will, ein Epitome engliſcher Politik, ihrer Tendenz, 
Kühnheit, Weitſichtigkeit, ihrer Piraterie und Gewiſſenloſigkeit, ihrer Fähigkeit, 
Rechtsbegriffe zu verwirren, das notwendig gewordene Verbrechen gegen das 
Recht als Wohltat hinzuſtellen, mit fettgepolſtertem Gewiſſen die Welt ſo zu ſehen, 
wie ſie ſie zu ſehen wünſchte. 

Darum hat ſich kein junger Sub je gewundert über dieſes Gibraltar, wenn 
er zum erſtenmal den Löwenfels aus den Waffern tauchen ſah. Die ungeheure 
Tatſache, daß eine lebendige Rippe aus dem ſpaniſchen Leib geriſſen war, um 
einem fernen Inſelvolk als Keule zu dienen, erſchien ihm ſelbſtverſtändlich. Ein 
einziges Mal habe ich es erlebt, daß ein Engländer der ſeltſamen Situation fünf 
Sekunden des Staunens widmete, aber der hatte deutſches Blut. 

Die langgeſtreckte Geſtalt der Halbinſel, die mit engem Hals am Feſtland 
hängt, ermöglicht es, fie faſt ganz zu umſteuern. Sie zeigt dabei wechſelnde, ver 
wirrende Silhouetten; von einem Punkt jedoch hat fie die Geſtalt eines ungeheu⸗ 
ren liegenden Löwen. Das ruhevolle britiſche Wappentier hat die Meerenge 
unter den Pranken, mit ihr zugleich das ganze Mittelmeer. Denn von Zeit zu 
Zeit waren dieſe Pranken gefüllt mit Geſchwadern eiſengrauer Ungetüme, kanonen 
beſtückt, machtdemonſtrierend. Eines Morgens ſind ſie verſchwunden, und der Fels 
liegt harmlos, unbedrohlich in der Sonne. Er ſieht aus, als ob ein Kind ihn ein 
nehmen könne, ein Kind, das von maskierten Batterien nichts weiß. Auf dem 
verlaffenen Streifen Strand ſtieß ich eines Tages auf einen Mann in einer Art 


Schultheis: Gibraltar 103 


Uniform, halb militärisch, halb ſeemänniſch. Er ſchulterte ein Gewehr. Zch fragte 
ihn, was ſeine Beſchäftigung ſei, und er erwiderte in gebrochenem Engliſch, er 
ſei ein Küſtenwächter in engliſchen Dienſten — ein Spanier. Nachdenklich ging 
ich davon. Und weiß Gott, ich habe bis heute noch nicht aufgehört, nachzudenken 
über den Mann, der da zwiſchen Welle und Fels aufpaßte, daß ſein Heimatboden 
in den Händen der Uſurpatoren verblieb. 

An der Weſtſeite des Felſens liegt, in bedeutender Höhe, ein altes mauriſches 
Raitell. Die engliſche Regierung benutzte es als Gefängnis, und der Eintritt war 
Fremden verboten. Der Ausſicht halber und auch ein wenig der Romantik halber, 
die aus alten weißen Mauern winkte, kletterte ich eines Tages hinauf durch die 
glühend heiße Stadt mit ihren Treppengaſſen und gäßchen auf ſpaniſche Manier. 
Droben wehte ein kühler Wind vom Meer herauf, und etliches Grün umgab mich. 
Aber der Schritt unter dem weiten Torbogen wurde gehemmt durch das Plakat: 
Verboten. Ein paar ſpaniſche Kinder balgten ſich auf den Steinflieſen — die 
ſchlichtende Mutter erblickte mich und bat mich mit echt ſpaniſcher Höflichkeit, ein- 
zutreten und die Ausſicht zu genießen. 

Es war einer jener Blicke, die man nie vergißt. Ein Gärtchen mit einer Art 
Felsbalkon, der ſo an der Bergſeite hing, wie der Mirador der Königin an der 
Alhambra, und auf ſeine Weiſe ebenſo Wunderbares rahmte wie jener. Nämlich 
die lebendige, farbige Landkarte der Meerenge mit den beiden Kontinenten. 
Drüben Afrika, ſilbervergoldet, einen Steinwurf weit; unter mir der Abfall des 
Felſens und das platte Land, das zum ſpaniſchen Feſtland hinüberleitet. Eine 
Straße führte dahin, von zahlreichen winzigen Menſchen belebt, vom engliſchen 
Gebiet fort auf den Streifen Neutralland, der es von Spanien ſcheidet. Weit- 
wärts über der Bucht tauchten die weißen Häuſer von Algeciras auf, wo man 
einft konferierte über das Schickſal der Welt inmitten der Farbenorgien von Bou— 
gainvillia und Hibiskus im Hotel „Reina Cristina“. Dahinter dehnte ſich Spa- 
nien ins Ungemeſſene, Verdämmernde. 

Damals flogen meine Gedanken nordwärts mit dem nordwärts rollenden 
ſpaniſchen Land, und ich dachte an unſeren eigenen Felsblock im Meer: Helgo- 
land! Von dem war die engliſche Ferſe genommen worden. Wie? Auf gütliche 
Art; durch ein Glück im Schlaf, durch ein augenblickliches Nachlaſſen der ſom- 
nambulen Sicherheit, mit der England feinen Imperatorweg geht? Gleichviel! 
Heute hätten die Waffen erſtreiten müſſen, was die ahnungsloſen Federn nicht 
erlangten. Denn die engliſche Ferſe hätte im deutſchen Angeſicht geknirſcht. Das 
konnte nicht ſein! 

Aber Spanien? Das unerlöfte Spanien? Das den Nacken beugen mußte 
vor der fremden Zwingburg, ſooft feine Schiffe von Cadiz nach Malaga fuhren? 
Wie ertrug es dieſe Schmach? War das einſt ſtolzeſte Land zu ſolcher Unempfind- 
lichkeit herabgeſunken, daß es ſeine Lage ebenſo ſelbſtverſtändlich fand wie der 
junge engliſche Sub? 

Die erſte Antwort auf dieſe Frage gab mir ein Spanier im Alkazar zu 
Sevilla. Es war ein Fremdenführer, ein wortkarger Mann. Er ließ mich auf 
meine Art durch die hohen Säle ſtreifen, die herrlichen Azulejos ſtumm bewun- 


104 | Zungnickel: Frühlingsverſe 


dern, im Garten unter den Dattelpalmen den ſonnenheißen Buchsduft in mich 
einſaugen und an Spaniens große Toten und große Zeiten denken. Als ich ihm 
ſagte, wie ſchön mir das alles erſchiene, Granada mit feiner Alhambra und hier 
wieder Sevilla mit feinem Alkazar, feiner Giralda und dem Grab feines Rolum- 
bus, wie ſeltſam die Luft noch erfüllt ſei von den hohen Träumen der Toten, da 
riß er ſich aus ſeiner Abgekehrtheit los und hob die Hand ſo hoch, als ſeine Statur 
erlaubte: „Damals war Spanien ſo, Señora — jetzt iſt es fo!“ und er ließ die 
Rechte mit tiefer Niedergeſchlagenheit ſinken. 

Ich ſtand an dem kleinen Springbecken, in dem Maria da Padilla ihre wunder- 
ſame Schönheit zu ſpiegeln pflegte — erſchüttert ob eines Völkerſchickſals und mit 
dem Stoßgebet für mein eigenes emporblühendes Land: Herr Gott, ſoweit es 
an uns liegt, laß uns ſo wirken, daß ſobald keiner aufſtehen und die Hand erheben 
kann: Damals. ..! 

An jenem Tag iſt noch das Wort „Gibraltar“ gefallen, und da erfuhr ich, 
wie tief das Wort einſchneidet in das Herz eines ritterlichen Volkes, ja daß man 
jagen möchte, wie die Königin Maria von England ſagte von Calais, das fie ver- 
lor: Nehmt mir das Herz heraus und ihr werdet „Gibraltar“ darauf eingegraben 
finden. | 

Heute weht ein ſeltſamer Wind in Spanien, ein friſcher Wind, ein Auf- 
erſtehungswind, der neue Schoſſe am alten Baum hervorbringt. Es ſcheint, als 
ob zu altem Stolz neue Tatkraft ſich geſellen wolle, und als ob man neue Ziele 
auf die alten Fahnen ſchriebe. 

Eines dieſer Ziele wird Gibraltar heißen. 


Frühlingsverſe Von Max Jungnickel 


Der Himmel fängt ſchon leiſe an zu klingen. 
Und hinter Kugelpfeifen will die Lerche fingen. 
Der Kirſchbaum, der am Graben ſteht, 

Uns weiß von Blüten überweht. 

Im Unterſtand, am Fenſter grau, 

Da hängt des Himmels ſchönſtes Blau. 

In meinem Traum, im Sternenlicht, 

Beugt ſich dein treues Angeſicht. 

Das bettelt ſüß und liebevoll, 

Daß ich nach Hauſe kommen ſoll. 


Diers: Von ber Frauenfrage, wie fie heute iſt j | 105 


Von der Frauenfrage, wie fie heute iſt 
Von Marie Diers 
SAL 


er vor 12—15 Fahren einige Kenntnis von der Frauenbewegung 

genommen hatte, muß heute ſtaunen, was aus ihr geworden iſt. 
. Nicht in betreff deſſen, was erreicht iſt. Dieſes lag im Lauf der 
—angeſetzten Linie und war im ganzen durchaus zu erwarten, 

wenn u natũrlich Einzelzüge keiner Vorberechnung e 

Das Erſtaunen ſetzt an einem andern Punkt ein. 

Vor einem reichlichen Dutzend Jahren war die ganze Frauenfrage noch ein 
ziemlich undurchdringliches Durcheinander. Sie ift eine Frage, die ſich mit keiner 
andern vergleichen kann, da ſie zu jeder Einzelperſon eine unmittelbare Beziehung 
hat. In ihr iſt ein jeder Sachverſtändiger — und niemand. Jeder betritt das Gebiet 
mit ſeinen perſönlichen Erfahrungen, und am Ende haben dieſe Erfahrungen doch 
keinen Allgemeinwert. Weil ſich die Frage nicht auf einem abgetrennten Gebiet, 
etwa dem der Arbeitsgelegenheit oder dergleichen halten kann, ſondern ſtets auf 
die „Natur und Beſtimmung des Weibes“ zurückgreifen muß, iſt die Anlösbarkeit 
der Frauenfrage als ſolcher zur Tatſache geworden. Der Dualismus, die Zwei- 
teilung, die das Leben der Frau durchſchneidet und in den beiderſeitigen Höhe- 
punkten: hie Beruf — hie Mutterſchaft! gipfelt, läßt keine Verfchmelzung der 
Gegenſätze und keine Löſung zu. 

Es war nun in betreff der Kämpfe hüben und drüben natur- und ordnungs- 
gemäß zu erwarten, daß die Frauenbewegung, aus der Not- und Brotfrage ent- 
ſpringend, dem geiſtigen Hunger Nahrung ſchaffend und die müßigen Kräfte 
einordnend — alſo als notwendige Kulturerſcheinung, an eine Grenze kommen 
mußte, an der es hieß, ſich mit der großen Gegenkraft zu verſtändigen, einzurichten 
mit den gegebenen Geſetzen der Natur. In möglichſter Ordnung konnten ſich 
dann die beiden Reiche, die der Dualismus in der Frau ſchaffen mußte, neben- 
einander ausbreiten. Die Grenzplänkeleien würden freilich nie aufhören, Einzel- 
fälle mußten immer ſtrittig bleiben. Aber als Zeichen einer vorgeſchrittenen und 
vornehmen Kultur war dieſe Verſtändigung, die Errichtung einer klaren Grenz- 
ſcheide unerläßlich und ſtand für alle, die damals den Kampf beobachteten, zu er- 
warten. Ja, es hätte eine Beleidigung der klugen und tüchtigen Führerinnen 
der Frauenbewegung geſchienen, wenn man an dieſem Ausgang hätte zweifeln 
wollen. 

In dieſem ſicheren Vertrauen auf Überlegenheit und Weisheit der Berufenen 
mag der Grund liegen, datz viele Frauen, deren Sinn fonft offen iſt für das all- 
gemeine Wohl und Wehe, im Lauf der Jahre, als die Wogen ſich glätteten, die 
Frauenbewegung — vergaßen und nun, inmitten des Krieges, durch ſeltſam grelle 
Trompetenſtöße aufgeſchreckt, in eine unerwartete Geſtaltung der Dinge hineinſehen. 

Die Frauenbewegung hat ſiegend das Land bezogen und ihre Banner über- 
all aufgepflanzt. Sie gebietet im weiblichen Berufsweſen, auch im Schulweſen, 
das ſchon ſtark in das Leben der Andersgläubigen hinübergreift, überwiegend 


106 Diers: Von der Frauenfrage, wie ſie heute ift 


auch in der Wohlfahrtspflege. Und das Bemerkenswerteſte iſt: die Gegenſtimmen 
ſind verſtummt, faſt alle. Man nimmt ſie und ihre Herrſchaft jetzt in allen Kreiſen 
als gegeben hin. 

Dieſer anſcheinend ſchöne Zuſtand, der einem Friedensſchluſſe gleicht und 
uns erfreuen könnte, iſt aber nicht auf einer klugen, gerechten und überlegenen 
Verſtändigung der beiden Gegenkräfte erfolgt, ſondern durch einen Sieg des einen 
und ein Unterliegen und Zurückweichen des anderen Teils weit über feine natür- 
lichen Grenzen hinaus. 

Die Frauenrechtlerinnen ſind (um in der Sprache der Gegenwart zu ſprechen) 
als „Annexioniſtinnen“ aufgetreten, die auf dem ihnen weſensfremden Gebiete 
Eroberungen machten und weitere planen, und die das „Selbſtbeſtimmungerecht“ 
ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen verletzen, ſoweit dieſe Frauen und Mütter ſind. Denn 
ſie ſprechen in ihren Eingaben uſw. ſtets im Namen aller deutſchen Frauen, und 
eines ihrer Hauptorgane, „Die Frau“, führt den Antertitel „Monatsſchrift für 
das geſamte Frauenleben unfrer Zeit“. 

Wir haben jetzt folgendes Bild: 

Die Wege für die gelehrte Bildung der Mädchen ſind nach allen Richtungen 
geebnet. Durch Oberlyzeen und Studienanſtalten führen breite Pfade zur Ani- 
verſität. Was früher begabte Mädchen ſich in Einzelkurſen und privater Arbeit, 
vielfach unter dem Hohn und Zorn von Verwandten und Freunden mühſam er- 
ringen mußten, kann jetzt ohne irgendwelche Erſchwerung und mit Zuſtimmung 
und Bewunderung der Familie erreicht werden. 

Während aber derart für die gelehrte und fachliche Ausbildung der Mädchen 
geſorgt wird, konnte die andere Seite, die hausfraulich-mütterliche ſoweit vergeſſen 
werden, daß vor etwa 2 Fahren der große Sturmlauf um das weibliche Dienit- 
jahr entitand, der deutlicher als alles die Mängel in dieſer einſeitigen Ausbildung 
bloßlegte. Betroffen, über dieſen Fehler ertappt zu ſein, griffen auch hier die 
Führerinnen mit geſchickten Händen zu und ſuchten durch tätige und leitende Be- 
teiligung an der hauswirtſchaftlichen Bildung den Mangel auszugleichen. 

Das alles könnte auch noch erfreulich ſein und wirkt auf die Harmloſen ohne 
Zweifel in dieſer Richtung. Aber leider reckt ſich hinter allen dieſen guten und 
nützlichen, ja ſegenbringenden Beſtrebungen ein gieriger Arm hervor, der höher 
und höher greift, deſſen Finger jetzt ſchon unverhüllt nach dem lockenden Apfel 
weiſen: Weibliches Stimmrecht. 

Auch dieſe Tatſache könnte uns ruhig laſſen, wie ſie die Mehrzahl der Frauen 
heute noch unbeſorgt läßt. Was kommt denn darauf an, ob die Frauen auch noch 
ihre Stimme abgeben? Dann hat man eben doppelt fo viele als vorher. Außer- 
dem iſt es ja nur eine Sache der Gerechtigkeit, daß wenigſtens die feen 
Frauen auch mitbeſtimmen dürfen. 

Dieſer harmloſen Auffaſſung gegenüber iſt es nötig, einige Feſtſtellungen 
zu machen, die ihr wohl für alle nicht abſichtlich Blinden die Harmloſigkeit nehmen 
müßten. 

In ſtaatlicher Hinſicht bedeutet die Erteilung des Frauenſtimmrechts eine 
unmittelbare Gefahr für das Vaterland. Es würde zunächſt die Sozialdemokratie 


Olers: Von der grauenfrage, wie ſie heute iſt 107 


ihre Frauen, die ſie feſt am Zügel hält, ſammeln und geſchloſſen vorgehen. Die 
Zahl der ſozialdemokratiſchen Stimmen würde ſich (lebendes Beiſpiel: 
Finnland!) auf das Doppelte erhöhen, ein ganz ſchiefes Verhältnis geſchaffen 
werden. — Andrerſeits: nehmen wir an, daß die Frauen aller Parteien ſoweit 
aufgeklärt würden, um ſich an der Wahl zu beteiligen, jo würde ihre Zahl die 
der Männer überwiegen, wir hätten alſo einen Frauenſtaat. 

Dieſes Experiment können ſich vielleicht kleine Staaten leiſten, für eine Groß 
macht bedeutet es den Anfang zu einer Zerſetzung der Staatsautorität und Schlag- 
ktaft, und unter allen Großmächten kann Deutſchland am wenigſten mit dieſer 
Zerſetzungsgefahr ſpielen, denn es braucht wie kein anderes Land eine männliche 
Staatsform, ſtraffe Einordnung des einzelnen im Ganzen. Das haben wir jetzt 
erlebt, das iſt uns beſtätigt genug und übergenug! Nur ein aufs Einzelkleine ge⸗ 
tihteter Blick, nur ein hoffnungsloſer Dilettantismus kann dieſe Grundbedin- 
gung eines großen geſunden Staatslebens ſo völlig überſehen, daß er um einzelner 
Sonderrechte und freuden willen ſich an ihr vergreifen will! 

Dem Vaterlande tun wir einen ſchlechten Gefallen, wenn wir ihm das 
Frauenſtimmrecht beſcheren. Wir bringen es in die unmittelbare Gefahr, ſeine 
ohnehin ſchwer bedrohte Geſchloſſenheit ganz und endgültig zu verlieren. Aber 
wir führen es auch mittelbar einem ſchweren Schaden zu, indem wir durch Boliti- 
ſierung der Frauen die Familie zerſetzen. 

Jene, die uns das weibliche Stimmrecht erkämpfen wollen, denken ſehr 
leicht darüber. Die Familie gilt ihnen nicht als ein koſtbarer Beſtandteil der Nation, 

als der Kern ihrer Geſundheit, Kraft und Kultur. Die Führerin der Stimmrechts- 
bewegung, Marie Strill, ſagt in Beziehung darauf: „Die Frauenbewegung als 
ſolche kann eigentlich nur als eine radikale aufgefaßt werden, denn ſie erſtrebt eine 
Beſeitigung der Wurzeln, eine Anderung der Grundlagen der heutigen 
Geſellſchaftsordnung.“ Und Helene Lange, die erſt Gemäßigte, der unſre 
Lehrerinnenſchaft ihren Aufſchwung — aber auch wohl ihre Familienentfremdung — 
verdankt, die ſich jetzt ganz zu den Stimmrechtsforderungen bekennt, ſpricht von 
„dem großen kulturellen Werdegang, der die Funktionen der Familie mehr und 
mehr der Gemeinſchaft überträgt“. „Bleibt darin“, fährt fie fort, „die Kultur 
arbeit der Frau auf die Familie beſchränkt, ſo vermag ſie nicht mehr den ſpezifiſchen 
weiblichen Einſchlag von geiſtigen Werten der Kultur zuzuführen.“ 

Es läßt an Deutlichkeit nicht viel zu wünſchen übrig, einen wie unwefent- 
lichen Platz in der Bewegung die Frauenrechtlerinnen der Familie einräumen. 
Dieſer Faktor ſpricht für ihre Erwägungen kaum mehr mit. Sie ſehen der Auf- 
löſung ruhigen Herzens zu und helfen ſelber noch an der „Beſeitigung der Wurzeln“. 
Sch habe daher nur noch darauf hinzuweiſen, wie ſchon die Miſchehen ein dunkler 
Punkt im Volksleben ſind, wie nichts die Gemüter ſo erhitzt wie Religion und 
Politik, und wie es ein törichter Irrtum iſt, zu glauben, eine Frau, die wählen darf, 
würde ſich nur in der Wahlſtunde damit beſchäftigen. Grade die Frauen, die an 
Radikalismus und perſönlichem Ehrgeiz viel mehr leiden als die Männer, würden 
die Politik in ihrer häßlichſten Form, die Kleinpolitik, in . Familien ſchleppen, 
zu deren wachſendem Unheil. 


108 Diers: Von der Frauenfrage, wie fie heute Ift 


Laßt uns dieſe Sache nicht mit einer vornehmen Handbewegung abtun, 
uns nicht durch die Ewigſtumpfen, die kein Stimmrecht aufrütteln würde, durch 
die Glücklichen und Harmoniſchen, die mit ihren Männern eines Sinnes fein wür- 
den, den Blick verdunkeln laſſen vor der heraufſteigenden Verwirrung. Unſer 
deutſches Familienleben iſt fo etwas Unerſetzliches, daß ein ganzes Füllhorn von 
„Rechten“ uns feinen Verluſt nicht wettmachen würde — aber es iſt nichts Uner- 
ſchütterliches. Das moderne Leben hat ſchon genugſam an ihm genagt, von mancher 
ehemals ſtolz-ſchönen Burg ſtehen nur noch die Trümmer. Wir dürfen es nicht 
unbedenklich und unbeſonnen immer neuen Angriffen ausſetzen. Wir müſſen 
Mauern um ſeinen Beſtand ziehen. Ja mehr: wir müſſen arbeiten und denken 
und ſorgen mit aller Kraft, daß wir es in ſeiner alten Reinheit und Stärke wieder 
aufbauen, neu gründen! 

Unſre beiten Söhne da draußen, die nicht mehr find, unfre edelſten und kraft⸗ 
vollſten Männer, ſie erblühten alle aus einem ſtill umhegten Familienglück. In 
Penſionaten, Hotels und Anſtalten wächſt dies Geſchlecht von Helden nicht heran. 
Den reinen, ſtolzen Idealismus, der unſer Heldentum ſchafft, der wächſt nicht auf 
dem dürren Boden, aus dem die Wurzeln der Familie herausgezogen und zu 
Kleinholz zerhackt ſind. | 

Das iſt es — da Stehen wir an dem Punkt, an dem die Frauenrechtlerinnen, 
die Anvermählten, die Familienfremden und Familienverächterinnen über ihre 
Grenzen hinübergegriffen haben. Da ſie über Dinge reden, die ſie nicht verſtehen, 
deſſen tiefſter, heiligſter und künſtleriſcher Kern ihnen fremd iſt — oder fremd ge— 
worden in der Verarmung eines nur auf Linien und Zahlen gerichteten Lebens. 

Gehen wir von der idealen Seite der Frage auf die praktiſche über, ſo ſteigt 
durch die Politiſierung der Frau, durch die damit wachſende Erſchließung höherer 
Berufe auch für die Maſſe, die Not der Mütter und Hausfrauen vor uns auf, 
die ſich nach Hilfskräften umſieht und keine mehr findet. Und mehr: im dichten 
Anſchluß daran ſteigt das Geſpenſt unſres Volkes, das uns ſeit 40 Jahren näher 
und näher rückt: der Geburten-Rückgang empor! 

Deutſchland hat die größte Säuglingsſterblichkeit in Europa — und warum? 
Weil ſeine Frauen am ſtärkſten in die Erwerbstätigkeit geriſſen ſind, am wenigſten 
ihre Kinder ſelber ſtillen. Noch halten wir durch die große, herrliche Arbeit, die 
auf dem Gebiet der Säuglingsfürſorge geleiſtet wird, unſere Zahl. Wenn wir ſie 
nicht mehr halten, ſind wir ein ſterbendes Volk — dann gehen alle Güter, alle 
Ideale, die nur in Deutfchland ihre Statt haben, mit uns unter. 

And dieſen — Fragen gegenüber ſpielt ein kleiner aber ſehr — ſehr einfluß- 
reicher Teil unſrer Frauenſchaft mit der Politiſierung. 

* * 


At 
Es ſind hier immer wieder dieſelben Schlagwörter, die man hört, denn 
Schlagwörter ſind jetzt an der Mode. 
„Die Frauen müſſen das Stimmrecht haben, denn ſie haben im Kriege ſo 
vortreffliche Arbeit geleiſtet.“ 
Die Antwort wäre: erſtens: „Sie, die die meiſte Arbeit leifteten, die Land⸗ 
frauen, denken gar nicht an das Stimmrecht.“ 


Siers: Von ber Frauenfrage, wie ſie heute ift 109 


Zweitens. „Oieſe gute Arbeit ift ja grade ohne Stimmrecht getan.“ 
Drittens. „Soll eine Belohnung für Selbſtverſtändliches erteilt werden?“ 
Viertens. „Für wen iſt die Arbeit getan? Doch nur für das eigenſte Lebens- 

intereſſe. Das Vaterland ſind wir.“ 

Ein andres, oft gebrauchtes Schlagwort. „Ein Knecht, ein ungebildeter 
„Portier“ darf ſtimmen, die gebildete Frau muß zu Haufe bleiben.“ 

Antwort. „Es iſt anzunehmen, daß Hindenburg und Ludendorff wohl etwas 
mehr von Politik verſtehen, als die klügſte Frau. Auch ſie dürfen nicht wählen, 
und nicht deshalb, weil fie etwa ‚politiſch unmündig“ find, wie man jetzt immer 
llagend von der Frau ſagt.“ 

Veiter: „Für die Rechte der Frauen müſſen Frauen eintreten.“ 

Antwort. „Die Frauen, die am meiſten Zeit und Geſchick für das öffentliche 
Leben haben, ſind grade nicht die mütterlich empfindenden Frauen, ſondern wohl 
kluge, aber mehr männlich gerichtete und geſchulte Elemente, die die Intereſſen 
der Mutter und Gattin oft weniger vertreten werden, als es einem Familienvater 
möglich iſt.“ | 

„Wir find aber da, für den Fortſchritt zu arbeiten!“ 

„Was iſt Fortſchritt? Im Namen des Fortſchrittes arbeiteten auch die Leute, 
die in den alten Städten das köſtliche Schnitzwerk an den Häuſern beſeitigten und 
die banale Glätte einer billigen Moderniſierung einführten. Wenn lebensvolle 
und künſtleriſche Gliederung einer flachen Gleichmacherei wich, glaubte noch jeder 
Dilettant, einen „Fortſchritt“ zu erleben.“ 

„Wie will man den Frauen wegen Unreife das Stimmrecht verweigern, 
da doch auch die Männer bis in allerhand Spitzen hinauf uns nicht grade das Bild 
großer geiſtiger Überlegenheit und Sicherheit zeigen?“ 

„Wenn ſoviel Männer im Völkerrat ſchon unreif ſind, wollen wir dann die 
Zahl der Unreifen noch verdoppeln? Dieſe ganze Frageſtellung iſt ſchief. Das 
Stimmrecht iſt keine Tüte Bonbons, vor der die kleinen Mädchen ſchreien: die 
dummen, ungezogenen Jungens haben davon gekriegt, nun wollen wir auch! 
Sondern die Frage muß lauten: „Dient das weibliche Stimmrecht dem Vaterlande 
zur Erhaltung und Mehrung ſeiner Größe und Kraft? Und womit ließe ſich das 
erweiſen?“ | 

Zum Schluß von uns aus eine Gegenfrage: 

„Warum ſoll das weibliche Stimmrecht grade während des Krieges, da die 
Männer draußen ſtehen, errungen werden?“ Wir warten auf Antwort. 


* * 
1. 


Etwa ein Drittel unſrer weiblichen Bevölkerung ſteht im Erwerbsleben. 
Freilich iſt grade in den Jahren vom 30. bis 50., der beſten Kraft, / der weib- 
lichen Bevölkerung verheiratet und dadurch zumeiſt der Erwerbstätigkeit entzogen. 
Aber rechnen wir mit dieſem Drittel, in das die Dienſtboten eingeſchloſſen find. 
So ergeben ſich zwei Folgerungen. 

Es iſt ein ganzes Orittel unſrer Frauenwelt! Grund genug, für dieſe Mil- 
lionen Arbeits- und Ausbildungsgelegenheit, freie, ſichre, beglückende Lebens 


110 Roppin: Abend 


bedingungen in Menge zu ſchaffen. Dank und Anerkennung einer Frauenbewegung, 
die dies in Kampf und Mühe ſchuf und ordnete! 

Aber es iſt andrerſeits nur ein Orittel. Zweidrittel unſrer Frauenwelt 
ſtehen unter anderen, ganz anderen Lebensbedingungen. Die Gefahr rückt heran, 
daß ſie vergewaltigt werden ſollen durch die Geſetze, die der Minderheit zuliebe 
errichtet werden. 

Laßt uns dafür ſorgen, daß dieſe geſchützt werden, die ſich nicht ſelber ſchützen, 
die aber Deutſchlands Blüte find und feine beſte Kraft, die Frauen und Mütter, 
an denen des Landes Geſundheit und Hoffnung hängt! 


SS NV Y Y Y 554 


zur 
— IL 


Abend Von Richard O. Koppin 


Nun ſtille ſein — 

Und ganz für dich allein 
Den Stimmen lauſchen 
Um dich her 
Menſchenleer 

Dehnt ſich die Halde — 
Wipfelharfen rauſchen 
Herüber vom Walde, 
Träumeſchwer. 


Gräſer ſingen ein ſeidenes Lied — 
Tief im Ried 

Lockt eine Nachtigall — 
Weich 

Quellen tropfen 

Immer gleich — 

Klopfen 

Mit ſilbernem Fall 

Den ſchimmernden Teich. 


Irrende Lichter 

Tanzen im Moor — 

Dicht, immer dichter 

Wagen 

Lichtblaſſe Sterne 

Leiſe taſtend ſich vor. 
Aus Nebelferne | 
Tönt Turmuhrſchlagen 

Tag ſchloß ſein Tor. 


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Hiebrandb: Der Mann ohne Vaterland 111 


Der Mann ohne Vaterland 
Von Karl Hildebrand⸗Leipzig 


ger Teufel hole die Vereinigten Staaten! ch wollte, ich brauchte nie 
35 10 wieder etwas von ihnen zu hören!“ Diefe Worte, von geballter, 

2 auf den Tiſch ſchlagender Fauſt bekräftigt, ſprach 1806 vor einem 
2 Militärgerichte der Leutnant Philipp Nolan, der ſich von den locken 
den Ausſichten Burrs, des Vizepräſidenten unter Zefferſon, hatte blenden laffen 
und an deſſen Empörung und Abenteuer, ein ſüdliches Königreich zu errichten, 
teilgenommen hatte. Er wurde mit ſeinem Chef gefangen genommen und vor 
ein Kriegsgericht geſtellt. Den Großen ließ man laufen; die kleinen Sündenböcke 
wurden verurteilt. Aus dem Gefühle ungerechter Behandlung heraus erfolgte 
der vorgemeldete wütende Ausbruch Nolans. 

Die Offiziere des Militärgerichtes hatten den Befreiungskrieg mitgemacht 

und verurteilten das Niedertreten der Zdee, wofür fie ihr Leben eingeſetzt hatten, 
auf eine beſondere Art. „Der Leutnant iſt des Landesverrates ſchuldig“; — ſo 
lautete das Urteil — „er ſoll nie wieder etwas von den Vereinigten Staaten hören.“ 
Nolan lachte. Er lachte auch, als er an Bord eines Kriegsſchiffes als Gefangener 
gebracht wurde; er hielt das alles für eine kurze Poſſe, für eine Laune der Urteilen- 
den, ſeinem Wunſche ſich anzupaſſen und zeigte großes Vergnügen an der Seereiſe. 
Aber das Lachen verging und das Vergnügen ſchwand, als er nach Ablauf der 
Kreuzerfahrt des erſten Schiffes auf ein zweites und drittes geſetzt wurde. Die 
däammernde Gewißheit, daß es für ihn keine Heimkehr gäbe, hatte ſchon bei der 
zweiten Umladung einen anderen Menſchen aus ihm gemacht. Die Strafe, die 
anfangs ſo mild erſchien, war die allerhärteſte, trotzdem er unbeſchränkten Verkehr 
mit den Offizieren an Bord hatte und trotzdem der Befehl geachtet wurde, mit 
Anſtand ſeiner zu begegnen und ihn nie fühlen zu laſſen, daß er ein Gefangener 
ſei! 20 Umladungen auf Kreuzerfahrten, 20 ſchwere Enttäuſchungen der immer 
wiederkehrenden Hoffnung hat er in den Jahren von 1807 bis 1863 über ſich er- 
gehen laſſen. Das Vaterland, das er verleugnet hatte, ſah er nie wieder, und in 
ſeiner Gegenwart iſt in all den Jahren nie von dem Lande feiner Sehnſucht ge- 
ſprochen worden, wie es das Urteil verlangte. 

Ja, das Land ſeiner Sehnſucht! Denn ſein Leben war ein Leben der Reue, 
ein Gutmachen und Vergeſſenmachen ſeiner Leichtfertigkeit. Während des Krieges 
mit England verdiente er ſich in einem kurzen Kampfe mit einer engliſchen Fregatte 
einen Ehrenſäbel und einen lobenden Bericht nach Waſhington. Es iſt ein Nätfel 
geblieben, warum auch bei ſpäteren Verſuchen nach Erlöſung des Heimatlofen 
nichts erfolgte. Bei einem Brande des RNegierungsgebäudes in Waſhington waren 


die Akten des Prozeſſes mitverbrannt. War es dies? Glaubte man nicht an die 


kxiſtenz eines ſolchen Mannes? War die Gegenorder verloren gegangen? Nolan 
ſtarb, faſt 80 Jahre alt, mit einem Gebete für fein Vaterland, das ihn über Gebühr 
geſtraft hatte. In ſeiner zweiten Heimat, im Meere, liegt er begraben. 


112 : | Hein: Abgelöft In den Frühling! 


Das alles iſt kein Märchen; und doch wieder iſt es eins. Sogar ein deutſches 
könnte es ſein! Die Nutzanwendung möge uns der reuevolle Heimatloſe ſelbſt 
geben. Bei einer beſonderen Begebenheit hatte er Veranlaſſung und Gelegenheit, 
einem jungen Leutnant gegenüber ſeinem gepreßten Herzen Luft zu machen und 
den Schmerz ausſtrõömen zu laſſen in feiner ganzen Gewalt, als fie unter der Flagge 
des Vaterlandes in einem Boote allein ſaßen. „Ach, das Vaterland, die Heimat, 


die alte Flagge da! Zunge, denke an nichts, als ihnen zu dienen, und wenn dieſer 


Dienſt dich durch die Hölle jagte! Laß keinen Abend vorübergehen, an dem du 


nicht Gott bitteſt, die Flagge zu ſegnen, und was dir auch begegnet, wer dir auch 


ſchmeichelt und wer dich lockt, — ſieh keine andre an! Hinter allen, mit denen du 
verkehrſt, ſteht dein Vaterland und dem gehörſt du an wie deiner eigenen Mutter. 
Schande und Schmach auf den, der ſeine Mutter verläßt, der andere Stimmen 
mehr achtet, als die Stimme ſeines Landes! Schande und Schmach auf den, dem 
nicht die Ehre ſeines Vaterlandes und ſeine Größe und Stärke ſeine eigene Ehre und 
feine Größe und fein Stolz iſt! O Gott, wenn ein Menſch zu mir fo in meiner Jugend 
geſprochen hätte!“ 


Abgelöſt in den Frühling! 
Vom Kriegsfreiwilligen Alfred Hein 


Als wir im Früͤhlicht aus dem Graben kamen, war der sans da, 
Die durch das Trommelfeuer abgeſtorbnen Sinne 

Wurden des hellen Leuchtens in den Wolken inne, 

Und jeder ſtill verlächelnd in das Blauen ſah! 


Da flogen Lieder durch den Marſch! Und froh, 
Als kämen wir aus Himmeln, nicht aus Höllen, 
Als wär' n wir über Blumen, nicht Geröllen, 
Schmutz, Leichen ſchußgehetzt gehaſtet, ſo 


Prangten die Geſichter! Worte warfen 

Sich übermütig friſch von Mund zu Mund! 
Auf unſre Schätzchenbriefe warteten im Grund 
Schon Veilchen ... Und wie Friedensharfen 


Der Wind in Knoſpenäſten ſelig Hang! — — — 

Und als das luſt'ge Marſchlied ſtummte, 

Ein kleiner Vogel hier, ein kleiner da ſchon ſummte — — —: 
O Ruhe, Frühling, Sehnſucht, Glückrauſch, Sonnaufgang! 


W 


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die deutſchen Kohlen⸗ und Eiſ enerzlagerſtätten 
als Machtfaktoren im Weltkriege 


e. Krieg hat uns mit erſchütternder Klarheit die geographiſchen Tatſachen vor 
A Augen geführt, aus denen die in dem großen Geſchehen um uns wohl unfaß- 
llichſte Lage erwuchs, daß das Landgebiet eines Siebzigmillionen-Volkes mit den 
von nicht viel weniger Millionen bewohnten Ländern ſeiner Verbündeten zu einer belagerten 
Feſtung werden konnte. Dieſe unſere Lage inmitten eines faſt geſchloſſenen Ringes von 
ſtarrenden Waffen, die jetzt bewußt gewordene Gefahr, daß der uns umbrandende Haß einer 
Welt von Feinden eine gleiche oder noch ſchlimmere Lage, in der auch die ſchmalen, uns jetzt 
noch verbliebenen Ausfallpforten verſperrt werden könnten, in Zukunft abermals herbei 
führen kann, legen unſerer Staatsleitung für die Friedensverhandlungen eine ungeheure 
Verantwortung gegenüber der Zukunft unferes Vaterlandes, gegenüber unferen Kindern 
und Kindeskindern auf. 

Der Verlauf des Krieges hat uns gezeigt, was unſerem Lande als Ausgleich gegen 
die Gefahren feiner geographiſchen Lage nottut. Zn erſter Linie und vor allem brauchen 
wir Grenzen, die jo weit gezogen find, daß das in ihnen wohnende Volk auch bei völliger Ein- 
ſchließung auf Jahre hinaus ein auskömmliches Daſein findet. Dann aber benötigen wir, 
und dieſes Erfordernis iſt nicht minder wichtig, innerhalb unſerer Landesgrenzen alle die 
Hilfsmittel, die notwendig ſind, um einem Volksheer, das einer Welt in Vaffen die eiſerne 
Stirn bieten ſoll, die Rüſtung zu ſchmieden. Denn wir wiſſen heute, daß nicht nur zu Niefen- 
heeren zufammengeballte Menſchenmaſſen den modernen Krieg entſcheiden, ſondern vor 
allem auch die in ihren Dienft geſtellten Kampf- und Abwehrmittel einer vollendeten Rüftungs- 
technik. Deren erſte Vorausſetzung ift aber das Vorhandenſein einer auf hoher Entwicklungs- 
Rufe. ſtehenden Induſtrie, ganz beſonders einer machtvollen Kohlen- und Eiſeninduſtrie. Was 
die deutſche Volkswirtſchaft auf dieſem Gebiete in wenig mehr als vier Jahrzehnten geſchaffen 
hat, iſt weiteſten Volksſchichten durch den Krieg eindringlich vor Augen geführt worden. Weniger 
bekannt iſt es dagegen, wie die Grundlagen beſchaffen find, auf denen ſich die beiden In- 
duſtriezweige aufbauen: im weſentlichen die deutſchen Lagerſtätten an Kohle und Eiſenerz. 
Die vielfach anzutreffende Unkenntnis dieſer Grundlagen iſt in hohem Maße bedauerlich. 
Denn ohne eigene Bodenſchätze wäre das Fortbeſtehen unſerer Eiſeninduſtrie in einem Kriege, 
wie wir ihn jetzt zu führen haben, nicht möglich, es wäre alſo auch die Verſtärkung und Unter- 
haltung der eiſernen Rüftung unſerer Wehrmacht in dem notwendigen Ausmaß nicht durchzu- 
führen, und wir würden damit der Gnade der Feinde ausgeliefert ſein. Aus reichende 


Kohlen- und Eiſenerzlagerſtätten find deshalb gerade für uns wegen der geo— 
Der Türmer XX, 15 8 


W/ 


114 Die deutſchen Rohlen- und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege 


gstaphiſchen Lage unſeres Vaterlandes die entſcheidenden Machtfaktoten des 
Weltkrieges und etwaiger zukünftiger Kriege. 

Betrachten wir die Verhältniſſe etwas näher und wenden uns zunächſt der Kohle 
zu. Die vier großen Steinkohlengebiete Deutſchlands, in Niederrheinland⸗Weſtfalen, an der 
Saar ſowie in Ober- und Niederſchleſien und einige weitere, weniger wichtige Bezirke brachten 
im letzten vollen Friedensjahre, dem Jahre 1913, eine Steinkohlenförderung von 192 Mil- 
lionen Tonnen hervor. Dazu trat, in der Hauptſache aus dem rheiniſchen Braunkohlen- 
bezirk und den mitteldeutſchen Fördergebieten, eine Braunkohlenförderung in Höhe von 
87 Millionen Tonnen, jo daß Deutſchland insgeſamt über eine jährliche Kohlengewinnung 
von faſt 280 Millionen Tonnen verfügte. Dieſer gigantiſchen Förderung ſtand ein Verbrauch 
gegenüber, der zwar auch ins Rieſenhafte ging, an die Höhe der Förderung aber bei weitem 
nicht heranreichte. Er betrug im Jahre 1915 rechnungsmäßig 250 Millionen Tonnen, fo daß 
uns ein Überſchuß der Förderung gegenüber dem Verbrauch in Höhe von annähernd 
50 Millionen Tonnen verblieb. Wenn trotz dieſer überaus günſtigen Verſorgungsverhält- 
niſſe die Waſſerwege der Nord- und Oſtſee Jahr um Fahr rieſige Schiffsladungen engliſcher 
Steinkohle in unſer Vaterland brachten, wenn gleichzeitig die öſterreichiſchen Schienenſtränge 
und die Elbe zahlloſe Wagen und Kahnladungen böhmiſcher Braunkohle nach Deutſchland 
führten und auch andere Länder uns jährlich Hunderttauſende Tonnen Kohle lieferten, ſo 
war das in geographiſchen Verhältniſſen begründet, die einesteils der deutſchen Kohle weite 
und teure Bahnwege nach großen deutſchen Verbrauchsgebieten auferlegten, andernteils 
der ausländiſchen Kohle in billigen und verhältnismäßig kurzen Waſſerſtraßen günſtige Wett⸗ 
bewerbsmöglichkeiten boten. Im Wechfel gegen die eingeführten ausländiſchen Kohlenmengen 
gingen aber dieſe weit überwiegende Ladungen deutſcher Kohle ins Ausland, beſonders 
das benachbarte, das den vornehmlich an den Reichsgrenzen gelagerten deutſchen Stein- 
kohlenbezirken geographiſch als natürliches Abſatzgebiet beſtimmt erſcheint. Einer Gefamt- 
kohleneinfuhr von noch nicht ganz 19 Millionen Tonnen ſtand ſo eine Ausfuhr deutſcher Kohle 
in Höhe von 47 Willionen Tonnen, alſo eine mehrfach größere Menge, gegenüber. 

Den großen Förderzahlen des deutſchen Kohlenbergbaues entſpricht die Stärke der 
Quellen, aus denen er ſchöpft. Auf Grund genauer tatſächlicher Kenntnis von Mächtigkeit 
und Verbreitung der Flöze berechnen unſere Geologen den „ſicheren“, nach den heutigen 
Verhältniſſen abbaufähigen Kohlenvorrat in nicht unter 1500 Meter Teufe und den bau⸗ 
würdigen Vorrat, d. i. der in Flözen von einer beſtimmten Mindeſtmächtigkeit, auf 82 Mil- 
liarden Tonnen, wozu noch Braunkohlenvorräte treten, die nach einer veralteten, wahrſchein⸗ 
lich ſehr erheblich zu niedrigen Berechnung 10 bis 13 Milliarden Tonnen betragen ſollen. 
Neben den als ſicher bekannten abbaufähigen und würdigen Vorräten birgt der deutſche 
Boden weitere ungeheure Steinkohlenſchätze, die entweder unter der oben genannten Teufen“ 
grenze liegen, oder von den Geologen als „wahrſcheinlich“ und „möglich“ berechnet worden 
ſind. Faßt man dieſe Mengen mit den als ſicher bekannten zuſammen, ſo kommt man allein 
für Steinkohle zu einer Vorratszahl von über 400 Milliarden Tonnen, aus denen unſer 
Rohlenbedarf für Jahrhunderte gedeckt werden kann. 

Hinſichtlich einer der wichtigſten Rohſtoffverſorgungsfragen, der Kohlenbedarfsdeckung, 
brauchte uns alſo die engliſche Kriegserklärung vom 4. Auguſt 1914, die den Ring um un 20 
Vaterland weiter verengern ſollte, nicht zu erſchüttern. Hier ſtanden wir auf eigenen feſten 
Füßen. Wenn trotzdem in der ſpäteren Kriegszeit auch bei uns über zeitweiſe recht empfind 
lichen Kohlenmangel geklagt werden mußte, ſo ſind dieſe Verhältniſſe, wie die vorhergehen 
den Ausführungen zeigen, nicht eine Frage unſerer Kohlenlagerſtätten oder der techniſchen 
Leiſtungsfähigkeit unſeres Bergbaues, ſondern lediglich eine Frage der Arbeiterzahl, nach 
dem das Heer auch auf den Arbeiterbeſtand der Kohlengruben in ſteigendem Maße zurück 
gegriffen hatte, zeitweiſe auch nur eine Transportfrage. 


die deutſchen Kohlen- und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege 115 


git das Bild, das uns die Verhältniſſe der Kohlenverſorgung Oeutſchlands jetzt und 
für eine weite Zukunft bieten, ſomit überaus befriedigend, ſo ſtellen ſich die Verhältniſſe der 
deutſchen Eiſeninduſtrie weſentlich anders dar. Zwar nicht ihre Leiſtungsfähigkeit iſt es, 
die irgendwelche Bedenken erwecken müßte, denn Deutfchland ſteht mit ſeiner Eiſeninduſtrie 
an zweiter Stelle unter den Eiſen erzeugenden Ländern, nachdem die engliſche Eiſenerzeugung 
durch die deutſche ſchon kurz nach Beginn unſeres Jahrhunderts überflügelt worden iſt. Im 
letzten vollen Friedensjahre bezifferte ſich die deutſche Noheifenerzeugung auf 19,5 Millionen 
und die Stahlerzeugung auf 18,9 Millionen Tonnen, von denen, in unverarbeiteter und ver- 
arbeiteter Form, Mengen im Werte von über 2 Williarden Mark jährlich an das Ausland 
verkauft werden konnten. Dagegen ift es in der Verſorgung unſerer Eiſeninduſtrie mit Roh- 
ſtoffen, beſonders dem wichtigſten Grundſtoff, dem Eiſenerz, nicht ſo beſtellt, wie es ihre 
Wichtigkeit für die Volkswirtſchaft und beſonders ihre Bedeutung für die Kriegewirtſchaft, 
wenn ausländiſche Bezugsquellen abgeſchnitten find, erfordern. Die Verſorgungsverhält- 
niſſe des Jahres 1913 verdeutlichen uns dieſe betrübende Lage. 

Legen wir unſerer Betrachtung der Verſorgung Deutichlands mit Eiſenerz im letzten 
vollen Friedensjahre die Rechnung Eigenförderung plus Einfuhr minus Ausfuhr zugrunde, 
ſo kommen wir zu einer Verſorgungszahl von rund 47,3 Willionen Tonnen, von denen nach 
Abzug der nicht ſehr bedeutenden Ausfuhr 33,5 Millionen Tonnen aus dem znlande und 
14 Millionen aus dem Auslande ſtammten. Iſt ſchon nach dieſen Zahlen der Anteil des aus- 
ländiſchen Eiſenerzes in die Augen ſpringend, fo erweiſt er ſich als noch ſtärker, wenn man 
den verſchieden hohen Eiſengehalt des in- und ausländiſchen Erzes in Rechnung ſtellt, da 
das einge führte Eiſenerz weit reichhaltiger iſt als das deutſche. Einem durchſchnittlichen Eifen- 
gehalt des deutſchen Eiſenerzes von noch nicht ganz 34% ſteht ein ſolcher des ausländiſchen 
von etwa 55 % gegenüber. Nach dem Eiſengehalt war auf Grund dieſer Zahlen das deutſche 
Erz im Jahre 1915 nach Abzug der Ausfuhr an unſerer Verſorgung mit 9,7 Millionen Tonnen, 
das aus ländiſche mit 7,7 Millionen beteiligt, das heißt, daß unſer Eijenerzbedarf des Jahres 
1915 zu 44 % aus dem Auslande gedeckt wurde. Unſere Eiſeninduſtrie kann ſich alfo 
in normalen Zeiten nur zu wenig mehr als der Hälfte ihres Bedarfs auf die 
heimifhe Eiſenerzförderung ſtützen. 

Ein Glück iſt es unter dieſen Umſtänden für unſere Kriegswirtſchaft, daß ein erheblicher 
Teil der ausländiſchen Erze aus einem Staate ſtammt, der zu den wenigen Ländern gehört, 
die uns im Kriege ihre Sympathie bewahrt haben und zu dem uns die Verbindung nicht ab- 
geſchnitten werden konnte, nämlich den ſchwediſchen Erzlagerſtätten, aus denen im Jahre 
1915 unter Hinzurechnung der Einfuhr aus Norwegen 38 unſerer geſamten Eifenerzein- 
fuhr, auf den Eiſengehalt bezogen, herrührten. Ein Glück war es ferner, daß unſere Heere 
in ihrem ungeſtümen Siegeslauf der erſten Kriegswochen wichtige Teile der reichen franzö— 
ſiſchen Eiſenerzbecen eroberten und unſerer Eiſenerzeugung dienſtbar machten. Hätte auch 
in Schweden ein anderer Begriff der Neutralität Platz gegriffen, als er Gott ſei Dank be- 
fleht, wäre uns das Kriegsglück in Frankreich weniger hold geweſen, fo hätte es in der Ver- 
ſorgung unſerer Eifeninduftrie mit Erzen und damit unſerer Heere mit Waffen und Munition 
verhängnisvoll ausgeſehen. Denn unſere eigene Eiſenerzförderung reicht, wie ſchon die vor- 
ſtehenden Verſorgungszahlen gezeigt haben, zur Oeckung unſeres Bedarfs bei weitem nicht aus. 

Die Urſache der Unfähigkeit unſerer Eijenerzförderung, den Bedarf zu decken, iſt darin 
zu ſuchen, daß unſere Lagerſtätten zwar abſolut nicht unbedeutend, verhältnismäßig aber 
ganzlich ungenügend find, den gewaltigen Anforderungen unſerer Eiſeninduſtrie zu ent- 
ſprechen. Die neueren geologiſchen Berechnungen beziffern unſere Bodenſchätze an Eifen- 
erz, die ohne jede Vorausſetzung unter den heute geltenden Bedingungen gewonnen werden 
konnten, einſchließlich der luxemburgiſchen auf 2,8 Milliarden Tonnen, neben denen noch 
etwas über 1 Milliarde Tonnen vorhanden ſind, deren Gewinnbarkeit „vom Eintritt weniger 


116 Die deutſchen Nohlen und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege 


und leicht erfüllbarer Vorausſetzungen“ abhängt. Die außerdem noch vorhandenen Erzvor- 
räte find wahrſcheinlich erheblich, aber zahlenmäßig nicht bekannt und erſt unter den ver- 
änderten Wirtſchaftsbedingungen einer fernen Zukunft verwertbar; fie müſſen deshalb hier 
unberückſichtigt bleiben. Unſere Erdſchätze an Eifenerz, mit deren Gewinnbarkeit heute ge- 
rechnet werden kann, betragen alſo annähernd 4 Milliarden Tonnen. Das iſt, abſolut be- 
trachtet, eine impoſante Zahl. Sie ſchrumpft aber ſchon ſehr zuſammen, wenn man berück- 
ſichtigt, daß von der Geſamtmenge 2,6 Milliarden Tonnen, alſo weit mehr als die Hälfte, 
auf das niedrighaltige lothringiſch-luxemburgiſche Eiſenerz, die Minette entfallen, für die 
nur mit einem durchſchnittlichen Eiſengehalt von etwa 30 gerechnet werden kann. Noch 
beſcheidener, im Hinblick auf die Zukunft ſogar beängſtigend beſcheiden erſcheinen die Vor⸗ 
räte, wenn man fie zu der Eiſenerzmenge in Beziehung bringt, die wir ihnen jährlich ent- 
nehmen. Unſere Jahresförderung an Eiſenerz betrug, wie weiter oben ſchon ausgeführt 
wurde, im Jahre 1913 rund 36 Millionen Tonnen. Unter Berückſichtigung der zu erwarten 
den ſtarken Steigerung unſerer Eiſenerzfoͤrderung in der Nachkriegszeit und angenommen, 
daß unſere heute noch nicht berechneten Eiſenerzvorräte für eine längere Reihe von Zaht- 
zehnten noch nicht in Angriff genommen werden können, würden wir auf Grund der ganz 
rohen, hier aber genügenden Rechnung Eiſenerzvorräte: Jahresförderung zu dem Ergebnis 
kommen, daß unſere heute bekannten und bauwürdigen Eiſenerzvorräte nur 
noch für einen Zeitraum von etwa vier bis fünf Jahrzehnten reichen. 

Wir haben eingangs unſerer Ausführungen ſchon auf die zur Allerweltsweisheit ge- 
wordene Tatſache hingewieſen, daß Feldherrngenie und Maſſenheere allein den modernen 
Krieg nicht mehr entſcheiden und daß als mitentſcheidender Machtfaktor des Krieges der Auf- 
wand eines Niefenapparates mechaniſcher Kampf- und Abwehrmittel zu ihnen getreten iſt, 
deſſen Erſtellung und Unterhaltung eine breite Kohlen- und Eifenerzgrundlage zur Voraus- 
ſetzung hat. Die nach vorſtehenden Ausführungen in wenigen Jahrzehnten zu erwartende 


Erſchöpfung unſerer Eiſenerzlager eröffnet ſomit einen niederſchmetternden Ausblick für die 


Sicherheit unſerer vaterländiſchen Verteidigung in einer nahen Zukunft. 

Erfreulicherweiſe bietet uns jedoch die Kriegslage die Möglichkeit, in den geſchilderten 
Verhältniſſen eine weſentliche Beſſerung herbeizuführen. Die Gebiete Frankreichs, die von 
der eiſernen Fauſt unſerer Heere umſpannt jind, bergen reiche Eiſenerzlager, beſonders an 
der deutſch-lothringiſchen Grenze. Der beſetzte Teil des Eiſenerzbeckens von Briey-Longwy 
umfaßt ſchätzungsweiſe einen Eiſenerzreichtum von 2,3 Milliarden Tonnen, der dazu berafen 
erſcheint, die Minettelager Deutſch-Lothringens zu einem für viele Jahrzehnte vergrößerten 
Reſervoir zu geſtalten. Für uns und unfere demnächſtigen Friedensunterhändler erhebt ſich 
deshalb die nicht zu umgehende Forderung: Hände auf die Taſchen! Wir müffen einen Teil 
deſſen behalten, was unſere Brüder gegen den Überfall des Erbfeindes mit Leben und Blut 
errungen haben. Die Sicherung der vaterländiſchen Verteidigung für eine wei- 
tere Zukunft fordert gebieteriſch den Beſitz des franzöſiſchen Erzbeckens von 
Briey und Longwy, der durch eine Grenzberichtigung von wenigen Quadrat 
kilometern Umfang herbeizuführen iſt. K. Bierbrauer 


N 


Die Fünfzigjäprigen | | 117 
Die Fünfzigjährigen 

Nu einem amerikaniſchen Geſchäftsmann kommt ein ausgewanderter Oeutſcher: 
| „Herr, nehmen Sie mich in Arbeit! Ich bin zwar ſchon über fünfzig Jahre alt, 
IN. kann aber noch mindeſtens ebenſoviel wie ein Junger leiſten.“ Der Amerikaner 
ſeht erſtaunt den Bittſteller an: „Iſt das in Oeutſchland fo Sitte, daß auf die Arbeit der Fünf⸗ 
deſahrigen verzichtet wird? Ich verlange eine beſtimmte Arbeit und bezahle fie. Könnt ihr 
die Arbeit leiſten, fo geht mich euer Alter nichts an!“ 

Sn der Tat, meint der „Vorwärts“, es iſt fo, daß man in Deutſchland dem mehr als 
Fufzigjährigen, der Arbeit irgendwelcher Art ſucht, nicht mehr viel Leiſtungskraft zutraut 
md ihn in neunzig von hundert Fällen abweiſt. Man prüft gar nicht erſt, was er kann, man 
weit ihn ab, weil er „zu alt“ iſt. Als der Weltkrieg ſich in die Länge zog, ſchien das anders 
werden zu wollen. Mit einem Male erkannte man die Leiſtungsfähigkeit des Fünfzigjährigen, 
weil man ihn nötig brauchte. Je mehr jüngere Leute zu den Vaffen gerufen wurden, und je 
mehr Lücken dadurch auf allen Arbeitsgebieten entſtanden, deſto lauter wurde der Ruf nach 
Ersatz, der nur in den älteren Jahrgängen gefunden werden konnte. 

Können die Fünfzigjährigen oder die noch älteren überhaupt Erhebliches leiſten? 
gener Amerikaner, frei von dem Vorurteil, das bei uns lange genug und ſehr tief eingeriſſen 
war, fagte fih> „Traue ich dir nichts mehr zu, dann darf ich auch mir nichts mehr zutrauen, 
ſobald ich dein Alter erreicht habe.“ Der praktiſche Geſchäftsmann weiß insbeſondere zu 
ſchätzen, daß ältere Leute auf vielen Arbeitsgebieten erfahrener, zielſicherer, ſorgfältiger und 
zuverläſſiger find als jüngere Menſchen. Natürlich wird es Fünfzigjährige geben, die ſo gelebt 
haben oder ſo ausgenutzt ſind, daß ſie tatſächlich mit ihrer körperlichen und geiſtigen Kraft 
ſchon weit hinter dem Ourchſchnitt ſtehen. Die Mehrzahl der Fünfzigjährigen kann aber ohne 
jeden Zweifel auch ſehr hohen Anſprüchen genügen. 

Was haben die Fünfzigjährigen während des Weltkrieges geleiſtet? An Mannſchaften 

wie an Offiziere wurden ohne Kückſicht auf das Alter die denkbar höchſten Anforderungen 
geſtellt. Und dann blicke man auf die vielen Zehntauſende von Alteren hinter der Front, die 
Arzte, Krankenpfleger, Eiſenbahner, Poſtbeamten, Induſtriearbeiter, Handwerker und alle 
die ungezählten anderen, die an dem Rieſenapparat des vaterländiſchen Hilfswerkes mit- 
arbeiteten, die zahlreichen mehr als fünfzig Jahre alten Frauen nicht ausgenommen. Un- 
geheures iſt da im einzelnen und in der Geſamtheit geleiſtet worden. Viele, die Arbeit zu 
vergeben und bisher gedankenlos das Vorurteil gegen Bejahrtheit mitgemacht hatten, waren 
ehrlich erſtaunt, wie tapfer die ehedem „zu alten“ ihre Pflicht erfüllten. Vielleicht regte ſich 
hier und da auch das Gewiſſen. 
Wird man dieſe Arbeitstüchtigkeit der Fünfzigjährigen auch in Zukunft anerkennen? 
Was an ſchönen Worten aufgebracht werden konnte, das haben wir bei uns im Weltkriege 
gehört. Nur zu leicht vergißt ſich ſolche erhebende Sprache des Herzens und der — Not. In 
einem Staate, der dieſe Erfahrungen geſammelt hat, darf das ſozial brutale „zu alt“ in der 
früheren Form keine Berechtigung mehr haben. Wer mit fünfzig und mehr Jahren fähig iſt, 
Erhebliches zu leiſten, muß Gelegenheit erhalten, ſein Können zu beweiſen. Vor allem müſſen 
die Staats- und Gemeindebetriebe gründlich umlernen, nicht nur von ſich aus, ſondern auch 
mit ihrem Einfluß auf die großen Privatunternehmen. Sind die Fünfzigjährigen und noch 
Alteren zur Arbeit gut in Zeiten der Not, fo ſoll man fie unter anderen AUmftänden nicht ab- 
ſchuͤtteln und die noch Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen aus törichten Vorurteilen oder aus 
toher Gewinnſucht dem Elend preisgeben. Im anderen Falle muß folgerichtig das Recht 
auf Altersrente — auf 50 Jahre herabgeſetzt werden. 


/ 2 


118 Erinnerungskranze 


Erinn erungskränze | 


9 6 1 7 an wagt kaum von denen zu ſprechen, die jetzt daheim ſterben: ihr Schicſal, das 
57 9. WN. 0 N fie erſt im früchtereifen Herbſt dahinrafft, ſcheint jo gütig und milde im Ver⸗ 
gleich zu dem der Unzähligen, die aus der Erntearbeit des Sommers geriffen 
werden oder gar im erſt blühenden Frühling. Doch fühlen wir ja gerade jetzt, wie es des 
Schaffens aller bedarf zum Gelingen des großen Ganzen, und ſo legen wir dankbar einen 
Kranz der Erinnerung auf die Gräber jener, die irgendwie und irgendwo zur Bereicherung 
dieſes Daſeins mitgeholfen haben. 

Mit Hanns von Zobeltitz iſt einer der liebenswürdigſten Menſchen geſtorben, denen 
ich je begegnet bin. Und dieſe Liebenswürdigkeit zählt doppelt, denn er war Redakteur, ein 
Beruf, der auch die reichſte Fülle eingeborener Muttermilch friedlicher Denkungsart in gärend 
Drachengift zu wandeln imſtande iſt. 27 Jahre lang hat er die Redaktion des „Daheims“ 
geführt, wohl ſeit ihrer Begründung iſt er in der der Velhagen & Klaſingſchen Monatshefte 
tätig geweſen, dazu kam dann feine Mitwirkung bei den zahlreichen Monographien und ande- 
ren Unternehmungen des Verlags. Nur wenn ſich mit rieſiger Arbeitskraft der ſichere Ne- 
daktionsinſtinkt mit höchſter Gewiſſenhaftigkeit eine doch leichte Hand vereinigt, vermag man, 
eine derartige Berufslaſt ſo lange zu tragen, ohne griesgrämiger Menſchenhaſſer zu werden. 
Zobeltitz war der Redakteur-Kavalier, wenigſtens bei uns in Oeutſchland ein fehr ſeltenes Ge- 
wächs, an deſſen Gedeihen bei ihm der Landedelmann und der Offizier gleichen Anteil hatten. 
Die ſtrenge Selbſtzucht des letzteren darf nicht unterſchätzt werden, ſolange die Selbſterziehung 
immer die beſte Vorbereitung für den Erzieherberuf an anderen — ein ſolcher aber iſt der 
Redakteur — iſt. 

Aber Zobeltitz hat neben ſeiner rieſigen Berufstätigkeit nicht nur die Zeit für ein reges 
geſellſchaftliches Miterleben behalten, ſondern ſich auch Laune und Friſche für fein ausgezeich- 
netes Erzählertalent bewahrt, dem eine treue Leſerſchaft über ein Viertelhundert Bände ver- 
dankt. Schon als Offizier hatte er unter dem Decknamen Hanns von Spielberg, der durch 
Auslaſſung zweier Buchſtaben aus dem Namen feines heimatlichen Gutes Spiegelberg ge- 
bildet war, ſeine erſten Erzählungen veröffentlicht. Das erſte Buch führte den Titel „Gräfin 
Langewelle“, und es iſt, als ob er auf der Spitze ſeines Degens das aufgeſpießt habe, was 
er zeitlebens am meiſten gehaßt und auch erfolgreich bekämpft hat, eben die Langeweile. 
Bücher wie „Auf märkiſcher Erde“, „Marſchall Vorwärts“ und aus der letzten Zeit „Sieg“ 
und „Prinzeſſin aus Java“ laſſen es doch nicht zu, dieſe Seite ſeines Schaffens mit einer vor- 
nehmen Handbewegung abzutun. Fedenfalls find Hunderte der mit höchften Anſprüchen auf 
tretenden Romane und Novellen, die in dieſen 30 Jahren der Romanſchriftſtellerei Zobel 
tig und der jeweils herrſchenden Mode als literariſche Kundgebungen erſten Ranges geprieſen 
worden ſind, längſt völlig im Meere der Vergeſſenheit verſunken, während ſeine Bücher noch 
immer gern geleſen werden. Sie ſind vorzügliche Unterhaltungswerke, ausgezeichnet durch 
gute Beobachtung, ſichere Charakteriſtik, ausgeſprochenes Erzählertalent und darüber hinaus 
durch eine vornehme, echt männliche und echt deutſche Geſinnung. Zobeltitz iſt 65 Jahre alt 
geworden, der Tod des hochragenden und kräftigen Mannes iſt auch Naheſtehenden unerwartet 
gekommen. Am jetzigen Kriege hat er, der als halbflügger Jüngling den Feldzug von 1870 
mitgemacht hatte, leidenſchaftlichen Anteil genommen. — 

Faſt um zehn Jahre älter iſt Timm Kröger geworden, von feiner kerndeutſchen Art 
abgeſehen in allem ein Gegenſatz des Jüngeren, eine ſtille, von der Welt ſich abſchließende 
Natur, langſam ſchaffend, das, was man als Geſellſchaft bezeichnet, auch als Schriftſteller 
meidend; ihm kam es ganz auf die Oarſtellung der ſeeliſchen Entwicklung des Einzelmenſchen 
an. Mit ſich ſelber fertig werden iſt das Hauptziel ſeiner fein ziſelierten Novellen. Die enge 


genſelts von Schützengraben und Stachelbraht 119 


Heimat gibt den, Hintergrund. Wir haben das Lebenswerk des Heimgegangenen, der auch 
dem Tuͤrmer ein lieber Mitarbeiter war, anläßlich des Erſcheinens der Geſamtausgabe feiner 
Werke geſchildert und können uns heute damit begnügen, eindringlich auf dieſe nn gewid- 
tigen bei Janſen in Hamburg erſchienenen Bände zu verweiſen. K. St. 


2 
genfeits von Schützengraben und Stacheldraht 


una 
95 * 0 enſeits von Schützengraben und Stacheldraht, die in den verfloſſenen vier Jahren 
260 unſerem inneren und äußeren Leben und Erleben den Stempel aufdrückten, blühten 
dieſe beiden vor mir liegenden Bücher auf — Karl Grubes „Bei deutſchen Brüdern 
im n Urwald Braſiliens“ (Verlag Th. Weicher, Dieterichſche Verlagsbuchhandlung) und P. Bräun- 
lichs „Kurländiſcher Frühling im Weltkrieg“ (Verlag der Täglichen Rundſchau). 

Wohl blühen fie jenſeits der Schützengräben, ferne dem Ringen und Erleben dieſer Tage, 
und doch — beide wurzeln ſie tief in dem wundenverſchorften und tränengedüngten deutſchen 
Vaterlande. Beide ſtehen fie mahnend und wegweiſend vor uns und, gebe es der Himmel, — 
auch in uns. Sagen uns beide, ſei es für das gefährdete Deutſchtum Braſiliens, ſei es für die 
geknechteten deutſchen Brüder des Baltenlandes, eindringlich, daß die unermeßlichen Blutopfer 
dieſes gigantiſchen Ringens nicht für ein Scheidemannſches —Erzbergerſches enges und be- 
engtes Deutſchland gebracht wurden, ſondern für ein ſich aufreckendes, neidbefreites Deutſch- 
land, das deutſchen Fleiß und Regſamkeit auch jenſeits unſerer Grenzpfähle zu ſchützen weiß. — 
Und nun zu den Büchern ſelbſt. Verfolgen und erreichen fie auch beide das gleiche Ziel, fo 
doch mit verſchiedenen Mitteln, in künſtleriſch ungleicher Wertigkeit... Karl Grube ſchildert 
in wohl etwas bilderarmer, doch herzerfriſchend klarer Sprache feine Reife in Südbrafilien. 
Eine glückliche Beobachtungsgabe und der Umſtand, die beſten unſerer deutſchen Koloniſten 
in Suͤdbraſilien kennen zu lernen und ſich in tiefſchürfenden Geſprächen bereichern zu dürfen, 
geben uns, die wir mit offenen Augen leſen wollen, beträchtliche Werte in die Hand. Schon 
im Vorwort ſteht ſein Programm feſt, nämlich die Beweisführung anzutreten, daß alle Aus- 
landsdeutſche ein geiſtiges Band umſchlingt und das, was deutſch iſt, auch deutſch bleiben wird 
und muß, wenn wir daheim — und darin liegt die Mahnung beider Bücher — ſie wurzelecht 
und wurzelgeſund uns zu erhalten wiſſen. Mit offenem Herzen und offenen Augen hat Grube 
Braſilien bereiſt und fein Loblied klingt echt und glaubwürdig, das er auf die deutſchen Siede- 
lungen Südbrafiliens anſtimmt zum Unterſchiede von den Bindeſtrich- Amerikanern, die nur 
zu oft „Oollarika“ als „Vankee- Guano“ dienen, — wenn er Zoinville und Blumenau als Oaſen 
wahrer deutſcher Kultur anſpricht. Unermüdlich hat der Verfaſſer mit den Koloniſten Fühlung 
geſucht, deren Denken und Fühlen übereinſtimmen mit dem, was Grubes Urwaldphiloſoph, 
ein ehemaliger Leutnant aus dem Feldzuge von 70/71, ſagt: „Oen deutſchen Kaſtengeiſt können 
wir bei uns nicht brauchen, denn hier iſt jeder Germane Edelblut, der letzte Arwaldbauer wie 
der reiche Handelsherr in Porto Alegre und Rio de Janeiro. Was deutſch iſt in Braſilien, muß 
feſt zuſammenſtehen. Wer ſich von der allgemeinen Menſchenverbrüderung ſchnell und gründ- 
lich kurieren laſſen will, der ſtudiere in Brafilien die Erfolge der RNaſſenmiſchung. Der Oeutſche 
hält ſich hier raſſerein und kommt vorwärts. Aber wir brauchen hier nicht nur derbe deutſche 
Fäufte, ſondern auch wirklich feine deutſche Köpfe! Und daran fehlt es noch bedenklich. Na- 
mentlich das Großkapital follte nicht fo „bangbüchſig“ fein. Wenn Sie heimreiſen, dann künden 
Sie bitte daheim den Horchenden an, daß hier ein reiches herrliches Land den Brautkuß der 
germaniſchen Rultur erwartet. Aus Braſilien muß und wird etwas werden, und ehe John 
Bull und Onkel Sam hier einhaken, ſollte Michel ſeine Pioniere zu friedlichem Vettbewerb 


120 Senfeits von Schützengraben und Stachelbraht 


ſenden. Wir brauchen Zäufte und Köpfe, guten Willen und gutes — Geld! Sagen Sie das 
bitte daheim ...“ — And an einer anderen Stelle heißt es von dem Wettbewerbe um die 
Führung auf handelspolitiſchem Gebiete: „England will die reichen Bodenſchätze ausbeuten, 
das Großkapital iſt ſchon mobil gemacht, und Zohn Bull pumpt lächelnd den Negerbaſtarden 
Millionen. Engliſches Kapital und Bankeegold ſichern ſich heute die reichſten Minen. Deutfche 
Ingenieure entdeckten fie, John Bull und Bruder Jonathan kaufen fie, Trotzdem die Export- 
firmen in den beiden Nordſtaaten Para und Amazonas ebenſo wie die an dem Kautſchuk⸗ 
transport beteiligten Dampfer faſt durchweg deutſcher Nationalität find, geht faſt die ganze 
Kautſchukproduktion nach London. Auch hier wieder die alte Sache: der engliſche Zwiſchenhändler 
macht den Weltmarktpreis. Die ſmarten Vankees möchten namentlich deshalb Braſilien kapern“, 
um den läſtigen Baumwollkonkurrenten unſchädlich zu machen. Und noch etwas anderes. Die 
japaniſche Einwanderung nach Braſilien nimmt beſtändig zu. Zwiſchen Tokio und Rio de 
Janeiro werden eifrige Verhandlungen gepflogen, um den Bevölkerungsüberſchuß aus dem 
Reiche der aufgehenden Sonne nach dem Lande des fühlihen Kreuzes abzulenken. Ja, es 
ſoll fogar ein Übereintommen beſtehen, nach welchem beide Staaten die Hälfte der Überfahrts- 
koſten für die Auswanderer beſtreiten. Alſo, Michel, halte die Ohren ſteif und behaupte dich 
endlich einmal in dieſem reichen Zukunftsland als zielbewußter Mitbewerber und nicht als 
Hans der Träumer, der überall zu fpät kommt.“ — Immer wieder klingt es durch Grubes tapferes 
und gutes Buch: Unſer Verſagen, wenn es ſich um die leidige Politik handelt. Der Oeutſche 
hat es auch hier wieder nicht verſtanden, ſich politiſch zur Geltung zu bringen, ganz im Gegen- 
ſatz zu den Italienern und Polen. — Angſt, irgendwen zu provozieren, falſche Beſcheidenheit 
find die Beweggründe. Erſteres mag wohl etwas für ſich haben, die Luſobraſilier find Fana⸗ 
tiker der Politik. Doch deren Stunden ſcheinen gezählt zu ſein. Tuberkuloſe und Lues dezimieren 
dieſes wenig bildungsfähige Miſchblut. — Erfreuliches weiß Grube aus dem Staate Rio Grande 
do Sul zu berichten, wo Schweizer, Oſterreicher, Holländer und Skandinavier als germaniſches 
Blut feſt zuſammenhalten, fo daß ſelbſt die Eingeborenen ſich bequemen müſſen, die deutſche 
Sprache zu erlernen. Ein treffendes Beiſpiel von dem Erfolge eines geſtärkten deutſchen Selbſt⸗ 
bewußtſeins. Im Gegenſatz hierzu das klägliche Verſagen der „Kompromiß und Atilitäts⸗ 
menſchen“ in Joinville, wo es in dem bekannten Rechtsſtreite des Deutſchen Kullak bei einer 
deutſchen Bevölkerung von 80 % geſchehen konnte, daß der Pöbel Kullak zwang, die braſiliſche 
Flagge zu küſſen! Und noch von einer weiteren Gefahr für das Deutſchtum in Südbrafilien 
ſpricht der Verfaſſer: Die Zeſuiten. — In Porto Alegre erſcheint eine Zeitung „Oeutſches 
Volksblatt“, die es ſich angelegen fein läßt, wenn es die Intereſſen der reichsdeutſchen Zentrums; 
partei erheiſchen, deutſche und völkiſche Regungen zu verhöhnen. Wie der deutſche Kaiſer, das 
Volk, die Proteſtanten und der Reichstag in dieſem Blättchen angepöbelt werden, iſt hier im 
Auslande bei ſeiner großen Verbreitung doppelt gefährlich und widerlich. Grube ſchließt ſein 
Buch mit den beherzigenden Worten: Was Engländer und Vankees, Franzoſen und Staliener 
ſchon lange tun, muß auch der Oeutſche lernen: Rüdfichtslofe Unterftüßung aller Germanen 
über See. — — 

Um dem Buche P. Bräunlichs, in dem nicht nur auf der Titelſeite vom Frühling ge- 
ſchrieben ſteht, ſondern aus deſſen Seiten uns ein feiner, herber Frühlingsatem entgegenweht, 
gerecht zu werden, genügt es, das hier wiederzugeben, was ein hervorragender Baltenführer 
nach der Lektüre dem Verlage geſchrieben hat: „Das Werk Bräunlichs verklärt ja etwas, abet 
es iſt zart und ſinnig und wirbt um Liebe für unfer liebes, deutſches Land. Über Kurland und 
feinen deutſchen Bewohnern liegt etwas Urſprüngliches, ja Arwüchſiges. Die einen freuen ſich 
daran, die anderen nennen es Rüdftändigkeit. Manche verdrießt es, daß baltiſche Geſchichte 
einen baltiſchen Typ erzeugte. Sie finden uns knorrig und wollen uns ſchnell behobeln, damit 
wir hübſch in ihren Baukaſten hineinpaſſen. Andere meinen, daß man die zadigen Eichen in 
der Halde, die jo wachen, wie die Stürme fie formen, nicht deshalb zu tabeln braucht, weil 


Zenfeits von Schützengraben und Stacheldraht N 121 


ſie anders wurden als all die Bäume, die ſich in zu dichten Beſtänden muͤhſam zum Lichte durch- 
teckten. Bräunlich habe ich liebgewonnen, weil er ſtill finnend durchs Land gewandert iſt und 
beobachtet hat, wie Kurland arbeitet, nicht wozu man es verarbeiten könnte. Das danke ich 
ihm, daß er hinhörte, was in unſeren ſchlafenden Wäldern rauſcht und raunt und nicht darauf 
aus war, zu berechnen, was für Möbel ſich aus ihnen machen ließen in Berliner Tiſchlereien, 
an die wir übrigens gern liefern wollen, denn wir wollen nicht nur beobachtet, ſondern auch 
gebraucht werden.“ 
Und wenn wir im Anſchluß an dieſe Zeilen die Klage der Balten leſen: 


„er iſt in der Welt ſo arm wie wir, 
So rechtlos und verlafjen? 

Das eigne Reich zertritt uns ſchier 

In feinem blindwütenden Haſſen. 
Gott ſei's geklagt, im Kriegesbrand 
Wir Balten haben kein Vaterland.“ 


Dann ſpüren wir die Größe ihres Herzeleides, die ihnen ihre innere Zerriſſenheit, verurſacht 
durch den Weltkrieg, gebracht hat: Deutſche Treue, die fie in ihrem dem Zaren geleiſteten 
Treueid auf Rußlands Seite riß, lag mit ihrem tiefinnerlichſten und echteſten deutſchen Emp- 
finden, das ſie, den Regungen des Herzens folgend, an die Seite ihrer Blutsbrüder drängte, 
im harten Widerſtreit. Dann ſpuͤren wir auch, wie blutig fie die Dornenkrone der Achtung drückte: 
„Ein Balte hat nie Verrat geübt!“ — Und von dem Martyrium unter der Moskowiter Ne- 
gierung künden jene Worte, die ein Baltenführer im Juli 1916 von der Kanzel von St. Marien 
zu Oanzig ſprach: „Man wollte uns unter Rußlands Macht anders machen, als wir ſind und 
denken. Das haben wir nicht gelitten. Darum haben wir jo viel gelitten. Wir find ein evange- 
liſches Volk und ein deutſches Volk. Man hat uns klein machen wollen, aber man hat uns nicht 
klein gekriegt. Man hat unſere Söhne ins Feld geſchickt, um gegen unſere deutſchen Brüder 
zu kämpfen. Und da riß das Band.“ — Frühlingsduft entſtrömt dieſem Buche, und wie Frühlings- 
glocken klingen die Worte, die an die hohen Tage Wittenbergs erinnern: Für feine lutheriſche 
Kirche hat ſich der kurländiſche Adel ſeit alters große Opfer auferlegt. Kirche und Schule ſind 
den Balten das Höchſte und gaben ihm das Beſte. Und auch der gemeinſame deutſche Glauben 
wird es ſein, der einmal Balten und Letten zuſammenführen wird. Schon heute ſind die 
Letten kaum mehr als fremdſprachige Deutſche. Ihr geſondertes Sprachgebiet und das ſich 
von andern abſchließende Volkstum nach dieſem Kriege ſich zu bewahren, wird ihnen un- 
möglich ſein. 

Ein Baltenführer ſprach angeſichts des anhaltenden Geburtenrückganges von einem 
Ausſterben der Letten. Gerade an dieſer Stelle weiſt der Verfaſſer auf die große Gefahr hin, 
die uns vor Kriegsausbruch vom Oſten drohte: „Schon ſtanden 300000 Ruſſen vor der Tür, 
das Erbe der Letten anzutreten. Bauern aus dem Innern des Reiches in dieſer gewaltigen 
Zahl auf den kurländiſchen Krongütern anzuſiedeln, hatte die ruſſiſche Regierung beſchloſſen. 
Sie wären der Vortrupp einer rieſenhaften Völkerwanderung geweſen.“ — Auch ein anderer 
Ausſpruch eines Balten ſollte uns zu denken geben: „Kehren die Ruſſen nach Kurland zurück, 
dann iſt unſeres Bleibens dort nicht mehr. Mit oder ohne Schuhe laufen wir dem letzten 
deutſchen Landwehrmanne nach!“ — Doch darf es dahin kommen? — „Nein, Baltentreue 
und Baltenleid hat beſſeren Lohn verdient. In Livland und Eſtland, ſo gut wie in Kurland 
ſchreit durch den Kampf von Jahrhunderten geheiligte Erde nach endlicher, voller Befreiung 
vom Drucke einer auf Vernichtung ausgehenden Fremdherrſchaft.“ — Und der Weg? — Oer 
Verfaſſer weiſt ihn uns: „Jene Länder deutſcher Kultur müffen heraus aus dem ruſſiſchen 
Reichs verbande. Die Sicherheit unſeres Vaterlandes erfordert gebieteriſch die Vorſchiebung 
feiner Grenzen bis zur alten Völkerſcheide am Peipusſee. Keinesfalls kann das Oeutſche Reich 


122 Stilwandlungen und -Zerungen 


tatenlos zuſehen, wie zwei Millionen Deutſche in Europa vor feinen Augen abgewürgt werden. 
Aus ihrer deutſchen Heimat darf kein weſtliches en en wo Rußland Kerntruppen 
heranzieht für den großen Rachezug gegen Deutſchla 

Kein Geringerer als Bismarck war es, der in feiner Oſtmarkenpolitit die Bedeutung 
der Länder gen Sonnenaufgang neu entdeckte und damals viel Spott und Widerſpruch weckte. 
Und heute geht wieder einmal Kreuzfahrerſtimmung durch das deutſche Volk, doch ein frieb- 
liches Werk der Beglückung und Befreiung ſoll es werden! 


„Nun Oeutſchland gilt's! Nun raff' dich auf! 
Setzt rette dein altes Land. 

Läßt Aſiens Horden du den Lauf, 

Verlierſt du den deutſchen Strand. 

Nun packe mit feſtem Griffe, was dein 

Und was dir ſtammverwandt. 

Nicht ſoll es moskowitiſch ſein — 

Nein, deutſch — das Baltenland.“ 


DI 
Stilwandlungen und Irrungen 


karl O. Hartmann, der Verfaſſer einer ausgezeichneten „Geſchichte der Baukunſt“ 
und des weitverbreiteten kleinen Handbüchleins der „Stilkunde“ in der Göſchenſchen 
Sammlung, hat unter dem Titel „Stilwandlungen und Frrungen in den an- 
gewandten Künſten“ (München, R. Oldenbourg; 2 4) ein Büchlein herausgebracht, das weit 
über den reichen Inhalt an tatſächlichem Material hinaus wertvoll iſt durch die klare Erkenntnis 
innerlich treibender Kunſtkräfte. Die Tatſache, daß unſerer Kunſt der innere Zuſammenhang 
mit unſerm Volkstum verlorengegangen iſt, hat ſich zu Beginn des Krieges mit einer fo elemen- 
taren Kraft der allgemeinen Erkenntnis aufgezwungen, daß man ſie ſich jetzt nicht nachträglich 
durch irgendwie intereſſierte Kreiſe ſollte wegſchwätzen laſſen. Nachdem die allgemeine Auf- 
lehnung ihr zunächſt die Rede verſchlagen oder bei den ganz Geſchwinden ein raſches Umfatteln 
bewirkt hatte, hat ſich unſere Kunſtkritik inzwiſchen wieder erholt und plätſchert nun, eigentlich 
noch anmaßender als zuvor, im alten Waſſer weiter. Die meiſten Deutſchen haben ja jetzt 
Wichtigeres zu tun; fie find von dem Kampf um Sein und Nichtfein ihres Volkstums fo in An- 
ſpruch genommen, daß ſie kaum für anderes mehr Zeit und Sinn haben. Das benutzen jene 
Kreiſe, die ſich von „nationaliſtiſchen Wallungen unberührt zu halten“ verſtehen, um ſich in 
jenen Gebieten die endgültige Herrſchaft anzueignen, die ihrer Natur nach dem Kriegserleben 
fernſtehen. Wer nicht abſichtlich blind und taub iſt, kann ſich der Erkenntnis nicht verſchließen, 
daß auf dem ganzen Gebiete der Kunſt die wenn nicht anti-, fo doch anationalen Kräfte zurzeit 
emſiger und anmaßender am Werke find, als jemals zuvor; fie haben in den erſten Kriegs 


O. Boettger - Seni 


monaten ihre Herrſchaft wanken fühlen, find dadurch gewarnt und nun dabei, ihre Stellungen / 


mit allen Mitteln auszubauen, um den bevorſtehenden Angriffen nach Friedensſchluß ge 
wachſen zu ſein. 

Es iſt nun außerordentlich ſchwierig, ſich der ſuggeſtiven Gewalt einer mit höchſter Sicher 
heit und obendrein mit einer Art fanatiſcher Verzücktheit auftretenden Runfticrifttellee) zu 
entziehen. Neben dem Zuckerbrot für die Gläubigen, denen die Zugehörigkeit zur Gemeinde der 
Seſchmadbvollen täglich gewährleiſtet wird, hat man auch die Peitſche zur Hand für die Wider⸗ 
willigen, denen es von Rüdjtändigkeit, Rulturwibrigteit und amuſiſchem Barbarentum nur 


Stilwand lungen und -Zerungen 123 


fo um die Ohren ſchlägt. Meiftens geben ſie leider klein bei, wenigftens für die Öffentlichkeit, 
und die anmaßenden Herrſchaften mit dem großen Worte ſind bald allein unter ſich. 

Da kann nun ein Büchlein, wie das vorliegende, wahren Segen ſtiften. Ohne daß es 
der Verfaſſer darauf angelegt hat, gibt es eine vernichtende Kritik unſerer ublichen Kunſtſchrift⸗ 
ftellerei während der letzten zwanzig Jahre. Vor allem das erſte Kapitel „Stilwandlungen“ 
im Grunde eine Satire, über die man herzlich lachen könnte, wenn man dieſe Entwicklungs- 

zeit für wirklich abgeſchloſſen halten dürfte und nicht für die Zukunft die Fortdauer der ge- 

geißelten Zuſtände erwarten müßte. Daß der Verfaſſer ſich faſt ganz auf angewandte Kunſt 

beſchränkt, ändert nichts an der Allgemeingültigkeit feiner Ausführungen, und ein jeder wird 
unſchwer die Erweiterung und Nutzanwendung auf das ganze Kunſtgebiet ziehen können. 
gartmann zeigt, wie die umgeſtaltung unferes ſozialen Lebens, die damit verbundene Fülle 
neuer Aufgaben für unſere Kunſt den Boden bereitet hatte für die allgemeine Erkenntnis der 
Wahrheit des vom weitausſchauenden Semper geprägten Forderung: „Die Löſung der mo- 
dernen Aufgabe ſoll aus den Prämiſſen, wie fie die Gegenwart gibt, frei heraus entwickelt 
werden. Aber während Semper die Aufgabe löſen wollte, „mit Berückſichtigung jener traditio- 
nellen Formen, die ſich Jahrtauſende hindurch als unumſtößlich wahre Ausdrücke und Typen 
gewiſſer räumlich und ſtruktiv formeller Begriffe ausgebildet und bewährt haben“, betonte 
die neue Bewegung das Herausarbeiten aus den neuen Aufgaben im Grunde weniger be- 
jahend für das Neue, als verneinend gegen das Alte. Der Widerſpruch gegen die fernere Ver- 
wendung der hiſtoriſchen Stilformen, die Ablehnung jeglicher Verbindung mit der Überliefe- 
rung, ſind eigentlich die einzigen Grundſätze, die immer durchhalten, während die bejahenden 
Forderungen ſich eigentlich von Fahr zu Fahr ändern. Er iſt aber ganz natürlich, daß aus einem 
vorwiegend verneinenden Standpunkt niemals ein neuer Stil aufgebaut werden kann. Denn 
alle Stilkraft iſt einem ſolchem Grade Bejahung, daß alles Stilmäßige überhaupt erſt Stil- 
geltung erlangt, wenn es ſich zur allgemeinen Anerkennung durchgeſetzt hat. Die Geſchichte 
unferer angewandten Kunſt von der Geburt des ſogenannten Zugendſtils in der Darmſtädter 
Ausſtellung um 1900 bis zum Kriegsausbruche, lieſt ſich wie eine Geſchichte aus dem Frren- 
hauſe, erſt recht, wenn man ſie ſich aus der gleichzeitigen Kunſtkritik zuſammenſchreibt. Wie da 
dieſelben Leute alle paar Fahre ein ganz anderes Geſtaltungsprinzip als Offenbarung ver- 
künden, alles andere, auch ihren eigenen zurückliegenden Glauben, verdammen und überhaupt 
ohne jeglichen Zuſammenhang mit der Vergangenheit oder dem Volkstum der Gegenwart, 
womöglich mit dem Kampfrufe der „Freiheit“ lediglich ihre perſönliche Meinung eines ver- 
ſtiegenen Kunſthochmutes gelten laſſen wollen — das iſt ein derartig lächerliches Bild, daß 
man ruhig dieſe ganze Geſellſchaft und ihr Treiben ſich ſelbſt überlaſſen könnte, wenn es noch 
wahr wäre, daß Lächerlichkeit tötet. Da das aber nicht der Fall iſt, da vielmehr in einer dienſt⸗ 
willigen Preſſe dieſe Gruppe von Kunſtſchriftſtellern dauernd an der wechſelſeitigen Beweih- 
räucherung, vor allem aber an der eigenen Verklärung tätig iſt, wird eine rückſichtsloſe Auf- 
klärung der Allgemeinheit höchſtes Gebot. 

Zn dieſem Sinne bedaure ich die gelegentliche Zurückhaltung in dem vorliegenden 
Buche, ſo begreiflich ſie iſt, aber wenn der Verfaſſer ſehr richtig betont, „daß der wichtigſte Faktor 
für die Stileinheit in der durch die Abſtammung und die Zugehörigkeit zu einem beſtimmten 
Volkstum bedingten geiſtigen und ſchöpferiſchen Veranlagung der Künſtler liegt“, ſo ergibt 
ſich doch ganz von ſelbſt, daß der ungeheure Anteil der Juden an unſerer Kunſtſchriftſtellerei 
eine geſunde Entwicklung zum Stile einfach unmöglich machen muß. Gerade wenn man ſich 
nicht zu einem billigen Antiſemitismus bekennt, muß man hier die größte Schwierigkeit für 
die zukünftige Entwicklung unſeres ganzen Kunſtlebens ſehen. Hartmann hat ſicher recht, wenn 
er behauptet,, daß die Erfolge des Rünftlers und feine Fähigkeiten für die Mitarbeit an der 
Entwicklung des Zeitſtils in der äſthetiſchen Intereſſengemeinſchaft zu feiner Umwelt wurzeln 
und Daß dieſe nur dann zu tieferer Wechſelwirkung gelangen kann, wenn fie angeboren iſt, alſo 


124 geſus aus Nazareth 


auf die Gemeinſamkeit des engeren Volkstums ſich gründet, aus welcher ſowohl der Künſtler 
wie auch fein Intereſſentenkreis hervorgegangen iſt. Im Kunſtleben einer Nation ſpielt alſo die 
Künftlerindivibualität nur diejenige Rolle, die ihr durch das Weſen ihres Volkstums zugewieſen 
iſt“. Auch folgende Sätze ſind unwiderleglich wahr: „Es gibt keinen großen Geiſt, deſſen Art 
nicht irgendwie durch ſeine Nationalität, ſeine Abſtammung und den Boden, dem er entwachſen 
iſt, beſtimmt wäre. In der ganzen Entwicklungsgeſchichte der Kunſt ſehen wir, wie bis in die 
neueſte Zeit hinein die dauernden und epochemachenden Perſönlichkeiten gerade daraus er- 
wuchſen, daß ſich in ihnen der Geiſt ihres Volkes und ihrer Zeit potenzlerte. Soweit wir auch 
in der Vergangenheit Umſchau halten .. ., zeigt ſich uns, wie deren Erfolge darauf beruhten, 
daß fie das Weſen ihres Volkstums am trefflichſten ausſprachen. Von dem Zeitpunkt an, mit 
welchem das Volk in ihren Schöpfungen ſein Weſen, den Ausdruck ſeiner eigenen Gedanken 
erkannte, jauchzte es ihnen zu, eiferte ihnen nach, verbreitete und vervielfältigte ihre Werke 
und ſah in dieſen den Stil ſeiner Art und ſeiner Zeit.“ 

Machen wir uns dieſe Tatſachen recht klar, ſo müſſen wir die geradezu verzweifelte 
Tragik erkennen, in die uns der ungeheure Anteil der Juden an der Kunſtſchriftſtellerei, der 
Tages- und Zeitſchriftenpreſſe, bringt. Denn der Jude kann dieſes Verhältnis zum Volkstum 
und ſeiner inneren Überlieferung nicht haben; er iſt, ſoweit er nicht ſein eigenes Judentum 
verkündet, Gegner jedes Volkstums und aller Überlieferung, daher das ſtändige Gerede von 
der Internationalität der Kunſt, daher die ſtete Betonung der Forderungen des neuen Geiſtes, 
der „Moderne“. Es iſt eine Ungerechtigkeit, den Juden aus dieſem Verhalten einen Vorwurf 
zu machen, denn wenn ſie ehrlich ſind, können ſie zu keinem andern kommen, ſobald ſie ſich 
von einem nationalen Judentum befreit haben. Mir ſind dieſe national bewußten Juden, die 
Zioniſten ſowohl wie die Kreiſe um Martin Buber nicht nur ſympathiſcher, ſondern auch kulturell 
wertvoller, trotz ihrer zuweilen grotesken Selbſtüberhebung, an der gemeſſen der von jener 
Seite ſo emſig bekämpfte Germanendünkel derer um Gobineau kindlich beſcheiden iſt. Aber 
hier ſteht wenigſtens offen eine Volks- und Weltanſchauung gegen die andere, während die 
anderen ſtets dabei find, die Grundmauern und Stützen eines ſtarken deutſchen Volksbewußt⸗ 
ſeins in der Kunſt zu unterwühlen und zu zernagen. Ich ſehe kein anderes Gegenmittel, als die 
Beſtärkung jedes einzelnen Deutſchen in der ihm eingeborenen Fühlweiſe für Kunſt und dem 
ihm natürlichen Verlangen nach einer feinem Volkstum entſprechenden Formgeſtaltung. Dafür 
kann dieſes Büchlein Karl O. Hartmanns gute Dienſte leiſten, es iſt dazu angetan, den 
deutſchen Formwillen zu ſtärken, und wenn dieſer wirklich zu einer Macht heranreift, muß er 
auch ſeine Erfüllung finden in einem deutſchen Stil. K. St. 


Sp 
Jeſus aus Nazareth 


Bibliſches Oratorium für Soli, Kinderchor, Chor, Orcheſter und Orgel 
von Gerhard von Keußler 


Deutſche Uraufführung am 2. und 3. März in Elberfeld 


=. eußlers „Sefus aus Nazareth“, der im Sommer 1917 unter Leitung des Kompo- 
DS niſten durch den „Deutſchen Singverein“ in Prag erſtmalig aufgeführt wurde, 
UN N beanſprucht in der Entwickelungsgeſchichte des Oratoriums eine beſondere Bedeu- 
tung, ſowohl was bie Anlage und Faſſung des Textbuches als auch die muſikaliſche Behandlung 
des Stoffes anbetrifft. In „Jeſus von Nazareth“ ſehen wir einen hervorragenden, wohl 
gelungenen Verſuch, über die bisher gewohnte Art bibliſcher Oratorien hinauszugehen. Keußler 


— 
* 
NN 
8 J 


geſus aus Nazareth 125 


gibt nicht die Evangelienerzählung durch einen Evangeliſten in Form von Rezitativ und Arie 
wieder: er folgt dem modernen Zuge der Zeit und Kunſt, indem er den Bericht über Zeſu 
Leben und Wirken nur muſikaliſch durch das Orcheſter malt und ihn dadurch dem Verſtändnis 
nahezubringen ſucht. Durch dieſes neue Verfahren wird allerdings die Erzählung nicht ohne 
weiteres wie früher durch Anwendung muſikaliſcher Kunſtformen (Rezitativ, Arie uſw.) ver- 
ſtändlich, aber fie iſt doch dem inneren Sinne nahegebracht. Taktvoll und feinſinnig hat Keußler 
den dibliſchen Zeſus behandelt. Geburt und Auferſtehung find als Geheimniſſe geſchaut und 

werden von der gläubigen Gemeinde durch Choralgeſang (Gelobet ſeiſt du Zefu Chriſt — Chriſt 

it eſtanden — Chriſt fuhr gen Himmel) gefeiert. Mit dieſer Auffaſſung wird ſich jeder ein- 

veftanden erklären können, handelt es ſich doch um Dinge, die wohl nach der Bibel gefchicht- 
liche Tatſachen find, aber trotzdem Geheimniſſe des Glaubens bleiben. Ein myſtiſcher Hauch 
ligt über Keußlers ganzem „Chriſtus aus Nazareth“, was dem geſamten Kunſtwerk nur zum 
Lotteil gereicht. In der Auswahl des Stoffes fehlt kein weſentliches Stück. In wenigen, 
trefflich gezeichneten Bildern tritt Jeſus vor unfer Auge, wie er dereinſt auf Erden wandelte. 
Geſchickt iſt in die neuteſtamentliche Erzählung Weisſagung und Pfalm des Alten Teſtamentes 
verwoben. Eine ſinnige Zwiſchenhandlung leitet zum 2. Teile des eine dreiſtündige Auffüh- 
tungsdauer beanſpruchenden Stückes über. Die Stimmen des alten Bundes weiſt die Ge- 
meinde zuruck, die in das neue Jeruſalem einziehen will. „Die Zeit iſt noch nicht da, daß man 
des Herrn Haus baue.“ Zuvor muß den Erlöfer ſelber durch Leiden und Sterben zur Herrlich- 
keit eingehen, um die Gläubigen dann zur rechten Zeit nachzuholen. Reich an Feinheiten iſt 
der 2. Teil: Einſetzung des heiligen Abendmahles, die Worte Zeſu am Kreuze; der Triumph- 
geſang „Chriſt iſt erſtanden“ am Schluſſe des Stückes, womit das himmliſche Königtum Chriſti 
herrlich zur Darſtellung kommt. Nur ein Künſtler, der perſönlich in die großen Geheimniſſe 
der chriſtlichen Kirche eingedrungen iſt, konnte ein literariſches Kunſtwerk formen, welches, 
fußend auf Evangelium, Weisſagung, Pſalm und Choral, einen lebendigen, bibliſchen Gottes“ 
und Menſchenſohn ergreifend vor das äußere und innere Auge ſtellt. 

Im Mittelpunkte der muſikaliſchen Behandlung ſteht der Chor, teils als Gemeinde 
Jeſu, teils als realer Betrachter. Der evangeliſche Choral ſpielt wie in den Paſſionsmuſiken 
und Kirchenkantaten des Thomaskantors eine führende Rolle; durch ihn werden Gefühl, 
Leidenſchaft, Demut, Furcht, Schmerz, Anbetung überzeugend und nachhaltig zum Ausdruck 
gebracht; bald ſtellt er einen lyriſchen Ruhepunkt, bald einen dramatiſchen Akzent dar. In 
letzterer Hinficht iſt am Schluß des 1. Teiles das alte Kampf- und Trutzlied „Ein' feſte Burg 
iſt unſer Gott“ von machtvoller, erhebender Wirkung. 
Aus dem Munde eines Kinderchores vernehmen wir im Verlauf der Handlung die 

Kunde von Feſu Wundertaten mit der Bitte um feinen: Schutz und Schirm. 


„Lieber Herr Zeſu, bleibe bei uns! 
Seit daß du auf Erden weileſt 

Und die kranken Menſchen heileſt 
Und geſegnet haſt das Brot: 

Das du mit den Sündern teileft — 
Gibt es keine Hungersnot, 
Keine Krankheit, keinen Tod; — 
Lieber Herr Zeſu, bleibe bei uns!“ 


Dieſes gläubige Bekenntnis und dieſe rührende Kinderbitte verſah der Künſtler mit einer 
ſchlichten, volkstümlichen Vertonung, die ganz beſonders ſtimmungsvoll wirkt 

Gegenüber dem Chor, dem die Hauptaufgabe zufällt, treten die beiden Soliſten — Tenor 
und Alt —, namentlich der Alt, in den Hintergrund. Der Tondichter läßt fie durchweg nur dann 
vor oder nach dem Chor auftreten, wenn es ſich um eine dramatiſche Steigerung oder Wirkung 


126 geſus von Nazareth 


handelt. Aus Der ihnen dadurch im Rahmen des Geſamtwerkes zugewieſenen Stellung erklärt 
es ſich, daß wir im Gegenſatz zum klaſſiſchen Oratorium eines Bach, Händel u. a. aus dem 
Munde der beiden Soliſten in „Jeſus aus Nazareth“ kein Rezitativ, keine Arie vernehmen. 
Die Tenorſoli charakteriſieren Jeſus in großzügigen Strichen als Menſchen, wie er ſich gab 
als Bußprediger in der Bergpredigt, als Kinderfreund, in der Abendmahlsfeier, den Seelen 
kämpfen in Gethſemane, dem Tode am Kreuze. 

Die den Solo-Altſtimmen zugewieſenen wenigen Textſtellen find lyriſch- betrachten 
der Art. ö 

Der erzählende Evangeliſt des alten Oratoriums fehlt. An feine Stelle tritt das Orcheſter⸗ 
zwiſchenſpiel. Verſchiedene, im Textbuche kurz wiedergegebene Geſchichten aus dem Leben 
geſu — Zeſu Taufe; Verſuchung; das Bekenntnis der Jünger: „Du biſt Gott, denn du biſt 
die Liebe!“ Johannis Botſchaft an Zefus, Einzug in Jeruſalem, Gebetskampf in Gethſemane, 
Verurteilung — modern in ſinfoniſcher Form durch Orcheſterſätze illuſtriert, wobei das auf- 
gezeichnete Bibelwort dem Hörer die Orcheſterſprache aufſchließt und verſtänd lich macht. Wir 
haben in „Sefus aus Nazareth“ alſo zum erſten Male eine Art geiſtliche Programmuſik im 
größeren, modernen Stile vor uns; in ihr findet tiefe Symbolik, Rleinmalerei (Zefu Zujammen- 
brechen unter der Kreuzeslaſt), Naturalismus (Tempelreinigung) neuartigen, beredten Aus- 
druck, worauf näher einzugehen leider der Raum verbietet. Von inniger Gefühlswärme iſt 
die Orcheſtermuſik zwiſchen Abendmahlsfeier und Gefangennahme. Andere Glanz- und Höhe⸗ 
punkte des herrlichen Werkes find: Schluß des 1. Teiles (Ein? feſte Burg !); das zarte, ſinnige 
Kinderlied „Bleibe bei uns!“; die myſtiſche Abendmahlsfeier; das in verklärte Farben und 
Klänge getauchte „Vater Unfer“; die Worte am Kreuze; die Auferſtehung und Himmelfahrt 
mit dem jubilierenden: Chriſt iſt erſtanden! Chriſt fuhr gen Himmel! 

Keußlers Tonſprache iſt gekennzeichnet durch großen Ernſt, abgeklärte Tiefe und Ver⸗ 
innerlichung; ſie nimmt ihren Ausgang von der univerſalen Kunſt eines S. Bach, deſſen Stil 
fie moderniſiert. Meiſterhaft inſtrumentiert, verdeckt das Orcheſter niemals die Singſtimmen. 

Dank einer vorzüglichen Aufführung durch einen gut geſchulten Chor (Elberfelder Kon 
zertgeſellſchaft unter Leitung von Profeſſor Buchs-Düſſeldorf in Vertretung des erkrankten 
Profeſſors Dr. Hayn - Elberfeld) hatte das neue Oratorium einen von keiner Seite her beſtrittenen, 
durchſchlagenden Erfolg. Keußlers „Zefus aus Nazareth“ bedeutet einen weſentlichen Fort- 
ſchritt in der Entwickelungsgeſchichte des Oratoriums; er wird ſich ſeinen Weg in die weitere 
Öffentlichkeit von ſelber bahnen. H. Oehlerking 


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— Der Krieg 


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De, flemenceau und Graf Czernin — jeder weiß, worum es ſich handelt. 
Y Die Wiener Regierung hat die Behauptung Clemenceaus, Kaiſer 
a 2 Karl habe in brieflichen Außerungen „den gerechten Wünſchen 
SS) Frankreichs auf eine Rückerwerbung Elſaß-Lothringens zugeſtimmt“, 
weiterhin noch betont, ſein Miniſter des Außeren ſei der ſelben Meinung, als „von 
Anfang bis zu Ende erlogen“ bezeichnet. Und in dem Telegramm Kaiſer Karls 
an Kaiſer Wilhelm heißt es: „Obwohl ich es .. . für überflüſſig halte, auch nur 
ein Wort über die erlogene Behauptung Clemenceaus zu verlieren, liegt mir 
doch daran, Dich bei dieſer Gelegenheit erneut der vollſtändigen Solidarität 
zu verſichern, die zwiſchen Dir und mir, zwiſchen Deinem und meinen Reichen 
beſteht. Keine Intrige, keine Verſuche, von wem immer ſie ausgehen mögen, 
werden unſere treue Waffenbrüderſchaft gefährden.“ 
„Die Partie iſt zu Ende geſpielt“, erklärt die „Tägliche Rundſchau“. „Gegen- 
über einer ſo entſchiedenen Stellungnahme Wiens gibt es kein Markten mehr. 


Herr Clemenceau dachte eine Sprengbombe zu werfen, einen unwiderſtehlichen 


Keil zwiſchen uns und unſeren Verbündeten zu treiben. Die Sache aber endet 
mit einem Bündnisbekenntnis der entſcheidenden Stellen der Habsburger Mon- 
archie, wie wir es in fo ſtarker Betonung kaum jemals vernommen haben. So- 
wohl die Drahtung Kaiſer Karls wie die Erklärung des Wiener Auswärtigen 
Amtes arbeiten den Bündnisgedanken und den Gedanken des Verbundenſeins 
auf Gedeih und Verderb jo entſcheidend heraus, daß daneben ſelbſt die Anprange- 


rung Herrn Clemenceaus als des Weltlügenmeiſters nur Nebenſache wird. Die- 


jenigen Kreiſe bei uns und in Sſterreich, die Luſt hatten und etwa noch hätten, 


Fäden zwiſchen Wien und Paris über die Schweiz zu ſpinnen, werden ſich ſagen 


müffen, daß die Ausſichten für einen Erfolg ihrer Mühen ſich durch den Verlauf 
dieſes Zwiſchenfalls nicht verbeſſert haben. Mag des Grafen Czernin Herr Rever- 
tera ſeinerzeit geflüſtert haben, was er will, ſo wird es doch nach dieſem Tag in 
Europa niemanden geben, der bezweifeln könnte, daß jetzt nur das gelten kann, 
was heute Kaiſer Kar, und das Wiener Auswärtige Amt laut vor aller Welt be- 


128 Zürmers Tageduch 


kennen und verkünden. Bawider wiegt uns kein Wort eines Clemenceau, keine 
Geſchichtsklitterung eines Painlere. Es war eine falſche Spekulation von Gle- 
menceau und feinen Schildhaltern, wenn fie annahmen, in den etwelchen ein- 
zelnen Unſtimmigkeiten zwiſchen Berliner Stimmungen und Wiener Strebungen 
günftige Gelegenheit zu finden für einen ſolchen politiſchen Brunnenvergiftungs- 
verſuch gröbſter Art. Man verkennt jenſeits der Grenzen Mitteleuropas die Natur 
unſerer Zuſammengehörigkeit und unſerer Meinungsverſchiedenheiten. Man hat 
nun wohl draſtiſch genug erfahren, daß Meinungsverſchiedenheiten mit unſerem 
Verbündeten völlig, wie die in einer geſunden Familie, der Einmiſchung und 
Einwirkung mißwollender Dritter entzogen find. Wo ein Dritter Miene macht, 
ſo wie Herr Clemenceau, vermutete Mißſtimmungen auf ſeine unſaubere Weiſe 
ausnutzen zu wollen, da wird er ſtets von beiden Seiten aufs unzweideutigſte ſich 
aufgefordert fühlen, feine unſauberen Finger aus dem Spiel zu laſſen. ... Die 
Stimmen der öſterreichiſchen Mörſer an unſerer Weſtfront klingen uns wohl 
lautender als alle diplomatischen Erklärungen ...“ 

Soweit, fo gut — iſt etwa die Meinung der „Deutſchen Tageszeitung“, 
aber ſo ganz befriedigt iſt ſie durch die Wiener Erklärungen noch nicht: „Es bleibt 
ein Erdenreſt, zu tragen peinlich.“ Alſo: | 

„Raifer Karl und die Erklärung feiner Regierung heben beide zur Beleud- 
tung der Unwahrheit der franzöſiſchen Behauptungen hervor, daß öſterreichiſch⸗ 
ungariſche Truppen jetzt zuſammen mit deutſchen an der Weſtfront kämpfen. 
Wenn man in dieſer Tatſache auch keinen Beweis gegen Behauptungen erblicken 
kann, die ſich mit Dingen beſchäftigen, welche ſich vor reichlich Zahresfrift begeben 
haben ſollen, ſo begrüßen wir naturgemäß vom bundesgenöſſiſchen Standpunkte 
die ſtarke Hervorhebung in der Erklärung des Kaiſers und der Wiener Regierung, 
daß man in Wien ſich heute mit ſtarker Ausdrücklichkeit auf den Standpunkt der 
Waffenbrüderſchaft ſtellt. Raifer Karl weiß feinerfeits, mit welchem unübertreff⸗ 
baren Maße an Treue der Oeutſche Kaiſer die Bündnisbeziehung zu Oſterreich⸗ 
Ungarn feit feinem Regierungsantritt betrachtet und behandelt und wie Großes 
er gelegentlich für fie geopfert hat.. | 

Die Auslaffung der Wiener Regierung lehnt die Beantwortung der 
Clemenceauſchen Behauptungen im einzelnen ab und begründet die Ab- 
lehnung damit, daß ſonſt die zwei Haupttatſachen verdunkelt würden: daß Cle- 
menceau eine Annäherung an Sſterreich- Ungarn geſucht und dann kundgetan 
hat, daß Frankreich ohne Elſaß-Lothringen für einen Frieden nicht zu haben ſei. 
Wir halten trotzdem den Standpunkt des Grafen Czernin, nicht auf die Einzel 
heiten der Behauptungen Clemenceaus einzugehen, für unzweckmäßig und des 
halb für bedauerlich, auch vom Standpunkte des Deutſchen Reiches und 
des deutſchen Volkes. Das deutſche Volk im beſonderen würde, ſoweit wir 
zu urteilen vermögen, beſonderen Wert darauf legen, wenn Graf Czernin 
die Unwahrheit aller jener franzöſiſchen Behauptungen nicht nur 
allgemein behauptete, ſondern ganz und im einzelnen bewieſe. Für 
den öffentlichen Eindruck in anderen Ländern wäre das ebenfalls wichtig geweſen. 
Wir betonen dieſen Punkt um fo mehr, als für uns jene zwei Tatsachen eines 


rurmers Kcgebuch | 129 


demenceauſchen Angebotes einerſeits, des Anſpruches auf Elſaß- Lothringen 
andererſeits wirklich nicht von ſolcher Bedeutung ſind, wie Graf Czernin 
ſie ihnen zumißt, wobei wir keineswegs in Abrede ſtellen wollen, daß Graf 
Gemin ſelbſt Gründe habe, die für ihn als zureichend erſcheinen, jene beiden 
Punkte als beſonders wichtig zu behandeln und auf fie die öffentliche Aufmerk⸗ 
ſamteit in erſter Linie zu lenken. 

Der anderen ja für den Grafen Czernin programmatiſchen und deshalb 
ſo oft von ihm wiederholten Behauptung, welche er auch Herrn v. Kühlmann 
als Richtlinie gegeben hat, müſſen wir auch heute ausdrücklich widerſprechen: 
daß „der Krieg an der Weſtfront andauert, weil Frankreich Elſaß- Lothringen er- 
obern will“. Wir betonen noch einmal, daß dieſe Behauptung den Tatſachen 
nicht entſpricht. Der Krieg iſt nicht entſtanden, weil Frankreich Elſaß-Loth- 
ringen haben wollte und haben will, und der Krieg dauert auch nicht aus die- 
ſem Grunde fort, ſondern weil die beiden angelſächſiſchen Mächte dem 
Deutſchen Reiche die Lebensfähigkeit rauben wollen. Wäre das nicht 
der Fall, ſo würde der Wunſch Frankreichs nach Elſaß-Lothringen kein Hindernis 
für den Friedensſchluß ſein, ſondern die angelſächſiſchen Mächte würden 
Frankreich mit feinen Wünſchen ſchon längſt ſich ſelbſt überlaſſen 
baben 

Sd in der Abendausgabe, nach den amtlichen Veröffentlichungen. In der 
Morgenausgabe des ſelben Tages (11. April) ſchrieb die „O. T.“ noch deutlicher: 
„Die bisherigen Beröffentlichungen des Grafen Czernin und Clemenceaus haben, 
ohne daß in jeder Einzelheit ſchon unbedingte Klarheit vorhanden wäre, doch ge- 
zeigt, daß Graf Czernin ſeit Fahr und Tag ſeinen Vertreter in der 
Schweiz ſitzen hatte, und dieſer verſuchte mit dem Vertreter der fran— 
zöſiſchen Regierung zu einem Ergebniſſe auf Koſten der Zukunft des 
Deutſchen Reiches zu gelangen. Wenn tatſächlich die damalige deutſche 
Regierung über dieſe Anfangsſchritte und das Weitere immer unterrichtet ge- 
weſen iſt, ſo kann man allerdings wohl begreifen, daß unſere Feinde an die mora- 
liſche Durchhaltekraft und an den Siegeswillen des deutſchen Volkes und feiner 
Regierenden nicht glauben wollten. Es iſt ein beſchämendes Bild, aber wir be- 
grüßen mit Genugtuung, daß dieſes Bild immer genauer und immer öffentlicher 
ſichtbar wird. Graf Hertling mußte hier zunächſt eine ſchlimme Erbſchaft über- 
nehmen. 

Jetzt fällt auch ein neues Licht auf die Verzichtreſolution vom Fuli 
1917 und auf die geheimnisvollen Andeutungen ihrer Väter, man dürfe nicht 
vergeffen, daß auf die Bundesgenoſſen Rüdjiht genommen werden müſſe, ge- 
rade in Beziehung auf das „Kriegsziel“. Die Nolle Herrn Erzbergers wird in 
dieſer Verbindung von einer freilich auch ſchon bisher beachteten Seite beleuchtet, 
denn Erzberger war nicht nur einer der Haupturheber, wenn nicht 
der Haupturheber der Verzichtreſolution, ſondern auch Vertrauter 
am Wiener Hofe, und jeden Augenblick in der Schweiz. Herr Scheide- 
mann aber tat auf der Reife nach Stockholm in Kopenhagen feine bekannte Auße⸗ 


rung, über Elſaß- Lothringen werde ſich reden laſſen. ... Ganz abgeſehen aber 
Der Timer XX, 15 9 


130 | Zürmers Tagebuch 


von dieſer Frage [insbefondere auch der, wie weit die Wiener Politik an ihr be- 
teiligt war. D. T.], wird es Herrn v. Bethmann Hollweg und feinen Pala- 
dinen und ebenſo der Reichstagsmehrheit ‚nor Gott und der Seſchichte“ 
ewig anhängen, in welche Niederung ſie damals die Stimmung des 
Volkes und die Politik des Reiches haben gelangen laſſen. Erſt nach 
dem Kanzlerwechſel ſetzte die Hebung ein. | 

Nichts iſt charakteriſtiſcher als jene vielbeſprochene Rede Herrn v. Kühl- 
manns: man werde Elſaß-Lothringen wirklich nicht herausgeben, was freilich 
Blätter der Mehrheit und auch der Regierung nicht abhielt, lange Artikel über 
die elſaß-lothringiſche „Frage“ zu ſchreiben und ausführlich zu be— 
weiſen, daß und weshalb das Land deutſch bleiben müſſe. Wir haben 
damals ſofort auf das Erſtaunliche und Beſchämende der Tatſache hingewieſen, 
daß man als Gipfel des Wagemuts und des Siegeswillens, ja überhaupt als 
‚„Kriegsziel“ des Deutſchen Reiches die Weigerung hinſtellte: Elſaß Lothringen 
nicht herauszugeben. Der theatraliſch-redneriſche Aufwand Herrn v. Kühlmanns 
wirkte dabei nicht nur verletzend für das nationale Gefühl, ſondern deutete in- 
direkt an, daß über Rückgabe Elſaß-Lothringens irgendwie und irgend— 
wo innerhalb der Zentralmächte ‚Erwägungen‘ geſchwebt hätten. 
Wenn die Behauptungen des franzöſiſchen Miniſteriums auch nur zu einem 
Teile auf Tatſachen beruhen, ſo würden damit die dunklen und unerfreulichen 
Vorgänge des vergangenen Jahres noch nicht klar, aber wefentlich erhellt, und 
die Linie von Wien (über Rom?) nach der deutſchen Verzichtsreſolu— 
tion uſw. ziemlich ſichtbar ſein. So würde ſich auch erklären, weshalb man 
in Frankreich und Großbritannien, in Stalien und vor allem in den Vereinigten 
Staaten auf jene Kühlmannſche theatraliſche Rede kühl und ſicher ant- 
wortete: das werde ſchwerlich das letzte Wort ſein. Im Auguſt 1917 ver- 
öffentlichte das ‚Journal de Genève“ einen langen Artikel über den neuen Staats- 
ſekretär Herrn v. Kühlmann aus London, in dem u. a. ausgeführt wurde, Herr 
v. Kühlmann ſei fo praktiſch, daß man nicht überraſcht werden könnte, 
wenn er im Vertrauen auf die wirtſchaftliche Tüchtigkeit des deutſchen Volkes 
Elſaß-Lothringen preisgäbe, um ſchnell den Frieden zu haben. Überhaupt 
war ſeit dem Frühjahr 1917 auf einmal Elſaß-Lothringen als „Frage“ 
und „Kriegsziel“ zum öffentlichen Geſpräch in Europa geworden. Es 
bleibt noch aufzuklären, ob das von Wien ausgegangen iſt, und ob und inwic- 
weit die durch den Namen Bethmann Hollweg charakteriſierten Mächte und Stim- 
mungen beteiligt geweſen find ...“ 

Auch die amtliche Wiener Antwort auf die Clemenceauſchen Behauptungen 
und den angeblichen Text des Briefes Kaiſer Karls genügt der „O. T.“ (15. April 
nicht, „die Dinge fo klarzuſtellen, wie es wünſchenswert und zweckmäßig wäre. 
Wir erfahren mit einigem Befremden aus der Wiener Feſtſtellung, daß Prinz 
Sixtus von Bourbon, der Bruder der Kaiſerin Zita, ‚mit der Herbei- 
führung einer Annäherung der kriegführenden Staaten befaßt war‘. 
War der Prinz Sixtus hierzu beauftragt oder war er ermächtigt, und wenn, von 
wem und in welchem Umfange und warum? War es aber, was ſchon wegen des 


dus Eh | | 131 


Briefwechſels mit dem Kaiſer als se cleſen erſcheinen muß, ein Privat- 
vergnügen des Prinzen, ſo wirft ſich ohne weiteres die Frage auf, weswegen er 
nicht ſofort desavouiert worden iſt. Wir können uns wenigſtens noch nicht zu der, 
wie es ſcheint, Mode werdenden Auffaſſung aufſchwingen, daß jeder beliebige 
Privatmann, wenn er gerade nichts anderes zu tun hat, ſich, mit der Herbeiführung 
einer Annäherung der kriegführenden Staaten befaßt“. Wir vermögen anderer- 
ſeits der Czerninſchen Auslegung nicht zu folgen, wenn er ſagt, daß Clemenceau 
mit der ‚Im Range weit über dem Minifter des Außeren ſtehenden Perſönlichkeit“ 
nicht den Kaiſer, ſondern den Prinzen von Bourbon gemeint habe. Zu einer 
ſolchen Auffaſſung liegt in der Tat nicht der mindeſte Anlaß und Grund vor, im 
Segenteil! 

Die Stelle hinſichtlich Elſaß- Lothringens lautet dem von Clemenceau an- 
gegebenen Wortlaute entgegengeſetzt. Wir hätten für richtiger gehalten, wenn 
die öſterreichiſche Regierung den ganzen Brief im Wortlaut veröffentlicht hätte, 
was um ſo näher läge, als ja aus der angeführten Stelle erſichtlich iſt, daß der 
ganze Brief oder aber eine Abſchrift von ihm in Wien vorhanden oder 
ſonſt erreichbar iſt. Läge der ganze Wortlaut vor, ſo würde man auch ohne weiteres 
erſehen können, welchen Zweck jene Bemerkung Kaiſer Karls hinſichtlich Elfaß- 
Lothringens verfolgte, Die Angabe der Wiener Regierung, es ſei ein ‚rein perſön- 
licher Privatbrief“ geweſen, der keinen Auftrag an den Prinzen enthielt uſw., ge⸗ 
nũgt hier wirklich nicht. Vor allem ſcheint uns auch die Frage wichtig und deshalb 
nicht zurüͤckſtellbar, aus welchem Grunde und auf welche Anregung der Prinz 
Sixtus von Bourbon Dinge an ſeinen Schwager ſchrieb, welche derartige Ant- 
worten hervorriefen bzw. hervorrufen ſollten. Mit welcher feindlichen Regierung 
oder Perſönlichkeit ſtand Prinz Sixtus in Verbindung? Mit der belgiſchen, mit 
der franzöſiſchen oder vielleicht, was aus manchen Gründen gar nicht unwahr— 
ſcheinlich wäre, mit britiſchen Staatsmännern oder Fürſtlichkeiten?“ 

Das Blatt geht dann nochmals auf die Zuſammenhänge der Wiener 
Politik mit der deutſchen Verzichtreſolution vom Juli 1917 ein, insbefon- 
dere auf die Rolle Herrn Erzbergers, der auch Vertrauter am Wiener Hof 
geweſen ſei: „Für die Einbringung der Verzichtreſolution und für ihre Annahme 
iſt ein Brief ſchlechthin maßgebend geweſen, welchen Graf Czernin an 
Raifer Karl gerichtet hat. Graf Czernin erklärte in dieſem Briefe, Sſter— 
reich wolle und müſſe unter allen Umftänden bis zum Winter 1917 Frie- 
den haben. Der Abgeordnete Erzberger hat dieſen Brief in der Fraktion und 
im Reichsausſchuſſe der Zentrumspartei zur Verleſung gebracht mit dem Be- 
merken, er ſei dazu von autoritativer Seite ausdrücklich ermächtigt wor- 
den. Daß dieſe ‚autoritative Seite“ nicht in Berlin zu ſuchen war, braucht nicht 
betont zu werden. Der Abgeordnete Erzberger hat durch die Verleſung dieſes 
Briefes damals die maßgebenden Organiſationen des Zentrums für die Refolu- 
tion gewonnen und die überaus lebhafte Gegnerſchaft innerhalb der Partei mit 
zeitweiligem Erfolge bekämpft. Daß der Czerninſche Brief auch dem Grafen 
Hertling und dem Juſtizminiſter Dr. Spahn bekannt iſt, iſt ſelbſtverſtändlich. 

Jener Brief des Grafen Czernin an den Kaiſer von Sſterreich iſt den treuen 


132 Zürmers Tagebuch 


Händen des Abgeordneten Erzberger übergeben worden, damit diefer betriebſame 
und damals ſehr mächtige Mann die Politik des Grafen Czernin im Deut- 
ſchen Reiche durchſetze. Graf Czernin wünſchte zum Herbſt 1917 Frieden, 
nachdem die ruſſiſche Gefahr für Sſterreich- Ungarn durch das Seutſche 
Reich und deſſen aufopfernde Hilfe gebrochen worden war. Graf Czer- 
nin verkündete feine ‚neue Weltordnung“, deren Verwirklichung das Seutſche 
Reich zu Verkümmerung und Ruin verurteilt hätte. Graf Czernin bzw. Wien 
ſuchte ſich den Abgeordneten Erzberger mit genialer Intuition aus, um 
das Wiener Kriegsziel in Berlin durchzuſetzen.“ | 
Diefe (und noch manche andere) Betrachtungen über die in jedem Falle 
tief bedauerliche und höchſt peinliche Angelegenheit find in mehr als einer Rich- 
tung ſo berechtigt wie unabweisbar. Es hat noch niemand geholfen, den Kopf in 
den Sand zu ſtecken, Tatſachen, die ihn höchſt perſönlich angehen, nicht ſehen zu 
wollen. Indeſſen müſſen wir uns mit der Sache abfinden, und jo hat die „T. R.“ 
— zwar nicht ohne gewiſſe Vorbehalte — recht, wenn ſie meint, daß nach dem 
Briefe des Kaiſers Karl an den Deutſchen Kaiſer und den amtlichen Wiener Ex- 
tlärungen der Fall für uns erledigt ſein müſſe: „Man mag es in Wien ſelbſt heute 
bedauerlich finden, daß man im Jahre 1917, dem Jahre der Entmutigung, Friedens- 
ideen nachjagte, die zu keinem anderen Ergebniſſe als dem der Beſtärkung des 
Größenwahns der Entente und zu Verſtimmungen und Wirrniſſen im eigenen 
Lager führen mußten. Damals war Wien der Vergaſungsherd für den 
Willen zum Durchhalten auch in Oeutſchland, und die berüchtigte 
Friedensentſchließung des Reichstags vom 19. Zuli iſt Wiener Ar- 
ſprungs. Die Vermittlung übernahm Herr Erzberger, auf deſſen Wiener Reiſen 
und Berichte wir damals eingehend hinwieſen, natürlich nur, um die übliche Ab- 
leugnung in der „Germania“ und das Schweigen oder Angeifern der Mehrheits- 
preſſe zu ernten. Ein beſonders gut unterrichtetes Blatt, die ‚Straßburger Poſt', 
ſprach damals von ‚privatem Klatſch“, der die Öffentlichkeit nichts angehe, und 
das „B. T.“ hielt feinen Schild über Herrn Erzberger. Vielleicht iſt man heute 
klarer darüber, was privat, was öffentlich iſt, und auch darüber, wie notwendig 
es war, die trübe Quelle des Erzbergerſchen Entmutigungsfeldzuges aufzudecken. 
Doch das ſind vergangene Zeiten, über die uns der ruſſiſche Zuſammenbruch, der 
Oſtfrieden und die Siege Hindenburgs in Oft und Weſt, vor allem aber die ziel- 
ſichere feſte Haltung unſerer Heeresleitung hinweghalfen. Heute känkpfen 
öſterreichiſche und deutſche Truppen vereint im Weſten, und Kaiſer 
Karl hat ſeine Bündnistreue öffentlich und einwandfrei in herzlichen 
Worten vor aller Welt von neuem bekundet. Er wird auch wohl die Brüder 
ſeiner Gemahlin, die als belgiſche Offiziere des Roten Kreuzes in dieſem Kampf 
um Öfterreihs und Oeutſchlands Exiſtenz auf ſeiten der Feinde ſtehen, in 
Zukunft weniger mit ſeinem Vertrauen beſchenken als bisher, Clemenceau aber 
wird auch der Kaiſerbrief, nachdem er in ſeiner entſcheidenden Stelle als Fälſchung 
abgetan iſt, nicht helfen, ſeine wankend gewordene Stelle zu befeſtigen.“ 


2 


’„,9 
E 
2 


Anbegreiflich oder unglaublich? 
M* dieſem Stichwort verſieht die 
„ HOeutſche Zeitung“ (Nr. 188), einen 
Brief ihres Wiener Mitarbeiters, in dem es 
(nach ein: paar, einleitenden Sätzen) heißt: 
Die. Kundgebung der öſterreichiſch-unga⸗ 
riſchen Regierung und das Telegramm Kaiſer 
Karls haben uns die Beruhigung gegeben, 


daß auch. der Träger der Krone die Unmöglich- 


keit. erkannt hat, daß an dem Bündnisverhält- 
nis der beiden Reiche ſich irgend etwas ändere, 


Was aber leider nicht aus der Welt ge- ' 


ſchafft werden konnte, das iſt das tief- 
begründete und nunmehr aufs neue 
genährte Mißtrauen gegen gewiſſe 
Kreiſe und Perſönlichkeiten, die es 
offenbar als ihre Hauptaufgabe be— 
trachten, das Verhältnis unſerer Mon- 
archie zu‘ Deutſchland zu trüben, ja 
ſyſtematiſch zu vergiften. Der Verdacht, 


daß dieſe Beſtrebungen auch von Faktoren ge- 


fördert werden, die ihren Platz und Einfluß 
in nächſter Nähe des Monarchen haben, hat 
durch die Vorgänge der letzten Tage ſeine 
Rechtfertigung gefunden. Es iſt nicht zu 
leugnen, daß die Familie, der die Reife: 
tin Zita entſtammt, mit ihren Neig un- 
gen nicht auf der Seite des deutſch— 
öſterreichiſchen Bündniſſes ſteht, ſon— 
dern daß fie durch ihre verwandtſchaft— 
lichen Beziehungen mit den Entente 
Staaten dieſen aüch politiſch ſehr nahe 
ſteht. Dieſer Umſtand hat ſich in dem Falle, 
um den es ſich hier handelt, als geradezu ver- 
häng nis voll erwieſen. Die Familie Parma 
dürfte wohl auf dem Standpunkt ſtehen, dc$ 
die Anſprüche Frankreichs auf Elſaß-Loth- 


ä 


ringen nicht unbegründet ſeien, und ſie wird 
vielleicht auch ein Intereſſe haben, dieſer An- 
ſicht Ausdruck zu geben und zu wünſchen, daß. 
Oſterreich-Ungarn ſich dieſen Standpunkt zu 
eigen mache. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß 
die Aſpirationen der ropaliſtiſchen 
Thronanwärter in Frankreich an Aus- 
ſichten ſtark gewinnen würden, wenn es. 
ihnen gelänge, Oſterreich- ungarn zu beſtim- 
men, ſeinen Einfluß auf Deutſchland im 
Sinne eines Verzichts auf Elſaß-Loth- 
ringen geltend zu machen. Das Verdienſt, 
das ſich die bourboniſchen Thronanwärter in 
dieſem Falle um Frankreich erwerben wür- 
den, wäre ſo groß und würde dem nationalen 
Chauvinismus der Franzoſen jo weit entgegen- 
kommen, daß man ſich dazu entſchließen 
würde, wieder einmal die Republik mit dem 
Königtum zu vertauſchen.“ 
3 N 


Diplomaten nach ihrem Herzen 
Di „Kölniſche Volkszeitung“ hatte an- 


gedeutet, daß die „Lichnowſkyſche Dent- 
ſchrift“ bei der Entſchließung der Reichstags- 
mehrheit vom 19. Zuli eine Rolle gefpielt 


haben dürfte. Tatſache iſt, jo wird im „Größe⸗ 


ren Deutschland“ ausgeführt, daß Lihnowftys 
Anſchauungen mit denen der führenden Zei- 
tungen der Reichstagsmehrheit ganz wefent- 
lich übereinſtimmen, wie denn zwiſchen Lich- 
nowfty und dem „Berliner Tageblatt“ auch 
ein unmittelbarer Zuſammenhang beſteht. 


Gerade in dieſen Kreiſen hat er feine Ge- 


finnungsverwundten, Es nimmt ſich deshalb 
komiſch aus, wenn jetzt jene Zeitungen an- 
geſichts des Lichnowſiyſkaͤndals wieder einmal 
den lauten Ruf nach Anderung des Kreiſes 


134 
erheben, aus dem die Diplomaten genommen 
werden. Wir find natürlich durchaus der 


Meinung, daß für die diplomatiſche Lauf- 
bahn nicht irgendwelche äußerlichen Eigen; 


ſchaften ausſchlaggebend fein dürfen; Her⸗ 


kunft muß zuruͤcktreten gegenüber der perſön- 
lichen Eignung. Zwei Dinge möchten wir 
hier aber beſonders hervorheben. 

Diejenigen Diplomaten, deren mangel- 
hafte Eignung ſich jetzt wiederholt höchſt 
greifbar offenbart hat, haben die Politik 
getrieben, die ganz nach dem Herzen der 
Verzichtler der Reichstagsmehrheit war. Die 
„Frankfurter Zeitung“ war ja ſchon lange, 
ſchon vor dem Krieg offiziöſes Organ des 
Auswärtigen Amtes, und Lichnowſky iſt nicht 
der einzige diplomatiſche Freund des „Ber- 
liner Tageblatt“ (es ſei nur an Graf Monts 
erinnert). Lichnowſkys Denkſchrift lieſt ſich 
wie ein Abklatſch aus dem „Berliner Tage- 
blatt“ oder umgekehrt. Abgetakelte Salon 
helden ſind gerade die geeigneten Diplomaten, 
wenn unſere Vertretung nach außen auf dem 
Gedanken des Verzichtlertums beruhen ſoll. 
Der müde, alte Lebemann und der eitle Geck, 
denen jede Entfaltung von Energie unſym- 
pathiſch iſt, ſtellen ja praktiſch in der Diploma- 
tie das Verzicht lertum dar. Und immer wieder 
haben wir geſehen, daß ſolche Herren die 
Politik treiben, die nach dem Herzen der 
Führer der Reichstagsmehrheit iſt. Im 
Privatleben wiſſen die Kreiſe der „Frank- 
furter Zeitung“ und des „Berliner Tageblatts“ 
ſich durchaus praktiſch und erfolgreich zu be- 
tätigen. Aber unſympathiſch iſt ihnen nun 
einmal der nationale Aufſchwung, die Geltend⸗ 
machung der ſtaatlichen und nationalen Kraft. 
In den zwiſchenſtaatlichen Beziehungen wün- 
ſchen fie ftets nur die Nachgiebigkeit, die An- 
paſſung, das Friedensangebot, wobei ſie dann 
mit den Wünſchen der matten Salonhelden 
der Diplomatie ganz übereinkommen. 

Zetzt wird die perſönliche „Neuorientie- 


rung“ in der Diplomatie verlangt. Wir ſind, 


wie bemerkt, grundſätzlich damit vollkommen 
einverſtanden. Aber man hüte ſich, daß man 
dabei nicht aus dem Regen in die Traufe 
kommt! Die „Neuorientierung“ vollzieht 
üb unter dem Zeichen der Porlamentariſie- 


Auf der Warte 


rung unſerer Verhältniſſe. Vermag man 
ſich etwas Schrecklicheres zu denken als eine 
Auswahl der Diplomaten nach den Wünfchen 
der Reichstagsmehrheit, eine Aufteilung der 
diplomatiſchen Stellen auf die Parteien der 
Mehrheit, von Erzberger bis Gothein und 
Scheidemann und gaaſe? Ein Proͤbchen 
von dem drohenden Einfluß der Reichstags 
mehrheit haben wir bei der letzten Beſetzung 

der Stelle des Staatsſekretärs des Aus- 
wärtigen Amts gehabt. Es fehlte damals 
keineswegs an ſehr fähigen Perſönlichkeiten 
für dieſen Poſten. Aber es genügte ihre Ab- 
ſtempelung als „Alldeutſche“ oder „Macht- 
politiker“, und ſofort wurden ſie beiſeite ge- 
ſchoben. Man male ſich weiter das Bild aus: 
Erzberger mit der von ihm in Stalien und 
Rumänien fo glänzend bewährten Plumpheit 
als Geſandter in London, wo er virtuos „über 
den Löffel barbiert“ werden würde, SGothein, 
der Kurland und Litauen dem Königreich 
Polen einverleiben wollte, in Warſchau uſw. 


Wogegen der Fall Lichnowſky 
verſchwindet? 


inter dem Fall Erzberger, erklärt die 
„Deutſche Tageszeitung“: „Man be⸗ 
denke, was es bedeutet, wenn der Abg. 
Erzberger mit einem Briefe des Grafen Czer⸗ 
nin an den Kaiſer von Sſterreich und vom 
Grafen Czernin ‚autorifiert‘ dieſen Brief im 
Deutſchen Reichstage bekanntmacht, um die 
Verzichtreſolution durchzudrücken, damit Wohl- 
gefallen in Wien zu erregen und in weiterer 
Folge eine Woge von Kleinmut, Mißvergnü⸗ 
gen und Zweifel am Siege, ein ſteigendes Miß 
trauen gegen die Oberſte Heeresleitung, kurz 
eine Stimmung zu verbreiten, welche 
noch immer, wenn dauernd, der Vorbote des 
Zuſammenbruchs und der Niederlage 
geweſen iſt. Der Abg. Erzberger und ſeine 
politiſchen Geſinnungsgenoſſen, wie gert 
Scheidemann u. a. m. und damals auch Herr 
von Payer, aber machten nicht halbe Arbeit, 
ſondern erklärten friſchweg weiter, man 
mũſſe jeden irgendwie gearteten Frieden - der 
offizielle Euphemismus dafür war die Der 
ftändigung‘ — annehmen und erſtreben: ber 


Auf der Warte \ 


U Boot- Krieg ſei ein Fehler, die Kriegführung 
verfüge nicht mehr über die nötigen Rohſtoffe, 
der Hinzutritt Amerikas zu unſeren Feinden 
bedeute den Zuſammenbruch uſw. Nachher 
dat der Abg. Erzberger verſchiedentlich erklärt: 
die Reſolution habe ‚gut gewirkt“. Es wäre 
dankens wert, wenn er gerade in dieſem Augen- 

blick ſich darüber äußern möchte, wie er dieſe 
gute Wirkung verſtanden wiſſen will. Oder 
meinte er nur, daß die Reſolution in Wien 
gut gewirkt habe? Das könnte, in ſeinem und 
Cernins Sinne verſtanden, gewiß richtig fein, 
denn — um das bekannte Bismarckſche Wort 
zu variieren —: der Appell an die Furcht 
im Deutſchen Reichstage hatte lebhaften 
Widerhall im deutſchen Herzen ge— 
funden, und das war der Triumph des Abg. 
Erzberger. Betrachtet man die Erzbergerſche 
Aktion an ſich aber, ihre Technik, ihre Abſicht 
und ihre Wirkung, ſo kann man den Abg. 
Erzberger nur beglückwünſchen, daß 
erſich nicht im Militärverhältnis befand 
noch befindet. Beiläufig bemerkt, ver- 
ſchwindet das Vergehen des Fürſten 
Lichnowſky völlig hinter dieſer wohl- 
überlegten Aktion des Abg. Erzberger.“ 


Erzberger auf Reiſen 


us einem längeren Aufſatze von Dr. 
Otto Helmut Hopfen in der „Deut- 
ſchen Zeitung“: 

Da wandelt er als Mönch nach Rom — 
man denkt unwillkürlich an die Geſtalt des 
Abtes von Sankt Gallen (ſ. ©. A. Bürger: 
„Wie Vollmond glänzte fein feiſtes Geſicht“. 
Und leug nete nicht, daß er in Rom einen 
erſchütternden Typ des Oeutſchtums ſpazieren 
gefahren, leugnet nicht, daß er ſich auf den 
Weg nach Paris und London begeben 
hat. (Zum Glück ſcheint er nicht hingekommen 
zu ſein.) Er leugnete nicht, daß er Stockholm 
und Bukareſt diplomatiſch unſicher gemacht 
habe und ſeine diplomatiſchen Künſte am 
liebſten auch in Konſtantinopel hätte ſpielen 
laſſen. Re ine Spur von Leugnen, ſondern 
nur Lachen und beneidenswert kalte 
Stirn, daß er ſein Händchen in die 
Diebesgeſchichte des Flottenvereins 


| 135 
geſteckt hatte, leugnete nicht, daß er fein 


Nãschen in der Schweiz zur Aufbeſſerung des 


Auswärtigen Amtes mit dem „Aroma“ eng- 
liſcher, franzöſiſcher und „curialer Atmo- 
ſphäre“ gefüllt hat. Ebenſo wenig hat er es 
geleugnet, daß er als ſimpler Abgeordneter 
ein Arbeitszimmer im Auswärtigen 
Amt hat, obwohl ihn ſeit Kriegsbeginn 
die Marine beherbergen mußte; er 
leugnete nicht den Mißbrauch von ftaat- 
lichen Automobilen und Sonderzüg en; 
leugnete nicht, daß ſein ehemaliger Fraktions- 
genoſſe Wetterle ihn öffentlich der Ver- 
quickung von Staats- und Privatgeſchäften 
ſonderlich in Rom beſchuldigt hat, und noch 
weniger leugnete er ſeine Vertretung der 
göttlichen Vorherſehung für die Polen, für 


die Getreide verteilung aus der Ukraine, 


für die Schauder erregende Verteilung der 


ihm von Bethmann Hollweg zur Aus- 


füllung überlaſſenen Schecks in Sta— 
lien. Ein Tauſendkünſtler, der nach eigenen 
Worten „ſtets drei Dinge zu gleicher 


»Zeit machen kann“, alſo ſo, wie man ſich 


in Buttenhauſen Napoleon I. vorftellt, und 
der ſtolz ausrufen konnte: „So viel Geld 
wie ich hat niemand zur Verfügung“. — 
„Wie kommt der Glanz in meine niedere 
Hütte“, möchte man fragen. Er leugnet all 
das nicht. Heißt es doch: „Lache Bajazzo“, 
und wenn du die Lacher auf deiner Seite 
haft, jo merkt niemand, was du verbergen 
willſt. So leugnete er auch nicht, ziemlich 
gleichzeitig zur Erhöhung ſeines Anſehens 
und zur Stärkung ſeiner zarten Behäutung 
von Thyſſen und der iriſch-deutſchen Gefell- 
ſchaft aus dem Aufſichtsrat hinausgebeten 
und trotz aller Verſuche vom jungen Kaiſer 
von Oſterreich kein zweites Mal — nach 
bekanntgewordenem Mißbrauch — emp- 
fangen worden zu ſein. „Flutenreicher Ebro, 
blühendes Ufer! Wann wird auf deinen 
Matten der Geliebte wandeln?!“ Auch dort 


wird er es nicht leugnen, den Holländern 


unfere „wahren“ Mißerfolge im U- 
Boot-Kriege zur Erzeugung des deut— 
ſchen Bruderzwiftes abgefragt und den 
Litauern das Rezept gegen Oeutſch— 
land verſchrieben zu haben, an dem Verſuche 


156 


feſtzuhalten, die Mehrheit des Deutſchen 
Reichstags immer wieder auf die Zulient- 
gleiſung zum Orkus der Lächerlichkeit zu 
ſenden, vor allem aber für Oeutſchland als 
neuen rocher de bronce die Papſtnote 
ſehr zum Schaden des deutſchen Ka— 
tholizismus aufzurichten. 

Nur zweierlei leugnet er mit der 
von Bethmann übernommenen „erhobenen 
Stimme“. Erſtens leugnet er, eines Sinnes 
mit General Ludendorff zu ſein. Wie wird 
alſo dieſer Militärſoldat es vor der Geſchichte 
verantworten, nicht täglich dreimal drei 
Allheilmittel von Herrn Erzberger erbeten 
und drum den Heilgehilfen erzürnt und zum 
Fadenzieher an den Gliederpuppen der 
Ludendorffhetze gemacht zu haben?! Und 
zum zweiten leugnet er es, irgend welcher 
Wohlgerüche Arabiens, Meſopotamiens, 
Agyptens (alles mögen die Engländer be- 
halten) zu bedürfen, um ſeine kleine Hand 
weiß zu waſchen; er benutze vielmehr — wie 
Pontius Pilatus — die Unſchuld, und ſehet: 
ſeine Hand iſt rein. Er lachte, und das 
Haus feiner Mehrheit lachte mit ihm. 

Stolz konnte der auf Reichs koſten von 


ihm eingerichtete Draht, an dem er zieht, der 


Welt verkünden: „Erzberger hatte im Reichs- 
tag einen guten Tag und die Lacher auf ſeiner 
Seite.“ (Siehe „M. N. N.“). 

Freilich auch der Abt von Sankt-Gallen 
(. G. A. Bürger —: „Wie Vollmond glänzte 
ſein feiſtes Geſicht“) blieb ja in Amt und 
Würden und Reichtum. Um ſeine Gunſt, 
nicht um Hans Bendix', des Schäfers, be- 
warben ſich viele und Hohe. Wer kann's 
wiſſen — ſo überlegen die leider heute 
noch bei uns, viele und Hohe —, ob das 
Schickſal nicht in ähnlicher Faſtnachtslaune 
den Reichstagsabgeordneten zum Reichs- 
kanzler wandelt. Für dieſen Fall wär's 
erſt recht unangebracht, ſich ſeine Feind- 
ſchaft zuziehen und unter ihm zu leiden. 
Man ſieht an Ludendorff, was es koſtet, ein 
Charakter zu ſein, ſein reines Händchen nicht 
drücken zu wollen. 


* 


Auf der Warte 


Lügenhaft, aber wahr! 


n der Sitzung des Preußiſchen Herren- 
hauſes vom 10. April ſagte Fürſt Salm- 

gorſtmar: „Leider merkt man noch immer 
die Hand des Vaters der Reichstagsreſolution, 
dieſes Mannes, der politifch, fo viel 
auf dem Kerbholz hat, der an einem 
Diebſtahl beteiligt geweſen iſt, der. 
jo wenig vertrauenswürdig iſt, aber 
trotzdem leider heute noch immer von 
dem Minifterium für Auswärtige An- 
gelegenheiten zu wichtigen politifhen. 
Miſſionen im In- und Auslande benutzt 
wird.“ > 

Lügenhaft, aber Tatſache: heute noch! 
Wie lange wird ſich das deutſche Volk auch 
das noch gefallen laſſen? Opfert es darum 
fein beſtes Blut und Gut, ſchlagen Hinden- 
burg und Ludendorff darum die Entſchei- 
dungsſchlachten, um für die Strebſamkeiten 
„dieſes Mannes“ und feiner Vorder- oder 
Hintermänner zu „ſiegen“? Wie lange wer- 
den unſere katholiſchen Deutſchen ſich noch 
dazu hergeben, mit ihrem blanken Schilde 
eine ſolche Führerſchaft („Wirtſchaft, Horatio, 


Wirtſchaft!“) zu decken? Gr. 
Am unſerer guten Beziehun- 
gen“ willen 


hat unſere Politik zugewartet, bis es Eng- 
land glücklich gelungen iſt, mehrere hun— 
derttauſend Tonnen Schiffsraum von 
Holland zu erpreſſen und in feinen 
Dienſt zu ſtellen. Die müſſen alſo unſere 
U-Boote zu all den anderen neutralen Schif— 
fen, die denſelben Kurs geſteuert worden 
ſind, auch noch „ſchaffen“! Und dann wird 
mit dreiſter Stirn behauptet, die Rechnung 
auf den U Boot-Krieg ſei falſch geweſen! 
„Schon vor Zahr und Tag,“ ſchreibt die 
„D. T.“, „als die engliſche Erpreſſungs- 
arbeit Holland gegenüber einge ſetzt hatte und 
immer ſtärker wurde und man ſich hier und 
da in der Welt dachte, fo etwas ſei doch „un- 
erhört“, könne nicht geduldet werden und 
müſſe die ſtärkſten Reaktionen hervorrufen, 
erklärten hervorragende holländiſche Kauf- 


Auf der Warte 


leute deutſchen Ausfragern, daß das be⸗ 
ſtändige Nachgeben Hollands gegenüber dem 
angelſächſiſchen Drucke nicht zum wenigſten 
darauf zurückzuführen ſei, daß von der 
deutſchen Seite nicht einmal kräftige 
Vertretung der deutſchen Intereſſen 
erfolge, geſchweige denn ein Verſuch, 
auf die. holländiſche Regierung zu 
bruͤken. Die Niederlande ſeien, wie ja jeder 
Nederländer wiſſe, derart auf Deutſch- 
land ange wieſen, daß man ſich die deutſche 
Nachgiebigkeit und Energie loſigkeit des Auf 
tretens nur durch Mangel an Selbſt- 
vertrauen und durch Fehlen der Zu- 
verſicht. auf Erfolg der deutſchen Waf- 
fen erklären könne. Wenn man derartige 
Anſichten im Laufe der vergangenen Jahre 
laut werden ließ, fo erklärte die heutige ſo⸗ 
genannte Mehrheitspreſſe mit allem was 
dazu gehört, das ſeien wieder einmal die 
brutalen Rodomontaden alldeutſcher Groß 
ſprecher, welche nichts erreichten als die Neu- 
tralen vor den Kopf zu ſtoßen. Da ſei das 
kluge Einlenken der Regierung zu begrüßen, 


denn es bilde die einzige vernünftige und 


praktiſch denkbare Politik. Dieſe Weiſe hat 
man oft genug gehört, und heute zeigt ſich 
als Ergebnis in erſter Linie, daß es unſern 
Feinden gelungen iſt, mehrere hunderttauſend 
Tonnen Frachtraum in nicht holländiſchen 
Häfen feſtzulegen und über ſie zu verfügen. 
Dieſe Schiffe ſind nicht von ungefähr in 
die feindlichen Häfen gelangt, ſondern ſy⸗ 
ſtematiſch aus ihnen herausgezogen 
worden. Auch dieſer Prozeß hat nicht un- 
bemerkt ſtattgefunden, ſondern iſt auch in 
Deutfchland bemerkt und vielfach verfolgt 
worden. Die deutſche Regierung hätte 
es in der Hand gehabt, durch ein ent- 
ſprechendes Vorgehen Holland gegen- 
über dieſes Manöver der Verpflanzung 
der Tonnage in feindliche Häfen zu 
verhindern. Die deutſche Regierung hatte 
alle Mittel dazu in der Hand, und ſeit 
vielen Monaten war eben dieſes Manöver 
vollkommen durchſichtig. Trotzdem iſt, um 
der „guten Beziehungen“ willen und weil es 
unbe quem war, nichts geſchehen.“ 

Unſer Vertreter in Holland war Herr 


137 


von Kühlmann. Damals deutſcher Ge⸗ 


ſandter im Haag — heute Staatsſekretär des 


Auswärtigen. 
N * 


Die verſchleppten Balten in 
Sibirien 


(seen allen Verſprechungen und den 
im Friedensvertrag vereinbarten 
Beſtimmungen ſind die aus Livland und 
Eſtland verſchleppten Balten in mehr als drei 
Wochen langer Reife nach Kraßnojarsk in 
Sibirien geſchafft worden. Die Rigaiſche 
Zeitung teilt nunmehr mit, daß es einem 
der Unglüͤcklichen, Baron Roman Eiefen- 
hauſen Alt-Fennern gelungen, iſt, aus dem 
Zuge zu entfliehen. Er hat über ſeine 350 
Leidensgefährten endlich die zuverläſſigſte 
Kunde gebracht. 

Die in Dorpat gefangen gehaltenen 
Herren wurden am 20. Februar auf den 
Bahnhof gebracht, nur zum Teil waren ſie 
mit wärmeren Sachen und Lebensmitteln 
ausgeſtattet. Am 22. Februar langte der un- 
heizbare Zug in Gatſchina an. In den erſten 
zweimal 24 Stunden wurde den frierenden 
Verſchleppten keinerlei Speiſe oder Trank 
gereicht. In Gatſchina fanden ſich dankens⸗ 
werterweiſe Vertreter der ſchwediſchen Ge- 
ſandtſchaft mit Lebensmitteln und warmen 
Sachen ein, die jedoch leider den roten Gar- 
diſten und noch röteren Revaler Soldaten in 
Verwahrung gegeben werden mußten; dieſe 
behielten dann auch das meiſte einfach für ſich. 
Bis Wjatka ging dann die Fahrt in den un- 
heizbaren Wagen weiter, von da ab in heiz- 
baren. Bis zu 80 Herren waren in je einem 
Wagen eingepfercht. Nur den alten und 
kranken Herren konnten Schlafplätze einge- 
räumt werden; die jüngeren richteten unter ſich 
eine Wache ein. Die mitreiſenden Begleiter 
der ſchwediſchen Geſandtſchaft hatten ke inen 
Zutritt zu den Gefangenen; ſie ſaßen in 
einem Abteit des Konvoiwaggons, nur die 
Krankenſchweſter Lia von Stryr durfte aus 
ihrem kleinen Vorrat der gangbarſten Arzneien 
die Erkrankten und Schwachen ſtärken. Nur 
zweimal auf. der ganzen Sirecke von Peters 
burg bis hinter Omsk, d. h. in der Zeit von 


138 


zwei Wochen, wurde den Herren Gelegenheit 
gegeben, ſich zu waſchen, d. h. ſich mit Schnee 
Seſicht und Hände abzureiben. Trotz aller 
Drangſalierung war die Stimmung der ge- 
meinſam ihr Leid Tragenden eine auf- 
rechte. Nach etwa drei Wochen Fahrt auf 
der Station Bolotnaja fand eine plan- 
mäßige Beraubung der Verſchleppten 
ſtatt. Alles Geld und alle Wertſachen, ſogar 
Trauringe wurden den Wehrloſen abge- 
nommen; den Ausgeplünderten wurde nur 
die Brotration gelaſſen. Den Anſtyengungen 
der Reife erlagen die Herren v. Baran ow, 
v. Naſackin und Baron Hoyningen- 
Huene-Jerwakant. Der Geſundheitszuſtand 
der übrigen Herren war verhältnismäßig gut. 
Zn Kraßnojarsk find die Verſchleppten in 
einem neu eingerichteten Gefängnis einiger- 
maßen befriedigend untergebracht worden. 
Außer Baron Tieſenhauſen iſt auch ein 
Herr Thomſon aus dem Zuge geflüchtet 
und in der Heimat eingetroffen. Von einer 
Rückſendung der Verſchleppten ver- 
lautet jedoch nichts. 

Es geht nicht länger an, ſich durch Ver- 
ſprechungen der Bolſchewiki an der 
Naſe herumführen zu laſſen. Auf Grund 
des Friedens vertrages dürfen wir erwarten, 
daß deutſcherſeits geeignete Druck— 
mittel angewendet werden, um die ſtrikte 
Einhaltung der Vereinbarungen zu erzwingen 
und damit den Verſchleppten, die zum 
Wiederaufbau der Heimat unbedingt 
notwendig ſind, die ſofortige ſichere 
Rückkehr zu gewährleiſten. St. d. O. 


Eine zeitgeſchichtliche Feſtſtel⸗ 
lung 


Seren genug, verbucht die „T. R.“, 
haben in den jüngſten Reichstags- 
verhandlungen gerade die Redner, die 
mit dem größten Pathos für das Selbit- 
beſtimmungsrecht der neuentſtandenen 
Randitaaten eintraten, und zwar ausgeſpro⸗ 
chenermaßen, um eine gute Note von 
unſeren Gegnern zu bekommen, in 
chren langen Ausführungen nicht ein ein- 
ziges Wort dafür übrig gehabt, daß die- 


Auf der Warte 


ſelben Gegner Holland das Selbſtbeſt im- 
mungsrecht nicht einmal über ſeinen 
Schiffs raum gelaſſen haben. Dieſe Tat- 
ſache muß als gewichtiger Beitrag zur Zeit 
geſchichte hier mit regiſtriert werden; denn 


das abſichtliche oder unabſichtliche Aberſehen 


der ſeeräuberiſchen Druckweiſe und Hand- 
lungen unferer Gegner kann unter Umftänden 
einen zehnmal ſchädlicheren Einfluß auf 
die kommenden Friedens verhandlungen und 
unſere zukünftige Stellung als Seemacht 
haben, als ſelbſt eine ſchwere Niederlage 


zur See. 


* 
Nicht ſachliche Gründe, ſondern 

„öffentliche Meinung“ 

N einer Rede in Benneckenſtein hat der 

frühere Reichskanzler Dr. Michaelis 
nach unwiderſprochenen Zeitungsberichten in 
einer Betrachtung über feine Tätigkeit an der 
Spitze der Reichsgetreideſtelle gejagt: 

„Vas beim Getreide gut gelang, ſollte auf 
alles andere übertragen werden, und ſo ſind 
wir in die Zwangswirtſchaft hineingekommen. 
Daß wir es ſo gemacht haben, iſt geſchehen, 
weil die öffentliche Meinung es gefor- 
dert hat.“ Ä 

Dieſer Ausſpruch, bemerkt die „D. T.“, 
verdient feſtgehalten zu werden. Einmal zeigt 
er, was man heute unterder öffentlichen 
Meinung verſteht: der große landwirt- 
ſchaftliche Berufsſtand gilt dabei, obwohl er in 
dieſer Frage nicht nur als doppelt intereſſiert, 
ſondern vor allem auch als beſonders urteils- 
fähig in Betracht kommen mußte, überhaupt 
nicht mit; vielmehr iſt die Meinung, beſſer 
geſagt, die Stimmung großſtädtiſcher 
Kreiſe, vor allem der Sozialdemokratie, 
eben einfach die öffentliche Meinung! 

Zugleich enthält dieſe Außerung des Herrn 
Dr. Michaelis aber das klare Zugeſtändnis, 
daß die Ausdehnung der Zwangswirtſchaft 
nicht auf Grund ſach licher Notwendigkeiten 
und Erwägungen, ſondern deshalb erfolgt iſt, 
weil die „öffentliche Meinung“, richtig ge- 
leſen: die Sozialdemokratie und ihr Anhang, 
es gefordert haben. 


* 


Auf der Warte 


Polniſcher Güteraufkauf 


nzeige im „Berliner Tageblatt“: 
„Wir kaufen ſofort Güter be- 
liebiger Größe in den Provinzen Poſen, 
Veſtpreußen und Schleſien und bitten 


um genaue Anſchläge mit Rentabilitäts- 


berechnung. Agenten verbeten. Bank Parce- 
laeyjn v-Poſen, St. Martinftr. 39.“ 

„Die Anzeige“, bemerkt die „D. T.-Z.“ 
dazu, „beweiſt, wie planmäßig die Polen 
die Stärkung an Kapital, die ſie durch ihre 
beſondere Haltung in der Kriegszeit gewonnen 
haben, dazu benutzen, den durch den Krieg 
vielfach geſchwächten deutſchen Grund- 
beſitz in der Oſtmark in ihre Hände zu 
bringen. Es wird nicht nur beſonders auf- 
mertſamer Handhabung der neuen Bundes- 
rats verordnung, ſondern auch verſtärkter 
Maßnahmen des preußiſchen Staates be- 
dürfen, um der vermehrten Gefahr zu be- 
gegnen, die dem deutſchen Grund und Boden 
in der Oſtmark von polniſcher Seite droht.“ 

git aber die Hilfloſigkeit, mit der 
Preußen und Oeutſches Reich der eigenen 
Enteignung gegenüberſtehen, nicht auch 
einzig in ihrer Art? Man wird wohl nicht 
fehlgehen, wenn man die verlegene Hilf- 
loſigkeit der Regierungen Preußens und des 
Deutſchen Reiches auf ein ſtrenges Verbot 
Erzbergers gegen irgendwelche Gegen- 
maßnahmen zurückführt. Daß Erzberger für 
die von ihm und feinen Auftraggebern be- 
liebte Politik auch über unſer Auswärtiges 
Amt verfügi, hat ſich ja erſt kürzlich wieder 
bei der Aufwiegelung der Litauer gegen einen 
engeden Anſchluß an das Deutſche Reich ge- 
zeigt. Gr. 


* 


Unnötige Wertvernichtung 


ährend man in Berlin und in anderen 
Großſtädten darauf bedacht iſt, einer 
drohenden Wohnungsnot vorzubeugen, hört 
man, daß einige Großſpekulanten des Klein- 
handels in der Nähe des Berliner Zoologiſchen 
Gartens ganze Reihen neuer Zinshäuſer an- 
gekauft haben, um ſie niederreißen zu laſſen 
und an ihrer Stelle große Warenhäuser zu 


159 


bauen. Ein derartiges Vorhaben kann in einer 
Zeit, da allerſeits Sparſamkeit mit dem 
Volks vermögen empfohlen wird und geboten 
iſt, unmöglich geduldet werden, denn es hat 
eine unnütze Wertvernichtung durch das Ab- 
reißen neuer Häuſer und zugleich eine Ver- 
minderung der Wohnungen zur Folge. Kann 
auf Grund der beſtehenden Geſetzgebung 
eine ſolche unnütze Wertvernichtung nicht 
verhütet werden, fo mag das Oberkommando 
in den Marken kraft feiner Befugniſſe ein- 
greifen, und der geſunde Menſchenverſtand 
wird ihm beipflichten. Wenn man den Bau 
von Warenhäuſern, die den geſchäftlichen 
Mittelftand nachhaltig ſchwächen, nicht ver- 
bieten mag, ſo darf man ihn nur da geſtatten, 
wo unbebauter Grund zur Verfügung ſteht 
oder alte baufällige Häufer in Frage kommen. 
Das Niederreißen neuer wertvoller Gebäude 
iſt mindeſtens während des Krieges und in 
der Nachkriegszeit mit einer vernünftigen 


Wirtſchafts- und Sozialpolitik unvereinbar. 


* b P. D. 
Ein deutſcher Kolonialfilm 


ls wirkſames Werbemittel für allerlei 
Zwecke, ſelbſt bei politiſchen Wahlen, 


werden Filmvorführungen in England und 


Nordamerika ſchon feit langer Zeit ver- 
wendet, nach Kriegsausbruch auch unter 
Heranziehung geſtellter Bilder deutſcher 
Kriegsgreuel, Niederlagen uſw., um Haß 
und Verachtung gegen die Oeutſchen zu er- 
wecken und die Kriegsſtimmung zu ſchüren. 
Dagegen begnügte man ſich in Deutſchland 
mit der Vorführung einzelner Bilder aus 
dem Kriege zu Lande und zur See, darunter 
Bilder aus dem Möwezuge. Eigentliche 
Werbefilme wurden bisher in Deutſchland 
ſoweit erſichtlich nur im Intereſſe der Volks- 
geſundheit zur Veranſchaulichung der Ge- 
fahren anſteckender Krankheiten und mit 
Anterſtützung des deutſchen Flottenvereins 
durch Vorführung deutſcher Seeſchiffahrts- 
bilder hergeſtellt. Eine eigene deutſche Ko- 
lonialfilmgeſellſchaft m. b. H. hat ſich die 
Aufgabe geſetzt, durch geeignete Filmvor- 
führungen weitere Kreiſe für die deutſche 
koloniale Sache zu erwärmen und im März 


140 


einen Film dieſer Art unter dem Titel: 
„Farmer Borchardt“ (weshalb nicht An- 
ſiedler Borchardt?) in Berlin herausgebracht. 
Leider war der Film ein Fehlgriff, denn er 
arbeitete hauptſächlich mit verbrauchten Mit- 
teln der landläufigen Unterhaltungsfilme, 
mit platoniſchem Ehebruch, Selbſtmord ver- 
ſuch und Reue, und erſchien durchaus un- 
geeignet, ſoweit er in Deutſch-Südweſt⸗ 
Afrika ſpielte, erfolgreich für die Kolonien 
zu werden. Zm Gegenteil mußten Bilder 
wie die Überfälle der aufſtändiſchen Hereros 
auf das Landhaus geradezu abſchreckend 
wirken. Und doch bietet das deutſche Ko- 
lonialleben reichen Stoff für Filmbilder. 
Da gegenwärtig die deutſchen Kolonien nicht 
zu erreichen ſind, ſollten die Unternehmer 
bis nach dem Frieden warten, bis ſie die 
deutſche koloniale Umwelt mit ihren Reizen, 
die deutſchen Anſiedler mit ihrer Tätigkeit 
und die Eingeborenen mit ihrem Treiben un- 
mittelbar aufnehmen und den Deutſchen da- 
heim vorführen können. P. D. 


Atelierfeſte und Verwandtes 


n Schwabing, dem gelobten Lande aller 

Abarten des Kunſtwahnſinns, haben ge- 
wiſſe Kreiſe Münchens einen Tag nach Be- 
ginn der großen Offenſive das Bedürfnis ge- 
fühlt, ein Atelierfeſt mit all feinem Drum 
und Dran abzuhalten. Die Entrüſtung der 
Münchner Bevölkerung hat die Polizei- 
behörde zu eingehenden Unterſuchungen ver- 
anlaßt, als deren Ergebnis ſie folgendes 
veröffentlicht hat. 

„Das Atelierfeſt, das in der Öffentlichkeit 
mit Recht fo unliebſames Aufſehen und all- 
gemeinen Unwillen erregte, fand, wie die 
Polizeidirektion leider erſt nachträglich erfuhr, 
tatſächlich letzten Sonnabend abend im 
Atelierbau des Geheimrats Prof. Dr. Fr. von 
Thierſch, München, Georgenſtraßze 16, als 
Maskenball ftatt. Veranſtalter des Feſtes 
waren der ledige Regiſſeur Karl Auguſt 
Kroih, geb. 1895, zum Militärdienjt un- 
tauglich. 2. die amerikaniſchen Staats- 
angehörigen Hermann und Lucie Schäffer, 
Kunſtmalerseheleute und 3. Frau Romenis 


Veranſtaliungen. 


Auf der Warte 


Wagenſeil geb. Taylor, früher amerikaniſche, 
jetzt deutſche Staatsangehörige, deren Ehe- 
mann, Schriftſteller Hans Wagenſeil, wegen 
Verweigerung der Militärdienſtpflicht ſich in 
Haft befindet. An dem Feſt nahmen etwa 
140 Perſonen teil, zumeiſt Schriftſteller, 
Künftler und Offiziere mit ihren Damen. 
Gegen die Veranſtalter des Feſtes wurde 
Strafanzeige wegen Abhaltung einer Tanz- 
unterhaltung zu verbotener Zeit, groben 
Unfugs und wegen Zuwiderhandlung gegen 
die Vorſchriften über den Verkehr mit 
Lebensmitteln erftattet. . . Es bleibt noch 
die Frage offen, aus welchen Gründen Ge- 
heimrat Thierſch, der Erbauer zahlreicher 
Münchener Monumentalbauten, ſich veran- 
latzt geſehen hat, fein Atelier in jetziger Zeit 
für einen Maskenball herzugeben.“ 

Nach unſerer Meinung bleiben noch einige 
weitere Fragen übrig, vor allem die, wie es 
möglich iſt, daß amerikaniſche Staatsbürger 
bzw. eine geborene Amerikanerin, deren 
unheilvolle Einwirkung ſich im Verhalten 
ihres Mannes genügend betätigt hat, bei uns 
eine ſolche Freiheit der Bewegung haben 
können, daß ihnen die Veranſtaltung der- 
artiger Feſte möglich iſt. Das hat mit deut- 
ſcher Gutmütigkeit nichts mehr zu tun, ſondern 
ift nicht nur hanebüchen dumm und würdelos, 
ſondern auch im höchſten Grade. vaterlands- 
feindlich. Denn man muß ſchon abſichtlich 
blind und taub ſein, um zu verkennen, daß 
derartige Konventikel Brutſtätten für jene 
Ourchſeuchung unſerer öffentlichen Stim- 
mung ſind, die wir als ſchwerſte Gefährdung 
unſerer Widerſtandskraft anſehen müſſen. 

Das Feſt in Schwabing iſt nicht vereinzelt. 
Die Münichner Polizeibehörde erwähnt in 
ihrem Berichte noch ſieben weitere ähnliche 
Sn Berlin herrſcht ein 
ganz ähnliches Treiben. In Alt-Glienicke 
3. B. hat die Gemeindevertretung beſchloſſen, 
die dort üblichen, von Ortsfremden ſtark ber 
ſuchten Tanzluſtbarkeiten durch eine beſonders 
kräftige Beſteuerung zu erfeſſen. Der Münch 
ner Bericht kündigt nun an, daß in Zutunft 
die Veranſtalter von Tanzunterh. lungen mit 
Geld bzw. Gefängnisſtrafen bis zu einem 
Zahre belangt werden ſollen. Nach dem 


Auf der Warte 


obigen Bericht iſt für dies ſkandalöſe Atelier- 
feſt zunächſt eine lange Gerichtsverhandlung 
voraus zuſehen. Wir find überzeugt, daß das 
ganze deutſche Volk — ausgenommen natür- 
lich dieſe erlauchten Kunſtgeiſter — es be- 
grüßen würde, wenn in ſolchen Fällen mili- 
täriſch kurz eingegriffen würde. 

Das Betrüblichſte am Ganzen iſt für 
jeden Kunſtfreund die Tatſache, daß hinter 
allen derartigen Erſcheinungen Künſtlerkreiſe 
ſtehen, und zwar, wie man ſieht, nicht bloß 
die mit lebenslänglicher Unreife behafteten 
Schwabinger Snobs, ſondern auch in hoher 
Achtung ſtehende Männer, wie Thierſch. Die 
in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege 
entwickelte Volksentfremdung eines er- 
ſchreckend großen Teiles unſerer Künſtler- 
ſchaft enthüllt ſich hier in ihren erſchütternden 
Folgen. Der wahnwitzige Kunſthochmut, 
dem wir in den meiſten Kunſtzeitſchriften, 
in zahlreichen Beſchluſſen und Kundgebungen 
zur Theaterzenſur und ähnlichem begegnen, 
hat dieſe Kreiſe dem Gemeinſamkeitsgefühl 
jo entfremdet, ihnen ihre Sonderbelänge 
derartig als einzigen wichtigen Lebensinhalt 
vorgegaukelt, daß dieſe ſich als patentierte 
Inhaber differenzierter Gefühle auffpielen- 
den Nunſtmacher immer wieder eine Gefühls- 
roheit bekunden, deren ſich minderbegnadete 
Volksangehöoͤrige wenigſtens ſchämen würden. 
Sie aber bilden ſich noch beſonders viel darauf 
ein. Es wäre höchſte Zeit, daß die ihres 
Volkstums und ihrer Volksverpflichtung be- 
wußten Künſtlerkreiſe ſich zuſammentäten 
und einmal ſehr deutlich von dieſen das große 
Wort führenden Kreiſen abrückten. Sonſt 
wird unſer Volk, das ein beträchtliches 
Maß einer vom Allgemeingültigen abweichen; 
den Künſtlerlebensart gutmütig hinnimmt, 
zu einer Verachtung des Künſtlertums über- 
daupt gelangen. K. St. 


* 
Die Entwertung der geiſtigen 
Berufe 
eute, ſchreibt Dr. Spier (München) im 
Frankfurter „Freien Wort“, gilt nur 


noch auf dem Markte die mechaniſche und 
rohe Handarbeit. Die geſuchte und gutbezahlte 


141 


iſt die der Finger und Muskeln. Die geiſtige 
iſt enorm im Kurſe geſunken, ebenſo ihre Ent- 
lohnung 

Auch nach dem Kriege wird es noch lange 
dauern, bis wieder das alte Leben ſich zurück- 
findet. Und niemals werden wir wohl die 
niedrigen Lebenshaltungspreiſe wieder be- 
kommen, die wir früher gehabt haben. 

Es wird alſo gut ſein, wenn die geiſtigen 
Berufe ſich jetzt ſchon um ihren Platz an der 
Sonne kümmern. Und dafür gibt es nur eins: 
die Solidarität. Der Zuſammenſchluß der 
geiſtigen Berufe zu gemeinſamer ökonomi- 
ſcher Arbeit, zur Verbeſſerung ihrer Aus- 
ſichten im Daſeinskampfe, im Erkämpfen 
beſſerer Stellungen und beſſerer Arbeits- 
bewertungen. Denn das darf nie mehr vor- 
kommen, daß ein Schloſſerlehrling oder 
Schloſſergeſelle ein beſſeres Einkommen hat 
als ein Arzt, den er in der Sprechſtunde auf- 
ſucht und den er ſelbſt gar nicht mal bezahlt, 
ſondern deſſen Leiſtung er von der Kaſſe er- 
legen läßt. Es kann kein Zuſtand fein, der 
wirklich geſund und empfehlenswert genannt 
werden darf, wenn ein Akademiker nach 
zehn Studenten- und Aſſiſtentenjahren 
weniger verdient als ein ſiebzehn- 
jähriger Bube, der überhaupt keine 
Vorbildung beſitzt und ſofort nach dem 
Verlaſſen der Schule ſchon verdiente. 

Dies iſt nur ein Beiſpiel aus der un- 
geheuerlichen Umwertung aller Werte und 
der materiellen Beurteilung der heutigen 
Menſchenleiſtungen. Dieſe Betrachtungsweiſe 
würde eine Verrohung und Umftürzung aller 
Grundbegriffe bedeuten. Jedes Menſchen 
Arbeit ſei geachtet und auch entſprechend be- 
zahlt. Aber Qualitätsunterſchiede find in allen 
Dingen und Erzeugniſſen menſchlicher Kraft. 

Es wird den geiſtigen Berufen nichts 
übrigbleiben, als das Beiſpiel der Arbei- 
ter nachzuahmen, nämlich ſich zu organi- 
ſieren, ſich zuſammenzuſchließen und ſich als 
eine geſchloſſene Macht hinzuſtellen. 
Dann können ſie auch diktieren, Forderungen 
auf einmal zuſammen vorbringen. Der 
Streikgeiſtiger Berufe iſt abſolut keine 
Utopie. Es find ſchon Arzteſtreiks bei 


Kaſſen vorgekommen. In dem Sinne 


142 


natürlich, daß jedem Arbeiter ärztliche Hilfe 
gewährt wurde, aber privat, die er ſelbſt be- 
zahlen mußte. Die Kaſſen hatten in ſolchen 
Fällen derart ſchlecht die ärztliche Leiſtung 
honoriert, daß die Arzte einfach keinen andren 
Weg wußten oder gehen konnten. 

Es gibt jetzt ein geiſtiges Proletariat, das 
viel ſchlimmer dran iſt als das arbei— 
tende, das im Kriege faſt verſchwunden iſt. 


Kunſt und Politik 


iener Schriftſteller haben gegen das 
Zenſurverbot an René Schickelss 
„Hans im Schnakenloch“ und Claudels „Ver- 
kündigung“ in Wien folgenden Proteſt ver- 
öffentlicht: „Wir unterzeichneten Schriftſteller 
fühlen uns zu einem Proteſt gegen das amt- 
liche Verbot veranlaßt, mit dem man die Auf- 
führungen der Werke von Schickels und Clau- 
del belegt hat. Wir finden es eines Kultur- 
volkes unwürdig, wenn Angelegenheiten der 
Kunſt vom politiſchen Standpunkt aus be- 
urteilt werden. Es wird durch ſolche Ver- 
mengung der Kunft mit der Politik der 
Kunſt geſchadet und der Politik nicht genützt. 
Die Erfüllung unſerer ſtaatsbürgerlichen 
Pflichten wird in keiner Weiſe davon be- 
hindert, daß wir dem menſchlichen Genius 
huldigen, in welcher Nation immer er Ge- 
ſtalt annimmt. Hermann Bahr, Franz Blei, 
Theodor Däubler, Paris v. Gütersloh, Alfred 
Polgar, Dr. Artur Schnitzler, Jakob Waſſer- 
mann, Franz Werfel u. a.“ 

Die Wiener Schriftſteller haben in ihrem 
Eifer völlig überſehen, daß wenigſtens im 
Falle Claudel das Verbot mit „Politik“ 
gar nichts zu tun hat. Herr Claudel hat, trotz- 
dem er lange Jahre in Deutſchland gelebt 
und für ſein dramatiſches Schaffen eine 
Förderung erfahren hat, um die ihn mancher 


deutſche Oichter beneiden dürfte, und die ihm 


von feinem franzöſiſchen Vaterlande nicht zu- 
teil wurde, ſich zu Beginn des Krieges nicht 
verkneifen können, gegen Deutſchland und 
Deutſchtum loszuſchimpfen. Wer das ver- 
gißt, handelt nicht überlegen, ſondern cha- 
rakterlos. Obendrein iſt Claudels „Ver- 
kündigung“ kein Werk, durch deſſen zeit- 


Auf ber Warte 


weilige Vorenthaltung der geiſtige und künft- 
leriſche Beſitz unſeres Volkes irgendwie be⸗ 
einträchtigt werden könnte. 

Schickeles Drama „Hans im Schnaken- 
loch“ aber behandelt ein außerordentlich 
politiſches Problem (die elſäſſiſche Frage). 
Es iſt blutleere Aſthetiſiererei oder bewußte 
Irreführung, zu verlangen, daß gegenüber 


einem ſolchen Werke politiſche Erwägımgen zu 


ſchweigen haben. Wir wollen doch die Nunſt 

nicht ſyſtematiſch als außerhalb des wirklichen 

Lebens ſtehend hinſtellen. K. Et. 
* 


Der käufliche Ehrendoktor 


Dosch die Preſſe macht ein Artikel die 
Runde, in dem der bekannte Geheimrat 
Prof. Schwalbe in der „Oeutſchen medizi- 
niſchen Wochenſchrift“ zu der Ehrenpromotion 
des Berliner Annoncenpaſchas Rudolf Moſſe 
durch die Heidelberger Univerfität Stellung 
nimmt. Er kommt natürlich zu einer Ver- 
urteilung und hebt die ſchweren ideellen und 
ſozialen Gefahren hervor, die in der Möglid- 
keit, dieſe höchſte Ehrung unſerer Univerſitäten 
durch Geld erwerben zu können, liegen. „Es 
liegt z. B. ſehr nahe, daß die Kriegsgewinner 
ſich veranlaßt ſehen können, einen Teil ihres 
Verdienſtes ſtatt in Olgemälden und Zu- 
welen auch in einem Ehrendoktor anzulegen. 
Hat der Grundſatz non olet“ aber auf dieſem 
Gebiete Platz gegriffen, dann iſt die Grenze 
ſchwer zu finden.“ 

Seltſamerweiſe zieht der Herr Geheimrat 
aus dieſer Erkenntnis nicht die einzig richtige 
Folgerung, daß der Ehrendoktortitel unter 
keinen Umftänden auf Grund einer Geld- 
leiſtung verliehen werden dürfe, fondern 
macht eine Ausnahme für Stiftungen, die 
„eine ganz beſondere Höhe“ erreichen. Bo 
findet er nun da die Grenze? — Hier iſt die 
einzige Frage: Käuflich oder nicht. Für einen 
beſonders dick gefüllten Seldſack bedeutet auch 
eine Stiftung „von ganz beſonderer Hohe 
keine ſchwere Leiſtung, und es iſt gar nicht 
einzuſehen, weshalb ein Kaufpreis zu ſtinken 
aufhören ſoll, wenn das Stapel der er 
wucherten Tauſendmarkſcheine um einige 
Zentimeter höher geworden fi, K. St. 


Auf der Warte 


Ein „deutſcher Verleger 


er deutſche Verlag führt bewegliche 

Klage über den Papiermangel. Die 
deutſche Schriftſtellerwelt leidet ſchwer unter 
ihm. Zahlreiche neue Bücher können des- 
halb nicht herausgegeben, bewährte ältere 
Werke nicht neu aufgelegt werden. In 
dieſer Lage bringt der Verlag von Kurt 
Wolff in Leipzig in neuer deutſcher 
Ausgabe drei Werke des Franzoſen Ana- 
tole France heraus: „Die Götter dürſten“, 
„Komödiantengeſchichte“ und „Aufruhr der 
Engel“. Man wird ſich nicht darüber wınt- 
dern, daß der Verleger, der ſich nicht ent- 
bloͤdet hat, im Kriege den von Guſtave FZlau- 
bert aus ſittlichen Bedenken oder vornehmem 
Geſchmack nicht veröffentlichten Jugend- 
toman „November“ mit großem Tamtam 
herauszubringen, nun auch die kaltſchnäuzi- 
gen Bücher des alten Fronikers Anatole 
France für eine geeignete Lektüre in dieſer 
Kampfzeit des deutſchen Volkes hält. Auch 
iſt bei einem ſolchen Verleger natürlich nicht 
das ODeutſchbewußtſein zu erwarten, das ihn 
davor bewahren müßte, eines Mannes Bücher 
während bes Krieges zu veröffentlichen, den 
zu Beginn des Feldzuges weder ſeine ſiebzig 
Jahre noch fein vielberufener Skeptizismus 
von der Beſchimpfung der „deutſchen Bar- 
baren“ zurückzuhalten vermochte. — Aber 
ſo viel ſoziales Empfinden und Mitgefühl mit 
den ſchwer leidenden deutſchen Schrift- 
ſtellern müßte man bei einem deutſchen Ver- 
leger als Anſtandsgeſinnung vorausſetzen 
können, daß er in dieſer Zeit der Knappheit 
nicht deutſchen Beſitz und deutſche Arbeits- 
kraft im Dienſte eines Angehörigen des feind- 
lichen Volkes verwendet! R. St. 


Deutſche Rückſtändigkeit 


ie Melba war unbeſtritten der Stern 

der diesjährigen Opernſaiſon in Neu- 
jork. Wenn ſie ſich in der Art weiter entwickelt 
hat, wie ich fie vor einem Outzend von Jahren 
„bewundern“ durfte, muß fie jetzt planeten 
haft rundlich und polarkalt ſein. Eine ſolche 
Freiheit von Gefühl iſt felbft bei Roloratur- 


ſchütterte. 


145 


ſängerinnen jelten. Aber trotz dieſer Puppen- 
haftigkeit verſteht fie ſich aufs Geſchäft. Man 
entſtammt ſchließlich nicht umſonſt dem Lande 
der großen Hammelherden; da verſteht man 
ſich auf die Schafinſtinkte. Und ſo erzählt ſie 
den gierigen Vankees Wunderdinge, auch wie 
ſie zum erſten Male nach Amerika kam: 

„Ich weigerte mich ſtets, die Reife zu 
machen, aber der Manager Hammerſtein 
wollte mich durchaus dazu veranlaſſen. Als 
ich wieder einmal abgelehnt hatte, zog er 
ſchweigend eine ungeheure Brieftaſche her- 
vor (er trug immer einen Patentreiſekoffer 
voller Banknoten in der linken Bruſttaſche) 
und begann alle Einrihtungsjtüde in meinem 
Zimmer, Tiſch, Stühle, Klavier uſw., voll- 
kommen mit Banknoten zu bedecken. Darm 
nahm er feinen Hut und ging. Ich zählte die 
Banknoten, es waren 100000 Franken. Ich 
übergab fie meinem Bankier und ſchiffte mich 
nun endlich nach Neuyork ein.“ 

3h freue mich dieſer holden Märchen, mit 
denen ſchon die Patti kindliche Gemüter er- 
Denn wie werden ſich unſere 
„deutſchen“ „königlichen“ Rammerfängerin- 
nen ärgern, die edlen Damen Matzenauer 
und Hempel, die allwöchentlich einem Aus- 
frager verſichern, daß ihre ganze Lebens- 
ſehnſucht Dollarika gilt, daß ſie keine Gefahr 
ſcheuten, um auch im Kriege hinüberzutom- 
men, daß fie ihr Vaterland haſſen und ver- 
achten und nicht einſchlafen könnten, wenn 
fie nicht zuvor wenigſtens einmal das er- 
greifend ſchöne Lied vom „Sternenbanner“ 
geſungen hätten. Und trotzdem (trotzdem 7 
iſt ihr Sternenglanz geringer und — ® 
Schmerz! — der Dollar rollt ihnen jpär- 
licher zu. Nach unſerer Sprache zu ſchließen, 
kann man vor Neid platzen. O wenn das doch 
nicht bloß bildlich geſchähe! St. 


* 


Schmock⸗Geiſt 
De Berliner Illuſtrierte Zeitung brachte 


vor kurzem ein Bild mit der Unter- 
ſchrift: „Der Schweizer Romanfcriftiteller 
Paul Zlg mit feiner Braut, der Schweſter des 
gefallenen deutſchen Kampffliegers Jmmel- 
mann.“ sch unterdrüde alle Bemerkungen, 


14 


die ſich mir angeſichts des Bildes über dieſes 
ſelbſt aufdrängen. Aber die Tatſache, daß 
dieſe verbreitete Bilderzeitſchrift die Ver- 
lobung dieſes Schriftſtellers für wichtig genug 
hält, um ihr ein beträchtlich großes Bild zu 
widmen, legt den Gedanken nahe, Herr Paul 


Ilg müſſe ſich wohl um die deutſche Sache 


beſondere Verdienſte erworben haben. Denn 
was geht ſonſt ſchließlich das deutſche Volk 
jetzt im Kriege ſeine Verlobung an? Es iſt 


nun allerdings von Herrn Paul Ilg kurze 


Zeit etwas mehr geredet worden, als es 


feine Werke in rein literariſcher Hinſicht be- 


dingt hätten, und zwar wegen feines Ro- 
manes „Der ſtarke Mann“. Herr Ilg hat, 
wie das Verhalten der Berliner Illuſtrierten 
Zeitung zeigt, gute Verbindungen in Oeutſch⸗ 
land, und jo wird es ihm auch nicht ſchwer 
fallen, zu gegebener Zeit das Urteil über 
dieſen Roman zu lenken, wie es ihm paßt. 
Da für uns in Zukunft die richtige Beurteilung 
derartiger Herren aus dem neutralen Aus- 
lande ſehr wichtig iſt, halten wir es für unfere 
Pflicht, einen Artikel der „Gazette de Lau- 
sanne“ vom 3. März 1918 hier feſtzuhalten, 
um ſo mehr, als er auch nach anderer Richtung, 
zumal für die politiſche Wühlarbeit in der 
welſchen Schweiz, recht bezeichnend iſt. Es 
heißt da: „Man hat in der Schweiz, in der 
deutſchen wie in der franzöſiſchen, viel über 
den „ſtarken Mann“ von Paul Zig geſprochen. 
Bekanntlich geißelt der Verfaſſer in dieſem 
Buche die fremde Art und den fremden Geiſt, 
den einige in unſere Armee einzubuͤrgern 
ſtreben, und zeigt, wie beide unſerm Volke zu- 
wider ſind und ſeine wertvollſten Geſinnungen 
verletzen. Offenſichtlich zielte der Verfaſſer, 
der übrigens daraus gar kein Geheimnis 
machte, auf die Deutſchtümelei unſerer Heer; 
führer, die ja durch alles hypnotiſiert ſind, 
was von jenſeits des Rheines kommt. Er 
rechnete alſo mit dem Verbot ſeines Buches 
in Deutſchland und war durchaus nicht über- 
raſcht über die gegen dasſelbe ergriffenen 
Maßnahmen. Dafür rechnete er ſehr natür- 
lich um ſo mehr darauf, in Frankreich geleſen 
zu werden und hatte dafür geſorgt, daß eine 


Auf der Warte 


franzöſiſche Aberſetzung alsbald nach der 
deutſchen Originalausgabe erſchien. Frank- 
reich verſchloß nun, wie anerkannt werden 
muß, dem Buch feine Grenzen nicht. Immer⸗ 
hin wurde das Buch wenig gekauft, und die 
Preſſe brachte keinerlei Notizen darüber. 
Von dieſer Gleichgültigkeit überraſcht, forſchte 
Herr Paul Ilg nach ihrem Grunde bei Pierre 
Mille, dem hervorragenden Mitarbeiter des 
„Temps“, der ſich damit entſchuldigte, daß 
ein von ihm für „Exzelſior“ geſchriebener Ar- 
tikel von der franzöſiſchen Zenſur verboten 
worden ſei mit der Begründung, daß eine 
Kritik des ſchweizeriſchen Militarismus der 
ſchweizeriſchen Regierung unangenehm ſein 
könne. Die Begründung der franzöſiſchen 
Regierung iſt ja gewiß gut gemeint und dazu 
angetan, allen jenen den Mund zu ſchließen, 
die die Entente als eine ſtändige Bedrohung 
unſerer Unabhängigkeit hinſtellen. Wir ge- 
ſtatten uns aber unſererſeits, dieſes Zart 
gefühl als über alles Maß hinausgehend zu 
bezeichnen. Unſere Schriftſteller ſtellen der 
Fremde gegenüber einen bedeutſamen Aus- 
ſchnitt unſeres Landes dar; fie zu übergehen, 
wenn fie ihr Werk dem öffentlichen Arteil 
unterbreiten, heißt ſie in ungerechtfertigter 
Weiſe benachteiligen, ohne ihnen die Ge- 
legenheit zu geben, ſich Gehör zu verſchaffen. 
Findet ſich in dem Buche Paul Ilgs auch 
nur das Geringſte, wodurch ſich die franzö⸗ 
ſiſche Regierung beleidigt fühlen könnte? Nein. 
Warum zeigt ſie ſich dann königlicher, als der 
König und entwickelt ſolchen Eifer für unſeren 
Bundesrat oder unferen Generalſtab?“ 
Damit genug. Wir erinnern uns, an der 
einen und anderen Stelle in Oeutſchland 
geleſen zu haben, daß Herr Ilg natürlich nicht 
den deutſchen Militarismus, ſondern den 
Militarismus überhaupt im Auge gehabt 
habe. Nach Frankreich ſcheint er offen“ 
herziger geweſen zu fein, d. h. für den Fran- 
zoſen genügt eben die Beteuerung der 
„Objektivität“ nicht. Ein Berliner illuſtriertes 
Blatt glaubt inzwiſchen dem deutſchen Volke 
das Bildnis dieſes ehrlichen Freundes nicht 
vorenthalten zu dürfen. K. St. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: Z. E. Freiherr von Grotthuß + Bilbende Runft und Mufit: Dr. Karl en 
«le Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf-Berlin ( Sannſee bahn) 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Herausgeber: J. C. Breiherr von Grotthuß 


Zweites Maiheft 1918 


Parteigeiſt und Weltpolitik 
. Von Otto Grund (Oſtſeebad Zoppot) 


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Beft 18 


Deutihe können nur durch Deutſche bekämpft werden. 
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ir machen uns öfter über die geographiſchen Unkenntniſſe der 
4 Durchſchnitts-Engländer und Franzoſen luſtig, und mit Recht. 
Nenn es wirkt nicht nur komiſch, ſondern auch beſchämend für 
s jene Herrſchaften, wenn ſelbſt Leute in führenden Stellungen 
in London oder Paris nicht wiſſen, ob eine Stadt in Oeutſchland oder in Sſter- 
reich liegt, und ähnliches mehr. In geographiſchen, naturwiſſenſchaftlichen und 
geſchichtlichen Kenntniſſen ſind die Deutſchen den andern Völkern zweifellos be- 
deutend überlegen, obwohl viele Deutſche in bezug auf die richtige Anwendung 
und Ausnutzung gerade ihrer geſchichtlichen Kenntniſſe oft bedenkliche 
Schwächen zeigen. Aber eins ſteht feſt, und der innerdeutſche Streit um die Kriegs- 
ziele bewies es jeden Tag: im weltpolitiſchen Verſtändnis iſt der angel- 
ſächſiſche dem deutſchen „Vetter“ himmelweit überlegen. (Daß er ſich in der Mög- 
lichkeit, Deutfchland überwinden zu können, ſchließlich doch verrechnet hat, ſpricht 
nicht dagegen, das ſpricht lediglich für die ungeheure deutſche Kraft, die wir in 
ihrer ganzen Größe ja ſelber nicht geahnt haben.) Man ſpricht ſo viel vom Kriege 
als Lehrmeiſter, ohne gerade allzuviel nach den ſchönen Worten zu handeln. Mehr 
als in irgendeiner andern Hinſicht tut uns aber eine gehörige Anzahl Lehrſtunden 
in der Weltpolitit not. Denn entweder verzichten wir auf eine nennenswerte 
Der Türmer XE, 16 | 10 


146 Grund: Parteigeiſt und Weltpolitik 


Beteiligung am Welthandel — um deſſentwillen wir, äußerlich wenigſtens, in 
erſter Linie Weltpolitik treiben —, und dann brauchen wir uns ja nicht weiter 
zu bemühen, dann können wir ruhig Englands frommen Wunſch erfüllen und 
von „Potsdam“ nach „Weimar“ zurückkehren; oder wir bekehren uns einmütig 
und entſchloſſen zu der Anſicht, daß das neue Oeutſchland Welthandel und Welt- 
politik treiben muß, will es nicht verkümmern, und dann haben wir die Folge- 
rungen daraus zu ziehen. Nun gibt es aber von rechts bis links unter uns kaum 
jemand, der die Notwendigkeit unſerer Teilnahme am Welthandel beſtreitet, nur 
die Folgerungen werden von vielen nicht gezogen oder gehen doch ſehr ausein- 
ander. Und das iſt nur in Oeutſchland der Fall. England denkt infolge feiner 
jahrhundertelangen Schulung außenpolitiſch einheitlicher; man denkt dort höd- 
ſtens über die Methoden verſchieden, über Wunſch und Ziel: die wirtſchaftliche 
Niederringung und Ausſchaltung Deutſchlands, iſt man dagegen bis auf ver- 
ſchwindende Ausnahmen einig. Wo ſich andere Strömungen, in geringem Um- 
fange, gezeigt haben, beruhen ſie nur darauf, daß dem Fuchs die Trauben nach 
und nach immer ſaurer erſcheinen, keineswegs darauf, daß er ſie überhaupt nicht 
haben möchte, daß er aus Überzeugung und moraliſchen Gründen von vornherein 
Verzicht leiſtet. Darin liegt m. E. auch der grundſätzliche Irrtum meines politi- 
ſchen Freundes Dr. Schepp, wenn er in einem Artikel des „Tag“ (Nr. 269, 1917) 
bekennt, daß er gegenüber der Friedensentſchließung des Reichstages deshalb 
gewiſſermaßen aus einem Saulus zu einem Paulus geworden ſei, weil er durch 
maßgebende und eingeweihte Perſönlichkeiten von ihrer „direkten Lebensnotwen⸗ 
digkeit für unſer Volk und Vaterland in jener Zeit“ überzeugt worden wäre und 
weil er in dem von ihm angenommenen Wachſen der Friedensſtimmung in 
den Ländern der Entente einen Erfolg der Entſchließung vom 19. Juli erblicke. 
ich meine: wenn überhaupt die Friedens- und „Verſöhnungs“ Neigung in 
England wächſt und in Zukunft wachſen wird, dann haben wir das nicht den 
Worten der Reichstagsentſchließung, ſondern den Torpedoſchüſſen unſerer U- 
Boote und der „Überredungstunft“ des deutſchen Schwertes zu verdanken. Auch 
Dr. Schepp ſcheint dieſer realen und deutlichen Sprache die größere Überzeugungs- 
kraft beizumeſſen, denn er hielt den Reichstagsbeſchluß nur „in jener Zeit“ (ſeiner 
Faſſung) für nützlich, hält es jetzt aber für angebracht, daß der Reichstag erklärt: 
„Die wohlgemeinten Friedensangebote der deutſchen Regierung und der Volks- 
vertretung find von unſeren Feinden mit Hohn und Frevelmut abgewieſen wor- 
den. Aus dieſem Grunde halten wir uns an unſere Erklärung vom 19. Juli v. 3. 
nicht mehr gebunden. Der Krieg muß fortgehen bis zum ſiegreichen Ende. 
Die Verantwortung hierfür tragen die regierenden Männer der Ententeländer. “. 
Wenn die Reichstagsmehrheit das tatſächlich erklären würde, dann könnten wir 
allen Streit um die Kriegsziele begraben und uns vollkommen einigen, denn das 
übrige würde ſich von ſelbſt ergeben. Aber ich fürchte, es wird kaum zu einer 
ſo klaren und entſchiedenen Stellungnahme kommen. 

Und warum? Meiner Anſicht nach: weil man ſich in die nach und nach immer 
hohler und abſtrakter gewordene Idee eines „Verſtändigungs⸗“ und „annexions⸗ 
loſen“ Friedens parteiamtlich fo verbiſſen hat, daß das zu einer Art Fetiſch ge 


Stund: Partelgeift und Weltpofitit 147 


worden iſt, dem gegenüber der blinde Glaube jede vorurteilsloſe Forſchung ein- 
fach verbannt. Kurz geſagt: weil man nicht in erſter Linie weltpolitiſch, ſondern 
inner- und parteipolitiſch denkt. Das iſt es, was man in England weiß und wor- 
auf man bei der ſonſt nutzloſen Kriegsverlängerung baut. Das iſt es, was der 
Ober- Engländer Lloyd George ſo „ſchön“ und „treffend“ ausdrückt: „Deutſche 
können nur durch Deutſche bekämpft werden!“ Der gute Mann kennt 
uns. Möchten wir doch den Spiegel, den er uns vorhält, mit beiden Händen er- 
greifen und jeden Tag hineinſehen! Der Satz Lloyd Georges ſollte überall ſtehen, 
wohin wir unſere Augen richten. Und vielleicht ſollten wir dabei immer auch an 
den Ausſpruch eines deutſchen Dichters denken, der ſein Volk nicht weniger gut 
gekannt hat. Hebbel ſchrieb ſchon 1860 in ſein Tagebuch: „Es iſt möglich, daß 
der Deutſche noch einmal von der Weltbühne verſchwindet, denn er hat alle 
Eigenſchaften, ſich den Himmel zu erwerben, aber keine einzige, ſich 
auf der Erde zu behaupten, und alle Nationen haſſen ihn, wie die Böſen den 
Suten. Wenn es ihnen aber wirklich einmal gelingt, ihn zu verdrängen, wird ein 
Zuſtand entſtehen, in dem ſie ihn wieder mit den Nägeln aus dem Grabe kratzen 
möchten.“ Die Friedensentſchließung iſt eine von den urdeutſchen Eigenſchaften, 
„ſich den Himmel zu erwerben“. Wir werden von Räubern überfallen, deren. 
notoriſche Räubernatur bekannt iſt und Zug um Zug weiter unwiderleglich be- 
wieſen wird; unſere Volksvertretung aber will den Räubern ihre gefährlichſten 
Waffen, die das deutſche Volk ihnen im erſten flammenden Zorn aus der Hand 
ſchlug, ſämtlich wieder überreichen; unſere Volksvertretung lüftet vor den Räubern 
höflich den Hut und ſpricht mit großer Verſöhnungsgebärde: Entſchuldigt, daß 
wir uns gewehrt und euch dabei leider weh getan haben, aber ſeid beruhigt, ihr 
bekommt alles zurück! Oder beſagt die Friedensentſchließung im Kern etwas 
anderes? Vielleicht iſt das beſte Wort, das über fie geſprochen worden iſt, doch 
das vom Reichskanzler Michaelis: „Wie ich ſie auffaſſe“! Denn die Auffaſſungen 
ſelbſt unter den Anhängern der Reichstagsmehrheit ſchillern in allen Farben. 
Der eine Zentrumsmann faßt ſie ſo auf, der andre anders; desgleichen geſchieht 
bei den Fortſchrittlern; ganz zu ſchweigen von den Nationalliberalen. Und ſelbſt 
von ſozialdemokratiſcher Seite iſt betont worden, man dürfe das Friedensprogramm 
nicht ſo auffaſſen, daß kein Grenzſtein verrückt werden dürfe. Ja, was heißt denn 
nun eigentlich „ohne Annexionen“? Haben Worte noch einen Sinn, oder kann 
man ſie ganz beliebig auffaſſen? Vollkommen klar iſt nur dies: das feindliche 
Ausland hat ſie einheitlich nach ihrem buchſtäblichen Wortlaut als ein Zeichen 
deutſcher Schwäche aufgefaßt, einmal weil es ihm — und beſonders dem Haupt- 
gegner England — ausgezeichnet in den Kram paßt, und ferner weil ihm von 
den „guten“ Deutfchen ſelbſt immer wieder die trefflichſten Waffen gegen Deutſch- 
land in die Hände gedrücktzwerden. Die Leutchen unter uns, die über ihre inner- 
politiſche Naſe hinaus keinen Zentimeter weit ſehen können, ſterben nicht aus. 
Da bekam es Profeſſor Hugo Preuß — man beachte: ein Profeſſor, der berufs- 
mäßig wenigſtens zu einem gewiſſen Grade von Weisheit verpflichtet iſt! — 
fertig, im „Berliner Tageblatt“ (Nr. 605, 1917) zu ſchreiben: „Daß die Einführung 
ſelbſt des neuen Reichstagswahlrechts in Preußen jetzt noch einen durchſchlagen; 


148 Grund: Parteigeiſt und Weltpolltit 


den Eindruck im Auslande machen würde, iſt kaum anzunehmen ... Überall 
in der Welt wird es geſagt und geglaubt werden: dieſe Regierung hat ſelbſt 
in dieſer Zeit ihrem Volke nicht Wort gehalten; wer darf ihren Verheißungen 
von einem ‚neuen Geiſt“ in den internationalen Beziehungen, ihren fried ferti- 
gen Verſprechungen trauen? Und wie können die kriegsfeindlichen Richtungen 
bei den andern Völkern Zutrauen zu einem Volke faſſen, das auch jetzt noch ſolches 
geduldig hinnimmt?“ — Daß du die Naſe ins Geſicht behältſt! würde Onkel Bräfig 
ſagen. Iſt ein ſolcher weltpolitiſcher Dilettantismus (im jetzigen Augenblick!) 
nicht geradezu unheimlich? Selbſt die ſozialdemokratiſche „Internationale Kor- 
reſpondenz“ gerät darüber in heftigen Zorn und ſchreibt: „Wir ſehen ganz von der 
Beurteilung der Wahlrechtsvorlage ab, aber die grenzenloſe Unverſchämtheit, 
den andern Völkern das Recht auf ein ſolches Urteil über Oeutſchland und 
das deutſche Volk zuzuſprechen, iſt durchaus geeignet, allen Menſchen mit deutſchem 
Ehrgefühl Vorurteile gegen die Demokratie einzuflößen, die dem Wahlrechts- 
kampf unmöglich dienen können. Dergleichen Ausſchreitungen verdienen die 
ſchärfſte Zurückweiſung.“ Die ernſthaften deutſchen Demokraten haben in der Tat 
alle Urſache zur Furcht vor ſolchen Elefantenritten durch das demokratiſche Por- 
zellangeſchäft. O Lloyd George, was biſt du dieſem deutſchen Profeſſor gegenüber 
für ein Weisheitslicht mit deinem einfachen und klaren Ausſpruch: „Deutſche kön- 
nen nur durch Oeutſche bekämpft werden“! Deine deutſchen Helfer drücken dir 
die Geißel in die Hand, um die letzten Neutralen gegen Deutfchland aufzupeitſchen, 
fie ſchreien dir das Mittel in die Ohren, wie Deutſchland von der Erde weg in N 
Himmel gedrängt werden kann. 

Nicht ſo elefantenhaft, aber doch in einer für geſchickte Demagogen nicht 
weniger ausbeutungsfähigen Art wurden den Entente Führern in der deutſchen 
Re ichstagsſitzung vom 10. Oktober 1917 Waffen hingeworfen. Wie jedes Jahr 
unterhielt man ſich da über die auswärtige Politik. Gewiß eine Gelegenheit, 
jetzt im Kriege wenigſtens weltpolitiſch und klug zu fein. Aber der deutſchen Gründ- 
lichkeit und „Objektivität“ hätte es das Herz gebrochen, wenn ſie nicht auch hier 
den Feinden die Berechtigung zum Kriege gegen das böſe Oeutſchland zugeſtehen 
konnte. Oer fortſchrittliche Redner Haußmann, der in ſchlagender Weiſe noch 
einmal die allerdings ſchon öfter unwiderleglich bewieſene feindliche Schuld 
am Kriege und an ſeiner Fortſetzung feſtſtellte, mußte durchaus auch „ein Wort 
über die deutſche Schuld“ ſprechen (wie er fie auffaßt). Neu war es allerdings 
nicht, was er fagte: „Ohne unſere Mitwirkung wäre die Entente nicht gegrün- 
det oder nicht ſo feſt geworden ... Dadurch ldurch die Politik der Alldeutſchen] 
war es den Gruppen in den feindlichen Ländern, die den Krieg wollten, möglich, 
vor ihren Völkern eine deutſche Gefahr an die Wand zu malen, die tatſächlich 
nicht beſtand. Ohne dieſe Dinge hätte man in den feindlichen Ländern die Not- 
wendigkeit eines Defenſiwbündniſſes gegen die deutſche Regierung nicht glaubhaft 
machen können.“ Wirklich nicht, Herr Haußmann? Ohne die alldeutſche Tätigkeit 
wäre die Entente nicht entſtanden? Verzeihen Sie die vielleicht unhöflich klingende, 
aber nicht ſo gemeinte Frage: Glauben Sie das im Ernſt? Dann leſen Sie, bitte, 
einmal die Worte des Präſidenten Wilſon in einer Arbeiterverſammlung über die 


Stund: Paxteigeiſt und Weltpolitik 149 


Bagdadbahn, in der er u. a. ſagte: „In imperialiſtiſchen Kreiſen Amerikas (man 
höre!) ſpielt der Kampf um den chineſiſchen Markt und die Ausbeutung Aſiens 
eine ungeheure Rolle. Belgien, Nordfrankreich, Elſaß- Lothringen, oder wie dieſe 
kleinen Länder alle heißen — alles das kann ja ſehr intereſſant ſein, aber ſollen 
wir außer den Japanern, die ſchon behaupten, daß ſie vor allen anderen Rechte 
in China beſitzen, uns auch einer deutſchen Eiſenbahnanlage ausſetzen, die 
China mit Europa verbindet, oder ſollen wir nicht jetzt, da die Gelegenheit da 
iſt, dieſen Konkurrenten nioderſchlagen?“ Und das däniſche Blatt „Sozial- 
demokraten“ fügte dem Bericht darüber hinzu: „Alſo damit die freie Ausbeutung 
Indiens durch England und die freie Ausbeutung Chinas und des übrigen Aſiens 
durch Amerika nicht bedroht werde, für dieſes Ziel verblutet Europa.“ 
Sie werden, Herr Haußmann, inzwiſchen auch von der ruſſiſchen Veröffentlichung 
der Geheimverträge der Entente Kenntnis erhalten haben, die die brutale Raub- 
gier des vereinigten Angelſachſentums in ihrer ganzen Nacktheit als wahren und 
einzigen Kriegsgrund enthüllte. Beides iſt zwar nach Ihrer Reichstagsrede vom 
10. Oktober geſchehen, aber es hat doch lediglich beſtätigt, was wir längſt wußten, 
was für uns keiner Beſtätigung mehr bedurfte. Was wollen demgegenüber die 
Aufgeregtheiten einiger Alldeutſcher beſagen? Dieſe Stimmungsmomente, die das 
kalt rechnende Angelſachſentum höchſtens als ſolche benutzen konnte, zur Urſache 
oder auch nur Miturſache des Krieges zu ſtempeln, heißt doch aus einer Mücke 
einen Elefanten machen. Der Krieg iſt gekommen, einfach weil Deutſchland da 
iſt, weil es groß geworden iſt und dies den Welträubern nicht paßte. Lohnte 
es ſich da wirklich und war es nötig, belangloſe Kleinigkeiten zu einer „deutſchen 
Schuld“ zu ſtempeln? Das nenne ich: nicht weltpolitiſch, ſondern politiſch kräh⸗ 
winkleriſch denken — halten zu Gnaden, Herr Haußmann! 

Auf den Reichstag und ſeine Verſöhnungsideen bauten und hofften unſere 
Feinde allein noch. Sagte doch der Erſte Lord der britiſchen Admiralität auf einem 
Ermunterungsfeſteſſen, es lägen „günſtige Nachrichten über die Schwierigkeiten 
in Deutfchland“ vor, „und endlich, was nicht das Unwichtigfte iſt — denn es iſt 
höchſt bezeichnend —, die beſtändigen Verſuche auf deutſcher Seite, Friedensgerede 
anzuregen.“ Das ewige Schwenken mit dem Ölzweig mußte notwendigerweiſe 
Englands ſinkende Hoffnung immer wieder aufpeitſchen (und den Krieg ver- 
längern), ſeine Machthaber handeln von ihrem Standpunkt aus ſtreng folgerichtig, 
wenn ſie ihrem Volke ſagen: Deutſchland ruft immer wieder nach dem Frieden, 
alſo kann es nicht mehr lange aushalten. Hindenburg und Ludendorff wiſſen es 
freilich beſſer, und fie verſichern: „Der Krieg wird nicht als Remispartie ab- 
gebrochen werden, er wird für uns günſtig entſchieden enden.“ Und während 
die Feinde auf den Reichstag hoffen, fürchten ſie unſere Oberſte Heeresleitung. 
„Natürlich mußte es wieder ein Deutfcher fein, der das Gewicht ihrer Taten mit Ge- 
ringſchätzung alſo charakteriſierte: „Die Arbeiterorganiſationen find heute in der 
Lage, in vierzehn Tagen die hohen ſtrategiſchen Talente Hindenburgs und Luden- 
dorffs lahmzulegen.“ Daß es ein Reichstagsabgeordneter (Prof. v. Schulze 
Sävernitz) war, werden die Engländer doppelt ausnutzen. Nur Oeutſche find fo 
„weltpolitiſch“, ihre eigenen Erfolge immer wieder totzuſchlagen, den Feinden 
immer wieder ins Ohr zu ſchreien: Seht, hier iſt die Stelle, wo wir ſterblich ſind! 


150 Gtund: Parteigeiſt und Weltpolitit 


Der Reichstag hat ſich auch in feiner Tagung vom 29. November bis zum 
1. Dezember, in der ſich der neue Reichskanzler Graf Hertling vorſtellte, nicht 
dazu aufraffen können, einen energiſchen Strich durch feine weltpolitiſch bedauer- 
liche Entſchließung vom 19. Juli zu machen. Denn Graf Hertlings ſanfte Mah- 
nung, die Feinde mögen es ſich geſagt ſein laſſen, daß die verſöhnliche deutſche 
Antwort an den Papſt keinen Freibrief für die freventliche Verlängerung des 
Krieges bedeute, beſagte jo gut wie nichts für die rückſichtsloſen engliſchen Macht- 
politiker. Hindenburgs Schläge haben Rußland zur Friedensbereitſchaft gezwun- 
gen; wieviel mehr erſt wird England ſich allein und ausſchließlich der deutſchen 
Macht beugen! Wenn es wahr iſt — und Landtagsabgeordneter Frhr. v. Los- 
Bergerhauſen zitiert es im „Tag“ (Nr. 275, 1917) —, daß ſelbſt Scheidemann 
in Frankfurt geäußert hat, „die Gegner der Friedensentſchließung des 
Reichstages hätten recht behalten“, dann iſt es noch unverſtändlicher, warum 
der innerpolitiſch fo entſchlußfrohe Reichstag außenpolitiſch jo ſchwächlich bleibt 
und das verfehlte Ergebnis einer falſchen Vorausſetzung nicht einfach in den Orkus 
wirft. England und Frankreich vom Edelmut Oeutſchlands durch Gründe über- 
zeugen wollen, heißt Waſſer in ein Faß ohne Boden ſchöpfen. Wer im Ausland 
ſehen will und durch verſtändige Gründe überhaupt zu überzeugen iſt, der wußte 
längſt vor dem 19. Juli Beſcheid und bedurfte einer feierlichen Entſchließung nicht 
mehr; für die andern aber — und das find die Machthaber — iſt jedes Wort ver- 
ſchwendet, denn ſie wollen nicht überzeugt ſein, erſt das Schwert kann ſie zur 
„Einſicht“ bringen. Je ſchärfer wir es anwenden, deſto ſchneller wird die Einſicht 
kommen. Auch bei England, dem gegenüber ſelbſt die leiſeſte von Verſöhnlichkeit 
und internationaler Schwärmerei diktierte Rückſicht ein weltpolitiſcher Fehler 
erſten Ranges iſt. Dem rückſichtsloſeſten Volke kann nur noch größere Rüdfichts- 
loſigkeit Achtung abgewinnen. Wenn der einflußreiche engliſche Lord Lands- 
downe neuerdings zur Einſicht gekommen iſt (oder wenigſtens ſo ſchreibt), daß 
einige der territorialen Wünſche Großbritanniens wahrſcheinlich unerreichbar ge- 
worden ſeien, und wenn er einer gewiſſen Verſtändigung das Wort redet, dann 
ſteht es felſenfeſt, daß ihn nicht der Verſtändigungswunſch des Reichstages, fon- 
dern die deutſche Fauſt zu dieſer Erkenntnis gebracht hat. Und nur ſie allein kann 
die britiſche Götterdämmerung ſo beſchleunigen, daß der über die Welt geſpannte 
Bau aus Lug und Trug, aus Raubgier und Brandſtiftung endlich zuſammenſtüͤrzt. 
Erſt dann, wenn es die Macht hat, kann das Deutſchtum die auch von uns er- 
ſehnte Weltmiſſion der wahren Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker aus- 
üben. Vorher nicht. Und die Macht muß feſt verankert ſein, im Weſten wie im 
Oſten; „Verträge“ hat England nie geachtet. Ein heutiger Verſtändigungspolitiker 
mit bekanntem Namen, Friedrich Naumann, hat es in ſeinem „Blauen Buch für 
Vaterland und Freiheit“ einſt klar ausgeſprochen: „Man muß etwas, irgend etwas 
in der Welt erobern wollen, um ſelbſt etwas zu fein.“ Und noch im dritten Kriegs · 
jahr 1916 ſchrieb er in ſeiner „Hilfe“ erläuternd: „Worin zwar die Verteidigung 
beſteht, iſt dem weniger geſchichtlich und geographiſch gebildeten Ourchſchnitts⸗ 
bürger immer etwas ſchwer zu. verdeutlichen geweſen. Er nimmt die einmal vor- 
handenen Landesgrenzen als ein ewiges Geſetz und verſteift ſich, auch wenn er 


Grund: Parteigeiſt und Weltpolitit 151 


ſehr radikal fein will, auf fonfervativfte Erhaltung dieſer Zufallsgrenzen. Daß es 
irgendwo diesſeits oder jynſeits dieſer geſchichtlichen Grenzen etwas gibt, was 
man als natürliche Grenze bezeichnen kann oder als militäriſche Grenze, 
dafür fehlt die Anſchauung.“ 

Naumann hat natürlich, als er den „weniger geſchichtlich und geographiſch 
gebildeten Durchſchnittsbürger“ ſo plaſtiſch ſchilderte, noch nicht gewußt, daß im 
Jahre darauf eine Reichstagsmehrheit eine Entſchließung faſſen würde, auf die 
feine Gloſſe geradezu verblüffend paßt. Noch viel weniger wird er damals ge- 
wußt oder geglaubt haben, daß er felber dieſer Mehrheit angehören könnte! Sch 
ſage das nicht in boshaftem Sinne, fondern mit tiefem Bedauern, daß ſich ein 
Kopf wie Naumann heute den früher von ihm gegeißelten Durchſchnittsbürgern 
anſchlie t, die, obwohl ſie ſehr radikal fein wollen (ſiehe Scheidemann ), doch in 
konſervatipſter Starrheit nur die einfache Formel herbeten können: Was deutſch 
iſt, ſoll deutſch bleiben, was belgiſch iſt, ſoll belgiſch bleiben! Viele in Oeutſch- 
land werden erſtaunt ſein, ihn in einer politiſchen Geſellſchaft zu finden, die wie 
hypnotiſiert durch die Parteibrille auf innere Reformen ſtarrt, während draußen 
um die Weltverteilung für Jahrhunderte gerungen wird. Früher weltpolitiſch 
mit klarem Blick für Tatſachen, heute in nebelhaften „Verſtändigungs“ Wahn- 
gebilden befangen — wenn das der Segen des Parteigeiſtes iſt, dann möchte 
man dieſen Geiſt verwünſchen. Los von ihm in der Schickſalsſtunde des Deutich- 
tums! Was iſt jetzt Parteipolitik? Sie trennt, ſie teilt. Es werde ihr ſpäter ihr 
Recht, wenn deutſche Weltpolitik ihre Aufgabe erfüllt hat. Die aber mahnt: 
Hart fein gegen die Räuber der Welt und gegen die Henker der Völker! 
Die Menſchheit ſoll einſt unſre Stärke ſegnen, nicht unſrer Schwäche fluchen 


. % 
* 


Nachſchrift 

Der vorſtehende Aufſatz iſt ſchon vor einigen Monaten, alſo vor Beginn 
der großen Frühjahrsſchlacht mit ihren erfreulichen politiſchen Folgen, gefchrie- 
ben, ſeine Veröffentlichung jedoch aus äußeren Gründen mehrfach verſchoben 
worden; da aber das Grundſätzliche der Ausführungen beſtehen bleibt, habe ich 
ſie im weſentlichen unverändert gelaſſen. Nur einige Nachbemerkungen ſind heute 
notwendig geworden. 

Wie aus einem ſchweren Traum erwachend fragt ſich heute das ganze deutſche 
Volk: Wozu der Lärm? Weshalb haben wir uns eigentlich ſo lange um die blaſſe 
Theorie „Verſtändigungs“ oder „Gewalt“ Frieden geſtritten? Hindenburg hat 
den Nebelvorhang mit dem Zauberſtabe des deutſchen Schwertes zerteilt, und 
plötzlich ſehen wir: Wir wollten alle dasſelbe! Dr. Müller-Meiningen, der unter 
den fortſchrittlichen Abgeordneten ſchon lange gegen den Verzichtgedanken des 
Reſolutionsſtachels gelöckt hat, ruft aus: „An Abrüſtung, Völkerbund und ob- 
ligatoriſchen Schiedsgerichten verzweifle ich!“ Und in einer neuen Schrift „Der 
Reichstag und der Friedensſchluß“ (Verlag Duncker & Humblot, München-Leipzig) 
ſchreibt er, daß durch die Haltung der feindlichen Regierungen an die Stelle des 
Verſtändig ungs-Gedankens der Sicherungs-Gedanke treten müſſe, „nicht 


— — 


152 | Grund: Parteigeift und Weltpolitzt 


bloß in wirtſchaftlicher, ſondern auch in militärischer und politiſcher Rich- 
tung“. Ferner: Als „finanzielle Vergewaltigung“ könnten nicht gelten verein 
barte Kriegsentſchädigungen in Rohſtoffen oder in Geld. „Wer ſich gegen 
einen Räuber oder gegen einen Angreifer zur Wehr ſetzt, wie dies das Deutſche 
Reich gegen vielfache Abermacht tut, begeht keine politiſche, wirtſchaftliche oder 
finanzielle Vergewaltigung, wenn er einen völkerrechtlich beſtehenden Anſpruch 
auf Erſatz des ihm verurſachten Schadens und Sicherſtellung gegen eine 
Wiederholung beanſprucht.“ — Ausgezeichnet! Jeder Vaterlandsparteiler 
wird das unterſchreiben. Die mit viel Aufwand von Entrüſtung, aber immer itr- 
tümlich eines „wüſten Annexionismus“ beſchuldigten Kreiſe um die Vaterlands- 
partei haben im Kernpunkt nie etwas anderes als dieſen Sicherungsgedanken 
für Deutſchlands Zukunft vertreten; was ihnen darüber hinaus vorgeworfen 
wurde, lief auf einen Streit um Worte hinaus, betraf eine reine Zweckmäßigkeits- 
frage. Wenn dieſer einzig richtige Sicherungs- und Entſchädigungsgedanke zu 
allen Zeiten — auch in den Tagen des Zweifels — von der Reichstagsmehrheit 
unverrückbar hochgehalten worden wäre, dann hätten wir uns manche bittere 
Stunde und den Feinden manche Hoffnung erſparen können; dann wäre ver- 
mutlich die vielgeſchmähte Vaterlandspartei und am Ende gar die berühmte Re- 
ſolution vom 19. Juli überhaupt nicht entſtanden! Zedenfalls: Tatſachen find 
nicht zu ändern. Schauen wir nicht rückwärts, ſondern vorwärts, und freuen wir 
uns der offenbar ſchnell wachſenden rechten Erkenntnis, daß dieſer Krieg nie durch 
nachgiebige Verſtändigung, daß er nur durch einen Sieg über unſern Hauptfeind 
England zu Ende kommt. Eine gewichtige Stimme aus der verſtändigungsſeligen 
Reichstagsmehrheit nach der andern bekennt ſich zum Sieg-Gedanken; aus man- 
cher klingt es ſogar wie beleidigt heraus, daß jemals von etwas anderem als von 
Sieg die Nede geweſen fein könnte! Selbſt Erzberger, dieſer ſchlimmſte Unglüds- 
rabe und unheilvollſte politiſche Schädling, „legt aus“ und ſattelt um, damit er 
den Anſchluß nicht verliert. Und der „Vorwärts“, der noch vor kurzem die deut- 
ſchen Siege als das einzige Friedenshindernis bezeichnet hatte, und deſſen Freund 
Scheidemann die noch an den Sieg Glaubenden für Narren erklärte, iſt jetzt mit 
uns „närriſch“ geworden und ſchreibt, nur der baldige völlige Sieg biete 
den Weg zum Frieden. 

Alſo ſind wir einig, iſt der böſe Traumſpuk endlich vorbei? Dann aber auch 
keine Anwandlung von Mäßigung oder Verſtändigungsſucht mehr, die das ver- 
einigte Angelſachſentum für abſehbare Zeit niemals begreifen, ſondern immer für 
Schwäche oder Blödſinn halten wird! Das amtliche England hat gegenüber dem 
ſchamloſen Schiffsraub an Holland den famoſen Ausdruck „rechtmäßige Gewalt“ 
erfunden. Greifen wir das Wort auf und kehren es gegen England; auf unſerer 
Seite hat es eine tauſendmal größere Berechtigung, das ſieht jeder ein, von der 
Rechten bis zur Linken. So ſtehen wir da, ein geſchloſſener Kreis, am Ende wie 
beim herrlichen Anfang des Krieges; einig in dem Ziel, den verbrecheriſchen Räu- 
ber gründlich zu ſtrafen und uns vor einer Wiederholung feiner Gelüfte nahdrüd- 
lich zu ſichern; endlich weltpolitiſch geworden! 


I 


Kreie: Wofuͤr? 155 


Wofür? 
Von Julius Kreis 


inen feiner letzten Urlaubstage verbrachte der Unteroffizier Hans 
J Mühlbauer in der großen Stadt. Er war vor dem Krieg Lehrer 
in einem kleinen Neſt geweſen, hatte dort jahrelang als ſtiller Menſch 
5 O gelebt, gern ein ſchönes Buch geleſen, ein wenig muſiziert und dann 
im Krieg mit Hunderttauſenden ſeine Pflicht getan. — Nun ſaß er in einem 
lichten hohen Raum an einem feſtlich weißgedeckten Tiſch, fremde Menſchen 
um ihn kamen und gingen und plauderten gedämpften Tons. Bisweilen kürrte 
leife ein Geſchirr, oder jemand lachte laut aus dem gleichmäßig ebenen Stimmen- 
gemenge heraus. | 

Es war nicht eines der allererſten Gaſthäuſer, in dem Mühlbauer ſaß, aber 
es hatte einen guten Ruf und war, wie man ſo ſagt, ein Treffpunkt der Leute 
von Bildung und Beſitz. Ein wenig überwog vielleicht an ſtillen Werktagen die 
Bildung. 

Es ſaßen da Beamte, Offiziere, wohlhabende Kaufleute, Gelehrte; hin und 
wieder trank ein Künſtler vom nahen Hoftheater nach der Abendvorſtellung hier 
noch ein Glas Helles; an Sonntagen aber war das „Publikum“ ein ganz klein 
wenig gemiſcht. Es ſaßen Leute darunter, die man nirgends einreihen konnte, 
trotzdem ſie gut angezogen waren, bisweilen auch einige Damen, Töchter hoher 
Beamter oder reicher Kaufleute, die ſich wie Kokotten kleideten, und dann und 
wann eine Kokotte, die ſich trug, als wäre ſie die Tochter eines hohen Beamten. — 

Der Unteroffizier Hans Mühlbauer fühlte ſich nicht recht behaglich an dieſer 
Gaſtſtätte. Er wäre gern in einem kleinen, ſtillen, ſauberen Raum geweſen und 
hätte nach dem Eſſen einige Zeitungen geleſen. Aber das ſchien hier nicht üblich. 
And ſo betrachtete er ſich die Leute. 

Zuerſt den Gaſt, der mit an ſeinem Tiſche ſaß. 

Es war ein kleiner, fetter Herr. Auf dem dicken Hals ſaß ein unverhältnis- 
mäßig großer Kopf mit hoher, zurückfliehender Stirne. Das Haar war in ſchöne, 
kunſtvolle Wellen gelegt, und manchmal glättete fie eine weiße, fleiſchige, kraft- 
loſe Hand mit weibiſcher Gebärde. Am kleinen Finger blitzte ein nußkerngroßer 
Brillant. Die grünen Augen ſahen hochmütig auf die Gäſte. Sie bekamen manch- 
mal einen lüſternen Glimmer, wenn ſich die dralle, gutgewachſene Kellnerin 
vorbeizwängte. Aus dem Geſicht ſprang eine große, unſchöne Naſe und beſchattete 
wulſtige, gierige Lippen. Das Kinn war ſehr klein und verſchwand faſt zwiſchen 
den bläulichen Hängebaden. 5 

Die ſchöngeknotete Halsbinde zierte ein goldener Violinſchlüſſel als Nadel. 
Mühlbauer ſchloß: Ein Sänger, ein geweſener Sänger, jetzt Geſangslehrer, Kri- 
tiker vielleicht. | 

Ein eitles Tier. — Er ließ feine Fratze im Krugdeckel ſpiegeln und betrachtete 
ſich. — Pfui Teufel! 

Dann kam die Suppe. Wie er ſie hinunterſchlürfte und ſchmatzte! 


154 Areis: Wofür? 


Am Fiſch roch er zuerſt mit feiner widerlichen Naſe wie ein Hund und mäkelte 
dann darüber mit der Kellnerin. Er hatte eine unſympathiſche Kaſtratenſtimme 
und klagte wie eine verzogene alte Jungfer. 

Als der Kerl geſättigt war, tätſchelte er dem Biermädchen die pralle Hüfte 
und flüſterte ihr eine Schweinerei zu. Dabei ſah man ein Maul voll Gold, als 
er grinſte. 

Mühlbauer hätte den Menſchen anſpeien können. 

Er wandte ſich weg. 

Ihm gegenüber ſaß eine Dame am nächſten Tiſch. Sie war nicht ſchoͤn. 
Abgelebt, gedunſen für ihr Alter, mit frechen, hervorquellenden Augen. Ihr 
Galan ſetzte ihre Zigarette in Brand. Sie ſaß da wie eine faule Kröte. Ihre Ziga- 
rette ſteckte in einer Spitze, und fie gefiel ſich darin, möglichſt ungraziös und heraus- 
fordernd das Mundſtück von einem Mundwinkel in den andern zu ſchieben. Ringe 
zu paffen und über Vorübergehende hämiſche Bemerkungen zu machen. 

Weiter! 

Nebenan waren drei junge Herren in tadelloſen, eleganten Anzügen in 
heftigem Streit. Einer von ihnen trug eine große Hornbrille. 

Sie ereiferten ſich über die Vorzüge — eines Tänzers, der vor einigen 
Wochen im Odeon aufgetreten war. 

Der Wirt legte ihnen den gelben Tagesbericht über die Kriegsſchauplätze 
auf den Tiſch. Der mit der Brille ſchob ihn ärgerlich und gelangweilt beiſeite. 
Nach einer halben Stunde ſprachen ſie noch immer von dem Tänzer. 

An einem andern Tiſch ſaß eine Gruppe Winterſportler. Sie machten viel 
Lärm und wollten überlaut Zugendfriſche, Temperament und Schneid zeigen. 

Zwei Jünglinge in weißem „Dreß“. — Krumme, engbrüſtige Burſchen, 
denen man die Stubenluft und das Kaffeehaus, die Lyrik und verſchiedenes 
andere auf den erſten Blick anſah. 

Leider war jetzt dieſer verdammte Sport einmal Mode. Alſo ſchleppte man 
halt dieſe blöden Hölzer hinaus. Es ſieht übrigens ſchneidig aus! 

Die Mädchen um ſie herum in bunter Wolle und Seide mit viel nach- 
gemachtem Norwegertum lachten überlaut, und wenn ſie ſagten: „Bitte, reich' 
mir das Salz“, ſo war es, als ſprächen ſie es vor einem Parkett von aufmerk- 
ſamen Zuhörern. Alles galt den andern Tiſchen, alles an ihnen ſchrie: Seht her, 
ſeht her! 

Und wenn einer von den beiden Skijünglingen „hinaus“ ging, dann war 
es, als ob ſich ein ſelbſtgefälliger Seiltänzer zur Schau ſtellte. 

Nebenan thronte mit „Frau Gemahlin“ er, der von Kellnerinnen ob ſeiner 
ſplendiden Trinkgelder vielumworbene Herr Kommiſſionär. Er ſah aus wie Leute 
ſeines Schlages. Ein gänzlich unorigineller Protz. Sogar das Brillanthufeiſen 
in der Krawatte fehlte nicht. 

Über feine „Frau Gemahlin“ iſt dasſelbe zu ſagen. Nur trug fie ſtatt des 
Hufeiſens ein Herz als Broſche. 

Sie fraßen drei viertel Stunden lang mit Meſſer und Gabel und waren 
darin vertieft wie in eine gottesdienſtliche Handlung. 


Rreis: Wofür? 155 


Nachdem fie ſatt waren, klappte der Dicke eine große Zigarrentaſche auf, 
wählte lange, prüfte und drückte mit ſeinen Wurſtfingern jede einzelne der 
Importen und ſetzte dann eine davon genießeriſch in Brand. 

Dem Zigarrenverkäufer, der mit einer Liebesgabenkiſte im Saal ſammeln 
ging, gab er gelangweilt einen Nickel. Die Importen waren ihm fürs Feld doch 
zu wertvoll. 

- Der Unteroffizier Mühlbauer rief der Kellnerin und zahlte ſeine Zeche. Er 
war noch an die Verhältniſſe in ſeinem Neſt gewöhnt, und das Trinkgeld war für 
dieſes Gaſtlokal ſehr klein. 

Als er in den Mantel ſchlüpfte, war niemand da, der ihm half, und die 
Kellnerin ließ ſich in ihrem Geſpräch mit dem geweſenen Sänger nicht ſtören. Ja, 
ſie ſagte nicht einmal einen Abſchiedsgruß, wie bei andern Gäſten, ſondern ſchaute 
dem Notnickel nur verächtlich und höhniſch nach. 

Der Unteroffizier Mühlbauer ſtand draußen auf der kalten, dunklen Straße, 
aus dem Café nebenan quietſchte ein kleines Orcheſter altbadene Operetten- 
melodien, ein Pärchen ging eng untergefaßt vorbei, und das Mädchen lachte un- 
angenehm, überlaut. — An der Straßenecke ſtand ein Betrunkener vor dem 
Tagesbericht und lallte vor ſich hin: „Der Hundskriag, Hundskriag ...!“ 

Da erfaßte Hans Mühlbauer eine große Bitterkeit. Der ganze Abend und 
ſeine Menſchen ging blitzſchnell nochmal an ihm vorüber, und als er daran und 
an die zwei Jahre Tod und Grauen draußen dachte, da Fan vor ihm die zornige 
Frage: Wofür? 


* * 
* 


Er war wieder in feinem kleinen, ftillen Flachlandsneſt. Sein Urlaub war 
zu Ende, und er ging zum Bahnhof. Ein blauer Vorfrühlingstag lag fein und 
ſeidig über dem Land, alles ſtand in einem zärtlichen, klaren Licht, und aus den 
Ackern und Gärten drang ein herber Ruch. Die kahlen ſchwarzen Aſte wiegten ſich 
wohlig im lauen Wind, von ganz weit her klapperte ein Fuhrwerk auf der Landſtraße. 

Der Lehrer ging an den Häuſern und Höfen vorbei. Er ſah wenig Menſchen. 
Die Männer waren alle im Feld, Frauen und Kinder auf dem Acker und im Stall. 

Dann und wann ſtand ein barfüßiges, flachshaariges Kind am Weg und 
ſah mit großen, fremden Augen auf den Lehrer. 

An der Schmiede ſtand das Tor weit offen. 

Die Schmiedin werkte am Amboß mit dem Lehrbuben. 

Hell klang der Hammerſchlag. 

Der Schmied war fort. 

Der Lehrer blieb ſtehen. Sein breiter Schatten fiel in den Raum. 

Die Schiniedin legte den Hammer beifeite und wiſchte gewohnheitsmäßig 
die ſchwarze Hand an der Schürze. Dann trat ſie auf den Lehrer zu. 

„Jätt“ Eahna bald net kennt, Herr Lehrer! Geht's ſcho' wieder dahin?“ 

Der Lehrer ſagte: „Vas macht denn der Schmied? Wo ſteht er jetzt? — 
Könnt's do fortmachen, Schmiedin, fo alloa mit dem Buam?“ 

„Muaß ſcho geh'“, ſagte die ſtarke, geſunde Frau, und in ihrem Lächeln 
lag ein wenig Stolz und ein wenig Wehmut. 


156 Heitmüller: Richtpofen 


Sie gab dem Lehrer die Hand: „Pfüat' Eahfia Gott, und kemma S' guat 
wieder hoͤam!“ 

Ein rotbackiger Bub' lief dem Lehrer nach. Er kam aus einem der letzten 
Gütlerhäuſer. In der Hand hielt er einen Winterapfel und reichte ihn verlegen 
dem Soldaten: 

„Pfüa' Gott, Herr Lehra!“ 

Der Pauli war in der Schule keiner von den „Leinenen“ geweſen. Fetzt 
freute es den Lehrer, daß der Junge noch an ihn dachte. 

Vom Acker her rief ihn ein halbwüchſiges Knechtlein, das den Pflug führte, 
an: „Herr Lehra, pfüa' Gott, und viel Glück!“ 

Die Bachmoſerin, ein altes, ausgearbeitetes Weiblein, breitete im Garten 
Dung. 

Sie gab dem Lehrer über den Zaun her die zittrige Hand und verſprach 
zu beten. 

Am Bahnhof wandte ſich der Lehrer nochmal um. 

Er ſah das Land vor ſich im heiteren, ſtillen Licht der Märzſonne und ſah 
die wenigen, guten Menſchen darauf, Kinder dieſes Bodens, Bewahrer dieſer 
Scholle. Er ſpürte den Apfel noch in ſeiner Hand. Er ſteckte ihn in die Taſche 
ſeines Waffenrocks. Er wußte jetzt wieder: Wofür. 


. — — 
2 N 
fe 

KAIRO 


Richthofen 
Von Franz Ferdinand Heitmüller 


Ein Held blich, ſonnenſchimmernd, Die ihm kein Feind vergällte .. 
Stoßadler im roten Kleid, Unſterblich ſchien er ſchon, 
Hochkönig, im Ather verflimmernd — Bis blöde Tücke ihn fällte 

Dem Feinde Schrecken und Neid. Wie Siegfried, den Heldenſohn. 
Die Luft war ſein Geſpiele, Es weben die wachſenden Tage 
Der Wind fein liebſter Kumpan. Der Helden ſchimmerndes Kleid. 
Sie trugen, wie nicht viele, Es blühen im Dunkel der Sage 
Ihn liebend ſeine Bahn, Noch Leben und Ewigkeit. 


Er wird durch alle Zeiten — 
Lebendig, nun er ſchied — 
In goldener Brünne fchreiten: 
Sein Nam' ein Heldenlied. 


W 


Oeſtreich: Hie Rriegsorgantfation der Konſumenten 157 


Die Kriegsorganiſation der 
3 - Bon Paul Oeſtreich 


Br m Zeitalter der Arbeitsteilung, der Maſchine, der induftriellen Maffen- 
& güterherſtellung, in dem die haus- und kundenwirtſchaftliche Güter- 
| gewinnung ſogar auf dem Lande in weitem Umfange aufhörte, 
— O zerfiel jedes Volk immer deutlicher in „Herſteller“ (Produzenten) und 
„Verbraucher“ (Ronfumenten) von Sachgütern. Zwar „verbraucht“, ſtreng ge- 
nommen, jeder, aber ein Teil des Volkes, deſſen Wirken für das Volksganze ebenſo 
wichtig, ja unentbehrlich wie das der „Herſteller“, iſt ganz von der unmittelbaren 
Teilnehmerſchaft am Unternehmergewinn ausgeſchloſſen: Beamte, Penſionäre, 
Sparrentner, Angeſtellte, Arbeiter. Dieſe alle trifft jede Warenpreiserhöhung, 
wenn auch, je nach ihrer Fähigkeit ſich Einkommenserhöhungen zu erkämpfen, 
mit verſchiedener Schärfe. In ihnen allen iſt in ſteigendem Grade ein „Verbraucher- 
bewußtſein“ erwacht. Auch in den Zwiſchenſchichten zwiſchen reinſten „Herſtellern“ 
(Fabrikanten, Großhändlern) und reinſten „Verbrauchern“ (Beamten), unter Ar- 
beitern und Angeſtellten, die oft einen Gewinnanteil am Anternehmerverdienſt 
erlangen konnten, wuchs bereits vor dem Kriege die Einſicht, daß die reine Lohn 
politit nicht ausreiche, um das für den Einzelhaushalt wie für den Staat gleich 
grundlegende Gleichgewicht zwiſchen Einkommen und ausreichender Lebenshaltung 
zu verbürgen. Nicht auf den „Nominallohn“, fondern auf den „NReallohn“, die 
Menge der für einen Geldbetrag eintauſchbaren Güter, ſei Wert zu legen. Aus 
dieſer Erkenntnis heraus erwuchs das Intereſſe an Baugenoſſenſchaften, Konſum- 
vereinen und von letzteren geſchaffenen Produktionsgenoſſenſchaften. Dieſe Be- 
ſtrebungen umfaßten aber nur einen geringen Bruchteil der „Verbraucherſchaft“. 
Die Kriegszeit mit der nun faſt unbeſchränkten Herrſchaft der „Herſteller“ 
machte es endlich breiten Verbrauchermaſſen klar, daß das Gewinnintereſſe bei 
einem beträchtlichen Teil der „Herſteller“ viel ſtärker iſt als ihr Gemeingefühl. 
Die Ausbeutung des Volkes auf dem Gebiet der Verſorgung mit Bedarfsgütern 
wurde fo allgemein, daß das Wort geprägt werden konnte: „Der Wucher iſt all- 
gemeine Verkehrsſitte geworden.“ Dieſer Zuſtand weckte die Kräfte der Gegen- 
wehr. Im Dezember 1914 gründeten Arbeiter, Privatangeſtellte, öffentliche Be- 
amte, Konſumgenoſſenſchaften, Frauen und ſozialpolitiſche Vereine den „Kriegs- 
ausſchuß für Konſumentenintereſſen“, über deſſen nunmehr dreijährige Wirk- 
ſamkeit in einem Doppelheft der „Genoſſenſchaftlichen Kultur“ (Langguth, Eß- 
lingen) dipl. merc. Robert Schloeſſer Bericht erſtattet. 

Der Kriegsausſchuß umfaßt jetzt 70 Verbände mit etwa 7 Millionen Mit- 
gliedern und vertritt alſo, wenn man die Angehörigen berückſichtigt, mehr als 
20 Millionen Oeutſche, alſo faſt ein Drittel des Volkes. Nach der Entſtehung des 
„Zentralausſchuſſes“ (Vorſitzende: M. d. R. Robert Schmidt und Univerſitäts- 
profeſſor Waldemar Zimmermann. Geſchäftsſtelle: Kriegsausſchuß für Kon- 
ſumentenintereſſen, Berlin W. 55, Potsdamerſtr. 56. Fernruf: Nollendorf 205) 


158 Oeſtrelch: Die Kriegsorganiſation der Ronſumenten 


wurden nach ſeinem Muſter in allen Gegenden Deutſchlands Bezirks- und Orts- 
ausſchüſſe gegründet, erſtere meiſt, des Zuſammenwirkens halber, mit dem Sitz 
an den Orten der Stellv. Generalkommandos. Zurzeit beſtehen 30 Bezirks und 
162 Ortsausſchüſſe. Die Ausſchüſſe haben oft eine Verteilung der Arbeitsrollen 
nach Stoffgebieten vorgenommen, ſo daß die Sonderkommiſſionen auf die Dauer 
eine Reihe von Fachleuten für beſtimmte Bedarfsgüter heranbilden. Die Ge- 
ſchäftsführung iſt noch faſt durchweg eine neben- und meiſt ehrenamtliche. Die 
angeſchloſſenen Verbände bringen die Koſten auf durch eine Selbſtbeſteuerung 
nach der Mitgliederzahl. Die Zentrale verſorgt die einzelnen Ausſchüſſe mit 
Nachrichten und Anregungen und verarbeitet deren Einſendungen. Sie gibt vier- 
zehntägig die „RNundſchau der deutſchen Verbraucherbewegung und Mitteilung für 
Preisprüfer“, wöchentlich zweimal die Preſſekorreſpondenz „Verbrauchswirtſchaft 
im Kriege“ heraus. Die Erfahrungen auf den verſchiedenen Arbeitsgebieten wer- 
den allerorts geſammelt, von der Zentrale geſichtet und die Feſtſtellungen in 
Eingaben an Parlamente und Behörden, in Preſſe- und Verſammlungsaufklärung 
und »einwirkung verwertet. 

Die Aufgabe der Kriegsausſchüſſe kann etwa jo umſchrieben werden: „Sicher- 
ſtellung und tunlichſt Vermehrung aller verfügbaren Bedarfsgüter, ihre ſparſamſte 
und zweckdienlichſte Verwendung, ihre gerechte und verſtändige Verteilung in 
gutem und unverfälſchtem Zuſtande zu angemeſſenen Preiſen unter Berückſichtigung 
der phyſiologiſchen Sonderbedürfniſſe und der wirtſchaftlichen Sonderverhältniſſe 
gewiſſer Konſumentengruppen und :ſchichten, einſchließlich der wirtſchaftlichen 
Hebung ihrer Kaufkraft.“ Leider beſtand bei Kriegsbeginn noch kein ſtarkes Ver- 
braucherkartell, das den Produzentenkartellen das Gleichgewicht hätte halten 
können; ſonſt wäre die deutſche Ernährungs- und Preispolitik von Anfang an in 
andere Bahnen gelenkt worden. Nun, nachdem die Entwicklungslinien feſtgelegt 
waren, ſtellten ſich den Kriegsausſchüſſen bei der Snangriffnahme ihrer gewaltigen 
Aufgabe die größten Schwierigkeiten in den Weg. Es galt überhaupt erſt ein 
neues volkswirtſchaftliches Prinzip bei der Regierung und einem Teil des Volkes 
durchzuſetzen. Trotzdem haben die Kriegsausſchüſſe zahlreiche ihrer Forderungen, 
die Schloeſſer auf vier Oruckſeiten aufzählt, durchſetzen können. Sie erſtickten z. B. 
die geplante Lebensmittelſparpolitik mittels beabſichtigter Preiserhöhungen 
durch ihre Agitation im Keime. Sie wirkten für die Regelung der Brotgetreide- 
frage auf dem Wege der Beſchlagnahme und Rationierung, ſie legten z. B. auch 
den erſten Entwurf einer Brotkarte vor. Sie wieſen immer wieder auf Preis- 
zuſammenhänge hin, verlangten Höchſtpreiſe für alle Stufen der Warenbehand- 
lung vom Rohſtoff bis zum letzten Verkauf der Ware im Kleinhandel, während 
die an irgend einer Stelle im Varenverkehr einſetzenden Höchſtpreiſe natürlich 
ihren Zweck nicht erreichten. Die von den Ausſchüſſen vorgeſchlagenen Waren- 
verteilungsſyſteme (Dresden) fanden weite Verbreitung. All die Einzelvorgänge 
gehören nicht hierher. Überall verlangten die Kriegsausſchüſſe für die Löſung 
der Ernährungsfragen „großzügiges, bis ins kleinſte ineinandergreifendes und 
weit vorausſchauendes“ Verfahren. Allmählich wurde durchgeſetzt, daß die Kriegs- 
ausſchüſſe vor Erlaß ernährungspolitiſcher Beſtimmungen gehört werden. 


Heidfied: Wenn ich das erſt wüßte! 159 


Die Kriegsausſchüſſe beteiligten ſich auch an der Durchführung der Auf- 
gaben, am Überwachungsdienſt in Geſchäften und auf Märkten, an der Aufklärung 
und Erziehung der Verbraucher, an der Arbeit in den Preisprüfungsſtellen, Lebens- 
mittelkommiſſionen, Schiedsgerichten uſw. Die Vertreter der Ausſchüſſe werden 
immer mehr durch die Behörden anerkannt und herangezogen. Die Geſtaltung 
der Wirklichkeit hat die Dafeinsberechtigung der Kriegsausſchüſſe erwieſen. Natür- 
lich nicht in den Augen jenes Teils der Herſteller, der es nicht einſieht oder nicht ein- 
ſehen will, daß eine Macht ohne Gegengewicht Monopolcharakter hat, zu Über- 
griff und Ausbeutung geradezu verlockt. e 

Die Erfahrungen in der Arbeit haben zahlreiche Kriegsausſchüſſe und auch 
bereits manche der angeſchloſſenen Geſamtverbände zu dem Wunſche veranlaßt, 
die „Kriegs“ ausſchüſſe möchten ihre Tätigkeit als Verbrauchervertretung in die 
Friedenszeit hinein fortſetzen und der Staat möge bald ſtatt ihrer vollver- 
pflichtete und — »berechtete „Verbraucherkammern“ ſchaffen, die, aus den 
Vertretern der oben aufgezählten „Verbraucherverbände“ zuſammengeſetzt, gleich 
den „Produzentenkammern“ der Landwirte, Kaufleute, Handwerker die Aufgaben 
der „Intereſſenvertretung, Förderung von Technik, Wirtſchaft und Fachbildung, 
Erziehung der vertretenen Intereſſenten, Beratung der Behörden, Ausübung 
von Verwaltungsaufgaben“ von der Verbraucherſeite hätten und im gleichberedh- 
tigten Zuſammenwirken mit den Produzentenkammern für den zntereſſenaus- 
gleich ſorgten. In der Tat: Soll nach Kriegsende die Lebenshaltung wieder um 
eine Gleichgewichtslage ſchwingen, wovon z. B. weſentlich die Erfolge des Kampfes 
gegen den Geburtenrückgang abhängen, ſo werden die Verbraucherintereſſen 
weit ſtärker betont werden müſſen als bisher. 


2 


VIER 
un VG N . 28 


— 2 
Se 


Wenn ich das erſt wüßte! Von Hans Heidſieck 


Wenn ich das erſt wüßte, 
Daß wir Frieden hätten, — 
An die Erde müßte 

3h mein Antlitz betten. 


Tief in Schmerz verſunken 
Müßt' ich bei ihr weinen: — 
Hat ſie doch getrunken 

All das Blut der Meinen. 


Mußte all' die weichen 
Stimmen wieder hören — — 
Und von dannen ſchleichen, 
Um ſie nicht zu ſtören. 


2 


160 Von dem Zungen, der feine Kuh an Unferen lieben Herrn verkaufte 


Von dem Jungen, der ſeine Kuh an 
Anſeren lieben Herrn verkaufte 
Ein vlamiſches Märchen 


> iesten war der einzige Sohn einer armen Witwe, und er war ſo dumm, 
daß er nicht einmal bis drei zählen konnte. Das Bürfchlein war 
zu ſpät gekommen, als Unſer Lieber Herr den Verſtand austeilte. 
22 Venn er die eine oder die andere Torheit beging, fagte feine Mutter 
öfters zu ihm: „Zunge, du haft den Verſtand mit Schöpflöffeln gegeſſen und da- 
bei das Beſte verſchüttet“, oder ſie bewirtete ihn mit einem „dumm geboren und 
einfältig gewiegt“. 

Die Frau hatte viel Mißgeſchic zu erleiden, ſo daß ſie ſchließlich nur noch 
eine einzige Kuh beſaß, und fie ſah ſich genötigt, auch dieſen letzten Schatz zu ver- 
kaufen. „Siesken,“ ſagte ſie eines Tages, „geh mit unſerer Kuh zum Jahrmarkt,“ 
ſagte fie, „aber gib gut acht,“ fagte fie, „daß du fie an keinen Schwätzer verkaufſt“, 
ſagte ſie. 

„Gut“, ſprach der Junge und zog ab. 

Unterwegs begegnete ihm ein Mann, der ihn frug: „Burſche, wo gehſt du 
mit der Kuh hin?“ 

„Zum Fahrmarkt“, war die Antwort. 

„Willſt du mir nicht deine Kuh verkaufen?“ 

„Nein,“ erwiderte der Burſche, „du biſt mir ein zu großer Schwätzer.“ And 
er ſetzte ſeinen Weg fort. 

Etwas weiter kam ihm wieder ein Mann entgegen, der ihn frug: 

„Burſche, wo gehſt du mit der Kuh hin?“ 

„Zum Jahrmarkt.“ 

„Willſt du mir nicht deine Kuh verkaufen?“ ö 

„Nein,“ ſagte der Burſche, „du biſt mir auch ein zu großer Schwätzer.“ 

Hierauf kam er an einen Kreuzweg und ſah dort ein großes Kruzifix 
ſtehen. Der Junge betrachtete es und wunderte ſich, daß der Mann am Kreuze 
zein Wort ſprach. Er kam näher heran und ſagte zu Unſerem Lieben Herrn: 
„Holla, Mann, kauft mir meine Kuh ab.“ Aber der gekreuzigte Heiland ant- 
wortete nicht. Der Burſche fragte von neuem: „Wollt Ihr mir nicht meine 
Kuh abkaufen? Ihr ſeid kein Schwätzer. Und einem ſolchen Manne ſollte ich 
ſie verkaufen, ſo hat es mir meine Mutter geſagt.“ Aber der liebe Herr ſprach 
noch immer nicht. Oa verſetzte Siesken: „Holla, ſo redet doch! Schweigen heißt 
einverſtanden fein! Jh werde Euch die Kuh dalaſſen und fpäter nach meinem 
Gelde kommen.“ Er band feine Kuh am Kreuze feſt und zog leichten Herzens 
nach Hauſe. 

Unterwegs fand Siesken eine lederne Geldkatze, die mit Goldſtücken voll“ 
geſpickt war. „Ha, das iſt das Geld für meine Kuh“, dachte der Burſche. „Mir 


Von dem Zungen, der ſeine Kuh an Unſeren lieben Herrn verkaufte 161 


ſo bald das Geld nachzuſenden, das heiße ich rechtſchaffen ſein. Ein trefflicher 
Käufer, der Schweiger! Mutter ſagt ja immer, Schweigen iſt eine Tugend, und 
ſie hat recht.“ 

Als er nach Hauſe kam, frug die Mutter ihn: „Nun, Siesken, wie iſt es dir 
ergangen?“ — „Sch habe deinen Rat befolgt, Mutter,“ ſagte der Junge, „ich habe 
die Kuh an keinen Schwätzer verkauft, ſondern an einen Mann, der kein einziges 
Wort ſprach. Der Mann ſah brav und rechtſchaffen aus, und hielt mit ſeinen Armen 
ein hölzernes Kreuz feſt, drüben an den vier Wegen. Als ich ihn anſprach, ſah er 
mich fortwährend an, er wollte aber nicht reden.“ 

„Und wo iſt das Geld?“ frug die Mutter. 

„Hier“, ſagte Siesken und er warf den Beutel auf den Tiſch. „Oer Käufer 


hat mich nicht ſofort bezahlt, ſondern beim Nachhauſegehen fand ich es auf dem 


Wege liegen: der brave Mann hat es mir nachgeſandt.“ 

Die Mutter öffnete haſtig den Beutel und fand darin ſo viel Geld, daß es gut 
für zwanzig Kühe gereicht hätte. Sie begriff ſogleich, was ihrem einfältigen Siesken 
begegnet war. „Der dumme Zunge wird es ausplaudern,“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, 
„und das ſchöne Geld iſt dann verloren.“ Sie überlegte ſich, was zu tun ſei und hatte 
bald einen Ausweg gefunden. 

„Siesken, mein Junge,“ ſagte ſie, „es iſt ärgerlich,“ ſagte ſie, „Geld haben 
wir nun, aber morgen geht die Welt unter, und dann iſt es um uns geſchehen“, 
ſagte ſie. 

„O, da verdrießt es mich, den ſchweren Beutel ſo weit geſchleppt zu haben“, 
erwiderte Siesken. „Gibt es denn kein Mittel, Mutter, daß ich am Leben bleiben 
könnte?“ 

„Ja,“ antwortete die Mutter, nachdem fie eine Weile hin und her über- 

legt hatte, „iß und trink nur erſt. Und morgen in aller Frühe kriech in dies 
alte Butterfaß, ich werde dich immer dorthin rollen, wo das Feuer ſchon aus- 
gelöſcht iſt.“ 
ö Siesken füllte alſo des Abends ſein Bäuchlein, und am anderen Tage kroch 
er beim erſten Morgengrauen in das Faß, das die Mutter ſogleich verſchloß. Sie 
raffte draußen einige weggeworfene Schüſſeln und Scherben, Töpfe und Pfannen 
zuſammen, fügte noch zwei oder drei zerbrochene Gläſer hinzu, und warf es alles 
an dem Butterfaß in Stücken, worauf ſie dasſelbe in der Küche ein paarmal hin 
und her rollte. Nachdem ſie dieſes Spiel noch zwei- bis dreimal wiederholt hatte, 
blieb ſie ein Weilchen mäuschenſtill ſitzen und ließ dann Siesken aus dem Faße 
heraus. 

„Nun iſt alle Gefahr vorüber“, fagte fie. „Es hat mich aber Mühe genug ge- 
koſtet, dich am Leben zu erhalten.“ 

Siesken ſprang vor Freude ein Loch in die Luft und lief mit ausgeſtreckten 
Armen zur Tür hinaus. Es geſchah aber, daß in dieſem Augenblick der Kaufmann 
vorüberkam, der den Geldbeutel verloren hatte. „Haſt du nicht vielleicht einen 
Lederbeutel mit Geld gefunden, Burſche?“ frug er. 

„Ja, Mann, ich habe ihn gefunden,“ ſagte Siesken, „gerade am Tage, vor dem 
die Welt umterging.“ 

Der Zürmer XX, 16 11 


Aa 


162 


Steinmüller: Nacht Sonette 


Als der Kaufmann hörte, daß er es mit einem Toren zu tun hatte, ſetzte 
er ſeinen Weg weiter fort. So behielt die ſchlaue Mutter das Geld und war darob 


nicht wenig zufrieden. 


Da kam eine Maus 
And meine Geſchichte iſt aus. 


Aus der Sammlung von Pol de Mont und Alfons de Cock entnommen 
und ins Oeutſche übertragen von Erika Goetz. 


Nacht⸗Sonette Bon Paul Steinmüller 


J. 
In roten Roſen ging der Tag zur Ruh’, 
An deinem Bilde hing ihr letztes Glänzen. 
Es war, als winkteſt du aus Strahlenkränzen 
Mir lächelnd einen Gutenachtgruß zu. 


Des Feindes Feuer ſchweigen an den Grenzen. 
Nun, Sehnſucht, langgebändigte, nun tu 

Den Sprung zur Freiheit und erfrage du 

Von Wind und Sternen, ob es bald mag lenzen. 


Stürm' über Flüſſe und Gebirge fort, 
Erklimm des Abgrunds ſteiles Felsgeſchiebe 
Und ſteig als Traum, als Nachtgeſicht hernieder, 


Poch' an die Pforte, ſprich das Loſungswort, 
Schütt’ aus die bunten Schätze meiner Liebe 
Und kehr' geſättigt, grußbeladen wieder. 


2. 
Der Abend kam und brachte Heimweh mit. 
Ich fühlte, wie ſich's zitternd in mir regte, 
Da er den veilchenfarbnen Mantel legte 
Um Berge, die fein leiſer Fuß beſchritt. 


Der alte Schmerz, an dem die Wenſchheit litt, 
Seit Mann und Weib zärtlicher Zwiefprach’ pflegte, 
Ein Haus erbaute, einen Garten hegte! — — 

Stets kam die Trennung, die das Glück zerſchnitt. 


Sei ſtill! Es ging, eh' ich ihm nachgedacht. 
Man ſah es mir nicht an. Von drüben fpielte 
Des Todes Grußruf wieder durch die Nacht. 


Doch du, auf die mein ganzes Denken zielte, 
Du ſollſt es wiſſen, daß ich dein gedacht 
So ſtark, als ob ich dich im Arme hielte. 


D. 
Komm, ſüße Nacht, und decke weiche Hände 
Aber der Welt geſchändetes Geſicht, 
Spann’ deiner Kuppel blaue Sternenwände 
Wider des Tages grelles Sonnenlicht. 


Reich’ allen Wunden deine güt’ge Spende, 
Den Schlaf, der Mohn um Fieberſtirnen flicht, 
And wo die Sorge ängſtlich flattert, ſende 

Den holden Wahn, das ſchönſte Traumgeſicht. 


Seit aller Völker Tritte eiſern klirren, 
Entwich in deines Keides ſtille Pracht 
Die Schönheit aus des lauten Tages Wirren. 


Gib fie uns wieder! Laß die Wünſche ſacht 
Als ſtarke Roſſe an den Wagen ſchirren 
And führ' ſie uns herauf. Komm, ſüße Nacht! 


4. 
Des Mondes Schale ſog ſich bis zum Rande 
Voll Licht, als ſeien Sterne drein gepflückt, 
Ihr Strahlenbündel, lanzengleich gezuͤckt, 
Stand ſilbern auf dem braunen Wüftenfande. 


Des Berges Kuppe glänzte im Gewande 
Des Schnees, mit eiſ'gen Zacken reich beſtückt, 
Wie eine Gralsburg, die der Welt entrückt, 
Als Hüterin des Friedens durch die Lande. 


Sieh, unſre Seele trägt das Wundenmal 
Der Friedensſucher, laß den Pfad uns finden, 
Der aufwärts führt aus kreuzbeſtecktem Tal. 


Wir möchten Kränze um die Schwerter winden, 
Die Glocken läuten und entfühnt von Sünden 
Der Welt dich wiederbringen, heil ger Gral. N 


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ZUM 0 — 
2 2 8 — A N 


Irland und England 


x; ie ganze iriſche Geſchichte bildet ſeit Jahrhunderten eine lange, lange Reihe verzweifcl- 
ter Verſuche der Fren, ſich von Englands Herrſchaft zu befreien. Seit der engliſche 

Konig Zeinrich II. um 1167 die grüne Inſel unterwarf, bis zum heutigen Tage 
bat Irland ſich noch nicht in ſeine Unterdrückung ergeben, obwohl ungeheure Blutopfer und 
die Vertreibung von Hunderttauſenden von Einwohnern noch immer jeden Aufſtand unterdrüd- 
ten. Infolge der Parteiungen der iriſchen Häuptlinge kam es in der nächſten Zeit zu keinem 
geſchloſſenen Widerſtand, und erſt 1515 verſuchte Eduard Bruce in offenem Kampfe die Eng- 
länder zu vertreiben. 1595 wiederholte der Graf von Tyrone dieſen Verſuch. Wie ſtark ſeine 
Unterjtügung durch die Bevölkerung war, geht daraus hervor, daß erſt 1601 die Niederwerfung 
dieſes Aufſtandes gelang. Schon 1641 flammte die Empörung wieder auf, und die Unter- 
drückten konnten große Erfolge erzielen, jo daß nur 1649 durch Cromwell die engliſche Heyrſchaft 
wiederhergeſtellt wurde. Im Blute erftidte dieſer Gewaltmenſch die Bewegung, indem er 
nicht nur die Bevölkerung der zwei zuerſt eroberten Städte bis auf den Letzten niedermetzeln 
ließ, ſondern auch noch auf die zerſtreuten Flüchtlinge im Lande eine wahre Menſchenjagd ver- 
anſtaltete. Trotzdem fand ſchon 1689 der vertriebene König Fakob wieder in Frland Kampf- 
genoſſen gegen England. Aber auch dieſer Krieg wurde verloren. Mehr und mehr entvölkerte 
ſich die Inſel. 

Für mehr als 100 Jahre tonnte kein offener Aufſtand mehr aufkommen. 

In Geheimbünden aber, die gegen England wühlten und nicht ſelten zu Gewalttaten 
und Mord führten, trieb der Haß gegen die Unterdrücker weiter. Ein wichtiger Grund dazu 
war die ſchmähliche Behandlung, die die engliſche Regierung und Kirche dem katholiſchen iriſchen 
Volke angedeihen ließen. In jeder und ganz unnötigen Weiſe wurden die Katholiken in ihren 
Gefühlen verletzt. Sie mußten jeden Sonntag in die proteſtantiſche Kirche gehen, ſie konnten 
kein Amt bekleiden, fie durften keine Ehen mit Proteſtanten eingehen. Die Kirchenguͤter wurden 
für die engliſche Staatskirche eingezogen, die Steuern mußten den engliſchen Geiſtlichen ge- 
zahlt werden. Alle dieſe Laſten, zu denen noch manche andre kam, drückten natürlich, von einem 
fremden Volke auferlegt, viel härter, als es ſchon die Religionsverfolgungen in andern Ländern 
taten, die von den eigenen Volksgenoſſen ausgingen. Wütender Haß wurde auf das tiefſte 
eingepflanzt und führte 1799 zu einem neuen Aufruhr, der zunächſt einer großen Menge Eng- 
ländern das Leben koſtete. Wieder wurde aber dann unter den Fren ein Blutbad angerichtet, 
das die engliſche Macht aufrechterhielt. Die Furcht vor den Fren war aber doch jo groß, daß 
man 1800 ſich dazu entſchloß, den Katholiken die drückendſten Bindungen abzunehmen, in der 
Hoffnung, mit dem Ausſcheiden des Religiöſen eine große Menge der Bevölkerung der iriſchen 


164 N Stiand und England 


Selbſtändigkeitsbewegung zu entfremden. Durch eine gewaltige Beſtechung — es wurden mehr 
als 30 Millionen Mark dazu verwendet — gewann man dann einen Teil der leitenden Kreiſe 
Irlands und konnte ſo den offiziellen Anſchluß an England durchführen. ö 

Aber das iriſche Volk gab, trotz dieſes Verrates eines Teiles ſeiner Oberen, ſeinen Haß 
und ſeine Hoffnung nicht auf. Das Verſammlungsrecht wurde ihm deshalb beſchränkt. Das 
hatte aber nur zur Folge, daß das Geheimbundweſen um fo ſtärker wieder auflebte. Banden 
weſen und Mord breiteten ſich um 1840 in ganz bedenklicher Weiſe aus, und 1848 konnte nur 
durch rechtzeitiges energiſches Eingreifen ein neuer Aufſtand verhütet werden. Eine Reihe 
von Todesurteilen wurde an den Führern vollſtreckt. In ungeheuren Maſſen wanderte die 
enttäuſchte und weitere Vergeltung fürchtende Bevölkerung nach Amerika aus. 

Trotzdem brach im Jahre 1867 nochmals die Flamme der Empörung hervor. Aber nur 
neue Blutopfer waren der Erfolg. Schon 1871 gärte es wieder auf das bedenklichſte, doch 
verhinderten außerordentliche Maßnahmen der Regierung einen Ausbruch. Die Überwachung 
wurde äußerſt ſcharf gehandhabt. 

Im geheimen lebte aber die iriſche Freiheitsbewegung unzerſtörbar weiter. In den 
80er Jahren waren es wieder die Mitglieder der Geheimgeſellſchaften, die mit Schrecken und 
Mord den engliſchen Pächtern, welche das Land ausſaugten, den Aufenthalt in Irland zu 
verekeln ſuchten, wobei fie von den amerikaniſchen Fren, die im Fenierbund vereinigt waren, 
unterjtüßt wurden. Politiſche Morde und Opnamitattentate in England ſelbſt zeigten immer 
wieder, bis zu welchem Grade der alte Haß weiter gewuchert war. 

Damals fing die engliſche Regierung an, um die gemäßigteren Iren von der Bewegung 
abzulenken, ſich mit dem Gedanken der Homerule, der Eigenverwaltung Irlands unter engliſcher 
Oberregierung, zu beſchäftigen, doch war die Partei, welche hoffte, ſo Irland zu beruhigen, 
zu klein, und das Geſetz fiel 1886. Eine erregte Gegenbewegung der Zren, die ſich wieder ent- 
täuſcht ſahen, wurde nach einigen Zuſammenſtößen durch Verhängung des Ausnahmezuſtandes 
unterdrückt. 1895 ſcheiterte abermals ein Verſuch, die Homerule durchzubringen, und auch ſpãter 
konnte ſich England nicht dazu entſchließen. 

Welche Erregungen und Unruhen ſchon in den letzten Jahren vor dem Kriege und be- 
ſonders auch während des Feldzuges dadurch verurſacht worden ſind, wird noch in allgemeiner 
Erinnerung fein. Die Hinrichtung Sir Caſements, nachdem der Mardverſuch an ihm miß- 
lungen war, und die grauſame, blutige Niederwerfung der Sinn-Feiner in Dublin und anderen 
iriſchen Städten ſind Markſteine der letzten Entwicklung. 

Wenn man ſo dieſe Geſchichte an ſich vorüberziehen läßt, ſo begreift man allerdings, 
daß England im Zntereſſe feiner Oberherrſchaft ſich nie entſchließen konnte, Irland die Selbſt- 
verwaltung zu geben, wenn auch eine Hoffnung, auf dieſe Weiſe doch die iriſchen Patrioten 
durch Teilung in zwei Lager ohnmächtig zu machen, den Gedanken nicht ausſterben läßt. Die 
Furcht, ein iriſches Volk möchte ohne die ſtrenge engliſche Verwaltungskontrolle zu ſehr die 
Möglichkeit haben, ſich gegen ſeine alten Unterdrücker zu organiſieren und ſich, ſeinem alten 
Haſſe folgend, ganz befreien, iſt doch zu groß. | 

Der gleiche Grund hat ja auch England bewogen, die Dienſtpflicht nicht auf Irland 
auszudehnen, um nicht ausgebildete Soldaten ſtatt der irregulären Aufſtändiſchen gegen ſich 
zu haben; wozu allerdings noch die Angſt vor einem ſofortigen Aufſtand kommt, da die Zren 
in ihrer großen Maſſe ſich haßerfüllt entſchieden weigern, auch nur dem Gedanken näherzutreten, 
für England Kriegsdienſte zu leiſten. Hofft doch ein jeder gute Fre auf den Zuſammenbruch 
Englands durch eine Niederlage im Weltkriege, die dann ſeinem geknechteten Lande die Freiheit 
bringen ſoll. 

Ein Zweites begreift man danach auch: Wie groß die engliſche Verzweiflung infolge 
der deutſchen Streiche ſein muß, wenn man jetzt Bereitſchaft zeigt, Homerule zuzugeſtehen 
und die Dienſtpflicht trotz der erwähnten Befürchtungen einzuführen. Man hofft natürlich 


Polniſches Theater 165 


mit der erſten Zuſage, die ja nicht von heute auf morgen durchgeführt zu werden braucht, und 
die man nötigenfalls noch mit mancher Einſchränkung verſehen kann, die Sren fo weit zu beruhi⸗ 
gen, daß ſie die Dienſtpflicht annehmend für England kämpfen. Damit wäre dann wenigſtens 
für die nächſtliegende Not ein Hoffnungsſtrahl gegeben. Zt dann der Krieg vorbei, jo wird 
man ja weiter ſehen. Wenn man die iriſchen Truppen, nach bewährtem engliſchen Muſter, 
immer gut an die kritiſchſten Punkte ſtellt, kann man ja den Mannſchaftsbeſtand möglicherweiſe 
ſo ſchwächen, daß die Gefahr für England nicht mehr allzu groß iſt. 

Freilich ſind doch auch unter den Engländern ſelbſt noch ſehr ſtarke Bedenken gegen das 
Geſetz vorhanden, denn man iſt mit Recht in Unruhe, ob der iriſche Zwangsſoldat, ſelbſt wenn 
eine Mehrheit für das Geſetz gefunden iſt, wirklich für England eintreten wird. Man könnte 
wohl der Gefahr, ſchon während, vielleicht gegen Ende der Ausbildungszeit eine Rebellion zu 
haben, dadurch entgehen, daß man die iriſchen Rekruten unter andre Beſtände verteilt, aber es 
bleibt doch immer noch die Befürchtung, daß der Fre, der eben auch im unteren Volk einen tiefen 
gaß gegen alles Engliſche hat, im Gefechte, dieſem Triebe folgend, verſagt, daß er überläuft, 
die Waffen ſtreckt. Ein alter Volkshaß kann erfahrungsgemäß durch Halbheiten niemals beſeitigt 
werden und führt immer leicht zu den ſchwerſten Ausſchreitungen. Man könnte alſo gegebenen- 
falls mehr Schaden als Nutzen von ſolchen Truppen haben. 

Und auch die Zeit nach dem Kriege mag manchem drohend erſcheinen. Eine iriſche 
Selbſtverwaltung, ſei fie auch noch beſchränkt, die ſich auf Tauſende und aber Tauſende militäriſch 
ausgebildete Iren ſtützt, könnte doch wohl eine ganz andre Sachlage ſchaffen als die ſtändig 
von England überwachten, unausgebildeten Sinn-Feiner es heute zu tun vermögen. Hält 
man aber die Verſprechung der Homerule nicht, fo bleibt die erbitterte Menge nach der Soldaten 
zeit ſicher eine größere Gefahr als vorher. 

Die Lostrennung von England, von dieſem ſo ſehr gefürchtet, von den Iren fo ſehr ge- 
wünſcht, wäre dann vielleicht doch zu erreichen, ſelbſt wenn die Briten im Kriege ſiegreich ge- 
blieben wären. | 

So ſehen wir ein fonderbares Bild. Wir, die Völkerunterdrücker der Ententepreſſe, 
haben keine Angſt gehabt, unſre Elſäſſer und Polen unter die Waffen zu rufen, und wahrlich 
die wenigen Verräter, die ſich herausſtellten, können den Ruhm nicht verdunkeln, den ſich auch 
dieſe Völker im Kampfe um Deutſchlands Beſtehen erworben haben. England aber, das demo- 
kratiſche völkerbefreiende Albion, wird erſt durch die Verzweiflung getrieben, ſeine iriſchen 
Untertanen zu bewaffnen, immer in der Furcht, eine Kraft zu wecken, die vielleicht dazu bei- 
tragen könnte, feine Weltgewaltherrſchaft aus den Angeln zu heben. 

Einzelne iriſche Truppenteile, die im Kriege ſchon aufgetreten ſind, ſagen nichts gegen 
dieſe Ausführungen, denn in Frland ſitzen viele auch als Fren zählende Engländer, wie ja 
z. B. die Alſterleute kaum als Iren gelten können. Otto Döhler 


Ne 
Polniſches Theater 


ser Friede von Breſt-Litowſk hat bei den Polen großen Lärm gemacht. Die Ab- 
a grenzung zwiſchen Polen und der Ukraine, infonderheit die Übergabe des Cholmer 
Landes an die Ukraine, ſei ein ungeheures nationales Unglück, ein Anſchlag gegen 
das nationale Beſitztum, ja — man höre! — nichts Geringeres als die „vierte Teilung“ Polens! 
Dieſen pathetiſchen Entrüftungsgebärden und Klagerufen gegenüber ſtellt ein Brief der „Ber- 
liner Neueſten Nachrichten“ aus Galizien die Tatſache feſt, daß die vom hiſtoriſchen Polen 
zurüdgebliebenen Überlieferungen des Herrſchens und Unterjochens im polniſchen 
Volke noch weiter ſehr tief ſtecken: 


166 Bolnifhes Theater 


„Ver in der polniſchen Geſchichte bewandert ift, wer den nationalen Charakter dieſes 
Volkes genauer kennt, bei dem vermögen all die gegen den jungen Staat und deſſen Verbündete 
gerichteten Ermahnungen und Drohungen weder Verwunderung noch Furcht zu erregen, 
zumal er ſofort eingeſehen haben wird, daß dieſes Gebaren eine Verleugnung jedes inneren 
Anſtands und ferner nichts anderes als eine auf theatraliſche Wirkungen berechnete 
Geſte iſt, die man in der polniſchen Geſchichte neuerer Zeit nur allzuoft wahrnehmen konnte. 
Andererſeits kann bei einem Nutznießer, der bislang von der fremden Gunſt gelebt hat und noch 
immer von ihr lebt, — von einem eigenen Willen nicht die Rede fein, um fo weniger von dem 
Ernſt feiner Drohungen. Denn für einen Günftling iſt im übrigen — wenigſtens hier in Öfter- 
reich — eine einträgliche Realpolitik bedeutend beſſer, als die Jagd nach unerreichbaren natio- 
nalen Idealen, zu deren Erreichung man ausſchließlich die eigenen nationalen Kräfte bean- 
ſpruchen müßte. 

Es dürfte im allgemeinen nicht unbekannt fein, daß die Seele des unter den ungemein 
günſtigen politiſchen Umftänden aufgewachſenen und durch das hiſtoriſche Schickſal verwöhnten 
polniſchen Volkes — unempfindlich gegen alle Erſcheinungen im Völkerleben war, daß fie jeder 
ſozialpolitiſchen Anderung und Entwicklung im übrigen Europa eine völlige Gleich- 
gültigkeit entgegenbrachte: während in MWeft- und Mitteleuropa der Kampf gegen Abfolutis- 
mus und Reaktion tobte — waren die Polen die einzigen, die ſich indeſſen auch weiterhin 
der Hypnoſe der hiſtoriſchen großpolniſchen Traditionen und der ZIlluſion über 
ihre Ausnahmeſtellung in der Völkerfamilie hingaben. Sie glaubten und glauben unab- 
läſſig das Nad der Weltgeſchichte auf ſeinem Wege aufhalten oder gar ſeine Umkehr erzwingen 
zu können. Von dem Konſervativen bis zum Sozialdemokraten bereiten die Polen fortwährend 
den Nährboden für den Kultus eines nationalen Schlachtzitzentums, des Herrſchens 
über Nachbarvölker und pflegen weitaus den Paraſitismus, der dieſes Volk mit der 
Pflanze gleichſtellt, die allein ohne fremde Säfte nicht gedeihen kann. Jene ſuggerierte Aus- 
nahmeſtellung hat das Volk in die Sphäre des Hochmuts, in die Gemeinde jener Menſchenart 
gebracht, die das Leben als ein Vergnügen auf anderer Leute Koſten auffaßt. 

Das allgemeine Mitleid mit ihnen anläßlich der Teilung ihres Staates bis zum Über- 
drug ausnutzend, haben ſich die Polen mit dem Strahlenkranz eines Märtyrertums 
umgeben und kokettierten ein ganzes Jahrhundert mit dieſem erdichteten Märtyrer- 
tum und nutzen es aus, indem fie ihre Anſprüche ſteigern, in die ärgſten Gewohnheiten der 
Vergangenheit zurückfallen und ſich in die uferloſeſten Träume des Größen wahns verlieren. 
Und fie finden ſich in der Rolle von Märtyrern immer intereſſant: daher verlangen fie von 
Europa, daß man ſich ihrer Befreiung mit einer übermenſchlichen Großmut annimmt. Anſtatt 
dieſem Volke den Weg der Ernüchterung, einer gewiſſenhaften Selbſtzucht, einer gerechten Ab- 
rechnung mit den Nachbarn und der hiſtoriſchen Beichte vor ſich ſelbſt zu weiſen, — hat die wohl 
feile Protektion mancher Staaten und Völker im Laufe von anderthalb Jahrhunderten dieſe 
Schmetterlinge des Lebens zu den trag iſchen Schauſpielern erzogen, die ihre Protektoren 
und die Zuſchauer nun zu betören und zu bezaubern wiſſen. Die Regie hat ihnen allerdings 
nicht immer eine und dieſelbe Rolle zugewieſen! Den Vorfällen und politiſchen Ereigniſſen 
entſprechend verſtellen ſie ſich vor den Mächtigen dieſer Welt als krüppelhafte Bettler, die durch 
Bloßlegung ihrer Gebrechen um ſo reichlichere Almoſen von den Vorbeigehenden erhoffen, oder 
mit dem Pathos eines Redners den Mantel der Unzufriedenheit umwerfen, die Stirn in zornige 
Falten legen und Drohungen nach allen Seiten hinſchleudern. Ein anderes Mal ſtellen ſie 
jene unſchuldig Verfolgten dar, die in bitterſter Pein ihr Gewand zerreißen. Und all dies mit 
ausgefuchten Phraſen von dem dieſem ‚edlen‘ Volke angetanen fürchterlichen Unrecht. Wenn 
fie aber in dieſen Rollen zufällig keine Erfolge haben, dann verſchmähen fie auch die Akrobaten 
kunſtſtücke nicht; mit der Geſchicklichkeit eines Zongleurs ſchwingen fie wie Kugeln Loſungsworte 
der Revolution, der Demokratie und des Selbſtbeſtimmungsrechtes, im Bedarfsfalle aber auch 


Braſllianerdant 167 


die der allerſchwärzeſten Reaktion und des Annexionismus. Verſagt auch dies, dann rühren 
fie mit gewaltigem Lärm die Reklametrommel. 

Allein das Gebrüll der Moral und der blütenreinen Unſchuld würde ohne ein ſchonungs- 
loſes Verfahren gegen die politiſch ſchwächeren Nationen in die ärgſte Feſuiterei nicht ausarten. 
Diefe innere Verderbnis ließ ſchon in der Vergangenheit keine Rückſichtnahme auf die Verträge 
und Abkommen mit den Nachbarvölkern zu. Heute werden noch immer all die Grundſätze der 
politiſchen Ethik von dieſem ritterlichen“ Volke mit Füßen getreten, ja es ſpielt ſich noch immer 
als Lehrer und Vormund der anderen auf, wie jener ſich anmaßende Dichter, der ſeine Helden 
nicht reden läßt und nur ſelber für ſie ſpricht; inſonderheit in bezug auf die Ukrainer hat es 
jahrzehntelang die Welt mit einem Lügengeſpinſt überzogen, viele Vorurteile gegen die 
Ukrainer hier und im Ausland geweckt und ſomit die öffentliche Meinung Europas vergiftet. 
Und daheim wird in der Schule und der Kirche ganzen Generationen das Gebot einer myſteriöſen 
„Rulturmiſſion“ im Oſten eingeimpft. 

Daher dieſes Zähneknirſchen und die Kündigung der Wohnung an Oſterreich von feiten 
der Polen gelegentlich der Cholmer Frage. Chronologiſch genommen, ift es keine ‚vierte Teilung 
Polens“, wohl aber die fünfte, die ſchon 1910 vom Petersburger Polenklub ratifiziert. 
wurde, da dieſer damals in die Ausſcheidung dieſes Gebietes aus Kongreßpolen gegen 
die von Stolypin verſprochene Erweiterung der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung 
und gegen einige Zugeſtändniſſe der polniſchen Sprache im Königreiche reſtlos ein willigte. 
Dieſer Stellungnahme hat ſich damals auch der öſterreichiſche Polenklub angeſchloſſen, 
um die ſchon ohnehin geſpannten Beziehungen der Monarchie zu Rußland durch Einmengung 
in eine innere Angelegenheit eines auswärtigen Staates nicht zu verſchärfen — richtiger geſagt: 
um Rußland nicht zu reizen. Die unbeſtrittene Tatſache von 1910 ſchlägt den Polen jede Waffe 
aus der Hand, mit der ſie ihre ungerechtfertigten Anfprüche auf das Cholmland zu verteidigen 


ſich anſchicken wollten.“ 


Braſilianerdank 


(& SEN 0 m Jahre 1833 verlieh das Parlament des Staates Braſilien einſtimmig dem Deut- 
6) ſchen F. J. Sturz, der aus einer bayrischen Familie ſtammte, das Bürgerrecht. 
Dies geſchah in Anerkennung der hervorragenden Verdienſte, die Sturz dem Land 
geleiſtet. Er hatte die erſten Dampferlinien eingerichtet, Poſt und Polizei erheblich verbeſſert, 
mit ſeiner Kenntnis des Maſchinen- und Bergweſens dem braſilianiſchen Bergbau genützt 
und ſich durch ſeinen großartigen, hilfsbereiten, feurigen Charakter unter den Beſten des Landes 
viele Freunde gewonnen. Nur eine Partei war ihm feindlich: die der Sklaven haltenden Groß- 
grundbeſitzer, denn Sturz trat für Hebung des Sklavenloſes und für unterdrückung des Stlaven- 
handels mit der ganzen ihm eignen Tatkraft in die Schranken. Jedenfalls aber hatten die 
gebildetſten Braſilianer geſehen, was ein tüchtiger Deutfcher zu leiſten vermag. Sie machten 
davon ſehr bald eine merkwürdige, für ihre Dankbarkeit höchſt bezeichnende Nutzanwendung. 

Sturz war ein Mann ganz vom Schlag des großen Friedrich Liſt. Als zweiter Direktor 
der größten braſilianiſchen Goldmine hatte er 600 Neger unter ſich. Deren Los verbeſſerte 
er erheblich und bahnte ihre allmähliche völlige Freilaſſung an. Darüber entzweite er ſich jedoch 
mit dem erſten Direktor, einem rohen Engländer, und dies zwang ihn, in England ſelbſt die 
Abſetzung dieſes Unmenſchen zu betreiben. Dies gelang; Sturz benüßte aber feinen Aufenthalt in 
England, um dort Lord Brougham derart zu beeinfluffen, daß dieſer Staatsmann mit Nachdruck 
für die gänzliche Hintertreibung des Sklavenhandels eintrat. Im Jahre 1852 wurde Braſilien durch 
engliſche Kanonen gezwungen, geſetzlich für die Unterdrückung des Sklavenhandels zu ſorgen. 


442 


108 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit 


Dies war ein Schlag für die Großg rundbeſitzerpartei, die, wie wir ſahen, dem Sturz feind war. 
Sturz war damals feit zehn Jahren zur Belohnung feiner den Braſilianern geleiſteten Dienſte 
mit dem Preußiſchen Generalkonſulat für Braſilien betraut worden. Er bezog ein glänzendes 
Gehalt. Nun fetten aber die Braſilianer unter der Führung der Großgrundbeſitzer ihr Augen- 
merk auf weiße Einwandrer, wie es ihnen Sturz immer empfohlen hatte. Nur wollte Sturz 
freie Siedler, die Großgrundbeſitzer aber wünſchten einen Erſatz für ihre Sklaven. Als Erſatz 
waren ihnen die Oeutſchen gerade am liebſten; an Sturz ſelber hatten fie ja geſehen, wie tüchtig 
Oeutſche feien. Und als Generalkonſul ſollte Sturz deutſche Landsleute zur Auswanderung nach 
dem exoliſchen Lande animieren. Das hätte er auch getan, hätte er ihnen freies Land verbürgen 
lönnen. Aber die Verträge, die er unterbreiten follte, waren auf Betrug angelegt. Unter glän- 
zenden Bedingungen lockte man die Auswandrer; waren fie aber an Ort und Stelle, dann ſahen 
ſie ſich in mörderiſchem Klima an die Scholle der Großgrundbeſitzer gefeſſelt und rettungslos 
dem Untergang, der Ausſaugung verfallen. Viele Tauſende tüchtiger Oeutſcher rückten fo in 
die Stelle ſchwarzer Sklaven ein. Dies war aber nicht die Schuld des 3. J. Sturz. Der tat 
alles, um den ſchmählichen Handel zu hintertreiben, warnte in den Zeitungen, bei den Behörden, 
ſetzte Flugſchriften in Umlauf, gab mehr Geld aus, als er einnahm, mußte aber zu feinem größten 
Schmerze ſehen, daß die deutſchen Behörden weniger gegen die frechen Verlockungen der 
braſilianiſchen Werber und Agenten taten als die Behörden der andren Hauptkulturländer. 
Sturz kämpfte ganz allein gegen dieſe Schmach, ja, er mußte ſich ſogar noch der Angriffe be- 
ſtochener Zeitungen und brafilianifcher Agenten erwehren. Und ſchließlich ſetzten ſeine Feinde 
in Braſilien feine Abſetzung als Generalkonſul durch. Das war der Dank Braſiliens für die 
großen Verdienſte des Mannes: die Deutſchen waren den portugieſiſchen Herrſchaften da 
drüben, die das Heft in Händen hielten, gerade gut genug, um in die Stelle ſchwarzer Sklaven 
zu rücken. Daß Sturz trotzdem durch feinen Kampf dagegen viele Tauſende Deutſcher vor 
dem Elend bewahrt hat, geht aus zwei Umftänden hervor: erſtens erbrachte eine Geldſammlung 
für ihn 12000 Taler, die er zum größten Teile wieder für die Sache verwandte, die ihm ſelbſt 
bereits Stellung und Vermögen gekoſtet. Und zweitens erhielt Sturz ſeitens des Norddeutſchen 
Bundes und ſpäter des Reiches eine jährliche Penſion von 400 Talern für ſeine Verdienſte um 
die deutſche Auswanderung. Er nämlich war es auch, der lange vor Beſetzung Oſtafrikas auf 
dies „neue Indien“ hinwies und in feinen vielen Schriften über den Handel mit Sklaven und 
Kulis und über die deutſche Auswanderung die Deutfchen anſpornte, in Südamerika und im 
oſtafrikaniſchen Seengebiet durch Siedlung neue deutſche Brudervölker heranzuziehen. 
Sturz war, wie Liſt, einer der größten Vorkämpfer deutſcher Volkswirtſchaft, mit großen ftaats- 
männiſchen Gedanken. Dr. Georg Biedenkapp 


A 


Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft 
und Weltpolitik 


nter dieſem Titel bringt das „Literariſche Echo“ vom 1. April einen ſehr beachtens- 
® werten Aufſatz von Richard Müller Freienfels. Die Ausführungen begegnen 
g fich mit vielem, was ich gelegentlich im „Türmer“ geſagt habe und bieten eine 
8 Gelegenheit, den in manchem Betracht wichtigen Stoff nach verſchiedenen Richtungen 
hin zu unterſuchen. Die wirtſchaftliche Bedeutung des Buchhandels dürfte wohl den meiſten 
Deutſchen, die überhaupt über dieſe Fragen nachzudenken gewohnt ſind, ohne weiteres ein- 
leuchten, und wenn gleich beim Ausbruch des Krieges, zumal in Frankreich und gtalien, eine 
ſtarke Bewegung gegen den deutſchen Mufitverlag und unſere Schulausgaben lateiniſcher und 


Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit | 169 


griechiſcher Klaſſiker einſetzte, ſo geſchah das natürlich weniger aus ſittlicher Entrüſtung gegen uns 
blutrünftige Barbaren, als aus kluger geſchäftlicher Ausnutzung der leidenſchaftlichen Erregt- 
heit und der vorteilhaften Grenzabſperrung. Dieſe zwei Beiſpiele liegen ſo offen zutage, daß 
auch bei allen Behörden der Ernſt dieſer Seite der Frage ſicher genügend gewürdigt und darum 
auf Gegenmaßregeln Bedacht genommen wird. | 

Anders iſt es mit der Erkenntnis der Bedeutung des Buches für die Weltpolitik. Hier ift 
man in weiteſten Kreiſen blind geweſen und heute noch ſehr kurzſichtig, erſt recht für die feineren 
Werte, die nicht geradezu auf dem politiſchen Gebiete liegen, ſondern unwägbar und unbe- 
rechenbar, gerade darum aber beſonders wirkſam ſich einſtellen. Richard Müller ſagt: „Worauf 
beruht letzten Endes die Beliebtheit der Franzoſen überall zwiſchen Petersburg und Rio de 
ganeiro? Sicherlich weit weniger auf perſönlicher Bekanntſchaft (da die Meſſieurs im all- 
gemeinen ſehr wenig zu reifen pflegen) — als vielmehr auf der Lektüre franzöſiſcher Bücher, 
von denen beſonders die mindere Gattung ungeheure, wenn auch gewiß nicht immer recht- 
mätzige Auflagen erlebt, und daneben auf der franzöſiſchen Komödie, die ſo herrlich geſchaffen 
iſt, um leere Abende zu füllen. Keine Kulturgeſchichte rechnet aus, wieviel Herzen der, Hütten- 
beſitzer“, wieviel die ‚Cameliendame‘, wieviel Cyrano de Bergerac“ für Frankreich gewonnen 
haben! Und das haben ſie getan! Nach ſolchen etwas talmihaften, aber bequem eingehenden 
und fo ſympathiſchen“ Geſtalten beurteilt man im Ausland die Franzoſen weit mehr als nach 
den problematiſchen Helden Balzacs, Flauberts oder Zolas. Frankreich — das bedeutet in 
der weiten Welt überall eine Atmoſphäre eleganter Salons, charmanten Umgangstons, einer 
guten Doſis Erotik, und all dieſe ſchönen Dinge kennt man meiſt allein aus Büchern und vom 
Theater (wo man ſie ſogar — nebenbei bemerkt — viel ſicherer findet als im Paris der dritten 
Republik oder gar in der franzöſiſchen Provinz). — Mit uns iſt das anders: Weder unſre gute, 
noch unſre mittelmäßige Dichtung arbeitet für uns im Ausland in ähnlicher Weiſe. Höchſtens 
unſre wiſſenſchaftliche Literatur ſtrömt in größeren Mengen über die Grenzen. Aber die Dich- 
tung und damit das feinſte Deftillat unſeres geiſtigen und geſellſchaftlichen Lebens iſt jenfeits 
der ſchwarzweißroten Grenzpfähle jo gut wie gar nicht gekannt. Wie wären ſonſt ſolche Urteile 
möglich, wie folgende zwei, die ich gerade aufleſe: daß A. Fouillée, einer der bedeutendſten 
Philoſophen Frankreichs, in feinem Buch über die, Pſychologie der europäiſchen Völker ſchreibt, 
in den zwanzig Jahren nach dem Kriege hätten bei uns Literatur und Kunſt geſchwiegen, und 
daß ein andrer Autor, Guillaud, in feinem Buche ‚L’Allemagne nouvelle“ urteilt, die einzige 
Literatur, die es in Deutfchland zur Blüte gebracht habe, ſei die militäriſche geweſen!“ 

In möchte im folgenden der Unterſuchung Müllers folgen, wenn ich auch keineswegs 
überall feine Meinung teile, wenigſtens nicht hinſichtlich der Urſachen der von ihm richtig ge- 
ſehenen Erſcheinungen. Ich gebe aber meine Auffaſſung, ohne jeweils dieſe Gegenſätzlichkeiten 
ſcharf zu betonen. ö N 

Natürlich liegt die geringe Verbreitung unſerer Literatur im Auslande nicht an der 
Schwierigkeit der deutſchen Sprache, wie umgekehrt die in den letzten Jahrzehnten zumal in 
Frankreich und England gewachſene Kenntnis des Deutſchen nichts zur Verbreitung unſerer 
Literatur beigetragen hat. Wer kann bei uns in Deutſchland RNuſſiſch? Wie bekannt ſind trotz- 
dem bei uns eine ganze Reihe ruſſiſcher Schriftſteller. Für dieſe tiefdringende und auch ins 
Breite gehende politiſche Wirkung der Literatur fällt die Kenntnis der Originalwerke gar nicht 
ins Gewicht, ſondern nur die überſetzte Literatur. Wenn Müller auf das romantiſche Deutſch- 
land, auf die Zeit der Staöl und Carlyles zum Beweis dafür verweiſt, daß einſt auch das lite- 
rariſche Seutſchland im Ausland gewertet worden iſt, fo läßt ſich dem mancherlei entgegenhalten. 
Es find auch ſeit 1871 und erſt recht in den letzten 20 Jahren in England und zumal in Frank- 
teich eine ganz beträchtliche Zahl guter Abhandlungen über deutſche Literatur erſchienen. 
Es kommt aber natürlich gan: "uf den Geiſt an, in dem fie geſchrieben find. Frau von GStadl 
war gewiß keine glänzende Keunerin der deutſchen Literatur, aber fie hatte eine gewiſſe Liebe 


5 


170 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik 


zu Deutichland bzw. die Auffaſſung, daß der deutſche Geiſt wertvolle Befruchtungskräfte für 
Frankreich in ſich berge. Und wie vor zwei Zahrtaufenden Tacitus, der als echter Römer die 
Germanen vernichten wollte, aus ſolchen Beſſerungsbeſtrebungen für fein Vaterland ſeine Lob- 
rede auf Oeutſchland geſchrieben hat, jo wurde in den letzten Jahrzehnten umgekehrt in Frank- 
reich jede freundliche Behandlung eines deutſchen Dichters benutzt, um ihn als Gegenſatz gegen 
das moderne oder offizielle Deutfchland auszuſpielen. Erſcheinungen wie Frau Staöl und 
Carlyle ſind im Ausland ganz vereinzelt, nicht nur hinſichtlich ihrer Bedeutung, ſondern auch 
in ihrem ganzen Verhältnis zu einem Fremd volke. Während wir Deutfche eigentlich durchweg 
dazu neigen, alles Fremde durch die roſige Brille zu ſehen, ſind die Ausländer vom höheren 
Werte ihrer heimiſchen Art jo feſt überzeugt, daß fie auf jenen Gebieten, die fie im Ausland 
als beſſer anerkennen müſſen, zum Polemiker werden. Ein ſehr lehrreiches Beiſpiel dafür gibt 
ein großer Ausſchnitt der politiſchen Literatur der Katholiken Frankreichs. Ihnen mußte die 
Machlſtellung, zu der es das Zentrum im „evangeliſchen“ Oeutſchland gebracht hat, im Ver- 
gleich zur Ohnmacht des ſtrengen Katholizismus im politiſchen Leben des „katholiſchen“ Frank- 
reich einen ſehr ſtarken Eindruck machen. Wer davon aber tiefergehende Freundſchaft bei den 
franzöſiſchen Katholiken für ihre Glaubensgenoſſen erwartete, konnte ſich ſchon an der Vor⸗ 
kriegsliteratur gründlich ernüchtern; im Kriege vollends hat der Ärger oder die Eiferſucht über 
die erfolgreichere Arbeit der deutſchen Glaubensgenoſſen die franzöſiſchen Katholiken zu den 
giftigſten Haßausbrüchen getrieben, die wir überhaupt von drüben vernommen haben. Es 
geht darum auch nicht an, die Bücher des Franzoſen Huret einfach als Gegenſtücke gegen das 
ältere Werk der Staöl aufzuſtellen. Die Tendenz der Huretſchen Bücher ſtand feſt, bevor er 
nach Deutfchland kam. Das iſt planmäßige Arbeit, genau wie auf der anderen Seite eine ganze 
Reihe verherrlichender franzöſiſcher Schriften über England. Man geht ſicher nicht zu weit, 
wenn man von Huret behauptet, daß er im weiteſten Sinne im franzöſiſchen diplomatiſchen 
Dienſt geſtanden habe, und da iſt freilich ein himmelweiter Anterſchied zwiſchen den deutſchen 
Regierungsvertretern im Auslande und denen der anderen Völker. Die fremden Länder haben 
die Bedeutung der Einwirkung der Literatur in freundlichem wie in gegneriſchem Sinne immer 
ſehr hoch eingeſchãtzt und darum in allen Mitteln genutzt; ſie haben aber gerade darum auch immer 
eingeſehen, daß nur eine bewußt nationale — nicht politiſch, ſondern der Weſensart und der 
inneren Geſinnung nach — Literatur und Kunſt im Ausland wirken könne, und ich kenne gar 
kein Beiſpiel dafür, daß ausländiſche Künſtler jemals in Deutfchland gezeigt hätten, daß fie 
künſtleriſch auch nur international empfänden, geſchweige denn daß ſie ſich um deutſche Kunſt 
bemühten. Wir machen das ganz anders. Die Deutichen glauben den Ausländern immer da- 
durch Eindruck zu machen, daß fie ihnen zeigen: „Seht doch, wir Oeutſche find gar nicht jo 
national beſchränkt. Seht doch einmal, wie wir eure Dichter und Komponiſten aufführen, wie 
wir eure Bilder bezahlen!“ Auch Müller meint, neuerliche Ausſtellungen in der Schweiz 
ſeien „unblutige, aber glänzende Siege der deutſchen Kultur“ geweſen. Er brauchte nur die 
Zeitungen der franzöſiſchen Schweiz geleſen zu haben, um ſich vom Gegenteil zu überzeugen. 
Es iſt ja auch ganz ſelbſtverſtändlich. Wie hätten Reinhardts vielgerühmte Gaſtſpiele in der 
Schweiz für deutſche Literatur wirken ſollen, da er doch faſt ausſchließlich nichtdeutſche Dichter 
aufführte ?! Er hätte alſo höchſtens für deutſche Schauſpielkunſt Anerkennung gewinnen können. 
Da aber bringt man es immer nur zu einem gönnerhaften Lob. Denn es iſt ganz felbftverftänd- 
lich, daß Oeutſche dem auf feinen Stil verpichten Franzoſen als Dariteller immer minderwertig 
erſcheinen. 

Dann heißt es bei Müller: „Die Bilanz im Austauſch geiſtiger Werte mit fremden Län 
dern iſt heute negativ. Gewiß ſind einzelne deutſche Schriftſteller, beſonders Sudermann, 
Hauptmann, Schnitzler, auch im Ausland geleſen und aufgeführt worden. Aber man täufche 
fich nicht! Derartige Erfolge find immer nur vereinzelt geblieben.. So, wie fie über die Grenzen 
drangen, vermochten ſie dem Ausland keinen Begriff zu geben von der geſchloſſenen Bewegung 


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Dos deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit 171 


in der Literatur, die feit mehreren Jahrzehnten bereits, in immer neuen Richtungen ſich be- 
tãtigend, die Geiſter wach hält. Man hat im Ausland in weiteren Kreiſen keinen Begriff davon, 
mit welcher Energie und wieviel echter Begeiſterung und Leidenſchaft von unſrer Zugend 
um echte künſtleriſche Wirkung gerungen wird. Man empfindet die einzelnen Werke, die man 
kennen lernt, im Ausland als vereinzelte Schwalben, die keinen Sommer machen. Es ſoll 
an dieſer Stelle nicht damit abgerechnet werden, ob wir in der jüngſten Zeit einen beſonders 
guten poetiſchen Sommer hatten; es will uns jedoch ſcheinen, daß ſich jedenfalls die deutſche 
Literatur nicht zu verſtecken braucht. Es iſt vielleicht richtig, daß die ganz hervorragenden 
Gipfel ſelten ſind; aber dieſe allein machen ja den Erfolg nicht aus. Nicht bloß die Generäle, 
auch niedere Chargen und Soldaten gehören dazu, um einen Krieg zu gewinnen. Und das nun 
bedünkt uns außer Zweifel, daß wir eine große Anzahl ſehr anſehnlicher Dichter und Unter- 
haltungsſchriftſteller haben, die — wenn ſie vom Ausland mehr beachtet würden — dort ſehr 
wohl einen andern Begriff vom deutſchen geiſtigen und auch geſellſchaftlichen Leben vermitteln 
konnten, als er heute dort herrſcht. Daß fie aber nicht zur Wirkung gelangt find, liegt nur zum 
Teil an ihnen, zum Teil an den tatſächlichen Schwierigkeiten, denen gerade der Deutſche im 
Ausland begegnet. Täuſchen wir uns auch darin nicht: nach dem Kriege werden dieſe noch viel 
größer fein, man wird ſehr ungern geneigt fein, das Bild vom deutſchen Barbaren, das fo be- 
quem zu verlachen war, zu korrigieren.“ 

Ich finde auch hier die Tatſachen nicht feſt genug herausgearbeitet und vor allem nicht 
genügend unterſchieden. Es iſt ja nicht an dem, daß in einem fremden Lande politiſche Wirkun- 
gen von einer genauen Kenntnis unſerer Literaturſtrömungen und der geiſtigen Bewegung 
ausgehen könnten. Darüber werden immer nur einzelne Beſcheid wiſſen. Auch bei uns wiſſen 
nur ganz wenige über das eigentliche Literaturleben Frankreichs Beſcheid; ſonſt wäre auch bei 
uns Frankreich anders eingeſchätzt worden, als es vor dem Kriege der Fall war, und wir wären 
über ſeine Widerſtandskraft nicht fo überraſcht. Im allgemeinen kann man fagen, daß es nicht 
die große Literatur iſt, die im Auslande Stimmung macht, ſelbſt dann nicht, wenn dieſe großen 
Künftler ſich auch im Roman betätigt haben. Müller ſelbſt hat zu Anfang richtig hervorgehoben, 
daß der Franzoſe im Ausland mehr nach den Geſtalten der Ohnet und Genoſſen, als nach den 
problematiſchen Helden Balzacs, Flauberts oder Zolas beurteilt werde. Maupaſſant ift in 
dieſem Zuſammenhange nicht genannt; ſein Beiſpiel zeigt, wie gerade auf dieſem Gebiete eine 
feingeſchliffene Kunſt wirken kann. Aber im allgemeinen iſt es die modiſche Unterhaltungs- 
literatur, die in dieſer Richtung am meiſten ſchafft. And da fit das Verhängnis. Halten wir 
uns doch zunächſt an die literariſchen Verhältniſſe bei uns ſelbſt. Zm Zeitungsroman und in 
der billigen Bücherware nehmen die Aberſetzungen einen ungeheuren Raum ein. In den 
letzten Jahren treten die Franzoſen da etwas zurück, aber es iſt immer noch eine ganze Maſſe 
neben den Engländern, Amerikanern und Slawen. Auch italieniſche Schriftſteller, ſo wenig 
ſie an ſich bedeuten wollen, haben bei uns Eingang gefunden. Noch im Kriege iſt ein amerikani- 
ſches Uberſetzungsbureau gegründet worden. So wie die literariſchen Verhältniſſe liegen, be- 
deutet jeder dieſer Anterhaltungsromane ein Werbemittel für fein Urſprungsland, d. h. ſoweit 
es ih um fremde Literatur in Deutfchland handelt. Denn gerade dieſe Unterhaltungsliteratur 
it in allen anderen Ländern durchaus national. Selbſt in Rußland, wo höchſtens auf einzelne 
Typen aus politiſcher Gegenſätzlichkeit losgehauen wird. Lebensdarſtellung, Geſinnung der 
auftretenden Perſonen und dazu die Freudigkeit an heimiſchen Lebensformen, ſind Gemeingut 
der geſamten außerdeutſchen Weltliteratur. Dagegen halte man nun, daß gerade in unſerm 
Unterhaltungsroman das Fremde vielfach verherrlicht wird. Jede deutſche Schriftſtellerin 
bringt in ihren Werken ihre Auslandsreiſen an, und fie ſchildert Menſchen, Sitten und Gegenden 
der Fremde mit der verklärenden Liebe des Ferienreiſenden. Nirgendwo in fremder Literatur 
findet man die läppiſche Spielerei mit fremdſprachlichen Brocken, überhaupt dieſes dumme 

Sich-Großtun mit der Kenntnis der Fremde. Auch wenn wir gute Vertriebseinrichtungen für 


172 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik 


dieſe Literatur hätten, würden wir uns damit das „Feuilleton“ der ausländiſchen Blätter kaum 
erobern können, denn die Ausländer lachen natürlich über dieſe dilettantenhaften Behandlungen 
ihrer Verhältniſſe. Aber ſelbſt wenn dieſe deutſche literariſche Unterhaltungsware ſich den aus- 
länd iſchen Markt gewänne, wäre fie nicht dazu angetan, für Deutfchland Sympathien zu erwerben. 
Kann man das von der Literatur behaupten, die bei uns von der „maßgebenden“ Preſſe 
als unſere wertvolle Literatur geprieſen wird? Da muß man ſchlankweg mit Nein antworten. 
In weitaus dem größten Teile jener Belletriſtik, die von den Verkündern des Snternationalis- 
mus in Oeutſchland geprieſen wird, iſt das Deutſche ſehr ſchwach ausgebildet. Aber ſo gewiß 
der franzöſiſche Bilderliebhaber, ich meine den echten Kunſtkenner, zu allen Zeiten bei Schwind, 
Spitzweg, ja ſogar noch bei einem Oefregger Werte fand, die ihn als ein Deutſch Sympathiſches 
berührten, gerade weil ſie ihm die franzöſiſche Kunſt nicht bot, wie er dagegen von unſeren 
Impreſſioniſten nichts wiſſen will, da er in Frankreich das alles viel beſſer hat, iſt es auch mit 
der Literatur. Nachdem ich mich lange dagegen gewehrt hatte, bin ich doch in den letzten Jahren 
vor dem Krieg im Verkehr mit meinen franzöſiſchen Bekannten zur Überzeugung gelangt, daß fie 
ganz ehrlich meinten, wir. hätten in Deutſchland gar keine eigene Kunſt mehr. Allenfalls wehrten 
wir uns noch in der Muſik, wo aber auch ſchon die Fungfranzoſen und Slawen ſtets an Einfluß 
wüchſen; in der bildenden Kunſt und Literatur dagegen zeigten wir ja ſelbſt durch unſer ganzes 
Verhalten, daß wir das Fremdländiſche viel höher einſchätzten und alſo offenbar nichts Eigenes 
hätten. Ich hatte Jahre hindurch, ſolange Tobler fo viele franzöſiſche Studenten an die Ber- 
liner Univerſität anzog, viel Verkehr mit literariſch ſehr angeregten jungen Franzoſen, zumeiſt 
künftigen Lehrern. Sie waren zum Teil ehrlich beſtrebt, Deutſches anzuerkennen, häufig über- 
raſcht, wenn ich fie mit dem einen und andern Buche bekanntmachte, das bei uns ſelbſt kaum ge- 
nannt wurde. Sie gaben dann zu, daß es wohl auch eine eigene „deutſche Linie“ noch heute in 
Literatur und Kunſt gäbe; aber ich konnte ihnen nichts entgegenhalten, wenn ſie mich darauf 
verwieſen, daß in Deutſchland, wenigſtens in Berlin, dieſe deutſche Linie kaum beachtet werde, 
kaum bekannt ſei. | 
So iſt es kaum möglich, den Gutwilligen oder doch wenigſtens nicht Widerwilligen im 
Auslande den Glauben an eine wirklich deutſche künſtleriſche Betätigung in der Gegenwart 
beizubringen. Unfere Feinde beſtreiten ja ſelbſt jetzt im Kriege nicht, daß wir maſſenhaft Kunſt 
hervorbringen; ſie behaupten nur, das alles ſei Nachahmung, ſei Gabe aus zweiter Hand. 
Der deutſche Geiſt habe nichts Eigenes in der Kunſt zu geben. Das iſt ja natürlich Unſinn, aber 
unſere öffentlichen Kunſt- und Literaturzuſtände machen es den Gegnern leicht, ihre Behaup- 
tung durch Tatſachen zu beweiſen. 
Nun aber ſind die Gutwilligen bei unſern Gegnern nur in ſehr geringer Zahl vorhanden. 
Man kann ſagen, daß ſämtliche Ausländer in allem, was Kunſt- und Lebenskultur betrifft, 
von ihrem eigenen Werte ſo überzeugt ſind, daß ſie dem Fremden nur widerwillig die Tore 
öffnen. Sie tun es tatſächlich nur dann, wenn ſie ſich vor dieſem fremden Werte beugen und 
anerkennen müſſen, daß ſie ſich mit der Nichtannahme dieſes Fremdgutes ſelber ſchaden. Der 
Fall Wagner in Frankreich iſt in dieſer Hinſicht ſehr beredt. Aus dieſer durchaus berechtigten 
und von wahrhafter Kultur zeugenden Art, zumal für Kunſt und alle Lebensbetätigungen ſich 
zunächſt ins Heimiſche einzuſtellen, ergibt ſich dann auch das Verhalten der ausländiſchen Preſſe 
gegen uns. Wer viel im Auslande gelebt hat, wird mir beſtätigen, daß man auch in den großen 
Zeitungen Frankreichs, Italiens und Englands wochenlang über geiſtiges Leben in Deutſchland 
nichts zu leſen bekam. Dagegen halte man, daß bei uns ſelbſt die kleinen Provinzblättchen darauf 
hielten, bei irgendeiner Korreſpondenz auf Pariſer Briefe abonniert zu ſein. Selbſt jetzt im 
Kriege halten es unfer größeren Zeitungen für ihre Pflicht, über die in Feindesland verſtorbenen 
Gelehrten und Künſtler eingehende Nachrufe zu bringen. Das mag ſehr ſchön ſein, jedenfalls 
darf man ſich aber dann bei uns nicht wundern, wenn dieſe Leute bei uns wenigſtens ebenſo 
bekannt ſind, wie unſere deutſchen Künſtler, die in der Regel viel kürzer abgefertigt werden. 


Das beutfhe Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik 175 


Und ebenſo iſt es ſichere Tatſache, daß ſich in der ausländiſchen Preſſe die Parallelerſcheinung 
nicht findet. Das Verhältnis war vor dem Krieg noch hundertmal grotesker. Unſere großen 
Tageszeitungen, allen voran die demokratiſch gerichtete Preſſe, brachten in ihrem Feuilleton 
faſt mehr Ausländiſches, als Einheimiſches. Jedenfalls war dieſes Ausländiſche weniger kritiſch 
geſehen; vor allem war Paris dauernd ein Eldorado. Wir machten uns manchmal luſtig über 
die Oberflächlichkeit der Ausländer in ihrer Beurteilung Deutſchlands. Es ſind da in der Tat 
tolle Stüdchen geleiſtet worden. Aber die für unſer Gefühl ſchiefen Beruteilungen Deutfch- 
lands kamen, wo ſie nicht böſer Abſicht entſprangen, daher, daß die betreffenden Beurteiler 
ganz mit ihren heimiſchen Augen ſahen. So war ihr Urteil für ihre Landsleute zu Haufe, wenig- 
ſtens in politiſchem und wirtſchaftlichem Sinne, von Nutzen. Die Fremde hat uns nicht über- 
ſchäͤtzt, wenigſtens nicht im Guten, und hat unfere Erzeugniſſe nicht begehrt. An Oberflächlichkeit 
des Urteils über das Ausland ſtanden aber unſere Berichterſtatter keinesfalls hinter den aus- 
landiſchen zuruck. Aber während der Engländer bei uns Stockengländer, der Franzoſe Stock- 
ftanzoſe blieb, gebärdeten ſich die Pariſer Korreſpondenten unſerer deutſchen Blätter, als ob 
ſie auf dem Montmartre geboren wären. Dieſer Tage hat einer dieſer Herren, Viktor Auburtin, 
ein bezeichnendes Geſtändnis abgelegt (Berliner Tageblatt, 16. April, Abendausgabe): „Aller- 
dings und offen geſtanden bin ich der Meinung, daß wir auch ſchon vor dem Kriege das fran- 
zöͤſiſche Volk nicht richtig gekannt und nicht richtig eingeſchätzt haben; in der guten Zeit, da es 
noch bequeme Eiſenbahn verbindungen über Köln nach Metz gab und als wir jedes Jahr einmal 
nach Paris fuhren, um im Louvremuſeum und bei Tabarin mit der Seele dieſes intereſſanten 
Volkes in Berührung zu treten. Ich habe drei Jahre bei den Franzoſen gelebt, mit Schrift- 
ſtellern, Kaufleuten, Kokotten, Abbés und Oberkellnern Verkehr gepflegt und daraufhin ge- 
glaubt, die Art dieſer Leute begriffen zu haben, dieſes verſtändige, höfliche, nüchterne und des- 
halb im tiefſten Kern anſtändige Weſen, das ſich dem flüchtigen Beſucher nicht enthüllen kann. 
Und bildete mir etwas ein auf meine feine und beſondere Durchdringung. Und da kam der Krieg 
und änderte alles; unbekannte Mächte tauchten aus der Tiefe auf, vernünftige Geſichter ver- 
zerrten ſich und die höflichen Leute gebärdeten ſich wie Beſeſſene. Und zu fpät erkannte ich, daß 
meine Quellen vielleicht doch nicht ganz einwandfrei geweſen waren: die Schriftſteller hatten 
mir nicht die Wahrheit gefagt, was ja auch gar nicht ihr Beruf iſt, die Abbss hatten die Welt nicht 
gekannt, und mein Oberkellner war aus Wiener -Neuſtadt gebürtig geweſen.“ 

Wenn dieſe Herren Auburtin und Genoſſen mit deutſchen Herzen und deutſchen Augen 
durch Frankreich gegangen wären, hätten ſie die Franzoſen viel beſſer kennengelernt, hätten 
uns nicht dauernd über Frankreich getäuſcht und hätten vor allem nicht ſo viel Reklame für 
Frankreich, ſeine Kunſt und Kultur gemacht. Es iſt in der Preſſe jetzt ſo im Schwange, immer 
das Verſagen unferer Diplomatie im Auslande zu betonen. Unfere Preſſe hat nicht minder ver- 
ſagt. Daß ein Mann, wie Maximilian Nordau, noch in den erſten Monaten des Krieges in 
großen deutſchen Zeitungen (3. B. in der Voſſiſchen) feine die Gunſt der Pariſer erwinſelnden 
Berichte veröffentlichen durfte, iſt ein viel tolleres Stück, als der Fall Lichnowſky. Daß auch 
ſonſt während des Krieges, zumal aus Neutralien, derartige Stimmungsmacherei immer im 
Dienſte des Franzoſentums und immer von Literaten gemacht worden ift bis in die jüngſte 
Gegenwart hinein, kann niemand entgangen ſein, der jene Blätter lieſt, die ſich ſelber dauernd 
als maßgebende Kulturpreſſe bezeichnen. Die Gegenleiſtung auf der anderen Seite beruht 
höchſtens darin, daß einzelnen dieſer Leute beſtätigt wird, fie ſeien „charmante Leute“, „trotz 
dem“ fie aus Deutſchland ſtammten. Als „Oeutſche“ werden fie auch von den Ausländern nur 
dann bezeichnet, wenn ſie als Kronzeugen gegen uns verwendet werden können. 

Bleiben wir uns der Notwendigkeit dieſes innerlichen Wandels bewußt, ſo können wir 
Richard Müllers Beſſerungsvorſchläge um ſo freundlicher bewerten. Vielleicht ſieht er doch zu 
ſchwarz, wenn er als Phantaſt verlacht zu werden fürchtet „für den Vorſchlag, im Auswärtigen 
Amt eine Abteilung für Propaganda zugunſten unſerer Literatur im Auslande zu ſchaffen“. 


174 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolltit 


Denn eigentlich ſollte allgemein eingeſehen werden, wie ſehr wir uns durch die Vernachläſſigung 
aller dieſer Mittel geſchadet haben. Sicher wäre es „kein weggeworfenes Geld. Wir hätten 
vermutlich Milliarden erſpart, wenn man der bewußt im Ausland betriebenen Verhetzung 
gegen uns entgegengearbeitet hãtte, auch nur betreffs der politiſchen und ſozialen Vorurteile“. 
Die geiſtige Kultur iſt dazu eines der beſten Mittel. „Man wird mit einer konſequenten, wenn 
auch möglichſt unauffälligen Propaganda beginnen müſſen, die das Ausland, zunächſt das 
neutrale, dann aber auch das feindliche Ausland aufklärt darüber, daß wir nicht nur Romane 
wie „Jena oder Sedan“ und ‚Aus einer kleinen Garniſon“ produzieren, ſondern daß bei uns 
ernſt und heiß um edle Kunſt gerungen und viel Wertvolles geſchaffen wird. Man muß dartun, 
daß unfre neuere Literatur nicht bloß Nachahmung fremder Moden iſt, daß fie auch dort, wo 
fie internationale Beſtrebungen willig aufnimmt, durchaus eigene Wege geht. Wenn der Berg 
nicht zu Mohammed kommt, gut, ſo muß Mohammed zum Berge gehen! Wir brauchen unſer 
Licht nicht unter den Scheffel zu ſtellen. Gewiß ſoll keine Renommage getrieben werden; wir 
ſollen vermeiden, die anderen dabei irgendwie zu kränken oder herabzuſetzen, aber das iſt durch- 
aus zu machen, ohne unſern berechtigten Anſpruch auf Gleichberechtigung zu unterdrücken. 
Wir wollen dem Ausland ja kein falſches und übertriebenes Bild von unſern Zuſtänden geben, 
wir ſollten nur das tatſächlich beſtehende falſche Bild berichtigen und die Verzerrungen unſchäd⸗ 
lich machen. Und dazu iſt niemand mehr berufen als wir ſelber!“ 

Die Titel der beiden oben genannten Romane ſind aber auch nach anderer Richtung hin 
beredt. Beide Bücher haben im Ausland einen ſehr großen Erfolg gehabt. Warum? Weil 
fie von Deutfchen geſchrieben, doch gegen ausgeſprochen deutſche Einrichtungen, deren Wert das 
Ausland durch feinen Haß bezeugt, gerichtet waren. Auch der „Simpliziſſimus“ war im Aus- 
land ſehr verbreitet. Alle Länder haben ihre ſatiriſche Literatur, ja man wird die ſatiriſchen 
Fähigkeiten des deutſchen Schrifttums im Vergleich mit anderen Literaturen nicht allzu hoch 
bewerten. Aber bei keinem andern Volke war die Satire ſo gegen Einrichtungen gerichtet, 
auf denen der eigene Staat und das eigene Volkstum ſteht, wie in Oeutſchland. Keine andere 
Literatur beſchmutzt in gleichem Maße das eigene Neſt. Solange das nicht beſſer wird, wird 
es das Ausland immer leicht haben, aus unſerm eigenen Schrifttum die giftigſten Waffen gegen 
uns zu ſchmieden. — 

„Aber bloß mit der ideellen Aufklärung allein iſt wenig geſchafft: es muß auch Sorge 
getragen werden, daß die äußeren Möglichkeiten, die deutſche Dichtung und Oeutſchland in 
feiner Dichtung kennenzulernen, ſich beſſer geſtalten.“ Richard Müller erkennt als das Haupt- 
übel die zu teueren Bücherpreife unſerer neueren Literatur. Daran liegt es vor allem, daß 
die neuere deutſche Literatur in Deutfchland ſelbſt zu wenig bekannt iſt. Ich habe im Tuͤrmer 
ſchon oft darauf hingewieſen, daß unſer Verlagsſyſtem, an den teuren Erſtpreiſen feſtzuhalten, 
bis die Schutzfriſt der Werke abgelaufen iſt, ein ſchweres Verhängnis iſt und nicht nur der 
Maſſen verbreitung der Bücher entgegenſteht, ſondern auch die weitaus meiſten Literaturwerke 
um die volle Wirkung ihrer Gegenwartswerte bringt. Denn es gibt nur wenige Werke, die 
dreißig Jahre nach dem Tode ihres Verfaſſers noch in voller Wirkung ſtehen. Für den vor 
liegenden Zweck iſt dann noch beſonders zu bedenken, „daß faſt keins unferer Nachbarvölker ſo 
konſervativ iſt, wie das deutſche, daß alle, beſonders Franzoſen und Ruſſen, auch Staliener 
und Skandinavier, eine beſondere Vorliebe für alles Aktuelle, Zeitgemäße, Neuartige haben.“ 
Wir müſſen alſo entweder das franzöſiſche Syſtem übernehmen und die Bücher gleich mit 
einem billigen Einheitspreis (in Frankreich 3,50 Fr., mit dem üblichen Rabatt 3 Franken) 
herausbringen, oder gleich den Engländern den teuren Erſtausgaben möglichft raſch billige 
Maſſenausgaben folgen laſſen. Es iſt ganz ſicher, daß auf dieſe Weiſe die Kenntnis der zeit 
genöſſiſchen deutſchen Literatur zunächſt in Deutſchland ſelbſt außerordentlich zunehmen und 
dadurch der Verbreitung der ausländiſchen bei uns entgegengearbeitet würde. Beides würde 
nicht ohne Folgen auf das Ausland bleiben. 


Das beutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit 175 


Da indeſſen die Wirkung im Auslande weniger von den Originalausgaben, als von 
Überſetzungen ausgeht, iſt vor allem die Verbreitung von Überſetzungen ins Auge zu faffen. 
gch glaube nun nicht, daß Müller im Rechte iſt, wenn er in dem zu guten Schutz unſerer Literatur- 
werke einen Hemmſchuh für ihre Verbreitung im Auslande ſieht. Im allgemeinen ſind die für 
Überſetzungen verlangten Honorare doch nicht fo groß, daß fie die Ausgabe in der fremden 
Sprache wirklich belaſten. Jedenfalls könnten fie kein Hindernis bilden, wenn im Ausland 
wirklich Verlangen nach unſerer Literatur vorhanden wäre. Ich bin nun auch der Meinung, 
daß dieſes nicht abgewartet werden ſoll, ſondern durch Angebot geweckt werden müßte. Und ſo 
iſt es in der Tat verlockend, ſich einmal auszumalen, was geſchehen könnte, wenn wir eine 
mit anſehnlichen Mitteln ausgeſtattete Propagandaſtelle für deutſche Dichtung im Ausland 
beſäßen. Einerlei, ob dieſe dem Auswärtigen Amte angegliedert wäre, oder ob ſie von einer 
privaten Vereinigung, etwa einem Konſortium deutſcher Verleger und Autoren, mit Mitteln 
geſpeiſt würde, ſie könnte mancherlei leiſten. Sie müßte zunächſt in der ausländiſchen Preſſe 
das Intereſſe für deutſche Dichtung wecken, was bei einigem guten Willen, viel Takt und den 
nötigen Barmitteln gar nicht fo ſchwer wäre. Sie müßte aber dann dieſer Vorarbeit billige 
und hübfche Überſetzungen folgen laſſen, wobei es ſogar nicht ſehr ſchwer wäre, in bezug auf 
die Ausſtattung die fremdländiſche Konkurrenz zu ſchlagen. An ſchönem Material würde es 
nichs fehlen. Es brauchte nicht einmal immer künſtleriſch ganz Wertvolles zu ſein, und es 
dürfte, gerade wenn es in der Abſicht nationaler Wirkung geſchähe, nicht etwa bewußt na- 
tionaliſierende Literatur fein. Nichts hat den deutſchen Gedanken draußen jo verdächtig ge- 
macht, wie die allzu große Abſichtlichkeit, mit der er ausgeſprochen wurde. „Ich ſtimme auch 
bier zu, ſobald das Wort aufdringlich“ und ‚abfichtlich‘ betont wird. Ich finde aber, daß in 
unſerer Literatur dieſer Fall ſehr ſelten iſt, jedenfalls weit ſeltener, als in der der anderen Völker. 
Dem Franzoſen zumal iſt die Verherrlichung Frankreichs und alles Franzöſiſchen ganz zur 
Natur geworden. Ich habe eher gefunden, daß uns der Mangel an freudigem Bekenntnis 
zum Oeutſchen auch im Auslande ſehr hinderlich iſt. Bei keinem andern Volke erſcheint dieſe 
Freude an der eigenen Art ſo gehemmt und unterdrückt, wie bei uns. Freilich tritt ſie gerade 
darum bei andern Deutſchen auch unterſtrichen auf und wirkt dann wie alles Unterſtrichene 
unkünſtleriſch. Wenn bei uns ſich erſt die nationale Geſinnung ſo von ſelbſt verſtehen wird, 
wie bei den anderen europäiſchen Kulturvölkern, fo wird ſich da der richtige Ton von ſelbſt ein- 
ſtellen. Jetzt aber leidet auch für alle Propagandazwecke im Ausland unſere ſchöne Literatur 
entſchieden am Mangel der Oeutſchfreudigkeit. Wiederholt iſt z. B. die Schönheit einzelner 
deutſcher Städte (3. B. Bambergs) oder Landſchaften von Ausländern früher künſtleriſch ver- 
wertet worden, als von Oeutſchen. Br 

Andererſeits ftelle ich es mir recht ſchwierig vor, „in der ausländiſchen Preſſe das In- 
tereſſe für deutſche Dichtung zu wecken“. Denn wir dürfen nicht mit der gleichen Geneigtheit 
rechnen, wie wir ſie allen fremden Literaturen entgegenbringen. Das „Literariſche Echo“, 
in dem Richard Müllers Aufſatz erſcheint, hat z. B. vom 1. April 1913 bis 1. Auguſt 1914, alſo 
in der Zeit unmittelbar vor Kriegsausbruch, zehn ſelbſtändige Aufſätze über ausländiſche Dichter 
gebracht. Das kann ich mir auf der Gegenſeite gar nicht vorſtellen. Allerdings, wenn erſt die 
Überſetzungen erſchienen fein werden, iſt es für die Aberſetzer und die Verleger von Belang, 
für das Bekanntwerden dieſer Dichter zu ſorgen. Und fo erſcheint mir als der wichtigſte Vor- 
ſchlag Richard Müllers, „in den ausländifchen Hauptſtädten einen oder mehrere einheimiſche 
Verleger für den Plan zu gewinnen, die ſich in unauffälliger, aber zielbewußter Weiſe in den 
Dienſt dieſer Idee ſtellten. Zu finden würde der ſchon fein — meint Richard Müller — und 
feine Arbeit könnte ja leicht von Deutſchland aus materiell und ideell unterſtützt werden“. 
Man wird vor allem an die materielle Unterſtützung denken müſſen. Hoffentlich verlernt 
man endlich auf dieſem Gebiete bei uns das Knauſern und ſieht ein, daß ſich die hier angelegten 
Summen irgendwie immer bezahlt machen. 


176 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitlt 


And ſo begrüße ich dieſen Aufſatz Richard Müllers, wenn ich auch im einzelnen da und 
dort habe widerſprechen müſſen. Wichtig iſt, daß die Arbeit nicht verzettelt, ſondern für alle 


dieſe Bewegungen eine Sammelſtelle geſchaffen wird. Verſagt der Staat, ſo müßten ſich die · 


Verleger- und Schriftſteller- Verbände zuſammentun. Vielleicht wäre der Leipziger Verein 
für Buchweſen und Schrifttum, auf den im „Literariſchen Echo“ hingewieſen wird, in der Tat 
die geeignete Stelle. „Denn, um das nochmals in aller Schärfe hervorzuheben, ideelle Er- 
oberungen ſetzen ſich leicht auch in materiellen Gewinn um. Man hat in Ländern niederer 
Kultur oft beobachtet, daß die Miffionare die Schrittmacher des Kaufmanns waren. Man 
laſſe die deutſchen Dichter ähnlich wirken, laſſe ſie die Herzen gewinnen für deutſchen Geiſt 
und deutſche Art und tue alles, um ihren Werken den Weg in die Fremde zu ebnen! Nicht nur 
der deutſche Buchhandel, unſre Geſamtwirtſchaft und unſere ganze politiſche Stellung werden 
viel mehr dadurch gewinnen, als es diejenigen ahnen, die in allem Dichten nur weltfernes 
Träumen, nicht den innerſten, tiefſten und notwendigen Ausdruck des Volkstums ſehen!“ 

Aus dem Schlußſatz geht hervor, daß, wie ich wiederholt betont habe, für dieſe Werbearbeit 
die an deutſchem Volkstum gehaltreiche Literatur, nicht aber die internationaliſtiſche geeignet 
iſt. Wir müffen es in dieſem Kriege gelernt haben, daß nur der in der Welt Geltung bat, der 
ſich vor allem ſelber achtet und ſich niemals und nirgends wegwirft. 

Karl Stoa 


8 3 


D 2 


Gedankenſplitter Von Hugo Rohde 


Die Hauptkunſt jeder Anterhaltung beſteht darin, den andern reden zu laſſen. 
1. b 
Weiſe und Wegweiſer zeigen den Weg, ohne ihn ſelbſt zu gehn. 
ö * 
Vor dem Alter iſt jeder bange, 
Doch leben möcht' er trotzdem recht lange. 
% 
Gedanken, die dir leicht zufliegen, 
Die wollen meiſtens dich betrügen, 
Die du dir mühſam haſt erdacht, 
Die haben dich redlich vorwärts gebracht. 
* 
Wir ſollen nur ſolche Wünſche haben, deren Erfüllbarkeit in uns, nicht außer uns, liegt. 


* 


Meiſt iſt es leichter, andern die Wahrheit zu ſagen, als ſich ſelber. 


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„Der Krieg 


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4 


5 


Lach den Erklärungen, die der Reichskanzler dem Vereinigten Landes- 
rat von Livland, Eſtland, Riga und Oeſel namens des Deutſchen 
Kaiſers abgegeben hat, darf an dem ernſten und feſten Willen, das 
e Baltenland dem Oeutſchen Reiche anzugliedern, füglich nicht mehr 
gezweifelt werden: die Reichsregierung hat die Hand ergriffen, die das Baltenland 
ihm entgegengeſtreckt. Für Kurland ſteht die Angliederung ſchon ſo gut wie feſt, 


5 N 


für Livland und Eſtland liegen die Dinge, wie der Landtagsabgeokdnete 


W. Bacmeifter in einem vortrefflichen Aufſatze des „Größeren Oeutſchland“ hervor- 
hebt, etwas weniger einfach, weil eben einer der vielen traurigen Erfolge der 
Kühlmannſchen Politik die Tatſache iſt, daß Livland und Eſtland noch formell 


der Oberherrſchaft Rußlands unterſtehen. Der Friedensvertrag ſieht allerdings 


vor, daß dieſe beiden Länder ſpäter über ihr Schickſal ſelber beſtimmen ſollten. 
Aber es bleibt die Frage, ob die ruſſiſche Regierung die Beſchlüſſe des Vereinigten 
Landesrats als eine Selbſtbeſtimmung anerkennen wird, und damit bleibt die andere 


Frage, was zu tun iſt, wenn die Bolſchewiki eine ſolche Anerkennung zu geben 


ſich weigern. Wenn Rußland einen ablehnenden Standpunkt einnimmt, ſteht 
alſo doch wieder Gewalt gegen Gewalt, und die überragende militäriſche Stel- 
lung Oeutſchlands muß letzten Endes über das Schickfal Livlands und Eſtlands 
entſcheiden. Dieſe nicht übermäßig angenehme Lage hätte ſich unſchwer ver- 
meiden laſſen, wenn man unſeren Vormarſch nach dem Peipusſee nicht un- 
nötigerweiſe vorher mit allerlei Erklärungen belaſtet und wenn man die Rußland 
von Weſteuropa trennende „‚Demarkationslinie“ nicht quer durch die baltiſchen 


Provinzen, ſondern von Dünaburg zum Peipusſee gezogen hätte, was vermutlich 
den Abſchluß des Friedens mit Rußland nicht um einen Tag verzögert 
haben würde. Es iſt ja kein Geheimnis mehr, daß dieſe jetzt auf unſere Entſchließun- 
gen peinlich drückenden Maßnahmen auf den Einfluß Kühlmanns zurückzuführen 


find, der ganz unter dem Banne der Reichstagsmehrheit ſtand und ſogar dem 
Vormarſch durch Livland und Eſtland heftig widerſtrebte, alſo einer 
Maßnahme, die ſchneller als alle Verhandlungen in Litauiſch-Breſt den Frieden mit 
Rußland hergeſtellt hat. Es iſt ſonderbar genug, daß es trotzdem noch nationale Poli- 
tiker in Deutfchland gibt, die die Kühlmannſche Politik glauben decken zu follen. . . 

Her Türmer XX, 16 5 12 N 


178 Zürmees Tagebuch 


Es könnte auch vom reichsdeutſchen Standpunkt keine beſſere Löſung ge- 
funden werden, als eine Angliederung des im übrigen ſelbſtändigen baltiſchen 
Staates auf dem Wege über eine Perſonalunion mit der Krone Preußens 
in feſter und ewiger Form. Denn fo bleibt das alte deutſche Baltikum ‚up ewig 
ungedeelt‘; ein Land, das den Stempel der deutſchen Kultur feit Jahrhunderten 
trägt, in dem eine Viertelmillion Deutfcher den Sinn für den Wert des deutſchen 
Volkstums ſich erhalten hat, wie ſonſt nirgends auf der Welt, ſelbſt Oeutſch— 
land nicht ausgenommen, ſchließt ſich dem großen deutſchen Volkskörper an 
und führt ihm ein höchſt bedeutſames Maß völkiſcher Kraft hinzu, was nach den 
ſchweren Verluſten an deutſchem Blut während dieſes Krieges gar nicht froh genug 
begrüßt werden kann. Die Anfügung erfolgt nicht in der bedenklichen Form der 
Schaffung einer neuen ſelbſtändigen Monarchie und eines Bündniſſes mit Oeutſch- 
land, was nach den Erfahrungen des Krieges ſelbſt dann bedenklich geweſen wäre, 
wenn ein deutſcher Fürſt den neuen Thron beſtiegen hätte. Nein, die Angliede- 
rung iſt viel inniger und ſichert die völlige Gemeinſamkeit des baltiſchen 
und des preußzſch-deutſchen Schickſals für alle abſehbaren Zeiten. 

Gewaltiges, das den gigantiſchen Leiſtungen des deutſchen Volkes in Waffen 
und der Armee in der Heimat entſpricht, ſteht damit vor der Vollendung. Aller- 
dings darf nicht verſchwiegen werden, daß es vollendet werden wird trotz der 
Widerſtände, die im deutſchen Volke ſchon ſeit langem gegen eine Vergrößerung 
des Vaterlandes ſich geltend gemacht haben, jener Widerſtände, die in der deutſchen 
auswärtigen Politik und beſonders in Bethmann Hollweg leider Bundesgenoſſen 
fanden. Noch können nicht alle Karten, mit denen in der deutſchen Politik ge- 
ſpielt worden iſt, aufgedeckt werden. Aber das läßt ſich doch heute ſchon ſagen: 
Wer da meint, das jetzt bevorſtehende Ergebnis zeige ja, daß alle ſorgenvollen Er- 
örterungen und Mahnrufe aus den national bewußten Kreiſen Deutſchlands 
überflüſſig geweſen ſeien, der gibt ſich einem ſchweren Irrtum hin. Richtig 
iſt, daß die Macht der von den Waffen geſchaffenen Tatſachen allmählich über alle 
Reden und Phraſen zur Tagesordnung übergegangen iſt. Aber ebenſo richtig 
iſt, daß dieſe Macht der Tatſachen doch auch mit einer Fülle von perſönlicher 
Energie hat in den Vordergrund gerückt werden müſſen, um jene Widerſtände zu 
überwinden und die auswärtige Politik des Reiches günſtig zu beeinfluſſen. Daß 
große Teile des Volkes ſich deutlich hinter die ſtarke militäriſche Führung ge⸗ 
ſtellt haben, hat ſicherlich mit dazu beigetragen, den getreuen Ekkeharden unſeres 
Volkes den manchmal ſehr kritiſchen Kampf für die deutſchen Lebensnot- 
wendigkeiten im Oſten zu erleichtern. Die Geſchichte iſt wahrheitsliebend. 
Die Wahrheit kann in Zeiten wie dieſen wohl eine geraume Weile verdunkelt 
werden; ſpäter aber wird ſie nicht dulden, daß der Lorbeer an unrichtigen Stirnen 
hängt. Oann wird ſie uns zeigen, daß Hindenburg und Ludendorff nicht 
nur deshalb unſeren heißen Dank verdienen, weil ſie unſer Volk zum Sieg auf 
den Schlachtfeldern geführt haben. 

Was das deutſche Volk jetzt zu gewinnen im Begriff ſteht, wird vielen erſt 
allmählich klar ins Bewußtſein treten. Wenn früher in Oeutſchland weitſchauende 
Männer die Peipusgrenze als die gegebene Sicherung gegen Nußland bezeich⸗ 
neten, ſo ſah man ſie vielfach mitleidig lächelnd an. Heute — und vermutlich 


7 


Türmers Tagebuch ö 179 


dauernd — reicht die deutſche Macht bis zum Peipus. Gewiß, die deutſchen 
Schlachterfolge haben dies Wunder vollbracht. Aber hat je ein Vernünftiger 
die Peipusgrenze auch für den Fall gefordert, daß die militäriſche Lage ihre Ge- 
winnung nicht geſtattete? Nun erſt zeigt ſich, wie bedenklich ein Bethmann— 
ſcher Kleinmut war, der es für notwendig hielt, das deutſche Volk den größten 
aller Kriege ohne Ziele durchkämpfen zu laſſen. Nie ſind dem deutſchen Volk 
von irgendeinem Alldeutſchen weitere Ziele geſteckt worden, als die ſind, die der 
Hindenburgfhe Glaube an den Sieg nun als erreicht vor uns hingeſtellt hat. 
Woraus die Kleingläubigen und Schwachmütigen die Lehre ziehen mögen, daß 
nicht Skeptizismus und Peſſimismus es ſind, die zur Leiſtung führen, ſondern 
Wille und Glaube an die eigene Kraft. Sie erſt machen unmöglich Scheinendes 
möglich; denn ſie ſichern die reſtloſe Auslöſung der Kraft. — 

Durch Erfüllung der baltiſchen Wünſche werden die politiſche Macht— 
ſtellung und die wirtſchaftliche Kraft des Oeutſchen Reiches eine höchſt 
bedeutſame Erweiterung erfahren, während unter Bethmann Hollweg die amt- 
liche „Norddeutſche Allgemeine Zeitung“ ſchreiben konnte, daß Deutſchland weder 
eine politiſche noch eine wirtſchaftliche Machterweiterung anſtrebe. Die Zeiten 
einer ſolchen elenden Bankerotterklärung ſind alſo nun wohl endgültig 
vorüber. Die Geſchichte hat es mit dem deutſchen Volke beſſer gemeint und ſeine 
Lebensbedürfniſſe richtiger erkannt, als ſeine eigenen Staatsmänner. 

Was die politiſche Machterweiterung angeht, ſo liegt ſie zunächſt einmal 
in der Herſtellung einer ſicheren, militäriſch leicht zu verteidigenden Grenze 
nach Rußland hin; zum großen Teil wird es ſich um eine Waſſergrenze handeln. 
Des weiteren liegt ein ſtarker Machtzuwachs in der militäriſchen Eingliederung 
der Bevölkerung des Baltikums in das Deutſche Reich. Auf dem Boden der bal- 
tiſchen Provinzen ſaßen vor dem Krieg etwa 2½ Millionen Einwohner; es laſſen 
ſich ohne Schwierigkeit weitere 2 Millionen anſiedeln, ſo daß bei einer Aushebung 
von 10 % der Bevölkerung im Kriegsfall eine Heeresſtärke von 450000 Mann 
zur Verfügung ſtehen kann. Bedeutſamer jedoch als das iſt die Stellung, die 
Deutſchland in Zukunft in der Oſtſee zufallen wird. Mit Finnland im 
Schutz- und Trutzbündnis, auf das Finnland angewieſen iſt, und im Beſitz des 
Rigaiſchen Meerbuſens ſowie der vorgelagerten Fnſeln, beherrſcht die deutſche 
Flotte die geſamte Oſtſee ſo vollkommen, daß eine Durchbrechung dieſer Herrſchaft 
ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt. Sede weſt-öſtliche Verbindung zwiſchen Eng- 
land und Rußland über Skandinavien, wie ſie uns diesmal ſchweren Schaden 
zugefügt hat, iſt für zukünftige Kriege ummöglich gemacht. Statt deſſen wird 
Schweden auf die Dauer gar nicht anders können, als eine Politik zu treiben, 
die Hand in Hand mit derjenigen Deutfchlands geht. Eine Stellungnahme der 
ſchwediſchen Politik, wie ſie die vergangenen Kriegsjahre brachten, dürfte in Zu— 
kunft zu den Unmöglichkeiten gehören. | 

Was die wirtſchaftliche Machterweiterung angeht, die aus dem Baltikum 
dem Oeutſchen Reich zufließen wird, fo liegt ein großer Teil davon offen zutage 
als Folge der Herſtellung einer überragenden deutſchen Machtſtellung 
in der Oſtſee überhaupt. Damit wird die Oſtſee ein deutſches Handelsgebiet 
von ausſichtsreichſter Zukunft. .. Der Hinweis ſei noch gejtattet, was es 


180 Zürmers Tagebuch 


für die ganze deutſche Oſtſeeküſte und für ihre Häfen bedeuten würde, 
wenn einmal ein aufblühendes Baltikum und ein ſich wirtſchaftlich entwickelndes 
Finnland in engfter politiſcher Gemeinſchaft mit dem Oeutſchen Reiche ihre rieſigen 
Maſſen von Rohſtoffen und ſonſtigen Erzeugniſſen auf den Schiffahrtsmarkt 
der Oſtſee werfen und wenn fie andererfeits bedeutende Mengen induftrieller 
Erzeugniſſe aus Deutſchland für ihren Bedarf heranziehen werden. — 

Ein hervorragender Sachverſtändiger, Profeſſor Warmbold in Stuttgart- 
Hohenheim, hat den Verſuch gemacht, die Erzeugungswerte des Baltikums 
zu errechnen. Im Deutſchen Reich ernährt ein Quadratkilometer landwirtſchaft- 
licher Nutzfläche durchſchnittlich 166 Menſchen, nach Warmbold in den baltiſchen 
Provinzen nur 30—35. Nach dieſer Berechnung würden Kurland einen landwirt- 
ſchaftlichen Aberſchuß für 1496000, Livland und Eſtland einen ſolchen für 3080000 
Menſchen erzeugen können. Würde nun gar noch Litauen in das deutſche Wirt- 
ſchaftsgebiet eingegliedert werden, fo würde ein weiterer Überfhuß für 3360000 


— 


Menſchen erzeugt werden können; vier Fünftel des vor dem Krieg fo ge . 


waltigen deutſchen Einfuhrbedarfs an landwirtſchaftlichen Erzeug— 
niſſen wären damit gedeckt. An eine Aushungerung Deutſchlands 
wäre für abſehbare Zeit nicht mehr zu denken. 

Es liegt auf der Hand, welche Hinweiſe auf Siedlungsmöglichkeiten 
in den oben genannten Ziffern liegen. Man ſchätzt niedrig, wenn man mit der 
Möglichkeit rechnet, im Baltikum 2½ Millionen Menſchen landwirtſchaftlich anzu- 
ſiedeln. Dann erſt wäre die Bevölkerungsdichtigkeit auf den Stand der Provinz 
Oſtpreußen gebracht. Hocherfreuliche Ausſichten nicht nur für ſiedlungsluſtige 
heimkehrende Feldgraue, ſondern auch für die Rückwanderung von Deutſch— 
Ruſſen eröffnen ſich da dem Blick. Eine ſolche Anſiedlung in großem Maßſtab 
bedeutet eine gewaltige Kraftvermehrung des deutſchen Volkes; fie be- 
deutet eine militäriſche Stärkung, eine neue Grundlage wirtſchaftlicher Kraft, und 
endlich bringt fie die Ausſicht auf eine allmähliche (freiwillige! D. T.) Eindeutſchung 
der Letten und Eſten. Viele von ihnen neigen ohnehin zu der Anſicht, daß ſich die 
Volksſplitter der Eſten und Letten nicht auf die Dauer erhalten können; viele ſehen 
im Anſchluß an das Oeutſchtum ihren wirtſchaftlichen Vorteil, und es gibt der Bei- 
ſpiele genug, wo die Anſiedlung eines deutſch-ruſſiſchen Rückwanderers einen ſtark 
germaniſierenden Einfluß auf die benachbarten Lettenhöfe ausgeübt hat zuzeiten, da 
die ruſſiſche Regierung noch jeder Eindeutſchung ſchärfſten Widerſtand entgegenſetzte. 

Wer da weiß, welche wirtſchaftliche Kraft ein einziges der in Poſen von der 
Anſiedlungskommiſſion geſchaffenen deutſchen Bauerndörfer darſtellt, der iſt ſich klar 
darüber, daß eine deutſche Anſiedlung in großem Stil auf baltiſchem Boden für das 
ganze Oeutſche Reich weitere äußerſt bedeutſame Vorteile mit ſich bringt.. 

Dem ganzen deutſchen Volke erwachſen alſo auf wirtſchaftlichem, por 
litiſchem und militäriſchem Gebiete aus einer Bewilligung der Bitte, die die Ver⸗ 
einigten Landesräte an den Oeutſchen Raifer gerichtet haben, Vorteile, die jedem 
Einſichtigen als groß und wertvoll erſcheinen müſſen. Trotzdem finden wir ſchon 
jetzt Anſätze zu einem Widerſtand aus Oeutſchland ſelbſt, die charakteriſtiſch find für 
die theoretiſche Art, mit der man bei uns vielfach politiſche Probleme anſieht. 
Da ſchreibt z. B. der „Vorwärts“: 


Zürmers Tagebuch ö 181 


„Da der Friede mit Rußland bereits geſchloſſen iſt, und in dem Vertrag die 
Grenzlinie der von Rußland abgetrennten Gebiete endgültig feſtgelegt worden iſt, 
eine Grenzlinie, die Eſtland und Livland bei Rußland beläßt, ſo fehlt jede rechtliche 
Grundlage, den Wunſch der vereinigten Landesräte durchzuführen, ſelbſt wenn 
man deren Legitimation, um im Namen der Mehrheit der baltiſchen Völker zu 
ſprechen, anerkennen wollte. Bei der geſchilderten Zuſammenſetzung des Landes- 
rates muß aber die Legitimation überdies bezweifelt werden. Was die Landesräte 
von Deutichland verlangen, bedeutet einen feindlichen Angriff auf Rußland und 
einen Bruch des eben geſchloſſenen Friedensvertrages. Im übrigen ſind wir der 
Anſicht, daß die Entſcheidung über dieſes Geſuch nicht nur beim Deutſchen Kaiſer, 
ſondern beim deutſchen Volk liegt, deſſen Lebensintereſſe hierdurch berührt wird.“ 

Auch die „Frankfurter Zeitung“ läuft natürlich mäkelnd hinter der für Deutfch- 
land ſo günſtigen geſchichtlichen Entwicklung einher. Sie fragt ſich, ob der Vereinigte 
Landesrat als eine wirkliche Landes- und Volksvertretung angeſehen werden kann. 
Sie hält es weiter für recht bedenklich, wenn ſich die deutſche Politik allein und 
vorwiegend auf eine Bevölkerungsſchicht ſtützen wollte, die zwar in der Geſchichte 
ihre Bedeutung gehabt habe, die aber heute nicht mehr beanſpruchen könne, als 
die Vertretung des geſamten Volkes angeſehen zu werden. Der Reichskanzler 
Graf Hertling habe erſt vor einigen Wochen im Reichstage ausgeſprochen, Deutich- 
land denke gar nicht daran, ſich in Livland und Eſtland feſtzuſetzen, und Staats- 
ſekretär v. d. Busſche habe einige Wochen ſpäter nochmals ausdrücklich feſtgeſtellt, 
daß Eitland und Livland für das Deutfche Reich zunächſt als ruſſiſche Gebietsteile 
gelten. Es ſei alſo gar nicht abzuſehen, wie überhaupt der Wunſch des Vereinigten 
Landesrats von Livland und Eſtland ſolle erfüllt werden können, wenn der Friede 
von Breſt-Litowſk in Kraft bleibt. Am wenigſten ſcheine ihr der Beſchluß einer 
Körperſchaft wie des Vereinigten Landesrats von Riga eine Tatſache zu ſein, die 
ihr eine Politik im Sinne dieſer Körperſchaft für weniger eee und gefähr- 
lich halten ließe, als es bisher der Fall geweſen iſt. 

Wann endlich wird das deutſche Volk merken, daß Blätter dieſes Schlages 
nächſt unſeren Gegnern da draußen die ſchärfſten Feinde von Deutſchlands 
Macht und Größe ſind?“. 

In deutſchen demokratiſchen Kreiſen hört man die Oſtſeeprovinzen als aus- 
geſprochen „agrariſch-ariſtokratiſches“ Gebiet oft das „Land der Barone“ nennen, 
in dem das Bürgertum nichts zu ſagen habe und anders orientiert ſei als der Adel. 
Diefe die Tatſachen auf den Kopf ſtellende Mär weiſt Dr. H. Freiherr von Rofen 
in der Monatsſchrift „Deutſchlands Erneuerung“ als eine — bewußte oder 
unbewußte — Frreführung der reichsdeutſchen Öffentlichkeit mit 
Gründen, denen kein Ehrlicher ſich verſchließen kann, als durchaus unrichtig 
zurück: „Zunächſt ſind die folgenden ſtatiſtiſchen Zahlen zu beachten. Das baltiſche 
Deutſchtum beſteht aus: Bürgern 76 , Adligen 12 %, deutſchen Bauern 11 % 
(ſeit 1908 eingewandert) und Arbeitern etwa 1 %. Das deutſche Bürgertum nimmt 
hier aber nicht nur zahlenmäßig eine hervorragende Stellung ein, es iſt vor allem 
im Großhandel und der Induftrie faſt ausſchließlich vertreten, bildet in allen 
Städten die ſoziale Oberſchicht und hat in Riga und Reval für das baltiſche Gebiet 
eine noch weit größere Bedeutung gehabt als das Bürgertum der norddeutſchen 


182 Türmers Tagebuch 


Hanſeſtädte für Oeutſchland. Auch als eigentlicher Kulturfaktor hat das ſelbſt— 
bewußte, ſtolze und vornehme Bürgertum eine mindeſtens ebenſo maßgebende 
Rolle geſpielt wie der Adel und fein deutſches Volkstum ebenſo zähe und erfolg- 
reich verteidigt wie dieſer. Die kürzlich erfolgten Kundgebungen der Rigaer und 
Revaler Kaufmannſchaft nach ihrer Befreiung durch die deutſchen Waffen reden 
in diefer Beziehung eine genügend deutliche Sprache. Auch in den ſeit 1905 ge- 
gründeten ‚deutſchen Vereinen“, durch welche die Balten die Fahne des Oeutſch— 
tums auf allen Lebensgebieten hochzuhalten ſuchten, war das baltiſche Bürger- 
tum in erſter Linie vertreten. 

Was den baltiſchen Adel betrifft, ſo iſt er durchaus unverdient in den Ruf 
eines ‚ſtockreaktionären Funkertums“ gekommen, als welches er von den deutſchen 
Demokraten mit einer durch keinerlei Sachkenntnis getrübten Beharrlichkeit immer 
noch bezeichnet wird. Er hat im Gegenteil im 19. Jahrhundert eine fozial- 
politiſche Arbeit geleiſtet, die als durchaus muſtergültig bezeichnet wer— 
den muß: Die Leibeigenſchaft wurde wenige Fahre nach der Bauernbefreiung 
in Preußen, in dem Zeitraum von 1816 bis 1819 ohne jedes Zutun der Re— 
gierung aufgehoben. Ihren vollen Inhalt bekam die Emanzipation des Bauern- 
ſtandes erſt durch ſpätere Agrarreformen, die, in Livland beginnend, von 1849 
bis 1876 in allen drei Provinzen durchgeführt wurden. Den Kern dieſer Reformen 
bildete die Scheidung der Rittergüter in Hofesland und Bauernland, wobei der 
Beſitzer über das letztere nur das Eigentumsrecht, nicht aber das Verfügungsrecht 
behielt, indem er es nur an Bauern verpachten oder verkaufen durfte. 
Durch dieſe Agrarreform, die beſſer iſt als die Stein-Hardenbergſche Agrargeſetz— 
gebung in Preußen, weil fie weniger kapitaliſtiſch iſt und das wirtſchaftliche Oaſein 
des Bauernſtandes dauernd erfolgreicher ſicherſtellt, wurde nicht allein ein tüchtiger 
und wohlhabender Bauernſtand, ſondern tatſächlich ein Fideikommiß der geſamten 
Bauernſchaft begründet. So wurde in Livland ſchon 1849 das erreicht, was 
die liberale Partei in England auch nach der Annahme der Expropriations- 
bill von 1907 immer noch vergeblich erſtrebt. Gegenwärtig gibt es in den 
drei Provinzen 62771 Höfe von Großbauern von einer Durchſchnittsgröße von 
50 Hektar, außerdem noch viele grundbeſitzende Kleinbauern auf den Domänen. 

Auf die Entwicklung der lettiſchen und eſtniſchen Volksſchulen hat der 
Adel im Verein mit der Geiſtlichkeit viel Zeit, Mühe und Geldopfer verwandt. 
Bis zur zerſtörenden Einwirkung der Ruſſifizierung ſtand denn auch das baltiſche 
Volksſchulweſen, in dem der Schulzwang ſchon 1819 eingeführt war, auf einer 
recht hohen Stufe, ſo daß noch 1881 die Zahl der ſchulpflichtigen Kinder, die keine 
Schule beſuchten, nur 2 % betrug. Erſt durch das brutal-täppiſche Eingreifen der 
ruſſiſchen Regierung hat ſpäter die Zahl der Analphabeten beträchtlich zugenommen 
(ſchon 1899 waren es 20 % )). — Die von 1885 bis 1907 fortgeſetzten Ver— 
ſuche des baltiſchen Adels, eine liberale Verfaſſungsreform durch— 
zuführen, find von der Regierung ſämtlich als ‚allzu demokratiſch' 
zurückgewieſen worden. Es iſt noch beſonders zu beachten, daß alle eben kurz 
erwähnten ſozialen Errungenſchaften, die von der Regierung teils gehemmt, teils — 
wie auf dem Gebiet des Schulweſens — ganz zerſtört wurden, einzig und allein 
der ehrenamtlichen, unbeſoldeten Arbeit des Adels zu verdanken ſind. 


Tuͤrmers Tagebuch 185 


So ſehen die von der ruſſiſchen und deutſchen Demokratie ſo vielgeſchmähten 
„Junker“ in Wahrheit aus! | 

Eine kulturpolitiſch bewußte Stellung zum deutſchen Gedanken haben die 
Balten allgemein erſt ſeit 1870 eingenommen, ſeit die erſten Verſuche der Ruffi- 
fizierung einſetzten, die ja mit der Gründung des Deutſchen Reiches in einem ganz 
unmittelbaren pſychologiſchen Zuſammenhang ſtand. Die deutſchvölkiſche Ge— 
ſinnung der Balten, die Profeſſor Ludwig Schwabe aus Tübingen übrigens ſchon 
1864 als eine wahrhaft großzügige bezeichnete, nahm nach der Revolution von 
1905 noch einen mächtigen Aufſchwung, um 1914 nach den glänzenden deutſchen 
Siegen in hellen Flammen der Begeiſterung emporzulodern. Die Stellungnahme 
der Balten nach dem Kriegsbeginn war eine vollkommen klar vorgezeichnete, 
nachdem im Auguſt 1914 Goremykin den baltischen Vertretern erklärt hatte, Ruß- 
land führe nicht allein gegen Oeutſchland Krieg, ſondern gegen das Deutſchtum 
überhaupt, und nach dem ſchönen Bekenntnis des kurländiſchen Abgeordneten 
Fölkerſahm in der Duma: „Gott hat uns als Oeutſche geſchaffen und Deutſche 
werden wir immer bleiben!“ Dieſe im Moment der größten Gefahr 
und des ſchwerſten inneren Konfliktes abgegebene, mannhafte Erklärung darf 
als maßgebend für die Haltung der Balten überhaupt angeſehen werden. Die 
Zahl der Balten, die während des ganzen Krieges in den deutſchen 
Reihen gekämpft und geblutet haben, iſt eine ſehr viel größere, als 
man in Deutfhland annimmt. Von der Liebestätigkeit an deutſchen 
Kriegsgefangenen, denen die Balten oft ihr Letztes hingaben, iſt in 
der deutſchen Preſſe auch nur recht wenig die Rede geweſen. Bekanntlich wurden 
deswegen ſchon im Herbſt 1914 Hunderte von Balten nach Sibirien verſchleppt. 
Einer dieſer Balten, der aus Sibirien über Norwegen nach Berlin kam, ſagte mir: 
„Es war ſchön, daß man uns nach Sibirien brachte, denn dort konnten wir uns 
viel ungezwungener den deutſchen Kriegsgefangenen widmen!“ Sch glaube, 
daß die Art und Weiſe, wie ein gewiſſer, international orientierter 
Teil des deutſchen Volkes den Balten dieſe Liebestätigkeit gedankt 
hat, jedem anſtändig empfindenden Deutſchen die Schamröte ins Ge— 
ſicht treiben muß. Den Gipfel der Schamloſigkeit aber erreichte der Reichs- 
tagsabgeordnete Haaſe, als er am 20. Mätz in öffentlicher Sitzung erklärte: „Die 
Balten haben ihr deutſches Herz erſt entdeckt, als ihr Geldſack in Gefahr kam!“ 
Wie die eben erwähnten Tatſachen zeigen, haben die Balten ihr wahrhaft deutſches 
Herz jedenfalls viel früher „entdeckt“ als Herr Haaſe fein Bolſchewikiherz. Der 
Kaiſer aber, und mit ihm die Edelſten des deutſchen Volkes, haben dieſe Haltung 
der Balten nicht vergeſſen und handeln danach.“ 

Und die Letten und Eſten? „Auch unter ihnen hat ſich der ruſſiſche Bol- 
ſchewismus als die Macht erwieſen, die zwar das Böſe will, aber das Gute ſchafft, 
und damit lediglich der deutſchen Politik in die Hände gearbeitet. Denn heute gibt 
es ſicher keinen auch nur halbwegs verſtändigen Letten oder Eſten mehr, 
der nicht im Anſchluß an das Deutſche Reich die einzige Rettung für 
ſeine Heimat erblickt. Die phantaſtiſchen Träume einzelner Parteien von freien 
und unabhängigen lettiſchen oder eſtniſchen Republiken ſind vor den entſetzlichen 
Greueln der Bolſchewiki in ein Nichts zerflattert. Auf die verſchiedenen politiſchen 


184 Türmers Tagebuch 


Strömungen, die während des Krieges unter Letten und Eſten zutage traten, 
brauchen wir deshalb nicht mehr näher einzugehen. Nur das eine fei hier noch hervor- 
gehoben, daß der maßgebende Teil des eſtniſchen Volkes ſchon im Beginn des 
Krieges an dem endgültigen Siege der deutſchen Waffen nicht gezweifelt hat 
und in beſtändiger Fühlung mit den Finnländern und dem eſtländiſchen Adel 
feine ganze Politik danach richtete. Als die Eſten im Januar ſich durch die Friedens- 
verhandlungen in Litauiſch-Breſt enttäuſcht fühlten und auf die Hilfe Oeutſchlands 
nicht mehr rechneten, kamen fie wieder auf die ſchon im vorigen Sommer be- 
gonnenen Unterhandlungen mit England zurück, um auf jeden Fall von der 
ruſſiſchen Fäulnis erlöſt zu werden. Auch in Kurland hat der maßgebende Teil 
des lettiſchen Volkes in der Landesverſammlung vom 19. September und im Landes- 
rat bekanntlich für Deutſchland optiert; es iſt das ganz natürlich, da die Letten, 
ebenſo wie die Eſten, nur beim Anſchluß an ODeutſchland und unter möglichitem 
Ausſchluß des billigen agrariſchen Wettbewerbs Rußlands auf eine erſprießliche 
wirtſchaftliche Zukunft rechnen können. Was die von Herrn von Kühlmann in 
Litauiſch-Breſt zugeſicherte „Volksabſtimmung auf breitefter Grundlage“ betrifft, 
ſo wollen wir hier die Frage nicht näher unterſuchen, ob die deutſche Diplomatie 
den unverſchämten Forderungen der doktrinären Wirrköpfe aus Petersburg nicht 
viel zu weit entgegengekommen iſt. Wenn damit eine einfache Maſſenabſtimmung 
nach der Kopfzahl gemeint iſt, ſo würde eine ſolche von den lettiſchen und eſtniſchen 
Bauern ſchroff abgelehnt werden. Nicht Majoritäten, ſondern Autoritäten 
genießen das ausſchließliche Vertrauen, namentlich der nüchtern und praktiſch 
angelegten Eſten. Als Autoritäten gelten ihnen aber nicht politiſche Schwätzer, 
ſondern die aus ihrer Mitte gewählten, ſehr tüchtigen Gemeindebeamten, 
die vielfach ſchon ſeit langen Fahren ihres Amtes walten. Eine Volksabſtimmung 
könnte in dieſen agrariſchen Gebieten deshalb nur in derſelben Weiſe zugelaſſen 
werden, wie in Kurland und auf den eſtniſchen Inſeln, wo ſie nach den einzelnen 
Gemeinden durch die Gemeindevertreter vollzogen wurde. Sie haben ſich bekannt- 
lich ausnahmslos für Deutſchland entſchieden. Bei einer Pöbelabſtimmung nach 
der Kopfzahl würde dagegen vorausſichtlich engliſches Geld den Ausſchlag 
geben. Letten, Eſten und Deutſchbalten ſtimmen aber darin vollkommen überein, 
daß die im Präliminarfrieden vorläufig feſtgeſetzte Grenzlinie, die alle drei Stämme 
in zwei Stücke zerreißt, die unglücklichſte und unmöglichſte iſt, die man ſich 
überhaupt hätte ausdenken können. Einzig und allein die ſtrategiſche Linie 
Moltkes an der Narowa und dem Peipus entſpricht den Intereſſen der baltiſchen 
Geſamtbevölkerung und gleichzeitig der militäriſchen Sicherung des Deutſchen 
Reiches nach Nordoſten. Auch die Entſchließung des kurländiſchen Landtages 
betonte ja die Unteilbarkeit des ganzen baltischen Gebietes, deſſen Provinzen 
jahrhundertelang Freud und Leid miteinander geteilt haben. Die übereinſtimmende 
Bitte der drei Landesvertretungen in Mitau, Riga und Reval um einen engen 
Anſchluß an Deutſchland entſpricht deshalb im weſentlichen durchaus den Wünſchen 
der Geſamtbevölkerung, ſoweit fie überhaupt für Ordnung, Recht und Geſetz ein- 
tritt. Und Oeutſchland muß dieſen Wünſchen im vollen Maße Rechnung tragen, 
nicht allein aus Gründen der politiſchen Moral, ſondern vor allem im eigenen 
realpolitiſchen und wirtſchaftlichen Intereſſe.“ 


x 


(IN 


I 
2 — 
2 


Craf Hertling als Reichskanzler 


6" Herr in hohen Jahren, der das Amt 
nicht leicht übernommen hat. Der aber 
doch in der kurzen Zeit ſeiner Kanzlerſchaft 


Beſſeres geleiftet hat, als Bethmann Hollweg 


in der viel zu langen, die ihm — Gott ſei's ge- 
llagt! — zur Betätigung feiner an das Aben- 
teuerliche grenzenden Unfähigkeit mit ſchwer⸗ 
ſter Schädigung des deutſchen Volkes und der 
mitblutenden Menſchheit vergönnt war. Graf 
Hertling hat das Neich nicht geſchädigt. Das 
will — nach Bethmann Hollweg — auch und 
viel ſchon bedeuten. 

Graf Hertling hat den von gewiſſenloſen, 
Vielfach von unſeren Feinden bezahlten Hetzern 
um alle Vernunft gebrachten Rüſtungs- 
ſtreltern zwar ſpät, aber noch nicht zu fpät 
eine feſte Hand gezeigt. 

Er hat Herrn Erzbergers überannerio- 
ſiſtiſche perjönliche Gelüfte immerhin etwas 
gedampft, es wird ſogar — ohne Einſprache — 
behauptet, daß er beſagten Herrn nicht mehr 
empfängt. 

Er hat die Angliederung Balten- 
lands an das Deutfche Reich namens Seiner 
Rojeftät des Raifers begrüßt und mit Wärme 
begrüßt. Das hätte Graf Hertling nicht getan, 
wenn er nicht ſelbſt von der Gerechtigkeit die- 
ſer Lſung auch und zuallererſt für die Wohl- 
fahrt des Deutſchen Reiches überzeugt wäre. 
Es bleibt ihm freilich noch manches zu tun 
übrig. Das nächſte wäre, — für einen feiner 
Aufgabe gewachſenen Nachfolger Herrn 
don Kühlmanns zu forgen. Denn daß dieſer 
gere mit feiner Leporelloliſte politiſcher Ver⸗ 
ſagungen (man denke nur an Breſt-Litowſk 
und die Friedens verhandlungen mit Rumä- 


IT, 


MIT 


r ( 2 2 


nien, überhaupt feine Rolle als „Junger 


Mann“ des Grafen Czernin) eine politiſche 
Unmöglichkeit, ein ärgerlicher Druck auf 
den Siegeswillen unferes Volkes iſt, unter- 
liegt doch wohl keinem Zweifel mehr. Eine 
der letzten Säulen, an die ſich die Hoffnung 
unſerer Feinde klammert, was aber nichts Ge⸗ 
ringeres bedeutet und tatſächlich ſchon be- 
deutet hat, als Kriegs verlängerung. 
Keine Krokodilstränen werden ihm nur nach- 
weinen Herr Erzberger, der dann u. a. nicht 
mehr in der Lage wäre, einzelne Eſten und 
Litauer gegen einen Anſchluß an das Deutſche 
Reich auszuſpielen; das „Berliner Tageblatt“, 
der „Vorwärts“ und die „Frankfurter Zei- 
tung“. 

Kein aufrechter Deutſcher, außer dieſen 
Kreiſen, nimmt ja Herrn von Kühlmann 
politiſch noch ernſt. Unjere Feinde zwar ſetzen 
allerhand Hoffnungen auf ihn, aber ernſt 
nehmen ſie ihn noch weniger als wir. 

Wenn der Reichskanzler Graf. Hertling aus 
dieſer tatſächlichen Lage die Folgerungen 
zöge, würde er fi nicht nur um das Deutſche 
Reich, ſondern auch um das deutſche Katho⸗ 
likentum und damit den Bekenntnis 
frieden hohes Verdienſt erwerben. Dann 
würde auch jeder evangeliſche Deutſche freu- 
dig bekennen dürfen: Ein katholiſcher 
deutſcher Reichskanzler war es, der uns 
von der unnatürlichen Aufdringlichkeit und 
Zwangsläufigkeit einer Erzberger-Rühlmann- 
„Politik“ befreit hat. Aber — was recht iſt: 
wenn ſchon das Wort „Politik“ unvorſichtig 
gebraucht werden ſoll, dann langt Herr von 
Kühlmann an Herrn Erzberger noch lange 
nicht heran. Es ſoll keine Zronie ſein: an 
ſicherem Selbſtbewußtſein überragt Herr Erz- 


186 


berger ohne Zweifel Herrn von Kühlmann. 
Danach fragt aber Herr Paaſche, der jtell- 
vertretende Vorſitzende des Reichstages, nicht: 
Arm in Arm mit beiden fordert er fein Jahr- 
hundert in die Schranken und — ein Ver- 
trauensvotum nicht nur für Herrn von Kühl- 
mann, ſondern auch für Herrn Erzberger. 
Herr Paaſche „ſtabiliert“ demnach eine 
Solidarität der beiden Herren, und er 
wird dabei von einem geſunden politiſchen 
Inſtinkt geleitet. Denn — ohne Erzberger 
kein Kühlmann. Ohne „Berliner Tageblatt“, 
„Frankfurter Zeitung“, „Vorwärts“ weder 
Erzberger noch Kühlmann. Denn die „Ger- 
mania“ allein ſchafft's nicht mehr. 

Sollten ſich unſere katholiſchen Deutſchen 
nicht darauf beſinnen, in welche Abhängig- 
keit fie geraten und wie fie es mit ihrem reli- 
giöſen Bekenntnis noch vereinbaren können, 
wenn ihre Führung, ja ihre Mitbeſtimmung 
über alle Kultur- und Weltanſchauungsfragen 
von Gunſten und Gnaden der Bekenner zum 
„Berliner Tageblatt“, der „Frankfurter Zei- 
tung“, dem „Vorwärts“ bedingt und be- 
friſtet wird? Lehren die Beiſpiele in Frank- 
reich und Italien mit ihrer „Freimaurerei“ 
noch nicht genug? 

Ich bin evangeliſch. Aber aufs tiefſte be- 
klagen würde ich einen Zerfall des deutſchen 
katholiſchen Chriſtentums. Denn das würde 
einen Zerfall des Chriſtentums überhaupt 
nach ſich ziehen, — nicht für die Ewigkeit, 
aber doch zu unermeßlichem zeitlichem Scha- 
den. Wenn das katholiſche deutſche Chriſten- 
tum zerſetzt würde, was bliebe dann noch 
vom evangeliſchen übrig? Die beiden Aſte, 
einem Stamme entſprungen, können nur 
miteinander leben und ſterben. Oder — ab- 
geſtorben — ein phosphoreſzierendes Schein 
leben vorflimmern, wie in Welſchland, wo die 


atheiſtiſche, international-kapitaliſtiſche „Frei⸗ 


maurerei“ die Völker unterhöhlt hat und, wie 
aus dieſem Weltkriege hervortritt, für ſich 
verbluten läßt. 

Unfere deutſchen Katholiken müſſen ja 
wiſſen, ob eine Nützlichkeitspolitik für den 
Tag und den perſönlichen Erfolg, wie ſie 
von Herrn Erzberger in bekannter merkantil- 
politiſcher Hauſiererweiſe betrieben wird, die 


Auf der Warte 


Werte an Anſehen und Unabhängigkeit auf- 
wiegt, die dabei aufs Spiel geſetzt, um nicht 
zu ſagen: an die Meiſtbietenden verſteigert 
werden. 

Aber bei unſerem brüderlichen Zufammen- 
leben und kämpfen, deſſen Innigkeit ſich nie 
ſo herrlich offenbart hat, wie in dieſem Kriege, 
iſt das nicht nur eine katholiſche, ſondern eine 
allgemein deutſche Frage, für den Weiter- 
ſichtigen eine deutſche Lebens frage. Drau- 
Ben, bei unſeren Helden in Flandern und 
Frankreich, da gibt es ſolche Frage nicht. 
Müſſen wir uns nicht ſchämen, daß wir der- 
gleichen Ballaſt nicht von uns abwälzen 
können? Als könnte, ohne daran zu erſticken, 
irgendein Urwaldsaffe, der ſich zu uns ver- 
loren hat, das deutſche Volk mit dem „Wahl“ 
geſchrei äffen: „Hie Erzberger, Theodor 
Wolff, Kühl- und Scheidemann — hie 
Hindenburg und Ludendorff!“ Weil dem 
Affen die geliebten Gelegenheiten zum — 
Klettern entzogen worden ſind. 

Es iſt heute nicht die Zeit zum Spaßen 


und nicht die Zeit zu ſolchen Unterhaltungen. 


Und — fo glaube ich, ihn richtig zu ver- 
ſtehen —: Graf Hertling weiß, was er will. 
3. E. Frhr. v. Grotthuß 


* 


Zur Pſychologie des Barma- 


briefes 


bemerkt die „Deutſche Zeitung“: 

„Die moraliſche Wertung des Barma- 
briefs in der feindlichen wie in der neutralen 
Preſſe läßt fortgeſetzt an Deutlichkeit gegen- 
über ſeinem Verfaſſer nichts vermiſſen. Der 
deutſche Beurteiler wird dem gegenüber gut 
tun, nicht zu vergeſſen, daß es keineswegs 
reine ſittliche Entrüftung iſt, die den Kritikern 
des Kaiſers Karl die Feder führt, daß viel- 
mehr die Hoffnung, Berlin und Wien bei 
dieſer Gelegenheit unheilbar zu verletzen, die 
Feder im Uhrwerk iſt. 

Demgemäß wird bei dieſen Urteilen ſo gut 
wie durchweg eine Seite des Vorgangs 
totgeſchwiegen, die gerade im Hinblick 
auf die moraliſche Bedeutung des Vorgangs 
doch recht beträchtlich mit ins Gewicht fällt. 


Auf der Warte 


Auch anderwärts find unter dem erſten 
Eindruck der Entthronung der Roma- 
noffs um den bekannten Termin des 1. April 
herum im vergangenen Jahre Entſchlüſſe 
gefaßt worden und Dinge geſchehen, die als 
verfehlt und töricht heute längſt erkannt ſind. 
Nãheres hierüber iſt nicht nur in Paris und 
London, ſondern vor allen Dingen auch in 
Berlin zu erfahren. Einigermaßen richtig 
beurteilte man die Lage wohl allein in Wa- 
ſhington, wo man im Hinblick auf die mut- 
maßliche Gemütsverfaſſung gerade auch 
in der Wiener Hofburg den richtigen Augenblick 
für den Rieſenbluff der Kriegserklärung an 
Deutſchland als gekommen erkannte. Eine 
gleichzeitige Kriegserklärung an Oſterreich- 
Ungarn erfolgte nicht, worüber ſich die 
ſogenannte politiſche Welt nicht genug wun- 
dern konnte: man zog es vor, den amerikani- 
ſchen Botſchafter einſtweilen in Wien zu be- 
laſſen und dort das Eiſen zu ſchmieden, fo- 
lange es heiß war. An einflußreichen Ver- 
bündeten fehlte es dabei nicht; auch laſteten 
die Ernährungsſchwierigkeiten auf dem Reich, 
und Erzberger tuſchelte, daß es mit der Wider- 
ſtandskraft Deutſchlands nun auch ſo gut wie 
Matthäi am letzten ſei .. Zum Glück war 
die Monarchie als ſolche geſünder, als die 
ſeeliſche Verfaſſung dieſes oder jenes hohen 
Vetters des verunglückten Nikolai... .“ 


Kaiſerbrief und Kamarilla 


(EGesmartise Streiflichter auf die welt- 
bekannte „Affäre“ wirft ein Wiener 
Brief der „Deutſchen Tageszeitung“: 

„Es kann heute wohl offen zugeſtanden 
werden, daß die Abſendung des Kaiſerbriefes 
ohne Vorwiſſen und hinter dem Rücken des 
Miniſters des Auswärtigen erfolgt iſt, der 
auch nachträglich keine Kenntnis von dieſem 
Briefe erhalten hat, bis durch die Enthüllungen 
Clemenceaus die ganze Angelegenheit ans 
Licht gezogen wurde. Der Verfaſſer des 
Kaiſerbriefes ſoll der damalige Chef der 
Kaiſerlichen Kanzlei Graf Polzer ge— 
weſen ſein, der auch ſonſt der Urheber vieler 
verhängnisvoller Ratfchläge an den Kaiſer 
geweſen iſt. So war Graf Polzer einer der 


187 


Hauptinſpiratoren der Amneſtierung der: 
tſchechiſchen Hochverräter. Er war eine 
jener geheimen Triebkräfte, die in der Um- 
gebung des Kaiſers gegen das Bündnis 
mit dem Oeutſchen Reiche intriglerten. 
Graf Polzer hat auch die famoſe Denk- 
ſchrift des Hofrats Lammaſch hinter dem 
Rücken des Grafen Czernin dem Kaiſer in 
die Hände geſpielt. Graf Czernin erhielt 
davon damals durch den Kaiſer ſelbſt Kennt- 
nis und auf ſein energiſches Auftreten gegen 
die Kamarilla iſt damals der Sturz des Gra- 
fen Polzer zurückzuführen. Aber insgeheim 
dauerte der Einfluß Polzers fort, der auch 
ſeine Wohnung im Kaiſerlichen Schloſſe be- 
hielt. Offenbar auf die weiteren Intrigen 
Polzers und ſeiner Hintermänner ſind die 
Anſtimmigkeiten zurückzuführen, die in letzter 
Zeit zwiſchen dem Monarchen und ſeinem 
erſten Miniſter immer häufiger in die Er- 
ſcheinung traten, und die eingeſtandener- 
maßen ſchließlich den Rücktritt Czernins un- 
vermeidlich gemacht haben. So hatten es 
nach dem Breſt-Litowſker Frieden mit der 
Ukraine die Polen verſtanden, ſich hinter den 
Grafen Polzer zu ſtecken, und als Kaiſer Karl 
vor der Abſtimmung im öſterreichiſchen Ab- 
geordnetenhauſe über das Budgetproviſorium 
den Vorſtand des Polenklubs empfing, 
machte er den Polen Zuſagen bezüglich 
der Wiederherſtellung der Cholmer 
Grenzen, die faſt auf eine Desavouierung 
des Grafen Czernin hinausliefen. Auch die 
ſcharfe Erklärung des Grafen Czernin ſcheint 
unter dem Eindruck der Natſchläge des Grafen 
Polzer bei Hofe verſtimmt zu haben, und 
merkwürdigerweiſe waren die Tſchechen ſo- 
fort in Kenntnis dieſer Auffaſſung bei 
Hofe, ſo daß ſie ſich in ihrem Sturmlauf gegen 
den Grafen Czernin keinen Zwang aufzu- 
erlegen brauchten. Schon damals, alfo noch 
vor der Kaiſerbriefaffäre, brachten die 
tſchechiſchen Blätter triumphierend die Nach- 
richt, daß die Tage des Grafen Czernin ge- 
zählt ſeien und daß feine Rede an die Ab- 
ordnung der Stadt Wien gewiſſermaßen als 
der Schwanengeſang des Miniſters zu be- 


trachten ſei.“ 
EN 


188 


Warum? 


arum ſind unſere Feinde nicht auf 
Kaiſer Karls Friedensangebot, das 
ſie für echt gehalten haben und halten mußten, 
eingegangen? Nur eine Antwort gibt es, 
meint die „Deutſche Politik“: „Es bot den 


„Befreiern“ Belgiens, Elſaß-Lothringens und 


der ‚unerlöjten Gebiete‘ zu wenig. Trotz oder 
vielmehr gerade wegen der ruſſiſchen Re- 
volution hofften ſie auf mehr, auf die volle 
Erreichung ihrer Kriegsziele. Die friedens- 
verdächtige ruſſiſche Hofpartei war beſeitigt. 
Die Öfterreicher, innerlich zermürbt, militä- 
riſch an zwei Fronten gefeſſelt, ſchienen eine 
leichte Beute der Italiener und Ruſſen. Meſo- 
potamien, Arabien und Kleinaſien lagen 
offen zu ihren Füßen; die Armee Sarrails, 
verſtärkt durch die Griechen, ſollte Rache an 
Bulgarien nehmen. Im Weſten fühlten ſich 
Briten und Franzoſen im Bund mit Amerika 
uns ſtrategiſch und taktiſch überlegen. So 
ſahen fie in dem Brief des Kaiſers Karl 
das langerſehnte Zeichen der Ver- 
zweiflung, die Erkenntnis völliger 
Hoffnungsloſigkeit. Deshalb erſchien 
ihnen ein Frieden, der ihnen beim erſten 
Angebot bereits die Wiederherſtellung und 
Entſchädigung Belgiens, die ‚gerechte Rege- 
lung“ Elſaß-Lothringens, d. h. die Abtretung 
in diplomatiſch verhüllter Form, die Wieder- 
aufrichtung Serbiens an Hand gab, als ein 
„Verzichtfrieden“, und deshalb e ſie 
die Antwort den Kanonen.“ 


** 


Der Weltkrieg iſt keine Fami⸗ 
lienangelegenheit 


n der „Glocke“ (Nr. 3) ſchreibt der Reichs- 
J tagsabgeordnete Dr. Paul Leuſch: 

„Es iſt gewiß etwas Rũhrendes, wenn man 
zärtliche Verwandte zu betrachten Gelegen- 
heit hat. Allein der Brief, den der junge Karl 
an den jungen Sixtus hinter dem Rüden feines 
Auswärtigen Miniſters gerichtet, war nicht, 
wie die k. u. k. Depeſche uns einreden will, 
ein ganz privater und zärtlicher Verwandten- 
brief, ſondern ein hochpolitiſcher Akt erſten 


Auf der Warte 


Grades. Niemand wird dem öſterreichiſchen 
Kaiſer verdenken, man wird ihm vielmehr da- 


für Dank wiſſen, daß er ſich an feinem Teile 
bemüht, dem Kriege ein Ende zu machen, und 


wenn er glaubte, die ausgedehnte Verwandt 
ſchaft ſeiner Frau zu dieſem Zwecke benutzen 


zu können, ſo ſoll uns auch das recht ſein. 


Allein daß der Kaiſer ſelber mit einem eigen 
händigen Schreiben an eine im feindlichen 
Lager ſtehende Perſönlichkeit dieſe Verhand- 
lungen anzuknüpfen ſucht und von ſeinem 
Schritt weder feinen Verbündeten noch fei- 
nem Minifter vorher Mitteilung macht und 
ihren Rat einholt, iſt eine Ungeheuerlichkeit, 
die wir uns aufs entſchiedenſte verbitten müf- 
ſen. Der Weltkrieg iſt keine Zamilienangelegen- 
heit der Familie Habsburg, und gerade well 
der Kaiſer noch jung iſt und Verhältniſſen ent- 
ſtammt, die ihn nicht. von Haus aus zum 
Thronerben beſtimmten, war es doppelt ſeine 
Pflicht, jeden Schritt auf weltpolitiſchem Ge- 
biet mit äußerjter Vorſicht zu tun, da cr feine 
mangelnde Vertrautheit mit dieſen Dingen 
in Erwägung ziehen mußte. Graf Czernin 
hat aus der Anterlaſſung des Kaiſers die 
allein möglichen Konſequenzen gezogen und 
hat darauf verzichtet, noch länger die Politik 
eines Reiches zu leiten, das ſo augenſcheinlich 
dem Stadium der Kabinetts- oder vielmehr 
Verwandtenpolitik noch nicht entwachſen iſt.“ 


* 


Die Prinzen des Hauſes Bour- 
bon⸗Parma 


er verſtorbene Herzog von Parma, aus 

dem Haufe Bourbon, der auf dem 
Schloſſe Schwarzau in Niederöſterreich lebte, 
hat 18 Kinder hinterlaſſen. Durch die Ver- 
mählung feiner Tochter Zita mit dem da- 
maligen Thronfolger von Öfterreih und Un- 
garn trat das ſchon mehrfach mit dem Erz- 
hauſe verſchwägerte franzöſiſche Prätendenten- 
geſchlecht in allerengſte Beziehung zur Habs 
burg-Lothringiſchen Oynaſtie. Es iſt begreif- 
lich, daß ſich unter dieſen Umftänden das 
öffentliche Intereſſe unter dem Eindrucke der 
bekannten Briefgeſchichte, die den Rücktritt 
des Grafen Czernin bewirkt hat, den derzeit 


Auf der Warte 


in Frankreich weilenden beiden Prinzen von 
Bourbon-Parma, — fie nannten ſich bei- 
läufig bemerkt bis zum Weltkriege Barma- 
Bourbon — ganz beſonders zuwendet. So 
machte kürzlich durch alle öſterreichiſchen und 
ungariſchen Blätter folgende Nachricht die 
Runde: „Von den wehrfähigen Prinzen des 
Hauſes Parma find bloß zwei in der öfter- 
reichiſch ungariſchen Armee geblieben, be- 
ziehungsweiſe während des Krieges in die- 
ſelbe eingetreten, während die zwei anderen, 
darunter der Prinz Sixtus von Parma, an 
welchen der Kaiſer den bekannten Brief ge- 
richtet hat, nach der Kriegserklärung Frank- 
reichs an die Mittelmächte das Schloß 
Schwarzau in Niederöſterreich verließen und 
ſich der franzöſiſchen Regierung, wenn auch 
nicht als Rombattanten, wie dies Prinz Vaime 
de Bourbon, der Sohn des verſtorbenen 
Prinzen Don Carlos (von Spanien) in Ruß- 
land getan, ſo doch für die Sanitätspflege der 
franzöſiſchen Armee zur Verfügung ſtellten. 
Die franzöſiſche Regierung hielt ſich jedoch 
genau an das Prätendentengeſetz, welches im 
Jahre 1875 vom franzöſiſchen Parlamente 
angenommen wurde. Dieſes Geſetz verlangt, 
daß die in Frankreich lebenden männlichen 


Familienmitglieder des Hauſes Bourbon das 


Land verlaſſen, ferner daß die Mitglieder 
jener fürſtlichen Familien, welche einmal in 
Frankreich regiert haben, in die franzöſiſche 
Armee nicht aufgenommen werden dürfen. 
Es ſind dies die Familien Bonaparte, Or- 
leans und Bourbon. Zur letzteren gehört 
auch das Haus Parma. Die franzöſiſche Ne- 
gierung lehnte daher das Anerbieten der 
beiden Brüder von Parma ab, worauf Prinz 
Sixtus von Parma und ſein Bruder Prinz 
Kaver ihre Dienſte als Sanitätsoffiziere der 
belgiſchen Regierung angeboten haben, welche 
ihre Dienſte annahm. Von Anfang an 
ſuchten die beiden Prinzen in den 
hohen Pariſer Kreiſen, in denen ſie 
verkehrten, eine für Öfterreich freund- 
liche Stimmung zu wecken, und Prinz 
Sixtus gelang es tatſächlich nach und 
nach, das Vertrauen der maßgeben— 
den franzöſiſchen Kreiſe zu gewin- 
nen.“ ; 


189 


Soweit die mit Genehmigung der Militär- 
zenſur durch alle Blätter der Monarchie ge- 
gangene Meldung. Nimmt man hiezu, daß 
die beiden genannten Prinzen, ſeit Kriegs- 
beginn trotz ihrer Angehörigkeit zur Armee 
eines mit der Monarchie im Kriegszuſtand 
befindlichen Staates wiederholt auf öſter⸗ 
reichiſchem Boden, ja in der Neichshauptſtadt 
weilten, ſo erſt kürzlich anläßlich der Geburt 
des jüngſten Kindes des kaiſerlichen Paares, 
daß es dabei, wie man ſpricht, einer gewiſſen 
Überredung bedurfte, fie davon abzuhalten, 
in belgiſcher Uniform aufzutreten, fo erhält 
man ein Bild, das ficherlich des eigentüm- 
lichen Reizes nicht entbehrt. Ob es freilich 
geeignet iſt, im verbündeten Deutſchen Reiche 
ſehr erbaulich zu wirken, iſt eine andere Frage, 
zumal wenn man bedenkt, daß es die Stellung 
eines franzöſiſchen Prätendenten allerdings 
weſentlich verbeſſern müßte, wenn er in der 
Lage wäre, ſeinem „Vaterlande“ das Elſaß 
und Lothringen anbieten zu können. -id- 


* 


Feindliche Maſſenverbreitung 
der Lichnowſkyſchen Denk⸗ 
ſchrift 


er durfte es anders erwarten? Konn- 

ten ſich unſere Feinde ſtärkere und 
willkommenere Trümpfe auch nur wünſchen, 
als die ihnen von einem früheren Botſchafter 
des Deutſchen Reiches, noch dazu des Lon- 
doner, in die Hand geſpielten? So werden 
denn jetzt die Aufzeichnungen des Fürſten 
Lichnowſky in Maſſenauflagen zur Propa- 
ganda gegen uns verbreitet. In England 
ſind gleich zwei Ausgaben erſchienen. Die 
„Luxusausgabe“ wird von der Firma Caſſell 
herausgegeben und koſtet 6 Pence (50 Pfen- 
nig). Sie iſt mit einem Vorwort von Pro- 
feſſor Gilbert Murray verſehen. Dieſe Aus- 
gabe war in kurzer Zeit vergriffen. Die 
zweite Ausgabe von zwei Millionen Stück 
enthält auf 12 Blattſeiten die vom engliſchen 
Standpunkt wichtigen Teile der Aufzeich- 
nungen Lichnowſkys und wird unentgelt- 
lich verteilt. Der Titel iſt — „Schuldig“! 


* 


190 


Baltenlands Selbſtbeſtim⸗ 
mungsrecht 


m 12. April ds. Js. hat der Vereinigte 

Landrat von Livland, Eſtland, Oſel 
und Riga jene Entſchließung gefaßt, der nun- 
mehr vom Oeutſchen Reichskanzler im Auf- 
trage des Deutſchen Kaiſers in der bekannten 
hocherfreulichen Weiſe grundſätzlich zugeſtimmt 
worden iſt. Alle Parteien des Deutſchen 
Reichstages mit Ausſchluß lediglich der So- 
zialiſten werden dem kaum Widerſtand ent- 
gegenſetzen und ebenſowenig bezweifeln, daß 
die Entſchließung durchaus unanfechtbar 
iſt. um aber in dieſer Hinſicht auch den 
gegenteiligen Einwürfen der Sozialdemo- 
kratie beider Richtungen, wie auch der Boliche- 
wiki und der feindlichen Staatsmänner und 
Preſſe von vornherein die Spitze abzubrechen, 
weiſt der „Oeutſche Kurier“ u. a. aus der 
Zuſammenſetzung des Landrates nach, daß 
er die denkbar beſte Form der Vertretung 
des Landes darſtellt: 

Sn den Städten wählten die Stadt- 
verordnetenverſammlungen die Vertreter in 
den Landesrat, wobei noch eine berufs- 
ſtändiſche Vertretung von Handel und In- 
duſtrie und Hochſchulen vorgeſehen waren, 
auf dem Lande wählten von den Landguͤtern 
die Gutsbeſitzer (Adel und Bürger), von den 
Landgemeinden die von den Gemeindeaus- 
ſchüſſen gewählten Gemeindeälteſten. Die 
Gemeindeausſchüſſe, die ſchon vor der Revo- 
lution beſtanden, ſetzen ſich paritätiſch zu- 
ſammen aus Kleingrundbeſitzern und land- 
loſen Landarbeitern; da hier alſo der Groß- 
grundbeſitz ganz fehlte, fo iſt jeder Gemeinde- 
älteſte direkter Vertreter des Kleingrund- 
beſitzes und der landloſen Arbeiter. Als 
Grundprinzip bei der Wahl war volle Bari- 
tät aufgeſtellt worden: Parität zwiſchen 
Klein- und Großgrundbeſitz, zwiſchen Stadt 
und Land, zwiſchen Deutſchen und Letten, 
Deutfhen und Eſten und ebenſo Parität 
unter den Vertretern der Geiſtlichkeit. 

So bot der aus 24 Vertretern Livlands, 
15 Eſtlands, 14 Rigas und 5 Öfels zufammen- 
geſetzte Landesrat die beſte Gewähr, daß ſein 
ſo ungemein weittragender Beſchluß vom 


Auf der Varte 


12. April der Stimmung und dem Willen 
aller Stämme der baltiſchen Provinzen in 
jeder Hinſicht entſprach. 


. 


Die Neutralität des Päpſtlichen 
Stuhles 


o vollkommen unparteiiſch, wie von 
klerikaler Seite behauptet wird, iſt die 
Neutralität des Päpſtlichen Stuhles gegen- 
über den Kriegführenden in Wirklichkeit nicht 
geweſen. Das zeigte ſich u. a. bei der Ver- 
teilung von Unterſtützungsgeldern. Für das 
von den Ruſſen heimgeſuchte Oſtpreußen be- 
willigte der Papſt 10000 Mark zur Verfügung 
des Biſchofs von Frauenberg, dagegen für 
die durch den Krieg verwüſteten Gegenden 
Frankreichs 48000 Mark, für Belgien gegen 
140000, für Litauen 1,3, für Polen mehr als 
3 Millionen Mark und zwar nicht zur Der- 
fügung der polniſchen Biſchöfe, ſondern für 
Großpolen zu Händen des polniſchen Hilfs- 
ausſchuſſes in Vevey. Das päpſtliche Tage- 
blatt „Osservatore Romano“ in Rom brachte 
alle die üblen Erfindungen von deutſchen 
Greueln und Untaten, wie fie der „Agenzia 
Stefani“ aus London übermittelt wurden, 
ohne ſie richtigzuſtellen. Offen deutſchfeindlich 
zeigte ſich oft genug das andere halbamtliche 
Organ des Päpſtlichen Stuhles, die von den 
Zefuiten geleitete „Unita Cattolica“. 
Nähere Angaben über die zweifelhafte 
Neutralität des Päpſtlichen Stuhls enthält 
die beachtenswerte Schrift „Papſt, Kurie und 
Weltkrieg“. Hiſtoriſch-kritiſche Studie von 
einem Deutſchen (Berlin 1918, Säemanns 
Verlag). Hinzuzufügen wäre den begründe 
ten Angaben dieſer Schrift noch der Brief des 
Kardinalſtaatsſekretärs Gaſparri von Ende 
Oktober 1917 an den Erzbiſchof von Sens, 
worin namens des Papſtes die Aufhebung 
der allgemeinen Wehrpflicht in allen Staaten 
gefordert wurde. Wer ſich widerſetze, ſoll 
vor ein Schiedsgericht geſtellt werden. Eng” 
land und Nordamerika hätten nur gezwungen 
die Wehrpflicht eingeführt. Seit mehr als 
einem Jahrhundert habe die Wehrpflicht die 
menſchliche Geſellſchaft mit ſchweren Leiden 


Auf der Warte 


bedruckt. Die Beſeitigung der Wehrpflicht 
würde den allgemeinen Frieden ſichern uſw. 
Mit feinen Vorwürfen zielte der Rardinal- 
ſtaatsſekretär unverkennbar auf Oeutſchland, 
wo die Wehrpflicht zuerſt eingeführt wurde, 
uͤberſah aber dabei, daß gerade Staaten ohne 
allgemeine Wehrpflicht wie England mit 
feinem Söldnerheer, Rußland, die nord- 
amerikaniſche Union und andere amerikaniſche 
Republiken am häufigſten Kriege führten 
und felbft Eroberungskriege vom Zaun bra- 
chen. Die allgemeine Wehrpflicht iſt nicht 
eine Kriegsurſache, ſondern eine Friedens! 
bürgſchaft, weil fie jedem Staatsbürger die 
Teilnahme und zugleich die Verantwortlich 
keit für den Krieg auferlegt. 

Genug, der Päpſtliche Stuhl beobachtete 
gegenüber dem Vielverband eine ausnehmend 
wohlwollende Neutralität, nicht aber auch 
gegenüber den Mittelmächten, obwohl im 
Vielverband das proteſtantiſche England den 
Ton angibt, die franzöſiſche Republik mit der 
Kirche zerfallen iſt, Stalien als ihr Bedrücker 
und Rußland als ihr Feind erſcheint, während 
man in Wien dem Papſt ſtets ehrerbietige 
Ergebenheit zeigte und in Deutſchland Zen- 
trumsmänner wie der Abg. Erzberger zu 
Einfluß gelangten und Graf Hertling Reichs- 
kanzler wurde. Wie war es möglich, daß es 
trotz alledem der deutſchen und öſterreichiſchen 
Diplomatie nicht glückte, die wohlwollende 
Neutralität des Päpſtlichen Stuhls zu er- 
langen? P. D. 


* 


Wo bleibt das deutſche Inter⸗ 
eſſe ? 


Wi im „Berliner Tageblatt“ von 
Dr. Paul Nathan unzweifelhaft rich- 
tig verſichert wird, hat die deutſche Regie- 
rung beſondere Beſtimmungen in den 
Friedensvertrag mit Rumänien auf— 
nehmen laſſen, durch welche die Eman- 
zipation der rumäniſchen Juden ſicher- 
geſtellt werden ſoll. Demgegenüber wirft die 
„Oeutſche Tageszeitung“ die Frage auf: 
„Velchen tatſächlich zureichenden Grund 
konnte gerade das Oeutſche Reich haben, 


191 


dem rumäniſchen Volke gegenüber auch noch 
dieſes Odium auf ſich zu nehmen? Es iſt uns 
wohlbekannt, daß man hier dem Ergebniſſe 
der Arbeit der Alliance israélite universelle 
in Berlin gegenüberſteht, der Kauſal- 
zuſammenhang iſt klar genug. Vielleicht iſt 
aber doch die beſcheidene Frage geſtattet, 
wie denn das deutſche Intereſſe in Rumä- 
nien dabei fortkommt. Die Antwort iſt für 
jeden, der die tatſächlichen Verhältniſſe kennt, 
klar: Die Erbitterung der Rumänen wird fich 
gegen das Oeutſche Reich richten, dieſes kann 
nur Nachteile davon haben, zugunſten anderer 
Einflüſſe. Wie ſich dieſes Verfahren und dieſe 
oberflächliche Behandlung wichtiger Fragen 
mit einer gewiſſenhaft und gründlich durch- 
geführten Politik vereinigen läßt, beſonders 
wo gerade für das Deutſche Reich keinerlei 
Notwendigkeit beſtand, ſich vorzudräng en, 
vermögen wir nicht zu ſehen. Aber wahr- 
ſcheinlich war es der unnachahmliche Griff 


des geborenen Staatsmannes.“ 


Rumänien iſt bekanntlich am Werk, ſich 
Beßarabien anzugliedern. Hat die 
deutſche Regierung den im Süden Beß— 
arabiens ſiedelnden deutſchen Koloniſten 
einen Schutz ausbedungen? Ja oder nein? 
Wenn ja — welchen? 


11 


Kurzſichtigkeit der Hochfinanz 


& war in der Sitzung des Herrenhauſes 
vom 7. April 1911, als Herr Artur von 
Gwinner, Direktor der Deutſchen Bank, bei 
der Beratung des Staatshaushaltes die Mög- 
lichkeit von Anleihen in Kriegszeiten erörterte. 
Wie er damals behauptete, werde man in 
Kriegszeiten wahrſcheinlich gar nicht borgen 
können. Der nächſte Krieg werde mit Papier- 
geld geführt werden und mit Zwangsanleihen 
bei den Steuerzahlern etwa durch gewaltige 
Erhöhung der Ergänzungsſteuer. Herrn von 
Gwinner war es durchaus unklar, wie man 
die vielen Anleihen aufnehmen wolle, die für 
die Bedürfniſſe eines neuzeitlichen Krieges 
erforderlich ſeien. Denn die Militärfachver- 
ſtändigen hätten, wie er binzufüͤgte, von vielen 


192 


Milliarden geſprochen. Schließlich ſagte Herr 
von Gwinner: „Ich bin mir ſehr gewiß dar- 
über, daß man dieſe Anleihen eben nicht auf- 
nehmen kann.“ 

Inzwiſchen haben die deutſchen Kriegs- 
anleihen, die mit der letzten und achten ins- 
geſamt 87½ Milliarden Mark erbrachten, ge- 
zeigt, daß dieſer Sachverſtändige in einem er- 
ſtaunlichen Irrtum begriffen war. Da Herr 
von Gwinner als Vertreter der Berliner Hoch- 
finanz ins Herrenhaus berufen worden war 
und bei feinen Berufsgenoſſen nicht den ge- 


ringſten Widerſpruch hervorrief, fo iſt anzu- 


nehmen, daß damals die ganze Berliner Hoch- 
finanz den erſtaunlichen Irrtum ihres Ver- 
treters über die Kreditfähigkeit des Deutſchen 
Reiches und über die geldliche Leiftungsfähig- 
keit des deutſchen Volkes teilte. 

Schon vordem hatte ſich ein anderes Mit- 
glied der gochfinanz ähnliche bedenkliche 
Außerungen erlaubt. Auf dem Deutſchen 
Bankiertag von Anfang September 1907 
klagte Herr Warburg aus Hamburg über die 
angebliche „Zerſtörung der Börſe durch das 
Börſengeſetz“. Nach feiner Meinung habe das 
Börſengeſetz die Gefahr heraufbeſchworen, 
daß es im Kriegsfall dem Deutſchen Reich an 
den erforderlichen flüſſigen Mitteln fehlen 
werde. | 

Derartige Auslaſſungen mußten im feind- 


lichen Auslande die Meinung erwecken, 


Deutſchland ſei aus finanziellen Gründen 
außerſtande, einen großen Krieg zu führen. 
Ein Krieg gegen Deutſchland werde nur kurze 
Wochen dauern und müſſe mit einem Siege 
enden, da Oeutſchland finanziell bald zu- 
ſammenbrechen werde. Zum Überfluß hatte 
damals der Abgeordnete Gothein in der 
„Frankfurter Zeitung“ verkündet, daß Oeutſch⸗ 
land einen Land krieg in abſehbarer Zeit nicht 
zu befürchten hätte und deshalb zu Lande 
abruͤſten könne. 

Die Kurzſichtigkeit der Vertreter der Hoch; 
finanz war geeignet, die Rriegsluft der feind- 
lichen Mächte zu ermutigen, und iſt daher den 
Urſachen des großen Krieges einzureihen. 


Auf der Warte 


In Zukunft wird man hoffentlich beſſer unter 
richtete und weiterblickende Sachverſtändig e 
zu Rate ziehen. Herr v. Bethmann Hollweg 
freilich hatte noch Mitte 1916 Herrn Warburg 
als Geheimdiplomaten nach Stockholm ent- 


| 


ſendet. Die ruſſiſchen Vertreter waren bag 


erſtaunt, mit einem Nicht- Germanen verhan- 
deln zu müſſen, ließen Herrn Warburg ab- 
fallen und die geniale Bethmannſche Miſſion 


ſcheitern. P. D. 


Der Reichstag im Volksurteil 


at ſich der Reichstag ſchon durch ſeinen 
jammervollen Zuſammenbruch im Juli 
1917 als Quelle aller Flaumacherei erwiefen, 
ſo liefert jetzt der militäriſche Mitarbeiter der 


(freifinnigen!) „Voſſiſchen Zeitung“ noch | 


eine „padende“ Beſtätigung dafür: ‚ 

„Nun war es glücklich wieder einmal fo 
weit. Es iſt merkwürdig in dieſem Kriege, 
wie oft die Nervenſpannung einem großen 


Teil des deutſchen Publikums Halluzinationen 


aufnötigt. In Berlin ſagten es ſich die Men- 
ſchen ganz offen überall. „Im Reichstage 
ſagt man,, unſere Verluſte wären ungeheuer. 
„Irn Reichstage jagt man“, die Offenſive im 
Weſten ſei feſtgefahren. „Zm Reichstage ſagt 
man‘, der Feind fei viel ſtärker, als die Oberſte 
Heeresleitung bei Beginn der Offenſive an- 
genommen habe. „Im Reichstage ſagt man‘, 
wir hätten überhaupt keine Pferde mehr und 
könnten daher die Offenſive nicht fortſetzen. 
„Im Reichstage ſagt man!, das ganze Gelände 
vor Bpern fei ein großer See und darum un- 
paſſierbar. „Im Reichstage ſagt man“, alles 
Gebiet zwiſchen unſerer Amiens-Front und 
Paris ſei unterminiert und würde in die Luft 
fliegen. Es geht noch viel weiter, was man 
alles ‚im Reichstage“ geſagt haben ſoll, und 
was geglaubt wird.“ 

Lätzt ſich ein ſchärferes Urteil über dieſe 
Volksvertretung denken, als daß man ſich 
im Volke bei jeder Bangemacherei auf den 
Reichstag beruft?! 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bilbende Runft und Muſik: Dr. Rarl Storck 
Alle Zuschriften, Einſendungen uſw. nur au die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Serlin (Wannſeebahn) 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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IX. Jahrg. ertrs W 1918 5 —— 17 


Von Geld und anderen Dingen 
Von Kurt Schuder 


S INN ir ſtehen in der Erinnerungszeit an die größte Geiſtestat der neueren 
W » Menjchheitgefchichte, die ſich bezeichnenderweiſe in Deutſchland 

2 (9 . ereignet hat. 
1 8 WVirr ſtehen im Entſcheidungsjahr des Weltkrieges mit ſeinen 
tiefen, were Nöten und feiner düſteren und feierlichen Größe. — Weltkrieg nennen 
wir ihn, aber es iſt der deutſche Krieg. Wiederum iſt Oeutſchland der Brennpunkt 
eines weltgeſchichtlichen Geſchehens. Schon hierin liegt bei allem Andersgeartetſein 
dieſer beiden geſchichtlichen Höhenpunkte das, worin ſie zuſammentreffen. Alles 
menſchlich Anerhörte, mag es ein Geſicht haben, wie es will, iſt ſich ähnlich in irgend 
einer Weiſe, wenn auch ſonſt n ähnlich in feinem Urſprung, ver- 
ſchieden in ſeiner Wirkung. 

Die Reformation war die Tat der inneren Not, die Tat der menſchlichen 
Seele. Der Weltkrieg iſt die Tat der äußeren Not, der ſtaatlichen Seele. Aber 
was hat im Kriege der innere Menſch zu beanſpruchen, wo es nur gilt, mit der 
Fauſt dreinzuſchlagen? Der innere Menſch hat zu ſchweigen. Wenigſtens iſt es ſo 
angeordnet, ſoweit ſich das anordnen läßt. 

Dieſes immerhin bedeutende Erzeugnis der Natur hat die nicht unangenehme 
Eigenſchaft, allen Zwangseingriffen das nötige Verſtändnis entgegenzubringen, 


anders wie andere lebende Objekte, die aus völlig kurzſichtigen Gründen gegen jeden 
Der Türmer XX, 17 15 


% 


194 Schuder: Von Gelb und anderen Bingen 


Eingriff zur Hebung ihrer Lebenshaltung Proteſt einlegen. (Alſo z. B. die Schwie- 
rigkeit, aus einem freien Tiere ein Haustier zu züchten, es ſozuſagen zu einem 
ſolchen zu veredeln, trotz der ſo überaus bequemen Stallkoſt gegenüber der nicht 
ungefährlichen Lebensführung in der Freiheit.) 

Alſo der höhere Menſch fügt ſich auch hier und ſcheint einſtweilen außer 
Betrieb geſetzt zu fein; vom äußerlichen Können wird jetzt alles verlangt. — Damit 
ſoll nichts Untergeordnetes gemeint ſein. Das rein Geiſtige allein iſt nicht der 
Gipfelpunkt der menſchlichen Tätigkeit. Die Geſchichte gab ſchon des öfteren zu 
erkennen, daß ein zu ſtark betontes Hinwenden zu der geiſtigen Seite nicht Höhen- 
erſcheinung, ſondern Verfallserſcheinung iſt, und daß eine zu hoch entwickelte Seelen 
pflege in einem Volke auf Mängel und Gebrechen in anderen Lebensabteilungen 
hinweiſt, abgeſehen davon, daß die beſte Seelenpflege nicht die Ruhe, ſondern der 
Kampf iſt. 

Das Haupterfordernis jetzt iſt, nicht daß die Seele lebt und daß für fie unge- 
wöhnliche Mittel bereitgeſtellt werden. Es iſt überhaupt verkehrt, ſo ängſtlich mit 
der Seele zu tun. — Die Seele iſt der zäheſte Gegenſtand, den es gibt, der die 
Zeiten der bedenklichſten Dürre mit einer ſtaunenswerten Leiſtungskraft über- 
ſteht, die größte Macht, die es ſchlechthin gibt. Alle Leute, die ſo jammern, daß 
ihr jetzt fo wenig geboten wird, haben keine Ahnung von ihrem wahrhaftigen 
Können. 

Das Haupterfordernis jetzt iſt, daß der Leib lebt und Kraft hat. Der Magen 
hat es für nötig erachtet, einmal daran zu erinnern, daß er der eigentliche Gewalt- 
inhaber und Allerhalter der etwas überheblich gewordenen Menſchlein iſt, und daß 
der Geiſt ſich gar nicht ſo aufzuſpielen braucht, als wäre er alles. 

Die innere Not hat nun aber bei ihren tiefen Bitterniſſen den einen unleug- 
baren Vorteil, daß fie meiſt ohne erhebliche Unkoſten verläuft. Die Not des Magens, 
die ſchon dadurch ihren Gegenſatz zu der anderen erweiſt, iſt eine teuere Sache; fie 
wird um ſo koſtſpieliger, je größer ſie iſt; ſie iſt letzthin nur durch Zahlungen zu 
befeitigen. 

Damit kommen wir zu dem Gelde. Dieſem von unberufener Seite fo oft 
und hart getadelten und fo nützlichen Gegenſtande wird alſo eine hohe Stelle an- 
gewieſen: es wird der Erretter der Menſchheit aus der Not. Das iſt ſicher eine ſehr 
ſchätzenswerte Eigenſchaft des Geldes, wegen der man ihm ee Ungezogen- 
heiten gern nachſehen wird. 

Nun gibt es jedoch Leute, die der Anſicht ſind, daß eine derartige Leiſtung 
wohl etwas ſehr Erfreuliches iſt; ſie ſind aber fernerhin der Anſicht, daß nicht die 
Leiſtung, alſo der Gegenwert, das Erſtrebenswerteſte und die Hauptſache iſt, 
ſondern ſie finden Wohlgefallen an dem Gelde als abſoluten Wert betrachtet, 
ohne Rückſicht auf das, was es kann; kurz, das Geld als ſolches wird wertvoller 
als der Gegenwert. 

In dieſer beklagenswerten Geiſtesverfaſſung entſteht die einſeitige Freude 
am Gewinn. Sowie der Geldwert nicht mehr parallel dem geleiſteten Wert geht, 
ſondern ſich ſprungweiſe von ihm entfernt, iſt nicht mehr die Freude an der Leiſtung, 
ſondern die Freude am Gelde das Ziel. 


Schuber: U Geld und anderen Bingen | 195 


Und fo erleben wir das merkwürdige Schaufpiel: nicht mehr die Not des 
Magens ſteht im Mittelpunkt; das Geld hat ſeine übermenſchliche Kraft bewieſen 
und führt feine ſinnbetörenden, berauſchenden Zauberweiſen mit einer Eindring- 
lichkeit aus, die an vorweltliche, rieſenſtarke Gewalten mahnt. 

Die materiellen Güter in ihrer Geſamtheit find der Erretter des gegen- 
wärtigen Deutſchlands in einer Beziehung. Dieſe Tatſache darf zartgeſtimmte 
Afthetengemüter, die das Heil von ihren zahlreichen Kulturbünden und neuen 
Denkformen erwarten, nicht aus der Faſſung bringen. — Wenn wir von dem 
militäriſchen Genie — Führer und Heer — als der anderen Beziehung ahſehen, 
das nämlich dorthin zu ſtellen iſt, wo wir die Tat Luthers ſehen, — denn alles 
Geniale wurzelt in einem Grunde; nur die Wirkung nach außen iſt je nach dem be- 
ſonderen Fachgebiet eine andere —, ſo nimmt heute, in der Vorausſetzung, daß 
der innere Menſch Nebenſache iſt, die Landwirtſchaft, die Induſtrie, die Technik 
die Stelle Luthers ein. Noch einmal bitte ich um die Nachſicht der Freunde der 
Geiſteskultur wegen dieſer frivolen Äußerung. 

Und ſomit bekommen dieſe Gebiete einen ungeheuer erweiterten Sinn. Sie 
ſind aus ihrer ſonſt grundſätzlich privaten Grundlage herausgehoben, ſozuſagen 
emporgehoben und handeln im Auftrage und Zntereſſe der Allgemeinheit. Die 
Allgemeinheit, durch die alle dieſe Güter ja erſt ihren Sinn und Wert erhalten, 
erringt ein abſolutes Recht auf den Genuß an ihnen, — und dieſes Gemeinſchafts- 
recht ſteht jetzt an allererſter Stelle; alles andere tritt dahinter zurück. — Hebbel 
verzeichnet einmal folgende Überlegung: „Rothſchild müßte den Gedanken haben, 
all ſein Geld in Landbeſitz zu ſtecken und das Land unbebaut liegen zu laſſen. Nach 
dem in der Welt geltenden Eigentumsrecht könnte er es tun, wenn auch Millionen 
darüber verhungerten.“ — Wir empfehlen Herrn Rothſchild, dieſes nicht uninter- 
eſſante Experiment einmal zu riskieren, oder empfehlen es vielmehr nicht; er 
würde dann vielleicht nach einigen ſehr handgreiflichen Belehrungen recht ſeltſame 
Dinge erleben. 

Es muß jedoch leider geſagt werden, daß dieſe Gebiete den Sinn ihrer neuen 
erweiterten Aufgabe nicht reſtlos erfaßt haben. Die beſtehenden außerordentlichen 
Verhältniſſe verlangten ein teilweiſe reſtloſes In-den-Dienſt- Treten für das Ganze; 
fie wurden aber in einem noch ganz anderen Sinne aufgefaßt; als Konjunktur. — 
Die Liebe zum Beſitz erwies ſich als ſtärker denn der Gemeinſchaftsgedanke. 

Wie hört ſich das an, wenn Luther gejagt hätte: „Ich liefere den Deutſchen 
eine prima Reformation; dafür zahlt ihr bar 100 Millionen Mark an die Refor- 
mationsbank, Reichsbankgirokonto.“ Oder Hindenburg: „Erſt zahlen, dann ſiege ich.“ 

Das hört ſich ſicher gut an. — Es gibt aber gewiſſe Dinge, die ſich überhaupt 
nicht bezahlen laſſen, wenigſtens nicht in bar. Gemeinhin rechnet man die Groß- 
leiſtungen des Geiſtes dazu. — Vermutlich würden alle Barmittel der Erde nicht 
ausreichen, um Hindenburg einen entſprechenden Wert für feine Leiſtungen zu 
erſtatten, ſelbſt wenn man „nur“ die erzielten Erfolge ins Auge faßt; an das un- 
erhörte geiſtige Können als die Grundlage dieſer Erfolge darf man dabei überhaupt 
nicht denken. — Ebenſo wie wir für alle Zeiten die Schuldner Luthers und der 
anderen bleiben werden. — Aber es gibt noch andere Zahlungsmittel, um im Bilde 


196 | Schuder: Von Geld und anderen Dingen 


zu bleiben. — Das Volk errichtet einen Heldenhain und ernennt die Männer, 
denen gegenüber es ſeine Zahlungsunfähigkeit eingeſtehen muß, zu ſeinen Großen. 
And dann bezahlt es ihnen doch, aber mit einer ganz ſeltenen Münze: Unſterblich- 
keit, Ruhm, Liebe, Dankbarkeit, Verehrung und anderem. Das iſt der gebotene 
Gegenwert. Ä 

Aber, höre ich den erſtaunten Einwand, wie kann der unklare Verfaſſer da 
ſo durcheinanderwerfen und Landwirtſchaft und Reformation in einem Atem 
nennen! — Gemach; wir haben uns überzeugt, daß das Große nur geleiſtet werden 
kann in einem völligen Aufgeben der privaten Intereſſen und in einem reſtloſen 
Dienen für die Sache. — Za, das iſt aber doch nur auf den höheren Gebieten möglich, 
niemals in der doch immerhin tieriſchen Ernährungsfrage. — So! Zft die Sicher- 
ſtellung der Ernährung nicht die zweite größte Aufgabe neben der anderen erſten? 
Und find das wirklich nur fo äußerliche Dinge? Treffen fie uns nicht vielmehr 
bis ins Innerſte? Und iſt dabei eine ideale Auffaſſung ausgeſchaltet? 

Mas heißt in dieſen Dingen ideale Auffaſſung? Wie in allen anderen: dienen. 
— Nicht verdienen. — Aber dieſe Betonung des idealen Zweckes iſt jetzt in den 
Hintergrund getreten; jetzt wird leider ſo häufig gefragt: was verdiene ich dabei, 
oder, um es etwas zu umkleiden: iſt es ein wirtſchaftlich geſundes Unternehmen; 
ſtatt daß die erſte Frage ſein ſollte: wird durch mein Unternehmen der höchſtmög⸗ 
liche ideale Zweck erreicht? Jedenfalls ſollte das Hauptintereſſe ſein die Leiſtung 
des Unternehmens, nicht die Preisfrage, der objektive Wert für die Allgemeinheit, 
nicht der ſubjektive Wert für den Unternehmer. 

Ein Beiſpiel. — Es iſt die allgemeine Überzeugung, daß die Zuckermenge 
unbedingt erhöht werden müſſe. Die alleinige Pflicht der Beteiligten wäre es, 
dies zu ermöglichen (da es ja möglich iſt), ihre durchaus berechtigten privaten 
Wünſche aufgehen zu laſſen, ſozuſagen in der allgemeinen Zuckeridee. — Statt 
deſſen wird der Kartoffelſack des Nachbarn und die Futterrunkel des Runkelbauern 
vergleichsweiſe herangezogen. — Im Grunde genommen iſt es der Allgemeinheit 
völlig gleichgültig, was der Kartoffelbauer und was der Kübenbauer verdient 
(theoretiſch betrachtet, wenn man die praktiſchen Nöte des Geldbeutels einmal 
künſtlich wegdenkt). Keineswegs iſt es aber der Allgemeinheit gleich, ob der Zucker 
in Kürze ein ſagenhaftes Gebilde wird, weil er nicht genug für ſeinen Erzeuger 
abwirft. N 

ich meine ſo: auch auf dieſe nur ſcheinbar äußeren Gebiete kann die Steige 
rung ins Ideale angewendet werden; auch ſie können geadelt werden; alles Große 
iſt adlig; und es iſt doch eine große Aufgabe. Wir leſen es jeden Tag, wie Großes 
in der Heimat geleiſtet wird und glauben es gern; könnte dieſes Große nicht einmal 
dem inneren Sinne nach angewendet werden: nicht bloß, daß eine ungeheuer ange; 
ſpannte Arbeitsleiſtung verlangt und erfüllt wird, ſondern daß die Zdee dieſer 
Arbeitsleiſtung mehr betont wird: im Dienſte der Sache ſtehen? — Und daß die 
Verdienſtmöglichkeiten nicht ſo ausführlich erörtert werden? Wäre das nicht viel 
gewaltiger als das kümmerliche Zuſammenraffen noch ſo großer Reichtümer? 

Kein Menſch wird mich natürlich fo mißverſtehen, als ſollte die Gewinnfrage 
ausſcheiden oder etwa eine nebenſächliche Rolle ſpielen; das wäre natürlich heller 


Schuber: Von Geld und anderen Bingen 197 


Anſinn. Die ehrliche Freude am ehrlichen Gewinne iſt einer der ſtärkſten und 
wertvollſten Anreize. — Nur müßte in der Gewinnfrage, wie fie gegenwärtig 
gehandhabt wird, auch die viel erwähnte Neuorientierung ſchon jetzt eintreten. 

Überlegen wir kurz den Sinn des Gewinnes! Der Gewinn iſt in erſter Linie 
und beinahe ausſchließlich eine Perſönlichkeitsfrage. Eine bedeutende, groß um- 
riſſene Perſönlichkeit zwingt auch dem ſprödeſten Unternehmen Gewinn ab; hinter 
jedem großen Erfolg ſteht eine große Perſönlichkeit. — Man darf dieſes „groß“ 
freilich nicht moraliſch eng faſſen und nun an einen ausſchließlich vorzüglichen 
Menſchen denken; das Große iſt bedeutend umfaſſender; es geht vom ſittlich Hoch- 
wertigſten bis zu den Fällen, die bereits das Bedenkliche ſtreifen, und man kann 
je nach feiner Auffaſſung noch weiter „herunter“ gehen. 

Wenn ich durch meine Tüchtigkeit, Umſicht, vielleicht auch Strupelloſigteit 
die äußere Lage derart bearbeitet habe, daß fie mir zu Willen iſt, pflegt ſich meiſt 
der Erfolg zu melden; dann habe ich den Gewinn durch mein Können erzwungen. 
Ein ſolcher Gewinn iſt unbedenklich als ein ſittlich berechtigter anzuſprechen. Wie 
iſt es nun mit dem Kriege, der äußeren Veranlaſſung der gegenwärtigen Gewinne? 
Kein Menſch wird ſagen, daß der Krieg eine Geſchäftslage iſt und wenn doch ſchon, 
daß er dieſe Geſchäftslage durch ſeine Tüchtigkeit geſchaffen hat. — Trotzdem ſind 
ungeheure, früher für undenkbar gehaltene Gewinne gemacht. Den Grund dafür 
ſahen wir ſchon: die betreffenden Gebiete erkannten nicht den ſittlichen Kern ihrer 
Aufgabe, daß ſie jetzt in erſter Linie der Idee zu dienen hatten und wie ſie geadelt 
waren. Um ſo bedeutender waren ihre Leiſtungen im Erkennen der Gewinn- 
möglichkeiten. Die Folge iſt: die Gewinne find „Kriegs“ gewinne geworden, 
nicht mehr „Geſchäfts“ gewinne; der Gewinn hat feine ſittliche Berechtigung 
verloren und iſt in ſeinen kraſſeſten Auswüchſen das Eitergeſchwür der ſonſt alles 
überragenden Zeit geworden. 

Ich will dieſe Erſcheinung, die geradezu als Verfallserſcheinung anzuſprechen 
iſt, nicht kritiſieren; die Kritik wird von der zuſtändigſten Stelle erfolgen, vom Volke 
her. — Der Dank, mit dem unſer allezeit williges Volk freigebig gegen alles Große 
it, wird ausbleiben. — 

Wir ſahen, wie das materielle Gebiet zu einer wirklich großen, ſittlichen Tat 
berufen war; aber es hat den Sinn dieſer weltgeſchichtlichen Sendung nicht erfaßt. 
— Denn im Weltkriege iſt die Ware nicht mehr Handelsangelegenheit, ſondern 
Welt-, Menſchheitangelegenheit. 

Vor dieſer Bedeutung verſchließt ſich der entartete Handel, dem unter den 
echten Handelsherren ſicher die ſchärfſten Gegner erwachſen, ſcheinbar ſyſtematiſch. 
Dieſer Handel hat nicht das geringſte Intereſſe für die Leiſtung der Ware, ſondern 
hat ſein ganzes, in dieſem Punkte nicht kleines Können darin erſchöpft, die Preis- 
bildung zu einem raffinierten und beinahe wiſſenſchaftlichen Syſtem auszuge- 
ſtalten. 

Aber abgeſehen von dieſen Auswüchſen iſt die Preisfrage im allgemeinen 
zu einer Machtfrage allererſten Ranges geworden. Ich will nicht den unbefugten 
und nicht zuſtändigen Kritiker ſpielen, ſondern auch hier den Stoff zu einer mehr 
überlegenden Darftellung „adeln“. — Genau betrachtet, hat der Preis mit dem 


198 Schuder: Von Geld unb anderen Oingen 


eigentlichen Weſen der Ware, d. h. ihrem Nutzen für den Menſchen nichts zu tun, 
wie es etwa der Kuh gleichgültig iſt, wer die von ihr gewonnene Milch verzehrt, 
außer, wenn es ihr eigenes Kälbchen iſt. — Es beeinflußt den Wert einer Ware 
nicht im geringſten, ob ſie eine Mark oder zehn Mark koſtet; die Hauptſache iſt, 
daß fie da iſt, daß fie verbraucht werden kann, daß fie gut iſt. Daß die Zufammen- 
gehörigkeit von Preis und Ware nur eine willkürliche und keineswegs innere, 
alſo notwendige, dem Weſen der Ware entſprechende iſt, ſieht man etwa daran, 
daß man z. B. für eine Ware, die nicht zu beſchaffen iſt, auch nicht im Schleich⸗ 
handel, bieten kann, was man will; man erhält ſie doch nicht. — Der Preis iſt die 
perſönliche Angelegenheit des Handels, die Ware iſt öffentliche Angelegenheit; 
und beides ſteht im uralten, unverſöhnlichen Gegenſatz, der ſich praktiſch in den 
oft ſehr ſcharfen Widerſprüchen zwiſchen Verkäufer und Käufer äußert. 

Die angebliche Lebensfrage des Handels, nach der ein Handel und der Handels- 
gewinn überhaupt erſt möglich iſt und demzufolge das Vorhandenſein von Ware, 
— nach dem Standpunkt des Handels —: das Verhältnis zwiſchen Angebot und 
Nachfrage iſt eigentlich ein ungeheuer dürftiger und troſtloſer Standpunkt. Denn 
dadurch wird die Ware an die zweite Stelle gedrückt, der Preis, die perſönliche 
Angelegenheit, an die erſte. Nicht mehr die Ware beherrſcht den Markt, ſondern 
der Preis. — Die Weltbedeutung der Warengüter liegt jedoch allein in den Gütern; 
jetzt aber iſt die Preisfrage zu der Weltbedeutung geworden; und das find um- 
gekehrte Verhältniſſe. . 

Gegenüber dieſer zurzeit überragenden Bedeutung der Güter ſpielt der Menſch 
der Gegenwart eine recht beſcheidene Rolle. Noch niemals iſt klarer hervorgetreten, 
ein welch trauriges Schmarotzerdaſein dieſes hochgezüchtete Naturprodukt führt, 
wie er an allem ſchmarotzt, an der Pflanze, an der Sonne, an den Schätzen im 
Schoße der Erde und an allen herrlichen Koſtbarkeiten, die es gibt oder vielmehr 
jetzt nicht gibt. Dieſe Erkenntnis iſt ja nicht neu. Es iſt, als wollten ſich die Dinge 
rächen, daß der Menſch ſie manchmal böswillig verkleinert hat, und vergeſſen hat, 
daß letzten Endes ſie es ſind, die die ganze Herrlichkeit ermöglichen, und als wollten 
fie eine abſolute Güterherrſchaft begründen und die Herrſchaft des Geiſtigen 
ſtürzen. 

And es ergäbe ſich ſomit der troſtloſe Ausblick: die Güter dienen nicht meht 
dem Menfchen, ſondern der Menſch iſt ihr Sklave, iſt das willenloſe Produkt feiner 
Umgebung, eine Auffaſſung, die dem fo unendlich liebevoll gepflegten „Milieu“ 
zu einer ſolchen Achtung verhalf und ſoviel Verwirrung anrichtete. 

Demgegenüber iſt feſtzuſtellen, daß alle dieſe Überlegungen — auch dieſer 
Verſuch — nur menſchliche Betrachtungsweiſen, Denkformen find, die ſich nie- 
mals mit dem Weſen der Dinge außer uns decken. Eine den Dingen kongruente 
Anſchauung gibt es nicht (iſt auch nicht nötig); es bleibt immer Anſchauung, dem 
jeweiligen Bildungsſtand der Menſchen und der Zeit entſprechend. 

Wohl aber gibt es etwas, was alle Dinge in den Bereich feiner Betrachtungs; 
weiſe zieht, was ihnen feine Formen aufzwingen will, auch wenn dieſe den Dingen 
nicht gerecht werden: den menſchlichen Geiſt, der demnach „nichts Genaues“ weiß, 


- 


Weiß · v. Ruckteſchell: Ewigkeiten 199 


dem aber auch nichts fremd iſt. — Und ſomit tun wir doch die Herrſchaft der Güter 
ab und kommen zu einer Herrſchaft des Geiſtes. 

Im Handumdrehen iſt ſomit die große, äußere Not abgetan? Nein, durchaus 
nicht, vor allem nicht durch Überlegungen. 

Wohl aber hat ſich gezeigt, daß ein Emporheben ins Ideale — es geht nun 
einmal nicht ohne Ideale — auf allen Gebieten möglich , und daß es der Sinn 
iſt, der . adelt. 

Es find furchtbare Mächte, die jetzt gegen die menſchliche Seele, dieſes un- 
begreifliche Heiligtum, kämpfen und auf der Lauer liegen, ob ſie es verſchlingen 
können. — Aber da ſtehen die draußen vor uns, mit deren Leiſtungen nichts ver- 
glichen werden kann. Und dieſe Leiſtungen ſind unter allem Großen das ſchlechthin 
Größte; und ſie werden getan, obwohl wir ſie nicht bezahlen können, nicht einmal 
mit der höchſten Münze: Ruhm und Anſterblichkeit. Denn auch das iſt zu gering. 

Wenn wir etwas von deren Sinn und Geiſt haben, das will ſagen, daß wir 
etwas mehr den Gütervorteil vergäßen und etwas mehr daran dächten, daß das 
Dienen das Größte iſt, dann „könnte man den Glauben haben, daß die Menſchheit 
geadelt werden kann“. 


Ewigkeiten Von Alice Weiß- v. Ruckteſchell 


Wieviel Leben müſſen wir noch leben, 
Bis wir alle Herrlichkeit ergründen; 

Zu den tauſend Rätſeln, die hier weben, 
Tauſend goldne Herrgottsſchlüſſel finden. 


Wieviel Tode müſſen wir noch ſterben, 

Bis wir alle Erde von uns ſtreifen, 

Bis uns Leid und Not nicht mehr verderben 
Und wir unſrer Träume Sinn begreifen. 


Bis uns unſres Sterbens goldne Pforten 
Keine dunklen Tore mehr ins Grauen, 
Bis wir hier und dort und allerorten 
Eines Lebens Wunderkräfte ſchauen? 


Wieviel Sphären müſſen wir durchkreiſen, 
Wieviel tauſend neue Weltenerden, 

Bis wir endlich ſtill nach Hauſe reiſen, 
Um mit unſrer Heimat eins zu werden? 


A 


200 Weer: Felbgrau und kunterbunt 


eldgrau und kunterbunt 
Von Reinhard Weer 


N s gibt Soldaten, vor denen man als Vorgeſetzter eine heilige Hoch- 
N achtung haben muß. Schlicht, militäriſch korrekt bis aufs äußerſte, 
5 immer guter Dinge, durch keine Arbeit und Mühe zu verdrießen, 
N können alles, leiſten alles und ſtrömen aus feftverantertem Innen- 
leben eine Herzensbildung aus, um die fie mancher Offizier beneiden könnte. 
Ich hatte ſolch ein paar Leute in der Batterie, zum größeren Teil unter denen, 
die, ſchon verwundet, zum zweiten- und drittenmal in der Front ſtanden. Beſſere 
Soldaten gibt's nicht auf der Welt; höchſtens gleich gute. Da fühlte man manch— 
mal ſo etwas wie den brennenden Wunſch, dem oder jenem mehr zu ſein als ein 


Vorgeſetzter: ein Freund. (Und zwar Freund nicht bloß in dem allgemeinen, 


| 


| 


blaffen Sinn, wonach jeder anſtändige Vorgeſetzte Freund jedes anftändigen Sol- 


daten iſt.) Aber es bleibt bei dem Wunſch; denn es ergibt ſich die Merkwürdig— 
keit: die Leute wollen's nicht! Macht man den Verſuch, jo ziehen ſich die rechten 


Antergebenen mit ihrem militäriſchen Diſtanzgefühl in allen Knochen ganz in 
ſich ſelbſt zurück, werden einſilbig und verſchloſſen. Sie betrachten das als einen 
unangebrachten Einbruch in ihre Sphäre. Sie ſind zu gute Soldaten. 

Daneben finden ſich freilich auch Angſtmeier, Schwätzer und Schlappiers. 
Von denen erzähle ich lieber nicht. 

ü K ** 
*. 

Viele meinen, aufrichtig oder nicht: Der Krieg rafft die Beſten dahin. 
Ein trauriges Wort, ein gedankenloſes Wort — und voll bitterſter Härte für die 
Aberlebenden, die doch auch, zum Teil wenigſtens, ihre Schuldigkeit tun. Gewiß, 
es fallen viele der Beſten, denn nicht die Schlechteſten pflegen in vorderſter Reihe 


und an der gefährdetſten Stelle zu fechten. Der dies ſchreibt, hat durch feind- 


9 J 


liches Geſchoß den Mann verloren, der unter unſren Millionen von Kämpfern 


ſeinem Herzen am nächſten ſtand und der ihm geliebteſtes, heiligſtes Vorbild war: 


‘ 


| 


den eigenen Vater. „Die Beſten fallen“ — hundertmal wohl mußte er das 


Wort hören, als berge es einen Troſt. Aber er verwirft dieſen billigen Troſt 


und hält ſich mit klammernder Inbrunſt an den Glauben, daß uns auch viele 


der Beſten erhalten bleiben. Wir wollen uns nicht die ganze Zukunft dunkel ver- 


hängen laſſen, ſondern getroſt dieſes Glaubens leben. Das andere wäre, vom 
nationalen und menſchlichen Standpunkt, zu entſetzlich, als daß es ausgedacht 
werden könnte. Wenn der heilige Funke ſtürbe — dann lieber Nacht und Tod 
über uns alle als ein tieriſches Weiterleben. 
* 
%* 

Eine nächtliche Kontrolle der Poſten in der Feuerſtellung meiner alten 
Batterie in einer unruhigen Zeit im Weſten. Es iſt ſtockdunkel, und die paar 
Leute, die an dem einen Geſchütz im Freien beiſammen ſitzen, bemerken mein 
Kommen nicht. Schon von weitem höre ich ihre Stimmen. „Anſer Batterieführer, 
das iſt einer! Immer gut zu den Leuten, aber wenn man was verbockt, hat er ſo 


Meer: Felbgrau und kunterbunt ö 201 


feine Art, einen anzuſehen ... Der weiß nicht, was Angſt iſt. Deshalb trifft's 
ihn auch nicht. Und wie er ſchießt, das iſt ſchon beinahe berühmt. Der hat“ — 
und dann folgen zwei ganz unſinnige vierſtellige Zahlen, die wiederzugeben ich 
mich weigere —, „der hat mit ſeiner Batterie ſoundſo viel Engländer und ſoundſo 
viel Franzoſen auf dem Gewiſſen.“ Das Wort „auf dem Gewiſſen“ fuhr mir 
wie ein kalter Strahl den Rüden hinunter. 

Es iſt vielleicht nicht klug, das zu erzählen, denn es klingt häßlich und ruhm- 
redig. Aber die Abſicht, mich jo einfältig zu brüſten, liegt mir fern. Ich will da- 
mit nur zeigen, wie unſere braven deutſchen Soldaten von den Vorgeſetzten 
denken und reden, die nichts weiter als nach beſten Kräften ihre Schuldigkeit 
tun. Wie ruht ſich's ſo gut und ſicher in dem Vertrauen treuer Untergebener! 

Übrigens muß ich die Leute berichtigen: das mit dem „nicht wiſſen, was 
Angſt iſt“ ſtimmt nicht, leider (und das mit dem Unverwundbarſein erſt recht nicht, 
wie ſich bald danach mehrfach erwieſen); das ewige Schießen hämmert doch auf 
die Nerven und ſchwächt ſie. Immerhin, es ſchadet nichts, wenn die Leute ſo 


denken. Merkt der Soldat, daß der führende Offizier feige oder nervös iſt, fo ! 
it ſogleich die ganze Truppe nicht mehr zu gebrauchen. Die Nervenſtränge der 
Mannſchaft find in feine Hand gegeben. Darin liegt das Geheimnis aller Er- 


folge der unteren Führung. R 
* 


Anſere heutigen Geſchütze, wiewohl „ultima ratio regis“, find keine Prä- 
ziſionswaffen wie Gewehr und Piſtole, immerhin ſchießen fie erheblich genaue 
als die Kanonen und Mörſer unferer Vorfahren. Es gibt — ſeltſam genug — 
Artilleriſten, die das bedauern. Die erklären die Geſchütze früherer Tage für viel 
gefährlicher als die heutigen (und zwar gefährlicher nicht nur für die eigene Be- 
dienung, was ohne weiteres einleuchtet, ſondern auch für den Feind), weil man 
beim Schießen nie gewußt habe, wohin der nächſte Schuß aus demſelben Rohr 
gehen werde, und infolgedeſſen im Umkreis von Meilen feines Lebens nicht ſicher 
geweſen ſei. Der Meinung muß eine gewiſſe Berechtigung zugeſprochen werden. 


— — 


Dennoch trifft auch heute noch einigermaßen jener franzöſiſche Artillerie- 
kapitän das Richtige, der als wirkſamſten Schutz vor einſchlagenden Artillerie- 


geſchoſſen empfahl, immer in das letzte Schußloch und nach jedem Schuß von 


drüben in das neu entſtandene Einſchlagsloch zu ſpringen. Denn der nächſte Schuß 
aus demſelben Rohr trifft mit allergrößter Wahrſcheinlichkeit nicht genau die- 


ſelbe Stelle. Ja, wenn es nur ein Geſchütz wäre, das von drüben ſchießt! Aber 
im Trommelfeuer von heute, Herr Kapitän, dürfte Ihr Rezept nur von geringem 


Nutzen ſein! Ai 5 
*˙ 


An dem Tage, an dem vor drei Jahren die franzöſiſche Herbſtoffenſive 
einſetzte, kam bei uns im Armeeverordnungsblatt die neue Uniformvorſchrift 
heraus. Es iſt nicht ſchwer, darüber zu ſpötteln, viel ſchwerer, die guten Seiten 


— 


an der Sache zu ſehen: wie die deutſche Militärmafchine, die an der Front ſo 
zermalmendes Werk tut, hinter den Fronten ihre Kleinarbeit zielſicher fortſetzt, f 


unbeirrt von den weltenwandelnden Erſchütterungen dieſes Krieges. 
> 
* 


202 | Meer: Felbgrau und kunterbunt 


Vergleicht man die Unterſtände aus den erſten Feldzugsmonaten mit den 
heutigen: welch eine Wandlung! Damals kroch man, wenn's dunkelte oder zu 
regnen anfing, in ſein naſſes, niederes Erdloch wie ein Tier, war froh, nur einen 
dünnen Wetterſchutz überm Kopf und ein Strohbündel als Lager zu haben; der 
Offizier ſchlief zuſammen mit ſeinen Leuten, man liebte die Primitivität um 
ihrer ſelbſt willen. Heute iſt alles bombenſicher gebaut, tiefe Stollen oder ftarte 
Deckungen aus Holz, Eiſenſchienen, Mauerwerk, Erde bilden einen faſt voll- 
kommenen Schutz gegen die leichteren Geſchoſſe. Zm Innern wird Bequemlich⸗ 


keit, ja ſogar ein beſcheidener Luxus angeſtrebt. Und der Offizier wohnt getrennt 


run 


von den Leuten, was feine Vorteile hat, im Intereſſe der Kameradſchaft und des 


gegenſeitigen Verſtehens aber eigentlich zu bedauern iſt. 
ö * * 


Man ſtreitet, ob man die herankommenden Artilleriegeſchoſſe rechtzeitig höre 
oder nicht. Einer bejaht, der andere verneint; mag ſein auf Grund von Sach- 
kenntnis, oft aber auch mit einer durch keinerlei Erfahrung oder Sachkenntnis 
getrübten friſchfrommen Entſcheidungsfreudigkeit. Ja und nein: beides iſt eben- 
ſowohl richtig wie falſch. Denn da ſind ſo viele Verſchiedenheiten und Kom- 


pliziertheiten: Art des Geſchützes, Flachbahn- und Bogenſchuß, Auffchlag- und 


Zeitzünder, Geſchoßart, Stärke der Treibladung und Zuſammenſetzung des Bul- 
vers, Höhe des Sprengpunktes, größere oder geringere Entfernung des feuern 
den Geſchützes, Geräuſch des Abſchuſſes, des Flugs und des Zerſpringens, Wind- 
ſtärke und Windrichtung. Für all das ergeben ſich Kategorien, Unterſchiede, Ab- 
ſtufungen. Man ſieht, die Sache iſt nicht ſo einfach und nicht mit einem glatten 
Ja oder Nein zu erledigen. 


* 
2 


Wir hatten eine franzöſiſche Batterie mit Hilfe der Meßtrupps zufammen- 
geſchoſſen, dreihundertundzwanzig Schuß. Am nächſten Nachmittag beſpreche ich 


mit den Kanonieren das Schießen, ſage zum Schluß, mit einer auf alte und ſehr 


ernſthafte Feldzugserfahrungen gegründeten ſcherzenden Wendung: „Eben wird 
von drüben telephoniert, daß gerade der franzöſiſche Korpskommandeur mit feinem 
Stab die zerſtörte Feuerſtellung beſichtigt, alſo wollen wir ſchnell eine Gruppe von 
Granatbrennzündern dorthin abgeben.“ Die Gruppe ſauſt hinaus; Kommando 
„Feuerpauſe“. Da kommen zwei Unteroffiziere heran, bitten namens der Geſchütz⸗ 
bedienungen, noch eine Gruppe um fünfzig Meter weiter abgeben zu dürfen; denn 


bei der erſten könne der Korpskommandeur doch vielleicht entwiſcht ſein! 
; * 


** 

Die Infanterie hatte einen toten Franzoſen aus dem Drahtverhau herein- 
gebracht, einen hübſchen, ſchlanken Burſchen von ſüdländiſchem Typ, und der 
Oberſt ſah mit mir die Papiere des Mannes durch. Es ergab ſich allerlei Inter- 
eſſantes. Zunächſt, daß der Tote Armenier war; es ſcheinen recht viele Armenier 
als Freiwillige in den „Régiments de marche“ der Fremdenlegion (wir hatten 
ein ſolches uns gegenüber) eingetreten zu fein. Die welſche Schweiz hat es über- 
nommen, dieſe Leute, da fie in Frankreich keine Verwandten haben, mit Liebes- 
gaben zu beſchenken; einzelne Spender nehmen, um gleichſam als Verwandte 


Roh: Zunge Mutter 203 


dazuſtehen, Patenſtelle bei den armeniſchen Legionären ein und werden dem- 
entſprechend in der Korreſpondenz als „parrain“ oder „marraine“ angeredet. Der 
hereingebrachte Tote hatte Liebesgaben von einer „Patentante“ aus Lauſanne 
empfangen. In Dijon hatte er, wie ſich weiter herausſtellte, bei Gelegenheit 
eines Erholungsurlaubs im Haufe einer gebildeten franzöſiſchen Bürgerfamilie 
Aufnahme gefunden. Briefe plauderten aus, daß er Muſik getrieben, daß die 
Tochter des Hauſes ſein Violinſpiel und ſeinen Geſang begleitet hatte. Dann 
auf einmal zwiſchen den von einem Granatſplitter durchlochten Blättern eine 
Photographie: jene Familie aus Dijon hinterm Hauſe im Garten um den Kaffee- 
tiſch verſammelt, ein älterer Herr, zwei Frauen, ein Kind — und dann, im Garten- 
ſtuhl leicht zurückgelehnt und das Antlitz dem Beſchauer zugewandt, die Tochter, 
ein feines, dunkles Mädchen von fo rührender, ernſter Schönheit, daß der Ge— 
danke an die Zuſammenhänge einem das Herz mit Weh umſchnürte. „Ces heures 


inoubliables“ — „j'aime tant la musique“ — „vos airs arméniens si melan- 
coliques et si harmonieux“ — „je ne vous oublierai jamais, vous et votre vio- 


lon“, klang es leife und traurig aus ihren Briefen. 


2 ET Y —.— — — 
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EMI RR ER, 


— 


Junge Mutter Von Julius Koch 


Du biſt gegangen langen Weg 

In märchenferner Einſamkeit. 

Ins Land der Wunder führt’ ein Steg 
Dich ſtillgeweiht! 


Dein Herz war Freuden aufgetan, 
Die nicht von dieſer Erde ſind; 
Du wandelteſt auf ſel'ger Bahn 
Mit deinem Kind. 


Das unter deinem Herzen lag, 
Dein Kind und meines auch, 
Das trug in deinen trübſten Tag 
Dir Himmelshauch! 


Nun lenkſt du in die Menſchenwelt 
Aufs neue deinen Fuß, 

And deine Seele iſt erhellt 

Vom Gottesgruß. 


So aus der Liebe reinem Land 
Geheiligt ſchreiteſt du! 

Nun laß uns wandern Hand in Hand 
Dem Leben zu! — 


2 


— — — 


204 Haefde: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grund lage 


Neuorientierung und Verſtändigung 


auf deutſcher Grundlage 
Von Profeſſor Hans Haeſcke 


n der Kriegführung iſt man bei uns ſtets deſſen eingedenk geblieben, 
daß man, ſelbſt Menſch, gegen Menſchen kämpft — bis zu dem Grade, 
daß die Humanität auch hier zur Humanitätsduſelei ausartete und 
fo tatſächlich widermenſchlich, weil kriegsverlängernd, wirkte. Den- 
ſelben Erfolg muß letzten Endes die Art haben, wie man ſich bei uns anſchickt, der 
Am- und Neugeftaltung der inneren Verhältniſſe und unferer auswärtigen Be— 
ziehungen durch den Krieg Rechnung zu tragen. Anſere viel gerühmte „An- 
paſſungsfähigkeit“ iſt da auf dem Wege, uns einen recht üblen Streich zu ſpielen, 

| 4d. h. uns und die Menſchheit um den eigentlichen Segen des Krieges zu betrügen. 
Fin erblicken wir in einer Erneuerung des deutſchen Geiftes, deren unfer Volk 


um ſeiner ſelbſt und ſeiner Sendung willen bedarf. 

Aber Bureaukratius hat kein Verſtändnis für Imponderabilien. Und jo be- 
dürfen auch Monarchismus und Patriotismus, um brauchbar zu ſein, für ihn 
der amtlichen Eichung. Und in dem Philiſter, dem nichts widerwärtiger iſt als 
Aufbrauſen oder gar Überbraufen, fand Bureaukratius eben deshalb einen will— 
kommenen Bundesgenoſſen. Der Philiſter war in dieſem Falle der heimgekehrte 
verlorene Sohn. Das ihm vorgeſetzte gemäſtete Kalb behagte ihm bald nicht mehr. 
And fo breitete er wohlgefällig als unübertrefflihen Lederbiffen die aus der Fremde 
mitgebrachten Treber auf der väterlichen Tafel aus. Ein für Bureaukratius über- 
wältigender Anblick! Denn ſein „philoſophiſcher“ Blick geht ins Weite. Man 
treibt ja Weltpolitik! Hinaus alſo mit dem Urväter- Hausrat, an dem man doch 
draußen Anſtoß nimmt! Und her mit der fremden Ware! Damit man 


„Beim Feind Vertrauen zu erwecken ſucht, 
Das doch der einz'ge Weg zum Frieden iſt. 
Denn hört der Krieg im Kriege nicht ſchon auf, 
Voher ſoll Friede kommen?“ 


Auch tröſtete man den am heimiſchen Weſen hängenden älteren Sohn mit 
dem Hinweis, daß auch ſchon frühere Veränderungen nicht die Folgen gehabt 
hätten, die beſorgte Zeitgenoſſen befürchteten. Denn was hat es Preußen geſchadet, 
daß es ſich im Fahre 1850 einen fremden Rock anzog? — Wie iſt es aber in Wirk- 
lichkeit geweſen? Kein Mann hat beſorgter um die Zukunft vom alten Preußen 
Abſchied genommen als Bismarck. Aufquellende Tränen ließen den Mann, an 
dem wahrlich nichts Weichliches war, nicht zu Ende reden, als er ſeinem Kummer 
über das Verſinken Altpreußens Ausdruck verlieh. Und 15 Jahre ſpäter hat nur er, 
er allein verhindert, daß ſeine Befürchtungen nicht Wirklichkeit wurden. Ob jene 
das Zeug dazu gehabt hätten, die vormals leichten Herzens in die neue Zeit hinein- 
getänzelt waren? 


N 


gaeſcke: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage 205 


Neueſten Datums ift nun freilich die Invaſion, deren Zeugen wir heute 
ſind und die unheilvoller iſt als die eines feindlichen Heeres, keineswegs. Vir 
erleben vielmehr nur den Abſchluß einer Entwickelung, die mit der Einführung 
des römiſchen Rechts begonnen hat. 

In dieſe Zuſammenhänge führt Ed. Heyck hinein in ſeinen ſich gegenſeitig 
ergänzenden Büchern „Das Deutſchland von morgen“ und „Parlament oder Volks- 
vertretung?“ (Verlag Richard Mühlmann in Halle a. S.) Beide Bücher erheben 
ſich dadurch über die übrigen Schriften der einſchlägigen Literatur, daß „ihre Er- 
örterungen nicht münden und enden in die Verſchleuſungen einer ſogenannten 
Tagesfrage. Sie ſpannen über heute und morgen hinüber. Die demnächſtige 
Entbindung von neuen Trugformen aufzuhalten, bilden ſie ſich nicht ein. Aber 
ſie geben die Zuverſicht nicht auf, daß die Zahl derer zunehmen wird, die über deren; 
Mißbeſchaffenheit nachdenken und Schlüſſe daraus finden werden, die e 
kommen mit etwas, das geſund, aber ungeſehen in der Lebenswirklichkeit heran- 
wächſt.“ Solche Bücher kann nur ſchreiben, wer mit einer ebenſo umfaſſenden 
wie gründlichen Kenntnis der Vergangenheit eine ſozuſagen Riehlſche Vertrautheit 
mit den zwar nicht laut ſchreiend ſich vordrängenden, darum aber nicht weniger! 
lebendigen Kräften der Gegenwart, wie ſie ſich in unſerm Volke erhalten und 
gebildet haben, verbindet. 

Heycks Optimismus — nein, mehr! — unbedingtes und unerſchütterliches 
Vertrauen in die Zukunft des deutſchen Volkes iſt bekannt und weht auch aus 
dieſen Blättern den Leſern erfriſchend und nervenſtählend entgegen. Aus dieſer 
Sicherheit find auch die Sätze geboren: „In Preußen wird vielleicht das Gegenteil 
vorerſt ſeinen widerwilligen Verlauf nehmen. Der Wille der Krone muß unter 
allen Umſtänden durchgeſetzt werden, hat jüngſt erſt der ‚Vorwärts‘ betont. Nur 
zu! fo wird die Gärung kräftig.“ Aber warum traut Heyck ſeinen überzeugungs- 
kräftigen Ausführungen nicht eine ſchnellere Wirkung ſchon für die Gegenwart zu? 
Es will doch gewiß etwas ſagen, wenn ein Fünfundvierzigjähriger ſchon durch 
einmaliges Leſen dieſer Bücher ſich mit ſeinem zwanzigjährigen Bekenntnis zum 
Pluralwahlrecht aus dem Sattel gehoben ſieht — wie es mir ergangen iſt —, um 
nach abermaligem Leſen ein Anhänger von Heycks Anſchauungen zu werden. 
Vielleicht wirkt Heyck gerade dadurch ſo überzeugend, daß er nicht mit agitatoriſcher 
Beredtſamkeit über- und überredet, ſondern aus dem reichlich zuſammengetragenen 
Material feine eigenen Gedanken im Leſer gewiſſermaßen von ſelbſt erwachſen 
zu laſſen weiß. Zweifellos würde er in einem ſehr viel größeren Kreiſe die ge— 
wünſchten Wirkungen erzielen und ſchon für die Gegenwart nutzbar machen, wenn 
ſeine Ausdrucksweiſe nicht vielfach ſo „unkörperlich“ wäre, um dieſes von Schiller 
für Klopſtocks Oden geprägte Wort zu gebrauchen. Er ſtellt ſo an die Aufmerk- 
ſamkeit und das Nachdenken Anforderungen, die von dem haſtig lebenden Geſchlecht 
der Gegenwart nur widerwillig oder gar nicht erfüllt werden, ein Umſtand, der 
den Kreis ſeiner Leſer in unerwünſchter Weiſe verengern wird. 

Der unbevogtete Deutſche der Frühzeit wurde, wie Heyck darlegt, durch die 
Einführung des römiſchen Rechts entmündigt zum Klienten und Untertan. Aber 
auch nach oben wirkte dieſe Verwelſchung ſchließlich machtentkleidend, inſofern als 


2 


206 Harfe: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage 


ſelbſt der Kaiſer und die Fürſten durch die juriſtiſche Bureaukratie der germaniſchen 
Unmittelbarkeit ihres Wirkens beraubt wurden. An ihre Stelle ſchob ſich der Regens- 
burger Reichstag. Und als feine Selbſtherrlichkeit zuſammenbricht, wird die Ent- 
mündigung des Volkes durch das Oangergeſchenk einer Freiheit nach franzöſiſchem 

Muſter aufrechterhalten. Denn die durch dieſe Begnadigung geſchaffenen Parla- 


mente haben weder die volkliche Selbſtregierung noch die Verbindung der Volks- 
ſchichten untereinander gebracht, noch haben ſie ſich als eine Verkörperung des 


öffentlichen Verſtandes und Willens bewährt, ſo wenig wie in ihrem Heimatlande 


— 


Frankreich. Der politiſchen Teilnahmloſigkeit, die der Parlamentarismus hier 
erzeugt hat, entſpricht bei uns die Partei der Nichtwähler, der neben Bequemen 
und Oenkfaulen doch auch ſolche angehören, die dafür danken, Hörige eines politi- 
ſchen Condottiere zu ſein. Jeder Leſer der „Gedanken und Erinnerungen“ weiß 
ja, daß die Parteien ſich weniger durch ihre Programme als durch die Perſonen 
unterſcheiden, die an ihrer Spitze ſtehen, und für fich eine möglichſt große Gefolg- 
ſchaft von Abgeordneten und publiziſtiſchen Strebern anzuwerben ſuchen. 

Wenn Heyd ſeinerſeits das Verhältnis zwiſchen den Parteihäuptlingen und 
den Zeitungen ſowie anderen geſchäftlichen Unternehmungen dahin einſchätzt, 
daß er jene von dieſen abhängig ſieht, ſo ändert das an der Hauptſache nichts. 
Dieſe aber ift, daß der Parlamentarier in Wahrheit nichts weniger iſt als ein Ver- 
treter des ganzen Volkes. Wie in Frankreich bringt er vielmehr dank feiner Ver- 
flechtung in geſchäftliche Beteiligungen nur die Intereſſen eines Kreiſes zur Geltung. 
Nichts bezeugt unwiderleglicher das Fehlen pflihtmäßiger Erwägungen über die 
Schädlichkeit oder den Nutzen einer Regierungsvorlage für das Volksganze als 
der ſattſam bekannte Kuhhandel. Denn die für die Bewilligung eingetauſchten 
Zugeſtändniſſe ſind, weil mit der Sache ſelbſt meiſt gar nicht zuſammenhängend, 
nicht geeignet, die etwa befürchteten ſchlimmen Wirkungen eines von der Re- 
gierung befürworteten Geſetzes auszugleichen. 

So iſt — eine grauſame Zronie der Weltgeſchichte — unſer Volk gerade in 
der Zeit, wo ſein blankes Schwert die lang erſehnte Einheit ſchuf, durch die Einfuhr 
der fremden Ware aus eben dem Lande, gegen das kämpfend es ſeine Einheit 
erringen mußte, mit einem neuen Element der Zerſplitterung belaſtet worden. 
And wenn jetzt während des Krieges, der den Bau unſers Reiches beim natürlichen 
Lauf der Dinge noch feſter fügen müßte, jene unheilvolle Entwickelung durch die 
parlamentariſche Regierungsform gekrönt werden ſoll, ſo wird damit nicht nur 
die Verwelſchung unſeres Staatsweſens vollendet — trotz alles Geredes, daß man 
nicht nach dem weſtlichen Vorbilde parlamentarifieren wolle —, ſondern auch die 
Regierung ſelbſt, bisher die ſichtbare Trägerin, die feſteſte Stütze des Einheits 


gedankens, wird dadurch zur Vertreterin und Vollſtreckerin partikulariſtiſcher Be⸗ 
ſtrebungen erniedrigt, wie die Rede des Vizekanzlers v. Payer am 25. Februar 1918 
zur Genüge beweiſt. 


Das Recht, vielmehr die Pflicht, nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen für heilſam 
gehaltene Überzeugungen zu vertreten, wird da in einer Weiſe beſtritten, die freilich 
nur den überraſchen kann, der mit der Geſchichte des „Freiſinns“ nicht vertraut ft. 
Wie ſehr man ſich hier für berechtigt hält, über entgegengeſetzte Meinungen des 


gaefcke: Neuorientierung und Verſtänbigung auf deutſcher Grundlage 207 


Volkes, das man zu vertreten vorgibt, zur Tagesordnung überzugehen, hat vor 
„ nicht langer Zeit noch Naumann verraten. Er ſchreibt am 27. September 1917 in 
der „Hilfe“ von der herben Kritik, die Offiziere wie Mannſchaften an der Reichstags- 
ö reſolution vom 19. Zuli vor feinen und feiner Kollegen Ohren geübt haben. „Das 
4 ſchadet gar nichts“, fügt er hinzu, „der Soldat braucht kein Politiker zu ſein, er iſt 
Soldat.“ Als ob nicht unſer Heer ein Teil des Volkes wäre — und gewiß nicht der 
ſſchlechteſte! Natürlich hört man an ſolchen Außerungen vorbei, nicht weil fie aus 
dem Munde und dem Herzen von Männern kommen, die zufällig gerade Soldaten 
ı find, ſondern weil fie einem nicht angenehm ſind. Und fo etwas nennt ſich „Volks- 
vertreter“! „Volkszertreter“ wäre richtiger. 

Aber nicht nur das Volk wird beifeite geſchoben. Vielmehr auch die Grenz- 
linie zwiſchen Monarchie und Republik iſt bereits überſchritten. Wenigſtens für 
den, der die Anſchauungen teilt, die Bismarck in einer ſeiner vielen heute leider 
vergeſſenen Reden vertreten hat. Bismarck ſagte am 26. November 1884 im Reichs- 

tage: „Ich unterſcheide zwiſchen Monarchie und Republik auf der Linie, wo der 
| Rönig durch das Parlament gezwungen werden kann ad faciendum, irgend etwas 
zu tun, was er aus freiem Antrieb nicht tut... Die monarchiſche Einrichtung hört 
auf, dieſen Namen zu führen, wenn der Monarch gezwungen werden kann durch 
die Majo rität des Parlaments, fein Miniſterium zu entlaſſen, wenn ihm Einrich- 
tungen aufgezwungen werden können durch die Majorität des Parlaments, die er 
freiwillig nicht unterſchreiben würde.“ 

Nichts wohl kennzeichnet die Lage, in die uns die Parlamentariſierung ver- 

ſetzt hat, deutlicher als jener Vergleich des Kaiſers mit einem Kaufmann, der ſein 
Geſchäft in eine Aktiengeſellſchaft verwandelt. Denn nicht nur die Schwächung der 
Macht wird dadurch klar gemacht, ſondern auch die höchſt fragwürdigen Wirkungen 
dieſer Wandelung für die „breiten Maſſen“, zu deren Gunſten fie angeblich voll- 
zogen worden iſt, treten da zutage. Denn eine Aktiengeſellſchaft hat im allgemeinen 
viel weniger Neigung, auch Fähigkeit, Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter 
5 und die Angeſtellten zu treffen als der ſouveräne Geſchäftsinhaber. So zeigt denn 
ja auch die Geſchichte, daß das Wirken der Regierung eines monarchiſchen Staates 
viel pflichtbewußter auf das Wohl des Volkes abzielt als in einer Republik. 
ESbo muß alſo das Verdammungsurteil, das Heyck über die moderne „Volks- 
vertretung“ und die Parlamentariſierung fällt, von jedem, der Selbſterlebtes ſich 
vergegenwärtigt und offenen Blicks in die Geſchichte ſchaut, unterſchrieben werden. 

Und wie im Innern aus der Parlamentariſierung kein Segen erwachſen 
kann, ſo wird man aus ihr vergeblich einen Nutzen für unſere auswärtigen Be- 
ziehungen erhoffen. Als der Kronprinz im Auguſt 1910 in Königsberg für die Er- 
haltung unſerer geſunden völkiſchen Eigenſchaften eintrat, griffen ihn deshalb 
einige in deutſcher Sprache erſcheinende Zeitungen in der ihrer Stammesart 
eigenen hämiſchen Weiſe an: Da war es ein engliſches Blatt deutſchfeindlicher und 
demokratiſcher Richtung (Newcastle Daily Chronicle), das ihnen einen Nafen- 
ſtüber erteilte. Es bemerkte zu den Witzeleien des Herrn Theodor Wolff: „Alles 
dies iſt Außerft bezeichnend für die plumpen Verſuche gewiſſer deutſcher (7) Journa- 
liſten, witzig“ zu fein. Der Kronprinz gibt einfach den Deutichen den Rat, Deutſche 


208 Haefcke: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage 


zu fein und nicht die Eigentümlichkeiten anderer Nationen nachzuäffen. Und 
darin muß man ihm recht geben. Nichts wirkt fo lächerlich wie derartige Zmita- 
tionen.“ 

Seit Ausbruch des Krieges und namentlich ſeit dem Auftreten Wilſons als 
Apoſtel der Demokratie wollen uns ja nun freilich gerade unſere Feinde ſolche 
Imitationen aufzwingen. Dennoch aber kann nur ein Gemüt von der Harmloſigkeit 
des Widders Bellyn von dem Eingehen auf ſolche Wünſche unſerer Feinde ſich 
moraliſche Eroberungen in Feindesland und in Neutralien verſprechen. Gleich- 


wohl aber geht man bei uns bereits fo weit, eine Annäherung unſerer Zuftände - 


an die da draußen durch Abrüſtung nach dem Kriege zu empfehlen, wie das „Ex— 
zellenz“ Dernburg getan hat. Mit der Verſchüttung der Quellen unſerer Kraft, 


als welche der Krieg unſer ſtarkes Königtum und unſern Militarismus offenbart | 
hat, glaubt man alſo die Feindſchaft der anderen in Freundſchaft verwandeln zu 
können. | 


Die Geſchichte lehrt uns: im Anfang war die Kraft, und die Kraft zieht an. 
Louis Botha iſt uns gewiß nicht ſympathiſch. Aber was denn ſonſt hat ihn in 
Englands Feſſeln geſchlagen als die Erkenntnis von Englands Stärke? Selbſt- 
ſicher und unbekümmert um das Geſchrei der anderen iſt England ſtets ſeinen 
Meg gegangen. Und die von ihm dabei Niedergetretenen erhoben ſich, um — ihm 
zu folgen. Uns dagegen hat die ſeit 1890 eingeſchlagene Händlerpolitik fo an das 
Blinzeln nach aller Welt Mienen gewöhnt, daß wir meinen, mit der völligen Ent- 
fremdung vom eigenen Weſen ſelbſt jetzt mitten im Kriege noch Geſchäfte machen 
zu können. And doch lehrt uns die Geſchichte auch unſeres Volkes, daß einſt auch 
unſere mit Selbſtbewußtſein gepaarte Stärke die Fremden magnetiſch an uns zog, 
als „der Eiſenſtolz der Stauferzeit Deutſchland bis nach England, deſſen Richard 
Löwenherz ſich zum Lehensmann des Staufers erklären mußte, bis nach Apulien, 
Byzanz, Armenien, Agypten Reſpeh und freiwillig ſuchende, werbende Be— 
wunderungen der Fremden ſchuf“. (Heyck: Das Deutfchland von morgen. S. 74.) 
Selbſt ſlawiſche Fürſten wurden damals Förderer des ehrlich bewunderten 


Deutſchtums. f 


Auch heute können wir die „Menſchheitsaufgaben“, die unſer Volk ſo gut 
hat wie jede große Nation, nicht durch Wedeln vor dem, der von uns nichts wiſſen 


will, erfüllen, ſondern nur eingedenk des Wortes Novalis' „Deutſchheit iſt Kosmo⸗ 


politismus mit der kräftigſten Individualität gemiſcht“. Pflegen wir 
darum unſere Eigenheiten — zum Nutzen der Menſchheit! So haben ihr einſt 
ſchon Friedrich Wilhelm I. und ſein noch größerer Sohn gedient, als ſie den durch 
die verlodderten Bourbons entweihten monarchiſchen Gedanken wieder zu Ehren 
brachten, wie dann wieder Wilhelm I. „Damals ſtiegen im Zeichen der monardi- 
ſchen Führung die jungen und neu ſich formenden Nationen auf, begannen ſich 
andere zu erholen, die von der Parteiung menſchenalterlang zerrüttet waren.“ 
(Heyck a. a. O.) Auch in dieſem Kriege hatten ſchon viele bewundernd auf uns 
geblickt. Die unergründliche Weisheit des BSyſtems freilich ſah über ſolche Kund⸗ 
gebungen hinweg und trachtete, hinter den Feinden herlaufend, nach Verſtändi⸗ 
gung mit ihnen durch Beſeitigung unſerer Eigenart. 


U 
N 


| 


Rrauß: Friede 209 


Gerade mit dem männlich ſtolzen England können wir uns nur verſtändigen, 
wenn wir unſere Eigenart betonen und durch Machterweiterung uns Achtung 
verſchaffen. a 
| So bedarf es denn im Innern einer gründlichen Aufräumung, um an der- 
ſelben Stelle wie einſt der Freiherr vom Stein wieder anzuknüpfen. Angeknüpft 


aber hat er an die germaniſche Demokratie, wo von der Sippe bis zu dem Staate 


ſelbſt alles Selbſtverwaltung bleibt. Hier gibt es keine Vermittlerſtände. Alles 
it Gemeinſchaft, Verband. Für alle Angelegenheiten beſteht die Verbandsgemeinde, 
die eigenfüßig zuſammentritt. Dies germaniſche Verfahren hat der Freiherr vom 


Stein wieder aufgenommen. Und feine Geſetzgebung wies den Weg: von der Selbit- 


verwaltung im kleineren zur umfaſſenden Selbſtregierung. Dann hat Bismarck 
wieder daran gedacht, unſer Volk aus dem Elend des Parlamentarismus durch eine 
Vertretung der Berufe herauszuführen. Und von anderen Erwägungen gelangten 
andere Männer zu ähnlichen Vorſchlägen. Es ſei nur an den im 2. Oktoberheft 
des „Türmers“ (1917) vom Freiherrn v. Grotthuß empfohlenen deutſchen Volksrat 
erinnert. Und hat ſich nicht in den Sondergerichten des Wirtſchaftslebens eine 
ſolche wahre Volksvertretung ſchon vorbereitet? Za, ſelbſt in unſeren Parlamenten 


hat ſich dieſer Gedanke bereits Bahn gebrochen, jo daß entgegen dem Wortlaut 


} 


der Verfaſſung die ſozialdemokratiſchen Abgeordneten ſelbſt von der Regierung 
als Vertreter der Arbeiter behandelt werden. 


Zurzeit iſt unſere Volksvertretung der Schauplatz „phariſäiſch verdeckter 


| Intereſſen“. Von der „offenen Intereſſenvertretung“ iſt eher gutſinnige Ver- 


ſtändigung und Gemeinſinn und darum ſegensreiches Wirken für unſer Volk zu 
erwarten. 


Nach außen aber? „Deutſchland bedarf einer ſichtbaren, von ihm aus- 


ſtrahlenden Geſchichtsidee. Wir hatten ſie unter Bismarck in der hochſichtbaren 


— 


= — — 


„een 
— 
= 


* 


Verdienſtlichkeit der volkswurzelnden Monarchie. Und wir erneuern, verjüngen 
ſie, indem wir damit die Aufrichtung der wahren Volksvertretung verbinden.“ 


Geyck: Parlament oder Volksvertretung? S. 10.) 


Friede - Von Ernſt Krauß 


Die Sonne iſt verſunken, 
Das Meer liegt farbentrunken, 
Die Dünen ruhn in zartem Sauch. 


Der Abend will ſich neigen, 
Und tiefer wird das Schweigen — 
Nun, liebe Seele, ruhe auch. 


ze 


Der Türmer XX, 17 & 14 


210 Duenfing: KNnabenkonzert 


Knabenkonzert 
Von B. Duenſing 


„Nun ſo laßt uns tapfer ſtreiten, 
Und ſoll ich den Tod erleiden“ — — 


alle Eine, a fih dem guten Eindruck hingeben, 1 die der Kin- 
der, die erſt ſchüchtern an den warmleuchtenden Wänden zu der Licht und Hoheit 
ſtrahlenden Dede hinaufſehen und dann herab auf die eigne dürftige Kleidung; 
daß ſie ſich wohltuend berührt finden. Daß ſie daſitzen, wie träumend in all der 
Behaglichkeit. Still vertraulich, wie das jugendliche Alter gerne ſich mit Ver⸗ 
trauen anſchmiegt an die übergeordnete Kraft der Alteren, die die Beſtimmung 
trifft über das große, weite, reiche, offne Leben, das für ſie die Zukunft iſt; über 
fie ſelbſt. — — 

And ſie fühlen ſich gehoben und geehrt! Denn ihretwegen kommt ein 
jeder der reichgeſchmückten Leute, die zu der Türe hereindrängen und ſich geräufch- 
voll unter gegenfeitigen Begrüßungen — denn fie ſcheinen ſich hier alle zu ten- 
nen — in die ſamtenen Stühle niederlaſſen, nur ihretwegen. — — 

Vorne vor dem Podium, auf dem ſonſt Künſtler von Ruf ſitzen, find eine 
Reihe von Plätzen zurückbehalten, dort ſitzen nur Frauen. Zarte, bleiche und derbe, 
robuſte Frauen, alle gleich darin, daß ſie äußerlich nicht in ihre Umgebung zu 
paſſen ſcheinen: wie ein Mißton in einer vollendeten Harmonie der Farben wirken 
ſie, wie eine Diſſonanz, die da ſein muß, weil ſie nach des Künſtlers Anordnung 
ihre Berechtigung hat, und die man mit in den Kauf nimmt. Einige von ihnen 
ſind beinah ärmlich gekleidet, andre fallen auf durch den nicht eben gejchmad- 
vollen Putz: billig und leicht. Die meiſten ſind in kümmerliches Schwarz gekleidet. 
Sieht man dieſen Frauen in die Augen, die ſuchend an den vor ihnen ſitzenden 
Kindern hängen, ſo gewahrt man ein andres Zeichen ihrer Gleichheit. Sie alle 
ſind Mütter. — — 

Und dann beginnt das Konzert. 

Viele hundert Kinder, Knaben, ſingen im Chor. Sie ſingen ein Lied von 
tröſtlicher Zuverſicht zu dem, der die Lilien auf dem Felde kleidet und den Vögeln 
unter dem Himmel ein Berater iſt. 

Sie ſelbſt ſind junge, aus dem Neſt gefallene Vögel: Waiſen, denen der 
Vater fehlt. Und darum ließ man ſie hier ſingen: ſchlecht und recht, wie es ihnen 
eingeübt wurde. Ihr Schickſal iſt die Hauptſache. Und wenn ſie hier ſingen, 
ſo iſt es für ihre eigene Zukunft, der der Berater fehlt, der Führer, der Freund, 
an deſſen Leben ihr eignes anknüpfen ſollte in der Geſchlechter Reihe, bevor der 
Faden riß und ſie hinausſchleuderte ins Meer der ungewiſſen Zukunft; obſchon 
ihnen die ganze Grauſamkeit dieſer Tatſache nicht bekannt iſt. 


4 


Heibſieck: Grabfchrift auf ein Nriegerdenkmal 211 . 


Sie ſingen — — voller Zuverſicht, leichten Sinnes, in den lichten, hellen 
Raum hinein, unter den gerührten, freundlichen Mienen all der Hochgeſtellten, 
Reichen und Mächtigen: es kann ihnen nicht fehlen! Fhnen und ihrer Zukunft. 

Es iſt ja ein Band, das ſie alle umſchlingt, wie man ihnen geſagt hat, das 
Band heißt: Vaterland, und dem gilt ihr zweites Lied, gläubig und fromm. 

Viele hundert Knaben geloben dieſem Lande ihre Kindertreue — und ſie 
glauben, was ſie ſingen. Wie könnte es anders ſein in dieſer Welt? 

Sie geloben, zu ſterben, wie ihre Väter ſtarben für dieſes Vaterland — als 
Helden. 

Sie denken ihrer Väter, der Geweſenen. Oerer, die jung, in der Blüte ihrer 
Jahre gefallen ſind; deren Andenken unter ihrem Sang vor uns aufwächſt groß 
und erhaben. Und das Wachſen wird immer größer und erhabener werden mit 
den Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtauſenden. Ihr Ruhm iſt unverwelllich. 
Sie find geborgen vor Niedergang und Not ... Aber nicht ihre Nachkommen. — 

Viele hundert kleine Abkömmlinge ſingen den Ruhm ihrer Vorgänger, 
deren Fußſtapfen beſtimmt waren zu ihrer, der Kinder, Leitſpur; die nun die 
Zeit verwehen wird. Die grauſame Zeit; die nichts davon laſſen wird als loſen 
Sand, Steine und Geröll, die nichts übrig hat für die Abkömmlinge der Helden. 
Die ſchnelle Zeit, die fo bald vergißt auch das heiligſte Vermächtnis von Toten. — 

Hundert Knaben fingen den Abſchied ihrer Väter an das Leben. Das weiter- 
geht mit uns, den Weggenoſſen derer, die ſie ſchutzlos laſſen mußten, als ſie 
für alle ſtarben. 

Sie laſſen die Seelen der Gefallenen vor uns aufſteigen im Liede, bevor 
der Ruf verrauſcht, verklingt. 

Verklingt wie der letzte Ton, das letzte Lied aus dem Chorgeſang der Un- 
mündigen in dem reichen, vornehmen Saale, den die Hörer verlaſſen wie de Träu- 
menden. — — — 

Wer wird dieſen hundert Knaben Vater ſein? 


n auf ein Kriegerdenkmal 
Von Hans Heidſieck 


Wandrer! wenn du hier verweilſt, 
Falte ſtill die Hände; 

Denke, eh' du weiter eilſt, 
Einmal an dein Ende! 


Suchſt du eigenen Gewinn, 
Wirſt du raſtlos wandern. — 
Dieſe gaben alles hin 

Für das Wohl der andern. 


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Heil⸗ und Anheilkunſt 


Kulturgeſchichtliche Skizze 


7 

N icchwitzes, beſonders im 18. Jahrhundert, als der Rationalismus die ſeichte Kritik 
aufkommen ließ. Die amtliche Feſtſtellung, daß heute von 100 Verwundeten nicht 
weniger als 91 wieder dienſtfähig und einige achtzig für die Front verwendbar werden, muß 
auch den giftigſten Witzbold verſtummen laſſen. Wer vollends hört, daß manche Lazarette 
ganz ohne Verband, nur mittelſt einer bis ins kleinſte peinlich durchgeführten Aſepſis arbeiten 
und die glänzendſten Refultate erzielen, fühlt ſich getrieben, vor der heutigen ärztlichen Kunſt 
eine Verbeugung zu machen und ehrerbietig den Hut zu ziehen. Unfere Arzte — junge wie 
alte — haben in dieſem heilloſen Weltwürgen Großes, Erhabenes geleiſtet und Beiſpiele von 
aufopfernder Selbſtloſigkeit und Pflichttreue hingeſtellt, ſowohl vor Freunden wie vor Fein; 
den, über die erſt die ſpätere Zeit das verdiente Lob ausgießen wird. Wenn mancher mitten 
im gräßlichen Tumult der Grabenſchlacht 48 oder wohl gar 72 Stunden keinen Schlaf in die 
Augen treten ließ, weil er ununterbrochen zu operieren und zu bandagieren hatte, ſo iſt das 
noch keineswegs das Höͤchſte der ärztlichen Leiſtungen geweſen. Und wier vielen hat der Granat 
regen das Schickſal bereitet, vor dem ihre raſche, heilbringende Fürſorge Hunderte ihrer Rame- 
raden behütete! Auch ein Heldentum, das noch keinen würdigen Sänger gefunden hat. Es 
iſt nicht zuviel gejagt, wenn man behauptet, daß wir dieſen Krieg nicht würden haben durch; 
halten können, wenn nicht die moderne ärztliche Wiſſenſchaft die allermeiſten wieder 
kampffähig hätte werden laſſen, welche die feindlichen Geſchoſſe hinſtreckten. 

Das iſt die Frucht deutſchen Forſchergeiſtes, der auch in der Technik und chemiſchen 
Technologie ſo vieles Groß geſchaffen hat und wohl auch ferner noch ſchaffen wird, die Frucht 
jahrhundertelanger treuer Arbeit. Was im beſonderen die Chirurgie in dieſem Kriege geleiſtet 
hat und jeden Tag ferner noch leiſtet, erfährt man am zuverläſſigſten aus einem Vortrage, 
den der Breslauer Chirurg Geh. Rat Prof. Küttner über die Fortſchritte der Kriegschirurgie 
gehalten hat, und der jetzt durch den Oruck allgemein zugänglich geworden iſt: man kann da- 
bei wirklich von Wundern ſprechen. 

Vor einem halben Zahrtaufend freilich Jah es in der deutſchen Medizin ſehr böſe aus, 
noch ſchlimmer aber in den Zeiten des früheren Mittelalters, in denen ſich die italieniſchen, 
franzöſiſchen und ſpaniſchen Hochſchulen bereits zu hoher Vollkommenheit entwickelt hatten. 
Während hier die ärztliche Wiſſenſchaft auf den Lehren der römiſchen, mehr aber noch der 
großen griechiſchen Heilkünſtler fortbaute, die ſpäter leider von den arabiſchen Empirikern 
verdrängt wurden, trieben Scharlatane, Quackſalber und alchimiſtiſche Wundermänner ihr 


Hell. und unhelltuntt | 213 


unheilvolles Handwerk gemeinſam mit Zahnbrechern und Varktſchreiern, herumziehend auf 
den Wochenmärkten der Städte und Flecken, und lockten durch plumpe Anreißer in buntem 
poſſenhaften Aufputz die argloſen Toren mit Latwergen und Wundertränkchen ins Garn. 
Wer die mittelalterliche Literatur ein wenig durchſtöbert, ſtößt überall auf die lächerlichſten Bei- 
ſpiele von abergläubifchen und unſinnigen Hausrezepten und Sympathie -Ratſchlägen in Ralen- 
dern und Flugblättern, in Arzeneibüchern und Geſundheitskatechismen, die neben den ſo⸗ 
genannten „Planeten“ und Geburtstagsdeutungen auf den Märkten einen ſehr gewinnbringen- 
den Handelsgegenſtand bildeten. Eines der merkwürdigſten Produkte dieſer Gattung iſt das 
aus dem Ende des 17. Jahrhunderts ſtammende „Flagellum salutis“ oder Heilung durch 
Schläge in allerhand ſchweren Krankheiten von K. F. Paullini, einem ehemaligen Theologen, 
der dann zur Heilkunde überging und Leibarzt des Biſchofs von Münſter wurde. Er verfaßte 
auch die Schrift: „Heilſame Oreck- Apotheke“, wie nämlich durch Kot und Urin die meiſten 
Krankheiten und Schäden glücklich geheilt werden, zwei Bände, die auf mittelalterlichen Prak- 
tiken fußen und typiſche Beiſpiele der beſonders im 13. und 14. Jahrhundert im Schwange 
geweſenen Schmutzquackſalberei darſtellen. Wer das Weſen jener Zeiten auf dieſe Bejonder- 
heit hin in unterhaltender Art kennen lernen will, dem gibt wohl keine Schrift ein le 
Bild von ihm als Baumbachs anmutige Erzählung „Truggold“. 

Während die Medizin in Oeutſchland noch in tiefſter Finſternis ſtak, erblühte ihr in 
gtalien ein prangender Frühling. Am Buſen von Päſtum, in der maleriſchen Stadt Salerno, 
dem Hauptort des gleichnamigen, unter ſizilianiſcher Oberhoheit ſtehenden Fürſtentums, 
entſtand um die Wende des erſten Zahrtauſends eine ſpäter, im Jahre 1213 zur Univerſität 
ethobene, vorwiegend mit griechiſchen Gelehrten beſetzte Hochſchule, welche ſich alsbald im 
ganzen Abendlande des größten Anſehens erfreute und aus allen Teilen Europas Studierende 
herbeizog. Ganz im Gegenſatz zu der arabiſchen Medizin, der durch den Koran das anatomiſche 
Studium des menſchlichen Organismus an der Leiche ſtrengſtens unterſagt war, und die da- 
her mit ihren Lehren meiſt im Nebel tappte, wurde hier ſchon frühe der Anatomie die größte 
Wichtigkeit zuerkannt und damit die Chirurgie auf eine bis dahin ungeahnte Höhe gebracht. 
Diele Fürſten und Große begaben ſich dorthin, um für ſchwere Übel Heilung zu ſuchen. Ein 
Biſchof Adalbert von Verdun hat ſchon im Jahre 984 die Hilfe der ſalernitaniſchen Arzte in 
Anſpruch genommen, ebenſo der ſpätere Papſt Viktor II., der feinen Körper durch über- 
mäßiges Nachtwachen und Zaften aufs äußerſte erjhöpft hatte. Wilhelm der Eroberer, der 
nachherige Rönig von England, der im Kampfe eine hartnäckige Wunde davongetragen hatte, 
zählte ebenfalls zu den Patienten der berühmten Pflanzſtätte der Heilkunſt. Am bekannteſten 
don ihnen allen iſt jedoch der Ritter, deſſen tragiſches Geſchick der Minneſänger Hartmann 
von der Aue und neuerdings Gerhart Hauptmann dichteriſch behandelt haben: der „arme 
Heinrich“, ein Ausſätziger, dem Heilung verheißen war, wenn er das Herzblut einer reinen 
Jungfrau, die ſich freiwillig für ihn opferte, tränke. Er pilgert mit der Tochter des Bauers, 
bei dem er Zuflucht und Pflege gefunden, nach Salerno, um das Blutopfer vollziehen zu laſſen, 
verbietet aber, daß der Arzt, als er das Meſſer anzuſetzen im Begriff ſteht, die tödliche Opera 
tion ausführt, und geneſt dann ohne fie, weil er ſich vor Gott gedemütigt hat, worauf er das 
Mägdlein zum Weibe nimmt. — Die Heilung der im Mittelalter außerordentlich häufigen 
Seuche durch Trinken von Menſchenblut ſcheint ein weitverbreiteter Glaube geweſen zu ſein. 
Einem ſagenhaften König Richard von England, der ebenfalls vom Ausſatz befallen war, ſoll 
nach der Legende ein Jude als Arzt empfohlen haben, das Blut eines neugeborenen Knaben 
zu einem Bade zu verwenden und das Herz des Opfers zu verzehren: auch ein Beiſpiel für 
den entſetzlichen Wahn, deſſen Pflege man beſonders im Mittelalter den grauſam verfolgten 
djraeliten böswillig andichtete. 

Höchſt auffällig und erſtaunlich iſt die Tatſache, die Haeſer in feiner großartigen ©e- 
ſchichte der Medizin bezeugt, daß nicht nur Männer als Profeſſoren an dem mediziniſchen 


214 Heil- und Unheiltunſt 


Kollegium von Salerno wirkten, ſondern auch Frauen, und zwar für das intereſſante Gebiet 
der Heilkunde. Sie dozierten und praktizierten nicht bloß auf dem Felde der Geburtshilfe, 
ſondern auch in der Chirurgie, und behandelten die ſexuellen Leiden ohne Unterſchied des Ge- 
ſchlechts der Patienten, ein höchſt bezeichnender Beweis für die Unabhängigkeit der damali- 
gen ſittlichen Anſchauungen von dem weiblichen Schamgefühl, das im ganzen Mittelalter 
weit weniger als in der modernen Zeit entwickelt war. Unterhielt man ſich doch ſelbſt noch 
zu Luthers Zeiten und auch fpäter noch in den ritterlichen Kreiſen mit den weiblichen An- 
weſenden ganz offen und ohne jede Scheu über die damals neu aufgetauchte und entſetzliche 
Verheerungen in allen Schichten der Bevölkerung anrichtende Lues, einer Folge der Ent- 
deckung von Amerika, zu deren Opfern auch Ulrich von HYutten zählte. 

Von Salerno aus verbreitete ſich die ärztliche, Wiſſenſchaft in alle Länder Europas, 
zumal die Studierenden dort Stipendien empfingen und daher auch vom Auslande her in 
anſehnlicher Zahl hinzuſtrömten. — Vielfach finden ſich ſogar hohe Geiſtliche unter den letzte; 
ren, fo daß es nicht verwundern kann, wenn Biſchöfe und Abte unter der Zahl der Leibärzte 
von Fürſten und Königen genannt werden; war doch auch fogar ein Biſchof von Salerno 
der oberſte Leiter des mediziniſchen Kollegiums, das keineswegs eine geiſtliche, ſondern eine 
weltliche Anſtalt darſtellte. Aber nicht allzulange währte die Glanzperiode der italieniſchen 
Metropole der Medizin. Schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts war ihr Stern erblichen, 
nachdem die arabiſche Pſeudomedizin ſich dort eingeniſtet hatte und andere Hochfchulen ent- 
ſtanden waren, die gewaltige Anziehung übten. So vor allem Bologna, Padua, Piſa, Neapel 
und zumal Montpellier, das an Stelle von Salerno der ſtarke Anziehungspunkt für auslän- 
diſche Jünger der ärztlichen Wiſſenſchaft geworden war, namentlich für iſraelitiſche, die ſich 
im Mittelalter mit beſonderer Vorliebe und rühmlichem Forſcherdrange auf die Heilkunde 
warfen. Weder Paris noch die Fakultät von Lyon, noch weniger Wien konnten mit dieſer 
Bildungsſtätte rivalifieren, deren Ruhm fo ſchnell wuchs, daß ſelbſt aus Deutſchland dort zahl- 
reiche Hörer ſich einfanden, um den Doktorhut zu erwerben, denn von den deutſchen Uni- 
verſitäten, unter denen am meiſten Prag (gegründet 1348) auf naturwiſſenſchaftlichem Ge⸗ 
biete bedeutete und das Zentrum des geſamten geiſtigen Lebens in Deutſchland wurde, er- 
litt die Medizin eine jo arge Vernachläſſigung, daß felbft die größten Hochſchulen, wie Wien 
(gegründet 1565), nicht mehr als drei, die meiſten ſogar nur zwei Profeſſoren beſaßen und 
die Chirurgie gänzlich verwaiſt blieb. Heidelberg (gegr. 1386), Leipzig (1409) und 
Tübingen (1477) zählten zu den letzteren, Greifswald (1456) mußte ſich ſogar mit nur einem 
einzigen Lehrer begnügen! Kein Wunder, wenn die wiſſenſchaftlich gebildeten Arzte in Oeutſch⸗ 
land äußerſt ſelten waren, beſonders bis in das 15. Jahrhundert hinein, und die Bfufcher und 
Latwergendoktoren, die aus dem Stande der Barbiere emporgekommenen Wundärzte, die 
keine Spur von wiſſenſchaftlicher Erkenntnis der Funktionen der einzelnen Organe beſaßen, 
ſondern all ihr Können aus der Erfahrung geſchöpft hatten, die übergroße Mehrheit bildeten, 
welcher der Kranke als Verſuchskaninchen dienen mußte. Und doch waren die ſchweren Krank- 
heiten, beſonders die Pocken, die Typhen, der „Schwarze Tod“ (Peſt), die Lues (zu Ende 
des 15. Jahrhunderts) und außerdem zahlreiche innere Leiden, die man heute als bakterielle 
Verſeuchungen anſieht, bei den ungünſtigen hygieniſchen Verhältniſſen des öffentlichen Lebens 
ſo gefährliche Feinde, daß ſie zu ihrer Bewältigung eines kundigen, genügend vorgebildeten 
Arztes unbedingt bedurften. Wie treffend hat Goethe es im „Fauſt“ mit wenigen Verſen 
gekennzeichnet, was die Kulturgeſchichtſchreiber nur auf vielen Seiten könnten, indem er den 
Univerſalmenſchen ſagen läßt: 

f Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann, 
Der über die Natur und ihre heil' gen Kreiſe 
In Redlichkeit, jedoch auf ſeine Weiſe, 
Mit grillenhafter Mühe ſann; 


Eſãſſiſches 215 


Der in Geſellſchaft von Adepten 
Sich in die ſchwarze Küche ſchloß 
Und nach unendlichen Rezepten 
Das Widrige zufammengoß ... 


Hier war die Arzenei, die Patienten ſtarben, 
Und niemand fragte, wer genas. 

So haben wir mit hölliſchen Latwergen 

In dieſen Tälern, dieſen Bergen 

Weit ſchlimmer als die Peſt getobt. 


So war es in der Tat. Aber wen kümmerte das? Eine Aufſicht und ſtrafrechtliche 
verantwortung gab es für die Arzte nicht, nur die wenigen, von den Näten der Stadt in großen 
Gemeinden angeſtellten, welchen die Armenpraxis oblag, und die oft auch nicht klüger als 
die anderen waren, unterſtanden der Kontrolle der Stadtbehörde, die anderen konnten tun, 
was ihnen beliebte. Junge Arzte und Totengräber werden daher auf den Spottbildern oft 
Arm in Arm dargeſtellt. „Ein junger Arzt und ein hockeriger Kirchhof“ oder „ein junger Arzt 
muß drei Rirhhöf’ haben“, waren mittelalterliche, weitverbreitete Spottſentenzen. Die Hono- 
rare waren für jene Zeit nicht gering. Friedrich II. hatte eine Taxe aufſtellen laſſen, nach 
welcher der Arzt bei mehrmaligem täglichen Krankenbeſuch 60 Pfennige erhalten ſollte; man 
gewinnt einen Maßſtab für die Wertung dieſes Betrages durch die Angabe, daß im Jahre 
1488 in der Stadt Schweinfurt eine Gans 8 Pfennig, ein Pfund Nindfleifh 3 Pfennig, ein 
ganzer Ochſe 4 Gulden (6,50 &) koſtete, und daß der Tagelohn eines Handwerkers 6 Pfennig 
und Verpflegung betrug! Zweihundert Jahre früher aber waren die Preiſe der Lebensmittel 
noch weſentlich niedriger. Über die Heilmittel und die Art ihrer Verwendung vielleicht ſpäter 
einmal einige höchſt intereſſante Einzelheiten. 


A 
Elſäſſiſches 


1 N lie ſchon jo manches Mal in vergangenen Zeiten iſt die elſäſſiſch-lothringiſche Frage 

65 in den Mittelpunkt auch dieſes ungeheuren Weltgeſchehens gerückt und zum 
ſpringenden Punkt der Friedensfrage geworden.“ Dabei gibt es in der Tat 
heute in Oeutſchland keinen wirklichen Deutſchen, der, aufs Gewiſſen befragt, anders antwor- 
ten könnte, als: „Die elſäſſiſche Frage iſt nur noch eine innere deutſche Frage.“ Und von aller 
ſittlichen und geiſtigen Überzeugung abgeſehen, muß auch die politiſche Vernunft einſehen, 
daß „nur auf des Reiches Trümmern wieder ein franzöſiſches Elſaß- Lothringen zu erlangen 
wäre. Aber wie einſt Preußens Zerſtückelung in Tilſit die große Wiedergeburt des am Boden 
liegenden Staates und den Sturz des machtgewaltigen Kaiſers bewirkt hat, fo würde auch heute 
eine Niederwerfung Oeutſchlands den Oauerfrieden nicht bringen, den die Entente als ihr an- 
gebliches Kriegsziel proklamiert ... Eine Verſtändigung iſt dann und erſt dann und nur dann 
möglich, wenn Frankreichs Volk einſieht, daß es auf falſchem Pfade ſich befindet, daß Deutfch- 
land aus geſchichtlichen, aus militäriſchen, aus wirtſchaftlichen Gründen Elſaß-Lothringen nicht 
mehr laſſen kann.“ Gerade in dieſer Erkenntnis aber darf der Oeutſche ſich dem eindringlichen 
Studium der elſaß-lothringiſchen Frage nicht entziehen. Soviel feit 1871 in Deutſchland über 
Elſaß-Lothringen geredet und geſchrieben worden iſt, einer tieferdringenden Auffaſſung des 
Problems, einer eindringlicheren Kenntnis der geſamten geſchichtlichen, volkswirtſchaftlichen 


Dr. Eugen Sierke-Braunſchweig 


216 Eijäfifgee 


und ſprachlichen Verhältniſſe ift man nur ganz ausnahmsweiſe begegnet, ganz zu ſchweigen 
von den tiefer liegenden, nur ſchwer feſtzulegenden unwägbaren, aber gerade darum ſehr ſchwer 
wiegenden pſychologiſchen Vorausſetzungen. Das muß anders werden. So klar wir uns dar- 
über find, daß Elſaß-Lothringen keine internationale Angelegenheit mehr fein kann, fo ent- 
ſchieden müffen wir uns dazu bekennen, daß es eine der wichtigſten innerdeutſchen Fragen iſt, 
deren gute Löſung erreicht werden muß zum Heile dieſes wertvollen Beſtandteiles unſeres 
Landes, zum Heile aber auch unſeres ganzen Vaterlandes. 

Aus dieſer Überzeugung faſſe ich hier einige Bücher zuſammen, die auf ganz verſchiede⸗ 
nem Wege zu dieſem gleichen Ziele hinführen können. An erſter Stelle nenne ich das Buch, 
dem die obigen Sätze entnommen find: „Anſer Recht auf Elſaß-Lothringen. Ein Sammel- 
werk, herausgegeben von Dr. Karl Strupp“ (München und Leipzig, Duncker & Humblot; 
6 4). Die Bezeichnung als Sammelwerk führt dabei etwas irre. Weder die Einleitung des 
Bonner Rechtsgelehrten Philipp Zorn, noch das Schlußwort des Herausgebers haben viel 
zu bedeuten. Wertvoller, wenn auch keineswegs erſchöpfend, iſt Ferdinand Wredes Abhand- 
lung über die Sprachenfrage. Ganz ausgezeichnet aber und der weiteſten Verbreitung würdig 
iſt die „Politiſche und kulturelle Geſchichte Elſaß- Lothringens“ aus der Feder des Straßburger 
Profeſſors Dr. Karl Stählin — ein elſäſſiſcher Name —, der übrigens von den 230 Seiten 
des Bandes beinahe 200 eingeräumt ſind. „Wie in einem Spiegel reflektiert das wechſelſeitige 
Machtverhältnis des deutſchen und des franzöſiſchen Reiches in den Geſchicken unſeres Grenz 
landes. Dieſe Beobachtung gilt von den Anfängen bis auf den heutigen Tag. Die Geſchichte 
Elſaß-Lothringens iſt ſomit keine Provinzialgeſchichte im gewöhnlichen Sinn, ſondern fie ſteht 
in den großen europälfhen Zuſammenhängen.“ Stählin weiß dice Zuſammenhänge glän- 
zend herauszuarbeiten, und ſo dreht ſich um uns, während wir im Angelpunkte Elſaß-Lothringen 
ſtehen, mehr als ein Jahrtauſend der bedeutſamſten europälſchen Staatengeſchichte. Die Fülle 
der Bilder wird um ſo packender und wechſelvoller, weil für Elſaß und Lothringen, abgeſehen 
vom gemeinſamen Schickſal paſſiver Art, beinah jedes Ereignis der inneren Verſchiedenheit 
wegen auch eine verſchiedenartige Bedeutung gewinnt. 

Die falſche oder unzureichende Beurteilung der elſäſſiſchen Frage auch bei den geſchicht 
lich Geſchulten in Oeutſchland beruht auf der Verkennung der Bedeutung des franzöſiſchen 
Revolutionszeitalters für die innere Wandlung im Elſaß. Ich habe darauf ſchon 1897 in mei- 
nen in der „Täglichen Rundſchau“ veröffentlichten „Briefen eines Elſäſſers“ mit allem Nach- 
druck hingewieſen und glaube nach meinen Erfahrungen der Beurteilung der Vergangenheit, 
aber auch der Erkenntnis unſerer Zukunftsaufgaben einen guten Dienft zu erweifen, wenn ich 
die hierher gehörigen Ausführungen Stählins abdrude: „Das Fahr 1789 iſt das Geburtsjahr 
des modernen Elſaß. 1792, im Augenblick der Kriegserklärung an Sſterreich, erſchollen im 
Straßburger Salon der Madame Dietrich zum erſtenmal die Klänge des Sturmliedes der Re⸗ 
volution, der Marſeillaiſe. Und das letzte kriegeriſche Ereignis des Jahres 1815 war die Über- 
gabe der elſäſſiſchen Feſte Hüningen, die wie alles zur napoleoniſchen Epoche Gehörige von 
der Legende umrankt wurde. So erſcheint das Elſaß von Anfang bis zum Ende wieder mit 
dem ganzen Zeitraum verbunden. ... Die 26 Revolutions- und Kriegsjahre hatten zuwege 
gebracht, was ein ganzes vorangegangenes Jahrhundert nicht vermocht hatte. Das Elſaß 
ging aus ihnen verwandelt hervor. Es hatte ſich nicht nur politiſch nun völlig aſſimiliert, ſon⸗ 
dern, wenn auch noch unter Beibehaltung feiner deutſchen Sitte, einen Wechſel feiner natio- 
nalen Idee vollzogen. Wie war das gekommen? Wir ſahen, wie die alte Stãdtemacht und 
Stãdtekultur feit zweihundert Jahren zurückſank, wie über dem Rhein das alte Reich ſeit der 
ſelben Zeit ſeinem Untergang entgegenſiechte und die Verbindung beider Teile wenigſtens 
auf ſtaatlichem Gebiet gelockert und unterbrochen wurde. Aber das alles hätte nicht genügt. 
Eine Kataſtrophe mußte kommen, um Gegenwart und Vergangenheit voneinander zu löfen, 
und ſie kam: wie durch einen gewaltigen Bergſturz lagen die Erinnerungen an die eigene einſtige 


Eſaſſiſches as 217 


Glanzzeit und die einſtige Größe des Reiches verſchüttet. Was galten da noch Namen wie 
Tauler oder Jakob Sturm oder Bucer? Und mit der neuen rein geiſtigen Größe des politiſch 
abermals tief in den Staub getretenen Mutterlandes, einer Größe, die in ihrer jetzt ſchon voll“ 
zogenen Vermählung mit dem preußiſchen Staat die Grundlage der künftigen geſamtnationalen 
Wiedergeburt werden ſollte, fehlte den allermeiſten jeder Zuſammenhang. Dafür waren ele- 
mentar die unteren Kräfte entbunden und alle Schichten von einem Strom des Enthuſiasmus 
durchflutet, wie er niemals zuvor erlebt war. Wie die Lothringer, jo hatten ſich mit altgermani- 
ſcher Rampfesfreude die Alemannen des Elſaß in die Schlachten des großen Kriegshelden ge- 
worfen, über die Länge und Breite des Kontinents hatten ſie unter ſeinen Fahnen geſtritten 
und Lorbeer auf Lorbeer um ſie gewunden. Eine beſonders ſtattliche Reihe glänzender und 
zumeiſt den unteren Ständen entſtammender Generäle hatten die beiden Grenzprovinzen auf- 
zuweiſen: ein Ney, Oudinot, Victor, Gérard, Mouton, Duroc, Molitor waren Lothringer, 
ein Lefebvre, Kellermann, Kleber, Rapp Elſäſſer. Dieſe Soldatennamen und an der Spitze 
der Name des vergötterten Kaiſers ließen die Herzen des ganzen Volkes höher ſchlagen. Und 
dieſe Begeiſterung in den Ländern des alten karolingiſchen Mittelreiches, die nun nach langer 
Leidenszeit und Halbexiſtenz zwiſchen den Nachbarmächten ſich gewiſſermaßen zu eigener Welt- 
geltung erwacht ſahen, klang zuſammen mit der Begeiſterung der franzöſiſchen Nation und ihrer 
ee von Karl dem Großen: die Sehnſucht der langen Jahrhunderte ſchien in ihm und feinem 
Univerſalreich erfullt, während das alte römiſche Reich, der falſche Erbe, endlich in Trümmern 
lag. Aber nicht nur der gemeinſam erſtrittene Kriegsruhm war das Verbindende. Wenn wir 
im Mittelalter das Elſaß im Gegenſatz zu Lothringen als Städteland bezeichnen konnten, ſo 
muß doch geſagt werden daß im Unterſchied zu Altdeutſchland das Bauerntum dort bis heute 
durch ſtändigeren Zuzug die ſtädtiſchen Elemente ergänzt. Der Grundzug dieſes alemanniſchen 
Bauerntums nun, das jetzt erſt greifbarer in die neue Geſchichte eintritt, iſt wie der der ftäbti- 
ſchen Maſſen ſelbſt durchaus demokratiſch, unſentimental, der nüchternen Wirklichkeit zugewandt. 
Und dieſe Eigenſchaften der Volkspſyche trafen wiederum völlig überein mit der demokratiſch⸗ 
tationaliſtiſchen Srundſtimmung der Revolution und des Kaiſerreiches. In den Städten kam 
der mit alledem in neues Anſehen gebrachte franzöſiſche Lebensſtil hinzu, um wenigſtens in 
den oberen Kreiſen jetzt ſchon den Konnex noch enger zu geſtalten. Und die Adminiſtration eines 
jo hervorragenden Präfekten wie Lezay-Marneſia in Straßburg mag da, gerade weil er zu- 
gleich ein ſehr guter Kenner deutſchen Weſens war, das Shrige in hohem Maße beigetragen 
haben. Auf dem Lande begann mit der Selbſtverwaltung der Gemeinden unter ihren Maires 
ein bewußtes politiſches Leben. und Bauern- und Bürgertum — das iſt das letzte, aber mit 
das Wichtigſte — gediehen zu neuer materieller Wohlfahrt.“ 

Wir dürfen nicht vergeſſen, daß wir 1871 dieſes neue Elſaß- Lothringen erobert haben 
und nicht ein Staatengebilde, das nur in unſerer Phantaſie lebt. Um fo feſter mußte ſich unſere 
Arbeit auf die urdeutſche Grundlage des elſäſſiſchen Volkstums ſtützen, im übrigen aber nur 
dem hohen Leitbilde der Gerechtigkeit folgen. 

Rein realpolitiſch genommen, hat Lujo Brentano wohl recht, daß die fehlerhafte deutſche 
Politik Elſaß- Lothringen gegenüber ebenſowenig bei Manteuffel, wie bei Möller und Hohen- 
lohe lag. „Bismarck hatte ihn gemacht, als er 1871 Elſaß- Lothringen Preußen nicht einver- 
leibte.“ Bismarck hat ſich dabei entgegen feiner ganzen politiſchen Anſchauung von Gefühls- 
rüdfichten auf die andern deutſchen Bundesſtaaten beſtimmen laſſen. Vielleicht lernen wir 
aus dieſer trüben Erfahrung für das ähnliche Problem, dem wir jetzt im Baltikum gegenüber 
ſtehen. Allerdings find auch fo von der Verwaltung des Reichslandes unglaubliche Fehler ge- 
macht worden. Lujo Brentano kennzeichnet fie zum großen Teil ſehr gut in feinen „Elſäſſer 
Erinnerungen“ (Berlin, Erich Reiß; 4 4). Aber Manteuffel berichtet er ein Urteil Knapps, 
„ieine ganze Politik gegenüber den Elſäſſern ſei die eines Virtuoſen, der auf feiner Perſönlich⸗ 
keit geigt“. Wie alle Virtuoſen hat Manteuffel aus ſelbſtſüͤchtigen Gründen gehandelt. Die 


218 Ä | erſaſſuches 


Volkstümlichkeit, die er ſich fo gewann, ſchmeichelte feiner Selbſtgefälligkeit. Brentano kenn 
zeichnet ſcharf und treffend die Notabeln- und Prälatenwirtſchaft — o Belgien !! —, die üble 
Einrichtung des elſäſſiſchen Notariats, die Jagd verpachtungen, die fragwürdige ſoziale Leiſtung 
des oberelſäſſiſchen Fabrikantentums in den ſeinerzeit vielgepriefenen Arbeiterwohnungen, 
befonders aber verweilt er bei ſeinem Wirkungskreiſe, der Univerfität. Sehr lehrreich, auch 
für die Erfahrungen jetzt im Kriege, iſt die ausführlich mitgeteilte Geſchichte des „Oeutſchen 
Kunſtvereins“ im Elſaß, der nach einiger Zeit kläglich einging, weil die deutſche Regierung 
die von den welſchen Notablen geſtützte „Société des amis des arts“ unterftüßte. Brentano 
hatte mit großem Eifer dieſen Deutſchen Kunſtverein mitgegründet, ihm viel Arbeit gewidmet, 
bis er ſchließlich verbittert ausgetreten iſt. Die Schlußzeilen dieſes Kapitels enthalten die Tragik 
des im Elſaß wirkenden Altdeutſchen. „Die Geſchichte des Kunſtvereins Straßburgs iſt die 
Geſchichte aller deutſchen Beſtrebungen im Elſaß zur Zeit, wo ich dort weilte, geweſen. Da- 
her die Wiederholung derſelben Erſcheinungen bei jedem, der aus Altdeutſchland dorthin kam. 
Ein jeder kam voll guten Willens, in der Erfüllung der geſtellten Aufgaben ſein Beſtes zu tun. 
Aber je eifriger er war, deſto mehr Steine warf — die deutſche Verwaltung ihm in den Weg. 
Denn deren oberſte Richtſchnur war nicht die Behandlung der Fragen nach ſachlichen Geſichts⸗ 
punkten, ſondern mit Rückſicht auf das Wohlgefallen franzöſiſch geſinnter Notabler, welche 
die ihnen gebotenen Vorteile ausbeuteten, ohne etwas dafür zu geben. Die breite Maſſe des 
Volkes aber, die man hätte gewinnen können, trieb man dieſen, die vielfach ſogar ihren Wohn- 
ſitz, alle aber ihren Schwerpunkt in Paris hatten, auf ſolche Weife in die Arme“ 

| Zum Schluß unterſucht Brentano die Frage der künftigen Geſtaltung Elſaß-Lothrin- 
gens. Die oben angeführte Bemerkung über Bismarcks 1871 begangenen Fehler läßt erwarten, 
daß Brentano der Zuteilung Elſaß-Lothringens an einen deutſchen Bundesſtaat oder ſeiner 
Aufteilung zwiſchen verſchiedenen derſelben zuneigen müßte. Er hat aber aus genauen Er- 
forſchungen der jetzigen Lage und Stimmung die Überzeugung gewonnen, daß die Umgeftaltung 
in einen ſelbſtändigen Bundesſtaat der einzige gangbare Weg für die Zukunft iſt. „Freilich 
würde“, jo ſchließt er, „auch dieſe Ordnung allein zur inneren Gewinnung der Elſaß-Lothringer 
nicht ausreichen.“ Und nun bereitet es mir doch ein eigenes Vergnügen, Gedankengänge und 
Vorſchläge, um derentwillen ich vor zwanzig Jahren angegriffen und verlacht worden bin, 
hier ganz getreu wiederzufinden: „Die Selbſtändigkeit Elſaß- Lothringens als deutſcher Bundes 
ſtaat müßte von der Durchführung der Freizügigkeit für die Talente, für deren Betätigung 
das Land ſelbſt zu klein iſt, begleitet ſein; denn nur bei einer wirklichen Durchführung ſolcher 
Freizügigkeit, nicht nur verfaſſungsmäßig auf dem Papier, ſondern auch in der Handhabung 
der Verfaſſungsparagraphen, iſt zu erwarten, daß jene Fülle von Familien beziehungen zwiſchen 
Elſaß-Lothringen und Altdeutſchland entſtehen, die unerläßlich ſind, damit die Elſaß- Lothringer 
in Deutſchland ihr Vaterland ſehen. Und auch jeder deutſche Bundesſtaat im einzelnen würde 
von der Durchführung ſolcher Freizügigkeit den Vorteil ziehen, der das ganze Aufſteigen Breu- 
ßens zum führenden Staate in Oeutſchland bedingt hat.“ 

Nur im Vorübergehen politiſche Fragen ftreift Friedrich Lienhard in feinem Erinne- 
rungsbuche „Jugend jahre“ (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer; 3,50, geb. 4,50 4). Dennoch 
wird man auch für die Erkenntnis des politiſchen Lebens im Elſaß ſeit 1870 aus dieſem Buche 
eine Fülle wertvoller Bemerkungen und Lebenserfahrungen gewinnen und auch hier aufs 
neue beftätigt finden, wie wenig unſere deutſche Regierung es verſtanden hat, ſich an jene zu 
halten, die guten Willens waren. Im übrigen aber iſt Lienhards Buch vor allem eine Quelle 
der Erkenntnis feiner Perſönlichkeit, die vom Standpunkte des Volkstums aus für uns aber 
nicht nur um ihrer Künſtlerſchaft und edlen Menſchlichkeit willen wertvoll iſt, ſondern noch 
mehr, weil hier ein noch unter franzöſiſcher Herrſchaft geborener Elſäſſer ſich das Deutſchtum 
erobert. Es iſt zielbewußte Arbeit, unentwegt treuer Dienſt an einem Ideale und iſt darum 
auch ein Deutichtum von edelſter Reinheit. Die äußeren Geſchehni ſe, die Lienhard von feinem 


Elſaſſiſches 219 


Lebenswege berichtet, wollen nicht viel bedeuten. Wenn man trotzdem im Znnerſten gepackt 
und feſtgehalten wird, geſchieht es, weil hier ein Menſch mit allen Kräften danach ſtrebt, ſich 
jenem Bilde, das er von feinem „Berufe“ in ſich trägt, möglichſt ähnlich zu machen. Wenn 
man ſo will: ein Einſiedler in der Welt, aber nicht, weil er dieſe Welt nicht ſieht oder ſie haßt 
und verachtet, ſondern weil er dieſer Welt am meiſten zu nutzen glaubt, wenn er ſein eigenes 
Selbſt möglichſt rein entwickelt. Das ſchöne Buch empfiehlt ſich darum auch vor allem als 
Geſchenk an Jugendliche. . 

Durch Lienhards Buch find wir in die Welt des Künſtleriſchen geführt worden. Der 
Krieg hat auch manchen Leuten, die gewohnheitsgemäß den Geſchichtsroman herabſetzten, 
die Augen für feine Bedeutung geöffnet. Man hat einſehen gelernt, daß es um unſere ge- 
ſchichtliche Verankerung in den großen Daſeinsaufgaben unſeres Volkes nicht ſo übel beſtellt 
ſein könnte, wenn wir einen Schriftſteller wie Walter Scott hätten, deſſen Werke im gleichen 
Maße zum feſten Wiſſensbeſitz unſeres Volkes gehörten, wie die des Schotten bei den Eng- 
ländern. Aber auch ſchwierige Gegenwartsfragen ſollten häufiger in Romanform behandelt 
werden. Das würde ganz von ſelbſt geſchehen, wenn unſer Volk und vor allem unſere Frauen- 
welt lebhafteren Anteil an unſeren politiſchen Sorgen nähme. Im Krieg iſt das geſchehen, 
und der Niederſchlag zeigt ſich auch ſofort in der Belletriſtik. So ſind in den Kriegsjahren 
mehr belletriſtiſche Behandlungen der elſäſſiſchen Frage erſchienen, als in den vierzig Fahren 
vorher zuſammengenommen. Auf zwei dieſer Bücher will ich in dieſem Zuſammenhange 
hinweiſen. 6 
Von dieſen iſt Maximilian Böttichers „Die Frephoffs“ (Leipzig, Grethlein 
& Komp.; 5 4) ein echter Roman. Daß die Familiengeſchichte ins allgemein Politiſche hinauf⸗ 
wächſt, geſchieht nicht erſt durch den Krieg. Aber der Krieg erweift ſich auch hier als Klärer 
verdunkelter und umnebelter Verhältniſſe. Er duldet nichts Halbes, verträgt in allen inneren 
Dingen, die ja doch ausnahmslos im Volkstum verankert ſind, keine Neutralität und erſt recht 
kein überlegenes Darüberſtehen. Die Ehe des deutſchen Offiziers von Freyhoff mit der Tochter 
eines franzöſierten Elſäſſers Vizs (Wieſe) zermürbt ſich trotz der Liebe der beiden Gatten und 
des Beſitzes dreier Kinder unter den zerſetzenden Einflüſſen des elſäſſiſchen „Ooppelkultur“- 
Klimas. Es kommt ſchließlich auch zur äußeren Trennung der Gatten, wenn auch nicht zur 
völligen Scheidung, und trotz der noch immer in beiden waltenden Liebe zueinander können 
ſie ſich nicht zuſammenfinden, weil bei jeder Gelegenheit die nationalen Verſchledenheiten 
ſich trennend dazwiſchenſchieben. Das greift natürlich auch auf die Kinder über, und ſo gelingt 
es ſelbſt der hochgebildeten Lebensform aller Beteiligten nicht, über ein kühles Nebeneinander 
hinauszukommen, das jeden Augenblick zu einem feindlichen Gegeneinander werden kann. 
Die Hochzeitsfeier des älteſten, zum Vater ſtehenden Sohnes bringt die ganze Familie zu- 
ſammen. Oahinein bricht der Krieg. In einer ſehr bewegten und vielfältigen Handlung, 
die aber durchaus glaubhaft geführt wird, erleben wir über ſchwerſte äußere und innere Kämpfe 
hinweg das Zuſammenfinden aller im deutſchen Geiſte. Das auch pſychologiſch gründlich durch; 
gearbeitete Familienbild ſteht in einem außerordentlich reichen Kulturrahmen. Bötticher 
hat vor allem die ſtädtiſchen Verhältniſſe des Elſaß, wie fie ſich zumal in den letzten fünfzehn 
Sahren vor dem Kriege zum Schlechten entwickelt haben, gründlich ſtudiert. Das unbeil- 
volle Treiben der Wetterld (warum der Deckname Abbé Orage?) und Genoſſen, die Wühl- 
arbeit der franzöſiſchen Agenten, die törichte Schwäche der deutſchen Regierung, das im Grunde 
gutgeſinnte, aber von hüben und drüben unſicher gemachte und in feinen Inſtinkten verwirrte 
Volk iſt gut geſehen und ſicher gezeichnet. So erhebt ſich das Buch aus der Familiengeſchichte 
zu einem wertvollen Zeitgemälde. Die echte Begeiſterung des Verfaſſers, die Schwungkraft 
ſeiner Natur empfehlen es auch der reiferen Jugend. 

Eine in Romanform eingekleidete politiſche Abhandlung über die elſäſſiſchen Zuſtände 
iſt der Straßburger Roman „Ich warte ...“ von Niklaus Bruck (Stuttgart, Deutihe Ver- 


220 „Notre Same“ als Oper 


lags-Anſtalt; 5 4). Der Titel iſt nach einem bekannten Bilde des Elſäſſer Malers Henner, 
das eine Elſäſſerin zeigt, die über die trennenden Grenzpfähle ſehnſüchtig nach Frankreich 
blickt. Der Grundgedanke des Buches iſt, daß die wartende Elſäſſerin ihren Blick jetzt nach 
Deutſchland richte: das innere Elſaß müſſe von Deutfchland noch erobert werden, was nur 
durch ein Eingehen auf die elſäſſiſche Weſensart erreichbar iſt. Gerade in dieſem Falle zeigt 
ſich der Wert der Romanform, weil hier ganz von ſelbſt die tauſend Kleinigkeiten des Lebens 
und die Bedeutung des einzelnen Individuums herausgearbeitet werden konnen, die in einer 
wiſſenſchaftlichen Abhandlung keinen rechten Platz haben, in Wirklichkeit aber faſt wichtiger 
ſind, als die großen Maßnahmen. — Man würde ja nun in manchem mit Bruck rechten können. 
Vielleicht daß er zu nachgiebig iſt und zu wenig daran denkt, daß ſchließlich die Elſäſſerin 
nicht bloß abwartend zu ſitzen brauchte, ſondern auch einmal über den Rhein hinübergehen 
könnte, um ſich zu überzeugen, daß drüben auch Menſchen wohnen. Aber das iſt Nebenſache 
im Vergleich zu dem vielen Richtigen und Beherzigenswerten, was Bruck zu ſagen hat. Und 
vor allem iſt fein Gedanke richtig, daß wir das größere Maß an gutem Willen aufbringen müſ⸗ 
ſen, weil es uns als Eroberern natürlich auch leichter fällt. So wünſche ich dem Buche viele 
Leſer, denn es iſt dazu angetan, jedem einzelnen Oeutſchen beizubringen, daß er im Elſaß 
mit jedem ſeiner Schritte einer außer ſeiner Perſon liegenden Aufgabe zu dienen hat, daß 
ſein ganzes Benehmen in jedem einzelnen Zuge wichtig iſt, nicht nur für die Beurteilung ſeiner 
ſelbſt, ſondern auch ſeines Volkes. 

Daß aber viele Deutſche, wenn erſt wieder Friede iſt, das Elſaß aufſuchen und es wirk- 
lich einmal kennen lernen, iſt aufs dringendſte zu wünſchen. Sie bringen damit kein Opfer, 
denn der verwöhnte König Ludwig XIV. hat nicht umſonſt ausgerufen: „Welch ſchöner Gar- 
ten!“ Wer Sinn für Schönheit hat, für die der Natur einer fruchtgeſegneten Ebene, für die 
des weinbeſtandenen welligen Hügellandes, der hehren Waldungen und der trutzigen Berge; 
wer Freude hat an alten Städten und romantiſchen Dörfchen und Sinn für köſtliche Bau- 
denkmãler, der ſollte ſich bald zu einer Pilgerfahrt ins Elſaß entſchließen. Ein prächtiges Werbe 
mittel iſt da der ſchmucke Band „Im Oberelſaß“, der dreißig Städtebilder und Landſchaf⸗ 
ten nach Originalradierungen von Roland Anheißer vereinigt (Leipzig, Breitkopf & Hät- 
tel; 10 4). Die im Türmer ſchon oft geprieſene Kunſt dieſes trefflichen Meiſters bewährt 
ſich aufs beſte an den kühnen Burgen, den edlen phantaſtiſchen Kirchen, den groß gefühlten 
Plätzen und maleriſchen Stadtwinkeln der oberelſäſſiſchen Landſchaft. 

Möchten doch recht viele Deutſche mit offenen Sinnen Wanderer im Elſaß werden! 
Wirklich, das Volk iſt auch hier durchaus echtes Bodengewächs, dieſe ganze Welt iſt jo urdeutſch 
und jo ſchön, daß ſich doch auch die Menſchen darin zuſammenfinden müſſen. Auch dieſes 
Land fagt zu uns: „Ich warte.“ Es iſt an der Zeit, daß wir feine Erwartung erfüllen. 


N Karl Storck 
„Notre-Dame“ als Oper 


94 s fällt dem heutigen Leſer nicht leicht, ſich durch Victor Hugos berühmteften Roman 
5 N 2 durchzuarbeiten. Seine Handlung iſt ganz das, was wir heute als Küchenromantik 
bezeichnen, und von den Geſtalten vermag keine mehr uns wirklich ans Herz zu 
er Goethes Tagebuchurteil — er hat den Roman noch in feinem letzten Lebensjahre ge- 
leſen — wird heute wohl ſelbſt von den ernſten franzöſiſchen Kritikern unterſchrieben werden: 
„Verdruß an den Gliedermännern, die der Verfaſſer für Menſchen gibt, fie die abſurdeſten Ge- 
bärden machen läßt, ſie peitſcht, foltert, von ihnen radotiert, uns aber in Verzweiflung ſetzt. 
Es iſt eine widerwärtige, unmenſchliche Art von Kompoſition.“ Danach muß man ſich eigent- 
lich ſehr wundern, daß heute noch ein deutſcher Komponiſt auf den Gedanken kommt, ſich aus 


4 


Notre · Dame“ als Oper 221 


dieſem Erzeugnis einer für uns niemals lebendig geweſenen Phantaſtik die Grundlage für 
eine Oper zu ſchaffen. Vielleicht aber iſt gerade das Verhältnis, in dem die große Maſſe der 
Gebildeten heute zu Victor Hugos Roman ſteht, für die Verwertung zu einer Oper nicht un- 
günſtig. Es weiß faſt keiner etwas Genaues von dem urſprünglichen Werk, aber gewiſſe Vor⸗ 
ſtellungen von feinen Hauptgeſtalten hat doch jeder irgendwie und irgendwoher überkommen. 
Das iſt für die Operndichtung, die neben der Muſik keinen Raum hat, lange Charakterentwick- 
lungen zu bringen, unbedingt eine Unterſtützung der Phantaſie, andererſeits find die Vor- 
ſtellungen von den Originalgeſtalten doch nicht beſtimmt genug, um ſich gegen Umgeftaltungen 
aufzulehnen, wie es bei uns z. B. gegen Gounods Fauſt und Gretchen oder gar Thomas’ 
„Mignon“ der Fall ift oder doch fein müßte. 

Franz Schmidt, der ſich in Gemeinſchaft mit Leopold Wilk das Textbuch für ſeine 
romantiſche Oper in zwei Aufzügen“ ſelbſt zurechtgearbeitet hat, nutzt dieſe Vorbedingungen 
gtuͤndlich aus und läßt kaum eine Geſtalt jo, wie er fie beim Dichter vorgefunden hat. Auch 
in den Sang der Handlung hat er kräftig eingegriffen, und man wird ihm zugeſtehen müffen, 
daß er bei alledem gutes Gefühl und ſicheren Inſtinkt bewährt hat. Um fo mehr iſt es zu be- 
dauern, daß die endgültige Geſtaltung des Textbuches nicht einem wirklichen Dichter in die 
Hand gegeben worden iſt. Die mancherlei ſprachlichen Entgleiſungen könnte man noch hin⸗ 
nehmen, bedauerlicher iſt, daß das innere Räderwerk der Geſchehniſſe nicht feſt genug inein- 
andergreift, und daß vor allem einige Andeutlichkeiten in der pſychologiſchen Begründung ver- 
blleben ſind, die eine geübte Hand ſehr leicht hätte beſeitigen können. Immer wieder ſieht 
man ein, wie gerade für die Oper das in früheren Zeiten, zumal bei den Italienern und Fran- 
zoſen, übliche Verhältnis geradezu unentbehrlich iſt. Der Operntext hat ſeine beſonderen 
Lebensbedingungen, die nur aus genauer Kenntnis erfüllbar find und vor allem auch ein 
möglichſt enges Zuſammenarbeiten von Dichter und Komponiſt erheiſchen. So wie ein Seribe 
zu den Meiſtern der Pariſer Oper im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts ſtand, wären 
derartige Mängel, wie fie jetzt dem Notre Dame Textbuche Franz Schmidts anhaften, noch 
bei den Proben beſeitigt worden. 

Zch weiß, ich weiß, — das iſt kein hoher künſtleriſcher Standpunkt, und es iſt faſt frevent- 
lich, nach Richard Wagner noch ſo zu ſprechen, aber wir werden doch allmählich einſehen müſſen, 
daß der Fall Richard Wagner nur durch das beſondere Himmelsgeſchenk des Dichter-Muſikers 
ermöglicht war, und müſſen einſehen, daß die Vermehrung unſeres Opernſpielplans mit wirk- 
lich brauchbaren Werken nur auf dem ſchon früher mit naiver Klarheit von Mozart gekennzeich; 
neten Wege zu erlangen iſt: „Bei einer Oper muß ſchlechterdings die Poeſie der Muſik ge- 
horſame Tochter ſein. — Es iſt am beiten, wenn ein guter Komponiſt, der das Theater ver- 
ſteht und ſelbſt etwas anzugeben imſtande iſt, und ein geſcheiter Poet als ein wahrer Phönix 
zuſammenkommen.“ (13. Okt. 1781.) 

Nun, Franz Schmidt iſt ſolch ein Muſiker, der etwas vom Theater verſteht. Der jetzige 
Profeſſor in der Ausbildungsklaſſe für Klavier an der k. k. Akademie für Muſik in Wien (geb. 
am 22. Dezember 1874 in Preßburg) hat achtzehn Jahre lang im Orcheſter der Wiener Hof- 
oper geſeſſen. Er hat hier an Hunderten von Bühnenwerken beobachten können, worauf die 
Lebensfähigkeit einer Oper beruht, und ſo menſchlich ergreifend Jahrzehnte hindurch das 
Daſein dieſes Mannes tft, der in mühſamer Tagesfron ſich die Mittel gewinnt, um in den 
kargen Feierſtunden feinem inneren Schaf fensdrange leben zu können, — zum leidenden Re- 
formator und ungewohnte Kunſtwege gehenden Neuerer hat ſich Schmidt nie berufen gefühlt. 
Dazu iſt er ein viel zu ſtarkes Muſikantenblut, das nur die Gelegenheit abwartet, um ſich aus- 
zutoben. Und eine ſolche Gelegenheit zur Anbringung von Muſik iſt ihm die Oper, nicht ein 
Muſikdrama im Wagnerſchen Sinne. 

Wir brauchen dieſe Art Opern für unſern Spielplan. Mag fein, daß keine Ewigkeits- 
werte auf dieſem Wege zu holen find, aber es wird auf ihm möglich fein, wie auf keinem andern, 


22 Notre · Dame“ als Oper 


Muſik ins zeitgenöſſiſche Leben hineinzutragen, und zwar eine Muſik, die aus dieſem gleich- 
zeitigen Leben geſpeiſt iſt. Von Richard Wagners Werken abgeſehen und allenfalls Bizets 
„Carmen“ und die eine beſondere, zum Teil von außerkünſtleriſchen Verhältniſſen bedingte 
Stellung einnehmenden Werke Richard Straußens ausgenommen, gehören unfere ſämtlichen 
Repertoirewerke einer vergangenen Zeit an. Alle neuen Schöpfungen kommen und vergehen 
ſchnell wieder, vermögen ſich jedenfalls nicht dauernd im Spielplan feſtzuſetzen. Auch Wagner 
und Bizet liegen ein und zwei Menſchenalter zurück. Das find durchaus ungeſunde Verhält- 
niſſe, denen wir nur beikommen können, wenn wir uns klar bewußt ſind, daß die Oper in einem 
ſonft unerhörten Maße von der Erfüllung praktiſcher Forderungen abhängig ift. In Franz 
Schmidt iſt uns unbedingt ein Berufener erſtanden, dem es gelingen wird, unſeren Bühnen- 
ſpielplan zu bereichern, ſobald die leidige Textfrage vernünftig gelöft wird. 

In dieſer ſeiner erſten Oper iſt das nur bedingt der Fall, hauptſächlich weil ſich der 
Komponiſt nicht hat entſchließen können, für eine ſeiner Geſtalten Partei zu nehmen. Er hat 
ſie alle ſo ſehr ins Herz geſchloſſen, daß er lauter Haupthelden hat und ſeine Oper ebenſogut 
Der Archidiakonus von Notre Dame, Quaſimodo, Oer Glöckner von Notre Dame, oder Esme- 
ralda heißen könnte. Ja, für den erſten Teil des Werkes kämen noch Phöbus, der ſchöne Garde 
offizier, oder Gringoir, der verbummelte Philoſoph und Dichter, in Betracht. Außer Phöbus, 
der nichts anderes iſt als der in der Oper reichlich häufige unglüͤcklich- glücklich verliebte junge 
Mann, iſt jede dieſer Geſtalten reichlich problematiſch, hat ihre für das volle Verſtändnis not- 
wendige Vorgeſchichte und müßte ſich breiter ausleben, von zahlreicheren Seiten zeigen kön 
nen, um die durch ihr Auftreten im Hörer geweckte Teilnahme wirklich zu befriedigen. Dazu 
iſt für fünf Perſonen in einer einzigen Oper nicht Platz, und fo fühlt ſich der Zuhörer durch die 
fremden Menſchen und abſonderlichen Geſchehniſſe bald mehr befremdet als ergriffen. © 

Das Dutzend Opern, das bereits in früheren Fahren den Inhalt des Romans nutzbar 
zu machen geſucht hat, iſt dieſem Fehler nicht verfallen, ſondern ſtellte die ſchöne Zigeunerin 
Esmeralda in den Mittelpunkt. Das hat Victor Hugo ſelbſt in der von ihm für die Allerwelts- 
künſtlerin Louiſe Angélique Bertin bearbeiteten Oper getan, die 1836 in Paris und in der 


deutſchen Bearbeitung der Birch-Pfeiffer auch in München zur Aufführung gelangte. Es 


wird heute wohl nicht mehr möglich ſein, für dieſe einſt auch von den Malern viel verherrlichte 
Schöne größere Teilnahme zu wecken, die alle ihr begegneten Männer durch ihre Schönheit be- 
tört, ſie allenfalls auch aus Fährniſſen errettet, aber doch ins Unglück ſtürzt, ohne dabei irgend 
etwas anderes zu tun, als tugendhaft zu ſein. ä 

Aus ſeiner Titelwahl hatte ich die Hoffnung geſchöpft, daß Franz Schmidt verſucht habe, 
die tiefſte Kraft in Victor Hugos Roman auszuſchöpfen und uns den geheimnisvollen Zauber, 
den ein fo eigenartiges Kunſtwerk, wie ihn die Notre Dame-Kirche zu Paris auf ganze Ge⸗ 
ſchlechterfolgen auszuüben vermag, muſikaliſch nahezubringen verſuchen würde. Und als im 
Vorſpiel die Holzbläſer ein in dieſer Tonübertragung ganz merkwürdig packendes Glocken 
ſpiel vorführten, das in freier kanoniſcher Form und ohne alle auffällige Tonmalerei den 
Stimmungsgehalt des Glodengeläutes vermittelte, ließ ich mich in meiner Erwartung noch 
beſtärken. Aber leider hat fpäter die Notre-Dame-Kirche in dem Werke nur noch die Aufgabe, 
wirkſame Dekorationen zu bieten. Und Schmidt hat ſeinen Titel wohl nur gewählt, weil er 
eben möglichſt viel aus Victor Hugos Romanhandlung zu feiner Oper nutzbar machen wollte. 
Dabei hat er in den Charakteren und auch in de Handlung einige glückliche Anderungen vor 
genommen. Die wertvollſte iſt die Umwandlung Claude Frollos, der bei Victor Hugo nicht 
bloß Erzdiakon, ſondern auch Erzſchuft iſt, der die ſchöne Zigeunerin Esmeralda nur deshalb 
an den Galgen bringt, weil es ihm nicht gelungen iſt, ſie zu verführen. Bei Schmidt iſt der 
Archidiakon ein würdiger, wenn auch fanatiſcher Prieſter, der einen verzweifelten Kampf 
gegen die in ihm tobende Leidenſchaft zu Esmeralda führt. Deshalb braucht er nun auch nicht 
am Morde des von ihrer Liebe begünftigten Phöbus beteiligt zu fein, iſt vielmehr davon über 


Notte · Same“ als Oper N 225 


zeugt, daß ſie den Gardeoffizier in den Hinterhalt gelockt hat. Seine Leidenſchaft verblendet 
ihn nur inſofern, als er feiner im Gefängnis gewonnenen Überzeugung von Esmeraldas Un- 
ſchuld nicht zu folgen wagt, ſondern ſich von den teufliſchen Künſten der Hexe für übertölpelt 
hält. Leider hat Schmidt dieſe entſcheidende ſeeliſche Entwicklung des Prieſters nicht deutlich 
genug herausgearbeitet, was ſich übrigens leicht nachholen ließe. Der ſchöne Phöbus wird 
jetzt in ſeinem Stelldichein mit Esmeralda von deren unglücklichem Gatten Gringoir ermordet, 
der ſich darauf ſelber in die Seine ſtürzt. Auch dieſe Handlung iſt nun begreiflich, da Gringoir 
nur der Scheingatte Esmeraldas iſt, die ihn geheiratet hat, um ihn vor dem Zigeunergericht 
zu retten. Natürlich kann uns dieſe Vorgeſchichte nur erzählt werden, in der Oper immer eine 
mißliche Sache, da gewöhnlich die Hälfte nicht verſtanden wird, zumal wenn, wie hier, dann 
die andere Perſon (Esmeralda) einem auch noch in einer erzählten Vorgeſchichte begründen 
muß, daß ſie ſich dem armen Gringoir verſagt, weil ſie nach einer Zigeunerwahrſagung nur 
als Zungfrau ihre Heimat wiederfinden werde. ö 

Man ſieht, die Sache iſt beinah fo verzweifelt, wie die Vorgeſchichte in Verdis „Trou 
badour“, und es hätte für Schmidt um jo näher gelegen, Esmeralda nur als Bewegungsmittel 
der Handlung zu benutzen, als es ihm gelungen iſt, außer dem Erzdiakon auch das Halbtier 
Quaſimodo packend zu geſtalten. Die Schlußſzene des Werkes, in der dieſe beiden abgrund- 
tiefen verſchiedenen Männer einander entgegenſtehen, wirkt ſo packend, daß von ihr aus dem 
Künſtler noch jetzt der Wunſch auftauchen ſollte, auf dieſe beiden Geſtalten hin die ganze Oper 
neu aufzubauen. Beide find ſchon jetzt dämoniſch umwittert und könnten wie zwei Geſchöpfe 
des geheimnisvoll-großen und doch auch ſchauerlich-phantaſtiſchen Notre Dame- Bauwerkes 
herauswachſen. 

Aber ich glaube, Franz Schmidt iſt nicht der Mann, ſich derartige Sorgen zu machen. 
Dazu ift er viel zu ſehr Muſikant, das Wort im beſten Sinne genommen. Er konnte es ſicher 
gar nicht abwarten, bis er den in ihm aufgehäuften Muſikreichtum ausſchütten konnte. Sein 
ſchwerer Lebenskampf gönnte ihm nur wenig Muße zum eigenen Schaffen, und dann hat 
er noch obendrein die Widrigkeiten bis zur Hefe auskoſten müſſen, die dem nicht über gute 
Verbindungen oder ausreichende Geldmittel Berfügenden das Herauskommen mit größeren 
Werten zu ſehr erſchweren. So kam er als ſchaffender Künſtler erſt im Jahre 1901 zum Worte 
mit der fünf Jahre vorher geſchaffenen erſten Sinfonie, die trotz ihres ſchönen Erfolges in 
Wien anderwärts nur wenig aufgeführt worden iſt. Dann iſt in den Jahren 1902 —1904 die 
vorliegende Oper „Notre-Dame“ entſtanden, die, wie mir von einer dem Komponiſten nahe- 
ſtehenden Seite geſchrieben wird, „zehn Jahre lang im Archiv der Wiener Hofoper lag, deren 
Aufführung aber durch endloſe Intrigen hintertrieben wurde, bis ſie endlich 1914 durch Franz 
Schalk durchgeſetzt wurde und einen durchſchlagenden Erfolg hatte“. Ich kannte den Kom- 
poniſten bisher aus ſeiner zweiten Sinfonie in Es-Dur, die mich beim Eſſener Muſikfeſt 1914 
in helle Freude verſetzte. (Vgl. Türmer, XVI. Jahrg., Heft 10.) 

Daß die Oper in Wien einen „durchſchlagenden“ Erfolg hatte, der durch ihr Beharren 
im Spielplan beſtätigt wird, während in Berlin das Publikum zwar ſehr achtungsvoll Beifall 
ſpendete, aber doch nicht ſo recht von Herzen mitging, liegt ſicher nur zum geringſten Teil an 
der jetzt ſehr geachteten Stellung ihres Schöpfers im Wiener Muſikleben; vielmehr beruht 
der Unterſchied auf der urmuſikaliſchen Art des Wieners, der für dieſes Muſizieren aus Muſik- 
fülle her und ganz aus dem Empfinden heraus viel beſſer eingeſtellt ift, als der doch immer 
ſehr aufs Geiſtige ausſpähende Norddeutſche. Franz Schmidt ſteht auf der Linie Schubert- 
Bruckner, man kann auch ruhig die Walzermeiſter dazunehmen, und ſeine ungariſche Heimat 
hat ihm ein Verhältnis zur Zigeunermuſik gegeben, deſſen Früchte uns in dieſer Oper in köſt- 
lichſter Form dargeboten werden. Es iſt ein völlig freies, ins Künſtleriſch-Sinfoniſche hinüber 
ſtiliſiertes Abernehmen der Rhythmen- und Melodiegänge der Zigeunermuſik, ohne doch je- 
mals ihre Sonderlichkeiten ſo zu betonen, daß ſie aus dem Geſamtrahmen herausfiele. Sonſt 


224 „Notre-Dame” als Oper 


iſt es nicht eben leicht, Schmidts Art zu umſchreiben. Das iſt wieder einmal Muſik, die man 
durchaus hören muß, ein wohliges Schwelgen im Ton, ein Spielen aus der Seele des In 
ſtruments heraus, wie es ſeit Mozart kaum mehr vorhanden geweſen iſt. Hier ſpürt man den 
Mann, der ſelbſt im Orcheſter geſeſſen hat, der die Inſtrumente um ihrer Fähigkeiten willen 
liebt, ihnen zu Dank ſchreibt und ihnen alle ihre Schönheiten abſchmeichelt. Damit hängt es 
wohl zuſammen, daß Schmidts Stil weniger auf Kontrapunktik ausgeht, im Grunde ein 
dauerndes „Variieren“ ift, wobei wir bedenken wollen, daß die Variation die natürlichſte Spiel- 
form inſtrumentalen Muſizierens darſtellt. Schmidt iſt maleriſcher Zeichner, nicht Baumeiſter. 
Linie und Farbe ſind ſeine Mittel, und am wohlſten fühlt er ſich, wenn er mit breitem Pinſel 
in weitausholendem Schwunge große Dekorationen hinſetzen kann. Allerdings iſt ihm auch 
das Sinnige, Intimere nicht verſagt, wie die Liebesſzene zwiſchen Phöbus und Esmeralda 
beweiſt. Doch iſt es ſehr bezeichnend, daß einem die volle Schönheit dieſes Amſpielens einer 
glücklichen Stunde erſt zum vollen Bewußtſein kommt, wenn Esmeralda im Kerker davon 
träumt. Da iſt dann das Orcheſter allein. Noch liegt Schmidts Kraft ganz in dieſem, obwohl 
er auch für die Singſtimme dankbar ſchreibt. 

Die Berliner Aufführung brachte die Vorzüge des Werkes gut zur Geltung, da das 
Orcheſter unter Dr. Stidrys Leitung berauſchend ſchön ſpielte. Von den Darſtellern muß 
auch an dieſer Stelle, der das Eingehen auf in ihrer Wirkung örtlich beſchränkte Leiſtungen 
fernliegt, Michael Bohnen genannt werden, der als Quaſimodo ſich wieder einmal als einen 
jener ganz ſeltenen Schauſpielſänger erwies, die ihrem innerſten Berufe nach Menſchendar⸗ 
ſteller ſind mit dem Geſang als natürlichem Sprachmittel. Wenn die Berliner Hofoper dem 
Werke Treue wahrt und es auf dem Spielplan hält, wird ſich die erſte Befremdung der Zu- 
hörerſchaft bald legen, und wir werden eine wertvolle Bereicherung unſeres Spielplans zu 
verzeichnen haben. Karl Storck 


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Der Krieg 


t der Oeutſche in ſeinem Durchſchnitt politiſch wirklich blindgeboren? 
Wenn man die troſtloſe Gleichgültigkeit beobachten muß, mit der 
dieſer Deutſche — auch nach vier Weltkriegsjahren! — wichtigſten 
IS) Lebensbelängen gegenüberſteht, ſich mit oberflächlichen Redens⸗ 
atten- abſpeiſen läßt, wo es in Wahrheit um den eigenen Kopf und Kragen geht, 
dann könnte man ſchier verzweifeln! — Hat ſich in dem Verhältnis breiteſter Schich- 


ten zu den Fragen und Vorgängen im verbündeten Sſterreich- Ungarn durch 


den Krieg Weſentliches geändert? Werden nicht dieſe Dinge überwiegend auch 
heute noch fo angeſehen, als ſeien fie lediglich „innere Angelegenheiten“ einer be- 
freundeten Macht und gingen einen weiter nichts an? Und dabei ſchreit uns doch 
jeder Tag die blutige Tatſache ins Ohr: Tua res agitur, um dein Schickſal geht es! 

Nun find die innerpolitiſchen Verhältniſſe in Sſterreich an einem kritiſchen 
Wendepunkte angelangt. „Die Tatſache,“ wird der „Deutſchen Zeitung“ von 
ihrem Wiener Vertreter geſchrieben, „daß ſich der Miniſterpräſident Dr. v. Seid- 
ler, der erſt kürzlich, nach feiner Auseinanderſetzung mit den Führern der Mittel- 
und der Verfaſſungspartei des Herrenhauſes, einen Sieg der Regierung über 
ihre Widerſacher hinauspoſaunen ließ, dazu entſchließen mußte, ſelbſt die weitere 
Vertagung der Beratungen des Abgeordnetenhauſes zu wünſchen, weil eine 
Klärung der Lage bis auf weiteres nicht zu erwarten ſteht, iſt wohl der deutlichſte 
Beweis dafür, daß unſere ſogenannten ‚maßgebenden Kreiſe“ mit ihrem Latein 
vollſtändig zu Ende find. Die Oeutſchen in Sſterreich haben gar keine Urſache, 
darüber betrübt zu ſein, daß der Zuſammenbruch des Parlamentarismus immer 
deutlicher in die Erſcheinung tritt. Das Fahr, das feit der Viedereinberufung 
des öſterreichiſchen Neichsrats vergangen iſt, hat den deutſchen Parteien nur Ent- 
täuſchungen und Demütigungen gebracht, und es wäre niemals ſo weit gekom- 
men, daß in der Preſſe gegenwärtig von einer ‚deutſchen Frage“ in Sſter— 
reich geſprochen wird, wo man früher von einer tſchechiſchen, einer füdflawi- 
ſchen, einer ukrainiſchen geſprochen hat, wenn nicht die Deutſchen — zum großen 
Teil durch die Schuld ihrer unfähigen Vertreter — ſeit Jahresfriſt ſo unendlich 

Her Türmer XX, 17 15 


226 Zürmers Tagebuch 


viel an Geltung verloren hätten. Die Stimmung, wie fie in den verſchiedenen 
Kundgebungen aus dem Lager der Sudeten- und der Alpendeutſchen zum Aus- 
druck kommt, iſt gleichzeitig eine erbitterte und zu allem entſchloſſene. Sie ſteht 
in dem fchroffiten Gegenſatz zu der ſchwachmütigen und ſchwankenden Haltung 
der Mehrheit der deutſchen Abgeordneten, die die Erhaltung des Parlaments 
unter allen Umſtänden wünſchen, weil ſie ſich durch deſſen Ausſchaltung in ihrer 
Eigenſchaft als Berufspolitiker als ſchwer geſchädigt erachten würden. Das ſind 
die ſelben Leute, die der neuen Geſchäftsordnung des Abgeordnetenhauſes zu— 
ſtimmten, — trotzdem die grundlegende Forderung nach Feſtlegung der deutſchen 
Verhandlungsſprache nicht durchgeſetzt werden konnte. Die Pauſchalierung 
der Abgeordnetendiäten in bedeutend erhöhtem Ausmaße erſchien ihnen weit 
wichtiger als die Anerkennung des einzig richtigen Grundſatzes, daß im Parla- 
ment nur in einer Sprache, die ſelbſtverſtändlich keine andere als die deutſche ſein 
könnte, verhandelt werden darf. | 

Die deutſchen Parteien werden, wenn ſie nicht noch um 115 geringen Reſt 
des Anſehens kommen wollen, den ſie bei der Bevölkerung noch beſitzen, ſich zu 
einer vollſtändigen Wandlung in ihrer Haltung gegenüber der Regierung — wie 
immer dieſe auch heißen mag — entſchließen müſſen. Es iſt höchſte Zeit dazu, 
und längeres Zögern iſt nicht mehr am Platze. Es ſind Einflüſſe am Werke, die, 
trotzdem es die Deutjchen an bedingungsloſer und opferwilligſter Hingabe an 
die Intereſſen des Staates und auch der Opnaſtie nicht fehlen ließen, darauf hin- 
arbeiten, die deutſche Bevölkerung unpatriotiſcher Geſinnungen zu verdächtigen, 
weil ſie ſich über die Ereigniſſe, die mit dem Rücktritt des Grafen Czernin in 
unmittelbarem Zuſammenhang ſtänden, ihre eigene Meinung gebildet haben und 
dieſer auch unumwunden Ausdruck geben. Der deutſch feindliche Kurs, der 
an den höchſten Stellen des Staates gegenwärtig herrſcht, iſt anläßlich 
der Kundgebung der beiden die Mehrheit des Herrenhauſes bildenden Gruppen 
dieſer Körperſchaft mit aller Deutlichkeit zum Vorſchein gekommen. Der wegen 
dieſer Kundgebung mit ſeinem Rücktritt drohende Präſident des Herrenhauſes 
Prinz Windiſchgrätz iſt durch den Kaiſer in geradezu auffallender Weife 
ausgezeichnet worden. Die Nichtannahme ſeines Demiſſionsgeſuches wurde 
durch die Wärme des Tones, durch die Betonung der vorbildlichen Treue“ des 
Fürſten, der der Partei der Rechten des Herrenhauſes angehört, in der auch die 
Tſchechen ſitzen, und durch die Schenkung des Bildniſſes des Monarchen mit 
der Unterfchrift zu einer förmlichen Demonſtration. Damit ja kein Zweifel 
darüber beſtehen könne, wurde dann noch durch ein offiziöſes Blatt, die ‚Wiener 
Sonn- und Montags-Zeitung“, der Verfaſſungs- und der Mittelpartei des Herren- 
hauſes wegen ihrer im Gegenſatze zu dem exemplariſchen Patriotismus des Fürſten 
Windiſchgrätz und ſeiner Parteigenoſſen ſtehenden unbotmäßigen Haltung eine 
förmliche Strafpredigt gehalten. So erlaubt man ſich die Deutſchen zu 
behandeln, die die Laſten des Krieges vom erſten Tag an freudig auf 
ſich genommen und mit einem Pflichtgefühl ſondergleichen getragen 
haben. Wenn man ſich ſchon mit den Verſuchen beſchäftigt, die jetzt unternom⸗ 
men werden, um die Ereigniſſe der letzten Wochen in anderem Licht erſcheinen 


Türmers Tagebuch | 227 


zu laſſen, darf man auch an den Artikeln der ‚Reihspojt‘ nicht vorübergehen, 
die — weil in beſonderem Auftrag — ſich der nichts weniger als angeneh- 
men Aufgabe unterzogen hat, die Familie Parma-Bourbon unter ihren 
Schutz zu nehmen und gegen jene ſehr zahlreichen und gewichtigen Stimmen 
Stellung zu nehmen, die gegen den ebenſo großen als beklagenswerten Einfluß 
Stellung nehmen, den dieſe Familie auf unſere Staatsangelegenheiten, auf die 
Führung unſerer inneren und äußeren Politik ausübt.“ 

Was haben ſich aber auch unſere deutſchöͤſterreichiſchen Brüder alles bieten 
laſſen, — nicht nur von der Wiener Regierung, ſondern auch von ihren eigenen, 
ſelbſtgewählten parlamentariſchen Vertretern! „Mit einer ſchier unbegreiflichen 
Langmut“, ſchildert Paul Samaſſa in einem Wiener Briefe der „Täglichen Rund- 
ſchau“ die Lage, „haben die deutſchbürgerlichen Parteien bisher die Regierungs- 
methoden des Miniſteriums Seidler ertragen; es iſt nicht richtig, daß die Regie- 
kung nur infolge ihrer Energieloſigkeit die Treibereien der ſlawiſchen Parteien, 
die ſich gegen den Staat, die öſterreichiſchen Deutſchen, aber auch gegen das Oeutſche 
Reich richteten, geduldet habe. Das mag für den Miniſterpräſidenten gelten; 
aber im Miniſterrate ſitzen deutſchfeindliche Perſönlichkeiten, die dieſe 
Umtriebe nicht nur geduldet, ſondern geradezu gefördert haben. Zu 
dieſen gehörte — man kann ſagen ſelbſtverſtändlich — in erſter Linie der ſlowe⸗ 
niſche Miniſter ohne Portefeuille Zolger, von dem es heißt, daß er aus dem 
Kabinett ausſcheiden ſoll, dann der Miniſter des Innern, Graf Toggenburg, 
und Graf Sylva -Tarouca, der in den letzten Jahren eine höchſt zweideutige 
politiſche Rolle geſpielt hat, die gelegentlich wohl noch eingehender beleuchtet 
zu werden verdient. Ein Gegengewicht in deutſcher Richtung fehlt dem 
Miniſterium vollkommen ... Trotzdem haben die deutſchbürgerlichen Par- 
teien dieſes Miniſterium ſeither unterſtützt, weil ſie, wie ſie immer erklärten, ſich 
dem Staate in dieſer ſchweren Zeit nicht verſagen wollten. Die deutſchen Wähler- 
ſchaften haben aber mit beſſerem SInftinkt erkannt, daß hier in unzuläſſiger Weiſe 
Regierung mit Staat verwechſelt wurde, und daß, wenn die deutſchen Parteien 
wirklich in erſter Linie das Intereſſe des Staates im Auge hatten, fie nichts Wich- 
tigeres zu tun hatten, als auf die Entfernung des Miniſteriums Seidler zu dringen. 
Sie konnten ſich ja direkt an die Krone wenden und dieſer Vorſchläge bezüglich 
eines neuen Miniſteriums machen; mindeſtens mußten fie aber doch den maß- 
gebenden Einfluß auf die Politik des Miniſteriums nehmen und dieſe nicht durch 
jene Parteien beſtimmen laſſen, die dieſem die allerſchärfſte Oppoſition machten. 
Sie bilden allein allerdings keine Mehrheit im Parlament; ſie konnten aber die 
Verhandlungen mit Polen und Ukrainern mindeſtens mit ebenſo gutem Erfolg 
in die Hand nehmen wie die Regierung, hätten dieſen Parteien unter Umſtänden 
ſogar beſſere Bürgſchaften für die Erfüllung ihrer Wünſche bieten können. 

Angeſichts dieſer Verhältniſſe hat ſich der deutſchen Bevölkerung eine Er- 
regung bemächtigt, die an die Badeni-Tage erinnert. Dieſe ging nicht etwa auf 
irgendeinen radikalen Flügel unter den Deutfchnationalen zurück (unter dem zu- 
allerletzt etwa die fog. deutſchradikale Partei verſtanden werden könnte, die ihren 
Radikalismus“ ſchon längſt in die Schublade gelegt hat); ich erinnere nur an die 


228 Türmers Tagebuch 


Vorgänge in Tirol, wo ſich alle deutſchen Parteien zuſammenfanden und der 
chriſtlichſoziale Landeshauptmann Schraffl in der ſchärfſten Weiſe gegen das 
Verhalten der Regierung in der Ernährungsfrage Stellung nahm. Auch dieſes 
Verhalten läßt ſich nicht allein auf bureaukratiſche Unzulänglichkeiten zurückfüh⸗ 
ren, ſondern hat ſeinen politiſchen Hintergrund. Das deutſche Tirol und 
Deutſchböhmen find ausgeſprochene Hungergebiete, im Tſchechiſch— 
Böhmen find Nahrungsmittel reichlich vorhanden, die Regierung wagt 
es aber aus Angſt vor den Tſchechen nicht, mit Requirierungen vorzugehen. Die 
in dieſem Falle mehr regierungs- als partei-offiziöſe „Reichspoſt“ aber ſuchte die 
Kundgebungen in Tirol möglichſt totzuſchweigen. Die zahlloſen Kundgebungen 
der deutſchen Wählerſchaft haben ſchließlich die Abgeordneten doch etwas auf- 
gerüttelt, und fie drängten nunmehr den Miniſterpräſidenten, ‚etwas zu tun‘. 
Die ‚Sat‘ war nun die Vertagung des Parlaments, die Ankündigung der Kreis- 
hauptmannſchaften in Böhmen und einige Äußerungen über die ſüdſlawiſche 
Frage, die vom deutſchen Standpunkt recht anfechtbar find, weil fie ſich gegen- 
ſeitig aufheben und außerdem wohl geeignet find, in Ungarn durchaus beredhtig- 
ten Widerſpruch zu erwecken. Schält man den Kern der Sache heraus, ſo kann 
man wohl als mannigfach verklauſulierte Anſicht des Miniſterpräſidenten an- 
ſehen, daß er die Errichtung eines ſüdſlawiſchen Staates aus Kroatien, Dalmatien 
und Bosnien für möglich hält, die Einbeziehung ‚jener Teile des öſterreichiſchen 
Staatsgebiets, die auf dem Wege zur Adria liegen“ (alſo doch wohl Steiermarks, 
Kärntens, Krains und des Küſtenlandes) aber für ausgeſchloſſen. Das iſt aller- 
dings auch die vorherrſchende Anſchauung der Oeutſchen, die an ſich keinen Grund 
haben, ſich gegen die Bildung eines einheitlichen Staats- oder Verwaltungsgebiets 
aus den von Kroaten und Serben bewohnten Teilen der Monarchie zu widerſetzen. 
Da dieſe aber zum Teil auf dem Wege zur Adria des ungariſchen Staates liegen, 
fo kann man es den ungariſchen Politikern wohl nicht übelnehmen, wenn fie hier— 
bei ein ſehr gewichtiges Wort mitzuſprechen wünſchen, und daß ſie es nicht ſehr 
angenehm empfinden, wenn der öſterreichiſche Minifterpräfident hier Wechſel 
ausſtellt, deren Honorierung Ungarn überlaſſen wird ... 

Das, was jetzt kommen wird, kann man ſich leicht ausmalen: die Tſchechen 
und Slowenen ſehen in den Erklärungen des Ninifterpräfidenten nur die Wir- 
kung des von deutſcher Seite auf ihn ausgeübten Druckes und werden natürlich 
ihrerſeits verſuchen, dieſen durch noch ſtärkeren Druck wettzumachen. Mit dieſem 
Gedankengang ſtützen ſie ſich jedenfalls auf die bis jetzt gemachten Erfahrungen 
und haben damit keineswegs unrecht. Was den Deutſchen heute als Gewinn 
zufällt, iſt nichts Poſitives, denn auch die Errichtung der Kreishauptmannſchaften 
in Böhmen iſt beſtenfalls der Ausdruck des Willens, etwas im Sinne der deutſchen 
Forderungen zu tun; alles andere bedeutet aber nicht mehr, als das Einhalten 
auf einer verhängnisvollen Bahn, aber keinen poſitiven Aufbau. Was dieſer 
aber bringen müßte, hat die Erklärung der beiden Herrenhausparteien gegenüber 
dem Miniſterpräſidenten ganz gut herausgearbeitet: die innere Politik muß mit 
der äußeren in Einklang gebracht werden. Und das iſt der Punkt, wo auch der 
korrekteſte“ Reichsdeutſche zur Anteilnahme an der Entwicklung der 


Zürmers Tagebuch 229 


Dinge bei uns genötigt iſt. Das iſt aber nicht durch irgendwelches kleine Flid- 
werk, auch nicht durch Befriedigung einiger lokaler Wünſche der Deutſchen Öfter- 
reichs zu erreichen, ſondern nur durch einen großzügigen Neuaufbau, der 
freilich auf der Grundlage aufgeführt werden müßte, die ſchon Maria Thereſia 
dem Staate gegeben hat, und die ihn manche Stürme überdauern ließ.“ 

Ein fo kluger und beſonnener Politiker wie der öſterreichiſche Reichsrats- 
abgeordnete Franz Jeſſer bekennt ſogar (in der „Mitteleuropäiſchen Korreſpon- 
denz“), das öſterreichiſche Staatsſchiff, auf dem die innerpolitiſche Fracht ver- 
taut ſei, treibe mit reißender Schnelligkeit der Kataſtrophe zu: „Im Oeutſchen 
Reiche hält man die tſchechiſchen und ſüdſlawiſchen Forderungen für Größen- 
wahn. Dieſe Meinung iſt grundfalſch: ſo leidenſchaftlich die ſlawiſchen Völker 
ſein mögen, hyſteriſch ſind ſie nicht. Ihre Forderungen ſind natürlich taktiſche 
Übertreibungen, von der Erfüllung ihrer Grundforderung — der Aufrichtung 
des böh miſchen Staates — ſind fie feſt überzeugt. Und dieſe Überzeugung 
ſtützt ſich auf ganz beſtimmte Zuſagen, die ihnen von maßgebender Stelle 
in bindender Weiſe gemacht wurden. Tſchechiſche Blätter haben ganz 
offen von Reverſen geſprochen, die tſchechiſche Politiker dem Grafen 
Czernin ausgeſtellt haben. Darin verpflichteten fie ſich, die ‚böhmiſche Frage“ 
nicht auf den Friedenskongreß zu bringen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ſie dieſe 
Verpflichtung nicht ohne Gegenverpflichtung eingingen. Dieſe kann nur 
in der Errichtung des böhmiſchen Staates, in der Föderaliſierung Hfter- 
reichs beſtehen. Von dieſen Abmachungen erhielt Ungarn Kenntnis. 
Vekerle erzwang dann vom Monarchen die feierliche Erklärung, daß 
die Krone ihre ganze Macht gegen die flawifhen Aſpirationen auf 
ungariſches Staatsgebiet anwenden und niemals in eine Föderaliſierung 
Oſterreichs einwilligen werde. 

Der öſterreichiſche Miniſterpräſident, Herr von Seidler, mußte dann die— 
ſelbe Melodie im öſterreichiſchen Parlamente ſingen. Er gab in feierlichſter Weiſe 
in beiden Häuſern des Reichsrates bekannt, daß die geplante Verfaſſungsreform 
den Einheitsſtaat aufrecht erhalte und keine Auflöſung oder Teilung der Rron- 
länder beabſichtige, daher auch nicht die Errichtung rein nationaler Provinzen, 
daß ſie jedoch die nationale Autonomie innerhalb der Kronländer gewähren wolle. 
Heute wiſſen wir, daß längſt das von Herrn Seidler eingeſetzte Verfaſſungskomitee 
unter dem Einfluſſe des Miniſters Zolger die Errichtung einer illyriſchen Provinz 
mit den von Steiermark und Kärnten abzutrennenden flawiſchen Teilen, ſowie 
die Abtrennung Welſchtirols von Oeutſchtirol vorbereitet hatte. Herr v. Seidler 
begnügte ſich jedoch nicht mit dieſem Täuſchungsverſuche — er ſuchte einen Keil 
zwiſchen die deutſchen Parteien zu treiben, indem er den deutſchböͤhmiſchen Ab- 
geordneten vorſpiegelte, die Regierung ſei nicht abgeneigt, die Provinz Deutfch- 
böhmen zu errichten — allerdings müſſe fie dann auch die ſinngemäßen floweni- 
ſchen Forderungen erfüllen. Dieſer Verſuch wäre beinahe geglückt — wenn nicht 
andere Umjtände die Regierung gezwungen hätten, die Grundzüge der geplanten 
Verfaſſungsreform endlich doch bekanntzugeben. Da ergab ſich denn nun, daß 
wohl die illyriſche Provinz vorgeſehen war, nicht aber die deutſch- 


250 Zürmers Tagebuch 


böhmiſche! Herr von Seidler hat alſo nicht die volle Wahrheit gefagt, als er 
ſich offiziell zum Programme der Unteilbarkeit der Kronländer bekannte. 

In anderen Parlamenten hätte ein ſolcher Miniſterpräſident ausgeſpielt 
gehabt, — im öfterreichiſchen Parlamente konnte er noch lange Zeit den deutſch⸗ 
freundlichen Biedermann ſpielen und ſich an Bierabenden von ‚übermannten‘ 
deutſchen Parteiführern als die Hoffnung Sſterreichs feiern laſſen. Sogar jetzt 
noch ſcheint ſein Einfluß groß genug zu ſein, die deutſche Politik in ſeinem Sinne 
zu beeinfluſſen. Er arbeitet nämlich mit dem bewährten Trick, die Erhaltung fei- 
ner Regierung als ein Staatsintereſſe auszugeben. Das Kabinett des Herrn 
von Seidler iſt der Staat Öfterreih — wenn wir ihm das Budget verweigern, 
ſo verweigern wir es dem Staate, wenn wir es zu Falle bringen, ſo beſorgen 
wir die Geſchäfte des feindlichen Auslandes, das an dem Zuſammenbruche des 
Parlamentarismus in Sſterreich das größte Intereſſe habe. 

Das glimmende Feuer des Wißtrauens der Bevölkerung iſt zu lohender 
Flamme aufgeſchoſſen, als der Raiferbrief an den Prinzen Sixtus bekannt 
wurde. Diesmal war die un verantwortliche Nebenregierung nicht mehr zu leug- 
nen, diesmal war der Gegenſatz zwiſchen der offiziellen und der geheimen Poli- 
tik aller Welt ſichtbar geworden. Endlich dämmerte ſelbſt dem einfachſten Manne 
der innere Zuſammenhang dieſer geheimen äußeren Politik mit der 
geheimen ſlawenfreundlichen inneren Politik auf. Heute weiß man, wer 
das Einſchreiten gegen die aus der Kriegsgefangenſchaft zurückkehrenden hoch- 
verräteriſchen Slawen verhindert, wer ſogar der kaiſerlichen Hilfs— 
aktion in dem hungernden Deutſchböhmen mit Hilfe der ſtaatlichen Bureau- 
kratie entgegenarbeitet und für Nordböhmen beſtimmte Nahrungs- 
mittel in tſchechiſchen Stationen aufhält und an Prag überweiſt. 

Das Volk fieht eine Ententeagentur am Hofe am Werke. Sein geſundes 
Empfinden ſagt ihm, daß eine Beſſerung nur eintreten kann, wenn mit dem Syſtem 
der Zweideutigkeiten, geheimen Verſprechungen, kurz, mit der Hintertreppen- 
politik aufgeräumt wird. Es läßt ſich nicht mehr länger Herrn von Seidler als 
eine ſakroſankte Perſon, als ein Sinnbild des Staates aufſchwätzen — es verlangt 
vielmehr, daß die deutſchen Abgeordneten ſich endlich auf ihre wahren ſtaatlichen 
Pflichten beſinnen. Sie beſtehen in der Beſeitigung aller Perſonen, die an dieſer 
Hintertreppenpolitik teilgenommen haben, vor allem des Miniſterpräſidenten. 

Der Vorſtand des deutſchen Nationalverbandes — wir behalten dieſen 
Namen bei, obwohl er parteioffiziell nicht mehr angewendet wird — hat ſeine 
bisherige und ſeine künftige Politik damit zu begründen verſucht, daß die Deutſchen 
niemals eine ftaatsperneinende Politik machen dürfen. Dagegen hat ſich nun im 
Verbande, aber auch im Volke, ein ſehr gefährlicher Widerſpruch erhoben — es 
ſei entgegen der Meinung der Parteileitung Pflicht einer deutſchnationalen Poli- 
tit, ihr Verhältnis zum Staate abhängig zu machen von dem Verhält— 
niſſe des Staates zum deutſchen Volke. Die Gefahr dieſer Auffaſſung liegt 
darin, daß die Deutſchen Sſterreichs nicht leicht dazu zu bringen fein werden, die 
letzten Ronfequenzen zu ziehen — d. h. im äußerſten Falle zur Kündigung der 
Staatstreue zu ſchreiten und gleich den Slawen eine Politik der Irredenta zu 


Zürmers Tagebuch 231 


beginnen. Will man aber dieſe letzte Konſequenz nicht ziehen, dann gleicht die 
Drohung mit der bedingten Staatstreue einem Meſſer ohne Heft und Klinge. 
Wenn man jedoch das Wort ‚Staat‘ erſetzt durch ‚Regierung‘, ſo wird man 
den Notwendigkeiten einer kräftigen ſtaatlichen und völkiſchen Politik der Deutich- 
öfterreiher am früheſten gerecht. N 

Nicht eine vergängliche Regierung iſt der Staat, nicht einmal die Krone re- 
präſentiert ihn allein, ſondern vor allem das Volk, das ihn geſchaffen und er- 
halten, das deutſche Staatsvolk. Wir müſſen gleich den Madjaren der gan- 
zen Welt immer wieder zurufen: Der Staat find wir! Wir wollen keine germani- 
ſierende Gewaltherrſchaft ausüben, wir wollen aber auch nicht aus unſerer Stel- 
lung verdrängt werden, damit einem mechaniſchen Gleichberechtigungsprinzip 
entſprochen werde. 

Weil wir den Staat Sſterreich — den in tauſend Jahren gewordenen — 
vorwiegend repräſentieren, müſſen wir jede Regierung als ſtaatsfeindlich betrach- 
ten, die an den natürlichen und geſchichtlichen Grundlagen rüttelt. Weil wir den 
Staat wollen, müſſen wir die Entfernung des Kabinetts Seidler fordern, die Op- 
poſition iſt daher geradezu eine ſtaatliche Pflicht. Wenn man uns damit ſchrecken 
will, daß ohne unſere fernere unbedingte Regierungstreue ein parlamentariſches 
Regime nicht aufrechtzuerhalten iſt, ſo ſollten wir der Regierung kaltblütig 
den Rat geben, ſich eine Mehrheit aus den flawifhen Parteien und 
der deutſchen Sozialdemokratie zu bilden. 

Alle Bedenken über ſchädliche Rückwirkungen einer Parlamentskriſe auf die 
militäriſche, finanzielle und diplomatiſche Lage ſind heute gegenſtandslos. 
Die militäriſche Lage iſt günſtiger denn je — und damit auch die diplomatiſche. 
Dieſe bleibt nur ſo lange ungünſtig, als die Entente mit der Hintertreppenpolitik 
in der Monarchie rechnen kann. Darum muß endlich die Atmoſphäre in Wien 
gereinigt werden — dabei aber kann man nicht mit Glacéhandſchuhen arbeiten, 
ſondern muß ſich an das Rezept halten, daß zuzeiten ‚golöne Rückſichtsloſigkeiten“ 
geboten ſeien. Die deutſchen Parteien haben es bisher beim Mundſpitzen be- 
wenden laſſen — jetzt werden ſie wohl endlich zur Ordnung pfeifen müſſen, wenn 
ſie nicht mitſchuldig werden wollen an der Fortfriſtung korrupter ſtaatlicher 
Zuſtände. | | 

Die Kataſtrophe in der inneren Politik ift nach dem Zuſammenbruche der 
äußeren Politik der Nebenregierung unaufhaltſam. Ze raſcher ſie eintritt und je 
vollſtändiger ſie wird, deſto nützlicher wird ſie für den Staat und das deutſche 
Volk werden.“ 


EN 


lil Ar ma ra - TDartei 


Wie Erzberger zu ſeinem Ein⸗ 
fluß gelangt iſt 


wird von einer Zuſchrift aus Zentrums- 
kreiſen in der „Köln. Ztg.“ angedeutet: 


„Wenn man die Wurzeln des Einfluſſes, 


den Erzberger heute noch beſitzt, bloßlegen 
will, dann darf man noch folgendes nicht 
vergeſſen. In ſeiner überaus einflußreichen 
Stellung hat er viele perſönliche Ge— 
fälligkeiten erweiſen können, deren Emp- 
fänger ihm zu Dank verpflichtet wurden. 
Durch ihn find auch in manchen Ämtern 
viele zu Stellung und Würden ge— 
kommen, die nun ſeine Partei halten. 
Auch in der Partei ſind wohl manche ihm 
durch allerhand von ihm geleiſtete Dienſte 
verbunden. Ahnliches gilt von der ihm er- 
gebenen Preſſe. Sein Einfluß reicht weit 
und die Preſſe, über die er verfügt, 
ebenfalls. Eine Erklärung der Perſönlich- 
keit Erzbergers ſollte verſucht werden. Man 
ſoll ihm den guten Willen, dem Lande zu 
dienen, nicht abſtreiten. Er tut es ſo, wie er 
es verſteht. Auf der andern Seite ſoll man 
ſich hüten, in ihm den eigentlichen Leiter und 
Lenker der deutſchen Politik zu ſehen. Das 
iſt er nie geweſen und niemals weniger als 
gerade heute. Wir können uns auf den Bund 
des Grafen Hertling mit der Oberſten Heeres- 
leitung verlaſſen. und noch ein Gedanke 
drängt ſich auf: Die ganze Entwicklung des 
Krieges macht die Dinge fo zwangsläufig, daß 
einzelne Perſonen wie Erzberger ſie ent- 
ſcheidend weder nach der einen noch nach 
der andern Seite beeinfluſſen können.“ 
Für heute — ohne Kommentar. Auch 
das Tatſächliche dieſer Mitteilungen genügt 


vorderhand. Damit iſt der Fall Erzberger 
aber noch lange nicht abgetan. 


Was dem Baltenlande not tut 


zuallernächſt not tut, wird von den „Stimmen 
des Oſtens“ überzeugend dargelegt: 

Es gibt, das bolſchewiſtiſch verſeuchte 
Fabrikproletariat Rigas und Revals ab- 
gerechnet, das einen verſchwindenden Bruch- 
teil bedeutet, in dem agrariſchen Lande ge- 
wiß niemand zwiſchen Memelfluß und Finni- 
ſchem Meerbuſen, der die Befreiung von der 
Moskowitertyrannei nicht dankbaren Herzens 
empfände. Aber die Befreiten wollen nun 
auch leben, wollen ihre Wirtſchaft, ihr Recht, 
die Grundmauern ihrer künftigen Gemein- 
ſchaft aufbauen, und ſie ſchweben immer noch 
zwiſchen Himmel und Hölle und wiſſen einſt⸗ 
weilen nicht einmal, ob ſie nicht wieder zum 
Inferno verdammt werden könnten. Für Kur- 
land liegen die Verhältniſſe ja einigermaßen 
klar. Aber die drei Provinzen gehören nun 
einmal zuſammen und ſind nach Wirtſchaft 
und völkiſcher Schichtung aufeinander an- 
gewieſen. Der derzeitige Zuſtand indes reißt 
fie in der unglüͤcklichſten Weiſe auseinander, 
zerſchneidet nicht nur den lettiſchen Volks- 
ſtamm, trennt auch, wenn ſchon in befcheide- 
nerem Ausmaß, den Eſten von dem Eſten, 
macht nicht nur die Wiederaufnahme des 
wirtſchaftlichen, macht auch die primitiviten 
Formen ſtaatlichen Lebens unmöglich. Hier 
iſt die eine Gewalt zuſtändig, dort die andere. 
Das hat dann die ganz natürliche Folge, daß 
jeder beſtrebt iſt, unbequeme Dinge von ſich 
abzuſchieben und fo und fo viele Fragen über- 
haupt unentſchieden zu laſſen. Und daß viel- 


Auf der Warte 


fach noch Beſtimmungen herrſchen, die im 
eroberten und beſetzten Feindesland wohl an- 
gebracht find, die aber, wie die annoch man- 
gelnde Freizügigkeit, in einem Gebiet einiger- 
maßen ihren Sinn verloren, das ſeine Zukunft 
im engſten Anſchluß an das Deutsche Reich 
zu geſtalten ſtrebt. 

Die Oſtſeelande haben ſelber alles getan, 
was zu tun ihnen möglich war. Nach dem 
Vorgang Kurlands haben auch die geordne- 
ten Vertretungen Livlands und Eſtlands den 
Wunſch nach einer Angliederung an Deutich- 
land ausgeſprochen und ihn in feierlicher Ab- 
ordnung dem Kanzler übermittelt. Jetzt muß 
das Reich den Liv- und Eſtländern helfen, 
das Verhältnis zu Großrußland zu löſen. Sie 
ſelbſt beſitzen ja einſtweilen gar nicht die 
Organe, die Löſung diplomatiſch zu betrei- 
ben. Das ift das erſte, das Dringlichſte, das 
nachgerad e unaufſchiebbar Gewordene. Statt 
deſſen iſt bisher nicht einmal der Friedens- 
vertrag von Breſt-Litowfk im Reichsgeſetzblatt 
publiziert worden, und auch, wo der beſte Wille 
vorhanden iſt, ſind die Behörden nicht in der 
Lage, die Rechtsfolgen aus ihm für die unglüd- 
lichen Bewohner der Baltenmark zu ziehen. 

Manche meinen: die von den Landesver- 
tretungen der drei Provinzen angeſtrebte 
Perſonalunion erſchwere einigermaßen die 
Lage. Solange in Preußen der Streit um 
das Wahlrecht währe, würde man an die 
Entſcheidung dieſer Frage nicht herangehen 
mögen. Dazu wird zu ſagen ſein, was wir 
hier immer geſagt haben: die Perſonalunion, 
die den König von Preußen zum Herrſcher 
ihres Landes macht, iſt ein inniger Wunſch 
baltiſcher Herzen. Höher aber ſteht der Be- 
völkerung der Baltenmark, die in unſagbar 
ſchwerer Leidensſchule gelernt hat, politiſch 
zu denken, die Realunion, die Verankerung 
und Feſtigung ihrer Fnſtitutionen, der ſchon 
beſtehenden und der noch zu ſchaffenden, im 
Anſchluß an das Deutfhe Reich. Und ganz 
allgemein glaubt man im Baltikum: es wäre 
ſtatthaft, gewiſſe Möglichkeiten für den Auf⸗ 
bau feiner Staatlichkeit ſchon jetzt zu gewäh- 
ren und es einer ſpäteren Friſt zu überlaſſen, 
den Bau durch die erſehnte monardifche 
Spitze zu krönen. 


233 


Noch einmal: die Baltenmark muß leben. 
And gerade, weil ſie befreit iſt, will ſie leben. 
Es handelt ſich da nicht nur (oder vielleicht 
überhaupt nicht) um die Oeutſchbalten. Die 
ſind an Opfer und Entſagen gewöhnt und 
werden, nun ſich der Himmel über fie ent- 
wölkt hat, ſicher in Geduld und Ergebung 
und in dem hoffnungsfrohen Optimismus, 
der ein Erbteil ihres Blutes iſt, noch weiter 
harren. Aber mit ihnen ſiedeln auf der glei- 
chen Scholle Letten und Eſten, und deren 
Stimmung, die zurzeit uns noch überwiegend 
günſtig iſt, gilt es zu erhalten. Das iſt der 
Punkt, in dem reichsdeutſche und baltiſche 
Intereſſen ſich berühren. 


Bodenſchaͤtze im Baltenlande 


ie große wirtſchaftliche Bedeutung der 
Oſtſeeprovinzen, die mit ihrem frucht 
baren Boden und ihren herrlichen Waldun- 
gen an Steuerkraft und Hektarerträgen alle 
anderen Teile des ehemaligen Rußlands weit 
übertreffen, iſt während der letzten Jahre 
ſchon oft und eingehend erörtert worden. 
Auf einen Umſtand, über den bisher noch 
faſt nichts in die Öffentlichkeit gedrungen iſt, 
lenkt Dr. Frhr. von Roſen in der Monats- 
ſchrift „Oeutſchlands Erneuerung“ die Auf- 
merkſamkeit: auf die reichen mine raliſchen 
Bodenſchätze Eſtlands. In dieſer Provinz 
finden ſich nämlich, abgeſehen von der bereits 
ſehr entwickelten Induſtrie von Torf, Ziegeln, 
Zement, den Marmorbrüchen und der 
Porzellanerde, noch gewaltige, 2 Williar- 
den Kubikmeter liefernde Lager von Brand- 
ſchiefer mit 20% naphthaartigem Öl und 
großen Mengen Leuchtgas, ſowie noch 
mächtigere Phosphatlager, die hauptſäch- 
lich aus 5 Milliarden Kubikmeter phosphor- 
ſaurem Kalk beſtehen. Die nördlichſte und 
unfruchtbarſte der drei baltiſchen Provinzen 
iſt demnach überreich an einem Roh- 
ſtoff, der für die Land wirtſchaft die 
größte Bedeutung hat und in Oeutſch— 
land, abgeſehen von verſchwindend geringen 
Mengen in Württemberg, gar nicht ver- 


treten iſt. 
* 


4 “ 


— 


234 
Bahern und Tirol 


ie Wiener Regierung hatte über 800 
für Tirol beſtimmte Waggons baye- 
riſcher Kartoffeln bis auf einen Reſt von 175 
Waggons zuungunſten Tirols verfügt, 
ohne die Tiroler hiervon zu benachrichtigen. 
Nur einem Zufalle war es zu verdanken, 
daß auch nur der kleine Reſt von 175 Wag- 
gons für Tirol gerettet werden konnte! 
Dieſes Verhalten der Wiener Regierung 
hat natürlich große Aufregung verurſacht. 
So wurde, nach einer Orahtung an die „T. 
R.“ aus München, vom Alldeutſchen Ver- 
ein für Bozen und Südtirol eine Entſchließung 
gefaßt, die im Sinne des deutſchtiroler Volkes 
entrüſteten Einſpruch gegen eine ſolche Be- 
handlung erhebt. Empörend ſei es, daß ſich 


ein k. u. k. Amt, das Wiener Volksernährungs- 


amt, dazu herbeiläßt und ſich der Aus- 
hungerungspolitik des deutſch-öſter- 
reichiſchen Volkes durch die Slawen 
förmlich anſchließt. Die deutſchen Ab- 
geordneten werden erſucht, mit allen Mitteln 


das Syſtem Seidler ſamt ſeiner Verwal- 


tung endlich hinwegzufegen. An die Deutſch⸗ 
tiroler erging der Aufruf, auch die letzte 
RNückſicht fallen zu laffen und Bayern 
zu bitten, die Tiroler dadurch vor dem 
völligen Untergang zu bewahren, daß 
Bayern die dauernde Aufnahme Tirols 
in das Wirtſchaftsgebiet Deutſchlands 
herbeiführe. 

3h mußte mich bei dieſer, wenn auch 
freien Wiedergabe an die Wortbeſtimmung 
„Oeutſchtiroler“ halten. Aber gibt es einen 
treubeutſcheren Volksſtamm, als die Tiroler? 
(Auch die „Welſchtiroler“ find ja zum aller- 
größten Teil nur verwelſchte Deutſche.) Und 
nun gar Tiroler und Bayern! Sind ſie nicht 
ſogar im engeren Sinne eine Volksfamilie, 
wie etwa die Niederſachſen in Weſtfalen, 
Hannover, den lippeſchen und Braunſchweiger 
Landen bis zu den Hanſeaten in Bremen, 
Hamburg, Lübeck und noch eine ganze Strecke 
nach Oft und Nord, nach Weit und Süd 
weiter? | 

Bleiben wir aber — in dieſem engeren 
Rahmen — bei den Bayern und Zirolern. 


[4 


Auf der Warte 


Seit wann ſollen ſie nicht mehr des ſelben 
Stammes fein? | 

Wenn Oeutſch-Oſterreich an dieſem Kriege 
zugrunde ginge — nein, auch nur zur Ohn- 
macht gegen ein üͤbermächtiges Slawentum 
verurteilt würde, dann hätte „Deutſchland“ 
ſich allerdings, „großzügig“, wie Dumme 
immer ſind, für die „Menſchheit“ geopfert. 
Der Japaner würde nicht einmal anerkennen: 
Harakiri gemacht. Denn dieſe Sache wäre ihm 
denn doch zu dumm. 

Aber — ein ſchlimmer Troſt — die „Mon- 
archie“ wäre nicht beſſer dran. Sie würde 
durch eine Reihe ſelbſtändiger flawifcher 
Staaten abgelöft werden, bei denen Derftänd- 
nis für irgendwelche Familienintereſſen kaum 
vorauszuſetzen wäre. 

Iſt denn aber noch, kein deutſcher Staats- 
mann darauf verfallen, daß in dieſem Spiele 
auch ein tieferer Sinn liegen könnte? Man 
ſehe ſich daraufhin einmal die von „uns“ 
unter Führung der „Monarchie“ „getätig- 
ten“ Friedensperhandlungen und abſchluͤſſe 


an 
** 


Wozu in die Ferne ſchweifen? 


As Stalien“, ſtellt mit Bedauern Gene- 
1 ral z. O. von Liebert feft, „verlautet 
leider noch immer keine Kunde von neuen 
Taten unferer Bundesgenoſſen. Den Geg- 
nern iſt es nicht nur ermöglicht, die franzö⸗ 
ſiſchen und britiſchen Diviſionen wieder nach 
Flandern zurückzurufen, ſondern ſogar ita- 
lieniſche Truppenverbände dorthin zu fen- 
den.“ 

Die Tatſache brauchte nicht erſt feſtgeſtellt 
zu werden, aber es ſchadet nicht, daß ein hoher 
Militär fie in aller Öffentlichkeit (7. Mai) aus- 
geſprochen hat. 

Und doch geht alles ganz natürlich zu, 
man darf nur nicht zu hoch greifen. Auch 
der treueſte deutſche und öſterreichiſche Pa- 
triot wird nicht beſtreiten können, daß zwiſchen 
Makkaronis und Parmeſankäſe eine gewiſſe 
Wahlverwandtſchaft beſteht. Selbſtverſtändlich 
nur gaſtronomiſche, aber um fo natürlichere. 
And wenn daneben noch Heinrichs IV. mit 
Recht berühmt es franzöſiſches , Huhn im Topfe“ 


Auf der Warte 


liegt? — „Wozu in die Ferne ſchweifen? 
Sieh, das Gute liegt ſo nah.“ Gr. 


Noch eine Erinnerung an Herrn 


von Bethmann Hollweg 

ei Kriegsausbruch flüchtete der ſozial- 

demokratiſche Agitator Münzenberg 
aus Erfurt, 25 Jahre alt, um ſich der Heeres- 
pflicht zu entziehen, nach der Schweiz, machte 
ſich dort wichtig, wurde vor Zahresfriſt von 
den ſchweizeriſchen Genoſſen als Vertreter 
zu den Stockholmer Beſprechungen auserſehen, 
und Herr von Bethmann Hollweg nahm 
keinen Anſtand, dieſem Deferteurfreies 
Geleit durch Deutſchland zuzuſichern! 
Znzwiſchen iſt Münzenberg von feinem 
Schickſal ereilt und wegen antimilitariſtiſcher 
Umtriebe, wegen Aufreizung junger Leute 
zur Verweigerung ihrer Dienſtpflicht und 
wegen revolutionärer Bearbeitung der Schul- 
jugend vom Bundesrat aus der Schweiz aus- 
gewieſen worden. Bei ſeiner Rückkehr nach 
Deutfchland wird er mit offenen Armen emp- 
fangen werden, aber nicht von Herrn von 
Bethmann Hollweg und feinen Paladinen, 
ſondern von der zuſtändigen Heeresſtelle. 

4 P. D. 


England und Elſaß⸗Lothringen 


is um die Wende des Jahrhunderts 
dachte kein engliſcher Staatsmann 
daran, für die franzöſiſchen Hoffnungen und 
Pläne auf Elſaß-Lothringen einzutreten. 
Nach Sedan hatten leitende Londoner Blätter 
mit „Times“ und „Daily News“ an der Spitze 
die Wiederangliederung Elſaß- Lothringens an 
Deutſchland begrüßt, und noch im Jahr 1894 
fand der angeſehene engliſche Politiker William 
Harbutt Dawſon mit feinem zweibändigen 
Werk „Germany and the Germans“ (Lon- 
don 1894), auf Grund umfaſſender Studien- 


reiſen in Oeutſchland geſchrieben, Beachtung 


und Zuſtimmung. In dieſem Werk wies 
Dawſon Frankreichs Anſprüche auf Elſaß⸗ 
Lothringen nachdrücklich zurück. Er ſchrieb: 
„Eine Lieblingsbehauptung der Franzofen- 
freunde geht dahin, die Beſetzung Elſaß⸗ 
Lothringens durch die Deutſchen ſei eine 


255 


ſtehende Bedrohung des europäiſchen Frie- 
dens. Es wäre viel richtiger, zu ſagen, daß 
die Weigerung Frankreichs, die Entſcheidung 
eines Krieges, den es ſelbſt ſuchte, anzuneh- 
men, mit anderen Worten: den Gedanken der 


Vergeltung aufzugeben, die wahre Quelle 


aller Beunruhigung iſt .. Was Deutſchland 
mit Waffengewalt und unter ſchrecklichen 
Opfern an Leben und Gut gewonnen hat, 
was ihm durch feierlichen Vertrag zugeſichert 
iſt, das wird es behalten und nötigenfalls 
verteidigen, bis der letzte pommerſche Grena- 
dier fein Blut vergoſſen und der Zuliusturm 
den letzten Groſchen ausgeſpien hat. Deutfch- 
land wird in der Tat tun, was Frankreich, 
was jeder andere Staat an ſeiner Stelle täte. 
Es würde viel zur größeren Ruhe Europas 
beitragen, wenn einerſeits Frankreich ſich mit 
der Gewißheit ausſöhnen wollte, daß Elfaß- 
Lothringen nur durch Kampf und, was mehr, 
nur durch Sieg wieder zu haben iſt, und wenn 
andererſeits die wohlmeinenden Friedens- 
apoſtel Englands und anderer Länder die Frage 
der eroberten Provinzen ganz außerhalb ihrer 
Berechnungen ließen und ihre Pläne auf jede 
andere Hypotheſe gründeten als die unbedingt 
unmögliche, daß das Reichsland verkauft, ab- 
getreten oder neutraliſiert werden könne.“ 

Aber dieſe Auffaſſung ſetzte ſich zunächſt 
Eduard VII. hinweg, als er feine Einkreiſungs⸗ 
politik gegen Deutſchland einleitete. Ohne 
Frankreichs Mitwirken konnte fie nicht ge- 
lingen. Um die Pariſer Machthaber dafür 
zu gewinnen, verhieß er ihnen für den Kriegs- 
fall die Mithilfe Englands bei der Vieder- 
eroberung Elſaß- Lothringens. Nach den eng- 
liſchen Miniſtererklärungen von Mitte Ok- 
tober 1917 will England für die Herausgabe 
von Elſaß-Lothringen an Frankreich kämpfen, 
ſo lange wie Frankreich ſelbſt darauf beharrt. 
Die Betonung der Worte „ſo lange“ ſollte 
auf die Möglichkeit eines Kompromiſſes hin- 
weiſen. Dieſe Erklärung wurden abgegeben, 
als im franzöſiſchen Volke die Abneigung 
gegen die Weiterführung des Krieges und 
gegen die engliſche Politik ſtärker hervortrat, 
und hatte den Zweck, die Franzoſen bei der 
Stange zu halten und zu äußerſten Opfern 
anzuſpornen. 


256 


Ein engliſcher Wunſch erneuert 


n feinem Werk „Life of Richard Cobden“ 
J (London 1896, II., 152) äußerte John 
Morley folgenden heute wieder recht zeit- 
gemäßen Wunſch: „Gern möchte ich einmal 
eine Erd karte veröffentlicht ſehen mit roten 
Punkten an allen denjenigen Stellen, wo 
die Engländer blutige Schlachten geſchlagen 
haben. Man würde da entdecken, daß wir 
im Verlauf von ſieben Jahrhunderten über- 
all gegen fremde Feinde gekämpft haben, 
doch zum Anterſchiede gegenüber anderen 
Völkern niemals in unſerem eigenen Lande. 
Iſt das nicht Beweis genug, daß wir die 
angriffsluſtigſte Raſſe unter der Sonne ſind?“ 


Franzöſiſche Aberſetzungskunſt 


De, „Miroir“ vom 26. Auguſt 1917 bringt 
im Bild einige in den Fels geſprengte, 
eroberte Unterſtände mit deutſchen Inſchriften. 
Eine lautet: „Hie gut Brandenburg alleweg!“ 
und die franzöſiſche Uberſetzung: „Le Brande- 
bourg passe partout.“ Noch intereſſanter iſt 
die Überſetzung des Bismarckſchen Spruches: 
„Wir Oeutſchen fürchten Gott, ſonſt nichts 
auf der Welt.“ „Seuls les Allemands craig- 
nent Dieu. Sans eux, rien sur le monde.“ 


Wie erſcheint unſern Kriegs- 


gefangenen die Heimat ? 


Dieſſtes Gefühl des Dankes und der Be- 
wunderung für die Leiſtungen der 
Heimat auf jedem Gebiet, ſo antwortet ein 
kriegsgefangener Offizier Oſtern 1918 in den 
„Süddeutſchen Monatsheften“, gab uns in 
der Gefangenſchaft die Kraft, Schweres, 
Schwerſtes zu ertragen. Aber neben dieſem 
Gefühl des Dankes und der Anerkennung 
ergreift den Gefangenen immer wieder 
das Gefühl tiefſten Kummers, wenn er 
auf die inneren Kämpfe ſieht, die gerade im 
letzten Jahre die Einheit des Vaterlandes 
durchfurchen. 

Der Gefangene verſteht die Heimat nicht 
mehr; er verſteht nicht den Beſchluß des 
Reichstages vom 19. Juli 1917. Wie kann 


N Auf der Warte 


man trotz aller wirtſchaftlichen Not Führern 
nicht mehr trauen, die nicht wie jene feind- 
lichen im Auguſt 1914 voll Haß, Chauvinis- 
mus und Zerſtörungsluſt zum Kampfe zogen, 
ſondern in ſtillem Pflichtgefühl warteten, bis 
die Stunde von Tannenberg ſchlug. | 
Der Gefangene verfteht es nicht, daß man 
dem Gegner die Hand zur Verſöhnung an- 
bietet, während man ſich ſelbſt im Innern er- 
bitterter denn je bekämpft. Würde England 
und Frankreich jemals an Verſöhnung denken, 
wenn es auf ſolche Erfolge blicken könnte wie 
wir jetzt? Haben Frankreich und England in 
ihrer Geſchichte je an Verſöhnung gedacht, 
wenn ſie ſo daſtanden wie wir jetzt? Mehr 
als widerſinnig iſt es, nach außen von 
Verſöhnung, nach innen von Kampf 
zu ſprechen. Wie denkt der Gegner dar- 
über? Er lacht und ſtärkt den Willen feiner 
kriegsmüden Bevölkerung durch den Hinweis 
auf die möglichen Folgen unſerer Uneinig- 
keit. Die Pazifiſten der Weſtgegner 
arbeiten ganz im Sinne ihrer Regie- 
rungen, wenn ſie von Frieden ſprechen, und 
jene Regierungen hängen ihren ſchroffen 
Kriegsbedingungen das verſöhnliche Mäntel- 
chen nur deshalb um, um die unpolitiſch 
denkenden Deutſchen in ihrem Ver— 
ſöhnungswahn zu ſtärken. 


Auch das noch?! 


etzt ſollen auch noch die Lebensmittel 
3 in Poſtpaketen unter Amtskon— 
trolle geſtellt werden! 
Kurier“ wird aus dem Leſerkreiſe geſchrieben: 

„Der Landrat in Lübben erläßt eine 
amtliche Bekanntgabe, nach welcher durch 
Verfügung der zuſtändigen Kaiſerlichen Ober- 
poſtdirektion angeordnet worden iſt, daß auch 
über die Lebensmittelverſendung in Poſt- 
paketen von jetzt ab eine Kontrolle ausgeübt 
wird und Pakete mit Lebensmitteln, 
welche dem Ausfuhrverbot unterliegen, von 
der Beförderung auszuſchließen ſind. 
Zu dieſen verbotenen Lebensmitteln gehören 
in Lübben auch Mohrrüben, Quark, Graupen, 
Grütze, Hülfenfrühte, alſo fo ziemlich 
alles, was irgendwie in Frage kommen kann. 


Dem „Deutſchen 


Auf der Warte 


Diefes Verhalten der zuſtändigen Oberpoft- 
direktion durchbricht das bisherige Prin- 
zip der Poſt, ſich in dieſer Beziehung um 
den Inhalt der Pakete nicht zu kümmern, 
um fo einer Nachſchnüffelung und Spio- 
nage in den Poſträumen jede Möglich- 
keit zu entziehen. Die Poſt hatte daher 
bisher trotz der vielen Unregelmäßigkeiten, 
die auch bei ihr als Kriegsfolge und als Folge 
des nicht immer einwandfreien unteren Per- 
ſonals vorkommen, das unbedingte Ver- 
trauen des Publikums, und ſie war eigentlich 
im öffentlichen Leben die Lichtſeite gegen 
über der das Leben ſtark verſchattenden neu- 
entſtandenen Reichs ämter. Wenn man ferner 
bedenkt, daß dadurch, wie im vorliegenden 
Fall, ſelbſt die Schweſter ihrem aus- 
wärts wohnenden Bruder nicht einmal 
ein Paket mit Mohrrüben ſchicken kann, 
die ſie im Überfluß hat, ſo muß man 
dieſes landrätliche Verbot als einen Ein- 
griff in die perſönlichen Rechte betrachten, 
der um ſo kraſſer wirkt, als heute ſogar die 
Regierung einer Demokratiſierung der Staats- 
form nicht mehr widerſteht... Daß ſich aber 
die Poſt jetzt auch noch zum Handlanger der- 
artiger Verbote hergibt, iſt im höchſten Grade 
bedauerlich, und es wäre wohl zu wünſchen, 
daß der Staatsſekretär der Poſt dieſer Neue- 
rung in ſeinem Bereich umgehend ein Ende 
macht.“ 

Daran läßt ſich nicht rühren: was vom 
grünen Tiſch, von den „Amtern“, Kriegs- 
geſellſchaften uſw. uſw. geſchehen kann, um 
dem Volke das Durchhalten zu erſchweren und 
zu verekeln, das geſchieht ehrlich und un- 
ermũdlich. 


Eine, ungehörige Bezeichnung“ 


as „Ziraelitiihe Familienblatt“ ſchreibt 

in einer Briefkaſtennotiz: „Die Bezeich- 
nung Jüdiſches Ausſehen“ in der Fahn- 
dungsbekanntmachung des Armee Tages- 
befehls 9 vom 23. Februar 1918 halten wir 
für ung ehörig, wenn dieſer Perſonal- 
beſchreibung auch eine direkte antiſemitiſche 
Tendenz nicht zugrunde liegen mag. Es 
werden doch auch Angehörige anderer Reli- 


237 


gionsbekenntniſſe in ähnlichen Fällen nicht 
in analoger Weiſe charakteriſiert. Der be- 
abſichtigte polizeiliche Zweck ließ ſich auch 
ganz gut auf andere Weiſe erreichen.“ 

Die „Wahrheit“ geſtattet ſich die Frage, 
woran man erkennen kann, ob jemand evan- 
geliſcher oder katholiſcher „Konfeſſion“ iſt. 


Das junge Deutſchland 


Ol“: dieſem und ähnlichen Namen haben 
ſich an verſchiedenen Orten loſe Ver- 
einigungen zur Aufführung junger Dramati- 
ker gebildet. Ich gönne dem Talente jede 
Förderung, ſo daß ſelbſt der Mißbrauch in 
den Kauf genommen ſei. Aber es ergibt ſich 
ein anderes, unabweisbares Bedenken. Es 
ſind durchaus nicht immer rein literariſche 
Geſichtspunkte, aus denen dieſe Förderung 
erteilt wird. Manche Werke kommen nicht 
um ihres literariſchen Wertes willen in die 
Aufführungsreihe dieſer Vereine, ſondern 
weil ihre öffentliche Aufführung — ver- 
boten iſt. Das Zenſurgeſetz erlaubt in ge- 
ſchloſſener Geſellſchaft ohne weiteres, was 
es für die öffentliche Aufführung verbietet. 
Darin liegt ſicher ein berechtigter Gedanke, 
der ſich auch in manchen Fällen als frucht 
bar erwieſen hat. Aber zurzeit wird ein 
übler Mißbrauch damit getrieben. Daß für 
die Mitgliedſchaft an dieſen „geſchloſſenen 
Geſellſchaften“ nicht die geiſtige Reife und 
die literariſche Urteilsfähigkeit ausſchlaggebend 
ſind, ſondern der Geldbeutel, gute Verbindun- 
gen oder auch nur die ſchnelleren Beine bei 
der Beſorgung der Karten, läßt ſich vielleicht 
nur ſchwer ändern. Schlimmer ſchon iſt, daß 
ſehr leicht eine Fälſchung des literariſchen 
Urteils zuſtande kommt. Immer wieder heißt 
es in den Berichten: „Das Stück fand leb- 
haften Beifall, der nicht in ſeinen dramatiſchen 
Werten begründet war. Aber das Publikum 
wollte demonſtrieren gegen das unbegreifliche 
Zenſurverbot.“ Man mag darüber denken, 
wie man will, Tatſache bleibt, daß die Be- 
urteilung mit reiner Kunſt nichts zu tun hat. 

Aber wichtiger erſcheint mir ein Drittes. 
Es werden jetzt manche Stücke aus politiſchen 
Gründen verboten. Ob mit Recht oder Un- 


238 


recht, braucht uns nicht zu beſchäftigen. Tat- 
ſache iſt, daß die ſtaatliche Gewalt im Snter- 
eſſe dieſes Staates es für Pflicht hält, dieſe 
Stücke in ihrer Wirkung auf das Volk zu ver- 
hindern. Nun werden die Stücke aber vor 
geſchloſſener Geſellſchaft aufgeführt und da- 
nach in der Preſſe möglichſt öffentlich und 
beſonders ausgiebig beſprochen. Das iſt doch 
ein unſinniger Zuſtand. Auf dieſe Weiſe 
wirken dieſe Stücke doch viel aufregender, 
zumal nicht einmal die Korrektur der Preſſe- 
ſtimmen durch eigenes Anhören des Stückes 
möglich iſt. Und was dieſes Preſſe-Echo an 
Widerſpruch ſich leiſtet, iſt kaum glaublich. 
Bei Goerings „Seeſchlacht“ herrſcht noch 
nicht einmal über die äußere Aufnahme 
Einigkeit. Was die einen als ſtille Ergriffen- 
heit deuten, nennen die andern ſtumme Ab- 
lehnung. | 
Alſo, man mache dieſer nur dem Snobis- 
mus und der Verwirrung dienenden Einrich- 
tung ein Ende, Wenn die Zenſur von ihrem 
Verbotsrechte Gebrauch machen muß — es 
ſollte nur in den ſchwerſten Fällen ge- 
ſchehen —, ſo darf ſie auch keine Ausnahmen 
zulaſſen, wenigſtens keine, die bei äußerer 
Befolgung des Geſetzes ſchweren inneren 
Schaden anrichten. K. St. 


* 


Die Kinoſchönheit auf Freiers⸗ 
füßen 
in recht bezeichnendes Heiratsinſerat 
findet ſich im „Berliner Tageblatt“. 
Es atmet ſo richtig den Geiſt von Berlin WW. 
und verdient deshalb liebevolle Betrachtung: 
„Greif zu. .. I! Zm Frieden hält er 
Vorträge über Lebenskunſt uſw. Sein 
Beruf iſt mit glänzendem Einkommen 
verbunden. Nach Ableben des kranken 
Vaters () (auswärtiger Großkauf mann) 
erbt er ca. Y, Million. Er iſt eine Indivi- 
dualität mit eiſernem Willen und 
goldigem Herzen. Lebt in abſolut geregel- 
ten Verhältniſſen. Hochgewachſen, ſchlanke 
Geſtalt mit Diplomatentypus (9), 35 
Fahre alt, glattrafiert (), Ausſehen eines 
Njährigen. Erſcheinung eines eleganten 
Kinodarſtellers (). Weitgereiſt, 5 Spra- 


Auf der Warte 


chen beherrſchend, umfaſſende literariſche 

Kenntniſſe, eifriger Theaterbeſucher, muſika⸗ 

liſch, leidenſchaftlicher Automobiliſt und 

Tennisſpieler. Dieſer tatſächlich ſeltene 

Menſch wohnt bei Inſerentin zur Miete und 
weißnichts von dieſem Inferat (na, nah. 

Trotz ſeiner vielſeitigen Veranlagung fühlt er 
ſich vereinſamt und würde unbedingt glücklich 
an der Seite einer liebend ſorgenden Gattin. 
Nur ausführliche Zuſchriften, mit Bild bevor- 
zugt, von Damen, Witwen (evtl. auch mit 
Kind) finden Berückſichtigung. Vermögen er- 
wünſcht. Gewerbsmäßige Vermittler Papier- 
korb. Schreiben von Eltern oder Vormund 
willkommen. Offerten unter ..“ 

Das, bemerkt die „Wahrheit“, iſt un- 
bedingt der gegebene Mann für die Tau- 
entzienbälger! Man denke: „glattraſiert“ . 
„Diplomotentypus“ .. „Erſcheinung 
eines eleganten Kinodarſtellers“. Das 
letztere iſt natürlich das höchſte der Gefühle; 
höher geht's nimmer! Und Tennis ſpielt er 
auch leidenſchaftlich. „Er“ iſt alſo ſchlichtweg 


das vollkommene Zdeal! Wie ſie ſich um 


ihn reißen werden! 
* 


Die Zuckerfabrik Stuttgart 


1 dem Titel „Wohin zielt das?“ 
brachte das Zweite Februarheft des 
Türmers einen Varte-Artikel, der im An- 
ſchluß an einen Bericht der „Schwäbiſchen 
Tagwacht“ die außerordentlich hohen Ge- 
winne der Zuckerfabrik Stuttgart-Cannſtatt 
beleuchtete. Wir erhalten nun von der ge- 
nannten Fabrik ein Berichtigungsſchreiben, 
das wir in feinem vollen Wortlaut zum Ab- 
druck bringen: 

„Im Zweiten Februarheft 1918 der 
Zeitſchrift, Der Türmer“ findet ſich unter der 
Überschrift: „Wohin zielt das?“ ein Aufſatz, 
welcher ſich mit dem neuerlichen Gewinn- 
ergebnis der Zuckerfabrik Stuttgart in Stutt- 
gart-Cannſtatt beſchäftigt. Wir beſchränken 
uns darauf, in ſachlicher Beziehung zu dem 
Aufſatz Stellung zu nehmen und dadurch die 
Schriftleitung des, Türmer“ inſtand zu ſetzen, 
die zum großen Teil unrichtigen Folgerungen, 
zu denen jener Artikel gelangt, richtigzuſtellen. 


Auf der Warte 4 


Es ift richtig, daß den Aktionären auf je 
drei alte Aktien eine neue Aktie unentgeltlich 
zur Verfügung geſtellt werden ſoll. Dies er- 
fordert bei einem Aktienkapital von 1,8 
Millionen Mark eine Aufwendung von 
4 600000.—. Unrichtig dagegen iſt, daß 
dieſer Betrag aus den Gewinnergebniſſen 
des abgelaufenen Jahres entnommen wer- 
den ſoll. Es ſteht vielmehr hierfür der Vor- 
trag des vorausgegangenen Geſchäftsjahres 
mit 4 651000.— zur Verfügung. Dieſer 
Vortrag rührt nun aber nur zu einem ver- 
ſchwindend kleinen Teil aus den in den 
Kriegsjahren erzielten Uberſchüſſen her. Viel- 
mehr ergab ſich bereits nach Abſchluß des 
Seſchäftsjahres 1913/14 auf 1. September 
1914 ein Vortrag auf neue Rechnung in 
Höhe von 4 570000.—, das ſind 95 % der 
neuerdings beabſichtigten durch Ausgabe von 
Gratisaktien zu bewerkſtelligenden Stamm- 
kapitalerhöhung. 

Am nun ſowohl die geplante Erhöhung 
des Stammkapitals als auch die für das ab- 
gelaufene Geſchäftsjahr verteilte Dividende 
von 25 % richtig zu würdigen, iſt es er- 
forderlich, zu berüdjichtigen, daß das ſeit⸗ 
herige Stammkapital von 1,8 Millionen 
Mark ſchon ſeit längerer Zeit nicht mehr im 
Einklang ſteht mit der Größe und Leiſtungs- 
fähigkeit der drei der Zuckerfabrik zugehörigen 
Betriebe (Rübenzuckerfabrik, Raffinerie, aus- 
gedehnte Land wirtſchaft). Dies rührt zum 
Tell davon her, daß das Aktienkapital in 
früheren Jahren wegen ungünſtigen Ge- 
ſchäftsganges verſchiedentlich hat zufammen- 
gelegt werden müſſen, und daß es bei der 
Einverleibung der Zuckerfabrik Böblingen, 
die vor 10 Jahren erfolgt iſt, nur unweſent⸗ 
lich erhöht worden war. Die fortgeſetzten 
Erweiterungen des Wertes und die ſtändigen 
Verbeſſerungen des techniſchen Betriebs ſind 
in Friedenszeiten vorgenommen worden ohne 
irgendwelche entſprechende Vermehrung des 
Aktienkapitals. Eine ſolche innere Konſoli- 
dierung einer geſellſchaftlichen Unternehmung 
it ſonſt als Zeichen einer guten Finanzgeba⸗ 
tung aufgefaßt worden. Dieſe ſchließt aber 
nicht aus, daß nicht in einem gewiſſen Zeit- 
punkt dem eingetretenen Wachstum des 


239 


Unternehmens auch durch Erhöhung des 
Aktienkapitals Rechnung getragen wird, wo⸗ 
bei die Frage, auf welche Veiſe dem gejeh- 
lichen Bezugsrecht der Aktionäre Rechnung 
getragen wird, immerhin von untergeordneter 
Bedeutung fein dürfte. 

Wenn nun aber die Höhe der Dividende 
beanſtandet werden will, ſo iſt zuvörderſt 
darauf hinzuweiſen, daß ſowohl die Preiſe 
für Rüben als auch diejenigen für Rohzucker 
und Verbrauchszucker durch Verordnung vor- 
geſchrieben find. Wenn etwa behauptet wer- 
den ſollte, daß bei Feſtſetzung der Preiſe die 
Regierung der Zuckerinduſtrie gegenüber zu 
nachgiebig geweſen ſei, fo iſt dem entgegen- 
zuhalten, daß die Gewinnergebniſſe der größe- 
ren Anzahl der deutſchen Zuckerfabriken zur- 
zeit ſehr beſcheiden genannt werden müſſen, 
ja daß ſie bei manchen kaum die derzeitigen 
Betriebskoſten decken. Wie unbegründet aber 
die Behauptung iſt, daß die Dividende durch 
die Zuckerpreiſe in die Höhe geſchraubt werde, 
erhellt wohl am beſten aus folgenden Tat- 


ſachen: Für die von der Zuckerfabrik Stuttgart 


während der letzten drei Fahre jeweils zur 
Verteilung gebrachte Dividende von 25 % 
wurden bei einem Aktienkapital von 1,8 Mil- 
lionen Mark jeweils & 450000.— benötigt. 
Die Herſtellung von Verbrauchszucker durch 
die Zuckerfabrik Stuttgart ergab im Durch- 
ſchnitt der letzten 3 Jahre 501490 Zentner. 
Geſetzt den Fall, die Aktionäre hätten auf 
die Dividende von 25% verzichtet, und es 
wäre der fo erſparte Betrag von & 450000.— 
dazu verwendet worden, die erwähnte Pro- 
duktionsmenge von 501490 Zentner zu ver- 
billigen, ſo würde ſich für das Pfund Zucker 
noch nicht einmal eine Verbilligung von einem 
Pfennig ergeben. Damit dürfte klar bewieſen 
ſein, daß die beanſtandete Dividende mit der 
Erhöhung des Zuckerpreiſes nichts zu tun hat. 
Hochachtungsvoll Zuckerfabrik Stuttgart.“ 
1 


Nach wiederholtem Leſen des Briefes frage 
ich mich umſonſt, was nun eigentlich berichtigt 
worden iſt. Die hohe Dividende bleibt be- 
ſtehen, ebenſo die unentgeltliche Zuteilung der 
neuen Aktie. Berichtigt iſt, daß der Gewinn 
nicht aus dem letzten Jahre allein ſtammt; 


Sa. 


240 


aber auch in den Jahren vorher find 25 % 
Dividende ausgeſchüttet worden. Von der 
theoretiſchen Aufklärung über die Erhöhung 
des Stammkapitals verſtehe ich nichts. Dazu 
bin ich zu ſehr Laie. Das bisherige Kapital 
hat ausgereicht, glänzende Geſchäfte zu 
machen. Mehr Kapital iſt doch auch in Zu- 
kunft nur dem Namen nach da, inſofern die 
neuen. Aktien den bisherigen Aktionären ja 
geſchenkt und aus dem aufgeſpeicherten Ge- 
winnvortrag bezahlt worden find. Für Laien- 


augen iſt alſo die Kapitalvermehrung lediglich 


ein Mittel, den zu groß angewachſenen Ge- 
winnvortrag unterzubringen. — 

In einem zweiten Briefe führt die Zucker- 
fabrik Stuttgart-Cannſtatt dann weiter aus: 


„Wie wir Ihnen ſchon am 16. April jchrie- , 


ben, iſt Ihr Artikel — nicht etwa die Behaup- 
tungen des ſozialdemokratiſchen Stuttgarter 
Blattes — die Veranlaſſung geweſen, daß die 
törichten Behauptungen in eine große Anzahl 
von Zeitungen übergegangen find. Im An- 
ſchluß an dieſe Entſtellunegn ſind dann 
hämiſche Bemerkungen über die Zuckerpreiſe 
gemacht, wodurch die Beſtrebung des Kriegs- 
ernährungsamtes, die Zuckerproduktion im 
Deutſchen Reiche zu erhöhen, ſehr erſchwert 
wird. 

Es wird auch Ihnen nicht unbekannt ſein, 
daß die Zuckerrübe auf einer beſtimmten 
Flächeneinheit dreimal jo viel Nährwerte er- 
zeugt, als unſere beſten Getreidearten. Es 
liegt daher durchaus im volkswirtſchaftlichen 
Intereſſe, in der Kriegszeit möglichſt viel 
Zuckerrüben anzubauen, ganz beſonders auch 
deshalb, weil die beſtehenden 350 deutſchen 
Zuckerfabriken leicht in der Lage ſind, in 
wenigen Wochen die ganze Rübenernte zu 
Trockenprodukten, die keinem Verderben 
mehr ausgeſetzt ſind, zu verarbeiten. 

Der Zuckerrübenanbau wird nun aber 
leider nicht vergrößert, ſondern geht von Jahr 
zu Fahr mehr zurück, weil der Rübenpreis, 
der in einem beſtimmten Verhältnis zum 
Zuckerpreis ſteht, den Rübenbauern nicht 
annähernd den Nutzen läßt, den fie bei ande; 
ren Feldprodukten erzielen können. Das 


Auf ber Warte 


Kriegsernährungsamt iſt aber in feinen Ent- 
ſchließungen in gewiſſem Grade abhängig 
von der öffentlichen Meinung auch dann, 
wenn dieſelbe irregeführt wird durch einen 
Artikel, wie ihn das zweite Februarheft des 
Türmers bringt. Daß derartige Artikel auch 
in nationalgeſinnten Blättern, wenn auch 
nicht in böswilliger Abſicht, fo doch in leicht⸗ 
fertiger Weiſe Aufnahme finden, iſt geradezu 
ein Unglück für das deutſche Volk.“ 

Es leuchtet mir ohne weiteres ein, daß 
der Anbau von Zuckerrüben gefördert werden 
ſollte durch Bewilligung höherer Preiſe an 
die Rübenbauern. Es müßte das nach mei- 


nem Gefühl um fo eher möglich fein, als die 


hohen Gewinne der Zuckerfabriken doch 
ſchließlich nur darauf beruhen können, daß 
das Rohmaterial im Vergleich zum Verkaufs- 
preiſe der aus ihm gewonnenen Erzeugniſſe 
außerordentlich billig iſt. Irgendwo müſſen 
doch ſchließlich die 25% Dividende ber- 
kommen. Es müßte demnach möglich ſein, 
den Preis des Rohmaterials zu ſteigern, ohne 
den Verkaufspreis der daraus gewonnenen 
Erzeugniſſe, alſo vorab des Zuckers, zu er⸗ 
höhen. Gerade dieſe Verteuerung aber wird 
erſtrebt. In einem Artikel der „Tägl. Rund- 
ſchau“ (1. März 18) z. B. heißt es: „Vas 
macht es heutigentags im Haushalt aus, ob 
1 Pfund Zucker mit 40 oder 60—70 9, bezahlt 
werden muß?“ Was iſt das für ein Stand⸗ 
punkt?! 

Wir haben hier den zugeſtandenen Fall, 
daß eine Zuckerfabrik nicht nur 25% Divi- 
dende bezahlt, ſondern darüber hinaus ihren 
Aktionären noch Vorteile zuwendet. Der 
Fall ſteht nicht allein. Es iſt doch mehr als 
grotesk, nun dem Volke eine Erhöhung von 
50 % und mehr des Zuckerpreiſes als eine 
Nichtigkeit zuzumuten, damit den — Rüben- 
bauern mehr bezahlt werden kann. Warum 
faßt man denn gar nicht die Möglichkeit ins 
Auge, daß die Zuderfabriten mit geringerem 
Gewinn arbeiten könnten?! 

Nach alledem wiederhole ich die Frage, 
die ich dem Artikel im Zweiten Februarheft 
voranſtellte: „Wohin zielt das?“ K. St. 


ee En a a ee ee re a an I en en 88 
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: F. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Kunſt und Mufit: Dr. Rarl Storck 


Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. uur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf ⸗Berlin (Wannſerbahn) 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


QOLIIZER 
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Rrisgsauspabe 8 
Herausneher: J. K Rreiherr nun Gratthuß 


—— — — 


IX. Jahrg. Zweites Juniheft 1918 Bren is 


die Anabhängigkeitserklärung Eſtlands 
und Livlands und die ruſſiſche Gefahr 
Von F. E. Freiherrn von Grotthuß m 


m 15. Mai 1918, fo wurde amtlich gemeldet, haben die Vertreter 
Eſtlands und Livlands an den Reichskanzler die Bitte gerichtet, 


land und Eſtland zu übermitteln. Herr Joffe chatte es abgelehnt, dieſe Er- 
klärung direkt' aus den Händen der genannten Herren in Empfang zu nehmen, 
ſich aber bereit erklärt, die Urkunde entgegenzunehmen, falls fie durch das Aus- 
wärtige Amt übermittelt würde. Der Reichskanzler hat daraufhin der von den 
Vertretern Livlands, Eſtlands und Finnlands geäußerten Bitte entſprochen 
und die Unabhängigkeitserklärung durch das Auswärtige Amt Herrn Joffe über 
ſenden laſſen; ſie lautet: | 

Anm 28. Januar 1918 haben die Bevollmächtigten der liv- und eſtländiſchen 
Ritter- und Landſchaft dem Vertreter der ruſſiſchen Regierung in Stockholm. 
Herrn Worowſki, im Auftrage der genannten Körperſchaften eine Note über 
geben, in der genannte Körperſchaften als die verfaſſungsmäßigen Vertreter 
Liplands und Eſtlands die Selbſtändigkeit dieſer ehemaligen ruſſiſchen Pro- 
vinzen erklärten. | 

Der Sumer XX, 18 N = 16 


2 Grotthuß: Sie Unabhängigkeitserklärung Eſtlands und Livlanbs und bie ruſſiſche Gefahr 


Die Ritter- und Landſchaften Liplands und Eſtlands handelten dabei in 
voller Abereinſtimmung mit den Wünſchen der örtlichen Bevölkerung, 
die ihren Ausdruck gefunden hatten nicht nur in den Kundgebungen zahlreicher 
Körperſchaften, Vereine und Organiſationen beider Provinzen, ſondern auch in 
einem Beſchluſſe der auf breiter demokratiſcher Grundlage gewählten 
Vertreter des eſtniſchen Volkes, die gleichfalls für eine Abtrennung der von den 
Eiten bewohnten Gebiete Livlands und Eſtlands von Rußland geſtimmt haben. 

Gegenwärtig haben dieſe Erklärungen eine weitere Beſtätigung erfahren. 
Auf Beſchluß der Landtage der Ritter- und Landſchaften Livlands und Eſtlande, 
die in Riga am 22. März 1918, in Reval am 28. März 1918 tagten, ſind Landes- 
verſammlungen berufen worden, die aus Vertretern aller Bevölkerungs— 
gruppen ohne Anterſchied der Nationalitäten zuſammengeſetzt wurden. 
Dieſe Landesverſammlungen traten in Reval am 9. April 1918 und in Riga am 
10. April 1918 zuſammen. Ihre einſtimmig gefaßten Beſchlüſſe lauten: 

1. In Eſtland: Die vollſtändige ſtaatsrechtliche Loslöſung Eſtlands von 
Rußland wird hiermit auf Grund des laut Dekret vom November 1917 von 
der ruſſiſchen Regierung proklamierten Selbſtbeſtimmungsrechts der 
Völkerſchaften und entſprechend der am 28. Januar 1918 dem ruſſiſchen Ge 
ſandten in Stockholm vom Vertreter der Ritter- und Landſchaften Livlands und 
Eſtlands übergebenen Unabhängigkeitserklärung ausgeſprochen. 

Die Beſchlüſſe über die definitive Regelung der ſtaatsrechtlichen Stellung 
Eſtlands ſind von dem in Riga gemeinſchaftlich für Livland und Eſtland zuſammen⸗ 
tretenden Landesrat zu faſſen. 

2. In Livland: Die livländiſche Landesverſammlung erklärt ihre völlige 
Übereinftimmung mit der Anabhängigkeitserklärung Livlands und feine Los- 
löſung vom ruſſiſchen Reiche. 

2 Die Bevölkerung Livlands und Eſtlands hat ſomit durch die Erklärung ihrer 

Vertreter von dem Recht, ihr Schickſal frei zu beſtimmen, Gebrauch 
gemacht und die Loslöſung von Rußland vollzogen, wovon wir die ruſſiſche 
Regierung in Kenntnis zu ſetzen die Ehre haben. 

Noch bevor ſich die wohl etwas mehr intereſſierte Regierung der ruſſiſchen 
Republik zu dieſer Erklärung auch nur geäußert hatte, ſind die Mannen vom „Ber- 
liner Tageblatt“, „Vorwärts“ und Genoſſen als freiwillige bolſchewiſtiſche Garde 
und ruſſiſcher Vortrupp gegen die „Vergewaltigung“ Mütterchen Rußlands durch 
deutſche „Habſucht“ und „Beutegier“ ins Feld gerückt. So eilig hatten fie’s, dem 
eigenen Lande und der eigenen Regierung in den Rüden zu fallen! Zt das nicht, 
wenn ſchon keineswegs überraſchend, ſo doch über die Maßen bezeichnend? Keine 
Gnade mehr findet der Reichskanzler Graf Hertling vor den Augen des „Vor- 
wärts“; um fo reiner erſtrahlt ihm als friſchgewaſchener weißer Engel mit 
Bügelfalten im politiſchen Unfchuldsgewande Herr von Kühlmann. Der habe 
gegen den an Rußland zu verübenden „Bruch der Vertragstreue“ mannhaft fein 
Haupt erhoben, ja ſogar — fürchterlich! — mit feinem Rücktritte gedroht, falls 
der „Bruch“ dennoch verübt werden ſollte. Und doch und doch habe der berühmte 
Empfang der „baltiſchen Barone“ im Großen Hauptquartier — o über die VBöſe⸗ 


Srotthußz: Die Anabhangigkeits erklärung Eftlands und Lidlands und die zuffiihe Gefahr | 2 


wichter! — ſtattgefunden, der Reichskanzler die Unterſtützung der Loslöſung ver- 
ſprochen, ohne daß (Gott ſei Hanf) Herr von Kühlmann von feiner fürchterlichen 
Drohung Gebrauch gemacht hätte. Dieſe allzu innige Zutunlichkeit ſcheint nun 
doch nicht ganz nach dem Geſchmacke Herrn von Kühlmanns geweſen zu ſein, 
denn er hat die vom „Vorwärts“ mit aller Beſtimmtheit als Tatſache vorgebrachte 
fürchterliche Drohung beſtreiten laſſen, trotzdem der „Vorwärts“ in der Wilfen- 
ſchaft um Kühlmann doch ſonſt jo gut beſchlagen iſt. Unerſchüttert behauptet denn 
auch Georg Bernhard in der „Voſſiſchen Zeitung“: „Die Tatſache, daß ſeine 
Unzufriedenheit ſich bis zu dem ernſten Willen verdichtet hatte, ſeinen Abſchied zu 
nehmen, ſteht zweifellos feſt und kann durch kein Dementi erjchüttert wer- 
den.“ Nicht beſtritten hat Herr von Kühlmann, daß er ſich gegen eine Loslöſung 
Eitlands und Livlands vom ruſſiſchen Joch bemüht hat, und das wird er auch 
wohl kaum beſtreiten können und wollen. 

Es muß ſchon ſehr übel um dieſe Sache ſtehen, wenn ſelbſt die „Germania“ 
des Herrn Erzberger ſich gedrungen fühlt, fie ohne jede zarte Rüdficht preiszu- 
geben und kaltlächelnd darauf hinzudeuten, daß Rußland ja ſelbſt durch feine Er- 
klärung über das Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker auf jeden berechtigten Ein- 
ſpruch verzichtet habe, daß es ſich ſelbſt dann nicht beklagen dürfe, wenn „noch 
mehrere Dutzend unabhängiger Länder entſtehen würden und ihm kein Fetzen 
Landes übrigbliebe“. | 

Wie man die Stimmungen im Baltenlande ſonſt auch beurteilen möge, — 
Tatſache, feſtſtehende, unzweifelhafte Tatſache iſt, daß alle Bevölkerungs- 
ſchichten und alle Volksſtämme dort bis auf eine verſchwindende Minderheit in 
dem Wunſche eines Sinnes und eines Entſchluſſes ſind, unter allen Umſtänden 
von der ruſſiſchen Herrſchaft loszukommen. Sie müßten ja auch von allen guten 
Geiſtern, vom einfachſten Selbſterhaltungstriebe verlaſſen ſein, wenn ſie nach ihren 
Erfahrungen mit der Blut- und Schreckensherrſchaft der bolſchewiſtiſch-ruſſiſchen 
„Freiheit“ und „Demokratie“ anderen Sinnes wären. Muß doch ſogar ein Wort- 
führer der eſtniſchen Minderheit, N. Menning, der als „Vertreter Eſtlands“ () in 
Kopenhagen () unterzeichnet, im „Berliner Tageblatt“, dem in deutſcher Sprache 
geſchriebenen internationalen Organ aller gegendeutſchen Beſtrebungen, mit einer 
Träne in dem nach Rußland rückwärts gewandten Auge bekennen, daß für die 
nächſte Zeit in Rußland eine Periode ruhiger Entwicklung und geordneter Zuſtände 
nicht zu erwarten ſei, daß aber ein Hinüberſpringen der jetzigen ruſſiſchen ultra- 
revolutionären Bewegung nach Eſtland für dieſes geradezu kataſtrophal wer- 
den würde. „Die bolſchewiſtiſche Bewegung in Eſtland hat gezeigt, daß die eſtni⸗ 
ſchen Bolſchewiſten im Lande in einer derartigen Minderheit ſind und über 
fo geringe materielle und geiſtige Kräfte verfügen, daß fie die organiſche Ent- 
wickelung in keiner Weiſe gefährdet hätten. Die ruſſiſchen Bolſchewiſten aber, die, 
wie die Ereigniſſe in Finnland zeigen, immer bereit find, zugunſten ihrer Ge- 
ſinnungsgenoſſen mit Waffengewalt beizuſpringen, verhalfen auch den eſtniſchen 
zur Herrſchaft, die dann eine Reihe trauriger und grauſiger Geſchehniſſe für das 
Land zur Folge hatte und im Falle eines erneuten bolſchewiſtiſchen Terrors das 
Furchtbarſte verſpricht. Weicht aber die bolſchewiſtiſche Regierung in Rußland 


244 Grotthuß: Die Unabhängigkeits erklärung Eftlande und Livlande und bie ruſſiſche Gefahr 


irgendeiner anderen, ſo beſeitigt das die Gefahr für Eſtland, kulturell und national 
unterdrückt zu werden, nur in ſehr beſchränktem Maße. Das hat der Zarismus 
gezeigt, deſſen furchtbare Feindlichkeit gegen jede ſelbſtändige kulturelle Entwick- 
lung der Fremdvölker ich hier nicht darzulegen brauche, da ſie nur zu bekannt ft, 
Das hat aber leider auch die revolutionäre temporäre Regierung Rußlands 
gezeigt, bei der ſich, allen theoretiſchen Prinzipien zum Trotz, in der 
Praxis imperialiſtiſche Beſtrebungen auf Schritt und Tritt durchſetzten, und 
die die zugeſagten Freiheiten des eſtniſchen Volkes bei der Durchführung auf alle 
Weiſe zu beſchneiden und zu hintertreiben verſuchte. Es fei hier nur an das Un- 
geheuerliche erinnert, daß fie die Mutterſprache als Unterrichtsſprache 
für die niedere Volksſchule nicht geſtattete. Dieſe Erfahrungen haben die 
Verbitterung der Eſten, die das korrupte und brutale zariſtiſche Beamtentum 
großgezogen, nicht verſchwinden laſſen, und die Geſchehniſſe der ruſſiſchen Re- 
volution haben das Gefühl der Abneigung gegenüber der kulturellen 
Zurückgebliebenheit des ruſſiſchen Volkes noch vertieft. 5 

So urteilt ein Vertreter der eſtniſchen Minderheit, ein Eſte, der fih gegen 
einen Anſchluß an das Deutſche Reich erklärt, über die Segnungen der ruſſiſchen 
„Kultur“ und „Freiheit“. Wie recht hat doch Spen Hedin: „Wenn die Ruſſen 
von Freiheit ſprechen, ſo meinen ſie die ruſſiſche, unter der die anderen in Eiſen 
geſchmiedet werden.“ Und für dieſen blutgetränkten „Freiheits“ mantel, den ſich 
der tief in der ruſſiſchen Volksſeele lauernde uferloſe Ausdehnungsdrang und Im- 
perialismus um die Schultern wirft, werden die deutſchen Arbeitermaſſen gegen 
ihre eigene friedliche Wohlfahrt und Sicherheit von „Führern“, die nichts Beſſeres 
wiſſen und können als leere, ſtarre Parteidogmen und verſchwommene Wald- 
und Wieſentheorien, ſyſtematiſch aufgepeitſcht, um alle politiſche Vernunft ge 
bracht. Es wäre Wahnwitz von dieſen „Führern“, wenn eben nicht hinter alledem 
die eigene Herrſchſucht über die Maſſen, bewußt oder unbewußt, ſich verſteckte 
und die Furcht, die Zügel dieſer Herrſchaft aus der Hand zu verlieren. — 

Vas ſollte denn, wenn es nach dem Wunſche einer kleinen eſtniſchen Minder- 
heit ginge, aus Eſtland und Livland als „unabhängigen Staaten“ werden, wenn 
nicht, wie ich hier ſchon öfter dargelegt habe, ein dauernd glimmender Herd zur 
Entfachung neuer Kriegsbrände, ein Zankapfel zwiſchen den ſtärkeren angrenzen⸗ 
den oder ſonſt „intereſſierten“ Mächten, ein neuer Balkan und ſchlie ßlich eine 
Beute der einen oder anderen wettraufenden Macht? Das Deutſche Reich käme 
dann ja kaum noch in Frage, denn wenn es einmal ſeine Hand von dieſen Ländern 
zurückgezogen und ihre „Unabhängigkeit“ im Sinne der Bolſchewiken ruſſiſcher 
und deutſcher Zunge anerkannt hätte, würde es — ganz alle in — die abgeſchloſſe⸗ 
nen „Verträge“ auch bierehrlich einhalten, bis ihm dann doch, zwar wieder ſehr 
gegen ſeinen Willen und zu ſeinem tiefſten Erſtaunen, die Tatſachen über den 
Kopf wachſen und es, ſchon aus Gründen der Selbſtverteidigung, in die mörde- 
riſche Rauferei mit hineinzwingen würden. Die engliſchen Abſichten in dieſen 
Ländern hat kein Geringerer als der engliſche Botſchafter Buchanan ver- 
raten, indem er an eine eſtniſche Abordnung die Frage ſtellte: ob wohl die Eſten 
gegen eine „britiſche Schutzherrſchaft“ was einzuwenden hätten? Ein bal- 


Srottzu: Die Unabhaͤngigteitserklärung Eſtlands und Livlands und die ruſſiſche Gefahr 245 


tiſches Belgien alſo! Kein übler Gedanke — vom engliſchen Standpunkte 
geſehen. Die ſozialdemokratiſche „Internationale Korreſpondenz“ berichtete über 
eine zehntägige Reiſe von Vertretern der konſervativen, liberalen und fozial- 
demokratiſchen Preſſe nach Livland und Eſtland, bei der ſie Gelegenheit hatten, 
mit den eſtniſchen Führern der Minderheit, der Gruppe Tönniſſon-Menning- 
Martna, ſich eingehend über deren politiſche Wünſche auszuſprechen. Baß er— 
ſtaunt iſt der Verfaſſer, der ſozialdemokratiſche Politiker Ernſt Heilmann, über die 
politiſche Naivität dieſer Leute. Ihr Ideal ſei eine Republik Eſtland, möglichſt 
international garantiert () nach dem Muſter Belgiens () oder der Schweiz. 
Die deutſche Wilitärverwaltung in Eſtland ſollte möglichſt raſch verſchwinden. 
Als man ſie aber gefragt hatte, was ſie denn nach Abzug der deutſchen Truppen 
tun wollten, wenn von Rußland her die bolſchewiſtiſche Welle wiederkäme, da 
mußten ſie „nach vielem Wenn und Aber“ zugeben, „daß ſie dann nötigenfalls 
wieder an Deutſchlands Hilfe appellieren müßten“! Und auf die Frage, 
ob denn die Eſten jemals in der Lage ſein würden, ihr Land gegen ein auch nur 
halbwegs wiedererſtarktes Rußland zu verteidigen, erwiderten die guten Leute, 
„ie würden ſich auf den Schutz der internationalen Verträge verlaſſen“! 
Sehr richtig bemerkt Heilmann, es käme alſo in dieſem eſtniſchen Programm 
letzten Endes alles darauf hinaus, daß hinter der eſtniſchen Republik ſtändig der 
Schutz der deutſchen Waffenmacht als latente Orohung ſtehen ſolle, während 
anderſeits Deutſchland in Eſtland nichts zu ſagen hätte und die Eſten felbft die 
Freiheit behielten, je nach Stimmung zwiſchen Deutſchland und Rußland hin 
und her zu taumeln. „Eine ſolche Löſung“, ſagt Heilmann, „können ſich die naiv 
kindlichen eſtniſchen Politiker vorſtellen, die über keinerlei praktiſche Erfah- 
rung verfügen.“ 

And dieſe „naiv kindlichen eſtniſchen Politiker“ ſind von ſehr einflußreichen 
deutſchen Stellen noch ermutigt und gefördert worden! Sollte Herrn von Kühl- 
mann nichts davon bekannt ſein? Herrn Erzberger auch nicht? — 

Am 24. April hängte die „Frankfurter Zeitung“ in einem längeren Aufſatz 
u. a. folgende nicht mehr ganz ganz neue, aber immer noch zugkräftige Ware ins 
Schaufenſter: 

„Für die Angliederung Kurlands können Gründe geltend gemacht werden, 
denen ſich, wer nicht in einer Doktrin einfeitig befangen iſt, ſchwer verſchließen 
wird. Die gänzliche Umgeftaltung des Oſtens, die Ablöſung Polens und Litauens 
von Rußland machen eine Verrückung des deutſchen Einfluſſes nach Oſten hin 
allerdings erwünſcht, und die Möglichkeit, in mäßigem Umfange europäiſches 
Siedlungsland zu gewinnen, zählt mit. Aber weil Kurland angeſchloſſen wird, 
folgt nicht, daß Livland und Eſtland folgen müſſen, ſonſt müßte man nad) hiftori- 
ſchen Rezepten Politik treiben. Die Vorſchiebung der deutſchen Macht- und Ver- 
antwortlichkeitsgrenze bis an die Tore von Petersburg bringt uns dauernd in 
ein ſehr kritiſches Verhältnis zum Oſten, ſie macht uns zu Intereſſenten an der 
bleibenden Ohnmacht Rußlands und damit zu Gegnern jedes künftigen ruſſiſchen 
ze Dies ift eine Hypothek ſchwerſter Art auf jeder auswärtigen deutſchen 

olitikl.“ 


246 Srotthuß: Die Unabhängigkeitsertlärung Eſtlands und Llvlands und die ruſſiſche Geſehe 


Damit glaubt die „Frankfurter“ ſchon ſchwerſtes Geſchütz abgefeuert zu 
haben, und ſicher erzielt ſie auch Treffer — bei den braven Leuten, aber ſchlechten 
Muſikanten, die bei jedem Schuß, auch wenn er nur ein Loch in die Luft reißt, 
vor Schrecken und Beſtürzung platt auf den Rüden fallen. Es find die alten, be- 
kannten Scheingründe, die Logik, die nicht den Mut zu ſich ſelbſt hat, und darum 
juſt auf dem Punkte ſtehen bleibt, wo ſie anfangen könnte, ſich ſelbſt unbequem 
zu werden. Wie? — die Ablöſung Polens, Litauens und Kurlands wird keinen 
bitteren Stachel bei den „Ruſſen“ hinterlaſſen? Erſt, wenn noch Livland und 
Eſtland dazu kommen, wird der Stachel ſich automatisch auslöfen? Und England? 
Das dann, an Stelle des Deutſchen Reiches, das „Protektorat“ über die baltiſche 
Küſte übernehmen, ſich dort feſtſetzen und „an die Tore Petersburgs vorſchieben“ 
würde, um Rußland hübſch unter der Fuchtel zu halten? Zu unſerem Heile etwa? — 
Varum aber ſollte uns eine Angliederung Eſtlands und Livlands zu „Sntereffenten 
an der bleibenden Ohnmacht Rußlands und damit zu Gegnern jedes künftigen 
ruſſiſchen Aufſtiegs“ machen? Umgekehrt könnte ein Schuh daraus werden. „Inter- 
eſſenten“ an unſerer eigenen Sicherheit gegen ruſſiſche Maſſeneinbrüche und Ver⸗ 
heerungen nach dem von der „Frankfurter“ wohl ſchon vergeſſenen Muſter Oft- 
preußen werden wir — mit ihrer gütigen Erlaubnis — wohl bleiben dürfen; auf 
die abgetrennten weſtlichen Kulturgebiete des ehemaligen, nur durch Blut und 
rohe, grauſamſte Gewalt zuſammengeſchweißten Imperium hat Rußland keinerlei 
Rechtstitel, ſowenig es dort irgendwelche Kulturaufgaben und überhaupt etwas 
zu ſuchen hat, als eben die ihm mangelnde Kultur, friedlichen wirtſchaftlichen Ver- 
kehr und Warenaustauſch. Damit muß ſich Rußland abfinden; daß es ſich damit 
abfinde, dafür gibt es kein anderes Mittel, als ſeinen verſtiegenen imperialiſtiſchen 
Gelüſten nach dem Weſten einen eiſernen Riegel vorzuſchieben. Hat es ſich abet 
damit einmal abgefunden, dann haben wir nur ein wohlbegründetes, ſtarkes, nicht 
zuletzt auch politiſches Intereſſe, feinen Aufſtieg zur Kultur und zur wirtſchaft⸗ 
lichen Blüte zu fördern, wird es auch nicht von dem freien wirtſchaftlichen Ver- 
kehr durch die baltiſchen Häfen abgeſperrt ſein. Das können und wollen wir ihm 
ja alles in Verträgen verbürgen und ſicherſtellen, — die „Frankfurter“ hält doch 
ſonſt fo viel von Verträgen, wenn — andere fie uns aufhängen ſollen. Fſt es aber 
einmal dahin gebracht worden (denn es muß dahin gebracht werden, freiwillig 
wird es nie feine ausſchweifenden, in der Nomadennatur feiner mongoliſchen Blut- 
miſchung liegenden Ausdehnungsgelüſte aufgeben) —, dann wird Rußland auch 
einſehen lernen, wieviel reichere Kraftquellen ſich ihm aus ſeinen ehemaligen 
weſtlichen Randgebieten erſchließen, die ergiebig zu machen es trotz jahrhunderte; 
langer Herrſchaft ſich vollſtändig unfähig erwieſen hat; die es nur immer troſt⸗ 
loſer verſickern, vertrocknen ließ, bis dann die dürre Wildnis des abgeholzten ruffi- 
ſchen Steppenlandes ſie vollends aufgeſogen hätte und die Loſung nur um ſo 
heißer und hungriger erſchollen wäre: „Neues, blühendes Land! Weiter, immer 
weiter nach dem Weſten! Entvölkert das Land, rottet die fleißigen Pfleger mit 
Kind und Kindeskindern aus, damit ihr euch in den Alleinbeſitz ihrer ſchön her⸗ 
gerichteten Acker und Weiden ſetzen könnt!“ Var das nicht etwa ſchon die Ab- 
ſicht bei den Maſſenverſchleppungen, Verſtümmelungen und Abſchlachtungen in 


Srotthußz: Pie Unobhängigteitserklärung Eftlands und Lirlands und bie ruffiihe Gefahr: 247 


Oſtpreußen und Galizien? Welch kurzes Gedächtnis haben doch manche Leute, 
wenn ſie's nicht an ſich ſelbſt erlebt haben, oder aus guten Gründen glauben, es 
nicht befürchten zu müffen. | 

Die politische Weisheit der „Frankfurter Zeitung“ iſt nichts anderes als eine 
Politik der Halbheit, die ſich, wenn auch nach dem Vorhergegangenen durch- 
aus nicht überraſchend, aber doch empfindlich genug mit der dreiſten Abſage der 
Trotzki-Regierung auf die Unabhängigkeitserklärung Eſtlands und Livlands durch 
ſeine berufenen verfaſſungsmäßigen Vertreter gerächt hat. Dieſe Erklärung, 
das wollen wir doch nicht ſo ganz unter den Scheffel ſtellen, iſt aber durch 
bie deutſche Reichsregierung dem Vertreter Rußlands übergeben worden, 
und dieſer Unabhängigkeit haben Kaiſer und Reich feierlich und in aller Form 
ihre Unterftüßung zugeſagt. Die Folgerungen daraus ergeben ſich von ſelbſt 
und müſſen gezogen werden. Aber in wieviel günftigerer Lage befände fich 
heute unſere Regierung, wenn ſie, wie es ſich eigentlich von ſelbſt verſtand und 
auf keinen ernſtlichen Widerſtand ſtoßen konnte, auch dieſe Länder als durch das 
Selbſtbeſtimmungsrecht ihrer Völker aus dem großruſſiſchen Reichsverbande aus- 
geſchieden erklärt hätte, — wenn ſchon einmal mit dieſer Phraſeologie gearbeitet 
werden ſollte. Denn nichts weiter als eine, gewiſſen deutſchen und öſterreichiſchen 
„Demokraten“ und ihren politiſchen Exponenten auf den Leib geſchriebene Komödie 
waren ja die von den Bolſchewiki im Sinne des Wortes geführten Verhand- 
lungen in Breſt-Litowſk. Zetzt ſoll die Komödie wieder von vorne angehen und 
gar noch in — Moskau (!) in Szene geſetzt werden! 

Wenn wir in der Tat (nach der „Frankf. Ztg.“ unſere Rußlandpolitik mit 
„Ihweren Hypotheken“ belaſten, fo hätten wir fie ſchon durch die Ablöſung des 
ganzen ruſſiſchen Königreichs Polen (Kongreßpolens), Litauens, Kurlands, weiter 
(im Gefolge des Krieges) Finnlands, der Ukraine und all der anderen Gebiete, 
die ſich als ſelbſtändig erklären, bis zum Schornſtein geſchrieben. Pſychologiſch 
aber am ſchwerſten belaſtet durch die bloße Tatſache, daß wir das ruſſiſche Riefen- 
reich niedergeſchmettert, in Trümmer geſchlagen haben. Und wenn auch 
nicht für alle Zukunft, — wäre der Ruſſe nicht Ruſſe, ſondern Franzoſe, ſo würde 
er uns das nimmer vergeſſen und all ſein Trachten und Sinnen darauf einſtellen, 
blutigſte, grauſamſte Rache zu üben. Nun iſt der Ruſſe aber Ruſſe; es iſt nicht 
ſeine Sache, ſich über einmal Geſchehenes noch lange Jahre hindurch Gedanken 
zu machen. Er nimmt es in ſeinem mit Leichtherzigkeit gepaarten Fatalismus 
als Gottes Willen hin. Unverſöhnlicher, nachtragender Haß liegt ihm nicht; 
er haßt auch nicht die klare, zielbewußte, ſich geltend machende Überlegenheit 
des Starken; er beugt ſich ihr in Ehrerbietung und fühlt ſich zu ihr als zu einer 
Ergänzung ſeines eigenen, mehr femininen Weſens triebhaft hingezogen. 

Nicht alſo dauernde ruſſiſche Revancheluſt haben wir zu fürchten, ſondern 
den ruſſiſchen Ausdehnungsdrang, und nichts wäre verkehrter, als ſich der be- 
quemen Selbſttäuſchung anzuvertrauen: wir könnten dieſen Drang durch groß- 
mutige Verzichte und „demokratiſche“ Verſöhnungsphraſen aus der Welt ſchaffen. 
Selbſt wenn wir das Unglaubliche, doch wohl auch bei uns Undenkbare fertig- 
brächten und die baltiſchen Provinzen, etwa auch „nur“ Eſtland und Livland — in 


248 Grotthuß: Die Unabhängigteltserlärung Eſtlands und Livlanbs und die ruſſiſche Gefahr 


der einen oder anderen Form — wieder an Rußland auslieferten, ſo würden wir 
Rußland damit zwar keine „goldene“, wohl aber eine eiſerne Brücke gegen uns 
bauen, die ihm nur ein Anreiz zu beſchleunigtem, um ſo leichterem Einbruch wäre. 
Einen Hindenburg aber wird uns der Herrgott ſo bald wohl nicht wieder ſenden — 
die Hindenburg und Ludendorff wachſen nicht wild auf der Wieſen. Wir hätten uns 
alſo nur ſelbſt um ein ſtarkes Bollwerk beraubt und geſchwächt und die feindliche 
Angriffskraft um eben dieſes Bollwerk verſtärkt, die Spitze des feindlichen Degens 
mit eigener Hand auf die eigene Bruſt gelenkt, — das Beginnen eines hoffnungs⸗ 
los Irrſinnigen. Nur dadurch, daß wir unſere Grenzwacht jo günſtig ziehen und 
fo ſtark feſtigen, wie es nur immer in unſerer Macht liegt, können wir der 
ruſſiſchen Gefahr mit Erfolg begegnen. Verſicherungsſcheine auf Jahrhunderte 
freilich hält die Weltgeſchichte nicht auf Lager. Gewöhnen wir „Rußland“ erſt 
an den Gedanken, daß der Deutſche nicht nur zu fiegen, ſondern das durch den 
Sieg Errungene auch feſtzuhalten verſteht, daß es ein ganz gefährliches Spiel 
und eine verteufelt teure Sache iſt, mit ihm anzubinden, dann wird die erſte 
und grundlegende Vorausſetzung zu einem freundnachbarlichen, ſogar freund- 
ſchaftlichen Einvernehmen geſchaffen ſein. Allein ſchon das Bewußtſein, über ſo 
viele Deutfche, dazu über Länder, die der Ruſſe (im Gegenſatz zum Reichsdeut— 
ſchen !) immer als deutſche angeſprochen hat, als unumſchränkter Herr und Ge- 
bieter nach Willkür ſchalten und walten zu dürfen, mußte feiner nationalen Über- 
hebung und feiner unverhohlenen Verachtung deutſcher nationaler Unterwürfig- 
keit und politiſcher Duckmäuſerei eine ſtändige Nährquelle fein. — Alle anderen 
Vorſchläge und Beſtrebungen noch ſo brav beſorgter Deutſcher, die ruſſiſche Gefahr 
zu bannen, find Dilettantismus übelſter und gefährlichſter Art, bar jeden pſycho⸗ 
logiſchen Schätzungs- und Einſtellungsvermögens. 

Mit dem „Wirtſchaftlichen“ allein iſt es aber auch nicht getan. Es ſteht über- 
haupt nicht immer und überall unmittelbar an erſter Stelle. Mag ſein, daß wir 
bereits ſo verhändlert ſind, bei anderen Völkern iſt es nicht das Alleinſeligmachende 
und Ausſchlaggebende. Gewiß, „Verdienen“ wird von allen groß geſchrieben, aber 


— die anderen wiſſen ſich auch darin zu beherrſchen, wo ihr nationaler Ehrgeiz er- 


weckt wird, die Fanale nationalpolitiſcher Ziele, das „Preſtige“ uſw. ihnen auf⸗ 
leuchten. Und fie haben den ſicheren Inſtinkt, daß fie dabei auch — und erſt recht — 
auf ihre wirtſchaftliche Rechnung kommen. Wäre es den franzöſiſchen Macht- 
habern wohl möglich, ihr verblutendes Volk durch Vorhaltung rein wirtfchaft- 
licher Ziele fort und fort zur Schlachtbank zu führen? Unterſchätzen wir auch die 
Engländer nicht, indem wir ihnen rein händleriſch-kapitaliſtiſche Kampfziele unter- 
ſtellen. Wohl hat ſich England von ſolchen beherrſchen laſſen, als es den Krieg 
gegen uns anzettelte und ſelbſt in den Krieg eintrat. Jetzt kämpft es längſt nicht 
mehr nur um dieſe, es kämpft vor allem um ſein Preſtige, um die Macht, das 
Anſehen der Firma, damit zwar auch für das Geſchäft, aber doch mit dem 
klaren Bewußtſein der vollen Bereitſchaft, auch wirtſchaftlich ſchwerſte Opfer zu 
bringen, Schädigungen auf ſich zu nehmen, von denen es ſelbſt am beſten 
weiß, daß es ſie auch nach dem Kriege nicht gleich in klingende Münze wird 
umſetzen können. 


Geidel: Gewißheit | 249 


Von keinem der uns feindlichen Völker werden ſo reichlich die rein „wirt- 
ſchaftlichen“, händleriſchen „Intereſſen“ geſchwungen, in keinem dürfen ſich die 
Vortführer dieſes „Kriegszieles“ fo breitmachen, erfreuen fie ſich fo großen Ein- 
fluſſes und Anſehens, wie bei uns. Und es ſoll doch am deutſchen Weſen einmal 
noch die Welt genefen —? Wenn wir „der Welt“ nichts weiter zu bieten oder 
von ihr zu fordern haben, als wirtſchaftliche Intereſſen, dann wird „die Welt“ 
auf ſolche „Geneſung“ wohl lieber verzichten, und mit Recht. Nicht einmal unſere 
eigenen wirtſchaftlichen Intereſſen werden dabei „geneſen“, und der allzu pfiffige 
geſchäftstüchtige Michel wieder einmal der Geprellte ſein. Dafür hätten wir dann 
dieſen Krieg mit dieſen Opfern auf uns genommen! 

Welcher Geiſt durfte bei uns in die Halme ſchießen, daß das edle Wachstum 
nur noch geduldet, demnächſt vielleicht — als läſtiges Unkraut — gar ausgereutet 
wird? Welche erſtaunlichen, ſchier abenteuerlichen Unfähigkeiten und Minder⸗ 
wertigkeiten in Schickſalsſtunden ohnegleichen die Zügel an ſich reißen, ſie, trotz 
denkbar kläglichſten Niederbruchs, in der Hand behalten! Wie konnte ſolches Elend 
zu hohen Jahren kommen? Zu welchen Abgründen ſind wir geritten worden und 
vor welchen ſchweben wir vielleicht noch? — Nur eines durchlichtet und durchlüftet 
befreiend dieſe drückende, ſpießbürgerlich-kleinkrämeriſche Atmoſphäre —: Hinden- 
burgs blitzendes, geiſtgeſchaffenes und geführtes Schwert. In ſeinem Lager 
iſt Deutſchland, iſt das wahre deutſche Weſen, und nur an dieſem lauteren, 
bis auf den Grund klaren Stahlbrunnen, in dem ſich irdiſch Gefild und Himmels— 
geſtirn ſpiegeln, kann die Welt, können wir ſelbſt einmal noch geneſen. 


Gewißheit Bon Ina Seidel 


In mir iſt das Herz des Vaterlandes, 

Und drum weiß ich, Land, du wirft beſtehn! 
Denn ein Herz ſo blütenvollen Standes 
Kann nicht untergehn. 


Mich an deinen Boden ſchmiegend, 
Der mich nährt und hält, 

Anter deinen Sternen liegend, 

Die die Sterne ſind der ganzen Welt, 


Fühl“ ich mich ins Ewige gerettet 
Ohne Zeit und Raum, 

Weiß ich unauflöslich mich verkettet 
Zwiſchen Stern und Baum. — 


W 


2609 Ä Kohne: Komab Norman 


Konrad Nordmann 
Skizze von Guſtav Kohne 


ſchnurſtracks von Oſten nach Weſten ſtößt eine neu angelegte Ries- 
ſtraße in das Maienfelder Moor- und Bruchgelände. Bis zu einer 
2 halben Stunde Entfernung macht der grün beangerte Weg auch 
O nicht den leiſeſten Verſuch, von der eingeſchlagenen Richtung abzu⸗ 
weichen. Starr, ſteif, eigenſinnig ſchießt er dahin, das Moorgelände von der Bruch- 
niederung trennend. Zunge, weißſtämmige Birken an den Grabenrändern, die 
ſchon in geringer Entfernung ſo nahe aneinandergedrängt erſcheinen, als bildeten 
ſie eine weiße Bretterwand, bringen einen freundlichen Zug in ſein ſtarres, hartes 
Geſicht. Kein Fußgänger, kein Gefährt belebt die lange Strecke, nicht einmal ein 
Hafe hopſt über fie hinweg. Einſam, ſtill und groß liegt die Landſchaft zu beiden 
Seiten des Weges da. Über ihr wölbt ſich die gewaltige Himmelstuppel, 

Endlich — es iſt an jener Stelle, wo ſich rechter Hand im Bruchgelände das 
Maiengeſtrüpp und Kiefernbuſchwerk zu einem dichten Rudel ene 
hat — bewegen ſich die Zweige. 

Nun — nun? 

Eine hohe, bärtige Geſtalt tritt heraus aus dem Gebüſch und ſpringt mit 
langem Schritt über den Graben weg. Ein Sechziger iſt's, in hohen Stiefeln und 
Lodenjoppe, auf dem Kopfe einen verſchoſſenen Hut und in der Rechten einen 
derben Eichenſtock. Es iſt Konrad Nordmann, der führende, tonangebende Bauer 
von Maienfeld, der Schöpfer dieſes Weges. 

Mitten auf dem Fahrdamm bleibt er ſtehen, ſchaut die kurze Strecke in der 
Richtung auf das Dorf entlang, wendet ſich und läßt die Blicke gen Weſten ſchwei⸗ 
fen. Lange ſteht er unbeweglich da, als laure er darauf, daß da hinten — ganz, 
ganz hinten — das kleine, ſchwarze Etwas in der Geſtalt eines Bockes über den 
Weg traben ſolle. Aber das iſt's nicht, was ihn bannt und feſſelt. Er träumt. 
Wahrhaftig: Konrad Nordmann träumt! Und das wettergebräunte Geſicht mit 
den ſcharfen Zügen, der wuchtigen Adlernaſe und den wulſtigen Brauen drüber 
ſieht doch gar nicht danach aus, als ſei die Seele dieſes Mannes fähig, zum Träu- 
men eingeſtellt zu werden. Und dennoch: Konrad Nordmann träumt! Er denkt 
daran zurück, wieviel Sorge ihm dieſer Weg gemacht, wieviel Widerſtand er bei 
den Ortsbewohnern zu überwinden hatte, ehe ſie einwilligten in ſeinen ſchönen, 
ach ſo ſchönen Plan. 

284 Nun iſt der Zuweg fertig, und es kann daran gegangen werden, das große 
Bruchgelände zu ſeiner Rechten der Kultur dienſtbar zu machen. Viel, ſehr viel 
Überredungs- und Berechnungskunſt wird noch erforderlich fein, um das Geld für 
dieſe Arbeit aus den Truhen und Koffern ſeiner Standesgenoſſen herauszuholen. 
Auch weiß er, daß das Werk in den zehn, fünfzehn Jahren, die er beſtenfalls noch 
wirken kann, nicht zu vollenden iſt. 

e Seine ganze Hoffnung ſetzt er auf Franz, feinen älteſten Sohn. Wie er 
ſelber einſtmals noch ein paar Jahre über die Oorfſchule hinaus fein Wiſſen be⸗ 


AD 


gobne: Konrad Mordinann 251 


reichert und feinen Geiſt geſchärft, jo hat auch Franz die Stadtſchule beſucht und 
it als ſechzehnjähriger Zunge mit dem Einjährigenſchein auf den Hof zurüd- 
gekehrt. Sie verſtehen ſich, er, der Vater, und Franz, der Sohn. Denn auch Franzens 
Blick reicht über den Gartenzaun hinaus, und die Begeiſterung für das große 
Werk und die Entſchloſſenheit, es zu vollenden, iſt bei ihm nicht geringer, iſt bei 
ihm nicht minder drängend als bei dem Vater. Dieſer Sohn iſt Konrad Nord- 
manns Stolz und Glück. Und mehr: er ſoll ihm dereinſt auch den Fortgang aus 
dem Leben leicht machen und ihn ohne Sorgen ſterben laſſen. Mit dieſer Zu- 
verſicht im Herzen ſchreitet Konrad Nordmann auf ſeinem Wege dem Dorfe 
zu und kehrt ein in das wuchtige, langgeſtreckte Haus, das da unter den Eihbaum- 
tiefen feines großen, ſchönen Hofes in behäbiger Ruhe liegt und ſchlummert. 

Die Jahre gehen hin. Nach mehreren Beratungen in der Gemeinde- 
verſammlung wird endlich eine mäßige Summe für ein paar Entwäfjerungs- 
gräben im Bruchgelände ausgeworfen. Franz, der Sohn, vertritt den Vater bei 
der Ausmeſſung des Geländes und gibt Natſchläge bei den Ausſchachtungsarbeiten. 
Viel Schwierigkeit und Willenskraft erfordert die Hebung eines mächtigen Find⸗ 
Iingsfteines, der in der Fluchtlinie des Hauptkanales liegt. Der Vater macht den 
Vorſchlag, den Stein zu umgehen. Franz aber trägt ſich mit dem heimlichen Ge- 
danken, dieſen Stein dereinſt mit den Jahreszahlen der Kultivierungsarbeit zu 
verfehen, und läßt nicht nach, bis der Koloß in feiner maſſigen Fülle auf feſtem 
Untergrunde am Ufer liegt. 

Da bricht der Weltkrieg aus. Statt der Kulturförderung ſetzt allem Anſchein 
nach eine Kulturvernichtung ein. Auch die Entwäſſerungsarbeit wird abgebrochen, 
jah und jach; denn mit Franz und zweien feiner Brüder wird der größte Teil der 
Ausſchachtungsmannſchaft zu den Fahnen einberufen. 

Konrad Nordmanns breiter Niederſachſenbruſt entfährt ein hartes, bitteres 
Stöhnen. Indeſſen er fügt ſich und ſucht Hilfe, Schutz und Troſt bei ſeinem Gott. 
War er ſonſt nur ein mäßiger Kirchgänger geweſen, ſo ſieht man ihn von nun an 
faſt allſonntäglich mit ernſter Miene und voll Andacht in ſeinem Stande ſitzen. 
Rehrte der Franz nicht zurück — o Gott! Der Atem will ihm ſchon ſtehen blei- 
ben, wenn er nur an die Möglichkeit des grauſen Schickſalsſchlages denkt. Inniger, 
mit ſchlichterer Andacht und mehr Treue und Biederkeit im Herzen als Kon- 
rad Nordmann mag wohl keine Mutter, keine Tochter, keine Braut um die Ge- 
ſundheit und das Leben des Angehörigen die Hände gefaltet haben. 

Viele Wochen und Monate geht auch alles gut. Und Konrad Nordmann 
vergißt es auch nicht, neben den Bittgebeten manches Dankgebet zu ſprechen. 

Franz iſt ſchon dreimal auf Urlaub geweſen, und auch Wilhelm und Ernſt, 
die beiden andern Söhne, haben wiederholt im Elternhauſe geweilt. Konrad 
Nordmanns Hoffnung, daß ſein großes Kulturwerk doch noch wieder in Angriff 
genommen und dereinſt durch Franz der Vollendung entgegengeführt werden 
könnte, wird wieder ſicherer, zuverſichtlicher. Er ſchreckt nicht mehr davor zurück, 
ſich auf ſeinen Gängen durch das Feld und über die Heide mit Einzelheiten des 
ſchönen Planes zu befaſſen. Und als er erſt den friſchen, grünen Weg der Hoff- 
nung wieder betreten hat, fühlt er ſich auch bald heimiſch darauf. Ein ſtarker Glaube 


252 Kohne: Konrad Nordmann 


reift heran in ſeinem bisher ſo angſtgeſchwängerten Herzen. Wie könnte Gott, der 
Gute und Gerechte, der Ordnung hielt in der Unendlichkeit des Sternenhimmels, 

der jedes Kräutlein auf der Wieſe, jedes Tierchen, das im Sande kriecht, mit ſo 

viel liebender Weisheit bedacht hat — wie könnte ihn dieſer Gott mit feinem Aulti- 

vierungswerke, das doch dem Wohle der Mitmenfchen, der ganzen Gemeinde galt, 

im Stiche laffen? Seine bisherige Düſternis weicht einer heiteren Zuverſicht. 

Franz und Wilhelm ſtehen an der Oſtfront, wo ja der Wind mit weniger 
Schärfe zu wehen pflegte als im Weften, und Ernſt, der Jüngſte, der Student, 
der zwar ſchon oft an Flanderns Küſte eine ſtürmiſche Briſe über ſich ergehen 
laſſen mußte, iſt ein Glücks- und Sonntagskind. Er weiß allen Vorgängen des 
Lebens eine heitere Seite abzugewinnen und ſchreibt einen launigen, humor⸗ 
geſpickten Brief nach dem andern. 

Nun vergehen aber Tage und Wochen, daß Franz und Wilhelm, die beide 
in demſelben Regimente dienen, weder Brief noch Kartengruß an die Eltern 
ſenden. Konrad Nordmann grübelt hin und her, und der heitere Zug in ſeinem 
Geſichte verliert an Licht und Glanz. FIndeſſen er rafft ſich zuſammen, wirft ſich 
in die Bruſt und geht mit feſten Schritten durch Stall und Flur und Garten. 
Wetterwendiſch iſt er nie geweſen in all den fünfundfechzig Jahren feines Lebens. 
Treue und Beſtändigkeit ſollen ihn auch am Abend ſeiner Tage nicht verlaſſen. 
Und ſiehe da, der Entſchluß trägt Frucht, noch ehe die Blüte kaum verwelkt. Die 
Söhne ſchicken Briefe; doch nicht vom Oſten, ſondern aus dem Weſten. Sie ſchrei⸗ 
ben auch, daß alle Maßnahmen, die getroffen würden, aͤuf baldige Kämpfe deuteten. 

Wochten fie kommen, die Kämpfe! Konrad Nordmann weiß, was er ſich 
und feinem Gotte ſchuldig iſt. Die Treue und der Glaube find die ihm anvertrau- 
ten Pfunde, womit er zu wuchern hat. Durch nichts ſollen fie ihm entriſſen werden, 
Feſt zupackend will er ſie halten mit ſeinen derben Bauernfäuſten und ſie verteidi. 
gen mit zäheſter Niederſachſenkraft. Will's, ſolange der letzte Hoffnungsſchimmer 
noch nicht durch düſtere Wetterwolken verdrängt und vernichtet iſt. Das iſt ſein 
Wille. Und er tut ihm wohl, dieſer Wille. Denn wieder bleiben die Briefe aus, 
und das Herz macht den Verſuch, ihn mit neuen Sorgen zu bedrücken. 
zus Aus dem Hauptquartier werden ſchwere Kämpfe gemeldet. Wieder ein- 
mal füllen ſich die Anzeigenſeiten der Tagesblätter mit all dem herben, bitteren 
Leid gebrochener Mutterherzen, vereinſamter Bräute, verwitweter Frauen; auch 
der Heldentod zweier junger Ortsbewohner wird bekanntgegeben. Konrad Nord- 
mann aber hört nichts von feinen Söhnen, weder Erfreuliches noch Beängftigen- 
des. Hm! Warum nur nicht? Als er eines Tages durch den Garten geht, er- 
tappt er ſich darüber, daß er gedanken und ſorgenſchwer den Kopf geſenkt hat. 
Nein! Das nicht! Er gibt ſich einen Ruck und beißt die Zähne aufeinander. 
Herriſch, als wolle er einen Jungen bei einem Bubenſtreich erwiſchen, ſtapft er 
weiter. 

Endlich trägt auch ihm der Poſtbote einen blaugrauen Brief ins Haus. 
Wie ein Stein fällt's ihm von dem Herzen. Als er aber den Brief zwiſchen den 
1 Fingern hält, verblaßt fein Geſicht, die derben Fäuſte fangen an zu zittern, und 
er hat nicht den Mut, den Brief zu öffnen. Denn weder Franz noch Wilhelm 
4 


ii 


Kohne: Roneadb Nordmann 253 


noch Ernſt hat die Aufſchrift geſchrieben, und ein Abſender iſt nicht angegeben. 
Frau und Tochter ſtehen neben ihm, zittern vor Erwartung und wiſſen zu dem 
Zögern nichts zu ſagen. 

„Hier!“ läßt ſich Konrad Nordmann mit heiſerer Stimme vernehmen und 
reicht den Brief der Tochter. Ohne nach der Anſchrift zu ſehen, reißt ſie die Hülle 
auf und lieſt. „Verwundet. Auf dem Transport. Wahrſcheinlich nach Berlin. 
Herzlichen Gruß. Wilhelm.“ 

Viele Sekunden lang ſagt niemand auch nur ein einziges Wort. Die Mit- 
teilung iſt fo kurz und karg, beängſtigend karg. Schweres läßt fie ahnen und be- 
fürchten. Ein jeder fühlt's und mag es doch nicht ſagen. 

„Zeig' — zeig’ mal her!“ unterbricht Konrad Nordmann endlich die Stille. 
Er hält den Brief in den Händen, ſtarrt die Schrift an und wirft einen ſcheuen, 
ängſtlichen Blick auf Frau und Tochter. Die Züge find fo ſtakig, die Zeilen liegen 
ſo weit auseinander, und ſie ſind ſo ſchief — ſo ſchief. Ganz als wenn ein Kind 
zum erſten Male auf einem Blatte ohne Linien ſchreibt. Was hatte das zu be- 
deuten? Niemand wagt eine Antwort zu geben, niemand getraut ſich's, eine 
Vermutung auszuſprechen. In beklemmender Vortkargheit kricchen die Tage 
ſchwer dahin. Wenn doch nur erſt eine nähere Nachricht, eine beſtimmte Adreſſe 
kame! 

Statt deren kommt ein zweiter Brief. Wieder von fremder Hand geſchrie- 
ben. Als Abſender zeichnet ein Major und Bataillonsführer. Vielleicht berichtet 
er irgend etwas über Wilhelms Verbleib und Heldentat. Vielleicht? Nein, ge- 
wiß! Eine Anerkennung ſeiner Tapferkeit oder ähnliches wird es ſein. Konrad 
Nordmann öffnet ihn ſelber, den Brief. 

„In aufrichtigem Mitgefühl muß ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen; 
aber ich mache Ihnen die Mitteilung trotz des bitteren Schmerzes, der in ihr liegt, 
mit großem Stolz! Und ich bin gewiß, daß auch Ihr Vaterherz in Stolz ſchlagen 
wird, ſobald Ihnen die erſten Stunden und eo über das, was geſchehen iſt, 
finweggeholfen haben. Ihr Sohn Franz — 

Konrad Nordmanns Lippen entfährt ein heiſeres Röcheln, und blaß wie 
ein Leinentuch ſinkt die robuſte Bauerngeſtalt ohnmächtig auf die Erde nieder. 

Zwei Tage ſpäter trifft das Eiſerne Kreuz erſter Klaſſe ein. Konrad Nord- 
mann würdigt es kaum eines Blickes. Auch den Brief des Majors hat er noch 
nicht zu Ende geleſen. Wozu das auch? Was ſoll er damit, daß Franz in größter 
Eile und Not freiwillig die Mine unter die Brücke getragen, den Übergang ge- 
ſprengt und damit das ganze Bataillon vor der Vernichtung oder der ſicheren 
Gefangennahme gerettet hat! Für ihn iſt's auch eine Phraſe, wenn da berichtet 
wird, daß Franzens Geiſt und Heldentat auf ewige Zeit in der Geſchichte des 
Regiments weiterleben werde. Franz, der gute, arbeitsfreudige und willens 
tapfere Franz, iſt dahin! Zſt mitten herausgeriſſen aus der Kulturarbeit für feine 
Mitmenſchen. Und warum das? Wozu das? Wo blieb die Ordnung, die Ge- 
rechtigkeit? Mancher Nichtsnutz und Tagedieb kam mit heiler Haut davon, ver- 
Hand es ſogar, ſich als Orückeberger in den warmen Stuben der Heimat umher⸗ 
dutreiben. Und Franz, der noch ſo vieles für feine Mitmenſchen würde geleiſtet 


24 nohne: Nontab Nochmam 


haben, ift dahin! Sahin für immer! Warum hatte man nicht einen Zuchthäusler 
und Verbrecher die Mine legen laſſen? Er hätte die Arbeit ebenſogut erledigen 
können, vielleicht ſogar mit größerer Ruhe und Kaltblütigkeit; aber das Maien⸗ 
felder Bruchland konnte er der Menſchheit nicht dienſtbar machen. Dazu wäre 
nur Franz fähig geweſen, nur er allein. Und doch hatte ihm Gott den Schutz und 
Beiſtand verſagt? Var es gerecht, die Guten vor der Zeit zu vernichten und den 
Böſen ein langes Leben zu ſchenken? Nein! Und dreimal nein! Konrad Nord- 
manns Bauernmuskeln ballten ſich, und die Adern auf feiner breiten Stirn ſchwol⸗ 
len an. Sein Ausdruck zeigt dieſelbe Entſchloſſenheit wie früher, aber es liegen 
Finſternis und Bitterkeit in ſeinen Zügen. Die Frau bittet ihn, fie auf dem Kirch⸗ 
gang zu begleiten; er räuſpert ſich und wendet ihr den Rücken zu. Und eines 
Tages, als ſie laut aus der Hauspoſtille den Abendſegen lieſt, fängt er mitten im 
Texte ſarkaſtiſch an zu lachen. 

% Endlich, nach acht oder zehn Tagen, trifft die Adreſſe von Wilhelm ein. Er 
hat ſchwere Brandwunden im Geſicht erhalten und liegt in einem Berliner 
Reſervelazarette. Ob das Sehvermögen ſeiner Augen gerettet werden könnte, 
ſtünde noch nicht feſt. 

Schon am zweiten Tage nach Eingang dieſes Briefes fährt Konrad Nord- 
mann nach Berlin. Es iſt das erſtemal, daß er die große Stadt ſieht. 

Wilhelms Stimmung iſt über Erwarten gut. Was mit ſeinen Augen wird, 
iſt noch nicht vorauszuſehen. In drei Tagen ſollen fie operiert werden. Konrad 
Nordmann entſchließt ſich, ſo lange in Berlin zu bleiben. 

Das find nun lange, lange Stunden für ihn. Am zweiten Tage ſucht et 
einen Lehrer feiner Heimatgegend auf, der in Charlottenburg im Volksſchul 
dienſte ſteht. Der hat Verſtändnis dafür, wie wenig Reiz und Unterhaltung das 
Straßenbild und das ganze Leben und Treiben einer Großſtadt einem Bauern 
der Lüneburger Heide zu bieten vermag. Er lädt ihn ein zu einer Bootsfahrt nach 
den Potsdamer Anlagen. Bis zur Wannſeeſtation fahren ſie mit der Eiſenbahn. 
Da es noch faſt eine halbe Stunde dauert, bis der Dampfer abgeht, ſpazieren 
ſie die Straße auf und ab und treten auch hinunter an jene Stelle, wo der junge 
Heinrich v. Kleiſt vor mehr als hundert Jahren den gewaltſamen Tod geſucht 
und das friedliche Grab gefunden hat. Konrad Nordmann kennt kaum den Namen 
des großen Dichters und läßt ſich gern von feinem Landsmanne über das Schick 
ſal des unglücklichen Geiſteshelden berichten. Aber mitten im Erzählen wird er 
abgelenkt. Die Inſchrift des Steines, in der von dem Fortleben des Oichters in 
feinen Werken die Rede iſt, feſſelt ihn. Auch der Hinweis auf einen entſprechen⸗ 
den neuteſtamentlichen Bibelſpruch macht ihn ſtutzig. Lange Zeit kommt er nicht 
von der Inſchrift los. Auch des Schreibens von Franzens Bataillonskommandeur 
erinnert er ſich. Franz ſollte weiterleben in der Geſchichte des Regiments. Regl- 
ment? Ha! Haha! Was ging ihn, Konrad Nordmann, das Regiment an! Was 
hatte im Grunde genommen auch Franz mit dem Regiment zu tun! Franzens 
Heimatboden und Arbeitsgebiet hätten in Maienfeld gelegen. Und dennoch: 
Konrad Nordmann kann nicht los von dem Gedanken des Weiterlebens. | 

Wilhelms Operation verläuft günftig. Nicht daß er das volle Augenlicht 


Lermontoff: Das Gebet | 255 


zurüͤckerhält; aber er kann doch hell von dunkel unterſcheiden und vermag ſich auch 
ohne Führung auf der Straße und in der heimatlichen Feldmark zurechtzufinden. 

Der Vater grübelt noch immer an Heinrich von Kleiſts Grabſchrift herum 
und verſucht es, ſie auf Franz und deſſen Taten anzuwenden. Franz hatte das 
Bataillon gerettet, hatte den Truppen das Leben und deren Angehörigen den 
Vater und Ernährer erhalten. Sie alle — und nicht nur ſie, auch deren Kinder 
und Kindeskinder — mußten ihn in dankbarer Erinnerung tragen. In ihren 
gerzen mußte Franz noch weiterleben, wenn all die vielen, die im hohen Alter 
eines natürlichen Todes geſtorben, längſt vergeſſen waren. Hm —? Ordnung 
und Gerechtigkeit? — Lag hier der Ausgleich, die Vergeltung? — Sein Herz 
wird ruhiger, und der ſchwere Groll weicht von ſeiner Stirn. 

Die Dorfbewohner ſehen es, und viele atmen erleichtert auf. Ein paar 
nachdenkliche Gemüter geben ſich damit aber nicht zufrieden. Sie laſſen heimlich 
einen Bildhauer kommen und in den maſſigen Findlingsſtein im Bruchgelände 
Franzens Namen meißeln. Durch eine knapp gefaßte Inſchrift laſſen ſie auch 
auf ſeine Heldentat und auf ſein Kultivierungswerk verweiſen. | 

Als Konrad Nordmann dieſe Inſchrift lieft, weiß er, daß Franz auch in 
der Heimat weiterleben wird, lange, vielleicht noch nach Hunderten von Fahren. 

Da geht er am nächſten Sonntag zum erſten Male wieder in die Kirche 
und am Tage darauf ſtapft er mit gradem Kücken und feſten Tritten ſeinen 
Weg hinunter. Ganz wie ehedem; nur daß ſeine Augen matter geworden ſind 
und feine Züge die alte Schärfe verloren haben. Das Wort „Entſagung“ ſteht 
auf ſeiner breiten, braunen Stirn. Es mahnt ihn, ſooft er beim Haarkämmen 
vor den Spiegel tritt, zur Nachdenklichkeit über des Lebens Sinn und Ziel. 


Das Gebet Bon Michael F. Lermontoff 


Trübt mich ein Leid, ein drückendes, 
In Stunden bang und ſchwer, 

Ein wunderbar beglüdendes 

Gebet ſag' ich dann her. 


Gewalten, ſegenkündende, 

Hat fein lebend' ger Klang, 

Und Luft, nicht zu ergründende, 
Der heilige Geſang. 


Wie eine Laft rollt nieder dann 
Der Zweifel und entweicht. N 
Zch glaub’ und weine wieder dann, 
Und leicht wird mir, fo leicht 


Heutſch von J. E. geeidenen von Geottyuk 


256 Schmitt: Von der Weltgeltung des deutſchen Films 


Von der Weltgeltung des deutſchen 
1 - Bon Peter Paul Schmitt 


n der Zeit vor dem Krieg war es nicht immer ein reines Vergnügen, 
in ein Kino zu gehen. Wir kamen im Geſchmack und Schmiß mit den 
Ausländern noch nicht ganz mit, indeſſen war das noch nicht das 
O Schlimmſte. Das Schlimmſte war, daß wir gezwungen wurden, die 
Welt, unſere Welt, mit fremden Augen zu ſehen. Wer erinnert ſich nicht noch der 
Gaumont-Woche, die auf der ganzen Welt jedes Geſchehnis gepachtet hatte und 
den harmloſen dummen Deutfchen die franzöſiſche Brille vorhielt. Wenn fo eine 
Woche zu ſchnurren anfing, dann ſchnurrte ſie zuerſt einmal zehn- oder zwölfmal 
von allem, was auf den Namen franzöſiſch hört — die ehrwürdige Weinreſtaura- 
teurstype Poincaré etwa wurde uns ſelten geſchenkt —, dann ſchnurrte fie eng- 
liſch, ruſſiſch, italieniſch und alles mögliche und erſt ganz zuletzt kamen drei oder 
vier deutſche Erlebniſſe auf die Leinwand. Zch erinnere mich noch genau, welch 
eigentümlichen Eindruck dieſe Vorführungen auf mich machten. Ich zitterte faſt, 
ob jetzt der neue Gaumont käme und ſiehe, da kam er auch und es ging wie immer 
und wir kamen wieder zuletzt, und während ich daſaß, beſchämt von ſoviel, ſagen 
wir einmal Ungerechtigkeit auf der Welt, war ich doch ſo hypnotiſiert von der Kraft 
der Überredung, die von alledem ausging, daß ich mich ordentlich geſchmeichelt 
fühlte, wenn die Deutſchen zum Schluß ihren Tritt abbekamen. Gott, was da 
ſchon groß von uns gezeigt wurde — ein Eiſenbahnunglück, ein kaputtner Zeppelin, 
ein höfiſcher Empfang, das war die ganze Propaganda, die unſere Gönner in allen 
Winkeln der Erde von uns machten reſp. die wir uns gefallen ließen. 

Es iſt ſchwer, ſich heute vorzuſtellen, daß es einmal jo etwas auf der Welt ge- 
geben hat und daß alle wie Lämmer herumgeſeſſen ſind, ſtatt den ganzen Schwindel 
zum Lande hinauszuprügeln. Und wer erinnert ſich nicht noch der Sorte von Oeutſch, 
die auf den fremden Filmen verzapft wurde? Das „Zeppelinunglück bei Ouſſeldorf“ 
hieß es einmal. Es gab mir einen Stich und ich ſah mich um, ob irgend etwas 
geſchehe. Nein, es geſchah nichts — das Publikum lachte dumm, das war alles. 
Iſt es zu glauben, daß wir uns ein Ouſſeldorf vormachen laſſen mußten, weil dieſe 
großen Herren zufällig kein ü haben und das immer noch gut genug für uns iſt? 

Das war einmal, würde der Vaterlandsfreund ſagen, inzwiſchen haben wir 
den Weltkrieg gehabt, reſp. wir haben ihn noch, und zu ſeinen guten Folgen gehört, 
daß wir mit dieſem ausländiſchen Kram aufgeräumt haben. Za, da liegt eben der 
Hund begraben. Ich lade denſelben Vaterlandsfreund ein, mit in das erſte beſte 
Kino zu kommen und ſich den neueſten amerikaniſchen Film anzuſehen, greifen 
wir nur hinein ins volle Menſchenleben, alſo den „Nilpferdkoffer“. Warum ſoll 
es nicht auch amerikaniſche Filme geben, wird der Argloſe jagen. Selbſtverſtändlich, 
zugegeben, es weiß ja bei uns ohnehin kaum jemand, daß wir mit Amerika Krieg 
haben. So eine echte amerikaniſche Detektivgeſchichte, das macht ihnen keiner nach, 
alles, was recht iſt. Alſo ſehen wir uns die Geſchichte einmal näher an, da treten 


Gamttt: Von ber Weltgeltung des beutſchen Flims | 257 


auf Herr Harry Higgs, Reginald Clark, John Harris, Jacques Tournelles, Flam- 
borough & Co., alles echt amerikaniſch bis auf den einen Franzoſen, und alle Zah- 
lungen und Erpreſſungen gehen richtig in Dollar vor ſich. Merkwürdiger iſt ſchon, 
daß die ganze Geſchichte in Paris, Calais und London ſpielt und daß alle Mitfpieler 
biedere Deutſche ſind, aber noch mehr ſtaunſt du, lieber Leſer, wenn du mit mir 
die Kolonnaden im Berliner Kleiſtpark, das Eingangsportal zum Reichstags- 
gebäude, den Tiergarten, ein Kaffee der Oöberitzer Heerſtraße und das Reftaura- 
tionsgebäude der Rennbahn Grunewald erkennſt, und daß der Schnellzug, der in 
Calais einbrauſt, am Anhalter Bahnhof mündet: Ja, da ſchauſt. | 

Aber fo ſpaßhaft iſt die Sache gar nicht. Man könnte vielleicht auf den Ge- 
danken kommen, unſere Filmmacher wären Nachkommen von jenen guten Leuten, 
die glaubten, beim Billardſpielen müſſe man franzöſiſch zählen und beim Tennis 
engliſch, wiewohl ſie von keiner dieſer beiden Sprachen einen Schimmer haben, 
aber was tut man nicht alles für den guten Ton. Nein, lieber Leſer, ſo harm- 
loſe Gemüter gibt es auf dem Filmmarkt nicht. Jedermann weiß, wie wir in 
der ganzen Welt verſchrien, verleumdet und verpeſtet ſind, kein Hund der Entente 
würde noch eine Kohlrübe von uns nehmen, geſchweige ihre Anhänger ſich einen 
deutſchen Film anſehen alſo muß der Film friſiert werden und das geſchieht 
gründlich, auch die leiſeſte Mahnung an etwas Deutſches wird ausgemerzt. Man 
begnügt ſich nicht damit, die in einem Vorort von Berlin ſpielende Handlung mit 
Paris, Calais und London zu etikettieren, auch die Uniformen, die hier umgehen, 
der Briefträger, der Schutzmann und der Liftjunge, ſie haben alle franzöſiſche 
Uniformen oder engliſche oder eine Miſchung von beiden, alles, nur nichts Deut- 
ſches. Gewiß, und um ganz ſicher zu gehen, ſteht am Rixdorfer Poſtſchalter, wo 
die Erpreſſerin ihre Briefe abholt, „Poste restante“, bloß der Beamte mit dem 
Käppi ſieht unverfälſcht deutſch aus. 

Die Franzoſen, Italiener und Dänen erfüllen den Erdball mit dem Ruhm 
ihrer erſten Schauſpieler, ihrer erfindungsreichſten Köpfe und ihrer beiten Re- 
giſſeure, und es gibt kein amerikaniſches Kinoſtück, wo nicht vorn und hinten und 
auch in der Mitte noch ein paarmal die amerikaniſche Flagge vorkommt, aber der 
Deutſche verſteckt feinen Stolz ganz und gar in feiner Taſche, aus ganz gewöhn- 
licher Angſt, dieſe Taſche nicht voll genug zu kriegen. „Business as usual“, lautet 
das Feldgeſchrei dieſer Kulturkämpfer; daß deutſcher Fleiß und deutſche Tüchtigkeit 
auch irgendwo moraliſche Eroberungen in der Welt zu vollbringen haben, das 
liegt ihnen weltenfern. Nun gibt es immer noch zwei Wege, wenn man ſeine paar 
Kilometer Film abſolut auch nach Montenegro, Rumänien und Nikaragua ver- 
kitſchen will — das gehört, wenn ich nicht ſehr irre, auch zu der bewußten bis auf 
den letzten Blutstropfen zuſammengeſchworenen Eidgenoſſenſchaft. Man kann 
ja immerhin — warum nicht, ich bin auch kein Spielverderber — für die biederen 
Neutralen etwas engliſche Schminke auflegen — es iſt nur die Frage, ob ſie nach 
Friedensſchluß noch fo wirkt wie vorher —, aber zu glauben, daß auch wir in Deutſch⸗ 
land, alſo innerhalb von Oeutſchland, wo der ganze Oreck gewachſen ift, uns dieſe 
fremde Maskerade gefallen laſſen müſſen, das iſt — nun, irgendein Wort muß 
ſich dafür doch finden, das iſt eine Hundsfstterei. 

Der Bürmer X, 18 17 


268 Bauer: Buwerfiht 


Und das liebe Publikum? Solche echten amerikaniſchen Schmarren werden 
ja jede Kriegswoche, die Gott gibt, neu verzapft. Hat das Publikum ſchon einmal 
mit Kartoffeln oder roten Rüben — faule Apfel gibt es ja auch nicht — geworfen 
oder den Humbug zuſammengeſchrien? Es denkt nicht daran. Das ſind dieſelben 
Leute — ich meine nicht die, die franzöſiſche Parfümerien mit franzöſiſchem Text 
kaufen, gewiß nicht, das tue ich auch manchmal, ſo gut wie echte Schweden mit 
ſchwediſchem Text, wenn es nur noch genug davon gäbe —, nein, ich meine die⸗ 
jenigen, die kein Auge und kein Organ für den Schimpf haben, der ihnen angetan 
wird, wenn ſie ſich eine gute deutſche Arbeit als den Ruhm von Frankreich oder 
den Stern von Amerika aufſchwätzen laſſen. Dieſe Leute haben nicht verdient, daß 
ſie den Krieg gewinnen — vielleicht gewinnen ſie ihn auch nicht — ſie ſind noch 
nicht reif dazu. 

Vierzehn Tage vor Ausbruch des Krieges ſchrieb der „Daily Graphic“: 
„Was in Berlin nicht engliſch iſt, das iſt franzöſiſch. Dieſer Mangel an Achtung 
für die eigene Kultur iſt das Haupthindernis für die Verbreitung des deutſchen 
Einfluſſes.“ So denkt der ſtolze, ſich ſeines Wertes bewußte Engländer über uns. 
Dieſe Peſt ſteckt uns fo tief im Blut, das iſt mit einem einzigen Weltkrieg gar nicht 
herauszukriegen. Aber, und das prophezeie ich hiermit, mit dem nächſten ganz 
ſicher. . | 

n 
ERS 8 SENT 


— "arm 


Zuverſicht Bon Hans Bauer (Champagne) 


Wir ſind nicht mehr ſo feuerdurchweht, 
Nicht mehr die glühenden Flammenberger, 
Aber wir fühlen nun feſter und ſtärker: 
Oeutſchland beſteht. 


Ja, es fehlt ihm wohl dies und das: 
Hier ein Großes und da ein Kleines, 
Aber wir wiſſen von ihm nun eines: 
Es iſt Verlaß. 


Rennten ſie alle auch wider uns an, 
Wäre das Würgen noch wilder und toller: 
Wir ſind beſtärkter und zuverſichtsvoller 
Als irgendwann. 


Za, wir wiſſen, ein glüdhaftes Los 

Schmiebet ſich Heutſchland im Funkengeſtlebe, 

Denn wir haben zu ihm eine Liebe, 

Die iſt gut und grob. z 


— 


1 


Muller: Bas Einfährige flirt 259 


Das Einjährige ſtirbt 
Von Fritz Müller 


Die württembergifhe Zweite Rammer nahm einen Antrag auf 
Abſchaffung des Einjährig-Freiwilligen-Privilegs einſtimmig an. 


N Nas iſt in dieſem Krieg nicht alles ſchon geſtorben, draußen und 
d 2 8 drinnen! Wieder zimmern fie im Innern einen Sarg, einen 

S Di länglichen. „Hört mal, Zimmerleute, wie lang der Sarg?“ — 
ein Zahr lang, Herr.“ — „Und wer iſt geſtorben?“ — „Das Ein- 
5 negt im Sterben, gleich werden ſie im Parlament das Sterbeglöckchen 
läuten.“ Ich ziehe den Hut. Ich habe den Sterbenden gekannt. Erſt als ſein Be- 
dienter, ſpäter als ſein Herr. 

Als fein Bedienter: Zehn Jahre hab' ich ihm gedient, von der erſten Volks- 
ſchulklaſſe aufwärts. Faſt ſorgenlos die erſten Jahre im weiten Abſtand. Dann 
ſchwitzend über Buch und Heften: „Heinrich IV. regierte von — bis ... Das Atom- 
gewicht des Schwefels beträgt — ... a Quadrat plus b Quadrat gleich o Quadrat. 
Das Archimediſche Prinzip des Auftriebs lautet — ... Die Schillerſchen Oramen, 
chronologiſch geordnet, find — ... Die Kraniche des Ibykus a Einleitung, b Aus- 
führung, erſtens, zweitens, drittens, Alpha, Beta, Gamma... Dann erſchauernd 
vor den Prüfungsbrillen des St. Einjährigen ſelber: „Um Gottes willen, er wird 
mich doch nicht durchfallen laſſen; heiliger Spickzettel, bitt“ für uns.“ 

Als ſein Herrſcher, ſelbſt mit einer gefühlloſen Lehrerbrille in einem Ein- 
jährigeninſtitute ausgeſtattet, ſchmählich, hartherzig vergeſſend eigener Examens 
note: „Niedermeier, wenn du dem Pythagoras nicht mehr Verſtändnis entgegen- 
bringſt ... Bernheim, wenn du nicht einmal a hoch drei minus b hoch drei zerlegen 
kannſt ... Frielinghaus, wenn dir die dritte Wurzel nicht im Schlaf geläufig iſt ..“ 
Nur der Wenn-Bedingungsſatz wechſelte, der So-Hauptſatz dahinter blieb un- 
abänderlich der gleiche: „— ſo wirſt du mit Glanz durch das Einjährige fallen, 
mein Lieber.“ In ſtarken Fällen war die Beugung ins Dramatiſche verſtattet: 
„Wie, Schragenmaier, dein Einjähriges willſt du machen, und weißt nicht mal die 
Inhaltsformel für den abgeſtumpften Kegel!“ Während ich in verzweifelten Fällen 
elegiſch flöten durfte: „Laß es gut ſein, Faltenmüller: Eher geht ein Kamel durch 
das bekannte Nadelöhr, als einer, der das doppelte Produkt bei der Quadrierung 
eines Aggregats vergißt, durch das Einjährige ..“ 

Nun, der Faltenmüller hat es damals nicht gut ſein laſſen. Glatt iſt er durch 
das Einjährige durchgeſtiegen, trotzdem er bei dem Prüfenden der Regierungs- 
kommiſſion abermals das doppelte Produkt vergaß. „Er macht ſonſt einen tüch⸗ 
tigen Eindruck,“ ſagte der Regierungsgewaltige bei der Prüfungsberatung, „laſſen 
wir ihn durch, den Faltenmüller.“ Zch hab' es nicht begriffen, damals. Wie konnte 
ein Menſch ohne doppeltes Produkt bei der Quadrierung eines Quadrats ſeinen 
Mann im Leben ſtellen? Wie konnte ein doppeltproduktenloſer Kerl vor dem 
Feind im Ernſtfall überhaupt beſtehen? | 


„ 


260 Muller: Das Einjädrige Medi 


Heute, wo ich meine Prüfungsbrille längſt im Kaſten liegen habe, weiß ich's 
freilich beſſer. Heute leſe ich ohne Kopfſchütteln in der Zeitung, daß der Falten⸗ 
müller wegen hervorragender Tapferkeit vor dem Feinde mit dem erſten Kreuz 
geziert iſt. Und dabei hat die Zeitung nicht einmal erwähnt, daß der Faltenmüller 
eigentlich Einjähriger iſt, geſchweige denn, daß er hinter dem Examen noch volle 
zwanzig Jahre produktenlos und doch heil und aufrecht durch des Lebens Aggre⸗ 
gate lief. | 
Heil dir, Faltenmüller! Heute habe ich Reſpekt vor dir. Heute will ich dir 
geſtehen, daß ich dich in meiner Lehrerzeit unter meinem Fenſter einmal ſagen 
hörte: „Und weißt du, Lippel, auch wenn ich durchfall“: Ich pfeif' auf das ganze 
Einjährige!“ Einer, der zur Glanzzeit des Einjährigen auf es pfeifen hätte können! 
— Faltenmüller, für deinen alten Lehrer iſt deine erſtkreuzige Tapferkeit vor dem 
Feinde keine Überraſchung. 

Dein alter Lehrer hat auch ſonſt im Weltkrieg mancherlei gelernt. Erinnert 
hat er ſich an vieles, was er damals an der Einjährigenherrlichkeit bockbeinig über- 
ſehen hatte: Leute ſind ihm im Krieg begegnet, die das Einjährige nicht hatten — 
ganz nette Leute, Faltenmüller — nein, nicht nett nur, prächtig waren ſie. Erinnert 
hat er ſich an zentnerweiſen eignen Lernballaſt, den er nutzlos ſchwitzend durch 
ſein Leben ſchleppte, — ja, wenn er allein damit geſchwitzt, wenn er nicht auch 
hundert andre damit ſchwitzen hätte machen! Erinnert hat er ſich an hundert arme 
Zungen, die von Eltern, einjährigenblöder noch als er, unbarmherzig durch das Ein- 
jährigenjoch gepeitſcht wurden. Deren Jugend man mit Einjährigenvorbereitungs- 
foltern zerquälte. Deren goldne Mittwoch- und Samstagnachmittage man von 
einem Heer bezahlter Nachhilfslehrer mitleidslos zertrampeln ließ: „Nicht wahr, 
Herr Doktor, Sie fördern meinen Jungen durchs Examen, koſt' es, was es wolle?“ 
O, es hat viel gekoſtet! Nicht nur Mark und Pfennig. Tränen, Flüche, auf Lebens- 
zeit zerhackte Nerven: „Nur acht Tage, wenn er es noch aushält, Doktor — ſtellen 
Sie ihn täglich zweimal unter die kalte Brauſe, laſſen Sie ihn für die letzte Repetition 
von einem weiteren Inſtruktor behandeln — tun Sie, was Sie können — und 
bedenken Sie: die Schande für die Familie, wenn er nicht einmal das Einjährige. 

„Nicht einmal das Einjährige!“ Drohend ſtand das Schreckwort über taufen- 
den „beſſerer“ Familien und quirlte einen Hexenſabbat auf von Martern und 
zerblätterten Blüten. 

Faltenmüller, Faltenmüller, daß dir's dein alter Lehrer nur bekennt: Wenn 
ſie morgen die Sterbeglocke des Einjährigen läuten, wenn ſie es übermorgen 


feierlich begraben — mitgehn will ich ſchon bei dem Begräbnis, meinetwegen 


achtungsvoll mit dem Zylinder — mehr noch: die üblichen Grablobreden will ich 
anhören, ohne eine Miene zu verziehen — aber eines, Faltenmüller, wird dein 
alter Lehrer nicht tun: Tränen weint er ihm nicht eine nach, dem Einjährigen, 
Gott hab' es ſelig 


Srotthuß: Die Nacht 


251 


Die Nacht Von 8. E. Freiherrn von Grotthuß 


Über den Bergen hingegoſſen, 
Ruht eine königliche Geſtalt: 
Die Nacht. 
Auf ihrem Haupte 

Funkelt die Sternenkrone; 
In ihrer Hand 

Schimmert ein Lilienzepter, 
Aus bleichen Mondes 
Strahlen gewoben; 

Zn ihrem Gewande buhlen 
Weiche, koſende Lüfte. 


Aber ſie weint. 


Sie weint und ſeufzt: 

„Allewiger, warum gabſt du mir 
Die dunkele Pracht 

And dieſe funkelnde Krone 

Und dies ſchimmernde Zepter? 

Und nahmſt mir alles: 

Meine Kinder! 

Hab’ ich fie nicht mit Schmerzen geboren, 
Meine kraftvollen Söhne, 

Die ragenden Bäume, 

Und meine lieblichen Töchter, 

Die ſüßen Blumen? 

Sind ſie nicht alle, alle 

Aus meinem Schoße emporgeſtiegen: 
Die weichen, begrünten Täler, 

Die ſtolzen, ſchneegekrönten Berge, 
Die klaren Seen? 

And alles, Herr, 

Wofür die Menfchen, 

Meine verlorenen Rinder, 

Dir täglich danken? 

Und ich darf ſie nicht ſehen, 

Wenn ſie offenen Auges 

In ſtrahlender Fülle 

Sich freuen des Oaſeins, 

Das ich ihnen ſchenkte! 

Und ſie vergeſſen der Mutter 

Und wollen mich nicht kennen 

Und verachten mich! — 

Nur im Traum darf ich ſie beſuchen 
Und muß mich von hinnen ſtehlen 
Wie eine Diebin vor deinem Morgen, 
Und ſie ſind doch meine Kinder! 


„Aber ich weiß: 
Einſtmals, 
Wenn ſie müde und elend, 


Getäuſcht von dem falſchen 

Glanze des Tages, 

Nach Ruhe und Frieden ſich ſehnen, 
Dann kehren ſie wieder 

An meinen Buſen zurück, 

And ich wiege fie ewig 

In meinen Armen, 

Sch, ihre verachtete 

Mutter, die Nacht.“ 


Und die Königin ſeufzt. 

Und im Hauch ihres Seufzers 
Erſchauert der See 

Und pocht mit träumender 
Welle ans Ufer. 

Und eratmend wiegt 

Der Wald ſeine Wipfel 

Und flüſtert im Traum. 


Und die Königin weint, 

Und weinend küßt ſie 

Zum Abſchied die ſchlafenden Blumen, 
Und ihre Tränen fallen 

Mit heimlichem Klingen 

Auf die blühenden Wangen 

Ihrer lieblichen Töchter, 

Der fügen Blumen. 


Und fie ſchwindet auf leifen 
Sohlen von dannen. — 


Im Purpur prangend 

Erſcheint der Tag, 

Der junge König. 

Und eiferſüchtig 

Will er ſchnell 

Die Tränen verwiſchen 

Der verbannten Mutter, 

Der Nacht. 

Aber den erwachenden Blumen 

Iſt's jo felig-jüß, 

So heimlich-ſehnſuchtsvoll 

Und ſo wunderſam 

Ums Herz. träumen! 
Ach, noch länger möchten ſie ſchlafen und 
Sie ahnen: | 

Ihre Mutter war bei ihnen im Traum 
Und hat über ihnen geweint 

Und hat ſie geküßt, — 

Ihre Mutter und wifre: 

Die Nacht. 


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Großfürſt. Nikolai Nikolajewitſch 


7 an Zdulber in der Krim befindet ſich Großfürft Nikolai Nikolajewitſch mit der 
Raiferin-Mutter von Rußland nebſt einigen weniger beträchtlichen großfürftlichen 


Staatsgefangene wurden fie dort bis zum Eintreffen der deutſchen Truppen von bolſche⸗ 
wiſtiſchen Matroſen in Gewahrſam gehalten. 

Nikolai Nikolajewitſch unſer Gefangener — und alles bleibt ſtill! Wie ſtumpf iſt unfer 
Volk im Laufe des Krieges doch geworden! ſeufzt die „Deutſche Zeitung“. „Oaß wir auf 
dieſe Weiſe die Perſon Maria Feodorownas [die däniſche Prinzeſſin Dagmar] in die Hand be- 
kommen haben, iſt natürlich nicht unwichtig. Die Dänin war von jeher eine unſerer gefährlich⸗ 
ſten Gegnerinnen am Zarenhofe. Sie war eines der eifrigſten Mitglieder der internatlonalen 
Fürſtenverſchwörung gegen den deutſchen Kaiſer, die alljährlich in Kopenhagen, der Zentrale 
aller dieſer Treibereien, an ihrem väterlichen Hofe tagte. Auf der Witwe Alexanders III., 
auf ihren Schweſtern, auf ihrer verſtorbenen Mutter, der „Großmutter Europas“, ruht ein 
gut Teil der Blutſchuld dieſes Krieges. Durch eine merkwürdige Laune des Schickſals war ſie, 
wenn wir nicht irren, auf der Durchreiſe von Kopenhagen nach Petersburg, 1914, gerade 
am Tage der Mobilmachung, in Berlin. Sie mußte ihre Fahrt unterbrechen und nach Oaͤne⸗ 
mark zurückkehren, von wo fie dann zu Schiff oder über Schweden nach Petersburg gelangt 
iſt. Der Verkehr über Eydtkuhnen war ſelbſtverſtändlich vom Augenblick des Erſcheinens des 
Mobilmachungsbefehls an geſperrt. Die Kriegsnachrichten, die Ausſicht auf Rückbeförderung 
in geſchloſſenem Salonwagen bei verhangenen Fenſtern, ihre Stellung unter ſelbſtverſtändlich 
in die ſchonendſten Formen gekleidete Aberwachung gaben der ſehr reizbaren Dame Veranlaſ⸗- 
fung, ihrem Herzen über die Deutſchen im allgemeinen, den ihr beigegebenen ‚Ehrendienft‘ 
im beſonderen, ganz beſonders aber über den Kaiſer in äußerſt draſtiſcher Weiſe 
Luft zu machen. Ihre kaiſerliche Würde kam ihr dabei ſo gut wie vollſtändig abhanden. Ob 
ſie auch dem ſie bewachenden Matroſenkommando von der Flotte des Schwarzen Meeres 
gegenüber während der neueren Beſchränkungen ihrer Bewegungsfreiheit ſich ungeſtraft fo 
deutlich ausſprechen durfte, wie damals in Berlin, mag dahingeſtellt bleiben. Wahrſcheinlich 
hat ſie diesmal die Pickelhauben mit anderen Empfindungen vor ſich erſcheinen ſehen, als an 
jenem 1. Auguſt in Berlin. Kamen fie ihr doch als Retter aus ſtändiger Lebensgefahr! Viel- 
leicht hat ſie auch ſeither über manches anders denken gelernt, als bis zur Thronentſagung ihres 
ſtumpfen Sohnes und bis zum Sturz der Romanoffs. Aber auf dieſes „Vielleicht“ können und 
werden wir uns hoffentlich nicht einlaſſen. Es handelt ſich um eine gefährliche Frau, die 
immerhin noch Unheil ſtiften kann und im Keichsintereſſe demgemäß zu behandeln 


Grohfürt Nitole} Tutelafewitſch 205 


iſt. Die Rüdfihtnahme auf den däniſchen Hof kann und darf daran nichts ändern. Für uns 
it fie Ruſſin und das Mitglied eines ſouveränen Hauſes, das ſeinerſeits noch nicht dazu ge- 
kommen iſt, feinen Frieden mit uns zu ſchließen. Daß die Regierung der Lenin und Trotzki 
ſie ſtaatsrechtlich vertritt, werden die Gefangenen von Yalta ſelbſt ſchwerlich behaupten. Tun 
fie’s, fo ſoll man fie über die ruſſiſche Grenze abſchieben. Sie alle, bis auf einen. Bis auf 
Nikolai Nikolajewitſch nämlich. 

Nikolai Nikolajewitſch in unſerer Hand! And alles bleibt ſtill! Kaum iſt's, als hätte ſich 
irgend etwas ereignet! So ſehr hat die Fülle des Aufregenden, das der Krieg uns gebracht 
hat, die Aufnahmefähigkeit der Offentlichkeit auch für das bedeutſamſte Neue gemindert, 
wenn es nicht gerade von dem Punkte kommt, auf den ſich im Augenblick die allgemeine Auf- 
merkſamkeit richtet! Was die Nachricht bedeutet, wird einem fofort klar, wenn man ſich vor- 
ſtellt, daß ſie etwa in den Tagen von Tannenberg, Lodz, Gorlice oder als Mackenſen die Ruſſen 
in Südrußland jagte, gekommen wäre! 

Es ift richtig, — damals wäre es eine Nachricht von unmittelbarem und größtem Ein- 
fluß auf Operationen, die noch in vollem Gange waren, geweſen. Heute iſt das nicht mehr der 
Fall, und doch iſt fie nach wie vor hochbedeutſam. Rein militäriſch, und was einſtweilen noch 
vollſtändig überſehen zu werden ſcheint, auch politiſch. Rein militäriſch zunächſt. Nikolai 
Alkolajewitſch iſt einer der ſtärkſten Feldherren, die in dieſem Kriege eine Rolle gefpielt haben. 
Vielleicht der ſtärkſte auf der Seite unſerer Gegner... Wohl durchweg iſt es diesſeits als eine 
gewaltige Dummheit eingeſchätzt worden, die der Zar beging, als er ihn damals von der Weft- 
grenze nach dem Kaukaſus abberief. Nein! er hat unſerer Kriegführung das Leben in der 
Tat ehrlich ſauer gemacht. Und daß er nunmehr fürs erſte unſeren Gegnern unter keinen 
- Umftänden mehr zur Verfügung ſtehen wird, iſt bei der politiſch ſchließlich doch noch immer 
reichlich ungeklärten Lage im Oſten militäriſch immerhin von großem Wert. 

Zur militäriſchen Bedeutung kommt die politiſche ſeiner Gefangennahme. Er iſt 
der willensſtärkſte, tatkräftigſte und geſcheiteſte der lebenden Romanoffs. Derjenige Groß- 
fürft, der am eheſten das Zeug hätte, den Torſo des heiligen Rußland zariſtiſch 
zu organiſieren, wenn je wieder die Möglichkeit dazu auftauchen ſollte. Ein Mann von 
ſtarkem Anhang. Ein Thronprätendent, wie er im Buche ſteht. Die Perſon eines ſolchen, 
eines Mannes, mit dem man verhandeln kann, in der Hand zu haben, hat immer ſeinen Wert. 
Mehr über dieſen Punkt zu fagen, iſt überflüſſig. Bei ihm handelt ſich's noch obendrein eben- 
falls um die Perſon eines Deutſchenfreſſers erſten Ranges. 

Echt deutſch werfen verſchiedene Blätter die Frage auf, ob wir eigentlich ein Recht 
hätten, die Befreiten von Yalta als Gefangene zu behandeln. Sie iſt lächerlich! Übrigens, 
wenn man beſondere Rechtsgrüͤnde brauchte, was aber gar nicht der Fall iſt — was den Groß- 
fürſten Nikolai Nikolajewitſch anlangt, wäre man wahrhaftig am allerwenigſten in Verlegen 
heit. Das nachſtehende Schreiben eines Mannes, der die Vorgänge bei Ausbruch und während 
des Krieges auf ruſſiſcher Seite aus nächſter Nähe geſehen hat, enthält das Nötige. Es lautet: 

„Soeben leſe ich, daß unſere Truppen den früheren ruſſiſchen Großfürſten Nikolai Nito- 
lafewitſch in der Krim vorgefunden haben. Nikolai Nikolajewitſch iſt es geweſen, der, wie 
feſtſteht, deutſche Reichsangehörige in die Gefängniſſe ſtecken ließ, in Ketten zu legen 
befahl und aucheichtfertig gefällte Todesurteile beſtätigte. Die ganze Deutjchen- 
hetze in Rußland, bald nach dem Ausbruch des Krieges, ift fein Werk, um gegen Oeutſch- 
land Stimmung zu machen. Durch ſeine Verfügungen wurde der deutſche Beſitz vogelfrei, 
wurden wehrloſe Bewohner Oſtpreußens nach Sibirien geſchafft, wo viele Hunderte 
umgekommen find. Auf ihn, den Höchſtkommandierenden, ift es zurückzuführen, daß man 
die deutſchen Frauen, Männer und Kinder (Zivilgefangene) überall aus dem 
europàiſchen Rußland nach Sibirien verſchleppte, wo viele elend verkommen ſind. 
Samals hatte der deutſche Reichskanzler als Vertreter der Regierung im Reichstag erklärt, 


264 Wilſon und das beuiſche Anſehen 


daß man für das, was man deutſchen Reichs angehörigen an Gut und Gefundheit 
an Schaden zufüge, daß man auch für Beleidigungen und ſchlechte Behandlung Rechenſchaft 
fordern würde. Sind das leere Worte geweſen, oder wird das jetzt geſchehen? 
Wird man den Großfürſten vor Gericht ſtellen? Nicht um Rache zu nehmen, ſondern um 
den Ruſſen zu beweiſen, daß man einen Deutſchen nicht ungeftraft beleidigen kann! Es 
wäre dringend wünſchenswert!“ | 

So liegt die Sache — für den Notfall! Die Erinnerung an die damalige Erklärung 
des deutſchen Reichskanzlers iſt, ganz abgeſehen vom vorliegenden Zuſammenhange, unter 
allen Umftänden dankenswert. Es iſt im Augenblick noch nicht bekannt, wie der Kaiſer über 
den künftigen Aufenthalt des Großfürſten verfügt hat. Wilhelmshöhe als Unterkunft für einen 
fürſtlichen Gefangenen läge ja in der Erinnerung an 1870 nahe. Geſchähe aber damit dem 
Andenken Napoleons III. ſchließlich doch Anrecht. Er war an ſich ein anſtändiger Gegner. 
Und das war der Großfürſt, bei all feinen hervorragenden militäriſchen Eigenſchaften, denn 
doch nicht!“ 

Unſühnbare Blutſchuld laſtet auf dieſem großfürſtlichen ungeheuer! Dennoch hat es 
. bisher nicht den Anſchein, daß den Reichsintereſſen in der Weiſe entſprochen werben wird, 
wie es der Verfaſſer der dankenswerten Mahnung erwarten zu dürfen glaubt. 


2 ö 
Wilſon und das deutſche Anſehen 
Ii, e 


9 Wei der Nachwahl für den Senatsſitz des Neuporker Bezirks Madion ſuchte Prä⸗ 
223 ſident Wilſon die zweifelhaften Ausſichten des demokratiſchen Kandidaten Davis 
28 dadurch zu verbeſſern, daß er in einem der Offentlichkeit anvertrauten Briefe 
deſſen „echt amerikaniſche Haltung“ ſeit Kriegsausbruch hervorhob und den Gegenſatz zu dem 
republikaniſchen Kandidaten Lenroot betonte, der bei den drei entſcheidenden Abſtimmungen 
im Kongreß vor dem Eintritt Amerikas in den Krieg ſich „höchſt unamerikaniſch“ verhalten 
und „geradezu im deutſchen Sinne“ gewirkt habe. Das Ergebnis der Vahl war für Wilſon 
eine bittere Enttäuſchung. Senator Lenroot ſiegte mit 164000 gegen 148000 Stimmen über 
Davis. Daß der Unterſchied nicht erheblich größer ausfiel, lag daran, daß der Sozialiſt Victor 
Berger wider alles Erwarten 110000 Stimmen erhielt, trotzdem wegen feines Verhaltens 
im Kriege ein Hochverrats verfahren gegen ihn ſchwebt, und trotzdem er im Wahlkampfe for- 
derte, daß Amerika mit Oeutſchland ſofort Frieden ſchließen und ſeine Truppen unverzüglich 
vollftändig aus Frankreich zurückziehen folle. 

Es ergeht den angelſächſiſchen Weltlenkern mit der Brandmarkung aller Oeutſchen und 
deutſchfreundlich Gefinnten als „Hunnen“ und Hochverräter wie ſeinerzeit bei der „Made : in- 
Germany“ - Bewegung mit der Brandmarkung deutſcher Waren. Nachdem man damals den 
deutſchen Wettbewerb genugſam als „German blight“, deutſche Krätze, als „Bazillus deutſcher 
Geſchäftsunehrlichkeit“ uſw. verleumdet hatte, glaubte man ihn dadurch wirkſam bekämpfen 
zu können, daß man durch die Marchandise Marks Act vom 23. Auguſt 187 bei Strafe der 
Konfiskation vorſchrieb, daß alle aus Deutſchland eingeführten Waren die Urfprungsbezeid- 
nung „made in Germany“ tragen müßten. Die Wirkung war bekanntlich, daß man nun eiſt 
merkte, woher fo viele gute, gediegene Waren kamen, die auf dem engliſchen Markte erſchie 
nen und, ſoweit ſie im eigenen Lande keine Abnehmer fanden, durch engliſche Kaufleute nach 
allen Weltgegenden wieder ausgeführt wurden. Im Grunde bedeutet dieſer Krieg für die 
Engländer und ihre „Vettern“ nur eine Fortſetzung des Rampfes gegen den deutſchen Wett- 
bewerb. Man möchte Oeutſchland überhaupt zerſchmettern; für ben Fall, daß das nicht ge“ 


Feth inaud Hobler 265 


lingen ſollte, verleumdet man uns in aller Welt als Barbaren, „Hunnen“, Feinde der Menſch⸗ 
heit. Man teöftet ſich mit der freundlichen Zuverſicht: „Germany will be anyhow the most 
hatredd nation after the war.“ Das erwähnte amerikaniſche Wahlergebnis beweiſt, daß die 
Werbekraft der deutſchen Waffentaten ſich in breiten Kreiſen des Volkes der Vereinigten Staa- 
ten ſchon als viel ſtärker erwieſen hat als die Verleumdungen der Staatsmänner angelſächſi- 
ſcher Herkunft und Geſinnung. Der große Krieg, der auf unfer geiſtiges Auge wie eine Star- 
operation wirkte, hat uns auch von mancher irrtümlichen Auffaſſung, die wir im Frieden von 
dem Amerikanertum gewonnen hatten, befreit. Wir erkennen jetzt, daß der „Schmelztiegel“ 
weniger gute Arbeit geleiſtet hatte, als es uns ſchien. Das Angelſachſentum iſt in den Vereinig⸗ 
ten Staaten durch die Einwanderung längft zu einer Minderheit geworden, aber es iſt die herr- 
ſchende, trotz allem Demokratismus ziemlich abgeſondert lebende Kaſte geblieben. In den 
maßgebenden Stellungen im öffentlichen Leben Amerikas findet man faſt nur Leute angel 
ſächſiſcher Herkunft. Das trifft z. B. gegenwärtig zu für den Präſidenten und Vizepräſidenten 
der Union und für ſämtliche Mitglieder des Kabinetts. Angelſächſiſcher Abſtammung find 
ferner 7 von 9 Mitgliedern des Oberſten Gerichtshofes, 83 von 96 Mitgliedern des Senats, 
je 3 von 4 Mitgliedern des Abgeordnetenhauſes, 526 von 385 höheren Beamten der Regie- 
rungen der Einzelſtaaten, 242 von 277 Oberrichtern und Richtern der oberſten Gerichtshöfe 
der Einzelſtaaten, 29 von 32 Generälen des amerikaniſchen Heeres vor Beginn des Kriegs“ 
zuſtandes mit Oeutſchland. Dieſe überwiegend angelſächſiſche Abſtammung des Führertume 
im Volke der Vereinigten Staaten erklärt zur Genüge die deutſchfeindliche Haltung Amerikas 
während des Krieges. Sie beweiſt aber auch, daß die Union ein ganz anderes politiſches Ge- 
ſicht erhalten wird, wenn die Maſſen der Bevölkerung anderer als angelſächſiſche Herkunf: 
durch den Weltkrieg zum Bewußtſein ihrer Kraft und Macht aufgerüttelt werden ſollten. 


Otto Corbach 
AD | 


* * 


N war er 65 Jahre alt as (geb. 14. März 1853 zu Surzelen | im Kanton Bern). 
Vir kämpfen nicht gegen Tote, aber es wäre nicht nur heuchleriſch, ſondern auch 
ungerecht gegen die Allgemeinheit, am Grabe ſo zu tun, als ob nichts geſchehen wäre. Hodler 
hat jenen aus entartetem Haß entſprungenen Genfer Proteſt gegen uns Oeutſche unterſchrie⸗ 
ben, der dazu beſtimmt war, Haß und Verachtung der Welt, ſoweit ſie damals noch nicht in 
den Krieg hineingezogen war, gegen uns zu lenken. Wer, wie ich, noch kurz vor Kriegsausbruch 
in Genf geweilt hat, kennt die mildernden Umſtände, die für einzelne der Unterſchreiber gel- 
tend gemacht werden können. Wir wollen unfererjeitd dem Phariſäertum nicht verfallen 
und die Macht ſolcher Maſſenpſychoſen ruhig anerkennen. 

Das ändert nichts an der Tatſache, daß ein Mann wie Hodler nicht nur durch feine welt- 
kluge und klar rechnende Art, ſondern auch durch feine Lebenserfahrungen gegen eine ſolche 
ſeeliſche Überrumpelung gewappnet fein mußte. Dieſe Lebens erfahrungen hatten ihm Oeutſch⸗ 
land als beſtes Wirkungs- und oſatzgebiet feiner Kunſt gezeigt. Er hatte auch nie Widerſpruch 
dagegen erhoben, wenn er von einem großen Teil der deutſchen Kunſtkritit als Verkünder 
und Prophet germaniſcher Kunſtart gefeiert worden war. Er hatte in Jena und Hannover 
große Wandgemälde ausgeführt, die die urdeutſchen Erlebniſſe der Reformation und der 
Freiheits kriege verherrlichen follten. Wenn er ſich trotzdem bei dieſer erſten Gelegenheit einer 
jo wüſten Beleidigung dieſes deutſchen Volkes, in dem Augenblick, als es um fein Beſtehen 
rang, teilhaftig machte, ſo muß da irgendwie etwas nicht ſtimmen. Wir ſind ja ſo beſcheiden, 


266 Ferdinand Hodder 


wir hätten kein mannhaftes Eintreten für uns gegen die haſſende Meute verlangt; aber wenig 
ſtens ein Nichtſchimpfen, ein Schweigen war geboten. Wo es nicht einmal dafür reichte, muß 
es um bas Menſchliche ſchwach ſtehen. Entweder war ſchon zuvor in Hodler die Abneigung 
gegen uns Oeutſche vorhanden, dann durfte er die oben genannten Aufträge nicht ausführen, 
weil ihm dann ja das innere Verhältnis zu den Aufgaben fehlte; oder er hat ſich aus irgend⸗ 
welchen rechneriſchen Erwägungen auf die andere Seite geſchlagen und damit fein früheres 
Empfinden verleugnet. | | 

Ich kenne die Phraſe zur Genüge, daß wir uns beim Künſtler an feine Werke halten 
ſollen, der Menſch gehe uns nichts an. Abgeſehen davon, daß das nicht möglich iſt, wenn 
wir mit dieſem Menſchen zu tun gehabt haben, iſt die Forderung auch eine bequeme 
Phraſe, nur dazu beſtimmt, einem über bie Schwierigkeit hinwegzuhelfen, ſcheinbare Miber- 
ſprüche zwiſchen Menſch und Künſtler zu überbrücken. Iſt es doch nur natürlich, daß dieſe 
beiden ſich wechſelſeitig bedingen, daß ſie in jedem Falle eine Einheit bilden. Wenn dieſe 
nicht harmoniſch iſt, wenn ſich Diſſonanzen nicht auflöfen laſſen, fo muß eben die Oiſſo⸗ 
nanz als Tatſache hingenommen werden; fie hat dann tiefere Gründe, deren Anter⸗ 


ſuchung ſicher auch Aufſchlüſſe über das Weſen der Kunſt eines ſolchen Menſchen bringt. 


Ich bin überzeugt, das iſt auch bei Hodler der Fall. Auch feiner Kunſt fehlt die letzte 
Harmonie, die höchſte ſeeliſche Jurchbilbung, ihr fehlt die letzte geiſtige Aberzeugungskraft, 
wie fie nur die Liebe gibt; es bleibt ein Reſt des Rechneriſchen, des willkürlich Gewollten 
und nicht Gewußten. 

Dafür mag die tiefſte Urſache in einer nicht ganz geglückten Miſchung der verfchiebe- 
nen Bildungseinflüſſe von Raſſe, Volkstum und Erziehung liegen. In den Nachrufen unſerer 
Zeitungen wird noch ſtärker, als in den früheren Abhandlungen, Hodler als urgermanlſcher 
Künſtler hingeſtellt. Es iſt nicht ohne Humor, zahlreiche jener Kunſtſchriftſteller fo ſtark das 
Raffige betonen zu ſehen, die recht empört zu fein pflegen, wenn man es als Erklärung für 
Kunſterſcheinungen auf dem Raſſengebiete anwendet, dem fie felbft angehören. Mit dem 
Germanentum darf man offenbar arbeiten, mit dem Semitentum nicht. Der Fall wird er- 
götzlich, wenn die Herrschaften ſich nun hinſtellen und mit erhobenem Finger die Oeutſchvölki⸗ 
ſchen zurechtweiſen, „daß deutſch und germaniſch nicht dasſelbe iſt“ (Fritz Stahl, geb. Lilien 


thal, im „Berliner Tageblatt“). In dieſem Zuſammenhange nennt Stahl als die drei ger- 


maniſchen Maler und Bahnbrecher der neuen, dem zugeſpitzten Realismus entgegengeſetzten 
Kunſt: den Holländer van Gogh, den Norweger Munch und den Schweizer Hodler. Es iſt 
nun in der Tat eigentümlich, daß wir Deutſchen jedem dieſer drei Künſtler gegenüber Wiber- 
ſtände zu überwinden haben, die ſicher nicht bloß im Außeren liegen. Jedenfalls find alle drei 
Beiſpiele dafür, daß mit dem Rafjenbegriff allein, mag man ihn noch fo hoch einſchätzen, nicht 
zu arbeiten iſt. Er iſt eben eine, vielleicht die urſprünglichſte, aber doch immerhin nur eine 
der das Weſen des Menſchen beſtimmenden Kräfte. 

Auf die beiden erſtgenannten Künſtler können wir hier nicht eingehen, bei Hodler aber 
liegt auch die Raſſenfrage nicht fo einfach. Wer, wie ich ſelbſt, ſchweizeriſches Alemannenblut 
in den Adern und immer wieder nicht bloß als flüchtiger Reiſender in der Schweiz gelebt 
hat, wird niemals die Raffengleihheit von Deutſch- und Welſchſchweizer zugeben. Gewiß 
find die Welſchſchweizer auch keine Franzoſen und beruht ihre Verſchiedenheit von bieſen nicht 
nur auf ihrem Verflochtenſein mit der ſchweizeriſchen Geſchichte. Aber jedenfalls ſind die 
Jura ſier keine franzöſiſch ſprechenden Germanen. Oeutſches Blut wird drin fein, aber auch 
romaniſches, wohl auch keltiſches. Mich hat dieſer Menſchenſchlag immer ſtark gefeſſelt; feine 
Lebensform zeigt viele eigenwillige Züge, unter denen das Eingeſpanntſein eines beweglichen 
Temperaments in einen ſchweren Körper einen beſonderen Reiz ausübt. Dieſe ſchwerere 
Körperlichkeit, die zum Teil im Gebirglertum begründet fein mag, bildet das Binbeglieb mit 
den Oeutſchſchweizern auch der Urkantone, wobei wir bedenken wollen, daß auch bet bieſen 


getdinand Hobles | 207 


ſelt Jahrhunderten viel fuüͤdliches Blut eingeſtrömt iſt. Ich betone das fo ausführlich, weil 
es fuͤr die Körpergeſtaltungen Hodlers bedeutſam geworden iſt. 

Bei Hodler wirken die Männer überzeugender, bodenſtändiger, als die Frauen, die 
viel mehr konſtruiert find, während die Männer als Stiliſierungen der ſchweizeriſchen Wirk⸗ 
lichkeit erſcheinen. Der Schweizer zeigt dieſe körperliche Geſchloſſenheit, aus ber ſich die Glie⸗ 
ber nur ſchwer auslöfen. Dafür bekommt dann die Bewegung etwas Großes, breit Aus- 
holendes, aber in den Gelenken ſcharf Betontes. Bei ſchweizeriſchen Schwingfeſten, bei ihren 
echt volkstümlichen, weil vom Volke ſelbſt dargeſtellten Feſtſpielen, kann man diefe eigenartige 
Bewegtheit am beiten kennen lernen, die von einem großen Rhythmus beſeelt iſt, deſſen ein- 
zelne Taktteile fie in den Höhepunkten feſthält und nicht durch allmähliche Übergänge auf- 
It, Wir wollen uns daran erinnern, daß auch Jaques-Dalcroze, der Schöpfer der rhyth⸗ 
miſchen Gymnaſtik, dieſem Teile der Schweiz entſtammt. 

Zu den Einflüſſen der Raſſe kommen die der Erziehung und der kulturellen Umwelt, 
in der wir leben. Hodler hat in Genf gelebt, wo die franzöſiſche Kultur nicht als bodenſtändige, 
und damit ſelbſtverſtändliche lebt, ſondern bewußt betont und gehegt wird. Von der Bedeu- 
tung der in ihrer Art einzigen Landſchaft des Lemaner Sees wird noch zu ſprechen ſein. Rein 
entwicklungsgeſchichtlich angeſehen, iſt denn Hodler auch viel leichter in die neuere franzöſiſche, 
als in die deutſche Kunſt einzugliedern. Hodler ſelbſt hat ſich gelegentlich zu Puvis de Cha- 
vannes bekannt, der neben der vom Naturalismus geſpeiſten rein maleriſchen Richtung des 
Impreſſionismus die Linie des älteren Klaſſizismus fortſetzte und ablöſte. Und während der 
Impreſſionismus ganz im Tafelbilde aufging, wollte Puvis den „Mauern Leben geben“. 
Vir haben hier ein Streben nach Monumentalität, für die in romaniſchen Ländern die natür- 
lichſte Nährquelle der Katholizismus iſt. Katholiſch bedeutet allgemein; eine katholiſche Kunſt 
heißt Allgemeinkunſt, die Kunſt einer Gemeinſamkeit, einer Geſamtheit. Es iſt ſehr bezeich- 
nend, daß Puvis einer der ganz wenigen franzöſiſchen Maler iſt, die von den italieniſchen Groß- 
künftlern der Wandmalerei befruchtet find. Man tut gut, daran zu denken, weil auch Hodler 
ſpater noch einmal von ſich aus den Weg zu den Florentinern gefunden hat. Die unmittel- 
baren Nachfolger von Puvis, wie Denis, find ganz in die Kirche gegangen. Der Runft der 
ganzen Richtung iſt die Auflöfung ins Metaphyſiſche, eine Art Entkörperung gemeinſam, die 
entweder im vollen Derflüchtigen der Farben oder jedenfalls in einem eigentlich unmaleri- 
ſchen Verwenden derſelben ihr Ausdrucksmittel fand. Die volle Bedeutung dieſer Entwick- 
lung wird einem klar, wenn man erwägt, daß dem Impreſſioniſten die Farbe nicht nur das 
eigentliche Geftaltungsmittel, ſondern überhaupt das künſtleriſche Lebenselement darſtellt. 
Denken wir ferner daran, daß Frankreich die urſprüngliche Heimat der Gotik iſt, fo gewiß 
diefe nicht eine Schöpfung des galliſchen Geiſtes, ſondern des germaniſchen Blutes in Frank- 
teich iſt. Dieſe Gotik iſt Ekſtaſe, betonte Seelenhaftigkeit. Der Korper iſt für fie Gewand der 
Seele, Ausdrucksmittel des ſeeliſchen Lebens. Hier fühlen wir uns ganz im Germaniſchen zu 
Haufe, und wir werden für dieſe tieferen Fragen der Kunſt eben niemals auskommen, wenn 
wir uns an die geographiſchen Grenzen der heutigen Staaten, ja ſelbſt nicht, wenn wir uns 
an die Sprachgebiete halten. Diefe gotiſche Richtung in der neueren franzöſiſchen Kunſt iſt 
in Oeutſchland ſchon deshalb weniger bekannt, weil ihre Schöpfungen als Wandmalerei an 
die Entſtehungsorte gebunden ſind, während die Tafelbilder durch Kunſtausſtellung und Han⸗ 
del Gemeinbeſitz der Welt werden. 

Zn Deutſchland iſt Hodler erſt allgemeiner bekannt geworden, als er, ein mehr als 
VBierzigjähriger, noch einmal die Italiener, vor allem Giotto, gründlich ſtudiert hatte (1905). 
In ber. Schweiz war er zuvor ſchon Gegenſtand heftiger Auseinanderſetzungen geweſen durch 
ſeine großen Geſchichtsbilder, unter denen der Rückzug der Schweizer bei Marignano eine 
der gewaltigſten Echöpfungen der geſchichtlichen Malerei iſt, die wir beſitzen. Die Zuſammen⸗ 
hänge mit Holbein in der Menfchendarftellung und auch in der Kompoſition liegen offen zu- 


268 Seabinanb Hoble 


tage, ſtören aber nicht. Das Bild verblüffte mehr durch die Helligkeit feiner Farbe, wohl 
hauptſächlich, weil es zu nahe geſehen wurde. Am Standort, für den es gemalt wurde, Ift 
ſein Leuchten durchaus natürlich und von ſtärkſter Wirkung. Vielleicht wenn man Hodlers 
Bilder überhaupt aus jo weitem Abſtand und auch hoch über ſich, wie die Fresken im Züricher 
Mufeum, ſehen könnte, würde ſich mancher Widerſpruch geben. Es müßten große Säle fein, 
deren Schmalwände auf dieſe Weiſe eine ähnliche Bedeutung bekämen, wie Altar- und Orgel ⸗ 
wand in der Kirche. Es iſt kein Bildinhalt, den wir da ſuchen, ſondern belebte Gliederung durch 
ein in der Architektur fremdes und doch ihr ganz eingegliedertes Element. Wir haben uns aber 
daran gewöhnen müſſen, Hodler als Tafelbildmaler anzuſehen, und er hat dieſe Gewöhnung 
recht ſchmerzlich gemacht, indem er von einigen ſeiner Bilder, z. B. dem Holzfäller, Dutzende 
zum Teil ſchlechter Wiederholungen vertrieben hat. 

Trotzdem liegt hier wohl das bleibendſte Verdienſt Hoblers: er hat überzeugender als 
ein anderer verkündigt, daß die Monumentalmalerei ihre eigenen Lebensgeſetze hat. Mit 
der lediglich räumlichen Vergrößerung eines Tafelbildes wird man nach ihm als Wandſchmüͤcker 
keinen Eindruck mehr machen, und zwar liegt ſeine in die Zukunft weiſende Wirkung hier nicht 
bei den in ihrer Art reſtlos gelungenen Bildern, wie der Schlacht von Marignano, ſondern bei 
den ſpäteren. Dabei fällt es uns Oeutſchen vielleicht beſonders ſchwer, den „Aufbruch der 
Freiwilligen“ in der Jenaer Univerfitätsaula unbefangen anzuſehen, weil ſich uns dabei eine 
Fülle geſchichtlicher Erinnerung mit eindrängt, die in dem Bilde nicht auf ihre Koſten kommt 
oder gar beleidigt wird. Reiner iſt in der Hinſicht der Genuß bei jenen Bildern, die mit kei⸗ 
nem irgendwie gearteten äußeren Geſchehen zuſammenhängen, ſondern nur eine oder mehrere 
menſchliche Geſtalten in einer ganz vom Künſtler konſtruierten Umwelt zeigen. Wenn wir 
hier ganz von der Idee abſehen, die dieſen Bildern zugrunde liegt, bieten fie uns die durch 
rhythmiſch bewegte Körper verlebendigte und geſtaltete Fläche. Hier iſt erreicht, was Puvis 
de Chavanne wollte; „Mauern ſind lebendig gemacht“. Es iſt ganz logiſch, daß dieſes Leben 
die Oreidimenſionalität gar nicht vorzutäuſchen ſucht und in keiner Hinſicht in Wettbewerb 
mit der Wirklichkeit tritt. 

Das Oarſtellungsmittel iſt die Linie. Die Farbe wird inſoweit benutzt, als ſie die 
Wirkung der Linie erhöhen kann. Das war in einem Zeitalter, dem mit dem Impreſſionismus 
die Farbe alles war, eine ins Tiefſte reichende Umwälzung und gehörte wohl zu dem, was als 

. „beionders deutſch empfunden wurde. Die Art der Linienführung wird dann im beſonderen 
als ſchweizeriſch zu gelten haben. Das Oeutſche ſah man endlich in der Ideen malerei. 
Es iſt aber die düſtere Welt Calvins, die in dieſer unfreudigen Schwermut, in der glück 
loſen, höchſtens zu einem Gleichmut gelangenden Strenge der Geſtalten ſich ausſpricht. Woran 
liegt wohl dieſe Unfreudigkeit im höheren Sinne, die der Kunſt Hodlers anhaftet und nach 
meinem Gefühl ihren ſchwerſten Mangel bildet? Sch glaube letzterdings doch an der Gewollt⸗ 
heit, man könnte faſt ſagen Lehrhaftigkeit dieſer Kunſt. 

Hodler hat in feiner Frühzeit eine Anzahl köſtlicher Landſchaften geſchaffen. Sieht 
man bagegen Landſchaften der ſpäteren Jahre, vor allem in größerer Zahl gleichzeitig, ſo 
empfindet man ſie als Schulbeiſpiele für gewiſſe Erkenntniſſe der Naturgeſtaltung. Ich habe 
oben angedeutet, daß das auf die Einwirkung der Genferjee-Landfhaft zurückgeführt werden 
kann. Ich kenne keine Landſchaft, in der das rhythmiſche Geſetz der geordneten Wiederholung 
ſo leicht als Wirkungsgrund auf die menſchliche Seele erkennbar iſt. Wir haben an den Ufern 
das Abereinander verſchiedener Horizontalen, in den Bergen eine ſeltſame Gleichmäßigkeit 
der Kegelformen, die wiederum in verſchiedenen Höhenlagen abwechſeln. Dazu die breite 
Fläche des Waſſers, der immer ſcharf abgeſchnittene Horizont — jedem, ber länger an dieſem 
See weilt und nach dem Grunde feiner eigentümlichen, ſeit Jahrhunderten gerühmten, bei- 
nah muſikaliſchen Wirkung forſcht, wird fi ſchließlich dieſes einzigartige rhythmiſche Formen 
ſpiel offenbaren. Jodler vergewaltigt nun in feinen Bildern die Natur, um dem Beſchauer 


Serbinanb Hodier 5 269 


dieſes rhyihmiſche Leben zu verdeutlichen. Nach meinem Gefühl bringt er es damit um die 
feinſte künſtleriſche Wirkung. Entſchleierte Geheimniſſe haben keinen Wert. 

Mnlich iſt es mit feiner Behandlung der Linie. Es hat für jeden etwas Beglückendes, 
wenn ſich ihm in der Kunſt das Weſen der äſthetiſchen Statik (Ehrenberg) offenbart und er ſo 
erkennt, wie z. B. lebhafte Bewegung im Kunſtwerk die ſtärkſte Stiliſierung verlangt, um 
den wohltuenden Eindruck des Gleichgewichts hervorzurufen, wie überhaupt der bildende 
Künſtler das Bild der Natur auf geometrische Figuren vereinfacht, um es fo einprägſamer zu 
machen. Myrons „Oiekuswerfer“ wird, wie Ehrenberg gezeigt hat, zu einem geometrifchen 
Gerüft verſchiedener mathematiſcher Figuren. Aber das alles muß als innere, als heimliche 
Kraft wirken. Im felben Augenblick, wie es als Syſtem ſichtbar wird, empfinden wir es als 
Vergewaltigung und werden beftemdet (Kubismus). Etwas Ahnliches iſt es bei Hodler mit 
der Linie; fie iſt ihm nicht mehr Wirkungsmittel, ſondern um ihrer ſelbſt willen da. Die Natur 
muß ſich ihr beugen. Die Körperform wird vergewaltigt, die Köpfe werden unnatürlich klein, 
die Gliedmaßen beliebig verlängert. Und hier liegen auch die Grenzen der monumentalen 
Virkung ſeiner Geſtalten, denn monumental iſt für uns letzterdings immer nur der Menſch 
als Vollbringer einer Arbeit, nicht bie Tätigkeit an ſich. Yddler gibt eigentlich nicht einen Holz- 
fäller, ſondern die phyſikaliſche Formel des Holzfällens durch den Menſchenkörper. Darum 
gibt ihm auch der Individualismus des Menſchenantlitzes nichts; und überhaupt der ganze 
unendliche Neichtum des Drumherums der Welt, in dem wir doch nun einmal ſtehen, kommt 
in Wegfall. Die mefiiſchlichen Geſtalten, die er uns gibt, find eigentlich entmenſchlicht, alles 
dient einem Ping an ſich. 

Man könnte meinen, daß auf dieſe Weiſe die Idee nun beſonders eindringlich zum Aus- 
druck gelangen müßte. Es iſt aber nicht der Fall. Sie bleibt zu kalt, weil alles zu abſtrakt iſt. 
Es iſt am Ende doch auch bei Hodler jo, daß ihm die Liebe fehlt und darum die wahre ſoziale 
Kraft. Gewiß iſt aller Stil Ausdruck eines geſellſchaftlichen Empfindens, er erfüllt das Ver- 
langen einer Geſellſchaft. Damit dieſes zuſtande kommen kann, muß der Individualismus 
überwunden werden. Es muß jeder von feinen Eigenheiten preisgeben, um ſich in dem Ge- 
meinſamen mit den andern zuſammenzufinden und dadurch dieſes gemeinſam Gefühlte ge- 
waltig zu verſtärken. Entſcheidend aber iſt, weshalb das geſchieht, ob im Zwang einer All- 
gemeinheit, die mich individuell nicht gelten laſſen will, oder aus Sehnſucht nach dieſer All- 
gemeinheit in dem beſeligenden Gefühl, mit Tauſenden eins zu ſein. Im erſteren Falle ver⸗ 
atme ich, nur im letzteren werde ich reich, denn was mich treibt, iſt Liebe. Und dieſe Liebe 
fehlt, um es noch einmal zu ſagen, Hodler. Man fühlt es, wenn man ſeine Geſtalten, wie 
etwa den Holzfäller, mit einigen der Arbeitergeſtalten Meuniers vergleicht. Formal, ſtiliſtiſch, 
ft Hodler weitaus der Monumentalere; dennoch wirkt Meunier ſtärker, tiefer, denn er hat 
die Liebe. Karl Storck 


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5 | . 60 Ru 


Der Krieg 


usbau und Vertiefung unſeres Bündniſſes mit Oſterreich- Ungarn —: 
die Tſchechen und Südflawen haben nicht geſäumt, uns und aller 
Welt auf das deutlichſte vor Augen zu führen, „wie ſie es auf 
faſſen“. Willkommenen Anlaß bot ihnen die Prager Zubelfeier 
der iſchechiſchen Univerſität. „Was wir davon erfahren,“ ſchreiben die „Leipziger 
Neueſten Nachrichten“, „iſt nur ein ſchwacher Nachhall deſſen, was wirklich vor⸗ 
gegangen. Die volle Wahrheit werden wir wohl erſt aus der Entente-Preſſe 
entnehmen können, denn daß ſie dort verbreitet wird, dafür werden die getreuen 
Bundesbrüder der Entente im Lande Oſterreich geſorgt haben. Indes gibt die 
Kundmachung der Prager Polizeidirektion ſchon eine Vorſtellung von dem er⸗ 
baulichen Schauſpiel, wenn ſte ungeſchminkt von ‚einer Reihe hochverräteriſcher 
Vorfälle“ ſpricht. Nicht etwa in der Abſicht, ihre gerechte Beſtrafung anzu- 
kündigen! Sondern nur, um den Schuldigen rechtzeitig mitzuteilen, daß jede 


7 


5 


I 


weitere Duldung‘ ausgeſchloſſen ſel, und daß ‚von nun an‘ die Staatsgewalt 


ſich nicht länger auf der Naſe werde herumtanzen lajjen. Man kann ſich alſo nach 
Belieben einen Begriff davon machen, was in den drei Tagen der Feier gr 
duldet worden iſt. Ein tſchechiſches Blatt hebt rühmend hervor, eine taufend- 
köpfige Menge ſei am Oeutſchen Hauſe vorbeigezogen, ohne dort zu toben oder 
die Fenſter einzuwerfen. Dieſe zarte Rückſicht wird alſo wohl weniger der Staats 


gewalt zu gelten haben, als der üblen Nachwirkung, die eine Prager Straßen- 


ſchlacht nach altem Muſter außerhalb der ſchwarz-gelben Grenzpfähle hätte haben 
können. Var doch die ganze Feier auf das Thema abgeſtimmt: ‚Was wir Sſchechen, 
Polen, Südflawen in Oſterreich zu leiden haben!“ Außerdem hätte es wahrſchein! 
lich ſeine Schwierigkeiten gehabt, in dem Maße, wie das früher beliebt war, 
Prager deutſche Studenten zu Ehren des tſchechiſchen Zukunftsſtaates durch 
zuprügeln. Die werden auf den zahlreichen Schlachtfeldern liegen, wo 
ganze tſchechiſche Regimenter ſo verblüffend ſchnell den Weg in die 
Arme der ruſſiſchen Brüder fanden. 

‚Es war alles da, was Oſterreich haßt. Gerade die Anweſenheit der 
Rumänen und Staliener, dieſes Franzoſen- und Belgiererſatzes, gibt dem Feſt 


aurmete Sagebup? 271 


die eigene Note‘, jo jagt die, Bohemia“ von der dreitägigen Prager Feſtfeier. Ver 
treter des Miniſteriums Seidler waren nicht da. Alle Kräfte waren unabkömm 
lich, um die neuen Verordnungen über die Kreisregierungen in Böhmen heraus“ 
zubringen. Schon am 1. Zanuar 1919 ſoll der erſte Schritt zur Verwirklichung 
getan werden! Aber niemand ſoll ſich einbilden, daß es ſich dabei um 
den Schutz des deutſchen Beſitzſtandes handelt! Vergeſſen wir doch nur 
nicht, daß gegen deutſche Gemeinden, die den Zammer ihres Hunger- 
elends über die reichsdeutſche Grenze ſchreien, prompt ‚Das Verfah- 
ren eingeleitet‘ wurde, während die tſchechiſchen Urheber ‚einer Reihe hoch- 
verräteriſcher Vorgänge“ nur ſanft verwarnt werden, daß dergleichen ‚von nun 
an“ nicht mehr geduldet werden könne. Vergeſſen wir auch nicht, daß unter dem 
Miniſterium Seidler gegen deutſche Verſammlungen in Böhmen tſche— 
chiſche Truppen bereitgeſtellt wurden, die von der Sſonzofront hatten 
zurückgenommen werden müfſſen, weil fie es nicht übers Herz bringen 
konnten, auf ihre fitalieniſchen Brüder“ zu ſchießen. So werden wir be- 
greifen, was es heißt, wenn eindringlich verſichert wird, die Kreisregierung für 
Böhmen ſei nichts als eine ‚verwaltungstechniſche Maßnahme“. Dieſe Verfiche- 
rung umſchließt die dringende Bitte an die Tſchechen, es doch nur nicht übelzu⸗ 
nehmen! Bis zum 1. Januar 1919 iſt noch eine lange Friſt, und im Staate Oſter⸗ 
reich ijt ſie noch viel, viel länger als anderswo. 

Ein italieniſcher Saft der Prager Theaterfeier hat den Wunſch ausgeſprochen, 
der brüllende tſchechiſche Löwe mochte ſich bald niederlegen und auf ſeinen Lor- 
beeren ruhen können. Zur Verdauungsruhe wird der brüllende Löwe aber nicht 
eher geſtimmt ſein, als er verſchlungen hat, worauf ſein hungriger Blick ruht. 
Das ſind nicht nur Seile öſterreichiſchen, nicht nur Teile ungariſchen Landes, jon- 
dern, wie mit erfreulicher Offenheit geſagt wurde, auch Teile reichsdeutſchen 
Bodens. Bis zu den Wenden in der Lauſitz erſtreckt ſich die ungeftilite tſchechiſche 
Sehnſucht. Hat man den Cſchechen erlaubt, ihre Begehrlichkeit in vier Zahren 
gemeinſamen Krieges immer mehr die Zügel ſchießen zu laſſen, jo wird man 
mithin auch uns erlauben müſſen, vor dieſer zügelloſen Begehrlichkeit auf der Hut 
zu ſein. Wir im Reiche haben nichts gegen das tſchechiſche Volk, ... aber wir 
haben ſehr viel gegen die tſchechiſche Verhpetzung und den vaterlandsloſen Größen- 
wahn tſchechiſcher Volksführer und Verführer [Nur? Siehe unten. D. T.], und 
es war für uns im Reich eine peinliche Aberraſchung, daß die öſterreichiſche Re- 
gierung den gemeinſamen Krieg nicht zum Anlaß nahm, der weiteren Verhetzung 
mit ftarter Fauſt ein Ende zu machen, daß fie ihr vielmehr, durch Begnadigung 
rechtskräftig verurteilter Hochverräter, einen Freibrief für unbegrenzte Zu- 
kunft ausstellte. Das neuerliche Brüllen des tſchechiſchen Löwen iſt auch eine Ant- 
wort auf jenen Akt der Schwäche, der uns Reichsdeutſchen einen ſo tiefen Einblick 
in die innere Verfaſſung des öſterreichiſchen Staates erlaubt hat, wie wenig Er- 
eigniſſe der letzten Jahrzehnte. Die natürliche Folge davon iſt, daß wir manches, 
was wir vordem, im Bewußtſein unſerer Stärke, auf die leichte Achſel zu nehmen 
geneigt waren, in Zukunft ernſter nehmen werden, nicht weil wir an unſerer Stärke 
zweifelten — dazu haben wir am Ende des vierten Kriegsjahres weniger Anlaß denn 
je — londern weil wir gewiſſe innere Schwächen Oſterreichs klar erkannt haben. 


22 Kürmers Tagebuch 


Wir find durchaus damit einverſtanden, daß das Bündnis mit Oſterreich⸗ 
Ungarn vertieft und ausgebaut werde. Aber wir begleiten die Vertiefung und 
den Ausbau mit einer ganz anderen Stimmung, als wir's im erſten Rriegsjaht 
getan hatten. Damals wurde von Wien aus eifrig abgewinkt, wenn bei 
uns von etwas Ahnlichem die Rede war. Und den Oeutſchen in Hfter- 
reich, die davon reden wollten, wurde der Maulkorb der Zenſur angelegt. 
Heute vernimmt man die tönenden Worte über das, was geplant ſein ſoll, mit 
einer gewiſſen Ernüchterung, die für den Abſchluß politiſcher Verträge eigentlich 
nicht unerwünſcht ſein ſollte, die aber durch das Gebrüll des tſchechiſchen Löwen 
höchſtens um einige Grade verſtärkt werden kann. Zumal dieſer Löwe, durch 
ſeine Vertrauensleute im Auslande, die Entente ausdrücklich verſichern läßt, die 
Tſchechen würden im Widerſtande gegen das Bündnis nimmer er 
lahmen. Das mahnt uns doch ſehr zur rechten Zeit an die Grenzen, die dem 
Werte des Bündniſfes durch die unaufhaltſame innere Entwicklung Sſterreichs 
nun einmal gezogen ſind. Vertiefen und ausbauen wollen wir das Bündnis recht 
gern, aber nicht über den Kopf des Deutſchtums in Sſterreich weg, und 
erſt recht nicht gegen das Oeutſchtum in Sſterreich. zſt die ruſſiſche Ge⸗ 
fahr für Oſterreich-Ungarn auf abſehbare Zeit beſeitigt, jo iſt ſie's auch für uns. 
Ohre die Oeutſchen in Sſterreich hat das Bündnis keinen Wert mehr 
für uns, darüber ſollte auch die Reichsregierung keinen Zweifel aufkommen 
laſſen.“ 

Was der Türmer je und je dargelegt hat, obwohl es ſchon beſchämend ge⸗ 
nug iſt, daß ſolche Darlegung erſt nötig war und leider heute noch nötig iſt! Ein 
ſonderbares Bündnis, das ſich auf Völkerſchaften ſtützen möchte, die, wie die 
Tſchechen mit ihrer weiteren flawijchen Gefolgfchaft, aus ihrer geſchworenen 
Feindſchaft gegen uns und unſere Volksgenoſſen, ja ſogar gegen die eigene 
Staatshoheit und Staatsgemeinſchaft gar kein Hehl machen! Es kann ja nicht 
die Rede davon ſein, daß es ſich um bedauerliche „Ausnahmen“ handele, — das 
geſamte tſchechiſche Volk iſt deutſchfeindlich und inſoweit auch öſterreich⸗ 
feindlich, als der öſterreichiſche Staat die tſchechiſchen Anſprüche und Forde 
rungen nicht rückhaltlos zu den ſeinigen macht, und die erſte dieſer Forderungen 
heißt: Abkehr vom Bündniſſe mit dem Deutſchen Reiche. Vor dieſen offen- 
kundigen, von unſeren Feinden längſt in ihre politiſche Rechnung eingeſtellten 
Tatſachen krampfhaft die Augen verſchließen zu wollen, wäre mehr als kindiſch, 
wäre bewußter politiſcher Selbſtmord. Kann dieſe ſtaatsverräteriſche Geſinnung 
noch greller beleuchtet werden, als durch die Aufſchlüſſe der „Italia“ über die an 
der Front gebildete, hauptſächlich aus Tſchechen beſtehende Freiwilligen 
legion? Oieſe Truppe wird nicht auf einem beſonderen Sektor verwendet, fon- 
dern auf die ganze Front verteilt. Ihre Hauptaufgabe beſteht darin, durch Füh- 
lungnahme mit den auf öſterreichiſcher Seite kämpfenden Lande 
leuten Verwirrung in die Reihen des Gegners zu tragen. Durch Singen 
der nationalen Lieder, durch Zurufe in tſchechiſcher Sprache und durch 
gemeinſame Patrouillengänge nach den feindlichen Gräben ſoll Anſchluß ge- 
ſucht werden. Unter den tſchechiſchen Freiwilligen find alle Berufsklaſſen ver⸗ 
treten, in beſonders großer Anzahl Studenten. Den Kern der Legion bilden 


Sürmers Tagebuch 23 


— ſelbſtverſtändlich ! — die Mitglieder der rn rühmlichen Angedenkens 
ſchon aus Friedenszeiten her. — 

Aber dieſer tſchechiſchen Zubelouvertüre zum „Ausbau“ und zur „Ver- 
tiefung“ des deutſch-öſterreichiſchen Bündniſſes ſchwebte der Geiſt des Herrn 
Kramarſch. Aber, wie der „T. R.“ aus Wien berichtet wird, er ſelbſt auch rein 
koͤrperlich in höchſteigener Perſon. Wie ein Triumphator wurde er von tſchechi- 
ſchen Sünglingen in Nationaltracht in das Pantheon des Muſeums 
getragen, wo er die Feſtrede hielt, in der er das Schlagwort unter die Menge 
warf, die tſchechiſche Nation ſei von dem Glauben erfüllt, daß keine Kraft der Welt 
ſie aufhalten könne. In einer nächtlichen Feier auf dem Wenzelsplatze erklärte 
der Südſlawe Radic, in Prag ſei der ſlawiſche Dreibund gegründet 
worden. Der Pole Tetmajr erklärte, daß die vereinigten Tſchechen und Polen 
eine Macht bilden, die nicht überwunden werden könne. Ein Redakteur des in- 
zwiſchen verbotenen Kramarſch- Blattes „Narodni Listy“ feierte das vereinigte 
Großpolen, den einheitlichen ſüdſlawiſchen Staat und das Tſchechenreich vom 
Böhmerwalde bis zur Tatra. Schließlich faßten Tſchechen, Polen, Slowenen, 
Kroaten, Serben und Staliener eine gemeinſame Entſchließung, alles zu 
tun, was in ihren Kräften ſtehe, damit ihre Nationen nach dem Kriege ihre Be- 
freiung erreichten und auf Grund des Selbſtbeſtimmungsrechtes zu einem neuen 
freien Leben auferſtünden, wobei (als Hieb gegen Öfterreich) alle ſtaatlichen 
Verträge auf das entſchiedenſte abgelehnt wurden, die nicht durch den ſouveränen 
Willen der Nationen beſtätigt ſeien. 

Alle offenen und geheimen Feinde des öſterreichiſchen Staates und felbit- 
verſtändlich auch des Deutſchen Reiches und der Deutſchen überhaupt waren zu 
dieſer 1 Verbrüderung geladen, die Slowenen, die Kroaten, die Slo- 
waken, dic Polen, ſogar die Serben (ö), und auch der öſterreichiſche Staliener 
Conci war an der Spitze von 17 Landsmännern erſchienen. Sogar die Nuffen 
hatte man einladen wollen. Das war aber der öſterreichiſchen Regierung 
doch etwas zu ſtark, und fie legte ihr Verbot ein. Daß der Neoſlawismus feine 
begehrlichen Blicke auch bereits über die Grenzen des Deutſchen Reiches hinũber 
richtet, dafür ſpricht, daß man auch die Sorben aus der preußiſchen Lauſitz 
und aus Sachſen eingeladen hat, ſelbſtverſtändlich auch die preußiſchen 
Polen, von denen jedoch ein polniſcher Feſtredner mit Bedauern feſtſtellen mußte, 
daß ſie nicht erſchienen ſeien. Doch „ihr Geiſt weilt hier“, fügte er mit Em- 
phaſe hinzu. Einzig und allein von allen Slawen hat man die Bulgaren nicht 
eingeladen, und zwar auf ausdrückliches Betreiben des Herrn Kramarſch. Welch 
feines Empfinden, ſicheres Unterſcheidungsvermögen für alles, was im Lager der 
Entente ſteht, und was als Freund und Bundesgenoſſe zu den Mittelmächten hält! 

Es ging ſehr heiter her. Man demonſtrierte, ſo heißt es in einem Bericht der 
„München-Augsburger Abendzeitung“, nicht unter ſich, ſondern man führte den 
Hochverrat offen durch die Straßen der Stadt ſpazieren und kümmerte 
ſich weder um Verordnungen noch um irgendwelche Beſtimmungen. Während der 
ganzen Dauer des Nationalfeſtes trugen die Teilnehmer die verbotenen Kokarden, 


und bei den Straßenumzügen, die täglich e ſtattfanden, wurde das N 
Der Türmer X, 18 


224 Zürmers Tagebuch 


ſche Hetzlied Hej Slovane mit einem neuen hochverräteriſchen Text geſungen. Eine 
Schilderung der Szenen, die ſich vor dem Hotel abſpielten, ja auch nur eine Andeu- 
tung des Inhalts der Anſprachen, die an die Menge gehalten wurden, läßt ſich aus 
Zenſurgründen nicht machen. Erwähnt fei nur, daß, wie auch das „Prager Tagbl.“ 
mit Bewilligung der Zenſur feſtſtellt, nicht nur das tſchechiſche Hetzlied Hej Slovane 
mit dem erwähnten hochverräteriſchen Text geſungen wurde, ſondern daß man 
auch die Nationalhymnen der uns feindlichen Staaten anſtimmte. 

Die Tſchechen haben ſich offen, auch dem Schwerhörigſten unmißverſtändlich, 
als unentwegte Anhänger des Vielverbandes bekannt; ſie haben dieſem auf das 
Tatkräftigſte, wo immer nur die Gelegenheit ſich ihnen bot, Vorſchub geleiſtet; 
ihre ſüdſlawiſchen Brüder drohten in harmoniſcher Abereinſtimmung mit 
den Weiſungen des Vielverbandes unaufhörlich mit der Revolution; der 
polniſche Redner Daszinſki erklärte im Reichsrate: der Stern der Habsburger 
iſt am 9. Februar am polniſchen Himmel erloſchen. „Alle dieſe verbitterten Feinde 
der Monarchie aber wußten,“ fo durchleuchtet Hermann Ullmann (in der „Zäg- 
lichen Rundſchau“) dieſes öſterreichiſche Krebsgeſchwür, „immer wieder mit 
einem Augenzwinkern nach oben hin ihren Worten den Sinn zu geben, als 
kämpften fie nicht gegen Sſterreich ſchlechthin, ſondern nur gegen ein mit 
Deutſchland verbündetes. Dieſe außenpolitiſche Zuſpitzung des Nationall- 
tätenkampfes und der inneren Politik in Oſterreich überhaupt muß man verſtehen, 
um ſeinen tiefſten Sinn zu begreifen. Auch die Angriffe der Slawen gegen die 
Deutſchöſterreicher, „Unterdrücker“, gelten vor allem den Trägern des Bünd- 
niſſes. Wenn dieſe, trotzdem fie noch immer wirtſchaftlich das Doppelte bis Schr 
fache gegenüber den Nichtdeutſchen leiſten und kulturell ganz alle in die Aufgabe 
tragen, Oſterreich bei Mitteleuropa zu erhalten, politiſch immer weiter 
zurückgedrängt werden, wenn ſie durch den Krieg, deſſen Hauptlaſten ſie getragen 
haben, bis in die Wurzeln ihrer Volkskraft hinein durch ihre un verhältnismäßig 
hohen Blutopfer und durch die Aushungerungspolitik ihrer ſlawiſchen 
‚Nachbarn‘ erſchöpft werden, fo erdulden fie dies alles letzten Endes für den 
Staatszuſammenhang und für das Bündnis. Nicht paſſiv, wie es dem weniger 
unterrichteten Reichsdeutſchen ſcheinen mag, ſondern, wenigſtens was den ge 
bildeten deutſchen Mittelſtand, die politiſch und publiziſtiſch ſchlecht vertretene 
Mittelſchicht anlangt, mit äußerſter Kraftanſtrengung. Ihre Leiſtungen 
find nach außen hin nicht im vollen Maße erkennbar. Wie im Heere der deutſche 
Keſerveoffizier und der deutſche Soldat vielfach dafür ſich verbrauchte, um 
die negativen Leiſtungen anderer auszugleichen, fo verzehrt ſich die wirt 
ſchaftliche, kulturelle, politiſche Organiſationskraft des deutſchöſterreichiſchen Bürger- 
tums nicht zum geringen Teile in den Widerſtänden, die von den bündnir 
feindlichen Kräften ausgehen. An ſich zahlenmäßig unterlegen, werden ſie 
noch dadurch in ihrem Widerſtande geſchwächt, daß ſie bei jedem Widerſtand gegen 
die Regierungen, durch den allein ſich der Drud der Slawen auf dieſe ausgleichen 
ließe, in Gefahr geraten, gegen einen Staat zu kämpfen, deſſen Beſtand fie nicht 
gefährden wollen und der als Bundesgenoſſe Oeutſchlands ſeinen Daſeinskampf 
führt. Sie können niemals ſo ganz reine Nationalpolitik treiben wie die Slawen: 
nicht als Oſterreicher und nicht als Träger des Bündniſſes. 


Zürmers Tagebuch 225 


So hat ſich allmählich eine Art Raubwirtſchaft mit den Kräften der 
Oeutſchöſterreicher herausgebildet. Um die Bündnisfeinde ‚am Staate zu 
intereffieren‘, wie es ein deutſcher Abgeordneter ausdrückte, werden die Rechte der 
Heutſchöſterreicher ſtückweiſe den Slawen aufgeopfert, die aufs kräftigſte 
von den gegen das ‚imperialiftiiche‘ Deutſchland wühlenden, auf dem Standpunkte 
der, Unabhängigen“ ſtehenden öſterreichiſchen Sozialdemokraten unterſtützt werden. 
Die Deutſchöſterreicher bedeuten gewiſſermaßen das Kapital an Konſervatismus, an 
Feſtigkeit und Ordnung, ohne das kein Staat, nicht einmal Oſterreich, beſtehen kann. 
Aus ihm wurde die ſtändig wachſende Zeche für das Bündnis bezahlt. 

Eines der erſchütterndſten Beiſpiele bieten augenblicklich die Deutſchen in 
Böhmen und Tirol. Kinder, Frauen, Greiſe, gerade aus den Gebieten, 
deren Regimenter ſich bis auf den letzten Mann geſchlagen haben, ver- 
hungern buchſtäblich — weil man es nicht wagt, in benachbarten länd- 
lichen (lawiſchen!) Bezirken gründlicher zu requirieren. 

Man muß ſich in Deutſchland ganz klar darüber ſein, daß dieſes 
Syſtem nicht über den Krieg hinaus dauern kann. Es findet ſeine Grenze 
dort, wo die Kräfte und die Geduld der Oeutſchöſterreicher erſchöpft ſind. In dieſem 
Augenblick, träte er je ein, würden die bündnisfeindlichen Kräfte nicht nur das 
Bündnis, ſondern auch die Monarchie ſprengen. ..“ 

Wird man im Reiche den Ernſt der Lage endlich begreifen lernen? Wird 
man ſich auch an den maßgebenden Stellen — endlich — zu der Erkenntnis durch- 
ringen, daß es nicht länger angeht, mit gekreuzten Armen gelaſſen zuzuſchauen, 
wie ſich das Geſchick an den Oeutſchöſterreichern vollzieht, das, wenn nicht der Mut 
aufgebracht wird, ihm entſchloſſen in die Zügel zu fallen und noch in letzter Stunde 
eine andere Wendung zu geben, nur der Untergang fein kann. Nur deutſche po- 
litiſche Gedankenloſigkeit und Verkehrtheit kann hier noch das Wort „Gefühlspolitik“ 
vor ſich herleiern oder ſich durch dieſen mit Recht beliebten Köder politiſcher Trüger 
von ſeinen Lebensbedingen weglocken laſſen. So berechtigt das Gefühl auch 
iſt, in dieſem Falle ſogar eine Gefühlspolitik Realpolitik im höchſten Sinne wäre, 
ſie ſtehen hier nicht in Rede. Nein, es handelt ſich hier um die Selbſterhaltung, 
nicht nur deutſchen Volkes, ſondern des Deutſchen Reiches, um den Beſtand 
des Reiches. Es ſei denn, wir hätten dieſen ganzen Krieg mit all feinen un- 
ſäglichen Opfern umſonſt geführt, machten einen dicken Strich durch unſere 
ganze bisherige politiſche Rechnung und politiſchen Kriegsziele und entſchlöſſen 
uns zu einer von Grund aus neuen Orientierung. Die könnte dann aber 
keine andere ſein als eine engliſche, was aber wiederum auf nichts anderes hinaus- 
liefe, als auf eine in mehr oder minder ſchönes Vertragspapier eingewickelte Unter- 
werfung unter Englands Willen. Das Papier dazu würde uns England, 
großmütig wie immer gegen „kleine Nationen“, bereitwilligſt borgen. 

Gelingt es uns nicht, die ſlawiſche Gefahr zu bannen, dann bliebe uns 
in kürzerer oder längerer Sicht ſchlechterdings nichts anderes übrig. Und die 
ſlawiſche Gefahr iſt noch lange nicht gebannt. Auch im ruſſiſchen Oſten nicht. Das 
iſt hier wiederholt mit allem Nachdruck betont worden und hat uns kürzlich auch 
Sven Hedin mit beredten Worten, aber noch beredteren Tatſachen in einem 
Berliner Vortrage zu Gemüte geführt. Der berühmte, uns ſo freundlich geſinnte 


226 Zürmers Tagebuch 


Schwede knüpfte dort (nach einem Bericht von Profeſſor Walter Stahlberg in 
den „Berliner Neueſten Nachrichten“ an ein Erlebnis an, das er im Auguſt 1915 
im Gefolge der Armeegruppe von Woyrſch gehabt hat, wo er des Abends neben 
dem Strohbündel ſeines Lagers in der Ecke der dürftigen Hütte ein zerriſſenes 
Schulbuch fand. In 14. Auflage bot es die vom ruſſiſchen Unterrichtsminiſterium 
gutgeheißene Darſtellung der ruſſiſchen Geſchichte für die ruſſiſchen Kinder dar, 
ein Genuß auch für den Kenner, dem ſich Hedin noch vor der Nachtruhe hingab. 
„Von den 172 Seiten des Lehrbuches, deren Raum noch durch 92 Bilder erheblich 
beſchränkt war, handelten je fünf von Karl XII. und Napoleon und von den Zaren, 
die ſie überwanden. Kein Wunder vom ruſſiſchen Standpunkt, da dieſe Zeiten 
die einzigen großen Ereigniſſe vor dem Weltkriege umfaſſen, bei denen das Mos- 
kowiterreich zitterte. Der japaniſche Krieg war ihnen gegenüber nur ein kleines 
Zwiſchenſpiel, das ſchließlich für die Entfaltung der ruſſiſchen Kräfte in dieſem 
Kriege nur förderlich wurde. Seit Peter dem Großen hat nichts das Wachstum 
Rußlands verhindert, die ganzen 200 Jahre hindurch, bis in Hindenburg der Feld- 
herr erſtand, der einſah, daß in der ruſſiſchen Macht nicht nur der Feind Oeutſchlands 
vernichtet, ſondern die größte Gefahr für die geſamte europäiſche Kultur abgewandt 
werden mußte. 

Seit Rurik und ſeine Waräger mit der Bitte ins Land gerufen wurden, die 
auch das Lehrbuch mitteilt: ‚Unfer Land iſt groß und reich, aber es fehlt ihm die 
Ordnung. Komm, über uns zu herrſchen “ ſeitdem iſt hier eine Macht entſtanden, die 
weiter und weiter um ſich greift. Die Schilderung von Peters des Großen Jugend 
und feinen Neigungen gibt in dem Büchlein den Vorgeſchmack von feinem ‚Zefte- 
ment“ und eine Vorbereitung dafür. Wo die Erzählung zu der Gründung von 
Petersburg kommt, da heißt es, ‚fein geheimer Gedanke war erreicht, er ſtand an 
der Küſte, die er erſtrebte“. Das ruſſiſche Wort für den ‚geheimen Gedanken' ifl 
dasſelbs wie für Teſtament, und das berühmte Teſtament Peters des Großen 
iſt wahrſcheinlich genau ſo Mythe, wie die weitausſchauenden Pläne, die er nach 
dem Büchlein am Anfang des Krieges gegen Karl XII. hegte. Aber er hat durch 
den Erfolg den Ruſſen ihren Weg gegen Schweden gewieſen, wie Katharina II. 
gegen die Türkei. Es hat wenig Wert, rückſchauend zu erörtern, ob für Rußland 
die Notwendigkeit beſtand, ans offene Meer vorzudringen; tatſächlich hat die ruf 
ſiſche Geſchichte in dem Sinne gewirkt, die ruſſiſche Macht nach allen Richtungen 
dahin vorzuſchieben. Und durch das Lehrbuch iſt den Millionen ruſſiſchet 
Kinder die Notwendigkeit einer Ausbreitung des Reiches bis zu dem 
warmen Waſſer wie ein religiöſes Dogma vorgetragen worden, an 
dem niemand zweifeln darf. Es machte fie mit dem ‚geheimen Gedanken“ 
Peters des Großen vertraut und ſagt doch damit nur die Wahrheit. Ser einzelne 
Ruffe mag die Kraft des Ausdehnungsſtrebens der ruſſiſchen Nation 
leugnen; die Geſchichte zeigt, daß ſie beſteht als ein maſſenpſychologiſches 
Problem, das in derſelben rätſelhaften Art drängt und wirkt, wie der Trieb in 
großen Heuſchreckenſchwärmen oder bei den wandernden Nagetieren des Nordens. 

Geſchickte Staatsmänner haben ſich dieſer Kraft, vom ruſſiſchen Standpunkt 
völlig berechtigt, ſtets zu Eroberungszwecken bedient. Nie war ſie deutlicher zu 
erkennen, wie im jetzigen Jahrhundert. Rußland hatte ſich erfolgreich vorgearbeitet 


Zürmers Tagebuch 277 


nach Oſten, nach Weſten und nach Süden. Das Ergebnis war, daß es in Port 
Arthur und Dalni ſchließlich durch Sapan von dem warmen Waſſer des Stillen 
Ozeans verdrängt, daß feinem Streben nach Bender Abbas zum öndiſchen Ozean 
von England durch feine Koweit- Beſetzung und durch das Petersburger Abkommen 
von 1907 ein Halt geboten wurde, und daß das Drängen von Finnland aus über 
Skandinavien zum Atlantiſchen Ozean hin durch dieſen Weltkrieg unterbrochen 
und durchkreuzt worden iſt. 

An vorſichtig wäre es, zu glauben, daß das Rußland nach der Re— 
volution von der Eroberung abſähe. Am Anfang des Krieges hatte der 
Sedanke des Panſlawismus das ganze Volk durchdrungen. Die Agrar- 
reform verſprach eine gewaltige Stärkung der ruſſiſchen Macht. Sie hatte das 
unſtillbare Verlangen des ruſſiſchen Bauern nach Land nur noch geſteigert; die 
Vernichtung Oeutſchlands und Öfterreich-Ungarns ſollte dem Bauern 
neues Land auf Koſten von Deutfchen und Polen geben. Der Krieg war durch— 
aus populär. Einſichtige Patrioten wollten ihn allerdings noch um einige Jahre 
verſchieben, weil die Feſtigung der ruſſiſchen Macht mit a Fortſchreiten der Re- 
form immer größer wurde. 

Als Rußland den Weg nach Konſtantinopel durch das Brandenburger Tor 
antrat und ſo ſeine alte Art des Vordrängens, den Druck auf den Punkt geringeren 
Viderſtandes aufgab, da mußte es zuſammenbrechen. Der Zarismus iſt jetzt tot. 
Sein erobernder Geiſt lebt fort. Wohl hat ſich Rußland der ziviliſatoriſchen 
Aufgabe verſagen müſſen, als Dampfwalze niederdrückend und zermalmend über 
Deutſchland dahinzurollen; es mußte ſich in feinen innerſten Kern zurückziehen. 
Großrußland zu retten, darauf kam es zuletzt allein noch an. Zetzt ſehen wir einen 
verkrüppelten Staat, ausgeſchloſſen vom Gelben und Schwarzen Meer, zurüd- 
gedrängt von der Oſtſee. Karls XII. Abſicht iſt es geweſen, die Ukraine von Ruß 
land loszutrennen und durch eine Barriere ſelbſtändiger Staaten Europa vor dem 
ruſſiſchen Weſen zu retten. Damals verſagte Mazeppa im entſcheidenden Augen- 
blick. Heute, nach 200 Jahren, iſt ſeine Abſicht in Erfüllung gegangen. Was die 
ſchwediſche Großmachtspolitik vor 1718 nicht erreicht hatte, iſt der deutſchen von 
1918 beſchieden.. 

Die Gefahr ift zunächſt vorüber. Der Verluſt von Kohlen und Eifen wird 
Rußland für einige Zeit lähmen; aber ſein Expanſionsdrang wird fort— 
beſtehen. Oer Charakter eines Volkes ändert ſich nicht mit feiner Verfaſſung. Das 
Fenſter nach dem Weſten wird auch fernerhin offen gehalten werden. Das haben 
die Finnländer in ihrem Freiheitskampfe ſchon jetzt erfahren und erfahren es noch. 
Der Ruſſe iſt feinem Weſen nach amorph. Er kann geformt werden. Er iſt ge- 
duldig und gelangt mit der Zeit ans Ziel. Er iſt gutmütig und verträglich. Wird er 
geſchlagen, jo ſagt er fein ‚Nitſchewo“, das tut nichts, und wartet die Zeit ab. Der 
alte Ruſſe bleibt mit ſeinen Fehlern und ſeinen Verdienſten. Wenn ſie von 
Freiheit ſprechen, ſo meinen ſie die ruſſiſche, unter der die andern in 
Eifen geſchmiedet werden. Die Heilige Mutter Rußland bleibt, für die fie 
ſich ſchlagen. Der Ausdehnungsgedanke hat die Kraft einer Religion. 
Die öffentliche Meinung in Rußland wird überzeugt fein, daß mangelhafte Unter- 
ſtützung durch die Freunde die Schuld an dem jetzigen Mißlingen trug. Durch den 


2 Fe td 


278 Tuürmers Tagebuch 


äußeren und inneren Staatsbankerott iſt die finanzielle Lage Rußlands gegen früher 
gebeſſert. Die franzöſiſchen 20 Milliarden drücken nicht mehr. Man kann von 
neuem anfangen. Die ruſſiſchen Wunden heilen ſchneller als die von 
Völkern höherer Kultur. 

Zetzt weiß Rußland, was ihm fehlt. Mit dem Ergebnis des Krieges wird es 
ſich nicht begnügen. Rußland ſteht — Hedin benutzte damit ein geographiſches 
Gleichnis — am Anfang eines neuen Kreiſes feiner Entwicklung. Der alles ni- 
vellierende Schlamm der Revolution breitet ſich über das ganze Land, neue Kräfte 
werden neue Formen ſchaffen. Das Chaos iſt da, eine neue Ordnung muß 
eintreten. Wohl fehlen Kohle und Eiſen; man kann ſie importieren. Die Führer 
fehlen; auch die kann man einführen, wie zu Ruriks Zeiten. Wann, fragte Hedin, 
wird aufs neue ein Zar feine Ukaſe über das Land hinausſenden? Oer Zeit- 
punkt dürfte ſo weit entfernt nicht ſein. Rußland braucht einen ſtarken Führer. 
In den Händen Lenins und Trotzkis kann es nicht erſtehen. Es zerfällt. 

Moskau wird der Kern für eine neue Feſtigung des neuen Rußlands wet- 
den. Und dieſes wird ſich des Vergeſſens bei feinen Nachbarn erinnern, 
wird wieder auf ihre politiſchen Parteikämpfe, auf ihren demokrati— 
ſchen Leichtſinn bauen, wird darauf rechnen, daß ſie nichts aus der 
Geſchichte lernen wollen, und wird warten, warten, bis die Nachbarn mürbe 
geworden find. Rußland braucht nicht zu fürchten, daß es allein ſtehen wird. Eng; 
land und Amerika greifen den Bolſchewiki ſchon jetzt unter die Arme. 
Finnland weiß, um was es ſich handelt. England wird weiter dafür ſorgen, 
daß Rußlands Kraft ſich gegen den Weſten richtet. Es wird ſie, wie 
feine Bemühungen jetzt ſchon in Eſtland zeigen, immer als Gegen- 
gewicht gegen Oeutſchland gebrauchen. Sich ſelbſt hält es dabei klug die 
Slawen vom Leibe. Sollte die ruſſiſche Entwicklung ſich gegen den Südoſten 
richten, ſo würde man andere Töne von England hören. Es hat ſeine Hand nicht 
umſonſt auf Perſien gelegt, hat Meſopotamien erobert. Dieſe Schritte hat es 
gegen Deutſchland und Rußland zugleich getan. 

Rußland vor dem Beginne eines neuen Kreislaufs, wie zu Ruriks Zeiten, 
im Chaos. Bleibt alſo die Frage, woher die Ordnung der neuen Zeit kommt. 
Wird ſich der deutſche Gedanke und Wille mächtiger erweiſen oder der engliſche 
Drang zur Beherrſchung des einſt ſo gefürchteten Koloſſes? Die Entſcheidungen 
reifen heran. Auf dem Boden Flanderns ſteigt das neue Zeitalter empor. Wie 
wird es ausſehen? „Auf dem Grunde der Kriegsgeſchichte findet ſich die Erkennt- 
nis, wie alles gekommen iſt, wie es kommen mußte und wie es wieder kommen 
wird.“ So ſagte Schlieffen einmal in einer Rede auf Moltke. Wer die ruſſiſche 
Geſchichte überblickt, weiß, wie wahr dieſes Wort iſt.“ 

Das iſt die ernſte, nicht zu überhörende Warnung eines Mannes, der es ſo 
ehrlich mit Deutfchland meint, wie mit feinem ſchwediſchen Volke. Eines klugen 
und erfahrenen Mannes, von dem auch unſere zünftigen Staatsmänner und 
Politiker über die Zielſtrebigkeiten der ruſſiſchen Geſchichte und die Impondera⸗ 
bilien der ruſſiſchen Volksſeele vieles lernen könnten. Aber das ruſſiſche Pro- 
blem läßt ſich aus dem geſamtſlawiſchen nicht künſtlich herausſchneiden und 
durch am grünen Tiſch zurechtgemachte „ſtaatsmänniſche“ Theorien, die man 


Zürmers Tagebuch R 279 


dann noch gar als „Realpolitit“ zu verſchleißen unternimmt, mit noch fo „unnach⸗ 
‚abmlichen Griffen“ meiſtern. Zwiſchen dem imperialiſtiſch-panſlawiſtiſchen Erobe- 
tungsgedanten der Ruſſen, den Abſonderungsbeſtrebungen der Tſchechen und 
Südflawen in Öfterreih, den Großmachtplänen der Polen in Rußland, Öfter- 
reich und Preußen mit den berühmten „hiſtoriſchen Grenzen“ beſteht ein tiefer 
innerer Zuſammenhang, der ſich auf das Gemeinſchaftsgefühl der Rajfe, des 
Blutes gründet. Das will dem Reichsdeutſchen zwar nicht oder nur ſchwer ein- 
gehen, bleibt darum aber nicht weniger wahr. Zit es doch gar nicht fo lange her, 
daß der Oeutſche nicht einmal den Oeutſchen ſchlechthin gelten ließ, nur Preußen, 
Sachſen, Heſſen, Bayern uſw. kannte, und daß „die gefährliche Lehre von der 
Einheit Oeutſchlands“ von Obrigkeits wegen mit Feuer und Schwert verfolgt 
und unterdrückt wurde. — Wenn fie einmal vor der Erfüllung ihrer Wünſche ftän- 
den, dann freilich würden die ſlawiſchen Brüder wohl übereinander herfallen und 
ein wütendes Raufen unter ihnen anheben. Aber erſt dann: erſt müßte deutſches 
Land und Volk geopfert werden, bis dahin bleibt das Gemeinſchaftsgefühl des 
Slawentums herrſchend. 

In Oſterreich ſcheint man ja nun, in allerletzter Stunde, der Not gehorchend, 
feſter zugreifen zu wollen. Was man an Einzelheiten über die dort ergriffenen 
Maßnahmen zu hören bekommt, klingt ja ſoweit recht erfreulich. Aber man wird 
auf alle Fälle gut tun, erſt abzuwarten, was an grundſätzlichen, realen Sicherungen 
des deutſchen Volkes in Sſterreich geſchieht. Wir im Reiche und unſere Brüder 
jenſeits unſerer politiſchen Grenzpfähle ſind ja von Wien ſo wenig verwöhnt, daß 
es menſchlich allenfalls begreiflich iſt, wenn wir ſchließlich auch über das Gelbitver- 
ſtändliche, das von dorther ſchon aus reinem ſtaatlichen und monarchiſchen Selbſt- 
erhaltungstriebe unternommen wird, vor Freuden ſchier aus dem Häuschen ge- 
raten. Wir dürfen aber nicht vergeſſen, daß es in Oſterreich an guten Worten für 
die Deutjchen nie gemangelt hat, wenn das Schiff der Monarchie zu kentern drohte 
und ſich keinen anderen Rat wußte, als eben den Opferwillen, die nie ver- 
ſagende Treue und Hilfe der Oeutſchen, die ja tatſächlich und in des Wortes er- 
ſchöpfender Bedeutung das ganze öſterreichiſche Staatsgefüge noch zufammen- 
halten. Sobald dann die Lebensgefahr abgewendet worden war, wurden dieſe 
Deutſchen den liebenswürdigen „Nationalitäten“ geopfert. Denn die forderten nur 
und opferten nichts, die Deutſchen aber opferten nur und forderten nichts. Man 
braucht nicht nachtragend zu ſein und darf darum doch die Vorzüge eines guten 
Gedächtniſſes nicht unterſchätzen. Über der Pflicht des Opferns ſteht völkiſch 
die Pflicht des Erhaltens. Ein Volk aber hat überhaupt nicht das Recht, ſich 
zu opfern, es ſei denn im Kampfe um ſein eigenes Oaſein, ſeine eigene Freiheit 
und Würde. Denn es hat unter den anderen Völkern ſeine beſondere gottgewollte 
Beſtimmung und Sendung. Wo ſtänden wir heute, oder — umgekehrt — wo 
ſtänden die Ruſſen, Franzoſen, Engländer, Italiener heute, wenn das 
deutſche Volk in Sſterreich nicht geweſen wäre und der Monarchie 
die Zielrichtung und den Zuſammenhalt gegeben hätte? Wo anders 
denn, als in Berlin und Wien? Vergeßt das nicht! 


up 


Schleichendes 8 


Erre wirkungsvolle „politiſche Offen- 
ſive“ fordert die „Kreuzzeitung“ von 
der Reichsregierung: „Die deutſche öffent- 
liche Meinung hat bisher in der Behandlung 
der Kriegszielfrage eine derartige Zerſplitte- 
rung und Vielſeitigkeit gezeigt, die der kon- 
ſtruktiven Begabung der Kriegszielpolitiker 
alle Ehre macht, aber zu einer gefährlichen 
Zerrüttung der inneren Einheit geführt hat, 
die die Programmloſigkeit der Regie- 
rung doppelt ſchuldig ſpricht. Die Ein- 
ſicht, daß es dem Feind leicht iſt, aus dieſem 
Chaos Vorteile zu ziehen, müßte längſt der 
Regierung die Pflicht zur Führung 
dringlicher gemacht haben. Alles wartet mit 
großem Vertrauen, aber mit einer durch die 
amtliche politiſche Tatenloſigkeit doppelt er- 
regten Spannung auf den Fortgang der 
militäriſchen Ereigniſſe, ohne zu wiſſen, 
wie, und mit dem leicht bereiten Zweifel, ob 
die Erfolge auf dem Kriegsſchauplatz poli- 
tiſch ausgenutzt werden. 

Es iſt dieſes ſchleichende Bethmann— 
gift, das noch immer den Willen zu klarem 
großangelegten Zupacken lähmt und in be- 
ſchwichtigender Kuliſſenpolitik weiterfrißt. 
Auch die ganze geheimnisvolle Legenden- 
bildung über die Diſſonanzen zwiſchen Ober- 
ſter Heeresleitung und Reichsleitung und das 
mißtrauifche Überwachen ihrer Zuſtändig keiten 
hat hier ihren Urſprung. Wir brauchen aber 
die Einheit beider, d. h. ihre Arbeit muß 
gleichwertig ſein. Weiß die Reichsleitung 
nicht, daß das Volk wiſſen . wohin 
der Weg führt?“ 


2 


Kein Frieden ohne Rohſtoffe! 


n der „Voſſ. Ztg.“ ſchreibt Konteradmiral 
Kalau vom Hofe: 
„Kommt man einmal zu dem Schluß, daß 


„wir nach Eintritt des Waffenſtillſtandes unfere 


Induſtrie nicht genügend beſchäftigen können 
und daß wir auch keine praktiſche Sicherheit 
haben, daß in den erſten Friedensjahren ge- 
nügende RNohſtoffmengen zu vernünftigen 
Preiſen in unſere Häfen gelangen werden, ſo 
iſt es Pflicht, dafür zu ſorgen, daß vor Ein- 
tritt des Vaffenſtillſtandes von England 
die Rohſtoffe geliefert oder zugelaſſen wer⸗ 
den, die zur Umſchaltung unſerer Kriegsindu⸗ 
ſtrie auf den Friedensbetrieb notwendig find, 
und daß vor Fried ensſchluß mindeſtens ein 
voller Zahresbedarf an all den Einfuhrartikeln 
nach den Handelsverhältniffen vom Zahr 1913 
zur Stelle iſt. Dies muß um fo dringender ge 
fordert werden, als es bekannt iſt, daß Eng; 
land im ſtillen überall auf die Haupt- 
rohſtoffartikel in dieſer oder jener Form 
auf Jahre hinaus die Hand gelegt hat 
und wir, wahrſcheinlich aber auch die Neu 
tralen und Englands bisherige Bundesbrüder, 
ohne ſeinen Willen davon nichts bekommen 
werden, da es gerade auf dieſe Weiſe noch 
hofft, die Vorteile in Handel und Znduſtrie 
ſich zu ſichern, die es während des Krieges, 
wo das Geſchäft nicht ‚wie gewöhnlich“ ging, 
nicht einbringen konnte.“ 


Die beiden Erzberger 


ch habe unſere Kraft nie unterſchätzt, vor 
allem auch nie verfucht, fie dadurch 
Hein zu machen, daß ich fie im Nebelgemölt 


Auf der Warte 


kraftmeieriſcher Schlagwörter untergehen 
ließ“, erklart der Herr Erzberger vom wunder- 
ſchͤnen Monat Mai 1918 ſtolz und kühn in 
der „Germania“. Oer Erzberger von Ende 
Oktober 1914 aber ſchrieb in der „Allgemeinen 
Kundſchau“: „England ſei am Kriege ſchuld, 
es habe den Krieg gewollt. Englands Macht 
und brutale Gewaltherrſchaft muß gebrochen 
werden, es koſte, was es wolle... Zwei Fra- 


gen rein militäriſcher Art werden über die ® 


künftige Seſtaltung Belgiens allein die Ent- 
ſcheidung geben können, und kein Unken 
tuf (ID) und keine berufene oder unberu- 
fene Diplomatie wird gegenüber dieſen 
Rernfragen ins Gewicht fallen können. Die 
erſte Frage geht dahin, daß unter allen Am- 
ſtänden ſichergeſtellt werden muß, daß 
wir an unſerer weſtlichen Grenze in Zu- 
kunft keinen angeblich neutralen Staat 
dulden können, der zum Spielball uns 


feindlicher Mächte wird, und die zweite 


Frage lautet: Wie ſichern wir uns gegen- 
über Eng land die freie Durchfahrt durch den 
Kanal? . . . Es ſoll vielmehr nur geſagt wer- 
den, daß unter dem Geſichtspunkte der mili- 
täriſchen Sicherung unſeres Volkes das 
künftige Schickſal Belgiens ganz allein 
entſchieden werden darf. .. . Nicht das Schid- 
ſal Belgiens iſt es, das in erſter Linie hierbei 
in Betracht kommt, ſondern die Zukunft 
Deutſchlands hat das entſcheidende 
Wort zu ſprechen ... Darum kann das 
Schickſal Belgiens von Deutfchland nur () 
unter dem einen Geſichtspunkte beurteilt 
werden: Wie iſt das heute in unſerm Beſitz 
befindliche Belgien künftig als ſchärfſte 
Schutz- und Trutzwaffe gegen England 
zu geſtalten? .. . Das Schwert iſt gezogen 
und das Schwert allein muß auch ent- 
ſcheid en über Belgiens künftiges Schid- 
ſal.“ — Im Reichstage 1918: Man müſſe 
unter allen Umftänden Belgien wieder- 
herſtellen, denn es ſei „der Liebling der 
Welt“. Nebenher: Welche widerliche dema- 
gogiſche Kriecherei! 


Als ganz beſonders unſittlich brandmarkt 


der Erzberger von Ende Mai 1918 („Ger- 
mania“) den Gedanken: Derartige Opfer wie 
in dieſem Kriege dürften nicht umſonſt ge- 


281 


bracht worden ſein. — Der Erzberger vom 
Herbſt 1914: „Englands Macht- und brutale 
Gewaltherrſchaft muß gebrochen werden, koſte 
es, was es wolle. Dieſer Kampfpreis (9) 
allein rechtfertigt alle die hohen Werte, die 
in dieſem Kriege geopfert werden müf- 
ſen .. . Nie und nimmer hat der Kaiſer ſich 
verbürgt, daß die Grenzen des Reiches nicht 
geändert werden ſollen. Nie und nimmer hat 
der Kaiſer ſein Wort dazu gegeben, daß die 
europäiſche Weltherrſchaft nach dieſem blu- 
tigen Kriege ebenſo ausſehen werde wie vor 
demſelben. Man darf noch mehr ſagen: Nie- 
mand im deutſchen Volke würde es ver⸗ 
ſtehen, wenn auf die heutigen ſchweren 
Opfer nicht ein Siegespreis (!) kommen 
würde, der dieſe Opfer in etwas lohnt, 


und lediglich () von dieſem Geſichts- 


punkt aus betrachtet das deutſche Volk das 
Schickſal Belgiens.“ Mit dieſer Politik des 
Erzberger von 1914 geht der Erzberger von 
1918 auf das grauſamſte ins Gericht. Es iſt 
ſchon faſt ein Juſtiz- oder — Selbſtmord: 
„Dieſe Kriegszielpolitik werde ich immer und 
bei jeder Gelegenheit mit allem Nachdrucke 
bekämpfen, da ich fie als ein Unglück in 
erſter Linie für Oeutſchland, dann für die 
Welt und für das Chriſtentum anſehe.“ 
Der Gedanke eines Siegespreiſes für die 
Kriegsopfer ſei ein „erſchütternder Ausdruck 
für das Maß, bis zu welchem die Materiali- 
ſierung aller Werte in dem Bewußtſein der 
Menſchen gedeihen kann“. | 
Es ift in der Tat ein „erſchütterndes“ 
Schauſpiel, wie ſich die beiden Erzberger in 
den Haaren liegen und gegenſeitig abwürgen. 
Aber ſind es ihrer nur zwei? — Das iſt der 
Fluch des allzu Vielſeitigen und Geſchäftigen, 
daß feſt jede neue Kundgebung Erzbergers 
fortzeugend neue Erzberger muß gebären. 
Man wird die vielen, um ſie fein ſäuberlich 
auseinanderzuhalten, — numerieren müjfen. 
Gr. 


Erzberger und die katholiſchen 


Intereſſen 
ei aller Milde und Schonung für den 
Glaubens- und Parteigenoſſen erhebt 
Rechtsanwalt Ruß (Worms) in der „Rölni- 


282 


Shen Volkszeitung“ die ſchwere Anklage 
gegen Erzberger, daß er ein Schädiger nicht 
nur der vaterländifchen, ſondern auch der 
katholiſchen Intereſſen ſei: | 

„Oer Weltkrieg hatte mit den vielen krän⸗ 
kenden Vorurteilen gegen uns deutſche Katho⸗ 
liten gründlich aufgeräumt. Die große, ſtrenge 
Schule der Prüfung und Bewährung hat den 
andersgläubigen Mitbürgern endlich Gelegen; 
heit gegeben, an den vaterländifchen Taten 
und Opfern der deutſchen Katholiken die Un- 
gerechtigkeit der Anzweifelung ihrer natio- 
nalen Zuverläſſigkeit zu ermeſſen. 

Da platzen in dieſe geſchichtliche Recht- 
fertigungsperiode der deutschen Katholiken 
die ſog. Fälle Erzberger hinein. Wir ſind 
weit davon entfernt, zu behaupten, daß der 
Abgeordnete Erzberger bewußt und abficht- 
lich dieſe Annäherung unterbrechen will oder 
auch nur dieſe Folge richtig erkennt; aber es 
muß offen herausgeſagt werden, daß die Wir- 
kung ſeiner vielſeitigen, unruhigen und allzu 
geſchäftigen Tätigkeit leider ſehr leicht zu 
einer uns deutſchen Katholiken nachteiligen 
Anzweifelung unſerer vaterländ iſchen Kre- 
ditwürdig keit führt oder führen kann. Tat- 
ſächlich hören wir ja auch ſchon wieder Auße⸗ 
rungen wie die: „Da ſieht man wieder, daß 
die Katholiken bei uns nicht national ſicher 
ſind. Ihr Abgeordneter Erzberger führt 
das große Wort nicht im Sinne Deutſchlands 
und des deutſchen Sieges, ſondern im Sinne 
der ſchwarzen Internationale“; oder: ‚Die 
Katholiken in Oeutſchland find in nationalen 
Dingen trotz alledem mit Vorſicht zu behan⸗ 
deln, das beweiſt wieder ihr Führer Erz- 
berger“ 

Nur mit vieler Mühe, durch das Blut, den 
bitteren Schweiß, die Tränen und große Opfer 
unſerer Glaubensgenoſſen, durch die innigſte 
Kampf- und Leidensgemeinſchaft mit den 
übrigen deutſchen Brüdern und Schweſtern 
iſt es uns endlich gelungen, die ſo lange und 
hartnäckig in Zweifel gezogene vaterländifche 
Haltung und Größe des katholiſchen Volks- 
teils in Deutfchland fo ſicherzuſtellen, daß wir 
es nicht mehr nötig haben, auf unſere natio- 
nale Geſinnung immer wieder hinzuweiſen. 
Wir ſind demgegenüber beunruhigt und emp- 


® 


Auf der Warte 
finden es bitter, daß ein an hervorragender 
Stelle ſtehender parlamentariſcher Vertreter 
der deutſchen Katholiken ſtörend in dieſe der 
Kirche und dem Vaterlande nützliche Ent- 
wickelung eingreift.“ 


Die „Norddeutſche Allgemeine 
bittet um Verzeihung 


ie bekannt, wird in einem Anhängſel 

an den deutſch-rumäniſchen Friedens- 

vertrag beſtimmt, daß wir nun doch einen ge⸗ 
wiſſen, beſcheiden verklauſulierten und noch 
beſcheidener formulierten Schadenerſatz von 
Rumänien erhalten ſollen. Darob tiefge⸗ 
fühltes Bedürfnis der „Norddeutſchen All- 
gemeinen“, ſich vor der Reichstagsmehtheit 
zu verantworten und zu rechtfertigen; Bruder 
Studio würde jagen: ſich herauszupauken und 
wieder bierehrlich zu machen. Man werde, 
ſtammelt das Blatt des deutſchen Auswärti⸗ 
gen Amtes mit verlegenem Räufpern, in die 
fen Beſtimmungen „an gewiſſen Stellen“ eine 
indirekte Kriegsentſchädigung, die Ru- 
mänien auferlegt worden iſt, erblicken. „Aber 
abgeſehen davon, daß ſich der Erſatz dieſer 
Kriegsſchäden durchaus mit den Regeln des 
Völkerrechtes verträgt, wird man ſich gegen 
eine derartige Deutung der Beſtim- 
mungen nicht allzu heftig zu wehren 
brauchen. Man wird es im Gegenteil wohl 
ziemlich allgemein als der Sachlage durch; 
aus entſprechend finden, daß wir den Erſatz 
unſerer Schäden bis auf den letzten Pfennig 
von den Rumänen verlangen, es aber ab- 
lehnen müſſen, ihnen unſerſeits die Schäden 
zu erſetzen, die bei unſerem Feldzuge ent- 
ſtanden ſind. Eine internationale Kommiſſion, 
die zu gleichen Teilen aus Rumänen, Oeut⸗ 
ſchen und Angehörigen neutraler Staaten zu⸗ 
ſammengeſetzt ſein wird, wird über die Höhe der 
zu erſetzenden Schäden zu entſcheiden haben.“ 
Die Art, in der die „Nordd. Allg. Ztg.“ 
von der Kriegsentſchädigung ſpricht, gibt ihr 
die „Tägliche Rundſchau“ zu verſtehen, iſt 
zum mindeſten originell. Es wird zugeftan- 
den, daß wir eine Entſchädigung erhalten, 
und dabei muß der Verzichtsmehrheit des 
Reichstages gut zugeredet werden, daß ſie 


Auf der Warte 


ſich damit abfinde und ſich „nicht allzu hef- 
tig wehren“ folle gegen dieſes „Unglüd“, 
das dem Oeutſchen Reiche geſchieht. Es iſt 
für die Anhänger der Reſolution des Reichs- 
tages, die einen ent ſchäd ig ungsloſen Frie- 
den verlangten, charakteriſtiſch, daß man von 
ihnen erwartet, fie würden ſich „heftig“ da- 
gegen wehren, daß das Deutſche Reich ſeine 
Aufwendungen für Rumänien wiedererſtattet 
ethält und ſomit nicht das deutſche Volk die 
Koſten des rumäniſchen Feldzuges auch noch 
bezahlen muß. Die deutſchen Hüter der inter- 
nationalen Verſtändigung erſcheinen in die- 
ſem Lichte faſt als Gegner des deutſchen 
Volkes, wenn man ſie erſt bitten muß, 
daß ſie ſich gegen das rumäniſche Geld nicht 
wehren bzw. „nicht allzu heftig“ wehren 
ſollen! So erfreulich die rumäniſche Ent- 
ſchädigung iſt, jo bleibt es dennoch un- 
verſtänd lich — oder iſt eben nur mit der 
Ruͤckicht auf die Reichstagsmehrheit zu er- 
klären —, daß man es bei den Bukareſter 
Verhandlungen nicht gewagt hat, im Haupt- 
vertrage mit Rumänien klipp und klar eine 
Kriegsentſchädigung feſtzuſetzen, wozu wir als 
Sieger ein Anrecht gehabt hätten. Wenn es, 
um mit der „Nordd. Allg. Ztg.“ zu ſprechen, 
„wohl ziemlich allgemein als der Sachlage 
durchaus entſprechend gilt“, daß wir den Er- 
ſatz unſerer Schäden „bis auf den letzten 
Pfennig von den Rumänen verlangen“, dann 
brauchte man nicht die rumäniſche Kriegs- 
entſchädigung hintenherum in den Zujaß- 
vertrag verklauſuliert hineinzuarbeiten und 
im Hauptvertrag das Gegenteil zu fagen, fon- 
dern man mußte ehrlich genug ſein, von 
vornherein die Dinge beim rechten 
Namen zu nennen, und die Summe, die 
in Frage kommt und die auf etwa 4½ Milliar- 
den geſchätzt wird, im Vertrage feſtſetzen, zu- 
mal der Verzicht auf eine Entſchädigung durch 
das reiche Rumänien ein un entſchuldbarer 
Fehler geweſen wäre, der zur allerſchärfſten 
Kritik herausgefordert hätte. 

Jedenfalls erweckt die Form, in der die 
„Nordd. Allg. Ztg.“, das Blatt der Regierung, 
die Sache anfaßt und mundgerecht macht, 
den Eindruck trauriger Entſchuldigung, der 
Bitte um Nachſicht an die Mehrheit und die 


285 


Rumänen: Verzeiht, daß wir den Rumänen 
etwas abverlangt haben, und daß wir den 
Rumänen keine Kriegsentſchädigung gezahlt 
haben. Glaubt man, daß eine ſolche Politik 
im Auslande und bei den geſchlagenen Geg- 
nern den Eindruck unſerer Kraft erhöht? Daß 
man uns nicht vielmehr verachtet, wenn wir 
Erfolge für uns einbringen, als hätten wir 
dabei etwas Unehrenhaftes, etwas Schlimmes 
getan, deſſen man ſich ſchämen müßte? 


Eine Glanzleiſtung! 


f ie oft ſchon, angeſichts deutſcher politi- 
ſcher Unbegreiflichkeiten, Narren- 
ſtreiche und Unterlaſſungsſünden — von 
Schlimmerem nicht zu reden — haben wir, 
mehr oder minder überzeugt, ausgerufen: 
„Höher geht's nimmer!“ Und doch —: es 
ging und geht immer noch höher! Zetzt 
(31. Mai) werden von Lutz Korodi in der 
„Täglichen Rundſchau“ folgende Tatſachen 
weiteren Kreiſen bekanntgegeben: „Schon 
im April vorigen Jahres hatten achtenswerte 
rumäniſche Perſönlichkeiten, die ſich drüben 
uneingeſchränkten Anſehens erfreuen und die 
uns immer ſehr wohlgeſinnt waren, in Wien 
und in Berlin Fühler ausgeſtreckt, ob 
man hier nicht eine Bewegung in rumänifchen 
Landen unterſtützen oder wenigſtens dulden 
wolle, die auf Beſeitigung des herunter- 
gekommenen und ganz in den Klauen 
der Entente befindlichen Herrſcher- 
hauſes abzielte. In Wien zog man die 
Vertrauensmänner hin, in Berlin verhielt 
man ſich kühl und unzugänglich. Graf Ezer- 
nin wollte ſich nicht feſtlegen, und Herrn 
v. Bethmann erſchien das Unternehmen 
offenbar zu gewagt, obwohl es ſich zunächft 
nur darum handelte, einer Stimmung, die 
im rumäniſchen Volk nach den Erfahrun- 
gen des unglücklichen Krieges guten Boden 
hatte, freien Lauf zu laſſen. Das ent- 
ſchiedene Zugreifen war aber nun einmal 
dem politiſchen Charakter des damaligen 
Reichskanzlers nicht angemeſſen. Sein Nach- 
folger ſchien dafür etwas mehr Verſtändnis 
zu haben; Michaelis duldete wenigſtens 
das Erſcheinen des Blattes Lumina“, in dem 


284 


die natürliche Verknüpfung unſerer mit den 
sumänifhen Belangen geſchickt vertreten 
wurde. Die Gegner der rumäniſchen Oynaſtie 
hatten offenbar die Abſicht, im gegebenen 
Augenblick das Volk zu Worte kommen zu 
laſſen und auf dieſe zwang loſe Weiſe das 
wohlverdiente Ende dieſer mißratenen und 
überfälligen Geſellſchaft herbeizuführen. Lei- 
der iſt dieſe Bewegung, die nach dem Urteil 
aller Landeskundigen ganz von ſelbſt hübſch 
in Fluß gekommen wäre, dadurch zum min- 
deſten ſtark verlangſamt worden, daß der von 
Rechts und Geſchichts wegen erledigte König 
Ferdinand von Czernins Gnaden ver- 
handlungsfähig gemacht wurde. So er— 
leben wir das widernatürliche Schauſpiel, daß 
dieſer Fürſt, vielmehr feine betriebſame Gat- 
tin, luſtig weiterregiert, im Vollgenuß des 
Vertrauens ihrerengliſch-franzöſiſchen 
Auftraggeber und unter wohlwollender 
Förderung der Vielverbandsgeſandten in 
Bukareſt und Zajfy als völkerrechtlich inftallier- 
ten Spionen, — um die nächſte paſſende Ge- 
legenheit abzuwarten, wo wir nach allen 
Regeln der Bauernfängerkunſt am erfolgreich- 
ſten um die Ohren gehauen werden.“ 

Eine Glanzleiſtung! Wer erkennt hier 
nicht den Abgott unſerer Philipp Scheide 
mann und Theodor Wolff mit ihrer ganzen 
mehr oder weniger „vornehm“ aufgemachten 
Sippe? Ihren „großen, führenden Staats- 
mann“, der, obſchon ſelbſt auf Krücken daher⸗ 
humpelnd, keinen Schritt tun konnte, ohne 
von anderen geführt zu werden — war's 
nicht ein Graf Czernin, nahm er auch mit einem 
Erzberger, Scheidemann oder Theodor Wolff 
fürlieb. — Noch, hofft Korodi, ſei es vielleicht 
nicht zu ſpät, um dies böſe Verluſtkonto 
durch behutſames Vorgehen wettzumachen: 

„Die diplomatiſche Geſchichte Rumäniens 
während der letzten vierthalb Fahre bietet ge- 
wiß in ihren Akten die wunderbarſten 
Handhaben zu einer gelegentlichen Aus- 
einanderſetzung mit dieſen Schuldigſten des 
rumãniſchen Krieges, ſobald etwa von ſeiten 
des rumäniſchen Volkes Anregung dazu ge- 
geben wird. Mag man nur die gekennzeich- 
nete Volksſtimmung unter dem Orucke des 
für Rumänien in feinen wirtſchaftlichen Wir- 


Auf der Warte 


kungen immerhin wenig erbaulichen Friedens 
ſich ruhig weiter entwickeln laſſen! Hemmen 
wir aber dieſe Entwicklung künſtlich, dann 
werden wir dieſen Fehler in kürzeſter Friſt 
hundert und tauſendfach bezahlen. 
Neue und immer neu Blutopfer zu bringen, 
ſind wir ja gewohnt; ob es jedoch gerade not- 
wendig wäre, genau an der Stelle, wo wir 
eben ein verheerendes Feuer gelöfcht haben, 
einen neuen Brandherd errichten zu laſſen, 
dürfte dem ſchlichten Bürger nicht ſo ohne 
weiteres einleuchten. Und das fatalſte dabei 
wäre, daß wir uns verſichert halten könnten 
des grauſamſten Hohngelächters von 
Albion bis Monako!“ 

Ich fürchte: auch an das Hohngelächter 
haben wir uns gewöhnt. Wer dieſe vier 
Kriegsjahre mit offenen Sinnen im Reiche 
miterlebt, nicht nur an ſich hat vorüberziehen 
laffen, den wird jo leicht nichts mehr in Er- 
ſtaunen ſetzen oder aus der Faſſung bringen. 

| Gr. 


1. 


Die Großzüchtung der aus⸗ 
ländiſchen Hetze 


Ri ihrer Nummer vom 25. April ſagen 
die „N. Zürcher Nachrichten“, an einer 
gewiſſen ſchweizeriſchen Preſſegebarung gegen 
über Deutſchland hätten doch auch die reichs 
deutſchen Stellen eine beſtimmte Mitſchuld, 
„weil fie im Bundespalais [zu Bern] allzu- 
wenig hiergegen auftraten“. 

3a, aber du lieber Himmel, unter einer 
Bethmannſchen „ſtaatsmänniſchen Leitung“! 
Mir fällt bei der nur immer wieder ein, wie 
ich vor zwanzig Jahren zu Gaſt in einem 
fröhlichen Pfarrhaus in einer Thüringer 
Kleinſtadt ſaß. Die eine der Töchter warf 
lachend ein gebrauchtes Packpapier durchs 
offene Fenſter auf die Straße. — Na na, die 
Polizei kommt! — „Ach was, wenn's der 
Bürgermeiſter ſieht, der jagt doch höchſtens: 
Entſchuldigen Sie!“ . b. 


Auf ber Warte 


Verſchmähte Fügung 


N nur in erdichteten Geſchichten, auch 
im Buch der Geſchichte leſen wir immer 
wieder von der gerechten Fügung, die einen 
gemeinen oder falſchen Feind in die Hände 
feines Gegners gelangen läßt. Wir empfin- 
den das mit tiefer Befriedigung als Walten 
eines höheren Richters. Die Tragiker und 
Balladendichter der Weltliteratur haben ſolche 
Fälle immer wieder gefeiert. Unſere Zeit da- 
gegen ſcheint den Sinn für dieſes große Wal- 
ten der Weltgerechtigkeit verloren zu haben. 
Oder vielleicht iſt es nur unſere Staats klug⸗ 
heit, die von Weisheit fo fern iſt, die gerade 
dieſe „Zwangsläufigkeiten“ einer höheren 
Lenkung nicht wahrnehmen will, während ſie 
li denen ihrer eigenen Kurzſichtigkeit fo gern 
beugt. Das Volk empfindet ſicher anders. 
Da ift es unſerem Heere gelungen, den 
heimtüdifchen rumãniſchen Feind in die Knie 
zu zwingen. Es iſt nach allem anzunehmen, 
daß der größte Teil des rumäniſchen Volkes 
den Krieg gegen uns nicht gewollt hat. Einige 
üble Hetzer, die ränkeſüchtige Königin an der 
Spitze, haben den charakterloſen König zum 
derräteriſchen Überfall bewogen. In den 
Friedens verhandlungen iſt von alledem nichts 
geſagt. Tauſende Rumänen und, was mehr 
iſt, Tauſende von Deutſchen haben durch die 
Schuld dieſer Männer ihr Leben eingebüßt. 
Vo bleibt die Sühne für dieſe Meintat? Die 
Rumänen haben ſie offenbar als natürlich 
angeſehen: die ſchlimmſten Hetzer find ge- 
flohen, und vor den Friedens verhandlungen 
wurde angekündigt, daß der König den glei- 
chen Weg wählen wolle. Das Schickſal, nein, 
die Fügung hat es in unſere Hand gelegt, 
dieſe verbrecheriſchen Kriegshetzer zu ſtrafen. 
Für mein Empfinden machen wir uns der 
Ungerechtigkeit ſchuldig, wenn wir dieſen 
höheren Auftrag nicht erfüllen. Von der 
politiſchen Torheit eines ſolchen Verſäum- 
niſſes will ich ſchweigen. Die Hetzer werden 
naturlich in das Land zurückkehren und wie 
alle unbeſtraften Gauner doppelt frech ihr 
altes Handwerk wieder aufnehmen. Aber 
was ſoll das Volk, das rumäniſche wie das 
deutſche, denken, wenn dieſe mit großer Schuld 


285 


Beladenen ungeſtraft ausgehen, während die 


Schuldloſen fo ſchwer an dem durch fie ver- 


urſachten Leide zu tragen haben? 

Die Fügung hat uns in der Krim jene 
ruſſiſche Großfürſtenclique in die Hand ge- 
geben, die auf Deutſchlands Vernichtung hin- 
gearbeitet hat; fie brachte Nikolai Nikolaje- 
witſch, den Verwüſter Oſtpreußens, in unſere 
Gewalt. Ob der Sinn dieſes großen Ge- 
ſchehens wirklich darin liegt, daß wir dieſe 
Bande gegen die Bolſchewiſten ſchützen? Ob 
es nicht viel natürlicher wäre, den Herrn 
Nikolai irgendwo in einem engen Turm in 
Oſtpreußen einzuſperren? Unſere Preſſe, die 
ſich ſonſt ſo gern das Sprachrohr des Volkes 
nennt, hat ſich früher nicht genug tun können, 
gerade dieſe Männer und Frauen, die jetzt in 
unſerer Hand find, als Untäter zu brand- 
marken. Warum ſchweigt ſie jetzt? Man rede 
doch nicht von Edelmut! Der mag edlen 
Gegnern gegenüber angebracht ſein. Und 
davon abgeſehen: die Gerechtigkeit iſt das 
Fundament der Herrſchaft. K. St. 


„Kramarſch ausgewieſen!“ 


lingt das nicht wie ein Trompetenſtoß d 

Klingt das nicht ſo, als ob die Wiener 
Regierung dem gerichtlich überführten und 
verurteilten, dann aber begnadigten Hoch- 
verräter nun wirklich ernhaft an den Kragen 
gehen wolle? Kopfſchüttelnd ob fo erſtaunlich 
ſchneidigem, wider alle bisherige Übung ver- 
ſtoßendem Vorgehen lieſt man die Wiener Mel- 
dung: „Dr. Kramarſch wurde von der Pollzei 
auf unbeſtimmte Zeit aus Prag ausgewieſen.“ 
Aber unmittelbar darauf folgt der beruhi- 
gende Satz: „Er hält ſich gegenwärtig in 
einem kleinen Orte bei Prag auf.“ Alſo 
kein Grund zur Aufregung. Kramarſch bleibt 
Kramarſch und in der Mitte ſeiner Lieben 
und Getreuen. 

Kramarſch war der Organiſator und die 
Seele der jüngſten hoch verräteriſchen Rund- 
gebungen in Prag gegen den öſterreichiſchen 
Staat und für die mit der Monarchie im 
Kriege liegenden feindlichen Staaten. Zit 
ſchon feine Begnadigung wegen feiner frühe 
ren Verbrechen nicht mehr rüdgängig und 


286 


gutzumachen, fo drückten die Prager Vor- 
gänge der Regierung die untadeligſten Rechts 
mittel förmlich in die Hand, ihn wegen diefer 
neuen hoch- und landes verräteriſchen Hand- 
lungen zur Rechenſchaft zu ziehen und in Ge- 
wahrſam zu nehmen. Aber Kramarſch bleibt 
Kramarſch, geht feinem Berufe als Hoch- 
verräter in Freiheit und Frieden weiter 
nach —: durch Huld geheiligt. 

Wenn das die von unbelehrbar harm- 
loſen Oeutſchen bejubelte „neue Ara“ be- 
zeichnen ſoll, das „ſcharfe Vorgehen gegen 
die ſtaatsverräteriſchen Umtriebe“, dann täten 
unfere deutſchen Brüder in Oſterreich wohl 
daran, ſich jeden weiteren Aufwand zu jpa- 
ren und allein auf ſich ſelbſt, ihr eigenes Volks 
tum und ihre eigene Kraft zu ſtellen. Die 
Tſchechen waren ſich denn auch keinen Augen- 
blick im Zweifel, wie fie ſolche forſchen An- 
kündigungen zu nehmen haben. Der Tſchechen⸗ 
klub nahm in einer Vollverſammlung in Prag 
eine Einſpruchsentſchließung gegeneine Ver- 
tiefung der Waffenbrüderſchaftmitdem 
Oeutſchen Reiche an. Eines muß man den 
Tſchechen laſſen: ſie wiſſen, was fie wollen, und 
wiſſen auch die Mittel zu gebrauchen. Gr. 

* 


Livlands und Eſtlands Selbſt⸗ 
beſtimmungsrecht 


ie Gegenerklärung des Berliner Ge- 

ſandten der ruſſiſchen Republik, Joffe, 
auf die Unabhängigkeitserklärung Livlands 
und Eſt lands wird von baltiſcher Seite durch 
Gründe entkräftet, deren Rechtmäßigkeit und 
klare Logik es faſt unbegreiflich erſcheinen laj- 
ſen, daß darüber in deutſchen Kreiſen noch 
irgendwelche ſachlichen Meinungsverſchieden- 
heiten beſtehen können: 

Herr Joffe geht jo weit, den Lidländern 
und Eſtländern vorſchreiben zu wollen, in 
welcher Weiſe fie ihre inneren Angelegen- 
heiten ordnen ſollen. Dem kann nur in 
ſchärfſter Weiſe widerſprochen werden, denn 
in der Geſamtbevölkerung beider Länder be- 
ſteht der Wunſch, ihre politiſchen Angelegen- 
heiten unabhängig von fremder Einmiſchung 
zu regeln. Livland und Eſtland haben 
ihr eigenes Entſcheidungsrecht, das 


Auf der Warte 


durch die verfaſſungsmäßigen Vertre- 
tungen, die Ritter- und Landſchaften, be- 
reits zur Geltung gebracht worden iſt. Die 
vielfach auch in der deutſchen Preſſe zum 
Ausdruck gelangte Anſchauung, als unter- 
ſtehen Livland und Eſtland laut dem Breſter 
Friedensvertrag noch der ruſſiſchen Ober- 
hoheit, iſt rechtlich unhaltbar und un- 
begründet. Der Friedensvertrag regelt nur 
das Verhältnis zwiſchen Oeutſchland und 
Rußland in bezug auf dieſe Länder und 
ſtellt ſie unter deutſchen Schutz, unterwirft 
fie aber nicht der vom ganzen Gebiet ab⸗ 
gelehnten ruſſiſchen Herrſchaft. Daher beruht 
auch die Anſchauung des „Vorwärts“ und 
anderer Blätter, die Angliederung Livland 
und Eſtlands an Deutſchland widerſpreche 
der Rechtslage des Breſter Vertrages, auf 
einem fundamentalen Irrtum. Denn 
Livland und Eſtland find durch den Breſter 
Vertrag in keinem Punkte gebunden 
und beanſpruchen ihr Recht der jelbftän- 
digen freien Entſcheidung. 


Eſtniſche Selbſtbeſtimmung 


0 Buchanan knapp vor dem Ein- 
marſch der Deutſchen in Eſtland dort 
noch raſch eine England dienſtbare „Regie 
rung“ eingerichtet hat, tritt nun in Peters; 

burger Telegrammen vom 26. April ein re . 
publikaniſches Haupt der Eſten hervor, wel 
ches Seligman heißt und unſeren ſtets etwas 
ſparſam verſorgten deuifchen Zeitungen un 
bekannt geblieben war. Der neue Napoleon 
von Reval meldet den in Moskau regierenden 
Freunden: Gegenüber den Beſchluͤſſen von 
Riga „erkläre ich als Vertreter der eſtniſchen 
Republik, daß die Reſolution“ (das Wort 
mußte kommen) „eine grobe Fälſchung der 
Meinung des eſtniſchen Volkes ift, ... und 
ich proteſtiere gegen dieſe ... Realiſierung 
des Rechtes der Volker, ſelbſt über ihr Schick 
ſal zu beſtimmen.“ Gez. Seligman. 

Da auch die Selbſtbeſtimmung des deutſchen 
Volkes weſentlich in den Händen von Herrn 
Seligmans ethnographiſchen Verwandten 
liegt, follte doch eigentlich die Perſonalunlon 
dadurch eher zur Anbahnung gelangen. h. 


Auf der Warte 


Engliſche Offenherzigkeiten 


bringt, wie ſchon öfter, der „Manchester 
Guardian“, „Mit Flandern dauert Englands 
militäriſche Unterſtützung“ — für Frankreich — 
„weiter. Geht Flandern verloren, fo müßte 
unſere Hilfe auf die See beſchränkt werden.“ 

Nur muß es umgekehrt geleſen werden. 
Dermag uns Frankreich nicht zur engliſchen 
Eroberung Flanderns zu helfen, ſo iſt für 
England verſpielt, weswegen es am Kriege 
aktiv teilgenommen. Dann haben Truppen- 
ſendungen nach Frankreich auch keinen Zweck 
mehr. 

Bemerkenswert iſt nebenbei, daß hier, 
Ende April, auch die engliſche Erörterung 
von Flandern, ſtatt von Belgien, ſpricht. 

« ed. h. 


Scheidemanns Zuſammenarbeit 


mit dem Feinde 

1 dieſem Stichwort veröffentlicht die 
„Unabhängige Nationalkorreſpondenz“ 
folgende Zuſchrift: 

„Wer aus den Blättern die Vorgänge in 
Moskau und auf der Berliner ruſſiſchen Bot- 
ſchaft mit einiger Aufmerkſamkeit verfolgt, 
wird über die unvermindert feindſelige 
Geſinnung der Herren Bolſchewiki und ihres 
Berliner Beauftragten keinen Zweifel hegen. 
Infolgedeſſen charakteriſiert ſich auch die an- 
dauernde Kooperation des Führers der deut- 
ſchen Sozialdemokratie als eine vollkommen 
planmäßige Zuſammenarbeit des Ab- 
geordneten Scheidemann mit dem 
Feinde, gerichtet gegen das eigene 
Volk und deſſen höchſte nationale Inter- 
eſſen. Der Abg. Scheidemann betätigte 
die gleiche Intimität bereits mit Herrn 
Sewrjuk, dem vormaligen Berliner Ver- 
treter der alten ſoziallſtiſchen Kiewer Rada, 
der hier gegen unſere wie gegen ſeine eigene 
Regierung intrigierte und dem Abg. Scheide 
mann das Material zu deſſen Vorſtoß 
gegen die Oberſte Heeresleitung und 
den Grafen Hertling lieferte, weil durch dieſe 
der Sturz der alten Regierung herbeigeführt 
worden fei ... Außerdem iſt neulich aus 
Kiew berichtet worden, daß gelegentlich der 


287 


Hausſuchung bei einem verhafteten ukraini- 
ſchen Miniſter ein Telegramm an Herrn 
Sewjruk gefunden wurde, in dem der frühere 
ukrainiſche Miniſterpräſident den Geſandten 
erſucht, bei der deutſchen Regierung wegen 
des Eingreifens Eichhorns in ukrainiſche An- 
gelegenheiten Proteſt zu erheben, Schutz bei 
den deutſchen Sozialdemokraten zu 
ſuchen und die Abberufung des Gene- 
rals von Eichhorn zu verlangen ... 

Was hinſichtlich der Ukraine noch unter 
den neuen Begriff des parlamentariſchen 
oder parteipolitiſchen, jedenfalls ‚tolerablen‘ 
Landesverrats fallen mochte, das hört auf, 
tolerabel zu ſein, ſobald es ſich um die 
Sicherheit unſerer eigenen künftigen 
Nordoſtgrenze, um die baltiſchen Pro- 
vinzen handelt, die im Oſten für den Kriegs- 
ausgang von ähnlicher lebenswichtiger Be- 
deutung find, wie im Weiten die flandrifchen 
Küſtengebiete. Und wenn die Zufammen- 
arbeit des Abg. Scheidemann mit dem Feinde 
auch hier den ungeſtörten Fortgang nimmt 
wie bisher, wenn keine der verantwortlichen 
Stellen die deutſchen ſozialdemokratiſchen 
Führer daran zu hindern wagt, daß ſie die 
Geſchäfte ihrer bolſchewiſtiſchen Gefinnungs- 
genoſſen betreiben — Geſchäfte, die dar- 
auf hinauslaufen, die Angliederung 
der zu uns gehörigen und zu uns 
hinſtrebenden Baltenländer an das 
Deutſche Reich durch Winkelzüge und 
illoyale Vertragsauslegung auf jede 
Weiſe zu hintertreiben —, dann wird es 
Zeit, daß der „Arbeiterführer“ Scheide 
mann vor dem ganzen Lande und den eige- 
nen Wählern gebrandmarkt und an den 
Pranger geſtellt wird. Denn es koſtet letzten 
Endes neue Ströme von Arbeiterblut, 
wenn dem Abg. Scheidemann das gelingt, 
was er neuerdings in dem heißen Bemühen, 
die Heimat zu ſchädigen, mit dem „Bot- 
ſchafter“ Joffe ausgeheckt hat: der Verbleib 
der baltiſchen Küſte bei Rußland hat 
die dortige Feſtſetzung der Engländer 
zur ſofortigen Folge, die dann den 
neuen, noch blutigeren Krieg um ſo aus- 
ſichtsreicher vorbereiten können.“ 

ö * 


Haben.“ 


288 


Kein Mittel iſt zu ſchmutzig! 


er „Vorwärts“ hat feſtgeſtellt, „daß 

Herr von Bethmann Hollweg der erſte 
und letzte führende Staatsmann Peutfch- 
lands geweſen iſt, der für den Zuſammenhang 
zwiſchen den Kriegsnotwendigkeiten und den 
moraliſchen Kräften des Volkes ein gewiſſes 
Verſtändnis bekundet hat“. Seitdem ver- 
laſſe man ſich ganz auf die fortwirkende 
Mechanik des Krieges und trage kein Be- 
denken, breite Volksſchichten in einen Zu- 
ſtand der Erbitterung und des Mißtrauens 
hineingleiten zu laſſen. 

„Herr von Bethmann Hollweg“, bemerkt 
die „Deutſche Zeitung“, „hat der Sozialdemo- 
kratie die Regierungsfähigkeit zugeſprochen, 
in dem Wahne, ihr damit die Fähigkeit, grund- 
ſätzlich zu hetzen, wenigſtens im Kriege ab- 
gewöhnen zu können. Die Sozialdemokratie 
hetzt aber im Kriege genau ſo, wie ſie es im 
Frieden getan hat. Ihr Parteivorſtand hat 
das Hetzen in ſeinem Pfingſtaufruf von Partei 
wegen angeordnet. Er empfiehlt darin als 
zeitgemäßes Haupthetzmittel die Ver— 
kürzung der Brotration. In jenem 
Pfingſtaufrufe ſteht der Satz: ‚Statt in ab- 
ſehbarer Zeit das gleiche Wahlrecht zu er- 
halten, wird das deutſche Volk zunächſt mit 
einer Verkürzung der Brotration zu rechnen 
In die ſozialdemokratiſche Heb- 
ſprache übertragen heißt das nichts anderes 
als: ‚Arbeiter! Euer Anſpruch auf das gleiche 
Wahlrecht wird mit dem Nuf: Hungert! be- 
antwortet.“ Nicht ein beliebiger ſozialdemo- 

kratiſcher Wühler von Partei, Berufs oder 
Geſchäfts wegen hetzt jo, ſondern der Partei- 
vorſtand iſt es, der dieſe Hetzloſung ausgibt. 
Der Parteivorſtand weiß nur zu gut, daß 
die Verkürzung der Brotration eine un- 
bedingt notwendige Maßnahme iſt, um mit 
der Volksernährung durchhalten zu kön- 
nen. Er weiß, daß dieſe unabweisliche Maß- 
nahme mit dem Kampf ums gleiche 
Wahlrecht ſachlich nicht das mindeſte 
zu tun hat; daß Wahlrechtspolitik und Er- 
nährungspolitik zwei völlig voneinander un- 


Auf der Warze 


abhängige Gebiete find. Wenn dennoch der 
Parteivorſtand einen Zuſammenhang her- 
ſtellt, fo kann das nur in der bewußten Ab- 
ſicht geſchehen, um zu hetzen. Oas gleiche 
Wahlrecht allein zieht nicht. Oie meiſten 
Arbeiter laſſen ſich heute nicht einen Augen; 
blick deswegen aufregen, weil ſie noch nicht 
alle fünf Jahre bei den Wahlen zum preußi- 
ſchen Abgeordnetenhaus denſelben vor den 
Sozialdemokratie vorgeſchriebenen Wahlzettel 
in die Wahlurne ſtecken können, wie bei den 
Reichstagswahlen. Aber wenn den Arbeitern 
vorgelogen wird, daß die Herabſetzung der 
Nahrung eine fie verhöhnende Bos— 
heit darſtellen ſoll, um die Arbeiter für ihre 
Forderung des gleichen Wahlrechts an ihrem 
Leibe zu ftrafen, jo muß das nach der Be⸗ 
rechnung des ſozialdemokratiſchen Partei- 
vorſtandes unfehlbar aufhetzend wirken. 
Der Parteivorſtand will den Wahlkampf. 
Denn für die ſozialdemokratiſche Hetzarbeit kann 
es nichts Ergiebigeres geben; als eine leiden 
ſchaftlich erregte Wahlbewegung. Da kann tag⸗ 
aus, tagein geſchürt und gewühlt werden; und 
wenn nun noch obendrein den Arbeitermaſſen 
in jeder Wählerverſammlung vorgeſchwindelt 
wird, man laſſe das Volk aus Nichtswür⸗ 
digkeit hungern, fo muß der ſozialdemo⸗ 
kratiſche Weizen üppig wachſen und blühen.“ 


Schwarze Liſten 


ie Wahlrechtsvorlage iſt abgelehnt. Der 
„Vorwärts“ iſt wütend über die große 
Mehrheit der „Wahlrechtsgegner“ So bringt 
er am 3. Mai eine Zuſchrift aus dem Ab- 
geordnetenhauſe, in der es heißt: „Wir hal 
ten es für nötig, diejenigen Mitglieder der 
Zentrumsfraktion, die den Gegnern des glei⸗ 
chen Wahlrechts mit zum Siege verholfen 
haben, öffentlich bekanntzugeben. Gegen das 
gleiche Wahlrecht haben folgende Zentrums 
abgeordnete geſtimmt: ... (Es folgen die Na; 
men.) An den Pranger mit den Verfech⸗ 
tern ihrer eigenen Meinung! ſo denkt der 
„Vorwärts“! — Auch ein Beitrag zum Kapitel 
der „perſönlichen Freiheit“. Schol. 


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Verantwortlicher und Yauptfchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grottbuß + Bildende NRunſt und Muflt: Dr. Karl Gtork 

Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf -Berlin (Waunnſeebahn 
Druck und Detlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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deulſchland oder die Angelſachſen! 
Von Fritz Bley 


ie große Weſtoffenſive, mit der der Krieg zu feinem urſprünglichen 
Ziete, der Küſte von Frankreichiſch-Vlaandern zurückkehrt, ſowie die 
f 2 JEreigniſſe im Oſten zeigen unzweideutig auf, wie recht diejenigen 
x EL gehabt haben, die von vornherein das große Weltringen als die Ent- 
ſcheidung zwiſchen Oeutſchland und der angelſächſiſchen Welt betrachtet und den 
ruſſiſchen, ja ſelbſt den franzöſiſchen Gegner politiſch nur als Kräfte zweiten Ranges 


bewertet haben. Es kann auch nicht dem geringſten Zweifel unterliegen, daß der 


Weltkrieg durch keinen noch ſo fein ausgetiftelten Frieden beigelegt werden wird. 
Die Geſchichte Englands beweiſt vielmehr, daß wir mit einem wirtſchaftlichen 
Nampfe zu rechnen haben, in dem es kein Remis, geſchweige denn gar eine ernft- 
hafte Verſtändigung gibt. Ä 

Der im September 1914 beſchloſſene zeitweilige Verzicht auf Calais, das 
nach Schlieffens Plan das erſte große Ziel bildete und dies nun wieder geworden 
iſt, führt uns mitten hinein in den Kernpunkt der in der Überſchrift aufgeworfe⸗ 
nen Frage. Sicherlich hätte kein engliſcher Feldherr in gleicher Lage ſo herrliche 
Erfolge zu erringen vermocht wie unſere Heerführer an der Marne. Aber das 
ſteht feſt, daß kein Engländer genötigt geweſen wäre, eine Entſcheidungsſchlacht 
abzubrechen aus Mangel an Vorſorge der Heimat. Wir wiſſen ja heute, daß die 
Marneſchlacht keineswegs verloren, daß vielmehr nach den Erfolgen von Kluck 

Ser · Turmer XX, 19 19 


| 290 N Bley: Deutſchland oder die Angelſachfen! 


und Bülow Foffres linker Flügel tief erſchüttert war. Aber bei allem ſchmerz“ 
lichen Bedauern über den trotzdem erfolgten Abbruch der Schlacht war nicht über 
die Tatſache hinwegzukommen, daß für die beiden Korps, die auf Hindenburgs 
dringenden Wunſch an den Oſten hatten abgegeben werden müſſen, kein Erſatz 
rechtzeitig herangezogen werden konnte, und daß dieſer Mangel an einer Heeres- 
reſerve für die Entſcheidung der damaligen Oberſten Heeresleitung beſtimmend 
geblieben iſt. | | 

Den Grund aber erkannten nun alle Unterrichteten in der unfer Volk tief 
beſchämenden Kleinlichkeit, mit der die deutſche Volksvertretung die Ausbildung 
der Erſatzreſerve verſagt hatte. Es wurde gerade in jenen Marnetagen bekannt, 
daß eine Million Freiwillige ſich gemeldet hatten. Wäre von dieſen auch nur det 
fünfte, ja vielleicht nur der zehnte Teil ausgebildet geweſen, jo hätte am 7. und 
8. September 1914 Zoffres Schickſal und damit das unſeres Vaterlandes ſich 
anders erfüllt. 

Daß die Kriegsbereitſchaft der verbündeten Donaumonarchie tief im argen lag, 
war bekannt und hätte unſeren Etatsſtreichern ein ſchwerwiegender Grund zur um ſo 
pflichtmäßigeren Berückſichtigung der eigenen Heeresnotwendigkeiten ſein müſſen! 

England hatte bis dahin geglaubt, nach den Erfahrungen ſeiner bisherigen 
Kriege auch dieſen mit einigen Kolonialen und hauptſächlich Frankreichs Heeres- 
kraft und der ruſſiſchen Dampfwalze mühelos gewinnen zu können. Mit be⸗ 
wundernswerter Entſchloſſenheit brachte es nun, nachdem es den ſchweren Ernſt 
ſeiner Lage erkannt hatte, nicht nur den Reſt der von uns abgekehrten Welt gegen 
uns auf, ſondern nahm zum erſten Male das eigene Volk bis zum letzten Mann 
für den großen Daſeinskampf in Anſpruch. Wohl wiſſend, daß der Deutſche kaum 
beſiegbar iſt, es wäre denn, daß man ihn durch ihn ſelbſt beſiegen könnte! 

Die Heeresfeindſchaft der deutſchen Demokratie, die Unfähigkeit breiter 
deutſcher Kreiſe, über die von dem „Central Committee for Aational patriote 
Organisations“ auf dem Umwege über die franzöſiſchen „Amities“ und „Sou- 
venirs“ in den Reichslanden und in Belgien betriebene Hetze ſich klar zu werden, 
und der Zaberner Skandal waren engliſcherſeits längſt als ſtarke Erwartungen 
in Rechnung geſtellt, wie das vernichtende Wort zeigte, mit dem Campbell Banner- 
man im Anterhauſe auf die „denkenden Menſchen“ in Oeutſchland hinwies. Die 
Etatsnörgelei von 1915 und 14 war ja leider nur das Erbe des Geiſtes, der 1865 
„Preußen den Großmachtskitzel austreiben“ wollte und Ende 1869, als bereits 
das franzöſiſche Wetter heraufzog, zu dem Antrage Virchows auf allgemeine 
Abrüſtung führte. Als reife Frucht dieſes Schlingkrautes mußten wir, während 
in Oft und Weſt vor unſern Heeren die Reiche der Feinde zuſammenbrachen, 
auf der Höhe unſrer Erfolge im Daſeinskampfe in der Heimat die berühmte Mehr- 
heitsentſchließung vom 19. Zuli 1917 erleben! 

Es iſt klar, daß hier Charaktereigenſchaften einander gegenüberſtehen, von 
deren Siege das Schickſal des Weltkrieges und damit für abſehbare Zeit das 
Schickſal der Völker dieſer Erde abhängt. Dem geſchichtlichen Rückblicke tritt das 
alte Erbübel ſchon in der Jugendzeit der Germanen entgegen. Ganz Europa 
haben die Goten mit ihrer Kraft erfüllt. Die herrlichſten Bauten Italiens, Frank- 


Bley; Deutſchland oder die Angelſachſen! | 291 


reichs und Spaniens find Zeugen ihres geiſtigen Geburtsadels. Als Volk aber 
find fie verſchwunden, weil fie an ihrer Verſöhnungspolitik und ihrem Kultur- 
beſtreben zugrunde gehen mußten. Das Römertum iſt durch ihre Milde und Groß 
mut nicht zur Dankbarkeit veranlaßt, ſie ſelbſt aber ſind am Römertum verdorben. 
Selbſt Theoderichs des Großen Reichsſchöpfung konnte ihn nicht überleben, da er 
ſeine ganze Kraft darangeſetzt hatte, das verdorbene Römertum zu erneuern, 
ihm ſein römiſches Recht und ſeine feſten Plätze überließ und derweilen auf den 
verſtreuten Gütern des Landes den von Rom verödeten Ackerbau zu neuer, ehr- 
furchtgebietender Größe brachte. 

Die alte Klage über dieſe Zerlaſſenheit zieht ſich dann auch durch die ganze 
deutſche Kaiſergeſchichte. Blicken wir auf die Sachſen oder die Salier und die 
Staufen: immer dasſelbe Lied, daß die urſprüngliche Stammestüchtigkeit den 
Nachfahren in dem Erbe fremden Mutterblutes verloren geht. Friedrich Rotbarts 
Enkel bereits tritt uns als Sarazenenzögling ohne Kenntnis der deutſchen Sprache 
entgegen, und Konradin endet unter dem Henkersbeil. Wie anders ſteht dem- 
gegenüber der Welfen-Löwe, der dieſer Politik den Rüden kehrt und mit eiſerner 
Fauft dem Oeutſchtum neuen Boden im Oſten erwirbt! 

Anſre Geſchichtsauffaſſung aber kann ſich nicht erſchöpfen in Bewunderung 
des Glanzes und Schimmers der Staufenzeit. Und während fie die Rohkraft 
Cromwells und die von ihm ausgehende Erſtarkung des britiſchen Volksſtolzes 
in weicher Zärtlichkeit beliebäugelt, hat ſie für den Welfenherzog bisher immer 
noch wenig übrig gehabt. Um ſo leidenſchaftlicher verliert ſie ſich noch heute an 
die Gedanken der franzöſiſchen Revolution in der von Ernſt Moritz Arndt ſo bitter 
beklagten „Weltenliebe“. Daher noch immer die Vorherrſchaft der Auffaſſung 
von einer geſetzmäßigen geſchichtlichen Fortentwicklung der Menſchheit. 

Abſeits dieſer Betrachtungsweiſe ſteht das Aſchenbrödel der deutſchen Raffen- 
forſchung, dem die Wiſſenſchaft vom Spaten und die Erforſchung der Bildniſſe 
zu neuen Werten verholfen hat. Es gilt, im Sinne von Gobineau und Woltmann 
zu neuen Erkenntniſſen zu ſtreben; ihre Lehre findet in dieſem Weltkriege glän- 
zende Rechtfertigung. Hoffentlich wird das kommende Geſchlecht nun lernen, die 
Völker ſelbſt als Geſamtperſönlichkeiten zu bewerten, und wird prüfen, wie weit 
ſie ſich ſelbſt treu geblieben ſind und den in ihnen kämpfenden Gedanken. Auch 
für die Völker wird die Verheißung zu gelten haben: Sei getreu bis in den Tod, 
jo will ich dir die Krone des Lebens geben! Denn in der Tat zeigt uns jeder Ver- 
gleich, insbeſondere aber der zwiſchen Angelſachſen und Oeutſchen, daß nur das 
Volk zur Höhe emporſteigen kann, das in Kultur und Politik dem eigenen Geiſte 
treu bleibt, feine eigene urſprüngliche Gliederung wahrt und ſich bei jeder Be- 
rührung mit fremder „Weltkultur“ gegen das Gift geiſtiger Anſteckung ſchützt. 

Blicken wir hin auf die im Kampfe ſtehenden Völker, ſo entgeht uns nicht 
die Tatſache, daß einerſeits die beiden Inſelvölker der Engländer und Japaner 
und andererſeits die ſeit Jahrhunderten in ſtarkem Kampfe bewährten inſelartig 
zwiſchen andere Völker eingebetteten Madjaren und Bulgaren unbeſtreitbar die 
größte Selbſttreue bewieſen und den Nationalgedanken in ſich am kräftigſten 
herausgebildet haben. 


292 Bley: Oeutſchland ober dle Angelſachſent 


Es iſt belehrend, unter dieſem Geſichtspunkte die Kriegszielpolitik der Bul⸗ 
garen und Madjaren zu betrachten und die Stellung, die unſre Diplomatie zu 
ihr eingenommen hat. Während in Deutſchland die Forderung der notwendigen 
Sicherungen ſeit Beginn des Krieges als ein wahres Verbrechen verfolgt wurde, 
hat Bulgarien unter ausdrücklicher Billigung unſrer Diplomatie von Anbeginn an 
als grundfäßliches Kriegsziel die Vereinigung aller Bulgaren aufgeſtellt. 

Die gute Frucht dieſes muſterhaften Eintretens des ganzen bulgariſchen 
Volkes für ſeine großen nationalen Ziele liegt in dem Ergebniſſe des Bukareſter 
Friedens vor uns. Bulgarien wußte, was es wollte, und hat es dementſprechend 
nahezu — bis auf die Norddobrudſcha — erreicht! 

Die Madjaren waren durchaus im Rechte, als ſie gegenüber Rumänien 
eine ſtärkere Sicherung und dementſprechend die Verſchiebung der ſiebenbuͤrgiſchen 
Grenze forderten. Inzwiſchen aber hatte die ſonderbare Politik des Grafen Czer⸗ 
nin Oeutſchland im Vereine mit unfrer Reichstagsmehrheit tugendhafte Enthalt- 
ſamkeit gepredigt. Der ehemalige Vertrauensmann des Erzherzog Thronfolgers 
ſetzte ſich damit zugleich in Widerſpruch mit feiner eigenen beſſeren Überzeugung, 
und wie er zu Lebzeiten ſeines Gönners für die Berechtigung der Nationalitäten 
in Ungarn nach Maßgabe des Geſetzes von 1866 eingetreten war, ſo ſchnitt er ſich 
auch in dieſer Frage die Naſe aus dem Geſicht, indem er nunmehr ganz und aus- 
ſchließlich für die Rechte der Madjaren eintrat. In der Grenzfrage freilich ſoll 
ihm nach einer ſehr glaubhaften Lesart Graf Tisza durch einen Druck an anderer 
Stelle zu Hilfe gekommen ſein. 

Wie ſteht es dagegen um den deutſchen Erfolg? Allerdings haben die Herren 
v. Kühlmann und Dr. Helfferich unſern Heeresölbedarf gedeckt und die Anſprüche 
der deutſchen Banken auf Rumäniens Petroleum einſchließlich der zur Der- 
ladung erforderlichen Pacht der Donauwerft von Giurgiu erledigt. Aber die 
politiſchen Belänge des Deutſchen Reiches und die Forderungen des deutſchen 
Volkes ſind unerfüllt geblieben. Das unwürdige Königspaar, das leicht durch 
einen ſehr würdigen Fürſten hätte erſetzt werden können, iſt uns erhalten ge- 
blieben, und Ferdinand blickt bereits wieder „als König und Rumäne voller Hoff⸗ 
nung in die Zukunft feines braven und tapferen Volkes“, wie es in einem Draht- 
gruße an Marghiloman heißt. Weniger entzückt ſind davon die Angehörigen der 
in Rumänien unter der Anleitung franzöſiſcher Offiziere in viehiſcher Weiſe ge⸗ 
quälten deutſchen Gefangenen: von dieſen ſind im Lager Sipote von 16000 im 
Laufe eines Winters 12000 geſtorben, von 102 deutſchen Offiziersaſpiranten 
ſind heute nur noch 7 am Leben. Dies teure Blut iſt nicht zu erſetzen. Aber daß 
es nicht möglich geworden iſt, von dieſem Volke eine angemeſſene Kriegsentſchädi⸗ 
gung zu erzielen, daß man überhaupt dem öſterreichiſchen Plane eines Wieder- 
aufbaues Rumäniens in fo weitgehendem Maße zugeſtimmt hat, bleibt eine Der- 
nachläſſigung unſerer deutſchen Notwendigkeiten, die im umgekehrten Verhält- 
niſſe zu unſern militäriſchen Leiſtungen ſteht. Hoffentlich wird wenigſtens nun- 
mehr bei der Dobrudſcha-Konferenz uns ein deutſcher Hafen geſichert, am beiten 
an der Sulina-Mündung zugleich mit Beſetzung der Schlangeninſel! Oder ſollen 
wir wirklich nach allen Erfahrungen von Osnabrück, Nijswick und des berüchtig⸗ 


7 


Bley: Deutihland oder die Angelſachſen! 293 


ten Jusqu' à-la-mer- Vertrages von 1815 erleben, daß abermals ein deutſcher 
Quellfluß an ſeiner Mündung uns verſperrt wird? 

Am allerbetrüblichſten ſtellen ſich die Auswirkungen dieſes Friedens auf 
die benachbarte Ukraina dar. Wir haben im Norden der Dobrudſcha und im Süden 
des jetzt an Rumänien ausgelieferten Beßarabien einen außerordentlich wert- 
vollen Stamm von deutſchen Anfiedlern, die ſich jetzt hilfeflehend an das A. O. R. 
in Riew gewandt haben mit der Bitte, ſie gegen rumäniſche Bedrückung zu ſchützen. 
Laſſen wir dieſen wohlhabenden deutſchen Bruderſtamm auf ſeinem bisherigen 
Vorpoſten im Stiche, ſo werden wir uns wirklich nicht zu beklagen haben, wenn 
der letzte Reſt von deutſchem Anſehen in die Brüche geht. Denn wo in aller Welt 
gäbe es wohl einen minderwertigeren Gegner als dieſes Rumänien? 

Auch die Ukraina legt ja, wie bekannt, leidenſchaftliche Verwahrung gegen 
die Auslieferung der Deutſchen und ihrer Volksgenoſſen an Rumänien ein. Ins- 
beſondere iſt der ganze Süden Beßarabiens von der Dobrudſchagrenze bis zur 
Stadt Akkermann faft frei von Rumänen. Dieſer Teil des Vertrages iſt alſo 
undurchführbar, und Deutſchland muß dafür Sorge tragen, daß es auch dort am 
Ufer des Schwarzmeeres bleibt, ſchon um bei den zukünftigen Beratungen, die 
ja in der Verwahrung der Ententemächte an Rumänien bereits jetzt ſich ankündi- 
gen, dafür ſorgen zu können, daß die Schwarzmeerfragen auf die Anliegermächte 
beſchränkt bleiben. Herr Marghiloman hat mit Fug und Recht bei einem Feſtmahl 
kürzlich darauf hingewieſen, daß Beßarabien nicht in Kiſchinew, ſondern in Buka- 
reſt von Rumänien erworben ſei. 

Hoffentlich gelingt uns die Verſtändigung mit der Ukraina in beſſerer Weiſe, 
zumal dort und in der Krim eine ſtarke und einflußreiche deutſche Anſiedlerſchaft 
lebt, die nur unter deutſchem Schutze ihres Lebens froh werden kann, und weil 
wir ferner in dem Waſſerwege Cherſon-Riga unter Verbindung des Onjepr mit 
der Düna durch Ausbau des Kanals von Orſcha nach Witebsk ein wertvolles Seiten- 
ſtück und Gegengewicht gegen den Donauweg ſchaffen können und müſſen. 

Der Ernſt der militäriſchen Forderungen ſcheint nun zur Ausgleichung 
der bedauerlichen Winderleiſtungen und politiſch dahin geführt zu haben, daß 
wenigſtens die allerdringlichſten Notwendigkeiten in dem neuen Vertrage mit 
Öfterreich berüͤckſichtigt find. Sachlich war der alte ja in dem Augenblicke erloſchen, 
als unter Hindenburgs Schwerthieben das Reich der Romanows und Bolſche⸗ 
wiken zuſammenbrach, denn ſchon bei Begründung des Bündniſſes ließ Graf 
Zulius Andraſſy der Altere Bismarck keinen Augenblick im Zweifel daran, daß 
er dies nur als Schutz gegen einen ruſſiſchen Angriff betrachten könne. In 
Peſt wie in Wien iſt man ſich zweifellos darüber klar geworden, daß Deutſchland 
mit der Niederringung der Ruſſen ſich in eine gewiſſe Abhängigkeit von Öfter- 
reich-Ungarn hineinſiegte. Dieſe Auffaſſung kommt leider auch zum Aus- 
drucke in der Behandlung der Oeutſchen beider Hälften des Habsburger Reiches. 
So wie wir in dem Bunde die weitaus ſchwerſte militäriſche Leiſtung gehabt 
haben, ſind auch innerhalb des Doppelreiches die Oeutſchen in verhängnisvoller 
Tragik das Opfer unſrer und ihrer Staatstreue geworden. Während die Slawen 
mit Verrat und Überlaufen die Zahl der Gefangenen auf 1600000 Mann ge- 


* 


294 Bley: Deutfhland oder die Angelſachſen ! 


bracht haben und ganze Brigaden von Tſchechen jetzt gegen uns kämpfen, iſt in 
den Alpen und den Sudeten Hof um Hof durch den Opfertod des Bauern und 
ſeiner Söhne verwaiſt. Und während in Ungarn und Tſchechien die Bevölkerung 
in Wohlleben ſchwelgt, müſſen die Deutſchen in Tirol, Böhmen und Schleſien 
ſich hilferufend an das benachbarte Bayern und Preußen wenden. In Ofen- Peft 
aber hat man im Winter 1916/17 in einer Geheimſitzung des Abgeordnetenhauſes 
Klage darüber geführt, wie die deutſchen Erretter das notleidende Ungarn „aus- 
geſogen“ haben. Der Haß aus Dankbarkeit iſt eine neue Form, die zu ftudie- 
ren unſern Diplomaten und allen denen vonnöten wäre, die noch immer die Frage 
aufwerfen, „warum die Deutſchen im Auslande fo unbeliebt find“! 

Zugleich haben die Madjaren die Gelegenheit der rumäniſchen Schwierig- 
keiten dazu benutzt, die Zugeſtändniſſe zu beſeitigen, die unter dem von Franz 
Ferdinand geübten Drucke in der Sprachenfrage auch den Deutſchen im Ungar 
lande gemacht waren. | 

An alledem geht die Mehrheit des deutſchen Volkes mit einer Gleichgültig- 
keit vorüber, als handele es ſich um Kirgiſen oder Botokuden und nicht um Brüder 
vom eigenen deutſchen Blute. 

Gewiß iſt dieſe Politik auch vom habsburgiſchen Standpunkte aus letzten 
Endes kurzſichtig, denn die leitenden Männer müſſen im Hinblide auf die Haltung 
der Slawen immer wieder zu dem Schluſſe gelangen, den Kaiſer Karl ſelbſt 
zur Zeit, als er als Thronfolger im Felde ſtand, gegenüber den Herren ſeines 
Stabstiſches geäußert hat: „Ihr Deutſchen ſeid die einzigen, auf die ich 
mich wirklich verlaſſen kann.“ Alle übrigen Völker ſeines Reiches arbeiten 
an der Schwächung der Reichseinheit. Und doch ernten auch von amtlicher Seite 
die Deutfhen nur Undank, da man glaubt, ihrer auf alle Fälle immer wieder 
ſicher ſein zu können. Verlieren fie aber erſt einmal den Mut und wird ihr Volks- 
körper zum Ausbluten gebracht: wo ſoll dann noch Habsburgs Zukunft liegen? 

Trotzdem bleibt Öfterreihs Zaudern und der Einfluß fo vieler deutfchfeind- 
licher Kreiſe von entſcheidender Bedeutung in dem Kampfe, den wir gegen die 
Angelſachſen führen. Im Oktoberhefte des zu Lauſanne erſcheinenden Entente- 
blattes „Revue Internationale Contemporaine“ veröffentlichte Graf Julius 
Andraſſy Sohn einen Aufſatz, in dem er die Zerſchmetterung Englands als ein 
ebenſo großes Unglück für Sſterreich- Ungarn bezeichnet, wie die Vernichtung 
Deutſchlands geweſen ſein würde. Er erblickt in der „Niederringungspartei“ beider 
Länder das ſchwerſte Friedenshindernis und nimmt für Sſterreich- Ungarn die 
Aufgabe des gegebenen Vermittlers zwiſchen der älteren und der jüngeren ger⸗ 
maniſchen Weltmacht in Anſpruch. Er hält ein auf eigenen Füßen ſtehendes, 
ſtarkes Oſterreich- Ungarn nur dann für lebensfähig, wenn England in feine alte, 
überlegene Vermittlerſtellung wieder eingeſetzt wird. Zu dieſem Zwecke erſtrebt 
er einen Frieden, der England wieder zur Zunge an der Wage des europãiſchen 
Gleichgewichtes macht. Auf alle Fälle kann England darauf rechnen, daß Wien 
einer ſolchen Wiederherſtellungspolitik auf halbem Wege entgegenkommt. Graf 
Czernin hat unverkennbar jede Gelegenheit geſucht, um Oſterreich Ungarns Macht 
auf Koſten des Deutſchen Reiches zu ſtärken, und die tſchechiſche Politik deckt uns 


Zimmer: Tyeodor Gtom 295 


Einflüſſe auf, die ebenſo wie die ganze habsburgiſche Polenpolitik den Wünſchen 
Englands entgegenkommen. Dieſe Einflüſſe, von denen der Kaiſerbrief und die 
Rolle der Prinzen von Bourbon-Parma noch gar nicht einmal die ſtärkſten Er- 
ſcheinungen darſtellen, werden immer wieder auf eine Zurückſchraubung der 
deutſchen Vormachtſtellung hinarbeiten, ſolange nicht unſrerſeits die ganze Frage 
entſchloſſener behandelt und Öfterreih-Ungarns Rückzug aus Polen gefordert wird. 
Sit es nötig, dieſe Gedankenreihe noch weiter auszuſpinnen, um den Be- 
weis zu liefern, daß es ſich letzten Endes in dem ganzen gewaltigen Weltringen 
um den Kampf zwiſchen der deutſchen und der angelſächſiſchen Welt handelt? 
Sollte man wirklich noch immer nicht begriffen haben, daß alle unſre Feinde ver- 
einbartermaßen den Krieg nicht lediglich gegen das Deutſche Reich, ſondern 
gegen das deutſche Volk geführt haben? Unzweideutig hat Goremykin den 
Balten, die ihn bei Ausbruch des Krieges um Schutz baten, dies erklärt. Noch un- 
zweideutiger lehrt es die planmäßige Ermordung, Mißhandlung, Beſchimpfung 
und Beraubung aller Deutſchen durch die Engländer, insbeſondere auch die Schän- 
durig deutſcher Frauen durch Eingeborene vor den Augen der Eingeborenen auf 
Befehl verruchter Franzoſen, ja jetzt ſogar nach dem Friedensſchluſſe durch das 
rumäniſche Geſindel: daß es für die Volksgeſamtheit um Sein oder Nichtſein geht. 
In den feindlichen Staaten ſowohl als anderwärts. Soll nicht endlich im ganzen 
Volke das Verſtändnis dafür erwachen, daß aus ſeiner eigenen Seele das Rüft- 
zeug genommen werden muß, um dieſen Weltkampf zu beſtehen? Auf den Wag- 
ſchalen der Geſchichte hält der richtende Herrgott den deutſchen und den engli- 
ſchen Schädel! 


1 . ei 


S M 


Theodor Storm. Bon Fritz Alfred Zimmer 


Zum Gedächtnis feines 30. Todestages am 4. Juli 


In das Vergrollen dieſes Krieges klingt ein Sommerlied. 

Dazu verträumte Cellotöne, volle, weiche, 

Und ſüßes Wünſchen und Weinen einer alten Geige, 

Daß noch das bange, vergrämte Herz kaum weiß, wie ihm geſchieht. 
Ein Märchenſinnen ſchöner Sonntagsnachmittage 

Friedet die Einſamkeiten dunkler Gartenhage, 

In die der Duft der ſtillen Städte und ihrer Meere weht, 

Und manchmal auch im blütenweißen Schimmerkleide 

Ein ſilbernes Jungmädchenlachen hinter Buſch und Beet, 

Und fernher dumpfe Donner über heller Heide. 


2 


296 | Hein: Ein halber Tag 


Ein halber Sag... 
Skizze von Alfred Hein | 


ecilie ſchreibt: Lieber! Wir werden uns wiederſehen. Nein, wir 


N S IN werden uns das erſtemal erſchauen! Denn das letztemal irrten 
9.5 unſre Regungen und Gefühle noch aneinander vorbei; diesmal 
— 


O ſpüren wir jetzt ſchon ineinander verſinkende Zweieinigkeit. Und — — 
wollen — wir — uns küſſen? Za! Ja! ga!!! Meiner Du! Es wird eine heilige 
Heimlichkeit für uns geben! Es muß eine geben, und wenn alles wider uns wär'! 
Zch fühle es ahnend — — — Aber ſei vorſichtig und hüte unſer Geheimnis! 

Mein Gott, der Brief findet Dich noch in Toſen und Tod, in Wüfte und Weh. 
Wie mein Herz arm wird, wie arm — — ein Nichts — — —: wenn Du — nicht — 
kämeſt — — nie mehr — — — 

ga. Du kommſt. Du mußt. Ein großes Glück wartet in uns auf Erfüllung. 
Es iſt ſtärker als aller Geſchoſſe Haß. Ich bin ganz Andacht. .. Ich tue meine 
ſehnende Seele um Oich. 

Aber komm bald! Ich freue mich! Cecilie. 

Diefer Brief ruht nun in einem Zeldpoftfad einem Müden zu Füßen. Einem 
Immermüden. Einem nimmer Aufſtehenden. .. Denn ſein Antlitz iſt fahl, fein 
Auge ſtarren, wehen Glanzes. .. Lehm und Blut haben feine Uniform ſchaurig 
bunt gemacht. Er hat ſich zwiſchen den Gräben verirrt, als die Kugel ihn riß. Wer 
findet den Toten? Wann wird man ihn in der Ode überhaupt das erſtemal ſehen? 
Wann wird man ihn in dem hölliſchen Feuer holen können? 

Ach, der hoffende Brief iſt nach dem Land geflogen, wo keiner auch nur 
ganz zag hoffen darf... Nach Flandern. 

Durch die Wüſte, in der nichts aufſteht, nur weit und breit Eiſen, Qualm 
und Erde aufſpritzen in düſteren Fontänen, rennt ſchwarz ragend gegen goldene 
Sonne ein Menſch! Geknatter von Maſchinengewehren. Er aber rennt, rennt, 
rennt. Eine Granate in ſeiner Nähe. Rauchwolke verſchluckt ihn einen Augenblick. 
Dann raſt er ſchon wieder weiter, Fauſt am pochenden Herzen, Augen grellweiß 
im ſchweißigen, lehmverklebten Geſicht. Jetzt kommt er am Toten vorbei. Er 
erſchrickt, er kennt den Armen. Doch nur für Sekunden iſt er ruhigen Leides voll, 
dann hat das Geſicht wieder das Harte, Starre, Grimmige der Helden hier vorn. 
Er kniet, entreißt dem Liegenden die Erkennungsmarke durch die zerfetzte Uniform 
hindurch, greift haftig in die Taſchen, birgt Briefmappe, Uhr in den feinen, krallt 
dann die Fauſt um den Feldpoſtſack, ſpringt auf. Eine Kugel ſiiirrrt. Er hört 
ſie ſeelenruhig. Da ſpürt er plötzlich warmes Rinnen den Rücken entlang. 

Er ſchleppt ſich von einem Trichter zum andern. Schon verfolgen mehrere 
Maſchinengewehre. Der Laufgraben! Er nimmt die letzte Kraft zuſammen, ſpringt 
einige Schritte — — rollt bewußtlos in den Graben hinein. 

Und der Sack wird abermals gefunden. Aber neben einem Toten.. Zwei 
ſind um der Kameradenbriefe willen verglüht. Wer erzählt von einer ſchlichten 


Heldentat? 
®. 


Hein: Ein halber Tag 297 


Nur in der Nacht kommen die Briefe auf dem Rüden eines ruhig dahin- 
ſchreitenden Landſturmmannes, der zugleich noch Eſſen mitbringt, ſicher nach vorn. 

„Du haſt einen Brief!“ ſchreit einer den andern an. Er rennt geduckt von 
Trichter zu Trichter, ſchon zeigt ſich die Sonne! 

Und Musketier Hans Ansgard kriecht durchs Trichterfeld. Nur jetzt kein Ende. 
Nur noch den Brief leſen — —! 

Dort hockt der Leutnant. Da wird auch die Poſt in der Nähe ſein! 

Ansgard ſpringt auf! Er hält es nicht mehr aus. Cecilie! ſehnt es in ihm! 
And er ſucht aufrecht ſtehend, wo ein gelber Sack vielleicht leuchtet. 

Da! s 

„Biſt woll verrückt? Sollen wir das Feuer denn direkt für uns beitellen? 
Duck dich! Es qualmt ja ſchon rings an allen Ecken!“ 

„Ein Brief für mich!?“ 

„Hier.“ 

Aufreißen. Überfliegen. Du!! Ach — — 

Und in demſelben Augenblick heult's, heult's, — — zerkracht's!! 

„Sie haben uns geſehen! Wir müfjen hier fort“, knirſcht der andere. 

Und die zwei kriechen paar Trichter weiter ab. 

Lang iſt der Tag noch. Abertauſend durchtoſte Sekunden noch. 

In der Nacht erſt darf Hans Ansgard nach hinten. Urlaub! Urlaub!! 

Vierzehn lange Tage! (O ſie vergehen ſchneller als vierzehn Minuten hier 
vorn. .) 

Urlaub!!! 

Still, ſtill im Land, wo man nicht hoffen darf. 

a %* 


Noch immer hat er fie nicht geſehen. Noch drei Tage, er muß fort. Heimliche 
Briefe ſind hin und her geirrt. Noch war kein „Zufall“ gefunden, der ihn nach 
dem Nachbarſtädtchen führt, ohne daß es den Klatſchbaſen und der geſtrengen, 
fürnehmen Frau Mutter auffiele. Denn „er“ iſt nichts für „ſie“. 

Da kommt das Glück! Es iſt ſo gut, das Glück! Es gibt und gibt und gibt — 
aber auch, ach das Glück ſagt plötzlich: Schluß. Oder: Soviel diesmal noch nicht. 
Und geizt. 

Eines Tages klingelt das Telephon. „Herr Ansgard dort? Guten Tag, 
mein Lieber. Hier Frau Elmenried. Ich hab 'ne dringende Bitte. Kann Ihr 
Sohn, der damals in Berlin den lauſigen Vertrag mit Berenſtein und Cie. für 
mich abſchloß, nicht heute nachmittag herüberkommen? Es ſtimmt da etwas nicht. 
Vertreter von Berenſtein iſt auch hier. Bitte ſchicken Sie ihn, ja? — Danke. — Wie 
geht's ihm denn? — Bald wieder fort? — Wieder nach Flandern? — Der Armſte. 
Ach ja, der Krieg. — Alſo bitte ſchicken Sie ihn! — Vielen Jank. Grüßen Sie Ihre 
Frau. Und Ihren Sohn natürlich auch. Ich freue mich, ihn wiederzuſehen.“ — 

* 

Der Vertrag iſt in Ordnung. Der Vertreter von Berenſtein iſt ſchon abge- 
fahren. Es iſt fünf Uhr, Um neun Uhr muß Hans zurück. Bis jetzt hat Hans 
Cecilie nur von ihrem Mädchenzimmer her fingen hören. 


* 
* 
BER 


298 Hein: Ein halber Tag... 


Frau Elmenried iſt ſehr liebenswürdig, aber auch nur das. Und etwas hoheits⸗ 
voll dem Sohn ihres früheren Geſchäftsführers gegenüber, der zwar ein virtuoſer 
Geiger fein ſoll. .. Pe, brotloſe Kunſt! 

Da geſchieht etwas unerwartet überflammend Schönes für Hans. 

Die Tür öffnet ſich. Cecilie darin im himmelblauen Kleid. 

Augen voll Glück! Lippen erbeben! Hände heben ſich heiß haſtig zum Gruß 
entgegen! 

Nur die Worte ſind ſehr alltäglich: „Guten Tag, Herr Ansgard!“ 

„Guten Tag, gnädiges Fräulein!“ 

„Hertaaa!!“ jubelt es übermütig aus Mädchenmund zum Fenſter in den 
Kirſchblütengarten hinaus. 

„Komm herauf! Beſuch!!“ 

Frau Elmenried rümpft die Naſe: Großartiger Beſuch! 


„Meine Freundin Herta! — Der Geigenkünſtler Herr Ansgard!“ 
* * 


* 

Cecilie, Hans und Herta gehen ſittſam im Schloßpark ſpazieren. 

Das rieſige Ringen der Welt iſt zweien ein Nichts. Sie wiſſen nicht einmal 
zur Stunde, daß gerade ihre Seelen heiß daran hängen. Ach, ſie wiſſen nicht einmal 
mehr, was fie alles an Widerwärtigkeiten am heutigen Tag beſiegt haben, ehe ſie 
zum jubelnden Jetzt gelangt find, 

Sie ſind Nebeneinander -Schreitende, die ſich Blicke voll Liebe geben. 

Manchmal ein weiches, alltägliches und doch ſeltſam werbendes Wort. 

Ein Weg im Park wird nun den beiden unvergeßlich. Sie werden, wenn 
ſie ihn in Jahren gehen, ſagen können, in welcher Richtung der Kuckuck ſchrie und 
welche Blumen um die alte Linde ſtanden. Sie werden ſich wohl noch erinnern, 
wie die Uhr vom Turme her ſchlug, welche Stunde ſie aber ſchlug, werden ſie 
ebenſowenig wiſſen, wie ob der Tag des Glücks ein Montag oder Freitag war. 
Denn jedes Geräuſch, jedes Blinken, jedes Aufflattern eines Falters nimmt die 
Seele in ſolcher Stunde für immer fühlend auf; Berechnungen und Maße aber 
wirft ſie fort. Denn ſie iſt etwas Ewiges. 

O der Rauſch, die bei jedem leichten Berühren zuſammenzuckende Sehnſucht, 
das nah wogende Blut des andern, . . 

Cecilie ſpricht von der Muſik. Ihre braunen Augen überglänzen die Worte 
voll ſilberner Rührung, ihr dunkelgüldenes Haar bebt manchmal, als ſei es Saite, 
auf der Frühlingswind geigt, ihre ſchmalen, weißen Hände formen die weichen, 
warmen Worte noch mit andächtiger Geſte nach, ſo daß ſie Hans mit großen Augen 
und lächelnden Lippen in ſich trinkt als koſtbar Unvergeßliches. 

Sie ſagt jetzt: „Du wirſt mir heut abends geigen.“ 

Und er: „Za, ich werde die Seele fingen laſſen — für dich allein —“ 

Stahl blitzt in ſeinem Blick. Er reckt ſich. Man merkt, daß er mehr iſt als 
Musketier. Ein Seltſamer. Ein Einſamer. 

Und ſie: „Muſik aus dir — — Da werden wir ganz, ganz ferne ſein — 
ganz .. ganz . ferne . . . zweieinſamſüß verſinkend in ein Meer Seligkeit ——“ 


Hein: Ein halber Tag 299 


Die Freundin geht ſtumm neben den zwei Zitternden. Sie ahnt alles ſeit 
dem erſten Augenblick. Wie gern ließe ſie die beiden allein. 

Aber wir ſind in der Kleinſtadt! 

Sie kommen an eine Bank. Es iſt Einſamkeit. Jubelnde Finten und Amſeln 
werfen mit der güldenen Sonne und dem ſeltſam beruhigenden Licht junggrüner 
Bäume und dem lauen, leichten Wind eine Überfülle an Frühling in die Allee. 
Man iſt trunken. Man muß ſich lieben. Man muß ſich küſſen können. 

Die Freundin ſpürt, daß dieſer Drang die zwei beherrſcht. 

Sie will ein wenig weiter gehen, indes die zwei ſich niederſetzen. 

Cecilie hält ſie zurück. „Bleib! Küſſe improviſieren? Nein. Oder fie ſich 
in wenigen ängſtlichen Sekunden von den Lippen reißen? Nein.“ 

And gans ſagt traurig, aber feſt: „Es wäre nur Halbes.“ 

Alle drei Schauen ins Leere. 

Nach einer Weile ſagt Hans: „Bleiben Sie, Fräulein Herta. Wir ſind ſehr 
gluͤcklich und wollen nichts ſonſt zur Stunde.“ 

Da ſpringt Cecilie auf, tritt vor ihn hin, der in der Bank zurücklehnt, die 
Hände auf der Rückenſtütze nach beiden Seiten ausgereckt. Er brauchte fie bloß 
zuſammenzuſchlagen, da hielte er die Geliebte innig umfangen — — ! 

„Du. Lieber! Das war ſchön geſagt. Das war wunderfein ſchön.“ Und 
leis, leiſe lächelt fie mehr als fie flüſtert: „Ich liebe dich.“ 

Ihre Knie berühren ſich eine Sekunde lang ganz ſacht und unwillkürlich. 
War — das — der — erſte — Kuß — —? 

| %* % 
* 

Eine Seele iſt über eine Geige gejpannt. . . 

Und die Saiten erbeben: 

Denn du, zu der alle dieſe Klänge hauchen, jubeln, weinen und entzückt 
taumeln, biſt ewig. Darum fürchte ich mich nicht, Tod von Flandern. Donnere, 
Tod, ſchreie, Tod, reiße, raube, räche dies Glück, Tod! Du e es nicht. Dieſes 
Glück ift und iſt und iſt! Es hat keine Stunde. 

Meine Liebe liegt lachend in deiner, Cecilie. Ich werde ein hohes Feſt in 
mir tragen, wenn wir auch wüſtes, toſendes Land durchwaten. 

Nun aber will ich von dir ſingen, die ich anbete. 

Wenn ich mit andächtigen Händen über dein Haar gleite, über dein feines 
Saar, welche zauberzitternde Klänge ſinken da hinein. Klänge der trunkenen 
Seele — — — 

Wenn ich deine großen Augen trinke, deine braunen Augen, welch“ Klänge 
erbeben im ſeltſamſten Rauſch! Klänge der trunkenen Seele — — — Wenn ich 
deinen Mund ſehe, deinen niegetüßten Mund .. welch' — Klänge — 

Die Geige ſchweigt ſeufzend. Es wäre doch zu ſchön geweſen. 

„Warum, Herr Ansgard?“ fragt Frau Elmenried. (Man ſitzt im Salon 
bei Wein und Zigarette.) 

Hans muß, alle Kraft a end ein Lächeln auf ſeine Lippen 
zwingen. 

„Vergeſſen, gnädige Frau.“ 


300 Hein: Eiu halber Tag... 


„Vergeſſen —“ haucht's leiſe zwiſchen ſchmalen, blaſſen Lippen aus zer⸗ 
riſſenem Mädchenherzen heraus. Cecilie, die im Erker im Lehnſtuhl ſitzt, ſchlägt 
die Hände vors Geſicht. 

Hans erſchrickt vor Entdeckung, errötet. 

Herta zieht eilends Frau Elmenried in ein Alltagsgeſpräch. 

Cecilie ſchaut aus ihrem dämmrigen Winkel mit grell glänzenden Augen 
voll Bangigkeit auf. Nur noch wenige Minuten — — — 

„Flandern“, denkt Hans Ansgard. 

„Allein“, denkt Cecilie. 

Wo iſt die Siegesgewißheit, die noch vorhin aus ſeiner Muſik Hang? Abſchied 
zerſchlägt doch alles. 

Man ſpürt wohl, daß alles Liebe geblieben iſt, aber es wird ſtärkſter Wille 
und Glaube überdunkelt von der Pein des Riſſes. Man weiß, ſpäter wird es wieder 
lichter. Hoffnung kehrt wieder. 

Was nützt der Gedanke, wenn alles jetzt Qual, Qual, Qual iſt! 

Da — in den letzten Minuten beginnen die Seelen wieder zu ragen. 

Herta tritt ans Fenſter: „Es iſt eine wunderſame Vollmondnacht! Können 
wir Herrn Ansgard nicht zur Bahn begleiten? Frau Elmenried, dürfen wir? 
Da ſchlafen wir auch beſſer!“ 

„Hmm — Meinetwegen.“ 

Herzen jauchzen auf: Du!! Du!! Noch einen ſüßen Weg durch die Voll- 
mondnacht! Du!! Du!! 

Wie in guter, alter Zeit liegt die kleine Stadt im Mondlicht. Das gibt Mär- 
chen in die eben noch zerquälten Gedanken. Er iſt kühn und legt den Arm in den 
ihrigen. Eine ſtille Gafje lang — — Turmuhrklänge rollen durch ſie. Die alten 
Dane rumoren. Ein Brunnen fingt. 

— Doch jetzt kommt die Hauptſtraße. Klatſchtanten kehren vom Kaffeeſchmaus 
heim. Spießbürger vom Abendſchoppen. Der Nachtwächter. 

Vom Bahnhof her ertönen ſchon ſchrille Schreie von Lokomotiven. Die Arme 
löſen ſich voneinander. Augen ſtarren geradeaus. Minuten raſen. Herzen ſtocken. 

„Schreib viel!“ 

„da.“ 

„War's ſchön, Armer?“ 

„Ja, es war ſchön, Armſte!“ 

„Ich bin nicht arm. Unendlich reich!“ 

„Ich auch! Du! Ja!“ 

Noch zwei Minuten, bis der Zug kommt, der ihn fortträgt. Sollen ſie jetzt 
noch hier auf dem Bahnſteig vor allen Leuten den Kuß wagen? Denn — Hans — 
Ansgard — geht — ins — Land — des — Todes — — — 

Nein. Sie haben ſich ja geküßt! 

Ihre Seelen ſind tief ineinander getaucht, tauſendmal! 

Der Zug donnert heran. 

Ihre Hände wollen ſich nicht laſſen. 

Ein Riß. 


Britting!? Ser Soldat ö ö ö 301 


Sie gehen auseinander, [hauen ſich nur halb an („Auf Wiederſehen, Fräu⸗ 
lein Herta! Wir danken Ihnen für die Idee des Begleitens!“ 

Im Einſteigen ſchickt er Cecilie einen großen, heißen Blick. Dann ſpringt er, 
ein Schluchzen in der Kehle, in den Wagen hinein; ſchlägt die Tür zu um kann 
nicht mehr hinausſchauen. 

Herta führt die blaſſe, weh lächelnde Cecilie langſam fort. 

Tränen. 

Ein Name wird in die Nacht geſchrien! 

Ein Stern fällt vom Himmel. 

Herta ſpricht weich und lieb: „Ich habe mir gewünſcht, daß ihr gluͤcklich werden 
ſollt.“ Denn ſie ſah den Stern fliegen. 

Einer ſitzt im trüblichten Eiſenbahnzug, ſchlägt die Hände vors brennende 


Geſicht. Nichts denken, nichts denken, nichts denken — — nur immer wieder 
fühlen ihre Hände, ihre Blicke — — — die Sekunde der leiſen Berührung im 


Park — — — 


Der Soldat - Bon Georg Gritting 


So ſitzt er auf der Kante ſeines Betts; 

Schwer baumeln ſeine Beine in die Tiefe, 

Er ſtützt den Kopf, als ſei er ſchlapp und ſchliefe, 
Gefangen hält dig Schwermut ihn im Netz. 


Er horcht nach innen, als ob ihn wer riefe, 

And beugt den Kopf und weiß, geſchrieben ſteht's — 
Der Tod iſt nah, doch auch die Liebe ſtets: 

Er taſtet nach der Taſche: ah, die Briefe! 


Mit trüben Augen, Leſens ungewohnt, 

Die Finger ſtreichelnd jedes liebe Wort — 
So buchſtabiert er Zeil’ für Zeile fort 

Und hört das Brauſen nicht der nahen Front. 


Krumm ſitzt er auf dem Bett bei Kerzenſchein, 
And ſeine Beine baumeln in die Tiefe. 

Mit ſchwerer Hand liebkoſt er ſeine Briefe 

Und neigt den Kopf und nickt und ſchlummert ein, 


NV; 
45 f x * 


302 "  Reifl: Amerikaniſche Gettelbeptelſe 


ee che Getreidepreiſe 
Von Frank v. Kleiſt | 


RK der Londoner „Daily Chronicle“ vom 13. Dezember findet ſich 

an wenig auffallender Stelle in kleinſtem Druck folgende für uns 
| * als intereſſante Meldung der „Exchange Telegraph Co.“ aus 
: 9 Waſhington, deren Zahlen fo recht geeignet find, uns die überaus 
ſchwierige, um nicht zu jagen verzweifelte Lage unſerer europäiſchen Feinde vor 
Augen zu führen; und die es uns gleichzeitig erklären, woher die ſo manchem von 
uns unbegreifliche Begeiſterung der Amerikaner für die Weiterführung des großen 
Krieges ſtammt. Die Meldung lautet wörtlich: „Die Schätzung der Kriegsernte 
in Amerika durch das Landwirtſchafts-Departement zeigt, daß fie die wertvollſte 
iſt, die die Geſchichte kennt. Roggen wird auf zuſammen 315949000 Buſhels 
geſchätzt, die einen Farm Wert von 810726400 Pfund Sterling nach dem Preiſe 
vom 1. Dezember repräjentieren. Der Ertrag an Winterweizen war ſchätzungs⸗ 
weiſe 65082000 Buſhels, im Werte von 261 485600 Pfund Sterling.“ 

So arbeiten engliſche Journaliſten. Man jongliert etwas mit Zahlen, unter 
der Vorausſetzung, daß es doch keinem der Leſer ſo leicht einfallen wird, dieſe 
Zahlen ſich zu berechnen, und ſollte der eine oder der andere es wirklich tun — 
nun, jo hat man ja die Wahrheit geſagt, ohne die große Öffentlichkeit irgendwie 
zu beunruhigen. Begehrt ſpäter, wenn die Tatſachen ihre bittere Sprache ſprechen, 
die Menge auf, ſo kann man mit gutem Gewiſſen darauf verweiſen, daß man ja 
ſchon längſt auf dieſe Dinge aufmerkſam gemacht habe. 

Was aber die obigen Zahlen beſagen, wollen wir unſeren Leſern einmal in 
deutſche Werte umrechnen. Dreihundertund fünfzehn Millionen neunhundert und 
neunundvierzigtauſend Buſhels Roggen haben einen Marktwert von achthundert⸗ 
undzehn Millionen ſiebenhundert und ſechsundzwanzigtauſend vierhundert Pfund 
Sterling, d. h. ein Buſhel zu 35,237 1 koſtet Mark 52.42. Rechnet man den Liter 
Roggen zu einem Durchſchnittsgewicht von 750 Gramm, ſo wiegt ein amerikani- 
ſches Buſhel 25, 722 Kilogramm. Das entſpricht einem Preiſe von zwei Mark 
und vier Pfennig für ein Kilogramm Roggen. 

Bei Weizen wiegt der Liter etwa 760 Gramm, das Buſhel alſo 26, 780 Kilo- 
gramm. Hier ſtellt ſich, da der Wert eines Buſhels vom Landwirtſchafts Departe⸗ 
ment auf E 4.017 = Mark 82.07 angegeben wird, der Preis für ein Kilogramm 
Weizen auf drei Mark und ſechs Pfennig. Dieſe Preisſchätzungen verſtehen ſich, 
wie ausdrücklich betont wird, ab Farm. Es kommen alſo noch alle die Zuſchläge 
des Zwiſchenhandels, des Transportes und der Transportverſicherung hinzu. Bis 
alſo das amerikaniſche Getreide von 1917 in die Hände der Engländer, Franzoſen 
uſw. gelangt, bildet ſich ein ganz geſalzener Preis dafür aus. 

Amerika hat eine recht geringe Ernte gehabt, und das Staaten ⸗Miniſterium 
hat ſchon vor Monaten darauf aufmerkſam gemacht, daß man nur in der Lage ſei, 
um rund zweihundert Millionen Zentner Weizen weniger zu liefern, 
als die mit Amerika verbündeten Staaten unbedingt zum Durchhalten 


Walter: Holde Verlockung 509 


benötigen. Bis zu dem Augenblicke, wo aus dieſen Gründen nichts, überhaupt 
nichts mehr geliefert werden kann, müſſen alſo dieſe noch nie dageweſenen Preiſe 
bezahlt werden, wenn man überhaupt etwas von Amerika erlangen will und damit 
iſt das Getreide noch lange nicht in den Häfen unſerer Gegner angelangt. Was 
wird da das Pfund Brot in den Ländern der Entente koſten? 

Faſt wäre man verſucht, dieſe Angaben der „Daily Chronicle“ für irrtümlich 
ober übertrieben anzuſehen, wenn nicht einige Nummern ſpäter die Schriftleitung 
nochmals auf die hohen Getreidepreiſe zu ſprechen käme, wobei ſie hervorhebt, daß 
die diesjährigen Preiſe alles bisher Dageweſene weit in Schatten ſtellen. Es ſtimmt 
alſo tatſächlich. Möchten daher unſere Staatsmänner bei den kommen- 
den Verhandlungen mit England dieſe verzweifelte Lage in der Nah- 
rungsmittelverſorgung bei den Feinden auch keinen Augenblick aus 
den Augen laſſen! 


S 


B ea) 
Holde Verlockung Bon Robert Walter 


Zwiſchen Wettern, zwiſchen Sonnen 
Macht mein Herz die liebe Reiſe. 
Aber Schroffen, Furt und Schneiſe 
Iſt das ſtillſte Tal gewonnen. 


Gärten ſchlafen ein im Grunde, 
Mond hebt ſich zum Tau der Sterne. 
Schwärmend lieg’ ich, ach! wie gerne! 
An der Träume ſüßem Munde. 


Hier hält dich Natur geborgen. 

Wo die fanften Quellen ſteigen, 
Spielt aus dir das Licht den Reigen. 

Holder kränzt dich jeder Morgen. 


Sonne gräbt in deine Schlüfte. 
Reifewind wird dir gewogen. 
Regen ſpannt den Farbenbogen, 
Und Geſang bewegt die Lüfte. 


Was ſoll all dein Heimverlangen? 
Ziehe, ſüßer Wind, und brauſe! 
Überall biſt du zu Haufe, 

Wo du ganz von dir umfangen. 


Ewig ſtill und ewig ſchnelle 

Bleibſt du, Herz, mit Luſt umfloſſen. 
Gluck der Welt auf allen Noſſen! 
Feuerſpiel und blaue Welle! 


N 


304 Weiß v. Ruckteſchell: „Ich hunn aach e Gilt geſeihe 


„Ich hunn aach e Glick geſeihe“ 
Bon Alice Weiß ⸗ v. Ruckteſchell | 


ls die Bawett ihr ſchönes Schecketche ſchlachten mußte, verkaufte fie 
das Fleiſch billig und ohne Marken. Aber damals gab fie den Leu- 
ten viel mehr als nur billiges Kuhfleiſch. Auf einmal war halt das 
5 Unglück hinter der Bawett her. Daß der Peter ins Feld mußte, 
no ja, das paſſierte faſt allen Weibern. Dann ſtarb das kleine Hänsche — das 
war ſchlimm und traurig, doch war er immerhin der Fünfte von ſieben. Aber als 
acht Tage darauf die ſchöne große Scheckete geſchlachtet werden mußte, da war's 
um der Bawett ihre Faſſung geſchehen. Die Scheckete war ihre beſte Milchkuh 
und hatte vor kurzem gekalbt. Irgendwie war eine Haarnadel ins Heu geraten; 
daran fraß ſich die Scheckete den Tod. Sie wälzte ſich ſtöhnend im Stall und 
ſtarrte die Bawett mit großen, bangen Augen an. Die lief zum Tierarzt — und 
vierundzwanzig Stunden ſpäter hing die Scheckete als markenfreies Fleiſch in 
Metzger Heilebergers großer Scheune, das Pfund zum Höchſtpreis von einer Mark 
fünfzig. 

Die Bawett ſtand dabei und weinte. Ihr war's, als ſchnitte man mit jedem 
Pfund Fleiſch ein Stück von ihrem Herzen. 

„Ich trau’ mir als nit, es dem Peter ſchreiwe“, klagte die Bawett. „Liewer 
Gott — der vorich Woch' der Bu, un beit’ die Kuh!“ Sie ſchluchzte leiſe. 

Die anderen tröſteten. Jeder hatte ſein Leid. „No, Bawett,“ ſagte der 
Bäcker Geiß, „alleweil haft noch Glick aach beim Unglick. Es hätt' aach fu kumme 
kenne, daß de 's Fleiſch ni' hättſt verkaafe derfe. Der Herrgott mecht's alleweil 
gut. De Menſche ſehe nor immer 's Unglick, awwer 's Glick ſehe ſe net.“ 

Da hob die Bawett den Kopf. Ihr blaſſes, vergrämtes Geſicht ſah beinahe 
ſchön aus durch den geſchmerzten Leidenszug um den Mund und die rotgewein- 
ten Augen. Sie hatte gerade der Zeit gedacht, wo die Scheckete noch ein Kälb⸗ 
‚hen war und der Peter daheim und der Bu klein und froh und lebendig. Fhre 
Hände hatten ſich unter der Schürze gefaltet. 

„Nau, nau!“ ſagte ſie, wie abwehrend, und ſchüttelte den Kopf, und nun 
klang ihre Stimme ganz feſt und freudig. „Ich hunn aach e Glid geſeihe.“ 

And fie ſagte das jo überzeugt davon, daß fie einmal reſtlos glücklich war, 
und ihre Augen blieben ſo trocken von dieſem Augenblick an, daß alle, die tröſten 
hatten wollen, ſtill blieben. Und ſie dachten: Wenn ein Unglück ums andre kommt, 
wieviel Kraft muß das geben, wenn man fo voll Dunk ſagen kann, wie die Bawett: 
„sh hunn aach e Glick geſeihe.“ 


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erſten Male das Wort „Vermögens abg abe“ in das Land ſchleuderte, bemächtigte 
j ſich faſt des ganzen Volkes eine Aufregung, wie fie trotz der Kriegszeiten lange 
nicht dageweſen war. Die Sparkaſſen und Banken wurden beſtürmt und konnten nicht genug 
Geld fluͤſſig machen in der kurzen Zeit, um all die Angſtlichen zu befriedigen. Nach und nach 
brach ſich, durch die maßgebenden Kreiſe beruhigt, die Welle, der „run“ ebbte ab, und die Kaſſen 
füllten ſich wieder mit den „Spargroſchen“ der Kleinkapitaliſten. Warum dieſe Aufregung, 
haben die meiſten dieſer Uberängſtlichen wohl nicht gewußt, und an den geſetzmäßigen Weg 
einer jeden neuen Geldquelle und an die vorherige Stellungnahme des Reichstags hat niemand 
gedacht. Zunächſt war es daraufhin verpönt, eine Vermögensabgabe in die Erörterung zu 
ziehen, aber nach und nach gewöhnt ſich der Menſch bekanntlich an alles. | 
So kam aus Ungarn die Nachricht, daß die Vorarbeiten zu einer einmaligen Ver- 
mõgensabg abe, welche die Deckung der Kriegskoſten aufbringen ſoll, bereits getroffen werden, 
und kein Men in Ungarn ſcheint ſich dadurch aus der Ruhe bringen zu laſſen. Auch aus Oſter- 
teich hört man keinerlei Stimmen, die ein Übergreifen dieſer Finanzmaßnahme in das eigene 
Haus fürchten und deshalb in Erregung geraten. Und wenn heute oder morgen der eine oder 
andere Finanzmann unſeres Reichs trotz der bereits erfolgten ſcharf ablehnenden Stellungnahme 
des Grafen Poſadowsky ein derartiges „Steuerungeheuer“ bis zum Regierungs vorſchlage und bis 
zum Reichstag brächte, ſo würde zweifellos der Vorſchlag eine rein ſachliche Erörterung finden. 
Zn Ungarn plant man eine 15prozentige Vermögens abgabe zugunſten des Staates, 
die in fünf Zahren getilgt werden kann, und wobei die kleinen Sparer geſchont, Vermögen unter 
10000 Kronen nicht in Mitleidenſchaft gezogen werden. Es ſoll jedem Leiſtungspflichtigen 
freigeftellt werden, feine Abgabe in natura zu leiſten, das Wie bedarf noch der näheren Ver- 
einbarung. Andererſeits wird ſich die Steuerpflicht auch auf Kunſtwerke und Juwelen erſtrecken, 
damit nicht durch Ankauf von derartigen Luxusgegenſtänden der Staat um feine volle Ein; 
nahme gebracht wird. 5 
Auch in Eng land wird die Frage der Vermögensabgabe ganz angelegentlich erwogen, 
und zwar infolge einer Äußerung des Schatzkanzlers Bonar Law „in einer privaten Unterredung 
mit zwei Arbeiterfuüͤhrern“, wie er jetzt ſelbſt im Unterhaufe betont. Die Möglichkeit der Abgabe 
hat aber im Lande große Erregung hervorgerufen und den Miniſter zu einer Erklärung im 
Unterhauſe veranlaßt. Mit vielen Worten verſucht er nun die ganze Erwägung als eine rein 
akademiſche hinzuſtellen, der er ganz vorurteilslos gegenüberftehe. Im Grunde will er aber 
doch die Frage der Kapitalsabgabe einigermaßen ſchmackhaft machen und e Leute an den 
Gedanken gewöhnen. 
Der Türmer XX, 19 20 


506 j Vermögens abgabe ober Reichsſteuer? 


Auch Asquith weiſt in feiner nachfolgenden Rede die Möglichkeit einer Vermögensabgabe 
nicht ganz von der Hand. Die Folge davon iſt, daß ſich alle engliſchen Zeitungen mehr oder 
weniger mit dieſer Frage beſchäftigen, fie aber zum weitaus größten Teil bekämpfen. „Die 
ganze Idee iſt unmöglich“, ſagt die „Financial Times“. „Die Erträgniſſe des Kapitals zu be- 
ſteuern, iſt wohl angebracht, das Kapital ſelbſt wegzunehmen iſt aber etwas ganz anderes und 
bedeutet nichts als die Henne zu töten, die die goldenen Eier legt. Die einzige „Zwangsaus⸗ 
hebung des Reichtums“, die möglich und mit geſunden Finanzverhältniſſen verträglich iſt, 
beſteht in der unmittelbaren Einkommensbeſteuerung, — die Einkommenſteuer betragt in 
England bis zu 25 % —, und wir freuen uns, daß Bonar Law ſcheinbar begriffen hat, daß 
man damit ſchon ſo weit wie möglich gegangen iſt. Aber indem er mit dem Gedanken einer 
Vermögensabgabe ſpielt, hat er dieſen in einer tief bedauerlichen Weiſe gefördert, und gerade 
die Unbeſtimmtheit der von ihm dabei gebrauchten Ausdrücke macht das noch gefährlicher, 
denn der Gedanke würde wenig Anhänger finden, wenn Natur und Folgen der Maßregel 

voll und ganz erläutert würden.“ 

In England findet der Gedanke der Vermögensabgabe alſo wenig Gegenliebe. In 
Deutſchland würde es vermutlich ebenſo fein, wenn ein ſolcher Vorſchlag eingebracht würde. 
Eine derartige Konfiskation des Vermögens iſt ein ſo ſtarker Eingriff in das Eigentumsrecht 
der Staatsbürger, daß von einer „Steuererhebung“ nicht mehr die Rede fein kann, wenngleich 
nicht zu leugnen iſt, daß jede Beſteuerung etwas Konfiskatoriſches an ſich hat. Das natürliche 
Gefühl des Steuerzahlers ſträubt ſich jedenfalls heftig dagegen. Auch die wirtſchaftlichen Folgen 
einer derartigen Maßnahme ſind ganz ungeheuere und laſſen ſich in ihrer ganzen Tragweite 
gar nicht vorausſehen. Es ſoll indes an dieſer Stelle nicht die Rede fein, inwieweit die Volks 
wirtſchaft Schaden davon tragen würde — Graf Poſadowsky hat das in der Beſprechung 
des Reichshaushaltplanes näher begründet, und die „Financial Times“ deuten das recht gut 
an mit dem Töten der Henne, welche goldene Eier legt —, ſondern die praktiſche Frage iſt die, 
hat Deutſchland eine Vermögensabgabe nötig und auf welche Weiſe kann es dieſe umgehen? 

Wenn man ſich mit der Finanzierung der Reichskaſſe und mit der Abbürdung der Rriegs- 
laſten beſchäftigt, ſo iſt man gern geneigt, einen Blick auf das Ausland zu werfen, um zu ſehen, 
ob dort ein Allheilmittel gefunden iſt; denn auch vom Gegner ſoll man lernen. Aber von allen 
ausländiſchen Staaten, die durch den Krieg in große Schulden geſtürzt worden find, iſt nur 
England und Amerika unter denjenigen zu nennen, die bereits während des Krieges beſſere 
Einnahmen und Steuern erzielen als Deutſchland; und zwar verdankt England den Mehr- 

betrag feiner bereits erwähnten hohen Einkommenſteuer und nicht zuletzt feiner Kriegsgewinn⸗ 

ſteuer, die bis auf 60 % hinaufgeſchraubt worden iſt und mit 7 bis 8 Milliarden Mark gebucht 
werden muß. Auch die Vereinigten Staaten haben neben der Erhöhung der Einkommen- 
ſteuer (4 Milliarden Mark) die Kriegsgewinne ſtark zugunſten der Geſamtſtaaten belaſtet und 
daneben ein ſehr vielſeitiges indirektes Steuerſyſtem ausgebildet. 

Für Oeutſchland geſtaltet ſich die Frage dadurch ſchwierig, daß nicht allein das Reich 
einer vermehrten Steuereinnahme bedarf, ſondern auch die Einzelſtaaten und die Gemeinden. 
Urſprünglich wollte man dem Reiche gemäß Art. 70 der Reichsverfaſſung nur indirekte Steuern 
zuſprechen, daneben die Erwerbseinkünfte, die naturgemäß gering find, und die Matrikular⸗ 
beiträge. Abgeſehen davon, daß der Art. 70 mit den Worten, es dürfen Matritularbeiträge er- 
hoben werden, ſolange Reichsſteuern nicht eingeführt find, mutmaßlich direkte Steuern gemeint 
hat, denn indirekte beſtanden damals bereits, entbehrt dieſe Frage meines Erachtens jedweder 
praktiſchen Bedeutung; denn wenn es gilt, dem Reiche Geldmittel zur Verſtopfung der 
durch den Krieg geriſſenen Lücken zu verſchaffen, könnte man notfalls auch die Abänderung eines 
Verfaſſungsartikels verantworten, wenn nicht der Verfaſſungstext dieſe Maßnahme unnötig 
machte. Außerdem hat das Reich an direkten Steuern bisher bereits einige eingeführt. Es fei 
nur an den Wehrbeitrag und an die im Kriege eingeführte Vermögenszuwachsſteuer erinnert. 


Vermögensabgabe ober Neichsſteuer ? 307 


Daß Oeutſchland, lediglich um die auf über 100 Milliarden Mark angewachſenen Kriegs- 
ſchulden zu verzinſen, und zu diefem Zwecke allein ohne Kapitaltilgung 6 bis 7 Milliarden 
aufzubringen, mit dem ſog. „Omnibus“ Programm, d. i. zu faſt allen beſtehenden Steuern 
Zuſchläge zu erheben, nicht auskommen kann, bedarf keiner weiteren Erörterung. Es müſſen 
neue Steuerquellen zum Fließen gebracht werden, aber welche? — x 

Ser Gedanke an eine Reichseinkommenſteuer tauchte bereits im Frieden des öfteren 
auf, hat aber als größten Gegner die Tatſache, daß das Einkommen bereits von ſeiten der Einzel- 
ſtaaten und der Gemeinden ſo ſtark in Anſpruch genommen iſt, daß eine weitere Belaſtung 
durchaus ungeſund, der Ertrag außerdem ſo gering wäre, daß er der aufzubringenden Summe 
gegenüber fehr wenig ins Gewicht fallen würde. Es bleibt außerdem zu beachten, daß eine zu 
ſtarke Belaſtung des Einkommens Veranlaſſung zur Auswanderung und deshalb zur Schwächung 
unferer Volkskraft gibt. 

Die im Juni 1917 eingeführte Kriegsgewinnſteuer iſt demgegenüber bei weitem 
ertragreicher und iſt mit 5 ½ Milliarden Mark veranſchlagt worden. Dieſe Steuerquelle ver- 
ſiegt indeſſen mit Kriegsende, und das Reich wird ſich in erſter Linie der indirekten Be- 
ſteuerung zuwenden muͤſſen. 

Als Nordamerika ſich nach dem Sezeſſionskriege einer Schuldenlaſt von 11 Milliarden 
Mark gegenüberſah, konnte es ſich aus dieſer für damalige Verhältniſſe ſtarken Verarmung nur 
durch allerhand Verbrauchsſteuern retten. Auch wir werden uns an den Gedanken eines 
vielverzweigten Verbrauchsſteuerſyſtems gewöhnen müſſen, ſei es nun eine Amſatzſteuer, 
die ſich auf jeden Beſitzwechſel erſtreckt, ſei es eine Erzeugungsſteuer, die vom Herſteller 
erhoben wird. Weniger zu empfehlen iſt in jedem Falle die Beſteuerung der Nohſtoffe, aber 
auch das wird ſich nicht vermeiden laſſen. Eine ergiebige Quelle iſt z. B. die voriges Jahr ein- 
geführte Kohlenſteuer mit 500 Millionen Mark (20% der Kohlenförderung), wenngleich zu 
bedenken bleibt, daß dieſe Steuer nicht nur alle Perſonen, ſondern auch alle Snöuftrieerzeug- 
niſſe belaſtet. Aus dieſem Grunde iſt eine ſchärfere Heranziehung der Fertigfabrikate mehr zu 
empfehlen, die ſich nach den Bedürfniskreifen richtet und den Luxus am ſtärkſten trifft. 

Man hat den Warenumſatz in Deutſchland auf 37 Milliarden Mark jährlich geſchätzt 
und dem Reiche ausnahmsweiſe eine 15 Kige Steuer vom Verbrauchspreiſe zugeſprochen, 

dann würde dadurch bereits ein Gewinn von über 5 Milliarden erreicht. Die Folge davon 
wäre natürlich eine allgemeine Verteuerung der Lebenshaltung. Aber man könnte ja die 
notwendigen Nahrungsmittel geringer belaſten. Das Minus wäre dann durch Zölle und 
Monopole auszugleichen. An Monopolen kommt vielleicht in erſter Linie das auf Tabak in 
Frage, das bereits Bismarck in Vorſchlag gebracht hatte; dann ein Branntweinmonopol, ein 
ſolches auf Salz, Petroleum uſw. Beſonderen Ausbau verdient das natürliche Kalimonopol 
Deutſchlands, das mit einer guten Zolleinnahme in Verbindung gebracht werden kann. 

Indes, wenn man alle dieſe Steuerſyſteme noch ſo fein ausklügelte und ſo gerecht als 
möglich zu geſtalten ſuchte — eine abſolut gerechte Steuer gibt es ebenſowenig wie eine gern 
bezahlte — es haftet ihnen allen der Mangel an, daß die unteren und mittleren Klaſſen der Be- 
völkerung ſehr ſtark in Anſpruch genommen werden. Man wird deshalb von ſelbſt auf das Ge- 
biet der Reichserbſchaftsſteuern gelenkt. Es wurde vor einiger Zeit wieder einmal das 
Syſtem vorgeſchlagen, wonach das Reich jeweils bei Vorhandenſein bis zu drei Kindern einen 
Kindeserbteil miterhält. Sind alſo drei Kinder vorhanden, fo ſteht dem Reiche der vierte Kindes 
erbteil zu. Bei vier und mehr Kindern erbt das Reich dagegen nicht mit. Dieſes Syſtem hat in 
erſter Linie bevölkerungspolitiſche Bedeutung, dürfte aber gleichzeitig eine gute Einnahme- 
quelle des Reiches bedeuten. Der Gedanke iſt indes wenn auch nicht neu, ſo doch zu wenig 
geläufig, als daß er Ausſicht hätte, verwirklicht zu werden. 

Mehr Anhänger und mehr Ausſicht auf Verwirklichung hat die Bambergerſche Reichs- 
erbſchaftsſteuer, die ſchon im Jahre 1915 Gegenftand eines Geſetzentwurfs war. Wenn auch 


308 | Drei Sachverſtändige des „Berliner Tageblattes“ | 


Bamberger nicht als der Urvater des Gedankens anzuſprechen iſt, fo verſucht er doch, man 
muß jagen leider, ſeit 25 Jahren vergebens, ſeinem Syſtem zu einem „Gele zu verhelfen. Es 
iſt im Rahmen diefes Aufſatzes nicht möglich, auf das „Reichs erbrecht“ näher einzugehen. 
(Vergl. Bam berger, Erbrecht des Reiches und Erbſchaftsſteuer, Oeichertſche Verlagsbuch⸗ 
handlung Leipzig 1917.) Es ſei nur auf den Grundgedanken hingewieſen. 

An Stelle des teſtamentloſen Erbrechts der Seitenverwandten, eines Produkts des alten 
römiſchen Rechtes, tritt das Erbrecht des Staates. Die „lachenden Erben“ ſollen alſo i in Weg⸗ 
fall kommen. Oerartige Glückliche gab es im Fahre 1912 nicht einmal 50000, die in Schutz 
zu nehmen das Reich kein Intereſſe hat. Das Ergebnis dieſes Erbrechts beläuft ſich auf zirka 
1. Milliarde. Schließt man die Seitenverwandten auch von der Teſtamentserbfolge aus, 
wie es bereits Schmoller und 1907 auch Bamberger vorſchlug, und ſetzt an deren Stelle das 
Reich, ſo kann man dieſe Summe leicht um ein Beträchtliches erhöhen. Dieſe Art der Steuer 
dürfte zu den ergiebigften zählen und am wenigſten drückend empfunden werden. 


Dr. jur. et phil. Wilhelm e 


Drei Sachverſtändige des „Berliner Tageblattes - 


59 0 rei Weiſe aus dem Morgenlande“ nennt ſie Prof. Dr. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, 

9 der fie in der „Deutſchen Tageszeitung“ einem ſtaunenden publioo vorführt. Oieſe 
5 3% drei ſtarken Männer oder Weiſen hat er ſich mit einem glüdlihen Griff aus der Wochen · 
ausgabe des „Berliner Tageblattes“ und zwar der Sondernummer „Oſteuropa“ eingefangen. 
Eine derart veranſtaltete und betitelte Ausgabe läßt immerhin ſchon allerhand Sachkenntnis, 
ehrliche Liebe zur Wahrheit, einen Wettſtreit der Beſten erwarten. Aber die Erwartungen werden 
noch übertroffen, der Sprecher darf in feiner köſtlichen Vorführung feſtſtellen: „Erſchuͤttert und 
vernichtet muß man da eine Fülle von Weisheit über ſich ergehen laſſen. Zum erſten Male 
erfährt man aus berufenem Munde, was eigentlich dem Oeutſchen Reiche frommt, wie man 
fremde Völker behandeln muß, wer dieſe Völker eigentlich ſind. 

A.b'bbr dieſe letzte Frage orakelt niemand geringeres, als der Abgeordnete Gothein, 
einer der feinſten Köpfe im Lager der Freiſinnigen. Und wichtig, wertvoll und neu iſt es, was 
er uns mitzuteilen hat. Er legt Deutſchlands Verhältnis zu den ehemals ruſſiſchen Rand- 
ſtaaten feſt. Mit Litauen befaßt er ſich nur flüchtig. Bloß im Vorübergehen ſagt er aus, daß 
die Litauer ugrofinniſchen Stammes ſeien. Dann aber wendet er ſich den baltiſchen 
Provinzen zu und verkündet, daß Kurland, Livland und Eſtland eigentlich Lettland 
heißen müßten, da fie von dem gleichfalls ugrofinniſchen Stamme der Letten bewohnt 
find, während die Deutfchen nur eine dünne Oberſchicht bilden. Denn , die Bauern, wie die 
Land- und Induſtriearbeiter, das Geſinde, die Kleinhandwerker find Letten, ob fie ſich nun 
Kuren, Liven oder Eſten nennen“. Dieſes Lettland nun will Herr Gothein keinesfalls in ein. 
näheres Verhältnis zu Deutſchland bringen, da das eine ewige Reibungsfläche zwiſchen ihm und 
Rußland ſchůfe. Daran aber, daß England nach dem Baltikum ſtrebt, vermag er nicht zu glauben. 

Damit hat Herr Gothein von feinem Standpunkt aus natürlich recht. Pſpchologie beruht 
bekanntlich in erſter Linie auf Selbſtbeobachtung. Wenn engliſche Staatsmänner die Oenk⸗ 
und Empfindungsweiſe freiſinniger Abgeordneten hätten, würden fie auf ſolche verbrecheriſche 
Machtpläne ſicherlich nicht verfallen. Und wenn es gelänge, Rußland in den Glauben zu ver- 
ſetzen, daß dieſelben freiſinnigen Abgeordneten in Oeutſchland etwas zu ſagen haben, wird es 
ſich ſelbſtverſtändlich die Ablöſung der Randſtaaten nicht gefallen laſſen. Von dieſen Thebanern 
würde auch San Marino nichts hinnehmen, vielmehr gegen das von ihnen regierte Reich eine 
energiſche Macht- und Annexionspolitik treiben. 


Drei Sachverſtänbige des „Berliner Tageblattes“ 309 


i Im übrigen aber müffen wir Herrn Gothein dankbar fein, daß er uns fo ganz neue Auf- 

ſchlüſſe gibt. Bisher glaubten ſelbſt die ungenügend unterrichteten Fachgelehrten, nicht bloß 
die unwiſſenden Landesbewohner, daß Letten und Lit auer indogermaniſchen Stammes 
ſind und mit den einſtigen Preußen einen beſonderen, den Slawen naheſtehenden Zweig 
desſelben darſtellten, ferner, daß die Kuren ganz, die Liven bis auf einen kleinen Reſt von 
einigen hundert Menſchen ausgeſtorben ſind, daß die Letten hingegen Kurland und 
Südlivland, die Eſten aber, die wirklich ugrofinniſchen Stammes und den Finnen nahe 
verwandt ſind, Nordlivland und Eſtland, d. h. etwa die Hälfte des baltiſchen Ge- 
biets, bewohnen. Nach dieſer nunmehr als irrig erkannten Anſicht beſtand ſogar ein recht 
ausgeſprochener Gegenſatz zwiſchen Letten und Eſten, die weder in Abſtammung, noch in 
Sprache auch nur das mindeſte miteinander gemein haben, und es hieß, daß dieſer Gegenſatz 
politiſch ſehr bedeutſam iſt und die Stellung der Deutſchbalten immer weſentlich erleichtert 
hat. Aber jetzt wiſſen wir, daß alles das ganz anders iſt, als wir glaubten. Dank, heißen Dank 
ſchuldet man Herrn Gothein, dem freiſimmigen Recken, für dieſe Aufklärung. 

Wuͤrdig ihm zur Seite ſteht Herr Hans Vorſt, der Sachverſtändige des ‚Berliner Tage 
blatts“ für ruſſiſche Angelegenheiten. Auch er warnt im Kaſſandratone vor einer Angliederung 
der Oftſeeprovinzen. Man binde das Oeutſche Reich nicht durch eine endgültige Regelung, ehe 
es ſich erwieſen hat,, daß ein freiwilliges Hand- in⸗Hand-Gehen auf demokratiſcher Baſis denkbar 
ift‘, d. h. natürlich ein Hand- in- Hand- Gehen mit den Letten und Eſten. Denn es verſteht ſich von 
ſelbſt, daß das glücklichen demokratiſchen Zeiten entgegenſchreitende Deutſchland eine reaktio- 
näre Politik, die es mit den Oeutſchbalten verbände, nicht treiben wird. Wie ſchön, daß Herr 
Hans Vorſt für Deutſchlands Zukunft ſorgt, der ſelbe Herr Hans Vorſt, deſſen völkiſches 
Empfinden fo ſtark ift, daß er, der freilich nur feiner Abſtammung aus achtbarer Pfarrersfamilie, 
nicht aber ſeinem Lebensgang nach, ſelbſt Balte iſt, bei Kriegsbeginn alle Beziehungen 
zu den Landsleuten abbrach, damit ihre deutſche Geſinnung ihn nicht in den Augen 
der ruſſiſchen Regierung kompromittiere. Und wie gut, daß er die Fahne der Freiheit 
und Demokratie hochhält, er, der ohne in irgendeinem Verhältnis zur Wiſſenſchaft zu ſtehen 
und unter geſetzwidriger Umgehung der akademiſchen Inſtanzen, von dem reaktionärſten 
aller ruſſiſchen Anterrichtsminiſter, Caſſo, ein mehrjähriges Auslandsſtipendium 
zwecks Ausbildung zu einer Profeſſur erbat und damit die bindende Verpflichtung über- 
nahm, ſich dieſem ſpäterhin bedingungslos zur Verfügung zuſtellen, ein Katheder 
aus ſeiner Hand zu empfangen und ihm als Werkzeug in ſeinem Kampf gegen 
die Selbſtänd ig keit der Hochſchulen zu dienen. Nun freilich ift Caſſo tot und das Stipen- 
dium verzehrt. Die Bolſchewiki werden den Vechſel des Herrn Vorſt kaum diskontieren, und 
nichts hindert ihn, für alles Edle und Hohe zu ſchwärmen. Hoffen wir, daß das ‚Berliner Tage- 
blatt‘ ihm demnächſt die Redaktion der Hochſchulnachrichten und damit den Kampf für die Frei- 
heit der Wiſſenſchaft gegen die Tyrannei des preußiſchen Kultusminiſteriums überträgt. 

Als dritter im Bunde tritt Herr Dr. Bernhard Dernburg auf, der es nie vergißt, 
den demokratiſchen Leſern des ‚Berliner Tageblatts“ mitzuteilen, daß er Staatsſekretär a. D. 
iſt. Er beſchäftigt ſich mit der baltiſchen Siedlungsfrage und mißbilligt natürlich alle in dieſer 
Richtung gehegten Pläne. Eines aber wurmt ihn beſonders. Die baltiſchen Großgrundbeſitzer 
haben bekanntlich ein Drittel ihres Landes zu Siedlungszwecken zur Verfügung geſtellt, und 
zwar au, den ſehr niedrigen Preifen, die vor dem Kriege galten. Herr Dernburg findet das 
unbeſcheiden und ſchlägt ſtatt deſſen allen Ernſtes vor, nur ein Viertel zu nehmen, dieſes aber 
unentgeltlich. Dem kindlich reinen, ſtets opferwilligen Sinn, wie ihn die Tätigkeit als Bank- 
direktor nun einmal unvermeidlich züchtet, mag ſolches natürlich ſcheinen. Darin liegt wohl die 
Erklärung für den Vorſchlag, den man, tief gerührt durch Herrn Dernburgs grenzenloſe Un- 
eigennüͤtzigkeit, dankbar zur Kenntnis nehmen möge. 

Im Gefolge dieſer drei Weiſen tritt Herr Joſef Schwab auf, der im Leitartikel flehentlich 


310 Oer Vater der fäulnisfreien a 


15 das jetzt wehrloſe, aber bald wieder märchenhaft ſtarke Rußland nicht zu ſchädigen, ins 
beſondere aber, ſoweit es um die Randſtaaten und unter ihnen die baltiſchen Provinzen geht, die 
Beſtätigung der von den Landesräten geäußerten Wünſche ‚auf breiter Grundlage‘ abzuwarten. 

Soll man ihnen noch Herrn Joffe angliedern, der den freiheitsdurſtigen Leſern ebenſo 
warm als Botſchafter empfohlen wird, wie Herr Dernburg als Staatsſekretär? Tatſächlich, 
auch er wird als Mitarbeiter des ‚Berliner Tageblattes“ vorgeführt, obgleich er ſich damit be- 
gnügt hat, auf eine Reihe ungewöhnlich — ſagen wir — naiver Fragen Antworten zu erteilen, 
in denen er ſich noch ſichtbarer über das ‚Berliner Tageblatt“ luſtig macht, als fein Herr und 
Meiſter Trotzki ſeinerzeit über des Tageblattes Abgott, Herrn v. Kühlmann. 

Es klingt ja recht luſtig, was ſie zuſammenſchreiben, vom ugrofinniſchen Lettland, vom 
ſtarken Rußland, von den habgierigen Baronen. Zft’s aber nicht eigentlich entſetzlich, daß ſo 
etwas in deutſcher Sprache deutſchen Leſern gefagt, in Zehntauſenden von Nummern 
im Oeutſchen Reich verbreitet werden darf?“ 


Ye 

Der Vater der fäulnisfreien Wundbehandlung 
9 u ) Abend, weſſen wir alle ſchon Zeuge waren, die Schöpfer höchſt fragwürdiger 
65 Heilverfahren in den Himmel erhoben wurden, hat man umgekehrt unanfedt- 
5 0% baren Wohltätern der körperlich leidenden Menſchheit das Leben zur Hölle ge- 
macht. Ein geradezu grauenerregendes Beiſpiel für dieſen Satz iſt das Schickſal des Vaters 
der fäulnisfreien Wundbehandlung, des Ignaz Philipp Semmelweis, der am 1. Juli 
1818 wohl der Erde, aber nicht ſich zum Heile geboren wurde. Daß ihn die Briten einen Ungarn 
nennen, ändert ja nichts an der Tatſache feiner Deutſchbürtigkeit, obwohl er in Ofen zur Welt 
kam. Wohl aber könnten ſich deutſche Gelehrte an den Briten ausnahmsweiſe ein Beiſpiel 
nehmen und Semmelweis wenigſtens in der Vorgeſchichte der fäulnisfreien Wund behand⸗ 
lung nennen, wenn anders fie ihn nicht als ihren Schöpfer feiern wollen. Denn ſelbſt die En- 
cyclopaedia Britannica gibt dieſe Vorläuferſchaft zu; dagegen haben es noch in den letzten 
Jahren deutſche Profeſſoren fertiggebracht, Lord Liſter, den Briten, in allen Tonarten als 
den Bringer des Segens zu preiſen, den wir grade unſerm Semmelweis verdanken, und da- 
bei dieſen ins Irrenhaus gehetzten Märtyrer der Medizin auch nicht mit einem Sterbens- 
wörtchen zu erwähnen! And dabei konnten ſich dieſe Britenanbeter aus mehr als einem 
halben Dutzend fachmediziniſcher Werke die Belehrung holen, daß alles Entſcheidende in der 
fäulnisfreien Wundbehandlung bereits urwüchſig durch Semmelweis gefunden und bereits 
von ihm auch der Weg gewieſen war, den man nach dem Lord Liſterſchen Zwiſchenſpiel, deſſen 

Verdienſte nicht geleugnet werden ſollen, wieder beſchritten hat. 

Sonne und Sauberkeit hat man als Heilfaktoren in dem letzten Jahrhundert iminer 
höher einſchätzen gelernt. Sauberkeit iſt ein vergleichsweiſer Begriff. Der Erhebung der 
Heilwiſſenſchaft auf eine höhere Stufe der Sauberkeit verdankt die Kunſt des Arztes viel 
leicht ihren größten und anſehnlichſten Fortſchritt im 19. Jahrhundert. Und der Erzieher zu 
dieſer größeren Reinlichkeit war Semmelweis. Einzig und allein durch gründlicheres Ver⸗ 
fahren in der Reinhaltung von Wäſche und Werkzeugen hat dieſer Heilbringer die medizini⸗ 
Ihe Wiſſenſchaft mehr gefördert, als wohl den modernen Verjauchungsprieſtern, den Der- 
unſauberern des Blutes, in völliger Verkennung oder Verdrehung der Wahrheit nachgerüͤhmt 
wird. Seine folgenreiche Entdeckung hat Semmelweis nicht etwa durch Verſuche am Ter 
gemacht. Auch hat er fie nicht im Orüberſtolpern aufgeleſen. Sondern fie war die Frucht un- 
ausgeſetzten, vom mitfühlenden Herzen angetriebenen Denkens. 


Oer Vater der fäulnisfreien Wundbehandlung 311 


Als junger Aſſiſtenzarzt war Semmelweis Zeuge der entſetzlichen Sterblichkeit, die 
bis auf feine Zeit in den Hoſpitälern für Wöchnerinnen herrſchte. An der Wiener Gebär- 
tinit, wo er tätig war, gab es nun zwei Abteilungen: eine, wo Hebammen angelernt wurden, 
mit geringerer Sterblichkeit; eine andre, wo Studenten ſich übten, mit hohen Totenziffern. 
Die ſtatiſtiſchen Aufzeichnungen, die Semmelweis zu Rate zog, brachten ihn auf den Gedanken, 
ob nicht die Tatſache von Belang ſei, daß dieſe Studenten vorher, ehe fie zu den Wöchnerinnen 
kamen, an Leichen zu tun gehabt hatten. Wie nun in Luthers Leben, ſo ſollte auch in dem von 
Semmelweis der Tod eines Freundes eine große Rolle ſpielen: der Tod des Profeſſors Kol- 
letſchka. Blutvergiftung infolge Hantierens an Leichen war die Urſache. Semmelweis wurde 
aufs tiefſte betroffen durch die Gleichheit des Krankheitsbildes ſowohl beim Rindbett- wie 
beim Wundfieber. Für ihn war es keine Frage mehr, daß auch beim Kindbettfieber An- 
ſteckung mit dem Fäulnisgift der Leichen die Hauptrolle ſpiele. Er ordnete deshalb an, daß 
ſich alle Perſonen des Krankendienſtes einer viel gründlicheren Reinigung unterzögen als 
bisher; Bürſte und Chlorkalkwaſchung traten in Tätigkeit, die Inſtrumente mußten vor jedem 
Gebrauch neu gereinigt werden, ſtrengſte und bisher nicht entfernt beobachtete Sauberkeit 
auch der Bettwäſche, der Tücher, Bezüge, Unterlagen wurde Bedingung. Der Erfolg dieſer 
Vorſchriften war verblüffend. Die Sterblichkeit ſank auffallend. Und in der Folgezeit zeigte 
ſich überall, wo man das Semmelweisſche Verfahren in Anwendung brachte, das gleiche über 
raſchende Ergebnis. Wiener Profeſſoren von Ruf erkannten den großen Fortſchritt an, doch 
taten ſie nichts zur Beförderung des jungen Arztes; vielmehr erfuhr dieſer, ſtatt Erhebung 
in einen größeren Wirkungskreis, Verſetzung und gewiſſermaßen Abſchiebung in die Provinz. 
Zumal fein unmittelbarer Vorgeſetzter betrieb dieſe Kaltſtellung eines gefährlichen Neben- 
buhlers. Zwar wurde Semmelweis bald danach auch Profeſſor, aber ſein Verfahren brach 
ſich nur langſam Bahn. Gerade die Autoritäten der Frauenheilkunde, die Direktoren großer 
Wöchnerinnenhoſpitäler ließen noch jahrzehntelang die armen Frauen an der verheerenden 
Seuche ſterben, der ſie durch Beachtung der Semmelweisſchen Aſepſis hätten Einhalt gebieten 
können. Verſammlungen von Naturforſchern und Ärzten erklärten ſich unter Virchows Füh- 
rung gegen Semmelweis; auch die Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften ließ ſich die Gelegen- 
heit nicht entſchlüpfen, ſich vor Mit- und Nachwelt zu blamieren. Semmelweis mußte ohn- 
mächtig zuſchauen, wie ſein ſegenbringendes Verfahren zur Verhütung von Wundfäulnis, 
alſo die Aſeptik, die der Chirurgie eine fo gewaltige Entwicklung ermöglichte, meiſt unbenutzt 
blieb! Das Bild von menſchlicher Gewiſſenloſigkeit und wiſſenſchaftlicher Eitelkeit, das ſich 
ihm fortgeſetzt aufdrängte, war niederdrückend und empörend zugleich. Dieſe Verhältniſſe 
waren zum Verrücktwerden. Im Gefühl feiner Ohnmacht wurde der glücklich- unglückliche Ent- 
decker wahnſinnig. Man brachte ihn in eine Srrenanftalt bei Wien, wo er bald nach feiner 
Einlieferung 1865, erſt 47 Jahre alt, geſtorben iſt, angeblich an Blutvergiftung infolge einer 
Verletzung. So war Semmelweiſens Schickſal noch tragiſcher als das feines Zeitgenoſſen 
Nobert Mayer, deſſen für die moderne Phyſik und Technik bahnbrechende Arbeiten ja eben- 


ar 


Geiſteskranke gequält worden, alfo mit Zwangsjacke, Zwangsſtühlen, Zwangsbetten — Mayer 
dabei geiſtig geſund, Semmelweis angeblich verrückt; aber vielleicht wollten Leute, die ſich 
eine große Schuld ihm gegenüber aufgeladen hatten, den Mann, der möglicherweiſe nur ſehr 
nervös war, durch das Irrenhaus loswerden? Die Tragik im Leben beider Forſcher erſtreckte 
ſich auf den Sohn eines jeden: beider Söhne endeten durch Selbſtmord. 

Das Schickſal des Semmelweis iſt von A. v. Berger in einer Novelle behandelt wor- 
den. Die Kunde von feiner Entdeckung gelangte fehr bald durch Wort und Schrift auch nach 
England, wo wenige Jahre nach Semmelweis! Tod, wohl ohne Kenntnis von deſſen Arbeiten, 
Lord Liſter, auf den Arbeiten Paſteurs über Gärung und Fäulnis fußend, mit ſeiner anti- 


512 f Ein Hildebrand · Orama 


ſeptiſchen Methode auftrat und trotz der Nebenſchäden feines Verfahrens zu Erdenberühmt⸗ 
heit gelangte. Auch in Oeutſchland hat man Liſter zu Lebzeiten faſt vergöttert, dem Briten 
gegeben, was man dem eigenen Landsmann vorenthalten hatte. Und, wie ſchon geſagt, konnte 
man noch 1916 und 1917 in Zeitungen und Büchern Liſter als den verherrlicht leſen, der der 
Vater der fäulnisverhütenden Wundbehandlung geweſen ſei, während die beſſere, urwüchſi⸗ 
gere und frühere Leiſtung der Ruhm des Deutſchen iſt. 

Semmelweis erhob die ärztliche Menſchheit im beſonderen und die ganze Menſchheit 
im allgemeinen auf eine höhere Stufe der Sauberkeit: unmittelbar wahrnehmbaren Segen, 
millionenfache Lebensrettung brachte er, und doch widerſetzte ſich dieſem Erzieher zur Reinlich⸗ 
keit die höchſtbetitelte Arzteſchaft, das heißt das Profeſſorentum. Danach läßt ſich ermeſſen 
wieviel ſchwerer es noch fein mag, die Menſchheit auf eine höhere Stufe der inneren Sauber- 
keit zu erheben, deren Vorteile noch größer, aber weniger greifbar und ſinnfällig zu machen 


find ... Dr. Georg Biedenkapp 
2 


Ein Hildebrand⸗Drama | 


EN N N Vährend dieſes Krieges hat ſich oft die Erkenntnis ausgeſprochen, daß wir mit 
2 2 G; allen Mitteln darauf bedacht fein müſſen, unſer inneres Verhältnis zu unferer 

IV eigenen DBoltsvergangenheit zu vertiefen. Das nächſtliegende Mittel dazu it, 
die Kenntnis dieſer Vergangenheit zu verbreiten. Die Vertiefung wird ſich dann ganz von 
ſelbſt einſtellen: denn Art läßt ſchließlich nicht von Art, und im Ur-Ur-Entel lebt mit dem Bluts⸗ 
tropfen auch noch eine der altvorderlichen weſensverwandten Fühlweiſe, ſo daß fich die Be⸗ 
ziehungen ganz von ſelbſt einſtellen, wenn man fie nur nicht ſtört. Gerade die Störenfriede 
ſind aber immer gleich eifrig am Werke, wenn irgendwo ein in dieſer Richtung liegender 
Verſuch gemacht wird. | 

Da hat in diefen Tagen das Wiener Hofburgtheater Heinrich. Lilienfeins Drama 
„Hildebrand“ zur Aufführung gebracht. Die von der Mehrzahl der Berliner Blätter ver- 
öffentlichten Berichte bieten ein eigentümliches Schauſpiel. Keiner vermag die dichteriſche 
Bedeutung des Werkes zu beſtreiten, aber keiner findet ein Wort der Freude daruber. Der 
Burgtheaterdirektor von Millenkovich — beſſer bekannt unter feinem Schriftſtellernamen 
Max Morold — erhält nur Nadelſtiche und höhniſche Hinweiſe auf fein „ chriſtlich- germaniſches“ 
Programm. Daß er das wertvolle Werk eines ſeinem ganzen Schaffen nach fördernswerten 
Dichters herausgebracht hat, wird ihm nirgendwo zugunſten gebucht. Wenn er eines der zahl- 
loſen altteſtamentariſchen Dramen aufgeführt hätte, die uns in der letzten Zeit beſchieden 
worden find, würde er wenigſtens dieſen literariſchen Dank erhalten haben. Ich glaube auch 
nicht, daß dieſe Herren Berichterſtatter dann betont hätten, daß dieſe altteſtamentariſchen 
Helden „unſerer Fühlweiſe zu fern“ liegen. Für die Herren Berichterſtatter mag es ja auch 
nicht der Fall ſein, denn, wie ich oben betont habe, glaube ich an das Nachwirken des Blutes 
der Altvordern auch noch im fernſten Nachkommen. Aber gerade darum müßte doch für uns 
Deutſche eher eine Beziehung zu den altgermaniſchen Recken herzuſtellen fein, als zu den 
Größen der alten Zuden. 

Lilienfeins Dichtung liegt im Oruck vor (Stuttgart, J. G. Cotta; geh. 2 4) und wird 
auch in dieſer Form jedem Leſer Freude bereiten. Ein Vorſpiel führt in den Heldengarten zu 
Walhall. Dietrich von Bern, Siegfried, Wieland der Schmied und Hildebrand geraten nach 
frohem Rampfipiel in ein ernſtes Geſpräch. Hildebrand beſtreitet, daß ſich bei den Menſchen 
der beſonnene Sinn lerne, „Leid nur lernt’ ich unter den Menſchen, nicht Weisheit“. Und 
jeder der Helden vermeint, das Schwerite gelitten zu haben. Hildebrand hat ſich von dannen 


Ein Hildebrand ⸗Orama 313 


geſchlichen. „Schweigend geht er und ſchlägt die lauten Geſellen durch ſein Schweigen.“ Hat 
doch keiner gelitten, wie er, als er wider Willen das Schwert mit dem eigenen Sohn kreuzte. 

Und nun folgt das Drama, das in drei Akten den Stoff des alten Hildebrandeliedes 
aufnimmt. 

Das urgewaltige Bruchſtück iſt wohl allgemein bekannt. Das Lied iſt nach einem ſchönen 
Worte Lilienfeins „inmitten entzwei geborſten vor wildem Wehe“. Wie es geendet, wiſſen 
wir nicht. Das tragiſche Ende beftätigen die Worte des ſterbenden Hildebrand aus einer alt- 
nordiſchen Faſſung des 12. Jahrhunderts: N 

| „Steht mir zu Häupten der Heerſchild geborften ... 

Sind an der Zahl zehnmal acht, 

Lauter Männer, denen ich Mörder ward. 
Liegt hier der Sohn ſelbſt mir zu Häupten. 
Erbſproß er, den ich eigen gehabt. 
Unwollend fein Ende ſchuf ich.“ 

Das jüngere deutſche Hildebrandslied, ein viele Spielmannszüge tragendes Volkslied 
des 15. Jahrhunderts, endigt günſtig. Nachdem ſich die Helden arg verbeult haben, erkennen 
ſie ſich und ziehen vereint nach Haufe, wo nun der alte Held an der Seite Frau Utens einem 
geruhſamen Feierabend ſeines kampfbewegten Lebens entgegenſieht. 

Lilienfein hält ſich natürlich an die alte, tragiſche Auffaſſung, übernimmt aber aus 
dem jüngeren Hildebrandsliede die Heimkehr in ſein Haus. Sie iſt meiſterhaft begründet, und 
er gewinnt dadurch, entgegen allen mir zu Geſicht gekommenen Zeitungsberichten, dem alten 
Geſchehen einen neuen Zug ab, der eine Vertiefung bedeutet und im guten Sinne eine Moderni- 
ſierung. Als Menſch von heute denkt er auch an die Frau, für deren tiefes Leid weder das alte 
noch das jüngere Hildebrandslied Sinn hat. Frau Ute iſt bei ihm keine Penelope. Als ihr nach 
jahrelanger Abweſenheit Hildebrands der Tod des Gatten gemeldet iſt, erliegt ſie der Werbung 
eines anderen Mannes; es iſt ein feiner Zug des neuen Dichters, daß diefer Sindolt kein Held 
iſt, ſondern ein Mann des Friedens, der geſchmeidigen Rede und des behaglichen Wohllebens. 
Den Halbgott ehrte die herbe Jungfrau, das vollblütige Weib erſehnte den Lebensgenuß. 

Ihr und Hildebrands Sohn Hadubrand aber hat des Vaters Blut. Noch iſt es der Mutter 
gelungen, den Jungen von kühner Heerfahrt zurückzuhalten; als aber jetzt Boten von der Grenz- 
burg melden, daß dort ein Fremder ſich für Hildebrand ausgebe und ſeine Ankunft ankündige, 
ſtürzt er davon, den frevlen Betrüger zu ſtrafen. Und nun ſtehen fi) Vater und Sohn gegen- 
über. Mit ſtolzer Freude erkennt Hildebrand in ſeinem Sohne den würdigen Sproß. Mit der 
weiſen Überlegenheit des weltgereiften Mannes überwältigt er den ſtürmiſchen Jüngling, 
ſo daß dieſer ihn hochgemut in ſeine Burg führt, wo die Mutter entſcheiden ſoll. Erkennt ſie 
ihn nicht an, fo muß er ſich zum Nampfe ſtellen. Hildebrand geht den Weg, der für ihn ein 
Schmerzensweg geworden iſt, als er von ſeines Weibes Bund mit Sindolt erfährt. 

Mann und Frau find allein. Hildebrand findet warme Worte, aber Ute verleugnet 
ihn. Und wenn ſie den Gatten erkennen müßte, ſie will ihn nicht kennen. Sie hat ſich ihr Recht 
ans Leben genommen und will es nicht weggeben. Sie will Hildebrands Lebensauffaſſung 
nicht verſtehen. Hildebrand möchte, im Innerſten getroffen, von dannen gehen. Da tritt ihm 
gadubrand entgegen und fordert die Einlöſung des Wortes. Umſonſt verſucht Ute, dem „frem- 
den Mann“ friedlichen Abgang zu erflehen. Sicher hat Hildebrand recht, wenn er dem Sohn 
entgegenhält: „Knabe, du kennſt mich! Es wühlt in deinem Herzen nicht der Haß wider mich. 
Es tobt von Wehe.“ Doch Hadubrand: „Laßt es toben, von was es mag, und fechtet.“ So 
ſchreiten ſie zum Kampfe. Und auch jetzt findet Ute kein anderes Wort, als das doppelſinnige: 
„Ihr ſeid mir ein Fremder.“ So ſchreitet das Verhängnis feinen Weg; von des Vaters ge- 
waltigem Schlag fällt der Sohn. Die Mutter will dem Alten ihren Fluch entgegenſchleudern, 
da bricht auch ſie vor der Gewalt des Geſchehenen zuſammen: „Hildebrand biſt du!“ 


5 
314 Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 


„Hört nicht! Glaubt nicht! Irre redet Frau Ute. 

Redet nur im Wahn, der die Sinne verdunkelt. 

Hildebrand war ich vielleicht: ich bin's geweſen. 

Der ſein eigen Geſchlecht mit dem Schwert geſchlagen, 
Ausgelöſcht wie den Stamm hat er den Namen 
Selber kennt er ſich nicht mehr .. Wer will ihn kennen?“ 


Mit den anrückenden Hunnen zieht er des Wegs, wie er kam. Heimlos, namenlos, nur 
feinem Schwert Geſelle, ſucht er und findet er ein Grab auf blutender Heide. — 

Und eine ſolche groß empfundene und groß geſtaltete Dichtung ſoll unſerm Volke vor- 
enthalten bleiben? Hier zeigt ſich angeſichts der Art, wie dieſem Drama durch die Wiener 
Berichte feig und verſchlagen der Weg auf die anderen Bühnen verbaut wird, wie notwendig 
der Theaterkulturverband wäre, wie wir ihn uns bei der Gründung in Hildesheim gedacht haben. 


Karl Stord 
2 


Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordneten⸗ 
| hauſe 


. chon in den Kommiſſionsberatungen haben in dieſem Jahre Erörterungen über 
NY 7 KO) Kunſt einen ungewöhnlich breiten Raum eingenommen. Nun hat das preußiſche 
a Abgeordnetenhaus auch noch die langen Sitzungen zweier Tage (8. und 10. Zuni) 
Kunſtfragen gewidmet. Man wird dem Abgeordneten Haeniſch zuſtimmen, wenn er fagte:- 
„Im allgemeinen war es doch eine recht erfreuliche Empfindung, daß wir kurz vor Ablauf des 
vierten Kriegsjahres in der Lage ſind, hier in dieſem Hauſe eine Kulturdebatte großen Stils 
in dieſer Art führen zu können. Schon die bloße Tatſache, daß ſolche Debatten heute in unſerem 
von einer Welt von Feinden umdrohten Vaterlande ſtattfinden können, mag man fie im ein- 
zelnen beurteilen, wie man will, zeigt wieder einmal aufs deutlichſte, wie haltlos das Gerede 
unſerer Feinde von dem Barbarentum und der Kulturloſigkeit des deutſchen Volkes iſt.“ 

Beim Leſen der Zeitungsberichte konnte einem freilich angſt und bange werden. Nach- 
dem ich nun die ausführlichen Parlamentsſtenogramme eingeſehen habe, halte ich es doch für 
notwendig, als Zeitungsleſer Einſpruch gegen dieſe durch ihre Einſeitigkeit und Oberflächlich 
keit irreführende Berichterſtattung zu erheben. Dann lieber nur eine allgemeine, ganz frei 
gefaßte Inhaltsangabe des Berichterſtatters, als dieſen Schein eines die Verhandlungen in 
allem Weſentlichen wiedergebenden Berichtes, auf den ſich der Zeitungsleſer verlaffen zu kon; 
nen glaubt. In Wirklichkeit werden die offenbar ohnehin ſchon einſeitig aufgenommenen 
Niederſchriften unſerer journaliſtiſchen Stenographenbureaus nachträglich zunächſt nach der 
Parteirichtung der Blätter zuſammengeſtrichen und danach noch mit Rückſicht auf den knappen 
Raum fo gekürzt, daß vielfach ein ganz falſches Bild entſteht. Iſt es alſo um die Behandlung 
von Kunſtfragen doch nicht ganz ſo ſchlimm beſtellt, wie es nach den Zeitungen den Anſchein 
hatte, jo vermißt der Kunſtfreund doch ſchmerzlich das Fehlen wirklich berufener, kenntnis; 
reicher Vertreter, und der Gedanke einer Wahl der Abgeordneten aus dem 8 
einer Vertretung aller Berufsſtände drängt ſich einem lebhaft auf. 

Wir wollen im folgenden die Hauptpunkte der Beratung — und zwar heute über Thea- 
ter und Muſik, die bildende Kunſt wird beſonders zu behandeln fein — herausgreifen und mit 
dem Berichte über die behandelten Fragen gleichzeitig unſererſeits Stellung nehmen. 

Aus dem Berichte über die Kommiſſionsverhandlungen erfahren wir von vielfachen 
Wünſchen zur Umgeſtaltung oder Erweiterung unſeres Kultusminiſteriums. So iſt eine 
beſondere Stelle zur Pflege der Volksunterhaltung vorgeſchlagen worden, der auch das Volks 


Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 315 


theater und Kino unterſtehen müßte. Noch weiter ging der Vorſchlag, ein „Miniſterium der 
ſchöͤnen Künſte“ in der Art Frankreichs einzurichten. Der Vorſchlag würde vielleicht mehr 
Gegenliebe gefunden haben, wenn nicht einerſeits eine Vereinfachung (lies: Verbilligung) 
der Verwaltung erſtrebt und andererſeits dem jetzigen Kultusminiſter, der von feiner frühe- 
ren Tätigkeit her den Beinamen „Kunſtſchmidt“ hat, das Vertrauen entgegengebracht würde, 
daß bei ihm die Künſte gut aufgehoben ſeien. Doch war allgemein Stimmung dafür, das 
Theater ganz oder doch wenigſtens in größerem Maße aus dem Bereich des Miniſteriums 
des Inneren auszulöſen und dem Kultusminiſter zu unterſtellen. Jedenfalls ſollte da in enger 
Fühlung zuſammengearbeitet werden, denn auch die „Bedürfnisfrage“ bei neuen Theater- 
unternehmungen wird der Kultusminiſter eher beantworten können, als der des Innern, und 
gerade hier muß die ſoziale Fürſorge einſetzen. Der üble Konkurrenzgeiſt läßt an jedem Orte, 
an dem ein Theater blüht, alsbald ein zweites und drittes entſtehen, und einem Einſpruch 
wird vielfach dadurch vorgebeugt, daß das Gebäude erſtellt wird, bevor ein Theaterleiter die 
Erlaubnis eines Betriebes nachſucht. Das vorhandene Gebäude dient dann als Druckmittel. 

Mit Befriedigung iſt zu verzeichnen, daß ein beſonderer Beamter für den Heimat- 
ſchutz ins Kultusminiſterium berufen worden iſt. Er wird reichlich zu tun haben, um das Vor- 
handene zu ſchützen und vor allem auch den Schönheitsgehalt des heimatlichen Lebens durch 
Neues zu bereichern. Gerade das durch den Krieg ſtark belebte Heimatempfinden ſteht in 
zahlreichen Beziehungen zur Kunſt; beide werden ſich wechſelſeitig befruchten können. Ich 
habe das in einem ausführlichen Aufſatze in der „Zeitſchrift des deutſchen Bundes für Heimat- 
ſchutz“ dargelegt. Auch für Kino und Theater werden ſich dabei vielfach neue Aufgaben finden. 

Über die wichtige Frage des Kinos zeigten die Herren ſich leider recht wenig unter- 
richtet und vor allem ſcheinen fie wenig darüber nachgedacht zu haben, wie deſſen unheimliche 
Macht in ethiſchem Sinne auszunützen wäre. Auch darüber habe ich (da der Türmer jetzt 
im Raume ſo beſchränkt iſt, in der Monatsſchrift „Wege und Ziele“ 1918, Zanuarheftl) Vor- 
ſchläge unterbreitet, die zuvor ſchon im Vortrage vor ſachverſtändigen Kreiſen die Probe be- 
ſtanden hatten. Mit einem gewiſſen Mißtrauen ſtehen die Herrſchaften den großen Kriegs- 
gründungen auf dem Kinogebiete gegenüber. Die Lichtbild-Geſellſchaft, die das von militä- 
riſcher Seite gegründete Filmamt induſtriell ergänzt, hat verſucht, im Kriege nachzuholen, 
was im Frieden verfäumt worden iſt: die Propaganda für alles Deutſche im Auslande. Im 
Inlande täte eine ſolche bis zur Stunde erſt recht not. Es iſt gerade im letzten Hefte des Tür 
mers nachgewieſen worden, wie die außerordentliche Propagandakraft des Kinos bei uns an- 
dauernd für das Ausland fruchtbar gemacht worden iſt, und das hat auch jetzt im Kriege noch 
nicht aufgehört. Es wird vor allem im künftigen Frieden nicht ohne weiteres möglich ſein, 
die Einfuhr ausländiſcher Films zu verbieten. Ich halte, wie ich oft betont habe, überhaupt 
vom Verbieten in allen Kunſtdingen nicht viel. Nur die poſitive Arbeit bringt Segen. Wenden 
wir alle Kräfte daran, das Schöne und Große, was Deutſchland in Gegenwart und Vergangen- 
heit aufzuweiſen hat, zu zeigen, ſorgen wir dafür, daß der dramatiſche Film von deutſchem 
Leben erfüllt iſt, ſo iſt dieſe Frage gelöſt, ſobald es gelingt, die deutſche Filminduſtrie ſo zu 
ſtärken, daß fie gegen den ausländiſchen Wettbewerb ſiegreich bleibt. Dazu iſt mit einem Kapi- 
tal von 25 Millionen die Afa gegründet worden (Univerſum-Film⸗-Aktiengeſellſchaft). Natür- 
lich, da hat der Abgeordnete Heß ganz recht, will dieſe Geſellſchaft vor allem verdienen, und 
ſicher hat es große Bedenken, den ganzen Betrieb zu monopoliſieren. Den Wettbewerb brau- 
chen wir vor allem für die Steigerung der techniſchen Leiſtungsfähigkeit. Die Angſt dagegen, 
daß die Propagandakraft des Films politiſch mißbraucht werden könnte, brauchten die Herr- 
ſchaften nicht zu haben, wenn fie ſich nur dazu verſtehen wollten, das Vaterländiſche, auch das 
betont Patriotiſche, in dieſem Sinne nicht als politiſch anzuſehen. Es genügt völlig, wenn 
alle Parteipolitik verboten wird. Über die Möglichkeiten, ein künſtleriſches Sondergebiet 
des Kinos auszubauen, hat nur der Abgeordnete Haeniſch einige leiſe Andeutungen gemacht. 
Nur zum Teil richtig iſt Dr. Irmers Bemerkung, daß die hohen Theaterpreiſe ſchuld ſeien, 


316 Theater und Mufit ini preußifhen Abgeorbnetenhaufe 


wenn das Kino fo viel beſucht wird. Es hat natürlich auch andere Gründe, vor allem den der 
Bequemlichkeit. Das Kindtheater ſpielt ſelbſt im Kriege von 5 bis 10 Uhr und bringt in je 
einer Stunde ein mannigfaltiges Programm. Damit wird das Theater niemals in Wett- 
bewerk treten können. 

Aber das Kino als „Theater-Erſatz“ iſt ein unzuträglicher Zuſtand auch für das 
Kino ſelbſt. Die beiden brauchen ſich gar keine Konkurrenz zu machen, es kommt vielmehr 
darauf an, die Eigenart des Kinos möglichſt auszubauen und es in feinen Werten, künſtle⸗ 
riſchen wie ethiſchen, möglichſt hoch zu ſteigern. Wir können Kino und Theater ſehr gut neben; 
einander gebrauchen, gerade weil, wie von allen Seiten betont wurde, nach dem Kriege unſer 
Volk, vor allem die zurückkehrenden Truppen, ein großes Unterhaltungsbedürfnis haben wer- 
den. Weil das Kino an kleinen Orten, die niemals an ein Theater denken können, beſtehen 
kann, muß alles daran geſetzt werden, ſeinen Wert zu erhöhen. Nach meiner Meinung ſollte 
das Kultusminiſterium eine Verſammlung von Sachverſtändigen — Künſtlern, Aſthetikern 
und Filminduſtriellen — einberufen, die dieſe Fragen einmal gründlich durchberaten müßten. 
Der Bilderbühnenbund deutſcher Städte iſt eine ſehr ſchöne Sache, aber für dieſe Zwecke viel 
zu eng angefaßt. — 
f Ausgiebig verhandelt wurde über das Theater, und da iſt die wichtigſte und erfreulichſte 

Erſcheinung, daß die Verpflichtung von Staat und Gemeinde gegenüber dem Theater all- 

gemein anerkannt wird. Noch ift man weit davon entfernt, dieſen Gedanken bis zu Ende durch- 
zudenken und daraus dann zu jener grundſätzlichen Anderung unſeres ganzen Theaterweſens 
zu gelangen, die feine logiſche Folge iſt. Aber es iſt doch viel gewonnen, wenn der Minifter die 
Pflege des Theaters als eine feiner wichtigſten Aufgaben anerkennt, und wenn unter allgemei- 
ner Zuſtimmung gefordert werden kann: „Die Stadtgemeinden müſſen ſich mehr ihrer Thea⸗ 
ter annehmen; fie müfjfen davon ausgehen, daß ihre Theater Bildungsmittel find, daß fie nicht 
dazu da find, um ihre Raffen zu füllen; fie müſſen Opfer bringen nach jeder Richtung hin“ (Abg. 
v. Bülow). Auch die Theaterfürſorge für das Land und kleinere Städte wurde allgemein betont, 
die ſtaatliche Unterſtützung der guten Wandertheater verlangt, mit einem Wort, die Soziali- 
fierung des Theaterbetriebs hat — wenigſtens theoretiſch — große Fortſchritte gemacht. 

Ich glaube, das iſt ein großes, bis jetzt das größte Verdienſt des Hildesheimer Theater- 
kultur-Verbands, dem von allen Seiten des Hauſes das größte Wohlwollen zugeſichert 
worden iſt. Ich gehöre zu den Gründern des Theaterkultur-Verbands, bin noch jetzt in deſſen 
Hauptausſchuß und alſo wohl gegen den Verdacht einer Voreingenommenheit geſichert, wenn 
ich hier erkläre, daß ich von ſeiner Entwicklung und bisherigen Tätigkeit nicht ganz ſo entzückt 
bin, wie die Herren Abgeordneten. Wenn der Abg. Haeniſch gelegentlich bemerkte, der Theater; 
kultur⸗Verband wolle etwa das, was die Freien Volksbühnen für Berlin geleiſtet haben, auf 
das Reich ausdehnen, jo kennzeichnete er damit zutreffend die Verengerung, die das Hildes- 
heimer Programm erfahren hat. Oer erſt ſpäter dem Bunde beigetretene ſozialiſtiſche Ab- 
geordnete Schulz hat das Wort von der „Organiſation des Theaterkonſums“ geprägt 
und damit den Verband ganz in jene Richtung gelockt, die ich gleich bei der Gründungsverfamm- 
lung für allzu naheliegend erklärte, als ſich die Führer der ſchauſpieleriſchen Berufsorganiſa⸗ 
tion, Rickelt und Dr. Selig, jo hervorſtechend beteiligten. Ich möchte mich nun ausdrücklich 
dagegen verwahren, als ob ich die Verdienſte dieſer Männer im allgemeinen und um den 
Theaterkultur⸗Verband im beſonderen nicht zu ſchätzen wüßte, nur — das Geiſt ige kommt 
dabei hinter dem Sozialen zu kurz. Der Zuſammenſchluß aller beſtehenden Organi- 
ſationen des Theaterkonſums, alſo aller Volksbildungsverbände, freien Bühnen u. dgl., die 
Neugründung derartiger Verbände für Stadt und Land war und bleibt eine unbedingte Not- 
wendigkeit. Und wenn der Theaterkultur-Verband dieſe Aufgabe übernehmen will, fo iſt es 
ſchön und gut. Aber er muß ſich dann auf dieſe eine Aufgabe beſchränken, und es muß ein neuer 
Verband für die andere Aufgabe gegründet werden, die nach meiner Überzeugung den meiſten 
Teilnehmern an der Hildesheimer Tagung näher am Herzen gelegen hat. Ihnen kam es zu⸗ 


Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 317 


nächſt weniger auf das Soziale, als auf das Geiſtige des Theaters an; ſie wollten keine Organi- 
ſation des Theaterkonſums, ſondern eine Reform des dramatiſchen Angebots. Die 
Organiſation des Konſums war nur inſoweit Aufgabe des Theaterkultur-Verbandes, als fie 
dazu gedient hätte, für dieſes dramatiſche Neuangebot an Theaterware die Abnehmer zu: ver- 
einigen und dadurch jener Ware das nötige Abſatzgebiet auf dem Theater zu ſichern. 
Die Mehrung und Erweiterung unſeres Theaterſpielplans aber iſt eine Notwendig- 
keit. Da die national gerichteten und poſitiv chriſtlichen Kreiſe der Überzeugung find, für ihre 
Weltanſchauung, ſoweit das nachklaſſiſche Drama in Betracht kommt, beim heutigen Theater- 
ſpielplan nicht auf ihre Rechnung zu kommen, da fie andererſeits der Überzeugung find, daß 
wertvolle dramatiſche Dichtungen vorhanden find, die in der Linie ihrer Weltanſchauung 
liegen, hatten ſich zum Hildesheimer Bunde zunächſt und vor allem dieſe Kreiſe zufammen- 
gefunden. Deshalb hat auch das „Berliner Tageblatt“ nebſt Gefolge fein wüſtes Gezeter 
wegen Antiſemitismus und Dunkelmännerei erhoben. Man muß ruhig eingeſtehen: das „Ber- 
liner Tageblatt“ hat zunächſt geſiegt. Der Theaterkultur⸗-Verband hat nicht nur eine Maſſe 
Arbeitskraft verbraucht, um den Vorwurf des Antiſemitismus abzuwehren, er hat ſich auch 
einſeitig auf das „ungefährliche“ Gebiet der „Organiſation des Konſums“ abſprengen laſſen. 
Noch einmal: er wird auch fo ſehr verdienſtvolle Arbeit leiſten können, aber günſtigſtenfalls 
auf ſehr weiten Umwegen zu jener geiſtigen Reform des Theaters gelangen, die uns dringend 
not tut. Bis jetzt iſt in der Richtung jedenfalls noch nichts geſchehen. Selbſt die an ſich wert- 
vollen „dramaturgiſchen Blätter“ des Verbandes find bis jetzt nur eine Sammlung von Kri- 
tiken und werden ſo lange nicht mehr ſein, als bis die Auswahl viel, viel ſtrenger wird und 
der Verband als ſolcher für jede Empfehlung eintritt. Er wird natürlich dann den Ruf der 
Beckmeſſerei auf ſich laden, vielleicht auch der Oeutſchtümelei, der Chriſtlichkeit uſw. Aber ohne 
Kampf geht es nun einmal nirgends, und wo gekämpft wird, ſetzt es auch Wunden. Wer 
niemandem zu nahe treten will, erreicht nichts. Der Verband müßte ſich von aller Polemik 
freihalten und einfach pofitive Arbeit leiſten, indem er den Standpunkt einnähme: die und 
die Stucke will ich für meine Mitglieder; die und die Werke ſcheinen mir aufführungswert und 
ich ſtelle für fie meine Mitglieder als organiſierte Ronſumentenmaſſe. Darin wird kein Ver- 
nünftiger etwas Unduldſames finden können; gerade jene Leute, die immer das Wort „Frei- 
heit der Kunſt“ im Munde führen und von „Toleranz“ und „ſozialem Empfinden“ ſprechen, 
oder gar das demokratiſche Denken aufrufen, müſſen jeder Richtung zum mindeſten das pro- 
portionale Oaſeinsrecht auf der Bühne zugeſtehen. 
Sch verſtehe gar nicht, weshalb um dieſe Dinge immer ſo feig herumgeredet wird. Auch 
im Abgeordnetenhaus war das der Fall. Da rühmt der Zentrumsredner Dr. Heß unſer Theater 
über den grünen Klee, hält eine Reklamerede auf Reinhardt, vermutlich nur, um ſich gegen 
den Vorwurf konfeſſioneller Voreingenommenheit zu ſchützen. Denn wie kann jemand, der 
unſer Theater wirklich kennt, ſagen, „es habe ſich gerade in den letzten Jahren gebeſſert und es 
ſei eine Tatſache, daß auf dem Gebiete des Theaterweſens das Gute jetzt überwiege“? Freilich, 
dieſer Mann hat ſich zu folgenden Sätzen verſtiegen: „Iſt es nicht bezeichnend und ein gutes 
Zeichen für unſer Volk, daß fo köſtliche Harmloſigkeiten, wie das, Dreimäderlhaus“ in Deutſch⸗ 
land fo viele Aufführungen haben erleben können? ... Meine Herren, wenn Sie das Stück 
an ſich betrachten, ſo harmlos, ſo rein: wirft das nicht auf den Kern unſeres Volkes ein recht 
gutes Licht?“ Oer Abgeordnete Haeniſch hat ihn ſpäter dafür zurechtgewieſen, freilich ohne 
dabei dem Künſtleriſchen auf den Grund zu gehen. Daß Schubert verhungert iſt und die Aus- 
beuter ſeiner Muſik jetzt Millionen verdienen, hat ja mit dem Kunſtwerk an ſich nichts zu tun, 
zeigt bloß, zu welchen Blöͤdſinnigkeiten unſere Art des geſetzlichen Schutzes geiſtigen Eigentums 
führen kann. Richtiger iſt, daß die einzige künſtleriſche Wirkung in dieſem Stück den Liedern 
Schuberts zu danken iſt, die eben einfach nicht umzubringen ſind. Aber an dieſer hervorragenden 
Stelle hätte mit vernichtender Schärfe gebrandmarkt werden muͤſſen, daß die Verfertiger des 
„Dreimäderlhauſes“ und ihre ſchon gruppenweiſe auftretenden Nachahmer ganz ſchamloſe 


— 7 


318 Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 


Kunſtſchänder ſind, denen nichts heilig iſt; weder die menſchliche Perſönlichkeit des auf die 
Bühne gezerrten Künſtlors, noch das Geheimnis des künſtleriſchen Schaffensprozeſſes, noch 
endlich die Unantaſtbarkeit des Kunſtwerkes an ſich. Mit allem gehen fie nach ihrem Belieben 
um und nützen alle ſchwächlichen Inſtinkte des Publikums, um aus ihrer Tätigkeit, die oft genug 
einer geiſtigen Leichenſchändung gleich kommt, Gewinne einzuſtreichen. 

And darin, daß ſolche Erzeugniſſe Rieſenerfolge haben, ſoll ein günftiges Zeichen für 
unſer deutſches Volk liegen? — Nein, darin liegt nur ein Zeichen für ſeine künſtleriſche Un- 
erzogenheit und darüber hinaus allerdings ein rührendes Zeichen für ſeinen Hunger nach 
einer harmloſen, leicht eingänglichen, vor allem das Gemüt anſprechenden und ſinnfälligen Muſik. 

Auf Mittel zu finnen, wie dieſer Hunger zu ftillen iſt, wäre eine der wichtigſten Auf- 


gaben für den Theaterkultur-Verband. Es brauchte da nicht von vornherein auf alte Mufit 


verzichtet zu werden. Wie in der „Fledermaus“ das Zeit beim Fürſten Orlofsky oft dazu her- 
halten muß, um einem Konzertprogramm auf der Bühne Raum zu geben, ließe ſich wohl ein 
Weg finden, das Theater für wertvolle alte Muſik nutzbar zu machen. Denn es iſt ganz ſicher, 
daß keine andere Gelegenheit zur Verbreitung guter Muſik, vor allem wertvoller Lieder, ſo 
geeignet iſt, wie die ſzeniſche Umrahmung. Aber die Unantaſtbarkeit der vom Künſtler ſelbſt 
geſchaffenen Form feines Werkes iſt hier oberſtes Gebot, jegliche ſentimentaliſche Verwäſſerung 
der menſchlichen Perſönlichkeit und der Schaffensart unſerer Großen dagegen iſt ein ver- 
dammenswertes Sakrileg. Aber überhaupt, ſorgen wir für die verbreitete Kenntnis der Alten 
auf anderm Wege! Das Konzert iſt in ſozialer Hinſicht noch kaum ausgenutzt. Die Erfolge, 
die die Berliner Freie Volksbühne mit ihren Anſätzen dazu errungen hat, waren ſo ermunternd, 
daß hier ein ſyſtematiſcher Ausbau dringend erforderlich iſt und auch der Staat dafür Mittel 
bereitſtellen ſollte. Notwendig aber iſt neue Kunſt. Jede Zeit braucht die ihr eigene Aus- 
ſprache, zu allererſt für das breite Volksempfinden. Wir brauchen dringend das zeitgemäße 
Singſpiel, mit einem Worte: das künſtleriſche Gegenſtück zur Operette. Der ungeheure 
Erfolg der Operette, der in künſtleriſcher und ethiſcher Hinſicht ein nationales Unglüd darſtellt, 
berubt darauf, daß ſie dieſem natürlichen Verlangen des Volkes entgegenkommt. Hier muß 
das Schlechte durch ein Gutes verdrängt, werden. Daß wir nicht die geeigneten Kräfte dafür 
haben ſollten, glaube ich nicht. Aber fo wie unſere Theaterverhältniſſe liegen, haben derartige 
Werke kaum Ausſicht, auf die Bühne zu kommen. Der Theaterkultur-Verband ſchaffe dieſe 
Ausſicht; er kann ſogar die Sicherheit dafür geben. Das weitere wird ſich dann finden. 

Was er bis jetzt in der Hinſicht getan hat, iſt nur dürftigſter Kriegserſatz. Ich habe Dr. 
Fiſchers „muſikaliſche Hauskomödien“ von ihrem erſten Erſcheinen an fo freudig unter 
ſtützt, daß ich mir es nun auch leiſten kann, ihre Grenzen ſcharf zu betonen. Wie ſchon ihr Name 
ſagt, hat Dr. Fiſcher ſelbſt urſprünglich an Hauskomödien gedacht. Er wollte die unſagbar 
läppiſche und blöde Literatur für häusliche Feſte und Vereinsauffuüͤhrungen verdrängen. Pie 
große Bühne und gar das Theater ſind aber kein paſſender Rahmen für dieſe Harmloſigkeiten. 
Und wenn fie, ſelbſt vor einem großen Publikum, von Gebildeten, — z. B. kürzlich vor einer 
geladenen Zuhörerſchaft in der Königlichen Hochſchule für Muſik — großen Erfolg haben, fo iſt 
das nur ein Beweis mehr dafür, wie allgemein der Hunger nach einer einfachen gemütswarmen 
Muſik, nach einer unkomplizierten Kunſt iſt, auch in jenen Kreiſen, die geiſtig durchaus zur 
Aufnahme unferer großen, ja ſogar unſerer modernen Kunſt fähig find. Ich habe ſchon vor mehr 
als einem Jahre auch öffentlich dem Theaterkultur- Verband vorgeſchlagen, den ja nicht un- 
bekannten Weg des Preisausſchreibens zu beſchreiten, um eine ſolche leichte Spielopernliteratur 
mit ganz kleinem Orcheſter, zur Not ſogar mit Klavier allein, zu erhalten. 

Auch dieſe Stücke müßten dann von beſonderen muſikaliſchen Abteilungen der Wander- 
theater übernommen werden. Wir wollen übrigens dabei nicht vergeſſen, daß bis in die Mitte 
des 19. Jahrhunderts für Singſpiel und Spieloper vielfach Schauſpielerkräfte verwendet 
wurden. Es find auch in der heutigen Schauſpielerwelt genug muſikaliſch begabte Leute vor; 
handen, die wenigſtens für die kleineren muſikaliſchen Aufgaben völlig ausreichen würden, 


Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordnetenhauſe | 319 


ſo daß das Perſonal dieſer Wandertheater zur Aufnahme dieſes muſikaliſchen Gebietes nicht 
in einem Maße vergrößert zu werden brauchte, das ihre Finanzierung weſentlich erſchweren 
könnte. Übrigens könnte ſolch kleines Orcheſter, und wäre es nur Kaffeehausbeſetzung, in 
den Zwiſchenakten bei Schauſpielaufführungen gute Muſik ſpielen und fo gleichzeitig in dieſer 
Richtung nutzbar gemacht werden. 

Die Wichtigkeit dieſes Wandertheaters wurde einmütig anerkannt und man darf 
wohl die Hoffnung hegen, daß in abſehbarer Zeit für alle deutſchen Provinzen leiſtungsfähige 
Truppen zuſammengeſtellt werden. 

Mit dem oben berührten Problem hängt die Theaterſpielplan-Frage aufs engſte 
zuſammen; ſie iſt im Abgeordnetenhauſe zwar mannigfach geſtreift, aber von keinem Redner 
ſyſtematiſch behandelt worden. And doch hätte die gerade abgeſchloſſene Spielzeit des Berliner 
Königlichen Opernhauſes reichlichen Anlaß dazu gegeben. Ich will einmal vor der Frage der 
Neuheiten abſehen und nur betonen, daß es unbegreiflich iſt, wenn auch von jenen Seiten 
des Abgeordnetenhauſes, die gern das Ausland anziehen, niemals darauf verwieſen wird, 
daß die Pariſer Oper verpflichtet iſt, jährlich eine beſtimmte Anzahl Akte neuer muſikaliſcher 
Werke herauszubringen. Im Dienſte des zeitgenöſſiſchen Schaffens ſollte eine ſolche Gegen- 
leiſtung für die reiche Subvention unbedingt geſetzlich feſtgelegt werden. Denn für „vornehme 
Pflichten“ ſcheinen auch königliche Anſtalten nicht übermäßig feinfühlig zu ſein. 

Dagegen ſollte es die ganz ſelbſtverſtändliche Pflicht einer ſolchen Anſtalt fein, den natio- 
nalen Kunſtſchatz vornehm zu verwalten und den Spielplan von höheren Geſichtspunkten aus 
zu geſtalten. Nun, im letzten Jahre iſt an der Königlichen Oper in Berlin Verdi 48 mal vertreten 
und damit öfter, als Wagner, Mozart und Weber zuſammengenommen. Zch bin ein leiden- 
ſchaftlicher Bewunderer Verdis, aber für dieſe Zahlen finde ich kein anderes Wort als: es iſt ein 
Skandal! Und beim gleichen Worte muß ich bleiben, wenn unſer köſtlicher Weber überhaupt 
nur ein einziges Mal an die Reihe kommt, von Mozart nur „Figaros Hochzeit“ auf dem Spiel- 
plan ſteht, weil die „neueinſtudierte“ „Entführung“ ſo unter aller Kritik herausgeſtellt wird, 
daß fie nach einer einzigen Aufführung verſchwindet. Aber man höre weiter: „Freiſchütz“, 
„Walküre“, „Triſtan“, „Lohengrin“ und „Hänſel und Gretel“ find zuſammen nicht jo oft auf- 
geführt worden, wie die unausſtehliche „Mignon“. Um die Ziffer der „Martha“ aber zu er- 
reichen, muß man noch den „Tannhäuſer“ dazunehmen. 

Ich meine, dieſe Dinge ſchreien zum Himmel. Es iſt niemals eine wüſtere Rriegsge- 
winnlerei getrieben worden, als mit einem ſolchen Spielplan, der den gewöhnlichſten Virtuoſen- 
inſtinkten eines durch und durch ungebildeten Geldmobs front. 

Mit dem Theaterſpielplan ſteht es nicht viel beſſer. Der Abgeordnete Runze hat da 
einige Wünſche für die ältere Zeit vorgetragen, der Abgeordnete Haeniſch ein Beiſpiel dafür 
gegeben, wie es mit der im „jungen Deutſchland“ zur Schau geſtellten Liebe Reinhardts zu 
unſeren zeitgenöſſiſchen Dichtern in Wirklichkeit ſteht. Danach hat im vorigen Fahre „eine große 
Reihe hervorragender Leute aus allen Kreiſen, aus allen Parteilagern, aus allen künſtleriſchen 
Lagern ſich an Profeſſor Reinhardt mit dem dringenden Erſuchen gewandt, es Arno Holz zu 
ermöglichen, mit einem oder dem andern feiner bedeutendſten Stücke „Ignorabius“ oder 
‚Sonnenfinjternis‘ auf einer der Reinhardtſchen Bühnen zu Worte zu kommen“. Profeſſor 
Reinhardt hat dieſe Anfrage nicht einmal einer Antwort gewürdigt. Er iſt drei Kriegsjahre 
lang auch für die Wünſche nach der „Hermannsſchlacht“ taub geblieben und hat fie dann in 
einer Aufführung herausgebracht, bei der die alten Germanen wie Botokuden ausſahen. Aber 
ſchlimmer iſt, daß man ſich mit ſolchen Wünſchen nur an Reinhardt und nicht ans Königliche 
Schauſpielhaus wendet. Dieſe Bühne nimmt durch Subvention eine Sonderſtellung ein, mit 
beſonderen Pflichten, und dieſe Pflicht lautet: vor allem das ganze klaſſiſche und nachklaſſiſche 
Repertoire von literariſch bedeutenden Werken ſtets lebendig zu erhalten, aus dieſem Spielplan 
dagegen grundſätzlich fernzuhalten, was lediglich gewöhnliche Unterhaltungsware iſt. Es iſt 
ein Skandal — auch hier gibt es kein anderes Wort —, daß die Königliche Bühne im Krieg den 


—— 


520 Klelnſtadtmuſit 


urnationalen Wildenbruch unaufgeführt läßt, um ſo und ſo viel Dutzende von Abenden g 
loſen Nichtigkeiten, wie „Meine Frau, die Hofſchauſpielerin“, freizuhalten. | 

Noch manches wäre aus den Verhandlungen herauszugreifen. Aber wir müßten da 
noch mehr eine gelegentliche Bemerkung auf ihren grundſätzlichen Wert erſt ſelber unterſuchen. 
Das iſt überhaupt das Bedauerliche, daß die Herren Abgeordneten zwar in ſelbſtgefälliger 
Breite ihre kleinen perſönlichen Einzelerfahrungen vortragen, nicht aber verſuchen, den Fragen 
auf den Grund zu gehen. Das hat noch eine zweite üble Seite, indem eine ſolche perjönliche 
Kritik durch die Stelle, an der ſie vorgetragen wird, zu außerordentlicher Bedeutung gelangt. 
Man könnte ſich ſonſt mit einem Achſelzucken darüber hinwegſetzen, wenn Herr Heß, der be- 
geiſterte Verehrer des „Dreimäderlhauſes“, der Berliner Muſikkritik im Gegenſatz zur Kölner 
„Oberflächlichkeit“ vorwirft, ohne es auch nur für nötig zu halten, einen Schein des Beweiſes 
anzutreten. Und was hat es mit der Sache zu tun, wenn derſelbe Herr die Leiſtungen des 
Kölner Männergeſang vereins für „genial“, die des Berliner Lehrergeſangvereins für „virtuos“ 
erklärt? Das iſt doch nur — den Herren liegt das Wort ja — denkbar oberflächlichſte Laienkritit, 
die allenfalls am Biertiſch, aber doch nicht im Parlament am Platze iſt, erſt recht nicht, wenn 
ſo viele grundſätzlich ſchwer liegende Dinge zu erörtern ſind, wie auf dieſem Gebiete. 

eg Karl Storck 


. Kleinſtadtmuſik 


C. S s iſt noch nicht fo lange her, da war in den Köpfen der deutſchen Kleinſtädter und 
N 2 ihrer Bürgermeiſter Berlin Trumpf. Alle hatten fie fo einen kleinen Großſtadt⸗ 
— Finmel und ſuchten ſich gegenſeitig zu überbieten in der Annäherung an Groß 
ſtadtverhältniſſe auf allen möglichen Gebieten. 

Die leider hier und da ſchon bedauernswert verunſtalteten Stadtbilder „ind z. B. 
Zeugen jener nun wenigſtens in der Baukunſt ſchon vielfach überwundenen Zeit. Denn da 
hat man allmählich einſehen gelernt: Eines ſchickt ſich nicht für alle. Man hat wieder Sinn 
bekommen für die eigenartigen Reize der Kleinſtadt und ſucht im Außeren wie in der Lebens; 
geſtaltung wieder Charakter, ehrlichen Kleinſtadtcharakter zu gewinnen. 

Während jich's ſo in baulichen Dingen und anderem zum Beſſeren wendet, ſcheint aber ein 
Gebiet gerade erſt jetzt in den Klein und Mittelſtädten „verberlinert“ werden zu ſollen: die Muſik. 

Vor dieſer Gefahr ſeien die deutſchen Städte, die's angeht, einmal gewarnt. Die War- 
nung iſt nötig, da die Gefahr ſich im Gewande des „Segens“ naht und heuchleriſcherweiſe 
„Bereicherung des Muſiklebens“ zu bringen vorgibt. 

Gewiß, ſie bringt. Aber was fie bringt, das raubt, das tötet! Sie überſchwemmt das 
Land mit dem Überfluß, den die Großſtädte nicht zu faſſen vermögen, mit dem Proletariat, 
das dort unverſtändigerweiſe herangezüchtet worden iſt, und ſucht in den Kleinſtädten einzu⸗ 
führen, was dort bisher völlig unbekannt war: das Geſchäftemachen mit Muſik! 

Haltet euch dieſe Hauſierer mit Kunſt vom Leibe! Verderbt ihnen ihr Geſchäft! 

Wenn einer (in vielen Fällen wird's euer gernegroßiger Muſikalienhändler ſein, den 
die Lorbeeren des Kollegen in der Nachbarſtadt nicht ſchlafen laſſen) euch abgelagerte oder un- 
reife Großſtadtkünſtler mit lockender Marktſchreiermiene anpreiſt, dankt und — geht nicht hin! 

Bleibt bei der alten, guten Art eurer Väter, ſelbſt eure Kunſtpflege zu beſtimmen 
und euer kleinſtädtiſches Muſikleben nicht & la Berlin aufzuziehen! 

Was iſt das Muſikleben einer Klein- und Mittelſtadt? Was foll es fein? 

Es ſoll ſein der öffentliche Ausdruck des Zeiterlebens, die Weihe ernſter und froher 
Feiertage, der Ausdruck der Teilnahme einer Stadt am geiſtigen Leben des Volkes, ein Spiegel 
bild ihres Weſens, Erholung von Wochen und Monaten der Arbeit, ein Anſporn, auch im Haufe 
und Alltag die geiſtigen Güter des Deutſchtums zu pflegen. 


Aleinftabtmufit 321 


Dieſes Muſikleben muß auf eigenem Boden erwachſen fein, muß unter der Obhut von 
Männern ſtehen, die ihre Heimat lieben, die ihrer Heimatſtadt ihr beſcheidenes und doch reges 
und tiefes geiſtiges Leben erhalten wollen, muß freigehalten werden von allem Geſchäftsgeiſt. 

Es kommt nicht darauf an, daß es prunkend ſei und auswärts Anſehen genieße. Dar- 
auf kommt es an, daß es den Bewohnern das gibt, was ſie brauchen, daß es ihnen den Zugang 
zu allen den tiefen und reichen Bronnen deutſcher Muſik offen hält, daß es die Liebe zur Muſik 
immer von neuem entfacht in den Herzen von jung und alt! 

Dann iſt dieſes Muſikleben in ſeiner Schlichtheit und Echtheit reicher und ſegensreicher 
als die Überfülle von Konzerten in den Großſtädten, als der große Muſikjahrmarkt mit feinem 
gahrmarkts- und Meßbetrieb in Berlin. 

Vor mir liegt ein Büchlein: „25 Jahre Chorvetein 1885— 1908“, erſchienen zu Hagenow 
in Mecklenburg in der Schröderſchen Buchhandlung, geſchrieben von Adolf Steinmann. Es 
erzählt von den Aufführungen eines Chorvereins, den ein Bahnhofsinſpektor gegründet hat 
und den nun ſchon feit langen Jahren ein Zuſtizrat, der Verfaſſer dieſer Denkſchrift, leitet. 

Zn welchem Sinne dieſer Mann feine Tätigkeit auffaßt, zeigt der Umſtand, daß er 
an die ſchlichte Folge der Programme einen Anhang von über 70 Oruckſeiten als Feſtgabe 
fügt: „Über Muſikpflege bei unſeren klaſſiſchen Dichtern.“ 70 Seiten Auszüge aus Brief- 
wechſeln und Tagebüchern der Klaſſiker! 

Schon um dieſer prächtigen Ausleſe willen wünſchte ich das im Buchhandel zu beziehende 
Heft in die Hände recht vieler Muſikfreunde zur geiſtigen Anregung für ihre Mußeſtunden. 

Zn den deutſchen Kleinſtädten aber ſollte man ſich die Programme zum Muſter nehmen 
und tapfer wie dieſer mecklenburgiſche Juſtizrat der Kunſt dienen, ſtets dem Beſten zugewandt! 

Wir denken jetzt fo oft, an die Berliner Anzeigen mit den 1000 —2000 Mitwirkenden 
uns haltend, die Maſſe müſſe es bringen. Nein! Man kann auch mit einem guten kleinen 
Chor von 50—80 Leuten Taten tun und ſeiner Kleinſtadt die Bekanntſchaft mit beiten Kunſt⸗ 
werken vermitteln. Wieviel Sänger hat denn Bach gehabt, als er ſeine Matthäus-Paſſion 
aufführte? Ob die Monſter⸗Aufführungen mit 1500 Menſchen, wie man fie in Frankfurt ſich 
geleiſtet hat, ihm nicht ſein Werk verekelt hätten? 

gan Hagenow hat man mutig zu dem kleinen Chor ein ganz kleines Orcheſter mit einem 
Generalbaßſpieler hinzugenommen und hat ſo in ſeiner Art mit echter Kunſtbegeiſterung und 
ohne zu fragen, ob die Großſtadt die Ohren rümpfe, Mendelsſohns „Elias“ und „Paulus“, 
gaydns „Schöpfung“, Schützſche Paſſion, Bachſche Kantaten, Händels „Samſon“ aufgeführt 
und fo auch einer kleinen Stadt ermöglicht, teilzuhaben an dem Beſten unſerer Muſik. 

Und ich glaube, die Komponiſten würden gejagt haben: „Wir halten's mit Gott und 
ſehen das Herz an!“ | 

Daneben iſt der deutſche Choral, das deutſche Volkslied und das Chorlied unſerer 
Romantiker, iſt Kammermuſik gepflegt, iſt durch Programme wie: „Ein Singekonzert bei 
Goethe“ die alte Zeit lebendig gemacht, ſind die großen Feſttage unſeres Volkes im Frieden 
wie jetzt im Krieg durch muſikaliſche Feiern verſchönt worden. 

Und wie es in Hagenow iſt, fo iſt's in anderen Städten geweſen oder iſt, Gott ſei Dank, 
noch fo. Iſt's dort ein Juſtizrat, iſt's wo anders der Kantor des Orts oder ein Geiſtlicher oder 
ein ſtudierter oder nicht ſtudierter Lehrer oder ein Mann der Technik. 

Das find die richtigen „Laienbrüder“ im Heiligtum der Muſik, die Helfer und Bewahrer 
unſerer alten deutſchen Kunſt, die mit dem Volk verwachſen war und verwachſen bleiben ſoll in 
Stunden der Not und der Freude, in furchtbaren Zeiten wie der des Dreißigjährigen Krieges, 
wo ſie faſt die einzige Quelle ſeiner ſeeliſchen Kraft war, wie in ſonnigen Jahren des Friedens. 

Erhaltet euch eure eigene, bodenſtändige, echt deutſche Kunſtpflege, ihr 
deutſchen Klein- und Mittelſtädter! Laßt euch nicht anſtecken von dem Geſchäftsbetrieb 
und der Außerlichkeit, in die drei Viertel unſerer Großſtadtmuſik ſich verloren haben! Seid 
ihr nicht viel beſſer denn fie?! Dr. Georg n 

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Der Krieg 

Wit allen Fibern unſerer Seele folgen wir dem beiſpielloſen Sieges- 

E zuge, den Entſcheidungskämpfen im Veſten. Aber unſer Mit- 
X 9 erleben dort wird von einem großen, bei aller äußerften Spannung 
5 Qdoch beruhigenden Gefühl beherrſcht, dem durch nichts aus dem 
e zu bringenden Sicherheitsgefühl: unſere Sache ruht in den treue- 
ſten und beſten Händen, in Händen, in die der Allmächtige ſelbſt die Entſcheidung 
gelegt hat. Wie dieſe auch ausfallen möge, — ſie muß in Wahrheit die gott- 
gewollte ſein, und wo immer auch unſerem Siegeswillen eine Grenze geſteckt 
ſein werde, — es wird die Grenze ſein, über die menſchliches Vermögen, auch 
das beſte Werkzeug in den beſten Händen — und dieſer Ruhm wird unſerem Heere 
und ſeinen Führern nicht einmal vom Feinde ernſtlich beſtritten — nicht W 
aus kann. 

Anders, wo andere Kräfte am Werke ſind, anders im Oſten. Von An- 
beginn des Krieges habe ich mich gegen die Auffaſſung gewandt, als hätten wir 
die Wahl zwiſchen einer Orientierung nach Weſten oder nach Oſten, als ließe ſich 
öſtliches und weſtliches Problem in dieſer Phaſe noch geſondert löſen. Wer ſich 
heute noch dazu bekennt, der hat den Sinn dieſes Weltkrieges nie begriffen und 
wird ihn nie begreifen, oder vielleicht etſt dann, wenn es zu jpät iſt und die Tat- 
ſachen wieder einmal über ſeinen armen Kopf klirrend hinweggeſchritten find, 
Weltkrieg! Das bedeutet ein unerhörtes Geſchehen, ein Geſchehen, das keinen 
Vorgänger in der Geſchichte hat, einen Krieg — nicht um die Vergrößerung 
oder Verkleinerung des einen oder anderen Staates um ein paar Streifen an- 
grenzenden oder kolonialen Landes, ſondern um das Ganze, um eine völlige 
Neueinſtellung auf dieſem Erdkreiſe, den wir „Welt“ nennen. Darum find auch 
alle Vergleiche und Analogien mit früheren Kriegen, wie dem von 1870 oder 1866, 
nur müßiges Gerede, der letzte gar von einer ſchon grotesken Lächerlichkeit. Man 
ſtaunt — oder ſtaunt längſt nicht mehr —, daß „führende“ Akademiker, Hochſchul⸗ 
profeſſoren ſich berufen fühlen, dieſen flüchtigen Sand mit der blanken Schärfe 


Zürmers Tagebuch | 323 


ihres blitzenden Geiftespfluges zu durchwühlen, zu dem einzigen Erfolge, ſich und 
ihren bedauernswerten Züngern — Sand in die Augen zu ſtreuen. 

Im letzten (23.) Hefte der „Oeutſchen Politik“ begegne ich Ausführungen 
des ſozialdemokratiſchen Reichstagsabgeordneten Dr. Karl Leuthner (Wien), die 
ſich zwar nur mit „Oeutſcher und tſchechiſcher Politik“ beſchäftigen, aber über 
dieſen engeren Rahmen hinaus jeden politiſch Urteilsfähigen zu Schlüſſen auf 
die allgemeine Problemſtellung zwingen, die mit dem eingangs Geſagten parallel 
laufen. Nicht verhehlen will ich, daß mich das Zeugnis dieſes öſterreichiſchen 
und ſozialdemokratiſchen Politikers, „eines der ausgezeichnetſten politiſchen 
Publiziſten Wiens“ (als welchen ihn nicht nur die Schriftleitung der „Deutfchen 
Politik“ anerkennt), für die von mir ſtets vertretene Auffaſſung geradezu über- 
taſcht hat. Ich ſehe dabei von den praktiſchen Vorſchlägen des Verfaſſers zur 
Löſung der Frage ab und beſchränke mich auch in der folgenden Wiedergabe auf 
den grundſätzlichen, nationalpolitiſchen Teil ſeiner Ausführungen: 

„Als zu Beginn des Weltkrieges die Nachricht von einer patriotiſchen Rund- 
gebung, welche Tſchechen und Deutſche in Prag in einmütiger Begeiſterung voll- 
zogen hatten, nach Deutſchland gelangte, war dort die Freude groß. Stets fertig 
mit der Theorie, entwickelten treufleißige deutſche Profeſſoren die glorwürdige 
Lehre von der Übergewalt des Staatsgedankens über das Nationalgefühl, welche 
Übergewalt die Haltung der Völker im vielſprachigen Öfterreih unwiderſprechlich 
erweiſe. Dieſe Lehre wuchs, breitete ſich aus und überſchattet jetzt wohl das Denken 
der Mehrzahl deutſcher politiſcher Profeſſoren und Publiziſten. Es hat ihr im 
mindeſten nichts geſchadet, daß inzwiſchen der hochoffiziöſe Nachrichtenkeim, aus 
dem fie üppig entſproſſen, kläglich verdorrt iſt. Im Prozeß Kramarſch wurde näm- 
lich gerichtsordnungsmäßig feſtgeſtellt, daß jene vielberufene gemeinſame 
Kundgebung Polizeimache geweſen, und als ſie in Unfug ausartete, auch wieder 
von der Polizei eingeſtellt worden. Das Gelächter, das ſich bei dieſer amtlichen Auf- 
klärung im Gerichtsſaal erhob, fand in Deutſchland keinen Widerhall. Dort blieb 
man ernſthaft und endgültig beim Primat des Staatsgedankens, und ließ ſich 
auch durch die tſchechiſchen Brigaden, die Maſarikſche Propaganda, die Ruſſophilie 
der Polen, die ſüͤdſlawiſchen Kundgebungen nicht irren. Nie mand iſt tatſachen- 
blinder als wir deutſchen „Intellektuellen“ wenn uns ein Dogma befangen 
hält. und nun iſt unſer Nationalgefühl ebenſo lau und matt, wie unfer 
Staatsaberglauben unzerbrechlich; wir haben es zuwege gebracht, die 
herrliche Kraftentfaltung, die aus der Einigung des deutſchen Volkes hervorging 
und jetzt im Kriege niegeſehene Wunder vollbringt, der Seele des deutſchen 
Volkes abzuerkennen und der toten Maſchine des Staates gutzu- 
ſchreiben. Wir ſind überdies, volkswirtſchaftlich“ gerichtet, alſo für alle Ideen 
bewegungen der Zeit gebührend taub. Iſt es da noch erſtaunlich, daß wir in dieſem 
Weltkrieg, der mit jedem Tage verkündet, daß heute die nationale Idee die ſtärkſte 
geſtaltende Macht im Leben der Völker, im Leben der europäiſchen Oſtvölker 
aber nahezu die einzige bewegende Kraft iſt, die Rolle des Anton ſpielen, 
der ſich in der Welt nicht mehr auskennt? Wir erſinnen noch heute die wunder 
lichſten Beweggründe für den Anſchluß Amerikas an England, weil wir für 


524 | Türmers Tagebuch 


die Übermacht des Gefühls angelſächſiſcher Gemeinſamkeit in unſerem 
nationslofen Senken und Empfinden keinen Raum haben und werden 
Reichsdeutſche und Oſterreicher in holder Gemeinſchaft vertrauend auf die öfter- 
reichiſche ‚Staatsidee‘, von der unter 28 Millionen ‚Öfterreihern‘ 
18 Millionen, d. h. alle Nichtdeutſchen, nichts wiſſen und nichts wiſſen 
wollen, wohl gar noch eine Geſtaltung der Grenzen herbeiführen, die Deutfchland 
noch tödlicher einſchnürt, werden uns mit der auſtropolniſchen“ Löſung bereit- 
willigſt ſelbſt die Schlinge drehen und zuguterletzt, wie ein führendes Berliner 
Blatt () eindringlich rät, juft auf die öſterreichiſche Staatsgeſinnung der Sſchechen 
das deutſch-öſterreichiſche Bündnis aufbauen, das zu ſtützen die Deutſchen 
Oſterreichs zu ſchwach ſeien. Der kleine Nebenumſtand, daß an demſelben Tage, 
als jener Artikel feine gläubigen Leſer in der Berliner Intelligenz ſammelte, Zehn- 
taufende Tſchechen auf dem Prager Wenzelsplatz ſangen: „Wenn uns Rußland 
nicht hilft, hilft uns England“, kann doch den unzerſtörbaren Lehrſatz vom Primat 
der Staatsidee und die Hoffnung auf die Freundſchaft der ‚Weſtſlawen“ nicht 
beirren. 

Die Lächerlichkeit hat unter uns Deutſchen noch niemanden getötet, und weder 
Spott noch Ernſt vermag etwas gegen die Verblendung und Unwiſſenheit, die 
mit jedem neu erſcheinenden volkswirtſchaftlichen und ſtaatsrechtlichen Werk über 
Oſterreich nur noch dicker und undurchdringlicher wird. Man will im Reiche die 
Wahrheit nicht hören, man fühlt ſich ohnedem gekränkt, daß alle Welt ringsum 
der aller Welt ringsum entgegengebrachten deutſchen kosmopoliſchen 
Liebe ſo wenig Gegenliebe zuträgt, und möchte aus dem Reiche des Bundes- 
genoſſen nur Angenehmes vernehmen. So haben denn die Roſenmaler ein breites 
Publikum. Ohnmächtig iſt demgegenüber die Wahrheit, dennoch muß ſie pflicht⸗ 
gemäß auf die Tſchechen verweiſen. Und eine der wichtigſten, weil aufſchluß⸗ 
reichſten Tatſachen iſt die Prager Pfingſtkundgebung. Sie lehrt, daß die 
Geſamtheit des tſchechiſchen Volkes von den Stimmungen beherrſcht iſt, die 
in den Handlungen der tſchechiſchen Brigaden zum Ausdruck kam, daß alle Tſche⸗ 
chen ohne Ausnahme die volle tſchechiſche Staatlichkeit anſtreben und daß bei- 
nahe alle ohne gewichtige Ausnahmen die Erreichung des tſchechiſchen Staates 
von einem Sieg der Entente erhoffen. Freilich haben tſchechiſche Abgeordnete 
im Reichsrate ohne jede Scheu beides — den Wunſch nach dem vollſtändig unab- 
hängigen tſchechiſchen Staat und die Hoffnung, ihn auf dem Weltfriedenskongreß 
zu erreichen — wiederholt in der feierlichſten Form ausgeſprochen. Die Dreikönigs- 
Erklärung iſt die programmatiſche Formulierung dieſer Anſchauungen. Gleichwohl 
hat Czernin noch vor kurzem verſucht, die Welt irre zu führen, indem er einen 
Gegenſatz der Meinungen zwiſchen den Führern des tſchechiſchen Volkes und 
dieſem ſelbſt behauptete, einen Gegenſatz, der nie beſtanden hat. Wer heute ſolche 
Behauptungen zu wiederholen wagte, den zeiht die Prager Kundgebung Lügner: 
in ihr war nichts Gemachtes, fie war wirklich ein ſeeliſcher Erguß der Volksgeſamt⸗ 
heit. Überdies hat fie unzweifelhaft dargetan, daß der Panſlawismus keiner 
wegs tot iſt, was ja auch bloß einige akademiſche Kinder in Deutſchland glauben, 
ſondern daß er in voller Kraft lebt und eben daran iſt, ſich in der für Mitteleuropa 


Türmers Tagebuch 325 


gefährlichften Form des Auſtroſlawismus zu betätigen. Er ea ſich 
übrigens durch die italieniſche Bundesgenoſſenſchaft. Die Prager flawifch-italie- 
niſche Verbrüderung, an der nahezu alle öſterreichiſch-italieniſchen Abgeordneten, 
namentlich die durch die erlittenen Verfolgungen tief empörten Welſchtiroler teil- 
nahmen, hat die römiſche bekräftigt und wird ſich demnächſt in parlamentariſche 
Tat umſetzen. 

Man hat den Staatsbildungsplänen der Tſchechen Ooppelzüngigkeit und 
Zwieſpältigkeit vorgehalten — mit Recht, inſofern ſie im Namen des hiſtoriſchen 
böhmiſchen Staatsrechts, im Namen der Unteilbarkeit der ehemaligen Länder 


der böhmiſchen Krone die Unterwerfung von 3,5 Millionen Oeutſchen unter die 


tſchechiſche Staatsgewalt, und andererfeits im Namen des demokratiſchen Selbſt- 
beſtimmungsrechts die Angliederung von 2,5 bis 3 Millionen Slowaken heiſchen, 
die nach hiſtoriſchem Staatsrecht von je und je zu Ungarn gehört haben. Allein 
der moraliſche Einwand gegen ein Programm iſt nur dann wirkungsvoll, wenn die 
feinen Forderungen zugrunde liegende Unſittlichkeit auch im eigenen Volke emp- 
funden wird und die Geiſter ſpaltet. Das iſt jedoch hier durchaus nicht der Fall. 
Noch niemals haben ſich die Tſchechen fo einig um eine gemeinſame Fahne ge- 
ſchart. Die demokratiſche Beimengung des Programms gewinnt ihm alle fort- 
ſchrittlich gerichteten Elemente, namentlich die tſchechiſchen Sozialdemokraten. 
Demokratie iſt ein Zauberwort, das alle Zweifel beſchwichtigt, alle Einwände 
entwaffnet. Im künftigen demokratiſchen tſchechiſchen Staate kann es doch kein 
Anrecht, keine Vergewaltigung geben, alſo dürfen es ſich die tſchechiſchen Sozial- 
demokraten erſparen, über eine etwa den 3,5 Millionen Sudetendeutſchen im 
böhmiſchen Zukunftsſtaate zu gewährende Autonomie nachzugrübeln. Sie wäre 
auch bei der geographiſchen Lage ihrer Siedlungen vom Standpunkt des böhmiſchen 
Einheitsſtaates allzu gefährlich. Umgekehrt verſteht ſich vom demokratiſchen Ge- 
ſichtspunkt des Selbſtbeſtimmungsrechts aus die Loslöſung der Slowaken aus 
dem ungariſchen Staatsverbande und ihre Eingliederung in den böhmiſchen Staats- 
verband von ſelbſt. 

Wenn jedoch der demokratiſche Einſchlag des Programms alle freiheitlichen 
Parteien in den Bann ſchlägt, fo kommt das ‚hiftorifche Staatsrecht“ nicht bloß 
den älteſten Aberlieferungen der tſchechiſchen Politik entgegen, es gewährt zugleich 
dem tſchechiſchen Imperialismus die weiteſtgehenden Hoffnungen. In ſeinem Sinne 
erklärt der erſte Führer des tſchechiſchen Volks und deſſen „Märtyrer“, Kramarſch, 
die Sudetendeutſchen als Feinde, als Eindringlinge auf böhmiſchem Boden, denen 
man ſchon deshalb keine Autonomie einräumen könne, weil ſie kein eigenſtändiges 
Recht beſäßen. Das Programm der Entnationaliſierung wird in einem Atem mit 
dem Programm des gleichen Rechts verkündet und iſt ebenſo ernſt gemeint, ent- 
ſpricht ebenſo den älteſten Haßinſtinkten gegen die deutſchen Landesgenoſſen, wie 
dieſes eine leere Phraſe bedeutet. Natürlich gehen die Pläne des tſchechiſchen 
Imperialismus, wie fie die tſchechiſchen Zeitſchriften ſeit Fahr und Tag unaus- 
geſetzt erörtern, noch viel weiter. Sie verlangen, übrigens in Übereinftimmung 
mit franzöſiſchen Weltaufteilungsplänen, die Schaffung eines „Korridors“, der 
mitten durch madjariſches und deutſches Gebiet laufend die Slowakei mit dem zu 


326 Türmers Tagebuch 


gründenden ſüdſlawiſchen Reich verbinden ſoll, ſie fordern die Angliederung 
der Lauſitz, des Gebiets von Glatz, ja von ganz Preußiſch-Schleſien. 
Das klingt reichlich ausſchweifend, allein gerade der letztgenannte ausſchweifendſte 
Gedanke hat alle Ausſicht, ein ‚auſt ropolniſches“ Prog ramm zu werden, 
wenn etwa im Sinne der auſtropolniſchen Löſung Kongreßpolen an Oſterreich 
angeſchloſſen wird, wo dann tſchechiſche und polniſche Begehrlichkeiten, die auf 
Preußiſch-Schleſien gerichtet find, ſich mit gewiffen, aus Maria Thereſias 
Zeit herſtammenden Erinnerungen zu holder Gedanken ⸗ und Gefühlshar- 
monie verſchmelzen dürften. 

Was iſt denn überhaupt an dieſen Plänen der Tſchechen Phantaſtiſches? 
Sie ſind, das ſagen ja ihre Urheber unverblümt, im Hinblick auf den Sieg der 
Entente entworfen und mit den Zukunftsabſichten der Ententeſtaatsmänner, 
mit ihren Plänen, Oeutſchland und Sſterreich- Ungarn aufzuteilen, ſtehen ſie 
zweifellos im Einklang. Ze mehr das deutſche Volk zerſtückelt wird, je mehr von 
deutſcher Kraft durch Einverleibung deutſcher Gebiete in fremde Staaten ge- 
bunden wird, um ſo ſicherer erhebt ſich der Bau der franzöſiſchen und engliſchen 
Macht. Gelangt indes die Entente nicht zum Siege? Auch dann wird die Politik, 
welche die Tſchechen jetzt im Kriege verfolgen, der Geſtaltung ihrer künftigen 
Geſchicke nur förderlich ſein. Sie haben ſich durch ihre Brigaden, durch ihre drohenden 
Kundgebungen, durch ihre enge Verbindung mit den Weſtmächten den Wiener 
Machthabern furchtbar gemacht. Der Auſtroſlawismus war immer das 
zweite Geleiſe der Wiener Politik, wie er auch das zweite Geleiſe der tſchechi⸗ 
ſchen Politik iſt, falls fie die Wege des Panſlawismus und Ententismus ungangbar 
findet. Kramarſch bildet in feiner Lebensgeſchichte die Verkörperung beider Rich- 
tungen. Furcht alſo und die in Wien ſtets rege Beſorgnis, von Oeutſchland nicht 
allzu abhängig zu ſcheinen, werden mit verdoppelter Kraft zu einer Annäherung 
an die Tſchechen drängen. Dieſen Drang aber zur unwiderſtehlichen Nöti- 
gung zu erheben, wäre die auſtropolniſche Löſung, die Stiftung des 
auſtro-polniſch- ungariſchen Dreireichs das unfehlbare Mittel. Sie 
würde eine ungeheuere flawifhe Mehrheit des Geſamtreichs ſchaffen, 
und dieſer die Polen als die zahlenſtärkſte, politiſch entwickeltſte Nation 
zur unbedingten Führerin geben. Schon heute umbuhlen fie madjariſche 
leitende Politiker als die künftig entſcheidende Macht im Habsburger Reiche. 
Zwiſchen Tſchechen und Polen iſt aber das engſte Bündnis auch abgeſehen 
von allen panfſlawiſtiſchen Strömungen, von aller tſchechiſchen und allpolniſchen 
Ruſſophilie durch die Gemeinſamkeit der Zukunftswünſche und Ziele 
gegeben. Die Polen haben, zumal in Sſterreich, wo ſie kein Blatt vor den 
Mund nehmen, nie ein Hehl daraus gemacht, daß ſie den Anſchluß an 
Oſterreich-Ungarn lediglich anſtreben, um für die Eroberung Oanzigs, 
Poſens und Oberſchleſtens die Bajonette der öſterreichiſch-ungariſchen 
Völker zur Verfügung zu haben. Schon in der Vorbereitungszeit des mittel 
europäiſchen Krieges, den eine auſtropolniſche Löſung unausbleiblich macht, würde 
die Politik beider Völker fraglos ineinanderarbeiten, würde die alte polniſch-fran⸗ 
zöſiſche Freundſchaft die Prager Ententefeſte prächtig ergänzen, würde die 


Zürmers Tagebuch 327 


preußiſch-polniſche Irredenta neben ihrem natürlichen Zentrum in Varſchau 
und Krakau, durch Vermittlung der tſchechiſchen Abgeordneten den kräftigſten 
Reſonanzboden im Wiener Abgeordnetenhauſe finden. Und wehrlos würde 
dem ſelbſt der bundestreueſte, vertragsfrommſte Wiener Außenminiſter 
gegenũberſtehen. Auf wen ſollte er ſich zur Abwehr des ſlawiſchen Blocks 
von gut 38 Millionen ſtützen? Auf die knapp 10 Millionen Oeutſch-Oſter- 
reicher? Noch weniger als heute wird es in Zukunft möglich ſein, die Außenpolitik 
in einer der überwältigenden Mehrheit der Reichsangehörigen nicht genehmen 
Richtung zu ſteuern. | 

Sit es nicht trotz alledem bare Torheit, wenn eine fo kleine Nation wie die 
Tſchechen in ihre Zukunftsſtaatspläne den Gedanken einſchließt, 3,5 Millionen des 
zahlreichſten und raſſenmächtigſten Volkes Europas zu beherrſchen und national 
zu vergewaltigen, beſonders da doch gerade die Deutſchböhmen ſtets ſtärkere Ab- 
wehrkraft erwieſen haben und ihre Siedelungen mit denen ihrer Volksgenoſſen 
im Reiche in ununterbrochenem und engſtem Zuſammenhange ſtehen? Was die 
Tſchechen einzig mit Anmaßung eines ſolchen Vorhabens erfüllen kann, iſt der 
Vergleich ihrer nationalpolitifchen Entwicklungshöhe mit der der Oeutſchöſterreicher. 
Die Tſchechen find unſtreitig heute ſchon eine ‚Staatsnation‘. Sie 
haben den tſchechiſchen Staat in geiſtiger, wirtſchaftlicher, kultureller Organiſation 
innerlich voll ausgebaut, nur fehlt noch ſein äußeres Gehäuſe. Das innere Feuer 
dieſer tſchechiſchen Staatsgeſinnung bildet ein geiſtiges Leben, eine Literatur, die 
von den Tagen der Erweckung her, durchaus mit Kampf und Haß gegen das Deutich- 
tum geſättigt, mit einem alle Lebenskräfte umfaſſenden Nationalismus und Chau- 
vinismus durchtränkt iſt, der bis in die entlegenſten, aller Politik ſonſt entrückten 
Gebiete des wiſſenſchaftlichen Denken und äſthetiſchen Schaffens reicht, der ſich 
auch die perſönlichſten Gefühle und ihren lyriſchen Ausdruck untertan macht. Das 
tſchechiſche wiſſenſchaftliche und ſchöngeiſtige Schrifttum, nirgends vom Genie ge- 
ſegnet, nirgends über das gute europäiſche Mittelmaß hinausragend, auch im um- 
fange beſchränkt, eben darum aber auch von dem Durchſchnittsgebildeten, ja ſelbſt 
von den begabteren Söhnen des Volks erfaßbar, iſt durch eine unermüdliche, zu- 
gleich nationale und kulturelle Propaganda in erſtaunlich breite Schichten hinaus- 
getragen, und wird gerade um ſeiner engen Verquickung mit dem nationalen 
Selbſtbewußtſein mit heißer Liebe umfangen. Auch der tſchechiſche Arbeiter, 
wenn er zur Bildung emporſteigt, muß an dem geiſtigen Klima dieſer Literatur 
zum glühenden Nationaliſten werden. Von hier aus wird dann das Nationale zur 
alles umſchließenden, alles geſtaltenden, zur unentrinnbaren Lebensmacht. Und 
alle äußeren Bildungen des tſchechiſchen Daſeins ſind rein national. National 
it die Schule, von der Volksſchule bis zur Univerfität, tſchechiſch wie die franzöſiſche 
franzöſiſch iſt. Die eingebildeten oder wahren Großtaten und Leiden der tſchechi⸗- 
ſchen Geſchichte bilden den Mittelpunkt des Unterrichts, der von Sſterreich und 
ſeiner dynaſtiſchen Legende nichts weiß. National iſt die tſchechiſche Prieſterſchaft 
vom Kaplan bis zum Domkapitel, national fühlen und handeln die Beamten, die 
vom öſterreichiſchen Staate nur den Gehalt, vom tſchechiſchen Volke aber den 
inneren Beruf und Auftrag empfangen und auch im Miniſterſeſſel ausſchließlich 


328 Türmers Tagebuch 


Diener ihres Volkes bleiben. National endlich find nicht minder alle wirtſchaft⸗ 
lichen Einrichtungen und Körperſchaften von den Banken bis zu den Handwerks 
innungen. So ſteht der tſchechiſche Staat mitten im öſterreichiſchen Staate 
fertig da...“ | 

Als Rettung ſchwebt dem Verfaſſer eine demokratiſche Neuordnung Öfter- 
reichs vor, „die, indem ſie den Deutſchen das höchſte Maß von Selbſtverwaltung 
und Selbſtändigkeit verleiht, in die eigenen Hände die Geſtaltung ihrer Zukunft 
legt, fie vor den feindlichen Schickungen zu bewahren vermag, die in der über- 
wiegend ſlawiſchen Monarchie ihrer ſonſt unentfliehbar harren“. Zu dieſen und 
anderen hier nicht wiedergegebenen Sätzen, die nur im Zuſammenhange richtig 
verſtanden werden können, dann aber einer gründlichen und kritiſchen Beleuchtung 
gewürdigt werden müßten, will ich heute nicht Stellung nehmen. Sie ſind ganz 
gewiß nicht auf die leichte Achſel zu nehmen. Nur den Eindruck kann ich dabei 
nicht zurüddrängen: die Mittel und Wege, die Karl Leuthner vorſchlägt, wären 
an ſich nicht von der Hand zu weiſen; aber ein Verſuch mit ihnen würde weit 
weniger Gefahren bergen, weit größere Ausſichten eröffnen, wenn der über- 
wiegende Teil der deutſchen Sozialdemokraten Öfterreihs fo nationaldeutſch, 
der flawiſchen jo gerecht fühlte und dächte, wie — Karl Leuthner. 


Englands Genick 


er Ausfall der ruſſiſchen Weltmacht, 
führt Dr. Paul Lenſch in der „Glocke“ 
aus, bedeutet zunächſt nur ein automatisches 
Anwachſen der engliſchen Weltmacht: „Ge⸗ 
biete wie Perſien, die bisher zwiſchen beiden 
Räubern geteilt werden ſollten, würden nun- 
mehr ungeteilt den Engländern zum Opfer 
fallen; ebenſo würde es Länder geben, die 
zwiſchen den beiden Weltreichen eine fchwan- 
kende Exiſtenz geführt haben und in der 
gauptſache ihre bisherige Unabhängigkeit 
dem Konkurrenzneid der beiden Großen zu 
verdanken hatten. Zu ſolchen Ländern könnte 
man Afghaniſtan rechnen. Bliebe es in dieſen 
Gebieten lediglich bei dem Ausfall der ruf- 
ſiſchen Macht, ſo träte der übriggebliebene 
Konkurrent ganz von ſelber als glücklicher 
Erbe an ſeinen Platz. Die deutſchen Siege 
über Rußland würden ſich als genau fo 
viele engliſche Siege über Rußland 
entpuppen.“ 

Aber es gibt ein Radikalmittel dagegen — 
England muß am Genick gepackt werden! 
„Vor reichlich hundert Jahren konnte Na- 
poleon ſeine Expedition nach Agypten nur 
um den Preis einer völligen Preisgabe 
ſeiner Verbindungen mit der Heimat wagen. 
Für Oeutſch land wäre eine ſolche Expedition 
nach den Friedensſchlüſſen im Oſten und 
nach der Vertreibung der Engländer vom 
Kontinent und den Friedensſchlüſſen mit 
Stalien und Frankreich eine verhältnismäßig 
leichte und ſichere Unternehmung. Die Ver- 
bindungen mit der Heimat wären jedenfalls 
beſſer und ſchneller als die Verbindungen 


Englands. Hier hätten wir eine un- 


unterbrochene und feſte Land verbin- 
dung, dort den langen, durch U Boote 
gefährdeten Umweg zur See über 
Gibraltar. Und dieſe potentielle Möglich- 
keit würde militäriſche Wirklichkeit werden 
müſſen, falls England nach wie vor — ſelbſt 
unter dem vorausgeſetzten ‚ihlimmiten Fall“ 
— den Frieden ablehnen würde. Den Ver⸗ 
luft des Ranals von Suez und Agyptens aber 
könnte das alte England nicht riskieren, ohne 
die geographiſchen Grundlagen feiner. bis- 
herigen Weltſtellung zertrümmert zu ſehen. 
Hier in Suez ſchlägt wirklich das Herz des 
Rieſenreiches, hier liegt, wie Bismarck ſich 
ausdrückte, das engliſche Genick. Die 
Verbindung mit Indien wäre wieder auf 
den Weg über das Kap der Guten Hoffnung 
zuruͤckgeworfen, eine Reife, für die die moder- 
nen Dampfer mit ihren Raumdispoſitionen 
überhaupt nicht eingerichtet ſind.“ 
* 


Traumwandler und Märtyrer 


er Verein tſchechiſcher Profeſſoren hat 

den Beſchluß gefaßt, die polniſche 
Sprache als obligatoriſches Unterrichts- 
fach an den böhmiſchen Schulen einzu- 
führen und beſondere Schritte zu unterneh- 
men, um den Beſchluß, trotz des dagegen ſich 
geltend machenden Widerſtandes, energiſch 
durchzuſetzen. Die Annäherungsbeitre- 
bungen der Tſchechen an die Polen 
haben damit ihren ſichtbaren Ausdruck ge- 
funden, ſie werden zu gelegener Zeit auch 
unverhüllte Gegenliebe bei den Polen. 


— 


530 


finden, obwohl dieſe vorläufig noch ihre ge- 
heime etwas zurückhalten, denn erſt müͤſſen 
ſie ihr eigenes polniſches Schäfchen ins 
trockene gebracht haben. 

Auch eines der vielen Anzeichen, die alle 


— „zwangsläufig“! — in die gleiche Rich 


tung weiſen. Maſche knuͤpft ſich an Maſche 
zu dem neuen Netzwerke, das dem blöden 
deutſchen Traumwandler eines günſtigen 
Tages über den Nacken geworfen werden foll. 
Noch ſtehen wir in mörderiſchem Daſeins- 
kampfe gegen die allbritiſche, angelſächſiſche 
Einkreiſung, und ſchon wird munter und mit 
deutſcher Duldung, ja Hilfe, an der neuen, 
allſlawiſchen Kette gehämmert! 

Alle Welt ſieht's und hört's und lacht ſich 
ſchadenfroh ins Fäuſtchen, — nur der, den’s 
am nächſten angeht, hört und ſieht nichts da- 


von. Oder will's nicht in ſeiner bald ruchloſen 


Querköpfigkeit! Lieber lallt er im Traum: 
„Völkerbund .. . Verföhnung .. Allerweits- 
frieden .. Selbſtbeſtimmung der Völker. 
offene Tür“... Bums! Da liegt er ſchon 
draußen und reibt ſich ſtöhnend die ver- 
ſchlafenen Auglein. And wird ein nächſtes 
Mal froh ſein dürfen, wenn er mit dem nackten 
Leben, ob auch mit zerſchundenen Gliedern, 
davonkommt. Dann aber nicht in der er- 
träumten „demokratiſchen“ Freiheit mit dem 
„demokratiſchen“ Selbſtbeſtimmungsrecht, fon- 


dern als geduldeter Arbeitsſklave, ſei's nun 


als Allerweltsſchulmeiſter, oder als Bier- 
wirt, Kellner, Friſeur. Immer aber ganz 
ſelbſtverſtändlich als Söldner, der den ande; 
ren ihre Händel mit ſeiner Habe und Haut 
auszutragen und auszubaden hat. So iſt's 
ſchon einmal geweſen und ſo kann es einmal 
auch wieder kommen. Der Schlauberger kann 
ſich ja ſchließlich damit tröſten, daß ſeine 
Theorie und Wiſſenſchaft einen glänzenden 
Triumph gefeiert hat. Denn war es doch 
Nietzſche, der die Lehre von der „Wiederkunft 
aller Dinge“ verkündet hat. Ein Märtyrer 
der Wiſſenſchaft alſo — iſt das nicht das höchſte 
der Gefühle? — Oerer, denen es — auch im 
Traume — nicht einfallen würde, ſich frei- 
willig dazu herzugeben. Gr. 


* 


Auf der Warte 


Lichnowſky-Einſtu 


as „Berliner Tageblatt“ hatte behauptet, 
Fürſt Lichnowſky habe feine Denk- 
ſchrift nicht verbreitet wiſſen wollen, er habe 
im November 1914 in einem Schreiben an 
den Leiter des „Berliner Tageblattes“ die 
Notwendigkeit der Einheit des deutſchen 
Volkes betont und zugeſichert, er werde ſich 
während des Krieges paſſiv verhalten. Dem- 
gegenüber erklärt in der „Münchener Zeitung“ 
deren Leiter: | 
„ich weiß und dann beweiſen, daß der 
verwirrende und entmutigende, unheilvolle 
Einfluß des Fürſten Lichnowßky lange 
vor Bekanntwerden feiner Oenkſchrift 
ſich in der deutſchen Politik bemerkbar 
gemacht hat, daß dieſer Einfluß, und zwar 
ausgeübt mit den gleichen Gründen, wie fie 
in der Denkſchrift angeführt werden, ins- 
beſondere mit der Lichnowfkyſchen Behaup⸗ 
tung von der Schuldloſigkeit Englands am 
Kriege, nicht nur die Haltung des ‚Berliner 
Tageblattes“ mitbeſtimmt hat (was wegen 
der ſowieſo vorhandenen, bekannten inter- 
nationalen Tendenz dieſes Blattes nicht von 
großem Belang geweſen ſein mag), ſondern 
daß auch die ganze Politik mindeſtens noch 
eines anderen großen und beachteten deut- 
ſchen Blattes durch dieſen Einfluß Lich⸗ 
nowfkys beſtimmt worden iſt, und zwar 
kann ich das aus einer Unterredung mit dem 
Verleger dieſes Blattes im Jahre 1915 feir 


ſtellen. Es iſt alſo nicht wahr, daß Fürft 


Lichnowſky ſich „ganz paſſiv“ verhalten hat.“ 


Japans großer Schlag 


ie japaniſch· chineſiſche Konvention, ſchreibt 
Graf Reventlow, macht China tatſaͤch 

lich zum Objekt Japans, nimmt ihm nicht 
nur die ſchon bislang ſehr beſcheiden vorhan- 
dene Unabhängigkeit, ſondern auch die Gelb- 
ſtändigkeit. Die Ehimefen haben ſich verpflid- 
tet, japaniſche Mititärtransporte, wo und 
wohin auch immer, zu dulden, ja zu fördern, 
japaniſche Sarniſonen ebenfalls, wo es 
immer den Japanern paßt. Die Konvention 


Auf der Warte 


ſpricht ausdrücklich von den Bauten, die 
dazu auf chineſiſchem Boden ausgeführt 
werden würden, von Ingenieuren und ande- 
ren Spezialiſten, welche Japan liefern werde. 
„be Temps“ erwähnt übrigens, daß die Ron- 
vention durch Artikel ergänzt werde, welche 
maritime Abmachungen zwiſchen den beiden 
öftlihen Mächten enthalten. Mithin werden 
die Japaner ſich auch das Benutzungs- und 
Garniſonsrecht in chineſiſchen Häfen ge- 
ſichert haben. 

In Waſhington und London weiß man 
gut genug, was ſolche Abkommen mit Ver- 
ſprechen „ſpäterer Räumung“ und auf dem 
Fuße „völliger Gleichheit“ bedeuten. Agyp- 
ten, Marokko, Perſien, Afghaniſtan, Korea, 
gawai, Kuba bezeichnen Unternehmungen, 
die alle ähnlich eingeleitet worden ſind. Es 
wird den Angelſachſen nicht leicht fallen, zu 
einem fo böſen Spiele, wie es ihnen Japan 
im fernen Oſten ſpielt, gute Miene zu machen, 
aber man darf überzeugt fein, daß fie es, viel 
leicht von einigen publiziſtiſchen Ausnahmen 
abgeſehen, tun werden. Daß Rußland an 
dieſer und anderen japaniſchen Rettungs- 
aktionen, fo von Wladiwoſtok, beſonders dank; 
bare Freude haben werde, wird man eben- 
falls bezweifeln dürfen. 

Japan hat den Augenblick gekommen ge⸗ 
glaubt, einen großen Schlag auf dem oſtaſiati- 
ſchen Feſtlande zu machen, und es gibt keine 
Macht der Welt, die in der Lage wäre, ihm ent; 
gegenzutreten. Übrigens iſt ganz auffällig, wie 
Japan ſich für ſeine großen politiſchen Aktionen 
im fernen Oſten ſtets ſolche Perioden aus- 
fucht, in denen die Kriegslage für ſeine 
angelſächſiſchen und anderen Verbün— 
deten ſich wenig günſtig anläßt. 


* 


Der atze die Schelle umgehängt 


hat der bapriſche Kriegsminiſter v. Hel- 
kingroth. Den An abhängigen Sozial- 
demokraten Simon gelüftete es, die Auf- 
merkſamkeit der Abgeordnetenkammer durch 
eine „Interpellation“ wegen Ausweiſung miß- 
liebiger Perſonen aus Bayern oder deren 
Berbringung in Zwangsaufenthalt auf die 


331 
bewährte vaterländiſche Tätigkeit feiner Par- 
tei und die eigene werte Perſon zu lenken. 
Da kamen fie aber an die falſche oder viel- 
mehr an die richtige Adreſſe. Der tapfere 
Bayer forcht ſich nit und ſchickte Herrn Simon 
und Genoſſen mit blutiger Abfuhr heim. 

„Angeſichts der den vaterländiſchen Inter- 
eſſen zuwiderlaufenden Beſtrebungen der 
An abhängigen Sozialdemo kratiſchen 
Partei“, erklärte Kriegsminiſter v. Helling 
roth u. a., „erachte ich es für geboten, einer 
Stärkung dieſer Partei während des Krieges 
mit allen durch das Geſetz mir zur Verfügung 
ſtehenden Mitteln entgegenzuarbeiten. Als 
wirkſames Mittel, dem weiteren Umſichgrei- 
fen des verderblichen Einfluffes der An- 
abhängigen Sozialdemokrat iſchen Par- 
tei vorzubeugen, erwies es ſich, jene Partei- 
angehörigen, die ſich durch agitatoriſche Um- 
triebe beſonders hervortun, aus ihrem bis- 
herigen Wirkungskreis zu entfernen. Die in 
der Interpellation beanſtandeten Maßnahmen 
des Stellvertretenden Generalkommandos 
find rechtlich unanfechtbar. Es iſt ganz 
natürlich und unvermeidlich, daß Auswei- 
ſungen und Zwangsaufenthalt für die Be- 
troffenen eine Härte bedeuten und mit mate 
riellen Schädigungen verbunden ſein können. 
Wenn wir aber ſolche Maßnahmen anordnen, 
ſo handeln wir nur in berechtigter Notwehr 
und pflichtgemäß. Wir ſchützen uns gegen 
die Machenſchaften von Leuten, die 
Vaterland und Kriegführung mit allen 
Mitteln zu gefährden beſtrebt ſind. Da 
geht es hart auf hart. Weichliche Rüdficht auf 
einzelne wäre ein Verbrechen gegen die 
Allgemeinheit.“ 

Dieſe Erklärung hat nicht nur den Vorzug 
erfriſchender Ehrlichkeit und Deutlichkeit, 
ſondern auch den unanfechtbarer Wahrheit. 
Solche Wahrheit würden wir aber auch gern 
im Deutſchen Reichstage vom Regie- 
rungstiſche hören. Als einmal in einem 
unvergleichlich ſchwerer liegenden, geradezu 
erſchreckenden Falle ein Verſuch gewagt 
wurde, konnte der unerſchrockene Kriegs- 
miniſter v. Stein kaum einige Sätze ſprechen, 
ohne durch wũtendes Toben der Linken, unter 
wohlwollender Begönnerung der „Mehrheits- 


2 


332 


parteien“, überbrüllt zu werden; Herrn v. Ca- 
pelle ging es nicht viel anders, und die Tage 
der Reichskanzlerſchaft Dr. Michaelis waren 
gezählt. Sollte der Fall ſchon in Vergeſſen- 
heit geraten ſein? Es handelte ſich um nichts 
Geringeres als um erwieſenen Landes- 
verrat, offenkundige Meuterei. Und 
Führer der Unabhängigen Sozialdemo- 
kratiſchen Partei hatten mit den über- 
führten Landesverrätern und Meute- 
rern enge Gemeinſchaft gepflogen! 


Gr. 
* 


Volksrat für auswärtige Inter⸗ 
eſſen 


ieſe Beſorgnis gewiſſer Reichstagsherren, 

der Hetman Skoropadski, deſſen Ver- 
ſtãnd igkeit günftig für unſere vertragsmäßigen 
Forderungen iſt, könnte heimlich eingeſetzt von 
Deutſchland fein! Annötige Befürchtung; 
wir dürften dieſe argusäugigen Oberzenſoren 
unſeres biſſel Politik ruhig zu ihrem Ober- 
geliebten nach Waſhington exportieren, wo 


fie — Kuba, Panama, Nikaragua — beſſer 


begründete Beſchäftigung fänden! 

And fo die immer gleiche Leier! Dieſe 
Angſt, daß der verkorkſte Friede von Breit- 
Litowſk loskomme von feiner feigen Doppel- 
züngigkeit, daß man ihn offen und ehrlich 
fäubere und die Balten und Eſten von ihren 
hingeſchleppten dringenden Wuͤnſchen und 
Sorgen bald erlöſe! Dagegen dieſe nie ge- 
kannte Steuerfreudigkeit, daß nur Oeutſch⸗ 
land nicht etwa Nationen, die gegen uns 
planende Argliſt ſannen und uns verrieten, 
zu belaſten brauche. 

Wahrhaftig, nach manchen Parteihähnen 
und Teilbeſtrebungen wäre der Ausdruck 
nicht zu hart: Deutſche Volksvertretung für 
die auswärtigen Intereſſen. Wäre der Staats- 
mann des belgiſchen „Unrechts“ im Amt, fo 
hätte er dieſe Bezeichnung vielleicht auch un 
ſchuldig willkommen geheißen. Das deutſche 
Volk hat natürlich nichts damit zu tun, es muß 
nur herkömmlich zu allen Gehirn- und Herz- 
fehlern des Parlamentarismus den Namen 
geben. ed. h. 


2 


n 


Auf der Warte 


Das unglückliche Land 


er zur Zeit der rumäniſchen Neutrali- 

tät dort im Lande war, konnte als 

einen Hauptgrund der Stimmungen für das 
zariſche Rußland und gegen die Mittelmächte 
die Vorausſicht hören, daß die letzteren von 
Rumänien die ſog. Erteilung der Rechte an 
die Juden fordern würden. Nun, da der 
Friede zur Erörterung ſteht, verfehlt denn 
auch nicht ein Teil der internationalen Federn, 
den Hauptpunkt aus dieſer Frage zu machen, 
mittels der eigenen Darſtellung und mittels. 
deſſen, was ſie in Interviews die befragten 
amtlichen Perſönlichkeiten dartun laſſen. So 
auch in der an ſich keineswegs juͤdiſchen, aber 
mit regſamen und horchſamen juͤdiſchen Mit- 
arbeitern aller möglichen geographiſchen Her; 


kunft verſehenen „Neuen Zürcher Zeitung“, 


wo denn nach beliebter Gewohnheit das nicht 
fo glatte Vorangehen der jüdiſchen Wünfche 
mit dem politiſchen Schickſal des Landes durch; 
einandergebracht und gleichgeſetzt wird. Graf 
Czernin habe ſich der jübifhen Sache mit 
großem Eifer angenommen und auch wohl 
die deutſchen Unterhändler mitgezogen, ja ſie 
vorzuſchieben gewußt, aber inzwiſchen 
haben der rumäniſche Antiſemitismus und 
deſſen „Einflüſterungen“ doch wieder mehr 
Boden gewonnen. „So geſtaltet ſich die Lage 
in dieſem ungluͤcklichen Lande zu einem politi- 
ſchen Unglück, wie es in kaum irgendeinem 
andern Staate in dieſem Maße vorhanden ſein 
dürfte“ („N. Z. Z., 1. Mal). 

Der Vergleich mit den andern Staaten, 
wer da beglüdend und herrſchend regiert, iſt 
ja richtig. F. 


* 


Ein Moskauer, Genoſſe“ gegen 


den „Vorwärts“ 


3 der ſozialdemokratiſchen „Internatio- 
nalen Korreſpondenz“ ſchildert ein Brief 
aus Moskau die Zuſtände in Rußland unter 
ſozialdemokratiſcher Herrſchaft. Ein grauen 
volles, troſtloſes Bild, — ein Höllenrachen 
klafft uns entgegen. Völlige Geſetz⸗ und 


KRechtloſigkeit des Eigentums wie der Per⸗ 


fon; foweit die Macht der Bajonette reicht, 


Auf der Warte 


blutige Willkür und Gewaltherrſchaft; Ver⸗ 
wültung, Brachlegung des Grund und Bodens, 
Ruin des Handels und Verkehrs, der Induſtrie 
und Geldwirtſchaft. Und über allem das Ge- 
ſpenſt wirklicher Hungersnot. „Jedermann, 


auch die arme Bevölkerung, hat nur den 


einen Wunſch, von dieſem Schredenstegi- 
ment erlöſt zu werden ... Inzwiſchen höre 
ich mit Erſtaunen von dem ſcharfen 
Proteſt des „Vorwärts“ wegen Eſtland 
und Livland. Wenn er nur wüßte, wie 
falſch ſeine Vorausſetzung iſt, daß es in 
Rußland irgendeine Regierung gäbe, 
die in der Lage wäre, Vereinbarungen zu 
treffen oder getroffene Vereinbarungen zu 
halten. Sie wiſſen ganz gut, wie wenig im- 
perialiſtiſch ich geſtimmt bin und wie ſtarke 
Abneigung ich gegen den Gewinn von Land 
mit fremdſprachiger Bevölkerung hege. Aber 
was hier vorgeht und was ſich hier noch zu- 
ſammenbraut, iſt ſo furchtbar, daß man 
jedem Lande nur Glück wünſchen kann, 
wenn wir es davor retten, mit in dieſen 
Hexenkeſſel hineinzukommen 

Selbſt in Mos kau alſo haben ſie keinen 
ſehnlicheren Wunſch, als von ihrer Höllen- 
herrſchaft „erlöſt“ zu werden, — der „Vor- 
wärts“ aber mit Genoſſen (Scheidemann an 
der Spitze!) wollen auch die nicht ruſſiſche 
Bevölkerung Livlands und Eſtlands an 
dieſe ruſſiſche Herrſchaft ausliefern! Und das 
darf ſich „Zentralorgan der deutſchen 
Sozialdemokratie“ nennen, wo doch das 
Liebesgirren ſchon den Moskowiter in „Ex- 
ſtaunen“ ſetzt! Gr. 


Ruſſiſcher als ruſſiſch 


e unverhüllter, ſchreibt die „Deutſche 

Politik“, das Kad ettenminiſterium 
in der Ukraine moskophile Tendenzen in 
die Verwaltung hineinbringt, um ſo wichtiger 
iſt es, daß deutſcherſeits dem ukrainiſchen 
Volke zum Bewußtſein gebracht wird, daß 
Deutſchland ein ſtarkes Intereſſe an der 
ukrainiſchen Selbſtändig keit beſitzt. Die 
Rede des deutſchen Vertreters in Kiew, Bot- 
ſchafters Baron Mumm, in der auf die Not- 
wendigkeit demokratischer Reformen in poli- 


3³³ 


tiſcher, agrarpolitiſcher und kultureller Hin- 
ſicht hingewieſen wurde, iſt daher ein erfreu- 
liches Anzeichen dafür, daß wenigſtens an 
dieſer Stelle die Bedeutſamkeit des ukraini- 
ſchen Problems für Deutſchland richtig ein- 
geſchätzt wird. Um ſo bedauerlicher iſt es, 
daß die offiziöſe „Nord deutſche Allge- 
meine Zeitung“ aus Kiew Rorrefponden- 
zen erhält, aus denen un verhüllter Mosko- 
witer Geiſt hervorlugt. Glaubt man wirk- 
lich damit „moraliſche Eroberungen“ 
machen zu können? Wird nicht vielmehr dem 
Mißtrauen der Ukrainer, daß Oeutſchland 
den kadettiſchen Kurs der Hetmann-Regierung 
ftüße, neue Nahrung zugeführt? Nach ſolchen 
Leiſtungen wird der Stoßſeufzer eines ukraini- 
ſchen Patrioten verſtändlich, der kürzlich ſich 
verwunderte, daß die deutſche Preſſe mit 
Vorliebe Vertreter nach Kiew ſchicke, die 
ruſſiſcher ſeien ſelbſt als das dort amtierende 


Kadettenminiſterium. 
1* 


Krim und PNaſewalk 


in Freund der „Deutſchen Zeitung“ 
ſchreibt aus der Krim zu dem in der 
„Rundſchau“ des letzten Türmerheftes („Groß- 
fürſt Nikolai Nikolajewitſch“) wiedergegebe- 
nen Aufſatze: 

„So müßte es ſein. — Und wie iſt es in 
Wirklichkeit? 

Strenger Befehl, die ruſſiſchen Herrſchaf⸗ 
ten, die alle in Oulber ſitzen, darunter die alte 
Dänin, als Zivilperſonen zu behandeln und 
auf eine Meile Umkreis nicht in ihre Nähe zu 
kommen. Nur muß öfters angefragt werden, 
ob ſie auch genügend zu leben hätten. 

Großfürſt Nikolaus hat ſich jeden Anblick 
eines Deutſchen hoͤflichſt verbeten. Alle wer- 
den behandelt wie Reichsfuͤrſten. Eine deutſche 
Schutzwache, die ihnen von der Regierung an · 
geboten wurde, lehnten ſie ab. 

Öfters muß der Haushofmeiſter, Baron 
Stael, befragt werden, ob die Herrſchaften 
noch genügend Geld haben.“ 

Dies und noch einiges mehr, was ſo nach 
und nach aus der Krim zu uns durchſickert, 
war ja fo ſicher zu erwarten, daß ich mir wirk⸗ 
lich nichts auf meine „Prophetengabe“ ein- 


554 


zubilden brauche, weil ich in einem kleinen 
Nachſatze zu den Ausführungen des Verfaſſers 
ſchonend auf eine Enttäuſchung feiner (an 
ſich ja nur ſelbſtverſtändlichen) Erwartungen 
vorbereitet habe. Die in der Krim kennen ſich 
aus, — „in Paſewalk ſind wir noch nicht ſo 
weit“ Gr. 
* 


Anſchluß Livlands und Eſt⸗ 
lands — keine andere Löſung 
en wohltuendem Gegenſatze zu den un- 

J verantwortlichen, leider aber immer noch 

geduldeten Quertreibereien des auch katholi- 

ſchen Herrn Erzberger fordert das führende 
rheiniſche Zentrumsblatt, die „Köln. Volks- 
zeitung“, mit aller Entſchiedenheit die An- 
erkennung der Loslöſung Livlands und 

Eſtlands von Rußland und ihren feſten 

Anſchluß an das Oeutſche Reich: 

„In Deutſchland wird die nunmehr ab- 
geſchloſſene Tatſache der Loslöſung der 
baltiſchen Lande von Rußland und ihre feſte 
Angliederung an das Deutſche Reich fraglos 
überall, wo man die nationale Seite der 
Frage ebenſo einzuſchätzen weiß, wie die hoch; 
bedeutſame wirtſchaft liche, mit Freude und 
Genugtuung aufgenommen werden. War 
in früheren Zeiten das Verſtändnis für bal- 
tiſche Dinge begreiflicherweiſe kein großes, 
überwog die Rüdjihtnahme auf das gut- 
nachbarliche Verhältnis zum großen Oſtſtaat, 
ſo haben ſich die Zeiten nunmehr völlig 
geändert, und die mehr links ſtehenden Par- 
teien und deren Preſſe bis tief hinein in das 
ſozialdemokratiſche Lager find in dem Ge- 
danken einig, daß es eine andere Löſung 
als die nun ausgeſprochene nicht gibt.“ 


Ein Sozialdemokrat über die 
baltiſchen Barone“ 


as haben unſere „demokratiſchen“ 

Einpeitſcher aus dieſen „Baronen“ 
alles gemacht! Einen wahren Popanz aus 
dem finſterſten Mittelalter, den Inbegriff 
alles „Reaktionären“, geſchworene Feinde 
aller freiheitlichen Entwicklung und Kultur! 
And nun ſchreibt der von einer Eſtlandreiſe 


Auf der Warte 


zurückgekehrte ſozialdemokratiſche Polititer 
Emjt Heilmann in der ſozialdemdkratiſchen 
„Internationalen Korreſpondenz“: 

„Die ſtärkſte Uberraſchung unſerer Eſtland · 
reiſe waren für mich die „baltiſchen Barone“. 
Sie widerſprachen durchaus der Vor- 
ſtellung, die man ſich nach deutſchen Zei- 
tungen von ihnen machen mußte. Es ſind 
keine oſtelbiſchen Großgrundbeſitzer, die viel- 
leicht der Zeit der Leibeigenſchaft noch näher 
ſtehen als unſere uckermärkiſchen Granden, 
ſondern durchweg Intellektuelle und 
Aſtheten. Die Zeit, die ihnen die Bewirt⸗ 
ſchaftung ihrer Güter ließ, haben fie geifti- 
gen Intereſſen zugewandt. Die ſehr ſchwe⸗ 
ren Zeiten des Drudes der ruſſiſchen Reaktion 
unter Alexander III. und Nikolaus II. haben 
ſie nicht revolutionär geſtimmt, .. haben ie 
aber doch freiheitlichen Gedanken zugänglich 
gemacht. Sie haben gar nichts mehr von 
dem bornierten Zunkerdünke ! . .. Alles 
Schneidige, Junkerliche, Gardemäßige fehlt 
dieſen baltiſchen Baronen vollkommen. Sie 
tragen zum Seil, ohne es zu wiſſen, aus- 
gefranſte Hoſen und zerbeulte Hüte. Ole 
Balten untereinander laſſen übrigens meiſt 
die Adelstitel fort. Irgendeine Stände 
ſcheid ung zwiſchen Großgrundbeſitzern, deut- 
ſchen Kaufleuten oder Angehörigen der ge⸗ 
lehrten Berufe iſt unbekannt.“ 


Wem folgen ſie? 


ie Flamen fragen uns: Erz berger fagt: 
Belgien iſt der Liebling der Welt. 
Karl Marx ſagt: Belgien iſt die Hölle der 
Arbeiter und das Paradies der Kaplitaliſten. 
Folgt die deutſche Sozialdemokratie Erz- 
berger oder Marr? 
„Die Glocke“ vom 30. März 1918. 


Krieg und Recht 


as Recht muß herrſchen“, ſagten ſchon 
1 die alten Römer, und das ſagen auch 
die modernen Weltbeherrſcher, die angel 
ſächſiſchen Machthaber hüben wie drüben des 
großen Teiches. Sie verſchweigen natürlich, 
wie das Recht beſchaffen fein würde, das fie 


Auf der Warte 


meinen, ſondern reden nur immer davon, daß 
erſt der (pręußiſch-deutſche) Militarismus aus 
der Welt geſchafft ſein müſſe, damit Recht 
überhaupt im Völkerleben Geltung erlangen 
könne. Alle Rechtsbegriffe ſind aber in ihrem 
Weſen ſubjektiv und unſachlich in ihrem Ar- 
ſprung. Es wird immer, ſolange es perjön- 
lichen und völkiſchen Egoismus als Gier für 
ſich ſelbſt und Beſchränktheit in ſich ſelbſt gibt, 
das ganz ehrlich als Recht empfunden wer- 
den, was dem egoiſtiſch befangenen perjön- 
lichen und völkiſchen Intereſſe entſpringt. 
Treffend kennzeichnet Johannes Müller den 
Zuſtand, in den die Welt geraten würde, 
wenn die angelſächſiſch⸗amerikaniſche Rechts- 
auffaſſung nach dem Kriege zur Geltung ge- 
langte. Er wundert ſich in einem im zehnten 
Kriegsheft der „Grünen Blätter“ erſchienenen 
Aufſatz „Zwiſchen Krieg und Frieden“ über 
unſere Pazifiſten, die ſich von Amerika her 
einreden ließen, mit der Abſchaffung des 
Militarismus und Marinismus wäre die 
Macht entthront und das Recht zur Herr- 
ſchaft gekommen. „Haben ſie denn noch 
nicht bemerkt,“ ruft er aus, „daß es in dieſem 
Kriege gar nicht um politiſche Macht geht, 
ſondern vielmehr um die wirtſchaftliche 
Diktatur des angelſächſiſchen Kapitals, 
um die Geldweltherrſchaft Amerikas, daß uns 
die brutale Autokratie Wilſons, gegenüber der 
die zariſtiſche patriarchaliſch war, ein Vorſpiel 
der pazifiſtiſchen Epoche gibt, wo das Necht 
überhaupt von der Macht völlig verſchlungen 
ſein wird. Jetzt ſchon ſtehen doch alle Macht» 
formen, die es in der Welt gibt, auch die 


geiſtigen Mächte, unter der Herrſchaft des 
Geldes, werden aber noch geſchützt durch die 


Traditionen, die aus einer Zeit ſtammen, in 
der das Geld noch nicht alles war ... So- 
lange nicht die ſinnliche und geiſtige Macht 
dieſer Welt durch die ſeeliſche und göttliche 
Macht, die Recht atmet und Wahrheit aus- 
ſtrahlt, überwunden, dienſtbar gemacht und 
beſeelt iſt, wird immer Macht vor Recht gehen, 
und alle Verſuche der Menſchen, das Völker 
leben auf Recht zu begründen, werden es 
immer mit eiſerner Notwendigkeit der ver⸗ 
gewaltigenden Macht ausliefern.“ O. C. 


* 


385 


Zum Blutabzeichen 


as Verwundetenabzeichen, das „Blut- 

abzeichen“, macht nun nicht, wie es erſt 
den Anſchein hatte, einen Anterſchied zwi- 
ſchen Schwer- und Leichtverwundeten. Der 
Begriff der Beſtimmung war wohl zu dehn⸗ 
bar, hätte wohl zu Mißhelligkeiten geführt, 
hätte vielleicht gar Mißtrauen zwiſchen Of- 
fizier und Mann ſäen können, weil Begünfti- 
gungen nicht ausgeſchloſſen waren. Das iſt 
nun glücklich vermieden. Warum aber 
macht man nun einen Anterſchied nach der 
Zahl der Verwundungen? Das iſt an ſich 
zwar eine klare, aber dennoch eine recht 
äußerliche Unterſcheidung, die freilich außer- 
dem eine ähnliche Gefahr in ſich birgt. Denn 
dann bekommt der, der bei feiner erſten Ver- 
wundung zum blinden Krüppel für fein gan- 
zes Leben wurde, die niederſte, der aber, der 
zwar fünfmal, aber nur leicht verwundet, ſeine 
volle Geſundheit wiedererlangte, die höchſte 
Auszeichnung. Warum dies? Zſt dieſe Art 
der Verleihung gerechtfertigt? Uns ſcheint, 
daß dies bei den Schwergeprüften, die zeit- 
lebens am härteſten getroffen find, bitteren 
Unmut erwecken muß! Es iſt keiner an der Art 
wie an der Zahl ſeiner Verwundung ſchuld. 
Alle boten dem Feind die Bruſt. Sie gaben alle 
ihr Blut. Sie waren alle bereit zu bluten, zu 
leid en, zu dulden. Es iſt hier kein Unterſchied. 
Nur das „feindliche“ Blei machte zufällig einen 
ſolchen. So gebührt ihnen allen gleiche Achtung 
und gleiche Ehre. Und darum ſollte es heißen: 
Ein Blutabzeichen für alle! W. Kl. 


Das Hohenlohe⸗Geheimnis 


in Mitarbeiter ſendet uns folgende Mit- 
teilungen, zu deren Wiedergabe wir uns 

aus öffentlichem Intereſſe verpflichtet fühlen: 
Für die Berliner Finanzwelt und die wei- 
ten Kreiſe, die damit zuſammenhängen, hat 
ſich ein äußerjt bedeutſames Creignis voll- 
zogen: die Trennung des Finanzkonzerns des 
Fürſten Chriſtian Kraft zu Hohenlohe von 
der Deutſchen Bank. Man wird ſich er- 
innern, daß die raftlofe und überaus erfolg- 
reiche Geſchäftstätigkeit des Fürſten Henckel 


PR a A un A 


336 


Donnersmarck eines Tages auch die Fürſten 
Hohenlohe und Fürſtenberg auf den Plan 
rief, die ſich mit Feuereifer auf allen mög- 
lichen kommerziellen Gebieten zu betätigen 
begannen. Leider aber waren ihre Unter- 
nehmungen durchaus nicht von dem gleichen 
Glück begünſtigt. Ein Wißerfolg reihte ſich 
vielmehr an den andern. Am bekannteſten 
unter dieſen mißglückten Spekulationen iſt die 
Beteiligung bei den Wolf Wertheimſchen 
Warenhausgründungen geworden. Sie hat 
den Fürſtenkonzern viele Millionen gekoſtet. 
Nach all dieſen Niederbrüchen „konzentrierte“ 
ſich zunächſt Fürſt Fürſtenberg Schleunigft „rüd- 
wärts“, Fürſt Hohenlohe glaubte es noch eine 
Weile aushalten zu können und ließ ſeinen 
füͤrſtlichen Kollegen ziemlich weitherzig aus 
den meiſten Engagements. Aber das immer 
noch erhoffte Glück wollte und wollte nicht 
kommen. Sa, die Ralamitäten wurden immer 
größer und drohten ſogar, das immenſe 
Hohenloheſche Vermögen ernſthaft zu zer- 
trümmern. In der höchſten Not ſprang als 
Helferin die Deutſche Bank ein. Aneigen- 
nützig, wie ſie ſagte. Ihre erſte Tat war, daß 
ſie auf den Fürſten alle die Werte aus ihrem 
Beſitze abſchob, die ſie aus der Knauerſchen 
Erbſchaft hatte übernehmen müſſen. „Faule 
Werte“ alſo. Darunter ſind zu rechnen: das 
Hotel Eſplanade, Hotel Exzelſior, Nol- 
lendorftheater, Piccadilly uſw. Diefe 
Werte riſſen den Fürſten, der dafür ſeine 
beſten Induſtriepapiere als Sicherheit hatte 
hinterlegen müſſen, immer mehr rein. Das 
hätte ihn ſelbſt alles nicht einmal ſo ſchwer zu 
treffen brauchen, wenn es die klugen Mächler 
der Deutſchen Bank nicht verſtanden gehabt 
hätten, dem Fürſten in einer ſchwachen 
Stunde eine ſelbſtſchuldneriſche Bürg- 
ſchaft für alle dieſe Engagements abzufor⸗ 
dern. Allmählich wurde jedenfalls bei der 


„ſelbſtloſen“ Sanierung durch die Oeutſche 


Bank der völlige Zuſammenbruch des Hohen- 
loheſchen Vermögens nur noch zu einer Frage 
der Zeit. Als die Not am höchſten war, berief 
Fuͤrſt Hohenlohe den klugen Generalſekretãr 
des Hanſabundes in ſeine Verwaltung, damit 


Auf der Warte 


er rette, was noch zu retten wäre. Dieſer hat 
denn auch fein möglichſtes getan, um den 
Karren der fürſtlichen Finanzen wieder flott 
zu bekommen. Daß das mit der Oeutſchen 
Bank nicht gehen würde, die ja das Gegenteil 
eines Intereſſes daran hatte, hatte er bald be- 
griffen. Infolgedeſſen ging fein Streben von 
vornherein dahin, dieſe Verbindung durch 
eine andere zu erſetzen. Das iſt ihm jetzt ge- 
lungen; wie man ſagt, zur größten Über- 
raſchung der Herren von der Deutſchen Bank. 
An deren Stelle iſt die Nationalbank in 
Verbindung mit dem Barmer Bankverein, 
einer Tochtergeſellſchaft der Distontogejell- 
ſchaft, getreten. Da es ſich hier um Objekte 
im runden Werte von 100 Millionen handelt, 
iſt es klar, daß in der Bank- und Handelswelt 
von nichts anderem geſprochen wird. Auf- 
fällig muß es erſcheinen, daß die wahren 
Gründe dieſer Trennung fo ängſtlich vor der 
Öffentlichkeit geheimgehalten werden. Zürft 
Hohenlohe hätte meines Erachtens nicht den 
geringſten Grund, hier mit der reinen Wahr- 
heit hinter dem Berge zu halten. „Auf- 
faſſungsdifferenzen über die zu verfolgende 
Dividendenpolitik“ follen nach der Börſen⸗ 
preſſe die Urſache der Trennung geweſen ſein. 
Das iſt natürlich nur Spiegelfechterei, von 
der ſich kein Eingeweihter täuſchen läßt. Es 
würde ſofort Klarheit in dieſe ganze An- 
gelegenheit kommen, wenn ſich die Fürſtlich 
Hohenlohefhe Verwaltung aus ihrer falſchen 
Scham in die breite Öffentlichkeit heraus 
retten würde und einfach die Verträge 
publizierte, die ihr von der Deutjchen 
Bank aufgezwungen worden ſind. Man ſpricht 
darüber ſchon ziemlich deutlich und gibt all- 
gemein die Auffaſſung kund, daß hier eine 
Ausnutzung der Notlage betrieben wor 
den iſt, die man bei jedem Privatmanne mit 
ganz anderen Worten bezeichnen würde. 
Anſerer Auffaſſung nach hätte aber nicht nur 
die Offentlichkeit an der reſtloſen Klarſtellung 
der Angelegenheit Intereſſe, ſondern in wo- 
möglich noch höherem Maße die Regierung 
und das Parlament. Wann wird der Stein 
ins Rollen kommen? Wir ſind begierig! 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Kunft und Muſik: Dr. Karl Gtord 
le Zuschriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Berlin (Wannſeebahn) 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Politik und Völkerpſychologie 
Von Prof. Dr. Benno Imendörffer 


Zein anderes Volk der Erde hat es ſo wie das deutſche verſtanden, ſich 

1 5 liebevoll in das Weſen anderer Völker zu verſenken. Mit hingeben 
= EN YA W dem Fleiße, mit nimmermüdem Forſcherdrange ſuchten und ſuchen 
x ve line deutſche Gelehrte Verſtändnis für fremde Kulturen zu gewinnen; 

die Literaturen und Sprachen anderer Völker wurden durch Meiſterüberſetzungen 
dem deutſchen Volke zugänglich gemacht in einer Weiſe und in einem Maße, wie 
dies ſonſt nirgends der Fall iſt. Der Deutſche Budenz begründet die madjariſche, 
der Deutihe Jungmann die tſchechiſche Philologie; deutſche Reiſehandbücher 
weiſen uns den Weg durch aller Herren Länder, deutſche Reiſende erkunden die 
bewohnte und unbewohnte Erde, deutſche Profeſſoren ſchreiben die tiefgründig- 


ſten Werke über Sitten und Gebräuche der Einwohner aller Erdteile und Zonen. 


Mit erſtaunlicher Bereitwilligkeit werden die Leiſtungen aller fremden Völker 
auf deutſchem Boden anerkannt und geprieſen; die deutſchen Bühnen ſtehen frem- . 
den Dichtern allezeit zur Verfügung, die Gemälde fremder Künſtler werden im 
deutſchen Kulturkreiſe gemeinhin höher geſchätzt als die der einheimiſchen; fremde 
Sprachen ſich anzueignen, gilt mehr als ſonſt irgendwo in der Welt dem deutſchen 
Volke als Kulturpflicht, und die altererbte Redensart, die eine Sache als minder 
wertig bezeichnen ſoll, ſagt ihr nach, fie ſei nicht weit her. Deutfche, die ſich dauernd 
in fremden Landen niederlaſſen, beeilen ſich, ſich in Sprache und Sitte ſo raſch 
Her Türmer XX, 20 22 


338 Smenbörffer: Politik und Völkerpſychologie 


als möglich den Landeskindern anzupaſſen, und opfern bereitwilligſt die eigene 
Nachkommenſchaft dem fremden Volkstume. Deutſche Hochfchulen ſtehen den 
lernbegierigen Zünglingen der ganzen Welt offen, und nicht den geringſten Stolz 
deutſcher Wiſſenſchaft bildet es, Lehrmeiſterin des Erdkreiſes zu fein. Deutſche 
Kaufleute und Induſtrielle bemühen ſich, den Geſchmacksrichtungen ihrer Ab- 
nehmer in fremdem Lande Rechnung zu tragen, ja, ſie ſuchen dieſe zu Hauſe heimiſch 
zu machen. Dieſe Aufzählung ließe ſich ins Unendliche fortſetzen. Warum ich dieſe 
altbekannten Dinge anführe? Weil ſie genau das Gegenteil deſſen beweiſen, was 
ſie zu beweiſen ſcheinen; weil in dieſen Tatſachen, die ſonderbarerweiſe heute noch 
den Stolz vieler Oeutſcher bilden, nicht zuletzt die Arſache des Welthaſſes gelegen 
iſt, der im Weltkriege zu ſo gewaltiger Entladung gelangte. 

Merkwürdig, wie doch all dieſes liebevolle Verſenken in fremde Eigenart, wie 
dieſes bereitwillige Hochſchätzen fremder Kulturen, dieſes bis zur Würdeloſigkeit 
gehende Buhlen um die Gunſt der anderen ſo gar nicht vermocht hat, uns deren Zu- 
neigung zu verſchaffen oder wenigſtens doch auf der anderen Seite das Bedürfnis 
hervorzurufen, nun auch uns kennen und verſtehen zu lernen. Merkwürdig und doch 
ſelbſtverſtändlich. Freilich war die Stimmung der anderen, die fie uns gegenüber 
hegten, nicht immer die gleiche. Es gab bekanntlich eine Zeit, und ſie liegt noch 
gar nicht ſo ferne, wo wir zwar nicht gerade Liebe und Hochachtung, aber doch 
ein gewiſſes, freilich mit Mitleid und Herablaſſung gemiſchtes Wohlwollen bei 
den anderen genoſſen. Das war, ſolange wir uns darauf beſchränkten, das Voll 
der Dichter und Denker zu fein, ſolange wir, politiſch eine quantité negligeable, 
wirtſchaftlich Handlanger der anderen waren, dazu leidliche Abnehmer ihrer Er- 
zeugniſſe. Jedes Kind weiß heute, daß und warum ſich dieſes Verhältnis ſehr zu 
unſeren Angunjten geändert hat. Nun aber trat die merkwürdige und durchaus 
nicht ſelbſtverſtändliche Erſcheinung ein, daß ſich zwar das Verhalten der anderen 
Völker gegen uns, nicht aber unſer Verhalten gegen die anderen Völker in ent- 
ſprechender Weiſe geändert hat. Darin liegt der ſchlüſſigſte Beweis dafür, daß 
uns trotz unſeres vorgeblichen tiefen Verſtändniſſes für fremde Völker ein ſchwerer 
Mangel an völkerpſychologiſcher Einſicht belaſtet. In dem Augenblicke, wo ſich 
durch unſere gewaltigen Leiſtungen auf politiſchem, militäriſchem und vor allem, 
durch dieſe ermöglicht und vorbereitet, auf wirtſchaftlichem Gebiete, ſchließlich 
begreiflicherweiſe, die Stimmung der meiſten anderen Völker zuerſt mehr und 
mehr mißtrauiſch, dann immer feindſeliger geſtaltete, was wir nicht überſehen 
konnten, in dem Augenblicke hätten auch wir unſer Verhalten ihnen gegenüber 
neu einſtellen müſſen. Daß dies nicht geſchehen iſt, iſt unſere Schuld, eine Schuld, 
die ſich nach bekanntem Oichterworte rächen mußte und ſich, ſonderbarerweiſe zum 
Erſtaunen fo vieler ahnungsloſer Deutſcher, im Weltkrieg in unerhörter Weiſe ge⸗ 
rächt hat. Noch weit unerhörter aber iſt es, daß ein gut Teil derer, die heute die 
deutſche Politik lenken oder doch Einfluß auf ſie zu nehmen in der Lage ſind, dieſe 
Tatſache des völligen Verſagens auf dem Felde der Völkerpſychologie noch immer 
nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. 

And doch iſt unſer Sündenregiſter nach dieſer Richtung ſchier endlos. Die 
eingangs gebrachte Aufzählung hat zunächſt nur die eine Seite unſerer großen 


Zmendörffer: Politik und Völterpfpchologe 359 


Schwäche im Wettkampfe der Völker berührt. Weit verhängnisvoller als auf 
den verſchiedenſten Gebieten des Kulturlebens und der wirtſchaftlichen Betäti- 
gung offenbart fie ſich in unſerer Auslandspolitik bis mitten in den Weltkrieg 
hinein, ja bis zur allergegenwärtigſten Gegenwart. Man braucht nicht erſt zum 
tauſendunderſten Male auf die tauſendmal gerügten Fehler, die kurz vor und un- 
mittelbar bei dem Ausbruche des Weltkrieges fo verhängnisvoll gewirkt haben, hin- 
zuweiſen, als da ſind die ſträfliche Mißachtung der fremden Preſſe, das Verſagen 
des Nachrichtendienſtes, die unbegreifliche Vertrauensſeligkeit Staaten gegen- 
über, über deren freundſchaftliche Geſinnung wir uns noch niemals zu beklagen 
gehabt hatten, und ſo manches andere, das noch in aller Erinnerung lebt. Schließ 
lich handelt es ſich hier doch nur um die negative Seite unſeres Problems. Weit 
verhängnisvoller und viel weiter zurückliegend find jene Fehler, die unſer politi- 
ſches Verhalten gegenüber faſt allen fremden Völkern ſeit Jahrzehnten kenn 
zeichnen. Man kann Verſtändnis für das verhängnisvolle Mißverſtehen der Dent- 
weiſe fremder Völker auf deutſcher Seite nur erlangen, wenn man ſich darüber 
klar geworden iſt, daß unter den mannigfaltigen und glänzenden Begabungen, die 
unſerem Volke zuteil geworden ſind, ſich leider politiſche Begabung nicht befindet. 
Daß dem ſo iſt, dafür erbringt nicht nur die Geſchichte des deutſchen Volkes, dafür 
erbringt ſozuſagen jeder neue Tag den lüdenlofen Beweis. Aus dieſer Unzulänglich⸗ 
keit unferer politiſchen Befähigung, die vereinzelte glänzende Ausnahmen (Bis- 
marck!) erſt recht ins Licht ſetzen, ergibt ſich auch die lange Reihe der Mißgriffe 
im Verkehre und bei Behandlung fremder Völker. Das A und das O unſerer 
pſychologiſchen Weisheit war hier ſeit jeher der wohlfeile, ſo naheliegende und in 
den meiſten Fällen ſo grundfalſche Analogieſchluß: So, wie wir Deutſche denken 
und fühlen, ſo muß auch der Slawe, der Franzoſe, der Engländer uſw. denken 
und fühlen. Vielleicht haben wir es hier mit einem Erbteile aus der Zeit des eben 
wieder erwachenden demokratiſchen Gleichheitswahnes zu tun, der, gleich wie er 
alle Individuen als gleichartig anſah, auch keinen Unterſchied unter den Völkern 
mehr kennen wollte. Während aber dieſe aller geſchichtlichen und völkerkundlichen 
Erfahrung hohnſprechende Lehrmeinung bei anderen Völkern — man denke an 
Franzoſen und Engländer! — lediglich Theorie geblieben iſt, gut genug, um als 
Blendwerk für harmloſere Völker zu dienen, nahmen und nehmen wir es heute noch 
ernſt damit. Freilich liegt die Unfähigkeit, andere Völker zu durchſchauen, tief be- 
gründet in der deutſchen Natur, und ſchon die erſten Germanen zahlten dafür un- 
geheure Blutopfer. Hätte die kindliche Argloſigkeit, die auf politiſchem Gebiete 
das deutſche Volk feit jeher kennzeichnet, nicht fo unendlich viel Tragiſches ge- 
wirkt, man könnte ſich zu ihrer Charakteriſierung mit dem weichen Worte rührend 
begnügen; fo aber wirkt fie lediglich noch empörend, denn zwei Jahrtauſende 
übler Erfahrungen haben, dem Anſcheine nach, noch nicht ausgereicht, uns die 
Augen zu öffnen. Daß dem wirklich fo ift, ergibt ſich mühelos aus beliebigen Bei- 
ſpielen. Die der Allgemeinheit der Oeutſchen ſo ſelbſtverſtändliche Pflicht der 
Dankbarkeit ſetzen wir allüberall auch bei anderen Völkern voraus. Gründet ſich 
nicht darauf die jeglicher Kenntnis der flawifchen Volksſeele entbehrende Politik 
gegen Polen, Tſchechen und Slowenen? Gründet ſich nicht darauf, neben einem 


340 Smendörffer: Politik und Dölkerpſychologle 


guten Zuſchuſſe von Eitelkeit freilich, das verkehrte Vorgehen, die Quellen unſerer 
wiſſenſchaftlichen und techniſchen Überlegenheit allen Völkern der Erde bereit- 
willig zu öffnen? Gründet ſich nicht darauf das in ſeinen Wirkungen völlig das 
Gegenteil erreichende Buhlen um die Gunſt der maßgebenden Klüngel in den 
Reichslanden? Nicht einmal ſo weit alſo iſt die Erkenntnis im deutſchen Volke 
gediehen, das die größten Geſchichtsforſcher ſein eigen nennt, daß es wüßte; was 
jedes Blatt der Geſchichte eindringlich lehrt: es gibt keine Dankbarkeit der Völker, 
ja, ſelbſt bei den einzelnen Angehörigen der verſchiedenen Völker iſt die Fahigkeit, 
dankbar zu ſein, ſehr verſchieden. Aber die Sache liegt noch weit ſchlimmer. Man 
braucht nicht erſt die Völkerpſychologie anzurufen, um zu wiſſen, daß es Wohl- 
taten gibt, die faſt niemals Oankgefühle bei ihren Empfängern auslöſen. Dies zu 
wiſſen, genügt ſchon die Erfahrung des täglichen Lebens. Am ſeltenſten nun iſt 
die Dankbarkeit der Schüler gegen den Lehrmeiſter; meiſt kommt man erſt in 
reiferen Jahren zur Erkenntnis deſſen, was man ſeinen Lehrern verdankt. Nun 
hat unſere Art, den Magister orbis terrarum zu ſpielen, aber für die belehrten 
Völker ſtets etwas Bedrückendes; gar noch, wenn wir uns gelegentlich darauf be- 
rufen, mag fein, ſachlich meiſt mit Recht. Statt Gefühle des Dankes bei ihnen zu 
erregen, tritt daher der gegenteilige Fall ein: ſie tragen es uns nach, daß wir es 
waren, denen ſie einen mehr oder weniger großen Teil ihres eigenen Wiſſens, ja 
ihrer Kultur verdanken. Der unverſöhnliche Haß der öſterreichiſchen Slawen, der 
Polen gegen alles Deutihe hat nicht zuletzt hierin einen feiner Hauptgründe. 
Sollte aber etwa in Völkern der Dank gegen den Lehrer auch erſt in reiferem 
Alter zur Entfaltung gelangen, ſo hätten wir alſo beſten Falles die Ausſicht, daß 
ſlawiſche Geſchichtſchreiber uns in fernen Jahrhunderten beſcheinigen, daß ihre 
Völker uns zu Dank verpflichtet ſeien, was ihnen dann nicht mehr wehtun, uns 
nicht mehr helfen wird. And doch wollen viele gute Deutſche heute ihr Verhalten 
gegen die Slawen auf den Gedankengang gründen, daß dieſe uns doch wohl in 
pflichtmäßiger Oankbarkeit entgegenkommen müßten. Dabei aber hat — bei- 
läufig bemerkt ſelbſtverſtändlich — nicht einmal die Erkämpfung der polniſchen 
Freiheit durch das deutſche Schwert bei den Polen auch nur das leifefte Dank⸗ 
gefühl ausgelöſt. Wie ſollte es auch! Hat denn nicht das Bewußtſein, die eigene 
Freiheit als reines Gnadengeſchenk aus fremden Händen empfangen zu mülſſen, 
etwas tief Demütigendes? Dabei iſt es völlig gleichgültig, daß die Polen ſich 
eigentlich ſagen müßten, dieſes Geſchenk nicht verdient zu haben. Nun, da ſie 
die ihnen von den Deutſchen gebrachte Freiheit und Unabhängigkeit greifbar vor 
ſich ſehen, wollen fie fie auch ganz haben und meinen ſich jeder Oankesſchuld ledig, 
wenn wir die Gabe nicht bedingungslos geben. Wir aber vergeſſen, daß es eben 
ein Gnadengeſchenk unfererfeits iſt, daß wir nicht auf Dank rechnen dürfen, ſon⸗ 
dern daß wir nur allmählich und ſtückweiſe dem befreiten Volke geben dürfen, 
was es ſonſt unweigerlich als Waffe gegen den Geber wenden wird. Ein anderes 
Beiſpiel: Das deutſche Volk iſt das Volk der Ordnung und der Zucht. Wo deutſche 
Truppen in fremden Landen Fuß faſſen, wird deutſche Ordnung eingeführt; 
deutſche Verwaltung ſorgt für öffentliche Sicherheit und Reinlichkeit. Gewiß 
kommt der Segen dieſer Maßregeln vor allem den betreffenden Völkern zugute, 


Smendösffer: Politit und Völterpſychologle 341 


aber um Gottes willen erwarten wir dafür keinen Dank! Augenzeugen beſtätigen, 
daß nichts im Oſten ſo ſehr die Leute erbittert hat, als daß die deutſche Verwaltung 
ihnen ſo kräftig zum Bewußtſein führte, wie zurückgeblieben ſie bisher waren. 
Hier iſt nicht nur kein Oank zu ernten, hier leiſten wir Danaidenarbeit, und das 
Zurückſinken in den alten lieben Schmutz und die altgewohnte Unordnung wird 
einen der größten Genüffe für die von uns beglückten Völker bilden. Wieder ein 
anderes Beiſpiel: Das Deutſche Reich hat bekanntlich, ausgehend von dem Ge- 
danken, feine unbegrenzte Friedfertigkeit aller Welt möglichſt eindringlich dar- 
zuſtellen, ſeit Jahrzehnten die Politik befolgt, gegen die Kleinen unter den Staaten 
die allerzarteſte Nückſicht an den Tag zu legen, eine Rückſicht, die die Grenzen 
der Selbſtachtung nicht ſelten überſchritten hat; gegen die Großen aber verhielt 
man ſich faſt bis zur Würdeloſigkeit beſcheiden. Hat dies verhütet, daß aller Welt 
von unſeren Feinden lange vor dem Kriege ſchon gepredigt wurde, wir ſeien der 
Feind aller Welt, wir ſeien darauf erpicht, Eroberungen zu machen; hatte es 
verhütet, daß dieſe bewußten Unwahrheiten geglaubt wurden? Natürlich nicht, 
denn es war naheliegend genug, daß ſich die Völker ſagten, dieſe ſo aufdringlich 
zur Schau getragene Friedensliebe, dieſe unnatürliche Selbſtbeſchränkung eines 
Volkes von der ungeheuren Kraft des deutſchen kann nur Maske fein. Die leiten- 
den Männer in Frankreich, England und Rußland wußten freilich nur zu gut, 
daß dem nicht ſo ſei, und werden es ſich gegenſeitig hohnlächelnd beſtätigt haben, 
aber ſie wären Narren geweſen, wenn ſie ihre Völker nicht ſo belehrt hätten, wie 
ſie es eben taten. 

Geradezu Orgien feierte völkerpſychologiſcher Unverftand in unſerem Ver- 
hältnis zu Japan und zu den Vereinigten Staaten. Bei Ausbruch des Welt- 
krieges wurden bekanntlich die Japaner in Berlin ſtürmiſch gefeiert, und vor 
der japaniſchen Botſchaft fanden förmliche Huldigungen ſtatt, während die 
Söhne der aufgehenden Sonne bereits die Marſchbefehle in der Taſche hatten 
und ſich bereiteten, das gaſtliche Reich zu verlaſſen, um ihm in den Rücken zu 
fallen. Wie hatten doch deutſche Reiſende, Gelehrte, Techniker, Offiziere und 
viele andere Deutſche ſtets von Japan als dem oſtaſiatiſchen Preußen erzählt, 
das dem Oeutſchen Reiche taufendfältig zum Dante verpflichtet ſei. Nur wenige 
Stimmen hatten betont, daß wir uns durch das Denkmal, das japaniſche Dankbar⸗ 
keit dem Begründer japaniſcher Wehrkraft, dem königlich preußiſchen Stabs- 
offizier Möckel errichtet hat, nicht blenden laſſen ſollten. In dieſer äußeren Ehrung 
des Mannes, der, ohne es zu ahnen, die japaniſchen Waffen gegen ſein eigenes 
Vaterland geſchliffen hat, hat ſich der japaniſche Dank völlig ausgegeben, aber 
niemand wollte dies in Oeutſchland glauben. Die freche Zumutung Japans und 
der Verluſt Kiautſchaus waren die Antwort auf die kindliche Gutgläubigkeit auf 
deutſcher Seite. Nun vollends die Vereinigten Staaten! Es hieße Eulen nach 
Athen tragen, wollte man zum ſoundſovielten Male all’ unfere würdeloſen Be- 
mühungen, die Gunſt des goldanbetenden Volkes jenſeits des großen Teiches zu 
gewinnen, noch einmal ausführlicher Kritik unterziehen. Heute wiſſen wir ja 
alle, was lange ſchon einzelne Einſichtige tauben Ohren predigten, daß all' die 
Austauſchprofeſſoren, die geſchenkten Denkmäler, die Empfänge hervorragender, 


342 Smendörffer: Politie und Völterpſychologie 


ach, ſo äußerlich nur und durch den Geldbeutel hervorragender, Amerikaner, die 
Entwürdigung unſeres höchſten akademiſchen Ehrengrades, den man dem großen 
Rauhen Reiter verlieh, kurz daß alle dieſe faſt Jahrzehnte hindurch fortgeſetzten 
Kriechübungen vor der Anion uns lediglich geſchadet haben. Daß dem fo fei, da- 
für ſprachen ſchon lange vor Kriegsausbruch unmißverſtändliche Zeichen die Fülle, 
man braucht ſich nur der Außerungen amerikaniſcher Admirale zu erinnern; dafür 
ſprach das Verhalten der meiſten amerikaniſchen Zeitungen uſw. Dennoch lebten 
wir noch bis tief in den Krieg hinein in dem Wahne, wenn ſchon keinen aufrigti- 
gen Freund, ſo doch einen ehrlichen Friedensvermittler in dem großen Lande des 
Humbugs und der Korruption zu finden. Und doch haben viele auch bei uns 
— Schreiber dieſes darf ſich ſelbſt dazu rechnen — deutlich geſehen, daß der ge- 
weſene Mädchenſchullehrer und ergebene Diener der amerikaniſchen Plutokratie, 
der in deren Namen die Politik der Vereinigten Staaten lenkt, lediglich auf den 
beſten Vorwand und auf den geeignetſten Augenblick lauerte, um ſich unſeren 
Feinden zu geſellen. Man ſah nicht, oder, was viel ſchlimnmer iſt, man wollte nicht 
ſehen, daß drüben alles, aber auch alles zuſammenwirkte, um die Stimmung gegen 
das Deutſche Reich immer feindſeliger zu geſtalten. Aber eine einzige einfache 
Erwägung hätte genügen müſſen, um uns vom erſten Augenblicke des Krieges an 
klar ſehen zu laſſen. Dollarika hatte ſich, das wußte auch bei uns jedes politiſche 
Kind, von vornherein geſchäftlich am Kriege engagiert; es hatte zuerſt etliche 
hundert Millionen, bald Milliarden in das Unternehmen hineingeſteckt, in ein 
Unternehmen, das völlig und ausſchließlich auf unſeren Zuſammenbruch berech- 
net war. Je länger der auf ſich warten ließ, um fo mehr mußte doch der ſmarte 
amerikaniſche Geſchäftsmann ſich ſagen, daß er mit allen Mitteln das erwünſchte 
Ziel herbeiführen müſſe. Die kindliche Hoffnung, daß die deutſchen Bindeſtrich⸗ 
Amerikaner, wie ſie drüben ſo freundlich genannt werden, uns irgendwie helfen 
könnten, ja daß fie auch nur gewillt ſeien, dies zu tun, hat ſich ſelbſtverſtändlich 
nicht erfüllt. Ich ſage ſelbſtverſtändlich, denn ich habe ihr niemals Raum gegeben. 
Nur eine verhängnisvolle Selbſttäuſchung konnte dieſe Hoffnung gebären. Eine 
Selbſttäuſchung, die um ſo jämmerlicher war, als ſie auf völliger Verkennung 
der eigenen, der deutſchen Volksſeele beruhte. Wer jemals die traurige Gelegen- 
heit gehabt hat, die völlige politiſche und völkiſche Unzulänglichkeit des weitaus 
größten Teiles des Auslandsdeutſchtums zu beobachten, die faſt unglaublicher 
weiſe noch die des Heimatsdeutſchtums um ein Erkleckliches übertrifft, für den 
galt längſt das alte Dantewort, und er hatte längſt alle Hoffnung fahren laſſen. 
Wie ſollte auch das nordamerikaniſche Oeutſchtum, das es bei einem Beſtande 
von vielen Millionen Köpfen in jahrzehntelanger Entwicklung noch zu keinem 
irgendwie nennenswerten, geſchweige denn maßgebenden Einfluſſe auf die Poli- 
tik des Staates gebracht hat, das immer raſcher der völligen Verengländerung 
entgegeneilt, wie ſollte das uns irgendwie von Nutzen ſein? Ein paar mehr oder 
weniger gute Witze gegen unſere Feinde in deutſchen Zeitungen, einige taufend 
begeiſterte Briefe einzelner Treugebliebener, das war alles, was wir beſten 
Falles hatten erhoffen dürfen, und es blieb auch alles, was uns geboten wurde. 
Wie viele Oeutſchamerikaner ſich bemühen werden, im Kampfe gegen uns ihr 


Imendörffer: Politit und VBölkerpſychologie 843 


Beſtes zu leiſten, werden wir vielleicht noch Anlaß haben, mit verhaltener Wut, 
manche unter uns wohl auch mit offener Bewunderung — wir ſind doch nun 
einmal objektiv — feſtzuſtellen. Natürlich hätten wir all dies nicht verhindern 
können, wenn wir es auch rechtzeitig, namentlich an unſeren verantwortlichen 
Stellen, erkannt hätten, aber vielen Millionen Oeutſcher wäre eine Überrafhung 
erſpart geblieben und wäre die Schmach erſpart geblieben, hier überhaupt erſt 
eine Überrafchung erleben zu können. Vor allem aber der uneingeſchränkte Unter- 
ſeebootkrieg wäre ein Jahr früher ſeinen Weg gegangen, und Herr Woodrow Wilſon 
hätte ſich vielleicht darauf beſchränkt, verlogene Noten zu ſchreiben, ohne den Mut 
zu finden, uns offen den Krieg zu erklären. So aber bezahlten Hunderttauſende 
deutſcher Helden die völkerpſychologiſchen Irrtümer ihres Volkes mit dem Leben. 

Wenn nur aber wenigſtens der Preis endlich voll wäre, wenn wir nur hoffen 
dürften, daß die Erlebniſſe dieſes Krieges endlich allen Deutſchen die Augen ge- 
öffnet hätten! Wer aber dürfte ſolches angeſichts deſſen, was wir noch täg- 
lich erleben, glauben? Leider muß es ausgeſprochen werden: wenn nicht Gott 
ein Wunder tut, jo wird bei Friedensſchluß alles, was wir bisher an völkerpſycho- 
logiſcher Hilfloſigkeit auf deutſcher Seite erlebt haben, in den Schatten geſtellt 
werden. Wenn der völlig verrückte, aller geſchichtlichen und völkerpſychologiſchen 
Erfahrung — die Geſchichte iſt doch die Hohe Schule der Völkerpſychologie — 
hohnſprechende Gedanke, die Feinde durch einen fie möglichſt ſchonenden Friedens- 
ſchluß für die Zukunft zu verſöhnen und zu gewinnen, Wahrheit werden ſollte, 
wie es — täuſchen wir uns darüber nicht! — leider Millionen guter Deutſcher, 
die aber elende Muſikanten ſind, wollen, wie es ein Häuflein von Männern, die 
ſich zwar Deutſche nennen, aber dabei kaum Wert legen auf die Tatſache, als 
Deutſche geboren zu ſein, mit allen Mitteln anſtrebt, dann iſt nicht nur das un⸗ 
geheure Opfer an Gut und Blut vergeblich geweſen, dann ſind auch all die teuer 
erkauften Erfahrungen des Weltkrieges, die wir als unveräußerliches und un- 
erſetzliches Gut unſeren Enkeln zu hinterlaſſen verpflichtet wären, verloren. Was 
dies aber bedeutet, zeigt ein Blick auf unſere geſchilderten Mißerfolge auf dem 
Gebiete der Behandlung fremder Völker. Hier wird nun einmal ſcheinbare Logik 
zu allerſchlimmſter Unlogik, und die einfachſten Gedankengänge, die ſich fo lüden- 
los aus ſchönen Schlußreihen zu ergeben ſcheinen, ſind bei näherer Betrachtung 
nur verhängnisvolle Trugſchlüſſe. Wie einleuchtend klingt es doch, wenn wir 
hören: Wir müſſen unſere — hoffentlich — beſiegten Feinde ſchonen, damit kein 
bitteres Gefühl in ihrer Seele zurückbleibe, damit wir nach dem entſetzlichſten 
Blutvergießen, das die Geſchichte kennt, nun in die Bahnen der Völkerverſöhnung 
eingehen. Als ob es möglich wäre, auf dieſe Weiſe wahre Verſöhnung zu er- 
reichen! Schonen wir unſere Feinde, ohne es aus zwingenden Gründen tun zu 
müſſen, ſo werden fie doch lediglich die Empfindung haben, daß wir eben fo han- 
deln, weil wir nicht ſtark genug ſind, den Sieg — wenn er unſer iſt — voll aus- 
zunutzen. Unſere Feinde müſſen mit mathematiſcher Notwendigkeit fo denken, 
denn für fie wäre das gleiche Vorgehen im Falle ihres Sieges unter allen Um- 
ſtänden ausgeſchloſſen, und der Analogieſchluß hat hier für ſie in der Tat etwas 
Zwingendes. Ebenſo töricht wie dieſer formell logiſche, aber wegen feiner völli- 


344 Hauck: Schichal 


gen pſychologiſchen Unzulänglichkeit ſachlich grundfalſche Gedankengang der ver- 
ſöhnenden Milde gegen die Feinde iſt es, wenn wir auf den Dank jener Völker 
rechnen, denen wir in dieſem Kriege die Freiheit gebracht haben. Ich will gar 
nicht den etwas gewundenen Kettenſchluß verfolgen, der uns ſtreng logiſch als 
die wahren Befreier Rußlands vom Zarenjoche erſcheinen läßt. Hier iſt natur- 
gemäß der ſchmerzliche Eindruck der Niederlagen, die wir ihnen beigebracht haben, 
für die Ruſſen ſo ſtark, daß ſie unmöglich in uns die Befreier erkennen können, 
mögen wir es tauſendmal ſein. Aber der Dank Polens ſollte uns, nach Meinung 
vieler deutſcher Politiker, gewiß ſein, und doch iſt uns nichts gewiſſer als deren 
Andank, der ſich übrigens längſt zu äußern begonnen hat. Völkerdank iſt eben 
unter keinen Umſtänden eine brauchbare Grundlage für politiſche Ziele. Das 
Gefährlichſte aber und darum das Wahrſcheinlichſte iſt es, daß wir den beſiegten 
Feinden gegenüber auf halbem Wege werden ſtehen bleiben: wir werden fie nicht 
ſo weit ſchwächen, als wir etwa könnten, wir werden ſie aber auch nicht ganz 
nach dem Rezepte Erzberger - Scheidemann behandeln. Wir werden, ſoferne wir 
echte Deutiche find, ihnen ſo wenig wehe tun als möglich, aber wir werden fie 
doch nicht ganz ſchmerzlos behandeln können. Nun iſt aber nichts falſcher, als 
zu glauben, daß es hier auf den Grad des Schmerzes ankommt, den wir dem 
Feinde beim Friedensſchluſſe antun. Die Wirkung auf die Seele des beſiegten 
Volkes bleibt unter allen Umjtänden die gleiche. Ob wir Frankreich nur die Briey 
nehmen oder das ganze derzeit beſetzte Stück, der Stachel bleibt für die Franzoſen 
derſelbe. Ob wir von England erreichen, daß es uns wenigſtens die afrikaniſchen 
Schutzgebiete zurückgibt, oder ob wir es in viel weitergehender Weiſe demütigen, 
für den Engländer bleibt es an ſich unerträglich, beſiegt worden zu ſein; ja es ge⸗ 
nügt, ihn für alle Zeiten bis zu feiner und unſerer Vernichtung zu unſerem Tod⸗ 
feinde zu machen, wenn es ihm nicht gelingt, uns zu zerſchmettern. Dies alles, 
ich weiß es wohl, iſt nichts Neues, iſt hundertmal geſagt worden, aber es muß 
noch tauſendmal geſagt werden, es muß dem deutſchen Volke eingehämmert wer- 
den, damit es mit der rechten Erkenntnis dem Frieden entgegenſchreitet. Gehen 
wir aber an dieſen heran mit der feſten Abſicht, uns wieder einmal über alle Geſetze 
der Völkerpſychologie hinwegzutäuſchen, ſo müſſen wir uns darüber klar ſein, daß 
wir lediglich einen Waffenſtillſtand, niemals aber einen haltbaren Frieden ſchließen 
können. Dann wäre uns faſt beſſer, wir folgten den Spuren der hochgemuten 
Mehrheit des Reichstages; ſie leiten zu einem Ende mit Schrecken, Halbheit aber 
zu einem Schrecken ohne Ende. 


Schickſal - Von Ernſt Hauck 


Hat Balmung uns zu früh die tiefſte Not 

Gebannt und unſrer Grenzen grauſes Beben? 

Wir ſahn den Schatten kaum von Oeutſchlands Tod. 
Nun find wir blind dem Siegesmorgenrot 

Und taub dem Schrei Germanias: Zch will leben! 


3 


| Müller: Freude 345 


Freude 
Von Fritz Müller 


ie Sörma war erſte Tänzerin der Kammerſpiele. Die Kammerſpiele 
waren für die feine Welt. Die feine Welt war von 8 Sörma be- 
geiſtert. 

5 „Dieſe Anmut!“ ſagte der Reichsgerichtsrat. 

„Dieſe vornehme Temperiertheit!“ ſagte Fräulein von Niefelheim. 

„Und dabei ſoll fie ganz von unten her —“, hüſtelte der alte Reichsfreiherr, 
„unter uns: Vater unbekannt — Mutter Mörtelträgerin oder ſo was — komiſch, 
welche Mörtelwege das Talent oft geht.“ 

„Talent?“ wendete der Kritiker des Tageblattes ein, „was heißt Talent, 
wenn der Gottesfunke des Genies nicht überſpringt.“ 

„Herr Doktor, wenn Sie uns die Sörma verekeln wollen, ſo —“ 

„Verekeln? Zch vergleiche nur — 

„Womit?“ 

„Mit einer Tänzerin im Blauen Krokodil, die —“ 

„Blaues Krokodil? Iſt das nicht die Vorſtadtbude, wo —?“ 

„Kinder, unſer guter Doktor wird geſchmacklos. Jetzt vergleicht er gar die 
Kammerſpiele mit dem Tingeltangel, wo die Hefe —“ 

„Bitte ſehr, ich vergleiche Kunſt mit Kunſt, Örtlichkeiten find mir Wurſt“, 
ſagte der Kritiker trocken. 

„Nu nu,“ begütigte der Intendant der Kammerſpiele, „unfer Doktor pflegt 
nichts ohne Grund zu jagen — ich bin dafür, daß unſer kleiner Zirkel mal inkognito 
ins Grüne Krokodil — oder war's 'n blaues —?“ 

„Aber,“ wendete die von Niefelheim ein wenig ſchaudernd ein, „unſereiner 
kann doch nicht ins Krokodil, oder wie das Tier heißt —“ 

„Unſereiner ſoll auch nicht ins Krokodil gehn. Ins Krokodil geht — ihrer- 
einer, liebe Niefelheim, wenn ich den Doktor recht verſtehe“, vermittelte der In- 
tendant. 

Der Kutſcher des Reichsgerichtsrats war nicht ſchlecht erſtaunt, als er mit 
feiner verſchliſſenſten Stallhoſe herausrücken mußte: „Nur leihweiſe, Johann“, 
lächelte ſein Herr und zog ſie wahrhaftig an. 

„Sie haben aber auch gar nichts — nichts Volkstümliches in Ihrer Garderobe,“ 
kritiſierte die von Niefelheim die Zofe, in deren Koffer kramend, „laſſen Sie mal 
unſre Milchfrau zu mir bitten.“ 

„Taugt alles nicht, mein Beſter“, hüſtelte der alte Freiherr in der muffigen 
Maskenverleihanſtalt. — „Entſchuldigung, Herr Baron — nicht gefaßt — mitten 
im Sommer — Auswahl naturgemäß beſchränkt — aber vielleicht dieſer eklatant 
maleriſche Lumpenanzug.“ — „Hem, ganz nett, nur nicht — nicht echt genug, 
Verehrter.“ — „Echt? Aber Herr Baron wollen doch nicht im Ernſte —?“ — 
„Studienhalber, mein Beſter, nur ſtudienhalber.“ 

Dann ſaßen fie zu viert in einer dunklen Ede des Blauen Krokodils. „Rin- 


346 müller: Freube 


der,“ flüfterte der Intendant, „mit der Kleidung ſtimmt's ſoweit, jetzt nur das 
Maul geſchloſſen halten, ſonſt fallen wir doch noch aus dem Rahmen — heißt das, 
Sie, meine Herrſchaften — ich ſpreche Dialekt, wenn's ſein muß — was haſt g'ſagt, 
Depp, damiſcher!“ 

„Ihren Maurerdreck hätten Sie ſchon abbürſten dürfen!“ rief ein Kutſcher 
aus der andern Ecke. 

„Fürs Krokodil wird's wohl gut genug fein!“ trumpfte der Intendant 
hinüber. | 

„Für gewöhnlich ſchon, aber heut' iſt Mittwoch.“ 

„Mittwoch oder nicht, ich pfeife —“ 

„Schämen ſollten Sie ſich — Mittwoch und Samstag tanzt doch ſie — ſchauen 
Sie hinüber, wo vom Tageblatt der Kritikdoktor ſitzt — der verſäumt fie nie — der 
iſt immer da — ohne Schreiberkittel — ohne Tintenſpritzer drauf, Sie ausg'ſchamter 
Kalkbaron!“ 

Kalkbaron? Den Intendanten riß es. War er erkannt, trotzdem der Regiſſeur 
verſichert hatte, der Kalkdreck wäre echt? 

„Ich bring' Ihnen eine Bürſte mit das nächſtemal, wenn ſie wieder tanzt 
und —“ 

„Sie? Wer iſt ſie?“ wagte der Intendant. 

„Jaſo,“ ſagte der Schloſſergeſelle beſänftigt, „wenn Sie fie noch nicht kennen, 
dann freilich —“ 

„Wen denn?“ 

„Die Freud' halt, unſre Freud’, die —“ 

„Bſcht, bſcht,“ machte es von mehreren a bſcht, die „japaniſchen Teller⸗ 
werfer!“ 

„O jee, deretwegen!“ 

„Bſcht, bſcht“, bei jeder neuen Nummer, und dann immer wieder: „O jee, 
deretwegen!“ bei den mexikaniſchen Drahtſeilkünſtlern, bei den tiroliſchen Kunſt- 
pfeifern, bei den muſikaliſchen dummen Auguſts. Der übliche Beifall, das übliche 
Vergnügen bei den üblichen Nummern, Oberfläche das eine und das andere. 

Auf einmal Stille. Kein Bſcht mehr. Erwartungsvolles Schweigen. Hoch 
gereckte Hälſe. Die Werkeltagsgeſichter aufgeblättert: Herr, wende mich, ich bin 
bereit. Der ſchreiende Vorſtadtvorhang rauſcht faſt feierlich. Nein, es iſt erſt der 
Direktor. Ein wenig ſchmierig wie immer. Aber feierlich auch er: „Ich habe die 
Ehre, einem verehrlichen Publikum mitzuteilen, daß in der nächſten Nummer —“ 

„Die Freud“, ſagt aus dem Dunkel eine ſchlichte Stimme. 

„ daß in der nächſten Nummer“, hebt blumenreich der ſchmierige Direktor 
wieder an, „die geſchätzte Attraktion unſeres Muſentempels —“ 

„Die Freud! ... die Freud! ... die Freud! . . ., flüſtert's, ruft's, ſchrillt's, 
wogt auf, ebbt ab, verklingt und ſchweigt, und füllt im Schweigen noch den ganzen 
Raum, wie ein ſtilles Auge nicht nur ſein kleines Bett, ſondern ganze Zimmer 
füllen kann. 

Auf einmal ſteht fie auf den Brettern. Herausgeblüht aus ihnen, nicht herein 
gekommen aus Kuliſſen. So treibt der Stadtasphalt im Sommer manchmal 


Müller: Freude 347 


\ 
eine Blaſe aus der Tiefe. Aufbrechend ſchaut dir plötzlich eine Roſe ins Geſicht. 
Weiß kein Menſch, woher fie kam. Weißt nur, wohin fie treibt: durch dich durch. 

Fräulein von Niefelheim wunderte ſich: „Schlichtheit, alle Achtung, aber 
als Fabriksmädel angetan zu tanzen, na, ich muß ſagen —“ 

„Nichts ſagen — ſchauen!“ mahnte der Reichsgerichtsrat. 

„Schauen?“ flüſterte kritiſch der Baron, „was ich ſehe, iſt ein unbewegtes 
Geſicht und — “ 

„Sie ſoll ja eine dünne Stoffmaske tragen, ſagt der Doktor“, warf der 
Intendant ein. 

Sie ſtand noch immer unbeweglich auf den Brettern, als beſänne ſie ſich. 
„Rinners,“ machte ungeduldig der Baron, „ich glaube, der Ooktor hat uns rein- 
gelegt — aha, jetzt ſcheint ſie doch herausgefunden zu haben, daß ſie fürs Tanzen 
da iſt.“ 

„Tanzen? Sit das Tanzen u 

Sie lief über die Bühne, wie ns nach Feierabend aus dem Waren- 
haus, ſchlenkernd, trippelnd, ein wenig mit den Armen fechtend: Ha, endlich 
Dann auf einen kleinen Schnaufer ſtehen bleibend: Ha, frei, frei.. 

Und dann fing fie zu tanzen an im Werkeltagskoſtüm und mit der ſtarren Maske. 
Tanzen? Nein, erſt war es nur ein Stolpern eingeroſteter Gelenke. Dann ein 
Verwundern müder Glieder, daß fie überhaupt noch gehen konnten. Zetzt ein 
Schreiten. Dann ein Laufen. Darauf ein Wiegen in den Hüften. Ah, aus den 
Lenden wuchs etwas heraus, rankte um die Büſte, lief die hochgeſtreckten Arme 
hoch, züngelte pfingſtwunderig aus den Fingerſpitzen in den Zuſchauerraum hinein 
und ſteckte an: Die Freude. 

Was weiter auf der Bühne war, iſt nicht beſchreibbar. Hinter einer Tanz- 
begnadeten herzulaufen, um armſelige Worte ans armſelige Gewändchen mit 
armſeligen Stecknadeln anzuheften, derweil es ringsum ſproßt von Freude — 
nein, nur das nicht. Ja, Freude. Ob fie ging, ſich drehte, hüpfte, ſchleifte, ftill- 
ſtand oder wirbelte, immer war's, als regneten ihr Blumen in die offne Ladnerinnen- 
ſchürze, als würfe ihr von unten her die Erde aus jedem Taktmaß auch noch Blumen 
in die Schürze, und als ſchüttete ſie die immer neugefüllten Schürzen voll ins Pu- 
blikum: Nehmt, ſo nehmt doch, nehmt, wonach ihr ſucht, was ihr entbehrt in Läden, 
an Maſchinen . 

Und fie nahmen. Herrgott, wie fie nahmen. So trinken Schmachtende. 
So pflücken Liebende lange vorenthaltene Küſſe von der Liebſten Lippen: Freude, 
Freude, gibt's überhaupt noch etwas in der Welt, was keine Freude iſt — Kinder, 
Kinder, freut euch, freut euch doch. 

Und ſie freuten ſich. Dem Blödeſten da ne dem von der Tagesfron 
Zerhämmertſten war's klar, warum die Begnadete da droben keinen bürgerlichen 
Namen hatte, warum ſie nur Die Freud' hieß, ſchlechthin Die Freud'. 

Wußte keiner, wie lang der Tanz da droben dauerte. Fit Freude lang, iſt 
Freude kurz? Wer Antwort weiß, hat ſich nicht voll gefreut. Was ſie da drunten 
wußten, war nur, daß im Höhepunkt geſchenkter Freude — da wo ſie ſchon faſt 
weh tut — die Tanzende da droben plötzlich eingeſchluckt war, niemand weiß wohin, 


348 Muller: Freude 


jeder weiß nur: Durch mich durch iſt fie gegangen, meine Bruſt hat fie mit ihrem 
Tanzſchritt ausgeweitet, ja, meine Bruſt vor allen ... Und dann: Stadtasphalt 
ringsum herinnen, und draußen eine ſpäte ſcheppernde Straßenbahn, Zeit iſt's, 
Kinder, heimzugehen, morgen heißt es früh heraus zu euren Läden und Waſchinen, 
und vergeßt auch nicht, euch eine von den Blumen in das Haar zu ſtecken, ob's 
eurem Griesgramvorſtand recht iſt oder nicht 

Der Kritiker vom Tageblatt erwartete die vier in einem Seitengäßchen: 
„Nun, was ſagt Ihr?“ 

Sie ſagten nichts zunächſt. Sie drückten ihm die Hand. Sie fanden nach und 
nach erſt Worte. 

Das zerfältelte Geſicht des Reichsgerichtsrates arbeitete ſich aus einem Akten- 
meer zum Sönnchen einer Gaslaterne, als er jetzt den Kopf hob: „Doktor, mir 
war, als wär' ich wieder jung, ganz jung . ..“ 

Das wiſſende Geſicht des Freiherrn war ausgelöſcht. Ein Verwunderter blin- 
zelte ins Gaslicht: „Aber Doktor, daß es fo was gibt, das hab' ich nicht gewußt...“ 

Fräulein von Niefelheims korrektvergrämtes Antlitz aber war tränenüber- 
goſſen, ohne es zu wiſſen: „Doktor, Doktor, was hat unſereiner all die Jahre her 
entbehrt ..“ 

„Euereiner?“ ſagte der Doktor lächelnd, „Euereiner hat's, weiß Gott, doch 
gut gehabt, ſoviel ich weiß: Geld genug, Wohlanſtändigkeit genug, genug Gefell- 
ſchaftsfreuden und —“ 

Alle dreie ſchüttelten ſtumm den Kopf: Nein, was Freude iſt, das wiſſen wit 
erſt jetzt. 

Der Intendant aber war in der Zwiſchenzeit aufgeregt zwiſchen einer Gas⸗ 
laterne und der andern hin und her gelaufen. Jetzt pflanzte er ſich dem Doktor 
exploſionsreif unter die Naſe: „Unfre erſte Tänzerin, meine Sörma iſt eine — 
eine Puppe gegen die!“ explodierte er. 

„Nun nun, auch ſie gibt Kunſt, edle Kunſt, Herr Intendant.“ 

„Ach was, Kunſt! Freude will ich, Freude iſt es, was wir alle brauchen. 
Herrgott, was die konnte heute abend! Noch dazu mit einer Maske. Wenn die 
erſt ihre Maske abgetan —“ 

„Darin irren Sie. Die Menſchen von heute müffen lächeln, immer lächeln. 
Schauderhafte Vorſchrift wohlerzogener Menſchen. Gilt bis unter die Manfarden- 
wohnung heute. Alles zerlächeln ſie, das Kleine und das Große, den Schmetz, 
die Freude — zerlächelt und verwüſtet tanzen die Geſichter über unfres Lebens 
Bühnen. Wenn ich die Maske von heute abend recht verſtehe, ſo —“ 

„Ah, die wahre Freude rettet ſich von verlogen lächelnden Geſichtern in 
Arm' und Füße, in den Tanz — jaja, das iſt es — aber nicht allein — da iſt noch 
eine Gnade, die einer nie erlernt — die aus der dunklen Tiefe verhärmten Volks 
tums aufſteigt — die Sörma wird's nie verſtehen —“ 

„Obgleich ſie's eigentlich doch ſollte,“ hüſtelte der Baron nachdenklich im 
Gehen, „unter uns: Vater unbekannt — Mutter Mörtelträgerin oder ſo was —“ 

„Jaja,“ unterbrach ihn die von Niefelheim ungeduldig, „das ſagten Sie 
ſchon früher.“ 


Oftmart: Sommerwolten N 349 


„So, fagt’ ich das? Gut alſo, dann wird die andre wohl von einer Königin 

das heimliche Kind —“ 

Der Intendant war ſtehen geblieben und zeigte auf offne Fenſter im erſten 

Stock: „Da droben wohnt fie.“ 

„Wer — wer — wer?“ ging es durcheinander, „die Freud“?“ 

„3 wo, die Sörma. Ich hätte gute Luft, ihr an dieſem Steinchen ins Zimmer 
einen Zettel zu werfen: Stümperin, nimm dir an der Freud' ein Beiſpiel —“ 

„Bſcht, ich glaub', dort kommt fie heim —“ 

„Gut, dann kann ich ihr gleich mündlich —“ 

„Herr Intendant, Sie werden doch nicht — es iſt nachtſchlafende Zeit, und 
außerdem ...“ Sie zogen ihn in eine Wageneinfahrt gegenüber. 

Drüben huſchte eine Geſtalt zur Tür. Ehe ſie den Schlüſſel hob, ſchaute ſie 
ein wenig ſcheu die menſchenleere Straße hinauf, hinab — 

„Es iſt die Sörma“, flüſterte es in der Wageneinfahrt. Da fiel Laternenſchein 
auf ein Geſicht. Da neſtelte eine Frauenhand an einer vorgebundnen Maske — 

„Nein, es iſt — es ift —“ 

„Unſinn, die Sörma iſt's!“ 

„Nein, nein, die Freud'!“ gab der Doktor leis und heiſer zurück, „ich kenne 
doch die Maske und —“ 

Die Maske drüben fiel. Aus der Freude ſchälte ſich die Sörma. Der Schlüffel 
klirrte. Es ſchlug eine Türe. Totenſtille. Fünf Menſchen in einem Torweg ſahen 
ſich ſtarr an. Der Intendant ſchlug ſich vor die Stirne. Die andern Herren fchüttelten 
immerzu den Kopf. Die von Niefelheim fand das Wort als erſte wieder: „Herr 
Intendant, wir werden ihr ſagen müffen, daß das Publikum der Kammerſpiele die 
wahre Freude bitter nötig hat, noch nötiger als — als das Blaue Krokodil.“ 


III 
Sommerwolken Von Erich Oſtmark 


Mittagsruhig liegt die Au 

Unter Sonnenglut und Schweigen. 
Mächtige Wolkenhäupter ſteigen 
Blendendweiß ins ſatte Blau. 


Eine tief verhalt'ne Kraft 
Atmet ihre trotzige Fülle, 
Und in ihrer großen Stille 
Schläft Gewitterleidenſchaft. 


Durch die heiße Mittagswelt, 

Kaum noch ſpürbar, läuft ein Schauer 
Langſam wächſt die Wolkenmauer 

Steil hinauf am Himmelsgzelt. 


AD 


350 | Fgroſt: Frauenpflchten 


Frauenpflichten 
Von Laura Froſt 


iele Frauen gibt es, die in dieſer großen, ſchweren Zeit nicht teilneh- 
men können an der wichtigen vaterländiſchen Arbeit, die auf den 
2 verſchiedenſten Gebieten draußen gefordert wird. Ihr eigenes Haus 
weſen, ihre Kinder, Perſonen, denen ſie ſich verpflichtet haben, oder 
is Alter und Kränklichkeit halten ſie zurück. Sie ſind traurig darüber. Denn 
ſie ſehen das innere Glück, das die Betätigung der Vaterlandsliebe den Helfenden 
ſchafft. Auch meinen ſie, daß man ihren Patriotismus anzweifeln könnte, wenn 
fie ſich da draußen nicht betätigen; faſt iſt es fo weit, daß fie ſich ihrer pflicht 
treuen Zurückhaltung ſchämen. 

Aber dieſe ſtillen Frauen im Haufe ſollen ſich ſagen, daß auch fie Vaterlands⸗ 
dienſte zu leiſten haben, daß ſie da drinnen, innerhalb ihres häuslichen Kreiſes, hohe 
Werte dem Vaterland zu hüten haben. Immer hat es neben der arbeitsfrohen 
Marthatätigkeit auch zarte Marieninnigkeit gegeben, eine ohne die andere ver- 
mag nicht, eine ganze Aufgabe zu löſen. 

Wo die Frauen und Töchter aus den Häuſern gegangen find, da fehlen fie. 
Die Wärme, die das Haus verläßt, vermag nicht mehr, drinnen im Haufe zu wärmen; 
es wird kalt, wenn die Frau nicht mehr das heilige Feuer des Herdes hütet. Draußen 
wird geholfen, und drinnen herrſcht manchmal der Mangel. Nicht vielleicht an mate- 
riellen Werten, aber an ſeeliſchen, an weiblicher Wärme und Herzensfreundlichkeit. 

Wenn aber Oeutſchland ſich erneuern ſoll, wenn vieles anders und beſſer 
werden ſoll, wenn vor allem die junge Generation gut erzogen werden ſoll, und 
wenn nach den Schrecken des Krieges wieder Frohſinn und Lebensfreude in die 
wunden Herzen einziehen foll, fo brauchen wir dazu die Frauen mit ihrer Tätig- 
keit im Rahmen der Familie. „Vom Hauswefen“, jagt Jahn, „geht jede wahre, 
beſtändige und echte Volksgröße aus; der Hochaltar unſeres Volkstums ſteht im 
Tempel der Häuslichkeit.“ 

Schwieriger als je, ſolange wir leben, iſt die Wirtſchaftsfüh rung. Zwar 
hören wir, daß es vor hundert Jahren noch ſchwieriger damit war; allein damals 
war das deutſche Volk an eine einfachere Lebensart gewöhnt, während es jetzt 
in allen Klaſſen und Ständen in wirtſchaftlichem Überfluß lebte. Hier gilt es 
alſo zunächſt, die Intelligenz der Hausfrau für die Lebensmittelfrage anzurufen. 
Es läßt ſich heute nicht Einkauf und Verarbeitung der Lebensmittel nach dem 
Stand der Wirtſchaftskaſſe oder der freiliegenden Arbeitskraft beſtimmen. Son- 
dern man muß kaufen, was zu haben iſt, und muß auf das andere verzichten. Die 
Tüchtigkeit und Klugheit der Hausfrau zeigt fi in der Art, wie fie ſich damit ab- 
findet. Wenn es ihr gelingt, mit den vorhandenen Lebensmitteln eine gute Ver⸗ 
pflegung in ihrem Haufe zu leiſten, fo wird ſich eine rechte Befriedigung darüber 
in ihr einſtellen. Jedes Überwinden von Schwierigkeiten macht Freude. Und 
dieſe Freude wirkt auf ihre Umgebung. zſt die Hausfrau zufrieden und heiter, 
ſo u es die ganze Familie. „In dem Auge der Hausfrau liegt Segen oder Fluch.“ 


Froſt: Frauenpflichten | 351 


Dieſer Einfluß geht weiter. Er erſtreckt ſich auf den ganzen Verkehr der 
Hausfrau. Wie er ihre bekannten Frauen zu gleichem fröhlich ſtolzen Tun an- 
regt, ſo daß ſie ſich ihrer materiellen Kleinlichkeit wegen ſchämen, ſo hilft er vor 
allem in den Volkskreiſen, die, rühmliche Ausnahmen abgerechnet, weniger ver⸗ 
ſtändnisvoll der knappen Zeit gegenüberſtehen. Wie kann da die Hausfrau auf- 
klärend wirken! Wenn ſie zum Beiſpiel die Frau, die ihr klagt, ihr Mann müſſe 
Butter und Wurſt auf dem Brot haben, wenn er von der Arbeit kommt, — wenn 
fie dieſe Frau fragt, ob fie meine, daß die oſtpreußiſchen Männer das auch ver- 
langt hätten, als die Feinde mordend und verwüſtend ihre Provinz durchzogen, 
da wird jede einigermaßen verſtändige Frau das Törichte ihrer Forderung ein- 
ſehen. Sie wird Gott danken, daß das ſo viel Wichtigere, ihr Haus und ihr Herd, 
noch in Sicherheit iſt, und mit warmem Dank wird ſie an unſere Feldgrauen 
denken, die unſere Grenzen ſchützen. 

Dieſen Dank in die rechten Bahnen zu lenken, iſt eine weitere wichtige Auf- 
gabe der Hausfrau. Sie muß dafür ſorgen, daß unter keinen Umftänden Klage- 
briefe ins Feld geſchrieben werden, die unfere tapfern Krieger beunruhigen könn- 
ten. In der Liller Kriegszeitung ſtand folgendes kleine Gedicht: 

Wir halten die Waffe noch ſtark in der Hand, 
ö Wachen getreulich fürs Vaterland, 
Kämpfen für Deutſchlands Ehr': 
Macht uns das Herz nicht ſchwer! 
Fit auch das Brot dort ein bißchen knapp, 
Bekommt doch wohl jeder noch etwas ab; 
Und bald gibt's ja auch wieder mehr. 
Macht uns das Herz nicht ſchwer! 
N Uns iſt der Mut noch ganz ungetrübt, 
Wenn wir nur wiſſen, daß ihr uns noch liebt. 
Alſo wir bitten ſehr: 
Macht uns das Herz nicht ſchwer! 

Auch noch in anderer Weiſe hat ſie unſern Helden in der Sion zu danken. 
Die Kindererziehung liegt heute ganz in der Hand der Frauen, und es be- 
darf mehr denn je zuvor ihrer aufmerkſamen Sorge, ſie richtig zu führen. Es gilt, 
die Kinder, die ebenfalls unter der Uppigkeit gelitten haben, zu einfachen Gewohn- 
heiten und zur Anſpruchsloſigkeit auf materiellem Gebiet zurückzuleiten. Es gilt, 
ſie zu deutſchen Kindern zu erziehen, ſie deutſch denken und fühlen zu lehren. 
Deutſch fein heißt einfach und ehrlich und pflichttreu fein, heißt Oeutſchland, unſere 
Heimat, lieben „über alles in der Welt“. 

Wenn unſere tapfern Krieger einſt heimkehren, dann ſoll nicht nur die Frau 
ihren Gatten mit ihrem wohlgeordneten Hausweſen empfangen, ſondern auch 
die Kinder ſollen dem Vater geſittet und gut erzogen entgegentreten und ſollen 
dabei helfen, ihm nach der wilden Schwere des Krieges das häusliche Leben dop- 
pelt behaglich zu machen. 

Hauswirtſchaft und Kindererziehung! Piefe weiten Gebiete mit 
ihrem Reichtum von Sorgen und Freuden ſind die patriotiſche Pflicht der Frau, 


352 Grotthuß: Das Straußlein aus Moos 


die fie im Haufe zum Segen der Gegenwart und der kommenden Generation er- 
füllen ſoll. Die Frau, die mit Freude ſich dieſer Arbeit widmet, wird auch im 
weitern Kreiſe herzerquickend wirken. Das freundliche Antlitz, das in Küche und 
Kinderſtube herrſcht, wird jedem entgegenleuchten, der ihr Haus betritt; auch 
denen, die mit ſchwerem, kummerbeladenem Herzen zu ihr kommen. Ihre Herzens- 
freundlichkeit wird alles verſtehen, ohne viel zu fragen; ſie weiß in der rechten Art 
zu tröſten und aufzurichten, ſie weiß auch gute Ausblicke zu zeigen und wieder 
froh zu machen. Wir müſſen warme Herzen im Innern des Hauſes haben, wenn 
die Lebensfreude in unſerer ernſten Zeit nicht erſterben ſoll; wir brauchen herzens⸗ 
freundliche Hausfrauen, die auch im tiefen Dunkel noch den Lichtesfunken zu 
ſchauen vermögen und tröſtend darauf hinweiſen. Die ſittliche Erneuerung unfe- 
res Volkes kommt nicht von außen, ſie muß von innen kommen, muß im Hauſe 
gepflegt werden und von dort aus ſich verbreiten. Immer, in den Tagen des 
ſittlichen Untergangs wie in denen der Erhebung, find es die Frauen und die 
Mütter geweſen, auf denen die Schuld und auf denen die Hoffnung ruhte. 
Draußen iſt Krieg, aber in unſern Häuſern ſoll guter Friede fein. Kriegs- 
dienſt iſt zu leiſten draußen und drinnen. Wer das erſte nicht kann, ſoll das zweite 
tun im vollen Bewußtſein, daß er damit ebenſo ſeine patriotiſche Pflicht erfüllt. 
„An den grauen Tagen des Lebens“, ſagt Karl Weinhold in ſeinem Buche 
„Die deutſchen Frauen im Mittelalter“, „iſt das treue, tiefe Auge der Frau der 
Troſt und die Zuflucht des Mannes. Und wenn über die Völker der eiſerne Wagen 
der Geſchichte rollt und die feſten Burgen ſtürzen, dann hoffen die gebeugten 
Männer auf die Frauen, die Erzieherinnen der kommenden SGeſchlechter.“ 


RP SE 
LERSTEIER 


88 


Das Sträußlein aus Moos 
Von 3. E. Freiherrn von Grotthuß 


Wohl manchen Tag ſah ich entgleiten, 
Vergeſſen war das Sträußlein Lang, 


Gekränkt in trotzigem Beginnen, 
Das junge Auge tränenvoll, 


Ging ich zum Wald mit düftren Sinnen, 
Wo manche Träne niederquoll. 


Gar kindiſch war mein banges Grämen, 
Doch ſchien mein Herz mir ſchwer gekränkt; 
Faſt wollt’ ich gar ſchon Abſchied nehmen, 
So tief hatt“ ich mein Haupt geſenkt. 


Und zur Erinn' rung dieſer Stunde 
Band ich ein Sträußlein mir aus Moos, 
Das ich im weichen Waldesgrunde 
Entrig dem kühlen Mutterſchoß. — — — 


Als heut“ das Bild aus jenen Zeiten 
Mir wieder vor die Seele drang. 


3h fand das Sträußlein heute wieder 
Und ſah es lange, lange an, 

Bis von der Wange ſtill hernieder 
Mir mancher heiße Tropfen rann. 


Ein trockner Strauß aus dürrem Mooſe — — 
Und alles, alles iſt verhallt! 

Meint’ ich doch noch in deinem Schoße, 
Ou grüner, tiefer Zugendwald ! 


u 


— — 


SB 
174 
at? 


ine ſehr nützliche Betrachtung ſtellt Prof. Dr. Hans Frhr. von Liebig, der mutige 
und verdienſtvolle Enthüller und Bekämpfer des „B. H. Syſtems“, in der „Deut- 
ſchen Zeitung“ an. Die Wahrheit, die er hexausſchält, iſt jo nüchtern, fo hausbacken, 
daß man annehmen müßte, fie brauchte nicht erſt ausgeſprochenz geſchweige denn bewieſen 
zu werden. Aber darin liegt ja gerade die Moral (oder der Humor) von der Geſchichte. 

Ein Naturwiſſenſchaftler, ſchreibt Frhr. von Liebig, der alle halbe Jahre eine neue An- 
ſchauung verficht, die im nächſten halben Jahre wieder widerlegt iſt, iſt eine unmögliche und 
lächerliche Erſcheinung; Kräfte dieſer Veranlagung beſchränken ſich, wenn ſie es zu einer ordent⸗ 
lichen Profeſſur gebracht haben, auf die Erfüllung ihres Lehramts und haben in der Öffentlih- 
keit keine eigene Anſchauung. Politiſierende Geſchichtsprofeſſoren aber, die viele 
Jahrzehnte lang Vorausſagen aufſtellen, von denen unfehlbar das Gegenteil eintrifft, 
und Anſichten entwickeln, die ſich mit unbedingter Sicherheit ein halbes Jahr ſpäter als 
falſch erweiſen, können wenigſtens in Deutſchland ohne Schwierig keiten Geheimrat werden, 
verbreitete Monatshefte leiten und ſich ſtändig hohen und höchſten Anſehens erfreuen, weil 
man ihnen die theoretiſche Möglichkeit ihrer Anſichten nicht geſetzmäßig widerlegen kann. Aus 
den verſchiedenen Geltungsbereichen ergibt ſich für den nicht fachlich Gebildeten eine verſchiedene 
Stellung. Die wichtigſten Grundlagen der verſchiedenen Geiſteswiſſenſchaften ſind in jedem 
menſchlichen. Einzelleben vorhanden. Einem klugen erfahrenen Arbeiter, der nicht mehr als 
vier Volksſchulklaſſen durchlaufen hat, wird ein guter Lehrer in kurzer Zeit klarzumachen 
verſtehen, warum dieſe oder jene Verwaltungsmaßregel getroffen wurde, weshalb ein Geſetz 
dieſe oder jene Faſſung erhalten hat, worauf letzten Endes eine ſittliche Forderung beruht, 
warum ihm das eine Gemälde beſſer gefällt als das andere. Ein Ladenmädchen windet viel- 
leicht geſchmackvollere Strauße als eine ͤſthetiſch gebildete junge Dame der Geſellſchaft, und 
die Philoſophie eines alten Bauern iſt unter Umſtänden mehr wert als die des Bhilofophie- 
geheimrats von der nächſten Hochſchule. Die Erkenntnisgrundlagen und Richtlinien für die 
Tätigkeit. des Bauernbürgermeiſters eines kleinen Dorfes unterſcheiden ſich nicht weſentlich 
von denen des Kanzlers eines großen Reiches, und es waren ſchon Lagen in der Geſchichte da, 
in denen der Tauſch zwiſchen einem geſcheiten Dorfbürgermeifter und einem von der Pike auf 
gedienten Kanzler dem Reich ur zum Vorteil geraten wäre 

geder Bauer weiß in Bälde, ob der Landrat viel oder wenig taugt; der Städter kritiſiert 
an feinem Bürgermeiſter herum; in der Runftausftellung werden ſelten aus freier Wahl häß⸗ 
liche Sachen gekauft, auch in Dorf und Kleinbürgerwohnungen find die mannigfaltigen Ge- 
ſchmackloſigkeiten nicht durch freie Wahl hineingekommen, ſondern durch Händler eufgeihmäst 

Der Türmer XX, 20 


354 Urteilsfähigteit Über auswärtige Polit 


oder durch Ausſchaltung des Wertvolleren aus den Läden aufgezwungen worden. Der Laie 
unterſcheidet zwiſchen guten Predigern und ſchlechten, zwiſchen guten Schauſpielern und den 
mittelmäßigen, zwiſchen ſeichten Philoſophen und Denkern, zwiſchen ſachlichen Richtern und 
Buchſtabenrichtern; er urteilt über den Geſchichtsforſcher und den Sprachgelehrten, den Rechte 
gelehrten und den Kunſthiſtoriker, den Nationalökonomen und den Literaturprofeſſor; nur 
auf einem Gebiet traut ſich der Deutſche kein Urteil zu, und dieſe Ausnahme iſt um fo merk⸗ 
würdiger, als ſie ſich auf ſein Volk beſchränkt: auf dem Gebiet der auswärtigen Politik. 

Wenn einen Engländer oder Franzoſen oder Ruſſen oder Oeutſchen alle Schuhe drücken, 
die ihm ein beſtimmter Schuſter liefert, dann ſchließt er daraus, auch wenn er ſelbſt keine Schuhe 
machen kann, auf einen ſchlechten Schuſter und geht zu einem andern. Wenn aber den Oeutſchen 
ſeine Staatsmänner auf auswärtigem Gebiet von einer üblen Lage in die andere bringen, 
dann zieht er daraus nicht den Schluß auf die Unfähigkeit ſeiner Staatsmänner, ſondern auf 
feine eigene Unfähigkeit, die Dinge richtig beurteilen zu können. Er rechnet die auswärtige 
Politik des Staates nicht wie der Bürger jedes anderen Staates zu den Gebieten, auf denen ihm 
kraft feines gefunden Menſchenverſtandes und feiner Lebenserfahrungen ein gewiſſes Urteil 
zuſteht, ſondern er reiht fie jenen Fächern ein, in denen erſt jahrelanges Einarbeiten zum Mit- 
urteil befähigt. Die „Akten“, der „Aberblick“, die „Beziehungen“ ſcheinen ihm ebenſo außer- 
ordentliche Dinge zu fein wie etwa die ſonderbaren Gerätſchaften in einem chemiſchen Labora- 
torium, das geheimnis volle Drahtgewirr in einer elektro-phyſikaliſchen Verſuchsſtätte, die ver- 
zwickten Formeln einer mathematiſchen Doktorarbeit. In Wirklichkeit beſteht aber zwiſchen den 
Beziehungen einzelner Familien der Völkerfamilien untereinander und den Beziehungen 
einzelner Familien zur Umwelt kein Weſensunterſchied; jede im Erwerbsleben oder ſonſt tätige 
Familie hat ihre Freunde und Feinde, ihre Bundesgenoſſen und Widerſacher, ihre Sorgen um 
Nahrung, Kleidung, Bildung und Erziehung; auch die Wege, auf denen die verſchiedenen 
Schwierigkeiten überwunden werden können, ſind im weſentlichen im Staatsleben nur eine 
Übertragung alltäglicher Lebenserfahrungen ins Große. 

Das deutſche Volk erringt in dieſem Weltkriege militäriſch die Erfolge, die feinen un 


geheuren Leiſtungen entſprechen. Politiſch hat es Glück und immer wieder Glück, gegen alles 


Verdienſt und Gerechtigkeit. Den politiſchen Leiſtungen nach müßten unſere Gegner ſchon 
längſt Herr über uns geworden ſein und uns den von ſo vielen und maßgebenden Leuten in 
Deutſchland angeſtrebten Hungerfrieden gebracht haben. Zu dieſen Glücksfällen ſind auch 
die zahlreichen und eindringlichen Lernmög lichkeiten zu zählen, mit denen der Krieg unſer 
Volk beſchenkt; nie wurde einem politiſch unreifen und des Unterrichts bedürftigen Volke vom 
Schickſal praktiſches Unterrichtsmaterial in fo reichem Maße unterbreitet, wie dem deutſchen 
in dieſem Weltkrieg, der ihm auf jeden Irrtum hin faſt unmittelbar darauf die Widerlegung 
dieſes Irrtums vor Augen führte. Die Feinde haben uns ſchon mit der Veröffentlichung ver- 
ſchiedener geheimer Akten ihrer und unſerer Regierungen einen großen Gefallen getan; es 
iſt auch ein hocheinzuſchätzendes Verdienſt des Fürſten Lichnowſky, durch feine Denkſchrift 
dem deutſchen Volke einmal einen Einblick gewährt zu haben in das Getriebe jener Stellen, 
vor deren Türen die Kritik des guten deutſchen Staatsbürgers in ehrfurchtsvollem Schauer 
einzuhalten pflegte. Verhilft die Denkſchrift ihm zur Einſicht, wie bar jeder Geheimwiſſen⸗ 
ſchaft die Kunſt des Diplomaten iſt, wieviel wichtiger auch bei dieſer Kunſt natürliche Be- 
gabung, geſunder Menſchenverſtand und ein gewiſſes Gefühl für das Richtige iſt als erlernte 
Schulweisheiten, Kunſtgriffe und Aktenkenntniſſe, dann hat damit Fürſt Lichnowſky viele 
& 


jeiner Sünden wieder gutgemacht. 


Griechenland im Weltkrieg | | 355 


| Griechenland im Weltkrieg 
N . 


ei Ausbruch diefes Krieges war Griechenland in einem großartigen allgemeinen 

75 Aa Aufſtieg begriffen. Das innerpolitiihe Leben nahm einen normalen Verlauf, 
2 2 die Finanzen fingen an, ſich zu feſtigen, eine Zufriedenheit beruhigte die Ge- 
miker, und Werke des Friedens wurden geplant. Mitten in dieſer Sammlungsarbeit kam 
der Weltkrieg und raubte dem Lande die Ruhe. Ja, er raubte ihm ſogar das Recht, als freier 
Staat zu leben, zu denken und zu handeln. 

Es iſt zwecklos, über das Maß der Schuld dieſer oder jener Männer der leitenden grie- 
chiſchen Kreiſe Erörterungen anſtellen zu wollen. Vielmehr iſt Griechenlands Verhängnis 
in dieſem Kriege auf ſeine geopolitiſche Lage zurückzuführen, welche Griechenland zum natür- 
lichen Bollwerk Engliſch-Agyptens und der britiſchen Zwingburgen im Mittelmeer macht. 
Dazu kommt noch die für engliſches Empfinden und engliſche Berechnungen unliebſame Eigen- 
ſchaft der Griechen, ein ſeefahrendes Handelsvolk zu ſein (im Jahre 1915 zählte die griechiſche 
Handelsflotte 495 Dampfer mit 900000 Tonnen netto) ſowie der Umſtand, daß Griechenland 
allein, ohne jede Hilfe daſtand. Die wahren Gründe der Expedition nach Saloniki hat 
der engliſche Miniſter Bonar Law Anfang März 1918 im Unterhaus wie folgt angegeben: 
„ .. Jedenfalls ſei der Nutzen, den die Entente aus dem Salonikiunternehmen 
gezogen habe, offenſichtlich. Wenn die Armee nicht dort geweſen wäre, würde 
ganz Griechenland zu einem Waffenplatz DOeutſchlands geworden fein, und alle 
griechiſchen Häfen wären Unterſeebootsſtützpunkte geworden, wodurch die Lage 
zur See nach dem Urteil von Fachleuten geradezu unerträglich geworden ſein 
würde. Za die ganze Verbindung Englands mit dem Oſten wäre dadurch in Frage 
geftellt worden.“ Nun wiſſen die Griechen (aber auch die Oeutſchen), wofür fie in den Krieg 
mußten. — England würde ſich nicht geſcheut haben, mit Holland und den ſkandinaviſchen 
Staaten in gleicher Weiſe zu verfahren; dort lagen aber die Machtverhältniſſe anders. 

Es ift für den Feſtländer nicht immer leicht, die verſchnörkelten Gedankengänge briti- 
ſcher Regierungen zu durchſchauen. Der engliſchen Politik ſteht eine dreihundertjährige Nou- 
tine zur Seite. Im engliſchen Gehirn haben ſich mit der Zeit Zellen und Windungen aus- 
gebildet, die der Feſtlandbewohner nicht hat. Die bald hundertjährige Leidensgeſchichte Neu- 
griechenlands iſt im Grunde doch nur die lehrhafte Geſchichte engliſcher Ausbeutungs- und 
Anterjochungspolitik, welche unter dem Deckmantel traditioneller Wohltaten bis zum heutigen 
Tage planmäßig durchgeführt wird. Mit dem Verkauf der unglücklichen griechiſchen Stadt 
Parga an eine Beſtie, den Ali-Paſcha von Janina (im Jahre 1819) gegen klingendes Gold 
(150000 Pfd. St.) hat die engliſche Ausbeutung angefangen, mit den Erpreſſungen und den 
Blockaden wurde fie fortgeſetzt, mit der Desorganiſierung der Kriegsflotte machte fie ſich be⸗ 
liebt, mit der Vertreibung König Ronftantins klomm fie zur Höhe. 

* 


Im Januar 1915 hat England erſtmalig und zwei Monate ſpäter zum zweiten Male 
die griechiſche Regierung erſucht, in dem europäiſchen Konflikt Farbe zu bekennen. Die eng- 
liſche Forderung, begleitet von der eigenmächtigen Beſetzung der der Meerenge vorgelagerten 
griechiſchen Inſeln, ging dahin, Griechenland zu veranlaſſen, ſein Landheer für die Operatio- 
nen der Verbündeten gegen die Dardanellen zur Verfügung zu ſtellen, wofür, nach glück- 
licher Beendigung des Krieges, ein ſüdlicher Teil Kleinaſiens mit Smyrna und Aivali bis 
zur Bucht von Adramit an Griechenland als Belohnung fallen ſollte. Venizelos, der einzige 
von allen griechiſchen Staatsmännern, ſcheint damals ſchon den engliſchen Lockrufen 
in allem Ernſt gefolgt zu fein, wurde aber rechtzeitig durch König Konſtantin von der Regie- 
rung entfernt. Die erregten inneren Auseinanderſetzungen darzulegen, würde hier zu weit 


356 Griechenland im Wellerleg 


führen. Die Gelegenheit ſchien Venizelos für Griechenland einzig, mit Hilfe der Weſtmächte 
in Konſtantinopel, der Stadt der Sehnſucht aller Griechen, einzuziehen, denn er traute ſich 
ſchon zu, die Rivalitäten unter den Verbündeten, ganz beſonders zwiſchen Rußland und Eng⸗ 
land, zugunſten Griechenlands auszunützen. An dem engliſchen Sieg hat Venizelag natur 
lich nie gezweifelt, denn von Zugend auf war er ein begeiſterter England freund und han in 
allem Wandel der Zeiten an feinen Sympathien und feinen Ideen feſtgehalten. Ehn um 
ſo mehr an den Sieg Englands und der Ententemächte geglaubt, als ihm Deutſchland und 
die deutſche Welt unbekannt ſind. Er träumte von Anfang an, mit der Niederwerfung der 
Zentralmächte, von der Zerſtückelung der Türkei und ſomit von der Befreiung des dort leben; 
den Griechentums. König Konſtantin hat Venizelos richtig gekennzeichnet, als er von ihm 
ſagte: er würde kein kurzſichtiger Staatsmann ſein, wenn er nicht ſo weitſichtig wäre. Von 
ſeinen Träumereien eingenommen, in feiner Englandbewunderung befangen, durch die ſchmei⸗ 
chelnden Worte, die man ihm von London und Paris ſpendete, umnebelt, überſah er die 
großen Nachteile, die ein Sieg der Entente dem griechiſchen Volke bringen mußte. Es iſt da- 
gegen jedem klar geworden, daß die Siege Deutſchlands und Oſterreichs die Balkanvölker 
vom ruſſiſchen Drucke befreit haben. 

Vor Jahresfriſt ſchrieb ich in meiner Schrift „Europas Frieden“: „Das heutige 
Griechenland iſt ein attiſch-makedoniſcher Staat. Nur auf der Balkanhalbinſel ſelbſt, 
wo Neu-Griechenland bezeichnenderweiſe zuerſt als freier Staat entſtanden iſt, kann ein weite; 
rer Machtzuwachs für das Königreich und das Griechentum überhaupt möglich fein.“ 

So viel hat aber England über griechiſche Intereſſen nicht nachgedacht. Es hat nur da- 
für geſorgt, feine Verbindung mit dem Oſten aufrechtzuffkhalten und dabei ein ſeefahrendes 
Handelsvolk mitſamt feinen Schiffen feſt in die Hand zu bekommen. Seit Cromwells Zeit 
find alle Engländer darüber einig, daß außer England kein anderer Staat Schiffe haben dürfte. 

Nachdem England eine znſel nach der anderen beſetzt und die griechiſche Küͤſte blockiert, 
hat es Ende Zuli 1915 plötzlich und ohne Grund die große Inſel Mytilene beſetzt. Anfang 
Oktober 1915 fing es an, mit Frankreich zuſammen in Saloniki zu landen, und Anfang Januar 
1916 ließ es durch Frankreich Korfu beſetzen. Der Appetit kam beim Eſſen, und fo wurde zu- 
letzt faſt das ganze Königreich beſetzt. Gegen Mitte Februar 1916 ließ es die Blockade ver- 
ſchärfen und zog eine Sperrlinie von Schlachtſchiffen von Korfu, bis zur Bucht von Kavalla 
hin. Trotz aller dieſer Drangſalierungen hielt ganz Griechenland. treu zum König. Im Sommer 
1916 iſt das Land König Konſtantins erbarmungslos gepeinigt worden. Eine Forderung 
reihte ſich an die andere, und ein Oruck folgte dem anderen. Ein Zugeſtändnis nach dem ande; 
ren wurde dem König Konſtantin und ſeinen Regierungen durch Drohungen, durch Blockaden 
und allerhand Gewaltakte abgezwungen, wobei die Franzoſen ſich vorſchieben ließen. Schließ 
lich wurde auch die griechiſche Hauptſtadt beſetzt. 

Wenn man das alles überdenkt, erſcheinen Englands Abſichten ſehr durchſichtig. Nach 
dem im Oezember 1915 der Zuſammenbruch der Dardanellenexpedition und Serbiens voll; 
ſtändig geworden war, erwärmte man ſich in England immer mehr für den Plan, das auf- 
kommende Griechenland zu erdroſſeln. Die Griechen ſind ja, wie geſagt, auch ein ſeefahrendes 
Handelsvolk. Und zu dem Zweck mußte zunächſt das griechiſche Staatsweſen planmäßig zer- 
ſtört werden. Wie bei der Beſiedelung Nordamerikas und beim Suezkanal, ſo hatten auch 
hier die Franzoſen den Vortritt. Wie England aus Hannover und ſpäter aus Belgien den feil- 
ländiſchen Brückenkopf für die britiſche Inſel gemacht hatte, ſo trachtet es jetzt danach, aus 
Griechenland den europäiſchen Brückenkopf zur Verteidigung Agyptens und der erſehnten 
Land verbindung mit Indien zu machen (vgl. unſere Schrift „Europas Frieden“, S. 90 [1917). 
Aus dieſem Gedankengang wird die zähe und eee Aufrechterhaltung der makedoniſchen 


Front verſtändlich. 
* 


die Wolga deutſchen und das ahnungeloſe Oeutſchland 357 


Die Befreiung Griechenlands von ſeinem Peiniger iſt mit dem Ausgang des Kampfes 
in Flandern verknüpft. Wenn England den Sieg haben könnte, wäre es um Griechenland 
geſchehen. Gleich Portugal würde es in engliſcher Abhängigkeit ein kümmerliches, königloſes 
Dajein führen. Es wird aber anders kommen, denn Englands Niederlage rückt mit jedem 
Monat näher. Der deutſche Sieg iſt eine Notwendigkeit unſeres Jahrhunderts. (Näheres 
darüber in unſerer Broſchüre „Deutſchlands Sieg“ [1915].) Er muß und wird vollſtändig 
ſein, weil er die Welt von engliſcher Begehrlichkeit und engliſcher Willkür erlöſen ſoll. 

Wenn nun der Tag des Friedens kommt, haben die Mittelmächte ein lohnendes Werk 
zu vollbringen, indem ſie ſich mit Intereſſe und Wohlwollen des griechiſchen Volkes annehmen. 
Politiſche Fragen ſind ja an allen Orten und zu allen Zeiten Machtfragen. Niemand wird 
aber füglich in Abrede ſtellen, daß der Fall Griechenlands auch zu rein menſchlichen Erwägun- 
gen Anlaß bietet. Das Schickſal hat es gefügt, daß König Konſtantin mit den Interefjen ſeines 
Landes auch das ZIntereſſe Deutſchlands verfechten mußte. Den deutſchen Sieg hat er herbei- 
geſehnt, weil er ihm in erſter Linie als die Rettung Griechenlands erſchien. Mit dieſer Über- 
zeugung hat der König drei Jahre lang im Kampfe gegen die Entente geſtanden. König Kon- 
ſtantin muß nicht nur amtlich, auf Grund geſchloſſener Verträge, ſondern im Triumph unter 
donnerndem Jubel der Völker Europas in fein Land zurückkehren, und zwar in das ſelbe Land, 
welches er ſelbſt bei den ſiegreichen Balkankriegen durch Befreiung griechiſcher Gebiete ſich 
geſchaffen hat; wozu natürlich nicht nur die von den Zentralmächten und Bulgarien provifo- 
riſch und unter Garantie des Zurückziehens beſetzten griechiſchen Gebiete (Rawalla, Drama, 
Serres ufw.), ſondern auch die von den Stalienern beſetzten Hodekaniſſen und Nordepirus 
(einfchließlih Valonaf ſelbſtverſtändlich gehören. Dann wird Englands Niederlage beſiegelt 
und Deutſchlands Sieg ein Sieg des Rechtes ſein. Dr. A. Poulimenos 


2 


Die Wolga⸗Deutſchen und das ahnungsloſe 
Deutſchland s 


Auf Einladung des Unabhängigen Ausſchuſſes für einen Deutſchen Frieden hielt der 
Auslandsdeutſche Paſtor Schleuning am 12. Juni im Preußiſchen Abgeordneten 
d 3 hauſe einen Vortrag über das Schickſal und die Hoffnungen der deutſchen Koloniſten 
an der Wolga, der weiteſter Beachtung nicht dringend genug empfohlen werden 
kann. Daß Oeutſchland erbärmlich wenig von feinen Auslandskindern weiß, ſich wenig oder 
gar nicht um fie bekümmert, fie kaum noch als Deutſche angeſehen hat, — dieſe bitter beſchämende 
Tatſache hat auch der Vortragende erfahren müſſen: Verſunken und vergeſſen, kann man faſt 
ſagen, ſind diejenigen vom Mutterlande, die hinausgezogen ſind in die Fremde; verſunken und 
vergeſſen auch das große Wunderland, wo 700000 deutſche Bauern wohnen an den 
beiden Ufern der Wolga. Katharinenſtadt, das Zentrum der Oeutſchen, iſt ein deutſches 
Dorf von ungefähr 17000 Seelen, mit einer Oberrealſchule, einem deutſchen Lehrerſeminar, 
einer höheren Töchterſchule und verſchiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen. Reden wir jemand 
auf der Straße an, fo hören wir einen unverfälſchten deutſchen Dialekt, wie er vor 150 Zahren 
im Mutterlande geſprochen wurde, ſogar noch mit ſächſiſchem und bayeriſchem Ton. 

Vor 150 Jahren war dieſe Gegend noch eine Wildnis, von Räuberhorden durchzogen, 
das Land der Tataren und Nomaden. Die Kaiſerin Katharina II. hatte den weitſchauenden 
Gedanken gefaßt, in dieſer öden Gegend deutſche Koloniſten anzuſiedeln, einmal um Kultur- 
land zu ſchaffen, dann aber auch einen Schutzwall gegen Often zu bekommen. Den Anſiedlern 
wurde Freiland verſprochen, dann Steuerfreiheit für die erſte Zeit, weiter ſelbſtändige Ver- 


358 Die Wolga-Deutſchen und das ahnungsloſe Seutſchland 


waltung, Freiheit des Gewiſſens, der Religion und des Volkstums, freie Entwicklung, dann 
vor allen Dingen, was beſonders verlockend war, ewige Freiheit vom Wilitärdienſt. Aus der 
öden Gegend wurde ein fruchtbares Land, das nicht nur ſeine Bewohner ernährt, ſondern auch 
noch weite Strecken mit Weizen verſorgen kann. Der ſchwerſte Kampf richtete ſich indeſſen 
gegen die ruſſiſche Regierung. Man hatte ſich die Nationalität gewahrt. Die verſprochene 
Selbſtverwaltung blieb größtenteils unerfüllt, die Verbindung mit dem Mutterlande war 
unterbrochen, das Lehrperſonal für die Kinder wurde ſchlechter, und die verſprochene Rüd- 
wanderungsmöglichkeit wurde illuſoriſch. 

Als der Krieg ausbrach, begannen die furchtbarſten Qualen und Verfolgungen, 
obgleich die deutſchen Koloniſten treu ihre Pflicht dem neuen Heimatlande erfüllten und die 
beſten Steuerzahler waren. Sie waren ſich, wenn auch ſchweren Herzens, doch ſtets ihrer 
Pflicht voll bewußt; ſie folgten dem Rufe des Staates; die Liebe dieſes Volksſtammes hatte 
man ſich nicht zu wahren gewußt, die deutſche Sprache zu gebrauchen, wurde ihnen verboten, 
dennoch wurde fie gepflegt. Das war ein Kampf, wie ihn einſt Rüdiger kämpfte zwiſchen 
Pflicht und Liebe, denn die Liebe war erwacht in den Herzen auch des einfachen 
Bauern. — Dies führte auch ſehr bald dahin, daß die Wolg adeutſchen nicht mehr an 
der ruſſiſchen Veſtfront eingeſtellt wurden, ſondern in den Kaukaſus kamen, wo ſie 
in bitterer Kälte ſchutzlos hingeopfert wurden; ſie ſollten vernichtet werden. 

Die daheim gebliebenen Deutſchen wurden vom Schwerſten nicht verſchont: die Ent⸗ 
eignung ſetzte ein. Die meiſten mußten nach Sibirien wandern, ein Schickſal, von dem uns erſt 
die Revolution befreite. Das Deutſchtum wurde uns wiedergegeben, wir durften wieder deutſch 
ſprechen. Ein deutſcher Kongreß trat zuſammen, und 400 Vertreter gelobten ſich den Rampf 
für ihr Oeutſchtum, möge es koſten, was es wolle, ſei man auch gezwungen, ſich eine neue 
Heimat zu ſuchen, das große Mutterland werde noch ein Plätzchen übrig haben. Überfälle 
und Plünderungen ganzer Ortſchaften folgten, und der Blick der Koloniſten richtet ſich immer 
mehr nach Oeutſchland, das ja auch im Breſter Friedensvertrage an fie gedacht hatte. Eine 
Abordnung — Rebner gehörte ihr ebenfalls an — wurde bei dieſer Gelegenheit zum beutſchen 
Botſchafter nach Moskau entſandt, um ihm die Klagen der Landsleute vorzutragen. Oieſer 
hatte auch für das Scheickſal der dortigen 700000 Oeutſchen Zeit ... zehn Minuten! Er ver 
ſprach, für ſie einzutreten, warnte aber gleich vor übertriebenen Hoffnungen. Aber 
die Härten hörten alsbald auf, das Sowjet wurde ſeines Amtes enthoben und Autonomie 
verheißen, ein Zeichen, daß etwas zu erreichen iſt, wenn man nur im geringſten den Hebel 
in Bewegung ſetzt, aber es ſoll ein Arbeiterrat überall eingeſetzt werden. 

So ein Arbeiterrat iſt aber bei den Oeutſchen ſchwer zu ſchaffen. Das gleiche, geheime, 
direkte Wahlrecht iſt keineswegs das Zdeal. Es gibt viel modernere Dinge. Das ruſſiſche Wahl- 
recht iſt das einzig wahre! Kein Wahlrecht befigt der, der irgendwie mit fremden Arbeitskräften 
arbeitet, wer eine Dienſtmagd beſchäftigt oder auf ſonſtige Hilfsarbeiter angewieſen iſt. Nur 
dieſe ſelber ſind wahlberechtigt! Auf Grund dieſes freieſten Wahlrechts kommen aber in der 
Wolgagegend nur wenig Arbeiterräte zuftande, nur einige Taugenichtſe find dafür verwendbar. 
Was von deren Herrſchaft zu erwarten iſt, bleibt abzuwarten. 

Welches find nun die Erwartungen der Roloniften? Was erwarten fie vom deutſchen 
Volke? Vor allen Dingen erwarten wir, daß man Ernſt macht mit den Bedingungen des 
Breſter Friedens. Damit ift ſehr viel zu machen, Vermögen und Leben der WVolgadeutſchen 
kann damit voll geſchützt werden. Die ruſſiſche Regierung macht bei energiſchem Vorgehen 
keine Schwierigkeiten. Hier in Deutſchland ahnt man nicht, wie ſtark Deutfchland 
eigentlich iſt! Wir Auslandsdeutſche haben dies während des Krieges erfahren, Oeutſch⸗ 
land weiß nicht, was es im Auslande durchzuſetzen vermag. Dann verlangen wir wirk- 
lichen, ernſtlichen Schutz des Vermögens, und daß betont wird, daß die ruſſiſche Regierung 
dafür verantwortlich iſt. Die deutſche Regierung muß darauf beſtehen, daß die Wolgadeutſchen 


( 
Die Berliner Bühnen im verflofienen Rriegswinter N 559 


ihre eigene Zeitung behalten, wie ſie ihren örtlichen Verhältniſſen entſpricht. Amerika hat 
einen wohlorganiſierten Preſſedienſt in Moskau, und die Amerikaner wiſſen, was 
ihnen dieſer nützt. Die Wilſonſchen Reden werden in Millionen Exemplaren ver- 
teilt. Diefe Arbeit trägt ihren Lohn. Von ſeiten Oeutſchlands dagegen wird nichts getan. 
Dann muß den Koloniſten das Rückwanderungsrecht voll geſichert werden. Für Schule 
und ſonſtige Kultur muß etwas geſchehen, Lehrer müſſen hinausgeſandt werden. Ein General- 
konſulat in der Wolgagegend und Spezialbehörden müffen errichtet werden. Die Volgadeutſchen 
ſchauen auf die Oſtſeeprovinzen als ihr künftiges Siedlungsland. 

In Rußland zweifelt kein Menſch, auch kein noch ſo deutſchfeind licher Kadett 
mehr daran, daß die Oſtſeeprovinzen endgültig Deutſchland gehören. Die Wolga- 
deutſchen find entſchloſſen, für Deutjchland alles zu tun, wie fie mit zitterndem Herzen den 
deutſchen Heldenkampf verfolgt haben. So erwarten fie, daß man für fie eintritt und ihre 
gerechten Forderungen erfüllt und ihnen hilft. Möge der Erfolg dieſes Krieges der ſein, daß 
überall, wo Oeutſche in der Welt wohnen, fie ſich ſicher unter deutſchem Schutze 
fühlen. Überall, wo Engländer wohnen, wehen Englands Fahnen. Dieſer Gedanke muß 
ſich auch in Deutſchland Bahn brechen. 


Die Berliner Bühnen im verfloſſenen Kriegs⸗ 
5 winter | 
| (Ruͤckblick und Summe) 


IR enn man klar überblicken will, was der regierende Theaterklüngel des Rurfürften- 
875 damms im letzten Fahr geleiſtet hat, muß man die geſchäftliche Situation in 
Rechnung ſetzen. Von jeher jammerten die Direktoren, daß die Kaſſierer ihre 
ſchönſten idealen Pläne zunichte machten. Wie gern würden ſie den großen Überlieferungen 
des deutſchen Dramas dienen! Wie drängte ihr eigenes Künſtlerblut, die Leſſing, Schiller, 
Goethe, Kleiſt, Hebbel, Grillparzer, Anzengruber und andere zu ſpielen! Wie beneidenswert 
würde es ſie dünken, die Bühne als den Mittelpunkt der Kultur ſtrahlen zu laſſen! Aber was 
ſollten ſie tun? Wie ſollte ihr Geiſt einen hohen Flug nehmen, wenn ſie ewig von dem Blei- 
gewicht der geſchäftlichen Intereſſen nach unten gezogen wurden? Wie ſollten ſie Goethe 
ſpielen, wenn das Publikum nun einmal mit Gewalt einen pikanten franzöſiſchen Schwank 
ſehen wollte? Die Kritik ſollte doch um Gottes willen gerecht ſein und ihnen keine Vorwürfe 
machen. Wären fie von den geſchäftlichen Intereſſen frei — ja, dann allerdings, dann würden 
ſie ſich aber auch an deutſchem Idealismus von niemand übertreffen laſſen. 

Soweit Berlin in Frage kommt, war dieſes Klagelied in den letzten Zahrzehnten von 
einer unheimlichen Verlogenheit. In der Hauptſtadt lagen die Verhältniſſe fo, daß ein un- 
deutſcher und antideutſcher Theaterring im Bund mit einer blutsverwandten Preſſe dem Pu- 
blikum die literariſche Korruption gewaltſam aufzwang. In unſerem Türmeraufſatz „Aus der 
Werkſtätte der nationalen Vernichtung“ haben wir das ausführlich dargelegt und begründet. 
Weil es aber nicht wahr iſt, daß die Berliner nach all dem ausländiſchen und perverſen Kram 
verlangten, den man ihnen bot, kann immer noch wahr ſein, daß das idealiſtiſche Wollen eines 
Direktors vom Kaſſierer gelähmt wird. Wenn man das Publikum ſich ſelbſt überläßt, verlangt 
es ſicher nicht die bühnenunmöglichen Stücke der Shaw und Wedekind, aber es verlangt viel- 
leicht Moſer, Benedix, Otto Ernſt oder wie ſonſt die jeweilig populären Unterhaltungsfchrift- 
ſteller heißen. An der freſſenden Theaterverderbnis, die ſeit mehr als einem Jahrzehnt von 
Berlin aus die deutſche Luft verpeſtet, iſt das Publikum unſchuldig. Wahr bleibt darum aber 


360 Die Berliner Bühnen im verfloffenen Kriegewinter 


doch, daß die geſchäftlichen Intereſſen ein Klotz am Bein des Direktors ſein können und ſehr 
oft ſind. 

Die Herren wünſchen, daß wir das in Rechnung ſetzen und die geſchäftliche Situation 
unferen Betrachtungen zugrunde legen. Wohlan, kommen wir ihnen entgegen! Zm ver 
floſſenen Winter war in Berlin die Befreiung von der Herrſchaft des Kaſſierers 
erreicht, nach der ſich die Direktoren angeblich ſo oft geſehnt haben. Der Krieg hat ſo viel Leuten 
Geld in die Hände gebracht, daß es auf den Preis eines Theaterbillets nicht mehr ankommt. 
Man braucht dabei gar nicht an verwerfliche Kriegswucherer und Kriegsgewinnler zu denken 


und auch nicht an die Leute, die auf einem ſozuſagen legitimen Wege Millionen zuſammen-⸗ 


gebracht haben. Sie find zu wenig zahlreich, als daß fie den Beſuch der Berliner Bühnen de- 
einfluſſen könnten. An die Mittelſchicht, glaube ich, muß man ſich halten. Tauſende und aber 
Taufende kleiner Krämer, die ſonſt jede unnötige Ausgabe vermeiden mußten, haben im Krieg 
für ihre Verhältniſſe ſehr viel Geld verdient und wollen nun auch das kennen lernen, was ihnen 
im Frieden als ſtrahlender Lebensgenuß vorſchwebte. Die Löhne der Arbeiter find ſtark ge- 
ſtiegen. Die Gehälter der Angeſtellten ſind erhöht uſw. Dazu kommt, daß ſehr viele Zuftbar- 
keiten, die ſonſt ihre Anziehungskraft ausübten, verboten find. Auch ein ſolider Kneipabend 
läßt ſich nicht mehr machen. Das Bier iſt zum Dünnbier herabgeſunken, und der Wein iſt un- 
erſchwinglich geworden. Das Kaffeehaus aber? Ja, du lieber Gott, da gibt es eine ſchreck⸗ 
liche Brühe, die den Mokka, und einen fürchterlichen Kleiſter, der die Torte erſetzen ſoll. Auch 
mißvergnügte Kellner gibt es da, die durch unliebenswürdige Blicke jede Stimmung vergiften. 
Was bleibt alſo ſchließlich andres übrig, als ins Theater zu gehen? Fünf Mark koſtet ein Platz? 
ga, was ſchadet denn das? Fünf Mark muß man ja heute ausgeben, wenn man für ſeine Fa; 
milie ein paar Kohlrabi kaufen will. Unterhaltung während eines ganzen Abends iſt für 5 Mark 
geradezu gefunden. 

Die hier geſchilderten Umſtände haben im verfloſſenen Winter zu einem beilpiel- 
loſen Andrang an den Theaterkaſſen geführt. Die Theaterdirektoren waren jeder 
geſchäftlichen Sorge überhoben und konnten ſchlechthin machen, was ſie wollten. 
Ob ſie Shakeſpeare oder Ludwig Fulda oder etwas anderes ſpielten: das Haus war immer voll. 
Selbſt das „Berliner Tageblatt“, das jo leicht nichts ausſpricht, was dem herrſchenden undeut- 
ſchen Theaterſyſtem gefährlich werden konnte, hat einräumen müſſen, daß die Direktoren zu 
jouveränen Herren des Spielplans geworden ſeien. Sie beſaßen endlich die Freiheit, nach 
der ſie immer geſeufzt hatten. Sie brauchten in den reichen Schatz der deutſchen Literatur 
nur hineinzugreifen und konnten die ſeltenſten und prächtigſten Stüde im Licht der Aufführung 
funkeln laſſen. Nie hat eine hiſtoriſche Stunde die verantwortlichen Verwalter der deutſchen 
Kultur ſtärker zur nationalen Feier aufgerufen. Nie waren ſie leichter imſtande, dem Ruf 
zu folgen und nie wäre es ihnen mehr von allen Guten des Volkes gedankt worden. Die Situa- 
tion war ſo zwingend, wie fie eben nur in einem Weltkrieg ſein kann. Und was haben 
die Berliner Direktoren getan? Haben fie uns an feſtlichen Abenden die ſchönſten Dramen 
unſerer Kultur geboten? Ach nein, ſie haben mit einer Oreiſtigkeit, die in der Geſchichte unſeres 
Volkes ohnegleichen iſt, das Deutſchtum ausgeſchaltet und jeden nur erdenkbaren Vor⸗ 
wand benutzt, um Ausländer zu ſpielen, die mit der vorliegenden hiſtoriſchen Situation nicht das 
leiſeſte zu tun hatten. Und alſo haben ſie die abnorm günftige Situation für ihren Spielplan 
gar nicht auszunutzen gewußt? O, doch! Das wäre zuviel geſagt. So ganz haben fie die Gunſt 
der Stunde nicht vorübergehen laſſen. Sie haben uns mehrfach Stücke geboten, die in ſittlicher 
oder kuͤnſtleriſcher Beziehung jo erbärmlich waren, daß fie in normalen Geſchäftszeiten aus 
kapitaliſtiſchen Gründen unterblieben wären. Man hätte im Frieden aus Furcht vor dem Raf- 
ſiere r ſchlechterdings nicht gewagt, den „Kuhhandel“ von Eſſig oder den „ſchwarzen Hand- 
ſchuh“ von Strindberg zu ſpielen. Die brillante Konjunktur aber machte Talentloſigkeit und 
Korruption ſelbſt in dieſen aufreizenden Formen zu einem riſikoloſen Unternehmen. 


Die Berliner Bühnen im verfloſſenen Kriegswinter 361 


Wer die Berliner Verhältniſſe nicht kennt, wird den Tatbeſtand, den mein Arteil feſtſtellt, 
wahrſcheinlich entſetzlich finden. Er iſt es auch, und eine ſpätere Zeit wir dkaum glauben wollen, 
daß er jemals geweſen iſt. Wie wir kopfſchüͤttelnd vor den Folterinſtrumenten der mittelalter 
lichen Gerichtspflege ſtehen, weil die hiſtoriſchen Vorausſetzungen der damaligen Zeit nicht 
mehr in uns lebendig ſind, werden kommende Geſchlechter mit verſtändnisloſem Grauen die 
nationale Demütigung betrachten, die unſer Volk ſich bieten ließ, als es die Erde mit ſeinem 
Ruhm erfüllte und zum Weltreich emporzuſteigen ſich anſchickte. Nichtsdeſtoweniger habe ich 
weder übertrieben noch tendenziös gefärbt. Zum Zeugnis deſſen werde ich in den folgenden 
Zeilen die Tatſachen jelber vor meinen Leſern ausbreiten, und ihre ſtumnie Sprache wird 
meinem Urteil recht geben. 

Mit wem fangen wir an? Nun ſelbſtverſtändlich mit Max Reinhardt. Reinhardts 
Bühnen kennt im weiten Oeutſchen Reich jeder, jo wie jeder Maggis Suppen, Ötters Back- 
pulver und Liebigs Fleiſchextrakt kennt. Herr Reinhardt hält ſich nicht nur ſelbſt für den führen 
den Theaterdirektor Berlins, er wird auch von dem größten Teil der Preſſe dafür gehalten, 
und ſo klopfen wir naturgemäß zuerſt bei ihm an, wenn wir die Leiſtungen des letzten Winters 
erfragen wollen. Er gebietet über zwei Bühnen, über das „Deutſche Theater“ und die 
„Rammerſpiele“. Außerdem hat er während des Krieges auch in einer Arbeiterbühne des 
Oſtens, nämlich im Volkstheater am Bülowplatz, die künſtleriſchen Geſchäfte geleitet. 

Fangen wir mit dem Oeutſchen Theater an. Ein flüchtiger Blick auf das Verzeichnis 
der Stücke lehrt bereits, daß die unerhört günſtige geſchäftliche Situation hier zunächſt die 
Tugend der Bequemlichkeit gefördert hat. Nicht weniger als vier Stücke find aus dem Spielplan 
früherer Winter übernommen und einfach neu aufgewärmt worden. Da die Leiſtungen früherer 
Winter für die letzte Spielzeit offenbar nicht in Frage kommen, ſcheiden wir fie aus der gegen- 
wärtigen Betrachtung aus. Zu welchen neuen Taten hat ſich nun die Direktion aufgerafft? 
Hier ſind ſie: Es wurden neu geſpielt Hauptmanns „Vinterballade“, Tolſtois „Macht 
der Finſternis“ und Molières veralteter „Bürger als Edelmann“ mit der Muſik von 
Richard Strauß. Von dieſen drei Stücken iſt „Die Macht der Finſternis“ von Reinhardts Vor- 
gänger Brahm ungezählte Male geſpielt worden. Auch hier handelt es ſich einfach um eine 
literariſche Aufwärmung, in der wir hoffentlich keinen Beweis geiſtiger Unternehmungsluft 
erblicken ſollen, und daß Hauptmann geſpielt wurde, war keine Leiſtung, ſondern eine Selbft- 
verſtänd lichkeit. Es bleibt alſo nur übrig, daß Herr Reinhardt die Muſik von Strauß als Vor- 
wand nahm, um ein wertloſes Stück von Woliòre ſpielen zu können. Nicht wahr? Man 
ſteht erſchüttert vor dieſer winterlichen Leiſtung eines berühmten Theaterdirektors? Und 
wie ſympathiſch berührt im vierten Kriegswinter der nationale Klang dieſes dramatiſchen 
Akkordes! Neben einem Franzoſen und einem Ruſſen kommt ſchließlich auch ein Oeutſcher 
zu Wort. | 
Vielleicht war man aber in den Rammerſpielen beſſer geſtellt? Zunächſt wurden auch 
hier zwei Stücke aus alten Spielplänen aufgewärmt. Neugeſpielt wurden „Mad ame d'Ora“ 
des Dänen Zenfen, die „Koralle“ von Herrn Georg Raifer, „Kinder, der Freude“ von 
Heren Felix Salten und „Oer ſchwarze Handſchuh“ von Strindberg. Die beiden erſten Stücke 
waren Kinodramen der ſchlimmſten Sorte, die ſowohl in äſthetiſcher wie ſittlicher Beziehung 
einen offenen Skandal bedeuteten. „Oer ſchwarze Handſchuh“ von Strindberg war die ohn- 
mächtige Arbeit eines kranken erſchöpften Geiſtes, und in „Kinder der Freude“ wurde gefällige, 
aber oberflächliche Theatermache geboten. 

Und nun überſchlage man einmal im Zuſammenhang die Leiſtungen beider Bühnen 
dieſes führenden Direktors! Von Goethe? Nichts! Ein neuer Schiller? Gott bewahre! Hebbel? 
Nichts. Grillparzer, Grabbe, Anzengruber? Nichts. Dafür aber ein Ruſſe, ein Franzoſe, ein 
Schwede, ein Däne und zwei juͤdiſche Literaten. um Gerhart Hauptmann konnte man natür- 
lich nicht herum. Ich frage: wie lange noch wollen wir es hinnehmen, in unferem eigenen 


362 | Die Berliner Bühnen im verfloffenen Kriegewinter 


Lande als Stiefelputzer behandelt zu werden, während Franzoſen, Ruſſen, Dänen und 
Schweben ironiſch lächeln? Mein Gott: wie lange noch? — 

Im „Volkstheater am Bülowplatz“ treffen wir den erſten nationalen Klang dieſes 
Reinhacdtſchen Winters. Hier wurde die „Hermannsſchlacht“ geſpielt. Wir find keine 
Freunde des Stücks, wir halten es für eine Gelegenheitsarbeit des großen Kleiſt, an der ſein 
nationaler Grimm mehr teilhatte, als feine poetiſche Genialität. Selbſtverſtändlich aber find 
wir bereit, den guten nationalen Willen der Direktion anzuerkennen. Fit es aber nicht bezeich⸗ 
nend, daß gerade dieſe Arbeit in eine Arbeiterbühne des dunklen Oſtens gelegt wurde? Das 
gleiche geſchah mit dem „Edelwild“ von Emil Gött, das man zugunſten Reinhardts hätte 
buchen mũſſen, wenn er es nicht draußen im Oſten von vornherein matt geſetzt hätte. So traurig 
dieſe Tatſachen aber auch ſind, auf das Reinhardtſche Syſtem werfen ſie ein helles Licht. Die beiden 
großen einflußreichen Bühnen der inneren Stadt ſind vom Ausland und vom Kurfürſtendamm 
mit Beſchlag belegt. Muß man ſchon, halb aus Erbarmen, einen Deutſchen ſpielen, wird er 
in das dunkle Chriſtenviertel am Bülowplatz geſteckt. Was gab es ſonſt da draußen? Brei 
Stücke, die aus alten Spielplänen aufgewärmt waren und die wir alſo ausſcheiden, einen 
banalen Schwank von Ludwig Fulda und ein wohlgemeintes, ſchwaches Stück von Georg 
Reike, der zu den Schützlingen des Berliner Tageblattes gehört, in dieſem Falle aber nach 
dem Oſten verbannt werden mußte, weil ſeine Arbeit einen vaterländiſchen Ton enthielt. Im 
Anfang des Kriegs war fie für die Rammerfpiele in Ausſicht genommen. Im vierten Kriegs 
winter macht man mit deutſchen Stücken aber keine Umftände mehr. Immer hinaus nach 
dem Bülowplatz, wo die künſtleriſche Geltung erliſcht und verhetzte Arbeitermaſſen ſich der 
patriotiſchen Tendenz liebevoll annehmen werden. 

Wir können das Syſtem, das in Berlin herrſcht, nicht an allen anderen Bühnen mit der 
gleichen Ausführlichkeit aufdecken. Wer es in der bisherigen Darſtellung nicht erkannt hat, dem 
iſt ohnehin nicht zu helfen. Wir beſchränken uns alſo von jetzt an auf eine kurze ſachliche Auf- 
zählung. Herr Barnowski ſpielte am Leſſingtheater einen Ungarn, der ſich in Parſſer 
Zweideutigkeiten gefiel, eine matte Arbeit des ſattſam bekannten Herrn Sternheim, die Strind⸗ 
berg-Trilogie „Nach Damaskus“, die „Menſchenfreunde“ von Dehmel und ein Journaliſtenſtüc 
von Schnitzler. Zn Summa: ein Ungar, ein Schwede, zwei vom Kurfürſtendamm und als 
deutſcher Konzeſſionsſchulze Richard Dehmel. Von den großen Werken unſeres Schrifttums: 
Nichts. 

Den Herren Meinhard und Bernauer hänge ich ein großes Verdienſtkreuz um: ſie haben 
tatſächlich zwei begabten Deutſchen das Wort gegeben, nämlich Wilhelm Stücklen („Pie 
Straße nach Steinaych“) und Bruno Frank („Die Schweſtern und der Fremde“). Diele 
beiden Arbeiten bilden zuſammen mit „Oyckerpotts Erben“ (Reſidenztheater) den literariſchen 
Gewinn des Winters. Was alſo an neuen Werten gebracht wurde, war deutſch — trotz der 
Winkelexiſtenz, zu der man das Oeutſchtum verurteilt hat. 

Das Königliche Schauſpielhaus erfreute uns durch zwei Schilleraufführungen, 
von denen im beſanderen „Die Braut von Meſſina“ reinen Genuß bot. Die früher ſehr 
wichtigen Schillertheater ſind von der Direktion Pategg ſo weit heruntergewirtſchaftet 
worden, daß fie kaum mehr mitzählen. Die Geſellſchaft „Das junge Oeutſchland“, die 
ſich in den Räumen des Oeutſchen Theaters eingerichtet hat, entpuppte ſich im Laufe des Win- 
ters immer mehr als eine dramatiſche Filiale des Berliner Tageblatts, von der man im wefent- 
lichen Kino-Effekte, Nervenſenſationen und Zerſetzung zu erwarten hat. 

Der Reſt iſt Schweigen. Erich Schlailjer 


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Sebenktage 365 


Gedenktage 
(Voß — Gebhardt — Burkhardt — Gounod) 


m Roſenmonat iſt Richard Voß geſtorben. Er iſt faſt ſiebenundſechzig Jahre alt 
200 geworden, was ihm als Kind und Züngling keiner zugeſtanden hätte. Denn der 

S oußf dem pommerſchen Landgut Neugrape Geborene war von früh an kränklich 

und mußte als Zehnjähriger „wegen andauernder Kränklichkeit“ vom Gymnaſium entlaſſen 

werden. Nach feinem eigenen Bericht iſt er auch andauernd kränklich geblieben, „ein menſchen⸗ 

ſcheues, phantaſtiſches, verträumtes Kind, welches keine Spiele kannte, keine Kameraden hatte 

und von keinen Freuden wußte. Zch litt häufig heftige Schmerzen, an die ich mich jedoch nicht 

nur gewöhnte, die ich ſogar liebgewann, Denn wenn meine Krankheit mich fo recht peinigte, 

überkamen mich ſeltſame, mir unverſtändliche Gebilde, die mich verwirrten und zugleich ent- 

züdten, Sie führten meinen Geiſt von dem Krankenbette weit fort in fremdartige Welten 

voller Schönheit und Glanz ... Frühzeitig fing ich an, mir mein Leben bis in alle Einzel- 

heiten umzudichten. Es waren geiſtige Morphiuminjektionen, die ich mir gab. Sie halfen 

mir, meinen elenden körperlichen Zuſtand zu ertragen, jedoch der Schaden, den ſie in meinem 

Organismus anrichteten, ſollte ſich über meine ganze Zugend erſtrecken.“ Ich glaube ſogar, 

daß in dieſer Kindheit die Erklärung für Voſſens ganzes Leben und Schaffen liegt. Denn 

der Verſuch, durch Ergreifen des landwirtſchaftlichen Berufs „an Leib und Seele geſund zu 
werden“, ſchlug fehl. Dann riß ihn der Krieg von 1870 gewaltſam aus allem heraus. Es iſt 

gerade in dieſer Stunde von hohem Reiz, wie Voß in feinem Erinnerungsbuch „Allerlei Er- 
lebtes“ (1902) den Eindruck ſchildert, den die Kriegserklärung im damals in ſchönſter Ernteluſt 
ſteckenden Thüringen weckte. „Schon am Abend ſollten die jungen Männer, die eben erſt die 
Früchte des Feldes geſchnitten, Weib und Kind, Mutter und Braut verlaſſen, um mit Gott, 
für König und Vaterland in den Kampf, vielleicht in den Tod zu ziehen. Halbbeladen blieben 
die Wagen ſtehen, die Garben lagen zerſtreut, auf dem Acker ward es einſam. Kein Zubelruf 
wurde gehört, aber auch kein Wehklagen. Eine kleine, ernſte und ſchweigende Schar zogen wir 
an dem ſtrahlenden Tage durch die den Segen des Friedens tragenden Felder. Über uns jubi- 
lierten die Lerchen. Und ſchon am Abend mußten ſie fort: unter der Linde vor meinem Fenſter 
war der Abſchied. Als würde der alte Baum vom Jammer der Menſchheit gepackt, jo ertönte 
er vom Schluchzen der Zurüdbleibenden; denn die Fortziehenden erſtickten ihre Tränen in 
dem Ruf: „Vater, Bruder, wir ſchlagen die Franzoſen! Mutter, Weib, wir kommen wieder!‘ 
Und dann erbrauſte das Lied vom deutſchen Rhein; und es wurde zu der unendlichen Melodie 
unſerer Nation. Wie ein Kirchenchor ſchwebten die Klänge hin über die Erde, die bald von 
Blut dampfen ſollte. Kein Geſang war's, — es war Andacht. Und ſchon am Abend war auch 
ich fort! Soldat konnte ich nicht werden; mit in den Krieg aber mußte ich. Alſo ward ich 
Krankenwärter. Welche Fahrt nach Berlin, welche Ankunft! Das Herz von ganz Oeutſch- 
land pochend in einem Schlag: wir kämpfen für unſer teuerſtes, heiligſtes Eigentum, das 
nicht unſere Familie, das unſer Vaterland iſt! Bis zu dieſem Tage war es mir nie ſo recht 
zum Bewußtſein gekommen, daß ich Preuße, daß ich Deutſcher ſei. Plötzlich fühlte ich mein 
Deutfhtum in jedem Blutstropfen. Jeder meiner Blutstropfen gehörte nicht mir, ſondern 
dem Vaterlande. Fur das Vaterland ſterben zu dürfen, ſchien mir wert zu fein, gelebt zu haben. 
Der Herzſchlag unferer Nation in jenen herrlichen, jenen gewaltigen Tagen war wie das „Ja“ 
eines liebenden Weibes vor dem Altar: Treue bis in den Tod! Bis hierher habe ich — viel 
zu redſelig! — von mir ſelbſt geſprochen. Wie kann ich das jetzt noch? Das eben iſt ja das 
Größte bei ſolchem Großen: der einzelne Menſch verſinkt in das Allgemeine, verſchwindet 
mit feinem kleinen Geſchick, hört auf zu fein. Unſere häßlichſte und unſere menſchlichſte Eigen- 
ſchaft: unſere Selbſtſucht, verweht wie Spreu vorm Winde, wenn ein ganzes Volk fampfes- 
freudig in einen Krieg zieht, der gerecht iſt.“ 


2 


N x 


364 Geberitiüge 


Aus dem Krieg heraus, den er zehn Monate lang als Krankenträger mitmachte, iſt 
Voß zur Schriftſtellerei gekommen. Er hatte ſich jetzt zum Studium nach Zena begeben, aber 
die ungeheuren Eindrücke des Schlachtfeldes ließen ihn nicht los. „Oer Soldat konnt nicht 
die Folgen des Krieges; denn er zieht weiter: vorwärts, immer vorwärts. Den Krieg kennt 
nur der, welcher nach dem Soldaten zurüdbleibt, um die Toten zu begraben und die Ver⸗ 
wundeten zu pflegen. Die Erinnerung an das fürchterliche Erlebte, das ich oft wie In Vſſio⸗ 
nen wieder vor mir ſah, lag wie Alpdruck auf mir. Ich mußte verſuchen, ihn von mir abzu⸗ 
wälzen, um wieder friedliche Nächte zu haben. So begann ich zu ſchreiben — nur für mich 
ſelbſt, um mich ſelbſt zu befreien.“ Auf dieſe Weiſe find die „Viſionen eines deutſchen Patriv- 
ten“ entſtanden (1871). Der Verfaſſer wurde dadurch berühmt, daß man das Buch verbot. 
Raſch jagten ſich die Bücher. Der junge Schriftſteller war „in einen neuen Krieg“ geraten, 
den Kampf um fein geiſtiges Daſein. „Ich kämpfte und kämpfte: gegen mein eigenes ſelt⸗ 
ſames, phantaſtiſches Ich, gegen die düſtere und leidenſchaftliche Art meiner Begabung, die 
mir Welt und Leben in grellen, flammenden Lichtern zeigte, gegen das Schickſal, das keine 
milde, helfende Göttin für mich war. Erſt jetzt begannen meine Lehrjahre, die mich in ein 
Labyrinth führten, darin ich nicht ein noch aus wußte. Aber ich kämpfte fort und fort. Und 
ich darf von mir nur agen, daß es ernſt und ehrlich gekämpft war. Ich wurde dabei der muͤde 
Mann, ich wurde ‚der müde Mann‘; und es war nicht Affektion, wie mir noch heute oft nach- 
geſagt wird.“ 

Nein, gekünſtelt war das nicht. Es war nicht einmal bewußte Poſe, als er die traurigen 
und troſtloſen, in tauſend Seelenqualen nur zur Selbſtbefreiung entſtandenen Phantaſtereien 
„Scherben“ als „geſammelt vom müden Manne“ bezeichnete. Der Vierund zwanzigjährige 
war tatſächlich ein müder Mann, und gerade darin lag damals feine „Modernität“, viel mehr 
als in der Art, wie er zu Zeitfragen, z. B. zum Kulturkampf in „Anfehlbar“ und „Savona⸗ 
rola“ Stellung nahm. Die Müdigkeit, wie ſpäter die „Krankhaftigkeit“ wur ihm Natur, und 
Tauſenden erſchien gerade das damals als echte Dichte rnatur. Weltfremd iſt Richard Voß 
nach feinem Berichte von Kind an geweſen, aber er iſt es auch, trotzdem er es ſelber nicht ge; 
glaubt, bis ans Ende geblieben. Seine Welt war eine Theaterwelt; ihre Naͤhrquellen find 
Literatur und Kunſt. Die Menſchen, die ſich in dieſer Welt bewegen, haben mit der wirklichen 
Natur nur wenig gemein. Aber da ſie an ſich ſelber glauben, vermögen ſie den unkritiſchen 
Leſer ſeltſam zu feſſeln. Das „unkritiſch“ möchte ich damit nicht in üblem Sinne verſtanden 
haben, ſondern als willig, hingebungsvoll. Für vereinzelte Stunden wird das jeder einmal 
fein. Für einen großen Erfolg, wie ihn Voß zeitweilig hatte, ift Vorausſetzung bafür, daß in 
der Zeit ſelbſt der Hang zu der betreffenden Art vorhanden iſt. Das war für Voß in den acht; 
ziger Jahren der Fall, und er iſt damals einer der einflußreichſten Schriftſteller und auch auf 
dem Theater erfolgreichſten („Alexandra“, „Schuldig“) geweſen. Seine Überhitztheit galt für 
Leidenſchaft, ſeine ſelbſtbewußte, höchſt ſentimentaliſche Naturſchwelgerei für inniges Natur- 
empfinden. Dieſe falſche Romantik, durch die ſelbſt fein beſter Hochgebirgsroman „Berg; 
aſyl“ entſtellt wird, iſt uns heute nicht mehr erträglich. Aber wenn er in die Ferne ſchweift, 
zumal in das von ihm ſchwärmeriſch geliebte Italien, erlag ihm der Oeutſche bis zuletzt. Pie 
italieniſchen Novellen und Romane („Die neue Circe“, „Michael Cibula“, „Sabinerin“, „Kin 
der des Südens“, „Dxyiel der Konvertit“, „Römiſches Fieber“ und viele andere) haben der 
deutſchen Italienſchwärmerei reichliche Nahrung gegeben. In dieſer Schwärmerei war Voß 
durchaus aufrichtig. Seine Liebe zur Villa Falconieri, die ihm lange Jahre hindurch Wohnſitz 
geweſen ift, hat er einmal „die ſtärkſte Leidenſchaft feines Lebens“ genannt. „Aus den grauen 
nordiſchen Nebeln einer wirren Jugendzeit rettete ich mich auf die immergrünen Höhen der 
Campagna Roms; aus den dunklen Irrpfaden eines ſchickſalsvollen, kämpfereichen Lebens 
führten mich gütige Geiſter in dieſes von feierlichen Eichenwipfeln umrauſchte, von greifen 
Zypreſſen umdüſterte Aſyl.“ 


Gcbentinge | 365 


Voß hat in ſeinem eigenen Hauſe immer wie ein trunkener Hochzeitsreiſender gelebt. 
„Jede Stunde wird mir zum Feſt.“ Ein ſolcher Zuſtand iſt dauernd nicht zu ertragen, er muß 
zur Uberreizung führen. Was Quell der Geneſung fein könnte, wird zum ermüdenden Sumpf 
der Gewohnheit. Es iſt ſchade um die ſchöne Begabung des Richard Voß, der ſicher einer der 
phantaſievollſten Dichter der Neuzeit geweſen iſt. In die heute übliche Geringſchätzung braucht 

man dabei nicht einzuſtimmen; in vorſichtigen Doſen genoſſen iſt feine A eines 
dauernden Reizes ſicher. 
* 

Der Krieg hat keine laute Feier des achtzigſten Geburtstages Eduard von Gebhardts 
zugelaſſen, und der Papiermangel verbietet leider ſogar die einem Künſtler angemeſſenſte 
Würdigung durch Wiedergabe einer größeren Zahl feiner Bilder. Das wird in günjtigeren 
Tagen nachgeholt werden. Aber des Feſttages wollen wir doch um ſo eher gedenken, als dieſer 
deutſcheſte Vertreter der neueren religiöfen Malerei des Proteſtantismus aus einem evange- 
lichen Pfarrhauſe Eſtlands ſtammt (geb. 13. Juni 1838 zu St. Johannes). Einen ſchöneren 
Beweis für die Bewahrung urdeutſcher Geſinnung und, was noch mehr bedeutet, grunddeut- 

ſcher Fühlweiſe im fernen Baltikum kann es nicht geben. Und iſt nicht dieſer Gebhardt, als 
er 1860, in Wilhelm Sohns Oüſſeldorfer Werkſtatt erſchien, geradezu ein Befreier deutſcher 
Art geweſen gegen die ganz unter Raffael ſich beugende religiöſe Malerei Schadows und die 
im gleichen Geiſt gehaltene, nur in der Technik etwas aufgefriſchte Kunſt Ittenbachs, der Brüder 
Müller und anderer? Ihm hatte weder das Studium in Petersburg, noch der Aufenthalt in 
Belgien etwas anhaben können; auch ſpäter in Italien hat er überall nur geholt und in ſich 
aufgenommen, was ſeiner deutſchen Art verwandt war. 

Das evangeliſche Pfarrhaus, dem unſere Literatur jo viel verdankt, iſt hier für die Male- 
rei fruchtbar geworden. Das einfache, unverwidelte Verhältnis zum Leben, eine gerade Gläu- 
bigkeit, die auf tiefſtem religiöfen Bedürfen beruht, eine wunderbare Aufrichtigkeit des Emp- 
findens und dabei ein un verbrauchtes Naturgefühl find die Eigenſchaften, die der junge Geb- 
hardt mitbrachte und die der Greis bis zur Stunde bekundet. Ihm war Chriſtus kein Symbol, 
ſondern der ſtark erlebte Gottmenſch, in deſſen irdiſchem Wandel das Ewige ſeiner Lehre, 
das Unvergängliche. reinſten Menſchentums den überzeugteften Ausdruck findet. So brauchte 
dieſer Künſtler nicht zu deuteln, nicht zu moderniſieren, ſondern einfach zu erzählen. Da er 
aber echter Epiker war — nicht Geſchichtsforſcher, ſondern eben Künſtler —, war ihm nicht 
das hiſtoriſche Drumherum wichtig, ſondern der geſchichtliche Kern, das Stück Leben. So ſah 
er die geſchichtliche Treue nicht im Koſtüm des Orients und in der orientaliſchen Landſchaft, 
ſondern im Erfaſſen des menſchlichen Gehalts der von der Bibel berichteten Ereigniſſe. Chriſtus 
ſelbſt iſt ihm Verkörperung des höchſten Seelenadels, dabei ein vollblütiger Menſch, der unter 
den Menſchen als ihresgleichen wandelt. Dieſer Chriſtus lebt überall, wo an ihn geglaubt 
wird, und darum hat Gebhardt, der feine Werke für Deutſche ſchuf, die uns geiſtig und körper- 
lich verwandte Umwelt gewählt. Daß er dabei nicht den Schritt in die Gegenwart tat, ſondern 
im Reformationszeitalter blieb, geſchah aus ſicherem Taktgefühl. Die Einkleidung in die Gegen 
wart muß immer aufdringlich wirken, weil ſie beim Beſchauer des Bildes die Aberwindung 
der in ihm lebenden Vorſtellung eines Vergangenen fordert. Die übliche Einkleidung in die 
italieniſche Renaiſſance iſt uns zwar gewohnt, aber für uns Oeutſche eine üble Gewohnheit. 
Die Einkleidung ins echt Orientaliſche bedeutet für uns heutige Deutſche eine Koſtümierung. 
So wählte er den einfachſten Weg für feinen Zweck, der kein rein maleriſcher, ſondern ein gei- 
ſtiger war. Gebhardt will mit ſeinen Bildern dem chriſtlichen Glauben dienen. Dieſer Glaube 
glüht in ihm und erfüllt auch alle feine Geſtalten. Er will dieſen Glauben nicht als Alltags- 
gewohnheit, ſondern als Gewalt des Hohen, des Beſten und Stärkſten im Menſchen. Sicher 
war. jede Begegnung mit Chriſtus für die Menſchen feiner Zeit ein im Tiefſten aufwühlendes 
Erlebnis. Ein ſolches iſt es in allen Bildern Gebhardts. Stumpfe Gewohnheit ſieht darin 


366 Gedenktage 
leicht übertriebenes Pathos. Als „theatraliſch“ aber haben es ſelbſt feine Gegner nie bezeich⸗ 
net, denn fie ſpürten die Echtheit dieſes künſtleriſchen Empfindens. Ein nie gealtertes Tempera 
ment, eine vollſtändig hingeriſſene, darum packende Leidenſchaftlichkeit durchbebt alle Verle 
dieſes Künſtlers. In der Rompofition feiner Bilder iſt er deshalb manchmal gewaltſam ge- 
worden, aber immer eindringlich geblieben. Die Farbigkeit, die anfangs oft etwas bunt war, 
hat er immer mehr zur abgeklärten Ruhe gedämpft. Freilich, wer den eigentlichen Maler 
Gebhardt, den Ourchſeeler der Farbe kennenlernen will, muß zu feinen Bildniſſen oder zu den 
meiſterlichen Studien für ſeine großen Bilder greifen. In beiden erweiſt er ſich überdies als 
einer der tiefſten Ergründer menſchlichen Seelenlebens. Und darum wird ſein Name in vollem 
Glanze leuchten, wenn zahlreiche von denen, die uns als Verkünder der Zeitſeele angeprieſen 
worden ſind, mit dieſer Zeit längſt verſunken ſein werden. 


* 


Die hundertſte Wiederkehr des Geburtstages Jakob Burckhardts am 25. Mai gab 
vielfachen Anlaß, ſich mit dem großen Geſchichtſchreiber der Renaiſſance zu beſchäftigen. Die 
Reihe ſeiner bedeutenden Werke von der „Zeit Konſtantins des Großen“ über den „Cicerone“ 
zur „Kultur der Renaiſſance in Stalien“ und der „Geſchichte der Renaiſſance in Italien“ find 
1855 bis 1867 erſchienen, und daß ſie heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, immer 
noch die bedeutendſten Darſtellungen der betreffenden Gebiete find, iſt in der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Literatur eine ſolche Ausnahmeerſcheinung, daß dafür beſondere Urſachen wirkſam ſein 
müſſen. Dieſe Fähigkeit, „von Dauer zu ſein“, hat Goethe dem genialen Werke zugeſprochen, 
das nur dem wirklich ſchöpferiſchen Menſchen gelingt. Hier iſt in wiſſenſchaftlichem Gewande 
Künſtlertum am Werke. 

In der Tat iſt Burckhardt eines der feſſelndſten Beiſpiele dafür, daß die wahrhaft große 
Geſchichtſchreibung auf die Mitwirkung der Phantaſie angewieſen iſt. „Inneres äußerlich 
machen, darſtellen zu können, ſo daß es als ein dargeſtelltes Inneres, als eine Offenbarung 
wirkt,“ war Burckhardts Beftreben, und es paßt auf ihn, was er einmal vom Dichter ſagt: „Bloß 
Außerliches noch einmal äußerlich zu geben, vermögen viele — jenes dagegen erweckt im Be- 
ſchauer und Hörer die Überzeugung, daß nur der eine es gekonnt, der es geſchaffen, daß er alſo 
unerſetzlich geweſen.“ So war ihm die dichteriſche Phantaſie ein Mittel, „die Lücken der An- 
ſchauung zu ergänzen“. 

Wir erleben hier bei Burckhardt beſonders deutlich, wie ſich dieſe „Produktivität“, nach 
Goethe das Kennzeichen des Genies, auch wider Willen in die wiſſenſchaftliche Tätigkeit 
ausjtrömt, und deshalb in dem betreffenden Menſchen der vorher ſtarke Orang nach dichteriſcher 
Tätigkeit einfach abſtirbt. 1859/40, als Burckhardt im kunſtfrohen Haufe feines Berliner Leh⸗ 
rers Franz Kugler mit zahlreichen Dichtern und Küͤnſtlern verkehrte, und noch mehr ein Zahr 
ſpäter, als er in Bonn mit Gottfried Kinkel von alter und neuer Rheinherrlichkeit ſchwärmte, 
hat Burckhardt an feinen Oichterberuf geglaubt. Und noch einige Jahre ſpäter (Auguſt 1844) 
ſchrieb er feinem Freund Beyſchlag: „Ich bin nicht unglücklich, aber unbeglückt, bis wieder 
etwas goldene Muſe und etwas Poeſie zurückkehrt ... Ich muß freiwillig oder unfreiwillig 
als einen Pfeiler meines Lebensglüdes die Dichtung nennen. Es iſt nicht Übermut, ſondern 
Notwendigkeit...“ Er hat aber alles in allem nur zwei zuſammen kaum fingerdicke Bänd⸗ 
chen Gedichte veröffentlicht. Beide ohne Namensnennung. 1849 die Herbſtgabe „Ferien“ 
und vier Jahre ſpäter „E Hämfeli Lieder“ in feiner Bafler Mundart. Später iſt er kein Zeit · 
dichter geworden, wie er in feiner Jugend gedacht hat, ſondern ein Zeitſchauer, ein Deuter 
des Weſens der Menſchheitsgeſchichte und unvergleichlicher Darfteller einer ihrer bedeutend 
ſten Abſchnitte. Was Goethe von Winckelmann rühmte, trifft auf ihn zu: „Er ſieht mit den 
Augen, er faßt mit dem Sinn unausſprechliche Werke, und doch fühlt er in unwiderſtehlichem 
Orang, mit Worten und Buchſtaben ihnen beizukommen. Das vollendete Herrliche, die Idee, 


Gedenktage a 367 


woraus die Geſtalt entſprang, das Gefühl, das in ihm beim Schauen erregt ward, ſoll dem 
Hörer, dem Leſer mitgeteilt werden .. Er muß Poet fein, er mag daran denken, er mag wollen 
oder nicht.“. (Vgl. „Jakob Burckhardt als Dichter“ von Karl Emil Hoffmann. Baſel 1918, 
Helbing & Lichtenhahn.) N 

85 

Der Krieg darf uns nicht abhalten, auch des hundertſten Geburtstages des Franzosen 
Charles Gounod zu gedenken. Es gibt ſolcher feiner, auch menſchlich edler Künſtlernaturen 
nicht ſo viele, daß man ohne weiteres auf ihren Beſitz verzichten könnte. Man darf es um ſo 
weniger, wenn, wie bei Gounod, mancherlei Beziehungen zur Kunſt des eigenen Landes ficht- 
bar werden. Da ſtößt man bei manchen guten Oeutſchen zunächſt wohl auf ein unwilliges 
Aufbegehren. Auch ich ärgere mich darüber, daß Gounods „Margarete“ noch immer zu den 
meiſtgeſpielten Werken des deutſchen Opernſpielplans gehört. Dabei bleibt es allerdings 
eine arge Ungerechtigkeit, wenn dieſes Werk immer in einem Atem mit der „Mignon“ des 
aus Lothringen ſtammenden Ambroiſe Thomas genannt wird. Das läßt ſchon der muſikaliſche 
Vertunterſchied nicht zu. Gounods Oper gehört zu den muſikaliſch reichſten Werken der Opern- 
bühne. Ohne beſondere Kräfte vermag ſich keine Oper ſechzig Jahre lang in fo ſtarker Wirtfam- 
keit zu erhalten. Gounod iſt ein Vollblutmuſiker mit reicher melodiſcher Erfindung, voll packen 
den rhythmiſchen Temperaments, glänzend, wenn auch etwas äußerlich in der Charakteriſtik 
und von eindringlicher Süße der Melodie. Daß das alles franzöſiſch gefärbt iſt, iſt für den Fran- 
zoſen ein Ruhmestitel; wenn es uns Deutſchen trotzdem fo viel Genuß und Freude bereitet, 
liegt die Annahme nahe, daß im tieferen Untergrunde doch uns verwandte Kräfte walten. 
And ſo iſt es in der Tat. Seine leidenſchaftliche Liebe zu Mozart, über deſſen „Don Juan“ er 
eine feinſinnige Analyſe geſchrieben hat, und fein inniges Verhältnis zu Schumann haben 
Sounods Muſikertum ſtark befruchtet. 

Nein, der Muſik iſt Richard Wagner nicht gerecht geworden. Wenn ſie wirklich nur die 
„Arbeit eines untergeordneten Talentes“ wäre, „das es zu etwas bringen möchte und in der 
Angſt nach jedem Mittel greift“, wäre die Oper „Margarete“ wahrſcheinlich ſchon längſt von 
unferer Bühne verſchwunden, gleich Roſſinis „Tell“, neben dem Wagner ſie als Beiſpiel des 
„Dinabſteigens des deutſchen Theaters zum Niederträchtigen“ anführt. Doch hier liegt die 
Hauptſchuld beim deutſchen Publikum. Den Franzoſen wird Goethes Gretchen wohl immer 
unverſtänd lich bleiben, dem Oeutſchen müßte es heilig fein. In der Verbiegung dieſer Geſtalt 
liegt das größte Bedenken, das ich gegen das Textbuch der Gounodſchen Oper hege. Daß ſie 
uns vom eigentlichen Fauſt nichts gibt, wäre kein Schaden; denn Goethes Dichtung wird da- 
durch dem deutſchen Volke nicht angetaſtet. Wohl aber geſchieht das durch die Verfälſchung 
eines gefühlsmäßig ſofort zu erfaſſenden Charakters, wie Gretchens. In mancher Hinficht 
ließe ſich an dieſem Werke die Pſychalogie des Operntextes ſtudieren. 

In Frankreich iſt übrigens Gounods acht Jahre ſpäter (1867) liegende Oper „Romeo 
und Julie“ höher geſchätzt, und warum man den „Arzt wider Willen“ nach dem ſchönen Er- 
folg, den die Komiſche Oper in Berlin mit der Wiedererweckung 1910 errungen hat, wieder 
preisgab, verſtehe ich bei der Armut an komiſchen Opernwerken nicht. 

Gounods muſikaliſches Geſamtſchaffen iſt außerordentlich reich. Er hatte als Einund- 
zwanzigjähriger (1859) den großen Rompreis des Konſervatoriums gewonnen und benutzte 
den Aufenthalt in Italien zum eingehenden Studium Paleſtrinas. Damals dachte Gounod 
nur an Kirchenmuſik, war ſogar nahe daran, Prieſter zu werden. Es war wohl hauptſächlich 
Schumanns Mufit, die feinen Sinn fürs Poetiſche weckte, das wie bei allen franzöſiſchen Muſi- 
kern einen weſentlich dekorativen Einſchlag hatte und Gounod auf ſeinen Landsmann und 
Mitſchüler bei Leſueure, Berlioz, verwies. Das Veltkind in Gounod war erwacht und wandte 
ſich mit Leidenſchaft dem Theater zu. Es iſt bezeichnend dafür, wieviel leichter in Frankreich 
den Bühnenkomponiſten der Weg offenſteht, daß ihm verſchiedene Mißerfolge den Zugang zu 


568 Gedenttage 


den Pariſer Opernhäuſern nicht zu ſperren vermochten, bis endlich der fünfte Anlauf 1859 
mit „Margarete“ den großen europäiſchen Erfolg brachte. 

Seit 1852 hatte er als Direktor der Pariſer Männergeſangvereine und Geſangſchulen 
auch eine ſegensreiche kunſtpolitiſche Tätigkeit begonnen. Gounod iſt einer der fruchtbarſten 
Chorkomponiſten Frankreichs, und wenn ſeine größeren Kirchenkompoſitionen den ſtrengen 
Anforderungen, die vom deutſchen Cäcilianismus in der katholiſchen Kirche wieder zur Herr- 
ſchaft gebracht worden find, nicht genügen, jo find. die kleinen Stücke durch die Verbindung 
würdiger Haltung mit echt volkstümlicher Melodie ausgezeichnet. Unter den großen Chor- 
werken iſt die „heilige Trilogie Tod und Leben“ für unſer Gefühl zu ſehr durch den engen 
Anſchluß an die katholiſche Totenmeſſe gehemmt. Dagegen zählt die „Redemption“ zu 
den bedeutendſten Schöpfungen in der langen Reihe von Verſuchen, Chriſtum und ſein Werk 
darſtellend zu verherrlichen. Gewiß wirkt auch hier auf uns manches theatraliſch, aber die 
überwältigend innige Art, mit der Chriſti Reden geſungen werden, bezeugt Gounods tief 
religiöfes Empfinden und hohes muſikaliſches Vermögen. 

An einfachen Dingen merkt man oft die größte Verſchiedenheit der Völker. Das be- 
kannteſte Inſtrumentalſtück Gounods iſt die „Meditation“ über das erſte Präludium aus Bachs 
Wohltemperiertem Klavier. Der alte deutſche Meiſter gibt uns nur das Wogen gebrochener 
Akkorde und trägt auf ihnen den Geiſt des Hörers in die Weite. Iſt's ein Träumen unter rau- 
ſchenden Baumwipfeln, auf hoher Halde mit dem Blick in ziehendes Gewölk, iſt's das Schwei- 
fen der bewegten Phantaſie ins unbegrenzte Land des Geiſtes, iſt es das Auf und Ab des müh- 
ſam gebändigten Gefühls in heimlich verſchloſſenem Herzen? — Oer deutſche Künſtler läßt es 
unbeſtimmt. Ihm und uns iſt dieſe Muſik an ſich, dieſe Entbindung zuvor ruhiger Tonmaſſen 
zu innerlicher Bewegtheit völlig genug. Dem Franzoſen iſt das nur Vorbereitung, er braucht 
die Beſtimmtheit, er kann das nur innere Singen nicht vertragen und hält es für nötig, eine 
ausgeſprochene Melodie hinzuzufügen. Das iſt ſicher ein tiefliegender Unterſchied zwiſchen 
deutſch und franzöͤſiſch und gäbe ein ſchönes Beiſpiel ab; aber leider geht die Rechnung nicht 
auf, denn Gounods „Meditation“ hat beim breiten deutſchen Publikum Bachs Präludium 
erſt beliebt, wenn nicht gar erſt bekannt gemacht. 

In alledem ſpricht ſich doch auch ein tiefes Verlangen unſeres Volkes nach leichter, 
ſinnfälliger Melodie aus, dem durch unſere große Muſik oft nicht Genüge getan wird. Dieſes 
Verlangen iſt jo mächtig, feine Erfüllung wirkt fo hinreißend, daß alle kritiſche Überlegung 
verſtummt. Hier liegt auch die letzte Erklärung für den Erfolg der „Margarete“. Denken wir 
an das auf die gleiche Urſache zurückgehende UAberwuchern der Operette, jo werden wir noch 
froh fein, wenn ſich unſer Volk die Ergänzung zur deutſchen Muſik bei fo echten Künſtlern ſucht, 
wie Gounod einer war. Karl Storck 


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Der Krieg 


NS N @ as alte trübe Lied, das Lied von dem böſen Erbmangel deutſcher Art, 
(8 N dem Mangel nationaler Inſtinkte! Zn der „Deutfhen Zeitung“ 
€: 7 batte es Leopold Baron v. Dietinghrff-Scheel wieder angeſtimmt: 
man verdeutſche dies Fremdwort durch „Herdentrieb“, und ſofort 
werde klar, woher der Mangel jener Inſtinkte bei uns Oeutſchen rührt. „Unſere 
Nachbarn, namentlich die ſogenannten Romanen, zählen durchweg zu den Herden 
völkern, wir dagegen find das ausgeprägteſte Perſönlichkeitsvolk, das es gibt. 
Bei jenen daher viel Anlehnungs- und Vergeſellſchaftungsbedürfnis, das zu Ge- 
meinſchaftsſinn führt; bei uns Neigung zur Vereinzelung, Abſonderung und dem- 
entſprechend Abneigung gegen Befaſſung mit den Angelegenheiten anderer, alſo 
auch der Geſamtheit.“ Darin aber liege die immerwährende Gefahr, völkiſch 
zugrunde zu gehen. 

„dieſe Gefahr wird noch erheblich vermehrt durch einen weiteren Mangel, 
der leider wirklich als ein deutſcher Erbfehler zu bezeichnen iſt. Ihn mit einem 
einzigen Worte erſchöpfend und völlig treffend zu benennen iſt freilich ſchwer. 
„Mangel an nationaler Leidenſchaft' drückt vielleicht am beſten aus, was 
gemeint iſt, ſchärfer jedoch als jede beſchreibende Erklärung wird Anführung einiger 
Beiſpiele Art und Weſen dieſes Erbfehlers beleuchten, und — an ſolchen Beiſpielen 
iſt die deutſche Geſchichte nur zu reich, bietet leider auch der gegenwärtige Krieg 
eine erſchütternde Fülle dar. Sie iſt ſo groß, daß es geradezu als Pflicht erſcheint, 
den Finger immer wieder auf dieſe Wunde, die faſt einer Schwäre gleichkommt, 
zu legen, dem deutſchen Volke immer wieder wenigſtens die gröbſten, aus dieſem 
Mangel heraus begangenen Sünden in voller Schärfe vorzuhalten. 

„King Stephan‘. — Ich fürchte, es gibt ſchon ſehr viele Deutfche, bei denen 
ſich mit dieſem Namen keine deutliche Erinnerung mehr an ein beſtimmtes Ge- 
ſchehnis verknüpft, aber — wie dem auch ſei — in wieviel Herzen bebt auch wohl 
nur noch eine Spur von Zorn über jene feigen Schufte, welche unſere Zeppelin 
leute mit kalter Mörderluſt dem Ertrinken preisgaben, obwohl ſie ſie retten konnten? 

Der Türmer XX, 20 24 


379 Zürmers Tagebuch 


Seien wir ehrlich, — in ſehr wenigen ſchlägt heute der Puls im Gedanken an 
jene Untat auch nur um einen Schlag ſchneller. Vergeſſen! ö 

„Baralong“. — Dieſer Name, mit einer der niederträchtigſten Freveltaten 
unſerer Feinde verknüpft, iſt ja freilich noch nicht verſunken und vergeſſen, aber 
ſeien wir auch hier ehrlich: wo färbt ſich noch eine Wange rot von heiligem Zorn, 
erinnert man einmal an ‚Baralong‘? 

Die deutſchen Gefangenen in Frankreich. Es gab eine Zeit, wo über 
üble Behandlung unſerer Gefangenen in Frankreich die Preſſe beileibe kein 
Sterbenswörtlein bringen durfte; es ſollten — fo hieß es — keine Haß; und 
Rachegefühle erweckt werden. Ich fürchte, die Herren, die fo verfügten, haben 
ſich unnütze Sorge gemacht. Jetzt darf ja über derlei geſchrieben und berichtet 
werden. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht ein zweifellos feſtgeſtellter Fall 
unerhörteſter, teufliſchſter Grauſamkeit, von Franzoſen an deutſchen Ge- 
fangenen begangen, mitgeteilt wird. Erweckte das irgend eine meßbare Erregung 
im deutſchen Volke? Nun, ich fürchte, auch der feinſte Beobachter wird davon 
nichts feſtſtellen können. Es iſt auch durchaus nicht ſo, daß die Erregung etwa vor- 
handen wäre, aber, der deutſchen, ſtillen Art entſprechend, nicht lärmend nach 
außen hin in die Erſcheinung träte. Man rede über jene Grauſamkeiten mit noch ſo 
vielen Perſonen aus noch ſo verſchiedenen Kreiſen und Schichten, — man wird 
nicht den Eindruck gewinnen, als nähmen das Herz, die Seele ſehr tiefen, innerlichen, 
aus Schmerz und Zorn geborenen Anteil an dem Leiden der gepeinigten Volks- 
genoſſen. 

Die Hinmordung deutſcher Gefangener in Rumänien. Tauſende 
Deutſcher find in den Gefangenenlagern in Rumänien unter den unmenſch— 
lichſten Qualen und Peinigungen langſam zum Tode gebracht wor- 
den. In allen Einzelheiten berichteten die Zeitungen darüber; nicht nur die 
großen, hauptſtädtiſchen Blätter, nein, auch die kleinſten Blättchen in dem kleinſten 
Städtchen, wie es ſich ja auch gebührt. Hat ſich da etwas wie heiliger Volkszorn 
oder dergleichen geregt? Da darf es freilich kaum wundernehmen, daß das Aus- 
bleiben jeglicher Sühne jener Schandtaten an den deutſchen Gefangenen beim 
Abſchluß des Friedens mit Rumänien gleichfalls ſpurlos am deutſchen Volks- 
empfinden vorübergegangen iſt. Man ſtelle ſich vor: das Volk, zu deſſen Ange- 
hörigen jene verruchten Mörder an Tauſenden von Deutſchen zählen, lag beſiegt 
zu unſeren Füßen. Wir hatten alſo die Möglichkeit, jede Sühne zu for 
dern und zu erlangen. Wir verzichten darauf ſo rundweg und glatt, als hätten 
wir an derlei überhaupt nicht einen Augenblick gedacht und — das deutſche Voll 
brauſt ob ſolchen Vergeſſens der Frevel an Tauſenden ſeiner Söhne nicht in 
brennendem Zorn auf, ſondern verharrt in ſeiner überwältigenden Mehrheit in, — 
nun ja, eben in völliger ‚nationaler Leidenſchaftsloſigkeit“. ..“ 

So berechtigt an ſich dieſe Anklage iſt, ſo glühend die hier vorgebrachten 
ſchimpflichen Tatſachen jedem Deutſchen auf der Seele brennen müſſen 
oder — müßten —: in das rechte und gerechte Licht, in den Brennpunkt ſind 
ſie erſt durch eine Erwiderung gerückt worden, die aber in den übrigen Punkten 
durchaus zuſtimmend bleibt: „Es iſt wahr und iſt zu bedauern, daß die ſich ſtets 


Sürmers Tagebuch | | 371 


mehrenden Nachrichten über Mißhandlungen der deutſchen Gefangenen nicht 
ſchon längſt einen leidenſchaftlichen Sturm bei allen Oeutſchen entfacht haben. 
Die Schuld dafür, daß es nicht geſchehen iſt, trifft aber weniger das deutſche Volk, 
als in erſter Linie ſeine berufenen Vertreter, die Regierung und den 
Reichstag, dazu alle Männer, die im öffentlichen Leben ſtehen und Ge— 
legenheit haben, in Schrift und Wort ihre Meinung zu äußern. Denn 
wer iſt das Volk? Auch ich ſchätze das deutſche Volk mit dem Verfaſſer in jeder 
Beziehung höher ein als ein rumäniſches. Aber es bleibt etwas allen Völkern 
Gemeinſames. Ein Volk iſt die Summe vieler Tauſende und beſteht aus einzelnen 
Perſonen. Es iſt ohne Führer doch nur eine Herde ohne Hirten. Ein Volk will 
geführt ſein, es blickt nach ſeinen Führern und läßt ſich gern leiten. Von den 
Führern muß es immer wieder Stimmung und Zielweiſung bekommen. Wir 
haben leider mehr und mehr das Gefühl, daß wir überhaupt nicht geführt werden. 

Wie ſoll der einzelne ſeinen Willen äußern? Soll er in noch mehr Vereine 
eintreten, Geld, Zeit und Kraft für fie opfern, ſoll er Verſammlungen beſuchen 
und Entſchließungen faſſen? Das iſt geſchehen. Sollen alle Spalten der Zeitungen 
von ſeinen Forderungen widerhallen? Das iſt den meiſten gar nicht möglich, auch 
wenn ſie Wertvolles zu ſagen haben. Das Volk kann ſeinen Willen in der 
Hauptſache nur durch ſeine gewählten Vertreter und durch ſeine Re— 
gierung äußern. Und da muß es in dieſer Zeit den Schmerz erleben, daß ſich 
jene oft wohl für fremde Völker und ihre Vorteile ereifern, aber nur ſchwäch- 
lich oder gar nicht für die bedrängten deutſchen Brüder im Auslande und für die 
armen Gefangenen eintreten. Was ſoll der deutſche Bürger tun? ſo fragen wir 
nochmals. Die Berichte über Völkerrechtsbrüche unſerer Feinde begannen mit 
dem erſten Tage des Krieges und reißen bis heute nicht ab. Dicke Bände ſind 
darüber geſchrieben worden. Sie ſind nicht zur Vergeſſenheit geſchrieben, 
ſondern ſind uns für immer ein zwar ſchmerzliches, aber klares Zeugnis, daß 
die vielge rühmte Kultur unſerer Feinde doch nur eine Tünche 
über viehiſche Roheit und Gemeinheit war. Manchmal ſind die Berichte 
ſo unglaublich, ſo entſetzlich, daß man ſie vor Grauen nicht mehr zu Ende leſen 
möchte. Das iſt keineswegs gleichgültig vergeſſen! O nein! Um ſo ſchmerzlicher 
wirken wiederum die Berichte über die Gefangenenbehandlung bei uns. Wir 
führen mit ſtolzer Genugtuung jeden neutralen Vertreter durch die Gefangenen- 
lager in Oeutſchland und heimſen die Lobſprüche ein, weil wir nicht nur 
alles durch Völkerrecht Vorgeſchriebene tun, ſondern in ſchon übertriebener 
Weiſe für Belehrung, Unterhaltung, Beluſtigung und Sport der Herren Gefange- 
nen ſorgen. Dem deutſchen Volk prägt ſich ein doppeltes Empfinden tief ins 
Herz, nämlich einmal Schmerz, Zorn und Haß gegen die Feinde, und das iſt gut. 
Nicht nur die Väter und Mütter, die Frauen und Kinder werden die quälende 
Frage nicht los: Mußte denn unſer Sohn, unſer Vater ſo elend zugrunde gehen, 
gibt es keine Sühne dafür?, auch allgemein iſt die Meinung, daß Deutſchlands 
tapfere Söhne ein anderes Los verdient hätten. Das andere Empfinden iſt die 
leider ſich ſtets mehrende Gewißheit, daß uns vieles gefliſſentlich 
verheimlicht worden iſt und daß die berufene Vertretung des deutſchen 


372 | | j  Zürmens Tagebuch 


Volkes immer erſt nach langem Zögern mit Gegenmaßnahmen ge- 
droht hat, die Ausführung aber ſchwächlich oder auch gar nicht ein- 
getreten iſt. 

Sollte das Volk dazu Skandal ſchlagen, ſollte es ſich vornehmen: ‚Diefer 
Regierung keinen Pfennig mehr?“ Ja, in der Tat, es iſt die allerhöchſte Zeit, 
daß etwas geſchieht, ehe noch mehr der Beſten und Treuſten im Lande dazu kommen, 
zu jagen: Es müßte noch viel Schlimmer kommen, damit endlich einmal wirkliche 
Abhilfe geſchaffen wird! | 

Auch die Erfahrungen bei den Friedensunterhandlungen mit Rußland und 
Rumänien ſind wenig erfreulich. Daß bei Ausbruch des Krieges die deutſche 
Geſandtſchaft ausgeplündert und ein alter Beamter, der zum Schutze des 
Gebäudes zurückgeblieben war, ermordet wurde, die hinreichend bekannten Greuel 
in Oſtpreußen ſind nicht vom Volke, wohl aber von den Vertretern 
des Deutſchen Reiches vergeſſen worden. Einer der Hauptſchuldigen, der 
Großfürſt Nikolai iſt als Gefangener in deutſcher Gewalt. Aber die Regierung 
ſcheint Wert darauf zu legen, ihn nur als Großfürſten ehrenvoll zu be— 
handeln, bis er eines Tages wie Großfürſt Michael entwiſcht iſt und wieder 
für uns ein gar gefährlicher Gegner wird. 

Noch mehr regt ſich der Zorn des Volkes, wenn es an den rumäniſchen Frieden 
denkt. Die Regierung Rumäniens hat in voller Abſicht unſere dortigen 
Gefangenen zu Tode gemartert. Noch im März d. 3. hat der inzwiſchen auf 
dem Schlachtfelde gefallene Graf von Preyſing in aller Öffentlichkeit zahlen- 
mäßig nachgewieſen, daß in den rumäniſchen Gefangenenlagern unſere Sol- 
daten bis zu 99 vom Hundert elend umgekommen ſind. Varen unſere 
Vertreter in Bukareſt gar nicht in der Lage, dafür ſofortige, gründliche Sühne zu 
verlangen, ehe es zur Unterzeichnung des Friedens kam? Rumänien war völlig 
in unſeren Händen. Wenn jetzt nachträglich im Reichstage ſchwächliche Forderungen 
an Rumänien erhoben werden, ſo kennen wir die dortige Regierung nach den 
Erfahrungen des Krieges doch wohl hinreichend und werden auch an etwaige 
Verſprechungen nicht glauben. Es iſt zu ſpät, die Gelegenheit iſt verpaßt. 

Und dieſe Erwägung führt zum letzten. Warum haſſen uns überhaupt 
die Völker? Warum können es Staaten von der Sorte Liberias, San 
Salvadors, Perus und Bolivias wagen, Deutfchland den Krieg zu erklären? 
Weil ſie uns nicht achten! Schon der lächerliche Verſuch der Begründung von 
jener Seite zeigt das. Wir bedrohen angeblich die Freiheit dieſer Staaten. Es 
weiß jeder längſt, daß es die Trinkgelder der Entente ſind, die überall die niedrigſten 
Inſtinkte, die Habgier nach deutſchem Vermögen und Beſitz, entfacht haben. & 
iſt ja fo bequem, den ſchutzloſen Deutfhen im Auslande zu überfallen 
und auszuplündern. Die Zriedensverhandlungen Oeutſchlands zeigen, daß 
Strafe und Sühne dafür nachher vergeſſen werden. Einem Engländer 
im Auslande, und wäre es ein kleiner Kaufmannslehrling, wagt man fo etwas 
nicht zu bieten. 

Kurz, das deutſche Volk hat die Greueltaten an feinen Tapferen keineswegs 
vergeſſen, es hat ebenſowenig in „nationaler Leidenſchaftsloſigkeit“ die Nachrichten 


Tarmers Sagebuch | 3873 


von den Friedensſchlüſſen hingenommen. Vielmehr ſind die deutſchen Herzen 
von Schmerz und Zorn bewegt. Wenn ſich dieſe Empfindungen nicht laut genug 
äußern, fo liegt das an den berufenen Führern des Volkes.“ 


= * 
* 

Als dies geſchrieben wurde, da konnte der Verfaſſer noch nicht ahnen, welcher 
klaſſiſche Zeuge für die Wahrheit feiner Ausführungen auftreten werde, da 
hatte — Herr v. Kühlmann noch nicht fein politiſches und völkiſches Glaubens- 
bekenntnis fo offenherzig abgelegt, wie noch nie. Jetzt hat er es getan — in feiner 
Reichstagsrede vom 24. Juni. Wenn aber Herr v. Kühlmann, der Leiter unferer 
auswärtigen Politit, der „geborene Staatsmann mit den unnachahmlichen Griffen“, 
nicht zu den „berufenen Führern“ unſeres Volkes zählen ſollte, wer dürfte dann 
als ſolcher noch gelten? Aus eigenem Munde dieſes „berufenen Führers“ beſitzen 
wir alſo das klaſſiſche Zeugnis, weſſen wir uns von ſolcher Führerſchaft verſehen, 
welche „Achtung“ wir noch von unſeren Feinden, von der „Welt“ er- 
warten dürfen, und wie wenig, wie blutwenig alle Schläge Hindenburgs-Luden- 
dorffs, alle Opfertaten unſeres ſiegreichen Heeres zu unſeren Gunſten ins Gewicht 
fallen. Unferem gequälten, in ſtiller Geduld und heroiſcher Entſagung ſich durch- 
hungernden Volke reißt er, ſoweit es an ihm, dieſem „berufenen Führer“, liegt, den 
letzten Hoffnungsanker aus blutendem Herzen: die Hoffnung auf ein abſehbares 
und ſieggekröntes Ende, indem er ihm „mit müder Grabesſtimme“ die Troſt- 
loſigkeit des ſiebenjährigen, ja des dreißigjährigen Krieges an die Wand malt! 
Und das alles in ſchriller Mißtönigkeit, in kraſſem Gegenſatze zu den aufrichtenden 
Erklärungen unſerer großen Heerführer und dem noch in uns allen nachklingen- 
den Bekenntnis des Kaiſers, daß dieſer Krieg ein Krieg gegen den angel- 
ſächſiſchen Geiſt, den Götzendienſt des Geldes ſei und daß der Sieg „er 
zwungen“ werden müſſe. Aus dem „berufenen“ Munde des amtlichen Ver- 
treters der deutſchen Auslandspolitik, vor der denkbar breiteſten Öffentlichkeit der 
Welt, vom Regierungstiſche des deutſchen Reichstages! 

In den Sätzen, die überhaupt einen Inhalt hatten — das übrige waren 
Zumutungen erſtaunlicher Banalität —, läßt ſich die Rede nur als eine mit 
Leichenbittermiene herausgeorgelte Grabrede auf deutſchen Siegeswillen 
und deutſche Siegeshoffnung kennzeichnen. „Laßt alle Hoffnung draußen!“ — 
nur mit dem kleinen Unterſchiede zwiſchen einem Dante und einem Herrn 
v. Kühlmann. Unter anderem Geſichtswinkel nennt die „Tägliche Rundſchau“ dies 
Rede einen „politiſchen Skandal“. Auch die nachträgliche (inzwiſchen in Ab- 
rede geſtellte) Retuſche an den Schlußſätzen des Staatsſekretärs werde „die 
unerfreulichen Wirkungen nicht ausgleichen können, die dieſe Rede zweifellos im 
Ausland und Inland hervorrufen wird. Waſſer auf die Mühle der Mittler, 
Makler und jedes Hans Dampf. Das Bedenklichſte daran, der fatale Schluß, der 
ſich freilich noch fataler anhörte als er ſich lieft. . . 

Nehmen wir den verhängnisvollen Satz Herrn v. Kühlmanns buchſtäblich ſo, 
wie er ihn nachträglich genommen haben will: „Ohne Gedankenaustauſch wird 
bei der ungeheuren Größe dieſes Koalitionskrieges und bei der Zahl der in ihm 


374 Zürmers Tagebuch 


begriffenen auch überſeeiſchen Mächte durch rein militäriſche Entſchei— 
dungen allein ohne alle diplomatiſchen Verhandlungen ein abſolutes 
Ende kaum erwartet werden können.“ Der Ton macht die Muſik. Und 
Herr v. Kühlmann hat das vorgetragen mit Grabeston, müde, hoffnungslos, in 
jeder Weiſe ſo, wie der Mann es nicht vortragen durfte, der vor den Augen und 
Ohren der Welt in dieſer Zeit und Sache unſer politiſches Geſchäft zu vertreten hat. 
Dieſe Art, ſich und unſere Sache darzuſtellen und vorzutragen, war. ſchlimmſte 
Sünde gegen den Geiſt, moraliſche Sabotage. Man kann Herrn v. Kühl- 
mann nicht für ſo wenig klug halten, daß er ſich nicht des offenen Gegenſatzes voll 
bewußt geweſen ſein ſollte, in den er ſich mit dieſem Kaſſandratone zum Kaiſer 
und zur Oberſten Heeresleitung brachte. Ein folder Gegenſatz, auf offener Reichs- | 
tagsbühne durch einen Staatsſekretär des Reiches zur Schau geftellt, ift einfach g 
ein politiſcher Skandal. ... Die Nation hat ein Recht, ſich von einem immer- 8 
hin moraliſch verantwortlichen Staatsmann ſolche Extratouren zu verbitten. 
Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß Herr v. Kühlmann bei buch- 
ſtäblicher Anwendung ſeines Satzes ja nur Selbſtverſtändliches geſagt habe. Ganz 
gewiß iſt es eine Binſenwahrheit, daß zu einem Friedensſchluß Verhandlungen 
nötig ſind. Aber um dieſer Binſenwahrheit willen war es doch nicht, 
daß Herr v. Kühlmann die Schrecken eines dreißigjährigen Krieges an 
die Wand malte und ſeine Antitheſen gegen die Schwerttheſe von Kaiſer, Kanzler N 
und Feldherr aufſtellte. Er tat es doch nicht um des Buchſtabens, ſondern um des ö 
Geiſtes willen. Und das war böſer Geiſt. Dabei wieder die leichtfertige Wendung, 
wir können uns das leiſten, unſere Mittel erlaubten uns das, aufs Konto Hinden- 
burgs können wir ruhig ſo ſündigen. Politik und Kriegführung gehören ja ganz 
gewiß zuſammen. Aber nicht in dem Sinn, daß die Politik in gefährlichen Experi- 
menten den Gewinn der Kriegführung vergeudet, ſondern in dem, daß 
fie ihn politiſch ausbeutet. Unterſtützung, nicht Durchkreuzung. Aber Voraus- 
ſetzung dabei iſt und bleibt der Sieg des Schwertes. Mit bitterem Recht ſtellte Graf 
Weſtarp feſt, daß Herr v. Kühlmann, der fein Wort hoffentlich nicht ganz ſo unglüd- 
ſelig gemeint habe, wie er es formulierte und vortrug, damit Mord am Geiſt 
beging, an der Seele des Heeres und des Volkes. — Zutreiberdienſt für 
Britanniens Gimpelfängerei.“ 
Mehr als ſonſt, mehr auch als ihm hätte nützlich erſcheinen ſollen, urteilt die 
„Deutſche Tageszeitung“, offenbarte Herr v. Kühlmann die Tiefen feiner 
eigentlichen und ihm eigentümlichen Gedankengänge. „Seine England 
zugewandte Denkungsart trat zu wiederholten Malen mit aller Oeutlichkeit zu— 
tage; fie offenbarte ſich vor allem in dem Peſſimis mus, der über feiner ganzen 
Rede bleiſchwer laſtete, der ihn hindert, mit innerer Kraft und Zuverſicht an ein 
Niederringen Englands zu glauben, und ihm das Ende des Krieges beſtenfalls 
als Remispartie vor Augen ſtehen läßt. Auf dem Staatsſekretär laſtet düſterer 
Peſſimismus; und er bringt es fertig, in einer Zeit, da Tauſende, getragen von 
der unerſchütterlichen Zuverſicht und dem Glauben an den Erfolg ihres Selbit- 
opfers, täglich und ſtündlich ſtarkherzig dem Tode ins Auge blicken, den Satz zu 
prägen, daß ohne Vorverhandlungen die militäriſchen Erfolge keine abſolute Ent- 


Zürmers Tagebuch 375 


ſcheidung herbeiführen können. Wem fagt er das? Den Gegnern? Die haben 
wahrlich keinen Überfluß an dem Artikel. Alfo ſagt er es dem eigenen Volke, 
dem eigenen Heer, das auf die militäriſchen Siege hofft, in ihnen Markſteine 
ſieht auf dem Wege zum Frieden. Hineingeſtellt in die Gänge dieſer Rede, gemeſſen 
an ihrer ganzen Tonart und Tendenz, gewinnt er ein Geſicht, das die ſozial⸗ 
demokratiſche ‚Internationale Korreſpondenz“ — nicht uns — veranlaßt, ihrem 
Kommentar zu des Staatsſekretärs Ausführungen die Überſchrift zu geben: 
‚Rühlmann, der Oefaitiſt“.“ 

Wohlgemerkt: die ſozialdemokratiſche „Internationale Korreſpondenz“ 
prägt dieſes Wort. Und die freiſinnige „Voſſiſche Zeitung“ ſtellt feſt: „Der eng- 
liſche Miniſter des Auswärtigen hatte in ſeiner letzten Rede wieder einmal dem 
Deutſchen Reiche vorgeworfen, den Krieg entfeſſelt zu haben. Wenn ein deutſcher 
Staatsmann auf dieſen Vorwurf überhaupt noch erwidern wollte, ſo durfte er das 
nur dann, wenn er der Überzeugung war, den Vorwurf an England zurückgeben 
zu können. Herr v. Kühlmann aber hat als Antwort auf die engliſche Anklage ge- 
ſtern vor aller Welt England von der Schuld an der Entfachung des 
Krieges feierlich freigeſprochen. Die Geſchichte von dem Brandſtifter Ruß- 
land, das aus eigenem Antrieb die Welt in Flammen ſetzte, iſt von ihm wieder 
einmal dem deutſchen Volke erzählt worden. Aber diesmal nicht, um Rußland 
anzuklagen — denn dazu lag gar keine Veranlaſſung vor —, ſondern um England 
zu entlaſten. Und er beſorgte dieſe Entlaſtung ſo gründlich, daß er England 
auch gleich noch Abſolution für frühere hiſtoriſche Schuld erteilte. Und 
er bekräftigt dieſe Legende, indem er Englands neueſte Blutſchuld — die Schuld 
an dem jetzigen Kriege — von Englands Schultern ablöſen und auf Rußlands 
Schultern zu wälzen hilft.“ Noch deutlicher werden die „Berliner Neueſten Nach- 
richten“: „War ſchon der äußere Eindruck feiner Rede höchſt niederdrückend 
und jammervoll, fo war der Inhalt feiner beſſer nicht zum Ausdruck gebrachten 
Gedanken für deutſches Empfinden geradezu empörend. Hindenburgs und 
Ludendorffs ſiegreiche Fahnen wehen ſtolz vor Paris und ſahen die ſchwerſten Nieder- 
lagen der Engländer und Franzoſen. Die Pariſer flüchten in dichten Scharen aus 
ihrer Hauptſtadt und bringen in beſonderen Eiſenbahnzügen ihre Kinder und ihre 
Kunſtſchätze in Sicherheit, im ODeutſchen Reichstag aber ſpricht der Staats 
ſekretär von der Ausſichtsloſigkeit, unſere Feinde militäriſch zum 
Frieden zwingen zu können!! Gibt es in dieſem Augenblick etwas. 
Empörenderes, als die Stimmung unſerer kampfesmutigen und fiegesficheren 
Feldgrauen durch die Ausſicht auf vielleicht noch jahrelangen Feldzug und die 
Ungewißheit des militäriſchen Sieges gewaltſam zu Boden zu drücken? Faſt 
ſcheint es, als ob etwas wie Neid und Wißgunſt gegen die wirklichen Führer 
unſeres Volkes, gegen Hindenburg und Ludendorff, bei Herrn v. Kühlmann mit- 
geſprochen hat.“ 

Die Katze iſt nun aus dem Sack — wird es was nützen? Darf, kann es 
aber ſo weiter gehen? Auch ein ſo treu durchhaltendes, ſo tapfer die Zähne 
zuſammenbeißendes und von einem Kriegswinter in den anderen ſich durchquälen- 
des Volk, wie unſer deutſches, muß ja endlich erlahmen, wenn ihm das, was allein 


376 c Sürmers Tagebuch 


es aufrechterhält: der Glaube an einen ſiegreichen Frieden, die Hoffnung, ſeine 
unerhörten Opfer nicht umſonſt gebracht zu haben, von führender, amtlicher 
Stelle immer wieder zermürbt und zertreten werden. Und wäre es mehr 
als nur menſchlich, wenn einmal auch die Männer, die ihr ganzes Wollen und 
Können, Sinnen und Trachten dahingeben, dieſen Glauben und dieſe Hoffnung 
im Volke zu erhalten und neu zu entfachen, endlich müde würden, ſolche Siſyphus⸗ 
arbeit mit ſchweren und bewußten Opfern an Geſundheit und Leben noch weiter 
zu verrichten, weil ja doch ihr unendlich mühſäliges Werk immer wieder zertrümmert 
wird, und das von „berufenen Führern“, von Amtes wegen?! Gewiß, die 
Gefahr ſteht außerhalb der Befürchtung, daß ſie jemals fahnenflüchtig werden 
könnten; nein, ſie würden auch dann weiterkämpfen bis zum Ende, aber doch nur 
mit dem Bewußtſein des Soldaten auf verlorenem Poſten. Woher ſollten ſie 
noch die eigene Zuverſicht und Freudigkeit ſchöpfen? Es wäre nicht viel mehr, 
als was die Griechen Euthanaſia nannten, ein Sterben in Schönheit. 

Was jetzt noch geſchehen kann und geſchehen muß, um den Eindruck dieſer 
böſeſten aller Kühlmannoffenbarungen in etwas abzuſchwächen, iſt, daß laut, 
nach außen wie nach innen, in die Welt hinausgerufen wird: „Laßt euch nicht 
irren! Die Stimme, die ihr am 24. Juni, wenn auch von einem hohen Regierungs- 
ſitze aus, vernahmt, iſt nicht die Stimme und Stimmung des deutſchen Volkes, 
iſt nicht die Stimme ſeiner in Wahrheit berufenen, von ihm anerkannten 
Führer! Zt nicht die Stimme feiner allverehrten und geliebten Heerführer, 
nicht die Stimme des oberſten Reichsvertreters und nicht die Stimme deſſen, 
bei dem die letzten Entſcheidungen ruhen: des Deutſchen Kaiſers. Wollt Ihr 
aber euch irren laſſen —: nun wohl, ſo tut's, aber — zu eurem Schaden!“ 

Das aber muß dem Volke — mit allen ſich daraus ergebenden Folgerungen — 
auch beſtätigt und bekräftigt werden. Das darf das Volk erwarten, das zu 
erwarten hat es ein heiliges Recht. An Pflichten und Opfern trägt es wahrlich 
genug, dieſes Opferlamm einer Welt. 


Der Kern der Kühlmannrede 
vom 24. Juni wird vom Grafen Reventlow 
mit folgenden einwandfreien Feſtſtellungen 
aus feinen Umhüllungen herausgeſchält: 

„Der Sinn des Kühlmannſchen Gedankens 

iſt klar: die Siege bringen uns den Frieden 
nicht, folg lich müſſen wir den anderen Weg 
gehen und um ‚Verſtändigung“ bei unſeren 
Gegnern werben, wie ja Kühlmann auch 
tut. Die Aufmerkſamkeit der deutſchen Preſſe 
hat ſich hauptſächlich auf den Schlußteil der 
Rede gerichtet, insbeſondere auf die Wen- 
dung Kühlmanns, daß militäriſche Entſchei- 
dungen allein den Frieden nicht bringen 
könnten. Uns erſcheint die angezogene Wen- 
dung viel wichtiger; denn in ihr liegt das 
Bekenntnis zum Gegenteil des Sieg es— 
willens und des Glaubens an den 
Sieg, nicht nur dem Ausdrucke, fon- 
dern auch jedem Sinne nach. Keine Inter- 
pretation vermag das auch nur zu modifizieren. 
Zn dieſen Gedankengängen und Ausdrücken 
liegt das Ung laubliche der Kühlmannſchen 
Rede in erſter Linie und der ſchwere Scha- 
den, den ſie nach innen und außen angerichtet 
bat. In keinem der uns feindlichen Länder 
wäre ein derartiger Vorgang denkbar. Man 
braucht ſich nur das Bild von dieſem Gefichts- 
punkte vorzuſtellen, um nicht nur die Schäd- 
lichkeit, ſondern auch das Beſchämende der 
Sache zu fühlen und zu ermeſſen. 

Wie lange der Krieg dauern werde, ver- 
mag niemand zu ſagen. Daß Großbritannien 
und Amerika verkündet haben, ſie würden den 
Krieg auf der See weiterführen, wenn er 
auf dem Feſtlande nicht mehr geführt werden 
könnte, iſt bekannt. Um fo notwendiger 


iſt es aber, den Willen zum Siege im deutſchen 
Volke nicht nur anzuregen, ſondern ſeine 
Anerläßlichkeit zu begründen. Herr von 
Kühl mann hat das Gegenteil getan; denn er 
will nach den politiſchen Motiven“ zur fo- 
genannten Verſtändigung ‚ausfpähen‘, weil 
er an die Wirkung der Siege nicht 
glaubt. Oabei iſt es logiſch und ebenſo 
im Lichte der Erfahrungen und des We- 
ſens dieſes Krieges ohne weiteres klar, 
daß unſere Feinde durch Zähigkeit den 
militäriſchen und den inneren Zuſammen- 
bruch Deutſchlands erreichen wollen, und 
daß die Deutfchen auch deswegen um ſo mehr 
Sieg und Siegeszuverſicht gebrauchen. Jede 
andere Einwirkung auf die Stimmung des. 
deutſchen Volkes wie des Auslandes wirkt 
als Kriegs verlängerung. Von Beginn 
des Krieges an ſind deutſcherſeits Dutzende 
von Friedensangeboten direkt und indirekt, 
ausdrücklich und unausdrüͤcklich gemacht wor- 
den. Sie haben nur zur Knochenerwei— 


chung im Innern und zur Zuverſicht 


unſerer Feinde beigetragen und nicht 
zuletzt zur Verlängerung des Krieges. 
Bethmann Hollweg war unausgefeßt be- 
ſchäftigt, nach jenen politiſchen Motiven aus- 
zuſpähen, wenn möglich auf Koſten der 
Kriegführung. Die Verzichtreſolution des 
Reichstages hat in gleicher Beziehung 
wie eine Peſt gewirkt und tut es noch.“ 
* 


Der Mann mit der eiſernen 
Maske 


iner von den klügeren Abgeordneten 
hat Herrn von Kühlmann in den erſten 
Wochen ſeiner Tätigkeit einmal den Mann 


2 


578 


mit der eiſernen Maske genannt und hin- 
zugefügt, man weiß nicht recht, was dahinter 
iſt. Wenn gar nichts dahinter wäre, — das 
wäre furchtbar! Heute ſehen wir wohl alle, 
daß in der Tat hinter der eiſernen Maske 
nichts ſteckt, nicht die Spur einer politiſchen 
Idee, nicht die Andeutung einer weltpoli- 
tiſchen Überzeugung. 
mann-Reden vom 24. und 25. Juni ergaben 
in ihrem Zuſammenhange eigentlich nur 
eine Bankerotterklärung ſämtlicher 
Methoden, die uns aus dem Kriege 
herausbringen können. Von den rein 
militäriſchen Methoden will Herr von Kühl- 
mann nichts wiſſen. Verhandlungen von 
Parlament zu Parlament lehnt er ebenfalls 
ab. Bliebe alſo nur noch die diplomatiſche 
Fühlungnahme. Aber auch von der ver- 
ſpricht er ſich bei der Stimmung in England 
und Frankreich nichts. Alles in allem alſo 
die ausgezeichnetſte Ratloſigkeit, die 
nicht vorwärts und nicht rückwärts weiß. 
Wie eine ſolche Natur aber den Krieg 
beenden ſoll, das iſt eine Frage, die uns 
wohl niemand beantworten kann. 

So die „Leipziger Neueſten Nachrichten“, 
und auch die beſten Freunde Herrn von 
Kühlmanns wiſſen keine Antwort. 


Zweigleiſige Meinungsſchiebung 


Der Reichstag muß genommen werden, 
wie er 1911 nun einmal gewählt ward. 
Einen andern zu wählen iſt unmöglich. Sei- 
nen Beſchlüſſen, obwohl nur die einer durch 
Kunſtgriffe zuſammengebrachten Mehrheit, 
wurden Zugeſtändniſſe gemacht, die mit der 
Verfaſſung ſchon in Widerſpruch und Bruch 
geraten. Michaelis wich und fiel vor der 
Stimmenzahl im Parlament. Die Linke, 
oder richtiger ihre Drahtzieher triumphieren, 
daß damit die Unterordnung der Miniſter 
unter das Parlament anerkannt und (angeb- 
lich) grundſätzlich geworden ſei. 

Das preußiſche Abgeordnetenhaus in 
ſeiner viel ſtärkeren „Mehrheit“, die eine 
Mehrheit der Überzeugung und der Über- 
legung iſt, welche dem 19. Juli 1917 zu- 
geſtanden fehlte, erwehrt ſich der Forderung, 


Die beiden Kühl⸗ 


Auf der Warte 


dem bankerottierenden Selbſterhaltungsakt 
eines auch ſo erledigten Nichtſtaatsmannes 
die rechtsgůltige Verewigung zu erteilen. (Die 
inhaltliche Frage hat mit dieſer Parallele nichts 
zu tun; auch ich habe mich für einen gerech⸗ 
teren und vor allem echteren Volksrat mit 
gleichem Wahlrecht ausgeſprochen.) Zweifel 
los hält ſich der Landtag innerhalb einer 
Zuſtändigkeit, für die er eingeſetzt iſt, und 
innerhalb der Verfaſſung. Hier aber heißt 
es nicht: dieſer Verfaſſungskörper muß ge- 
nommen werden, wie er iſt und einmal von 
Rechts wegen beſteht. Hier iſt es nur nicht 
unmöglich, ſondern iſt notwendig, mitten im 
Kriege einen anderen zu wählen. Niemand der 
parlamentariſtiſch jo überaus Grundfäßlichen 
verlangt die parlamentariſtiſche Löſung, daß 
der fortgeſetzt mit feiner Vorlage überftimmte 
Miniſter Drews feinen Rücktritt nimmt. 
Auf den Willen der Krone pochen tajchen- 
ſpieleriſch diejenigen, die ihn eben jetzt end- 
gültig ausgeſchaltet zu haben meinen. Tat- 
ſächlich ſetzen zwei Willen ſich gegenſeltig 
matt, der eine, willensfreiere, der dem Volt 
unter. Waffen die Mitentſcheidung vorbehielt, 
und der zweite, der letzte Notanker Beth 
manns, der den männlichſten, aktiven, opfer- 
reichſten Teil des Volkes um fein Selbſt⸗ 
beſtimmungsrecht verkürzte. ed. h. 


Schafft Politiker! 


o, meint Georg Bernhard in der „Voſſ. 
Ztg.“, müſſe letzten Endes die Forde ⸗ 
rung der Reform unferes politiſchen Oienſtes 
lauten. „Aber wie? Daß ſich Genies nicht 
in beliebiger Menge hervorbringen laſſen, 
weiß jedermann. Aber auch wirklich politiſche 
Köpfe von nur durchſchnittlichem Rang ſind 
in Oeutſchland nicht leicht zu haben. Die 
breiteſte Ausleſemöglichkeit für politiſche Köpfe 
ſollte doch im Reichstag gegeben ſein, der auf 
der Grundlage des allgemeinen, gleichen und 
direkten Wahlrechts zuſammengeſtellt wird. 
Sind dort aber mehr politiſche Köpfe 
zu finden, als man an den Fingern der 
Hände herzählen kann? Wo find denn 
dort die Männer, die an die Spitze des Reiches 
zu ſtellen das geſamte Volk ſehnſüchtig ver- 


Auf der Warte 


langt? Man überſieht in Deutſchland eben 
immer noch zu ſehr, daß jede Diplomatie im 
Grunde genommen eben doch nur ein Ex- 
ponent des geſamten Volkes fein kann. 
Wo ſollen denn in einem Volk, das bis vor dem 
Kriege ſich um politiſche Fragen überhaupt 
kaum kümmerte, die Politiker, die Diploma- 
ten, die Staatsmänner herkommen? Die Re- 
form des Auswärtigen Amtes und der deut- 
ſchen Diplomatie muß daher bei der Politi- 
ſierung des Volkes anfangen. Die Be- 
deutung der auswärtigen Politik für das 
moraliſche und wirtſchaftliche Wohl aller 
Deutſchen muß dem Volke aber erſt ein- 
geimpft werden. Ein Volk, das weiß, daß 
man für die Hergabe eines Talers nicht ſofort 
drei Taler Nutzen haben kann, ein Volk, das 
weiß, daß die beſten und freieſten in- 
länd iſch en Einrichtungen dauernd ohne 
äußere Macht bedroht find, ein Volk, das 
gelernt hat, daß, „wenn hinten weit in der 
Türkei die Völker aufeinanderſchlagen“, auch 
die Sicherheit ſeiner eigenen Hütten 
gefährdet werden könnte, ein ſolches Volk 
iſt ein politiſches Volk. Nur ein politiſches 
Volk aber kann einen Durchſchnitt tüchtiger 
Führer erzeugen und wird nicht mit kindlicher 
Einfalt dauernd darauf warten, daß ihm ein 
Meſſias beſchert wird, dem es dann ſeine poli- 
tiſchen Geſchäfte gedankenlos anvertrauen 
kann. An dieſer wichtigſten Vorbedingung 
zur Reform der deutſchen Diplomatie und des 
deutſchen Auswärtigen Amtes, an der politi- 
ſchen Erziehung des geſamten Volkes — vor 
allem der ſogenannten gebildeten Schichten — 
können und müſſen wir alle mitarbeiten. Dieſe 
Aufgabe kann durch keine Ausſchüſſe und Denk- 
ſchriften gelöſt werden.“ 
* 


Japan und Bethmann ⸗Erz⸗ 


berger⸗Politik 
6 den Erwiderungen des früheren 
japaniſchen Außenminiſters, jetzigen 
Führers der Oppoſition, Barons Kato, auf 
die Fragen des Vertreters der „Daily Mail“ 
hebt die „Oeulſche Zeitung“ beſonders hervor: 
Japan glaubt trotz deutſcher Siege zu 
Land an den Endſieg der britiſchen Flotte, 


379 


an einen ſehr langen Krieg, worin Zapan 
noch viele Geſchäfte auch auf Koſten der 
Angelſachſen machen wird, was Kato aber 
natürlich verſchluckt; an den Rohſtofftod 
Deutſchlands in einem allerdings noch ſehr 
entfernten Zeitpunkt, und ſomit iſt ein 
deutſch-japaniſches Bündnis undenkbar, die 
Fortführung des engliſch-japaniſchen Bünd⸗ 


niſſes aber geboten, weil Japan ſonſt in Ver- 


einzelung geriete. 

Dies alles iſt zutreffend. Japan glaubt 
heute noch an den engliſchen Sieg und ſtellt 
ſeine ganze Politik darauf ein. Aber Hind en- 
burgs Schläge hallen in Nippon kräftig 
wieder, und wird ihre Wirkung nicht 
durch neue Schwächlichkeitendes Reichs- 
tages aufgehoben, ſpürt Japan vielmehr 


den unbedingten Siegeswillen Oeutſch- 


lands, dann, aber auch nur dann würde 
Sapan aus der Vaſallenſchaft der Angel- 
ſachſen aufſteigen können zur Freiheit des 
Kampfes gegen die Angelſachſen. Vorerſt 
beruht, wie Kato es ausſpricht, „mein Ver- 
trauen auf einen Sieg der Entente darin, daß 
fie über überlegene Hilfsquellen, Wider- 
ſtandskraft und Hartnäckigkeit verfügt“. 
Es iſt nicht zu glauben, was uns die 
Bethmann -Erzbergerſche mangelnde 
Hartnäckigkeit im fernen Oſten ge— 
ſchadet hat. 


* 


Ein Sozialdemokrat über den 
Anſchluß Baltenlands 


m vorigen Hefte wurde das Urteil des 
ſozialdemokratiſchen Politikers Ernſt Heil- 
mann über die „baltiſchen Barone“ wieder- 
gegeben, die für ihn „die ſtärkſte Uberraſchung“ 
ſeiner Eſtlandreiſe waren, weil ſie ſo ganz und 
gar nicht der Vorſtellung entſprachen, die man 
ſich „nach deutſchen Zeitungen“ von ihnen 
machen mußte. Statt der vorgegaukelten 
grauslichen „Junker“ aus den Zeiten der Leib- 
eigenſchaft fand er „durchweg Zntellektuelle 
und Aſtheten“, — „gar nichts mehr von dem 
bornierten FJunkerdünkel“. Aber politiſch viel- 
leicht noch beachtenswerter iſt, wie er in dem 
ſelben Blatte („Internationale Korreſpon- 
denz“) über cin enges Verhältnis der drei bal- 


380 


tiſchen Provinzen zum Oeutſchen Reiche 
urteilt: 

„In der Tat ſcheint es uns nicht mehr 
zweifelhaft, und es war mindeſtens im letti- 
ſchen Teil des Landes allgemein Überzeugung, 
daß der Anſchluß der drei Oſtprovinzen an 
Deutfchland bereits unumſtößlich geſichert ſei. 
Schafft die deutſche Verwaltung einige ſoziale 
Gerechtigkeit im Land, find auch große natio- 
nale Konflikte nicht ſehr zu befürchten. Dazu 
iſt die Zahl der Letten und Eſten nicht groß 
genug, dazu fehlt ihnen zu ſehr der Rückhalt 
an einem eigenen Staat außerhalb unſerer 
Grenzen, dazu haben ſie in Ausſehen und 
Denkweiſe auch ſchon zuviel deutſche Kultur- 
elemente in ſich aufgenommen, vor allem den 
evangeliſchen Glauben. Sind auch in Eſtland 
nur wenige Prozent der Bewohner deutſcher 
Abkunft, jo kann man ſich doch in allen Ge- 
ſchäften und mit jeder Marktfrau ohne weite- 
res deutſch verſtändigen, und deshalb wird es 
auf die Dauer den Letten und Eſten nicht 
ſchwer werden, ſich unter Wahrung ihrer Eigen- 
art und Sprache in das Gebiet des Oeutſchen 
Reiches und Rechtes einzufügen. Wurde doch 
auch bis zum deutſchen Einmarſch in Reval 
noch immer nach altem lübiſchem Stadtrecht 
geurteilt. 

So ſelbſtverſtänd lich uns heute der 
Gedanke iſt, daß Elſaß-Lothringen 
deutſches Land iſt und bei Oeutſchland 
bleiben muß, ſo natürlich werden wir 
in einem Menſchenalter Baltenland 
als altes deutſches Land anſehen, das 
gleichzeitig mit Straßburg und Metz uns in 
den Zeiten deutſcher Erniedrigung verloren 
ging und nun zum Heimatland zurückkehrt. 
In wenigen Jahrzehnten werden die 
drei baltiſchen Provinzen völlig mit 
dem Deutſchen Reiche verſchmolzen 
fein und ſich, wirtſchaftlich mächtig voran 
gekommen, mit allen ihren Bewohnern 
darin wohlfühlen können.“ 


* 


Wie es ſein — könnte 


ſchildert die „Pall Mall Gazette“ vom 16. Mai 
1918: 


Auf der Warte 


„Unſer früherer Botſchafter in Rußland, 
Sir George Buchanan, warnte uns vor dem 
Fehler, Rußland während feines gegen- 
wärtigen chaotiſchen Zuſtandes aus den Augen 
zu laſſen. Er bemerkte richtig, daß, je mehr 
wir in dieſen Irrtum verfallen würden, um 
ſo mehr Oeutſchland in der Lage ſein werde, 
feine Herrſchaft während des Krieges zu be⸗ 
feſtigen. Trotz des lebhaften Intereſſes, das 
wir an der Wiederherſtellung Belgiens und 
an der Abtretung der in dieſem und früheren 
Kriegen Frankreich entriſſenen Gebiete be- 
ſitzen, iſt nichts, was für uns und die ganze 
Welt von ſo großer Bedeutung iſt, wie die 
Beziehungen zwiſchen Deutſchland und dem 
ehemaligen ruſſiſchen Reich. Wenn nicht die 
Flut der preußifchen Eroberung, die ſich jetzt 
von Finnland bis zum Kaukaſus ausbreitet, 
zurüdgedammt wird, und das ruſſiſche Volt 
eine wirkliche Autonomie erhält, ſo wird 
Oeutſchlands Stellung ſtärker werden, 
als es vor dem Kriege der Fall war. Die 
reichſten und bevölkertſten Gegenden Rußlands 
werden ein zweites Sſterreich werden, 
das in politiſcher, militäriſcher und wirtſchaft · 
licher Hinſicht durch alle Mittel mit ihm 
verknüpft wird. Es iſt eine Frage, die uns 
beſonders intereſſiert. Denn dadurch, daß 
das Schwarze Meer in ein mare olausum 
umgewandelt, und der Kaukaſus zu einer 
türtkiſchen Satrapie geſtaltet wird, verſchafft 
ſich Deutſchland neue Zugänge zu Mittel- 
aſien und erwirbt eine ſtärkere Baſis 
für ſeine zukünftigen Abſichten auf 
den Suezkanal. Wenn es imſtande iſt, eine 
unbegrenzte Zahl von U-Booten in das 
öſtliche Mittelmeer zu ſchicken und zu 
gleicher Zeit ſeine Armeen verwenden kann, 
um das Rückgrat des britiſchen Reiches zu 
zerbrechen, ſo wird die Abſendung von 
Verſtärkungen nach Agypten das ge 
fahrvollſte unternehmen werden. Wit 
werden plötzlich finden, daß Eng land und 
Indien von der Möglichkeit abgeſchnitten 
werden, ſich gegenſeitig zu unterftüßen.“ 

Folgt die unvermeidliche Forderung, jedes 
nur mögliche Mittel anzuſtrengen, dieſe Gefahr 
abzuwenden uſw. 


Auf der Warte 


Auch die hochgeſchätzten Ame⸗ 
rikaner! 


Aus der Rede des Kaiſers am 30. Jahres- 
tage ſeines Regierungsantrittes, die in 

dem Satze gipfelte, der Kampf zwiſchen Deut- 
ſchen und Engländern ſei ein Kampf um zwei 
Weltanſchauungen: der preußifch-Deutich-ger- 
maniſchen Pflichterfüllung für ideale Güter 
und dem angelſächſiſchen Gößendienfte des 
Geldes, merken die „Leipziger Neueſten Nach- 
richten“ mit ganz beſonderer Befriedigung an: 
Es iſt ein Verdienſt unſeres Kaiſers, dieſen 


tiefſten und letzten Grund des Weltkrieges in 


hellſte Beleuchtung gerückt zu haben. In 
dumpfer Sorge vor der unwiderſtehlich fieg- 
haften Kraft dieſer deutſchen Weltanſchauung 
läſterte vor kurzem noch Lloyd George das 
Weſen unſeres Volkes, ſuchte er den Geiſt, der 
uns zu unvergleichlichen Taten an der Front 
und in der Heimat befähigt, als haſſenswerte 
Peſt aller Welt verächtlich zu machen. Hinden- 
burg tat recht daran, in ſeiner Anſprache an 
den Kaiſer auf dieſes elende Gegeifer hin- 
zuweiſen, und der Kaiſer griff den Gedanken 
auf, indem er den Geiſt der Ordnung, der 
Treue und des Gehorſams pries. Er charakte- 
riſierte aber zugleich den Händlerſinn, der ſich 
deutſchem Heldengeiſt entgegenſtemmt, nicht 
nur als engliſche, ſondern als angel- 
ſächſiſche Weſensart. Alſo auch für die noch 
in den erſten Monaten des Krieges von man- 
cher maßgebenden Stelle hochgeſchätz⸗— 
ten Amerikaner gilt nunmehr, was über 
das britiſche Streben nach wirtſchaftlicher 
Ausſaugung und Aufſaugung der Welt geſagt 
wurde. 
* 


Auch du, Brutus? 
us Stockholm, und zwar von einem 
Skandinavier, gehen der „Voſſiſchen 
Zeitung“ folgende Mitteilungen zu: 

„Es wäre falſch, zu behaupten, daß die 
Preſſeorgane des offiziellen Schwedens 
die Neutralität wahren, deren ſeine Miniſter 
ſich öffentlich rühmen. Man kann in den letz- 
ten drei Monaten bei der regierungstreuen 
liberalen Preſſe Schwedens die ausgeſprochene 


381 


Tendenz wahrnehmen, weit ſchlimmer und 
planmäßiger als früher ihren Leſerkreis 
gegen Oeutſchland aufzuhetzen. 

Das letzte und gröbſte Glied in dieſem 
Lügenfeldzug iſt der Plan, ein neues Ron- 
kurrenzbureau gegen ‚Svenska Tele- 
grambyro‘ zu ſchaffen. Die Herren Gyl- 
den und Bildt, die an der Spitze des Unter- 
nehmens ſtehen, ſind nicht nur als Feinde 
Deutſchlands bekannt, ſondern auch dafür, daß 
fie alle ihre Geſchäfts verbindungen 
mit der Entente haben. Herr Bildt hat 
durch ſeine, Tranſito-Geſellſchaft feine vor- 
her verworrenen Geſchäfte ins klare 
gebracht, ſich ein Millionenvermögen 
verſchafft und der Wallenberg-Bank 
gewaltige Verdienſte zugeſchanzt. 

Das neue Telegrammbureau ſoll mehr 
als bisher in Schweden die Entente-Inter- 
eſſen wahrnehmen. Man merkt die Abſicht, 
dieſelbe einſeitig gefärbte Lügenkampagne in 
Gang zu ſetzen, die in Rumänien, Portu— 
gal und Amerika zu fo prächtigen Ergeb- 
niſſen geführt hat. 

Herrn Bildts neue Schöpfung bekommt 
ihre rechte Beleuchtung, wenn man weiß, daß 
Schwedens jetziger Zuſtizminiſter früher 
hauptſächlich juriſtiſcher Vertreter der 
Tranſito-Geſellſchaft war und den größ- 
ten Teil feines Einkommens davon be- 
zog. Nachdem Löfgren Juſtizminiſter gewor- 
den, kauften er und ſeine Ententefreunde die 
ſchon vorher ſtark entente-aktiviſtiſche ‚Afton- 
tidningen‘, die im Begriff war, an wirtſchaft- 
lichen Sorgen einzugehen. In dieſen Tagen 
hat die Redaktion der Zeitung gewechſelt, 
und ihre Haltung, die ſchon vorher offen en- 
tentefreundlich war, hat ſich jetzt zur Höhe der 
ſchlimmſten Lügenorgane der Northeliffe- 
Preſſe emporgearbeitet.“ 

Es werden dann einwandfrei einige wei- 
tere Fälle dargelegt, die den traurigen Be- 
weis liefern, daß in der Tat die ſyſtematiſche 
deutſchfeindliche Ententehetze einer Reihe 
„regierungstreuer“ ſchwediſcher Blätter 
ſelbſt durch die leidenſchaftliche Verlogenheit 
der Northeliffe-Preſſe nicht mehr überboten 
werden kann, nur darf dieſer immerhin als 
mildernder Amftand angerechnet werden, daß 


382 


fie nebenher auch das politiſche Geſchäft 
ihres Landes beſorgt, wie ſie es eben begreift, 
während die gekaufte ſchwediſche Regierungs- 
preſſe nur in die eigene Taſche und zum 
Schaden ihres Landes arbeitet. 

Der Skandinavier ſchließt mit der Mah- 
nung, daß „die deutſche Regierung allen 
Grund habe, die Entwicklung der Dinge in 
Schweden mit Wachſamkeit zu verfolgen“. 
Sollte ſich aber dieſe Wachſamkeit nicht auch 
auf unſere politiſche Vertretung in 
Stockholm erſtrecken? Sollte unſerer Re- 
gierung nicht bekannt geworden ſein, daß von 
uns wohlgeſinnten Schweden bitter darüber 
geklagt wird, wie wenig Rückhalt fie ge- 
rade bei dieſer Stelle finden, wie ſie 
bei ihr eher auf Hemmniſſe, als auf Unter- 
ſtützung ihrer Bemühungen ſtoßen? Sollten 
ihr ferner gewiſſe — ſagen wir Berichte nicht 
vorgelegen haben, die auch dem Türmer zur 
Verfügung geſtellt wurden, ohne daß es für 
ihn eine entfernte Möglichkeit gab, davon Ge- 
brauch zu machen? Das Schlimmſte ſtammt 
ja, wie alles Schlimmſte in dieſem Kriege, 
noch aus Bethmanns Erbſchaft, aber es muß 
doch endlich einmal auch mit dieſer Konkurs- 
maffe aufgeräumt werden. Gr. 


Ein Bruch mit dem „Syſtem B* 


u den Anfragen im Reichstage über das 
8 Elend unſerer Kriegsgefangenen im 
feindlichen Auslande ſchreibt die „ODeutſche 
Zeitung“: 

Es iſt eine der erfreulicheren Begleiterſchei- 
nungen der Verpflanzung von Parlamenta- 
riern in den Olymp der Wilhelmſtraße, daß 
mit dem Syſtem tunlichſten Totſchweigens 
und Vertuſchens auf dieſem traurigen Gebiet 
endlich gebrochen worden iſt. Mit der gehäſſi- 
gen Erinnerung, hier die Überlieferungen der 
Bethmann - Zeit jämmerlichen Angedenkens in 
ihren Vertrauensleuten auf dem Miniſterſeſſel 
getreulich fortgeſetzt zu haben, möchten die 
Mehrheitsparteien denn doch nicht gern der 
Zukunft entgegengehen, ſo ſehr, was vordem 
geſchah, in ihrem Sinne war. Bis dahin wurde 
leiſe getreten bis dort hinaus, die Preſſe gehin- 
dert, auszuſprechen, was war, angeblich, um 


Auf ber Warte 


den heimiſchen Angehörigen der unglücklichen, 
völkerrechtswidrig behandelten und mißhan- 
delten Reichsangehörigen draußen Schmerz 
und Kummer zu erſparen und zu verhindern, 
daß ihre Klage den Kriegswillen der Nation 
beeinträchtige; in Wahrheit, um dem 
Aufflammen der Entrüſtung eben die— 
ſer Nation, einer unerwünſchten Stei— 
gerung ihres Kriegswillens und dem 
Verlangen nach tatſächlich wirkſamen 
Gegenmaßnahmen aus dem Wege zu 
gehen. Es war immer dieſelbe Geſchichte: 
die politiſche Leitung des Reichs fühlte ſich 
den Anforderungen, die der Krieg an ihre 
Willenskraft und an ihr ſtaatsmänniſches 
Können ſtellte, innerlich nun einmal nicht 
gewachſen; alles, was Leiſtungen von ihr 
fordern hieß oder der ſchleunigſten Beendi⸗ 
gung der ihr höchſt unbehaglichen Zeit der 
Prüfung auf ihr Können hin entgegen ſein 
konnte, erſchien ihr als perſönliche Anfein- 
dung oder ſchwere Unbill des Schickſals, und 
ſo waren ihre natürlichen Verbündeten in 
deren verſchiedenen Schattierungen alle, denen 
nach Ströbels denkwürdigem Wort aus 
jener Zeit ein voller Sieg des Oeutſchen 
Reichs dem Vorteil ihrer Partei nicht 
zu entſprechen ſchien. So enthielt man 
die Niedertracht unſerer Feinde in ihre Hände 
geratenen Reichs angehörigen gegenüber der 
Offentlichkeit nach Möglichkeit vor, beſchränkte 
ſich auf lahme Proteſte, die nur den Hohn 
der Vergewaltiger des Völkerrechts in Feindes 
land herausforderten, und beſchränkte ſich, als 
die ſtärkſte aller Künſte, auf die Androhung von 
Repreſſalien, auf eine lahme Androhung, wo 
ſofortige energiſche und umfaſſende Anwen- 
dung nach dem Grundſatz: „Auf einen Schel⸗ 
men anderthalbe“ den körperlich und ſeeliſch 
in der unerhörteſten Weiſe Gequälten draußen 
allein Rettung und Hilfe bringen konnte! Wo 
ſelbſt etwas damit erreicht wurde — wie lange 
hat es nicht gedauert! Man denke z. B. an den 
Fall Schierſtädt! Und wie vieler Lebensmut 
und Lebenskraft iſt nicht für die Dauer ge- 
brochen worden, wie viele find nicht ganz ver 
dorben und geſtorben, ehe es fo weit war! 
Dafür aber, daß die Beſprechung dieſer Zu⸗ 
ſtände im Reichstag die Öffentlichkeit nicht 


Auf der Warte 


in Erregung brachte, wurde mit allen Hilfen 
der Überredung, der guten und der ſchlechten 
Behandlung der Parteiführer geſorgt! Wozu 
waren die Ausſchüſſe, wozu die Möglichkeit 
vertraulicher Ausſprachen dort da? Mit die- 
ſem unheilvollen Syſtem hat erſt die 
Ara Hertling gebrochen. Sie hat endlich 
den Mut, ſich dem Drucke der öffentlichen 
Meinung auszuſetzen, weiß den Wind, der ihr 
damit in die Segel fällt, zu ſchätzen und macht 
wenigſtens den Verſuch, ihn durch entſprechen- 
des Lavieren zur Erreichung irgendwelcher 
Ziele auszunützen. Und ſo hört man denn in 
der Vollverſammlung des Reichstags endlich 
von dieſen Dingen! 
* 


„Alldeutfch* 


Ji den „Alldeutſchen Blättern“ macht 
Spieß Oörſcheid auf den beluſtigenden 
Viderſpruch aufmerkſam, in den ſich die Geg- 
ner der Alldeutſchen verwickeln, wenn fie ein- 
mal erklären: „Die eigentlichen Alldeutſchen 
ſind nur reichlich ein Dutzend ſtimmbegabte, 
aber politiſch ſchwachbegabte Doltrinäre“ und 
auf der anderen Seite ganze Bücher mit dem 
„Nachweis“ anfüllen, welch unheilbaren Scha- 
den dies „reichliche Dutzend“ angerichtet hat. 
Man nimmt’s eben, „wie's trefft“, bald ſo, 
bald ſo. Wie weit aber der „alldeutſche“ Ein- 
fluß in Wirklichkeit reicht, darüber iſt offenbar 
niemand mehr im unklaren, als der Alldeutſche 
Verband ſelbſt. Indes klären ihn die Gegner 
darüber tagtäglich bereitwilligſt auf. „All- 
deutſch“ iſt die „Kölniſche Volkszeitung“, 
wenn ſie ſich gegen Erzberger wehrt; „all- 
deutſch“ iſt jeder, der die Mehrheitsentſchlie- 
zung vom 17. Juli nicht für Offenbarung 
höchſter ſtaatsmänniſcher Weisheit hält. Aber 
es geht noch weiter nach links. Innerhalb der 
Sozialdemokratie gibt es eine kleine Gruppe, 
die ſich um Dr. Lenſch und die „Glocke“ ſchart. 
Sie hat mit ihrem klaren Blick für geſchicht- 
liche Notwendigkeiten den „Realpolitikern“ 
ſchon manche peinliche Stunde gemacht. 
Denn ſchließlich ſind's doch Sozialdemokra— 
ten, die da für „Machtpolitik“ eintreten und 
es wagen, Begriffe wie „Parlamentarismus“ 
und „Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker“ 


383 


als — „öde Schlagworte“ zu verhöhnen. 
Die „Frankfurter Zeitung“, der dieſe „ganze 
Richtung“ offenbar „nicht paßt“, verſucht's 
mit väterlihem Wohlwollen und mildem 
Spott: Folgerichtigkeit ſei ganz gut, aber 
„unter Umftänden iſt eben doch auch In- 
konſequenz etwas Schönes und ſehr Nüb- 
liches“. Argerlicher iſt die Sache der Partei- 
preſſe, zumal Lenſch mit Liebens würdigkeiten 
gegen fie — fie biete ein „jam merwürdiges 
Schauſpiel“ — nicht ſpart. Indes hat ſie 
eine Waffe, um ihn tödlich zu treffen. Sie 
verſucht's nicht mit fachlicher Widerlegung. 
Warum einen ſolch mühſamen Umweg wäh- 
len, der doch allerhand geiſtige Unkoſten ver- 
urſacht, wenn man es viel leichter und beque- 
mer haben kann mit der Behauptung, Lenſch 
iſt ein — Alldeutſcher! Damit iſt für jeden, 
der urteilsfähig iſt, doch auch ſogleich bewie- 
ſen, daß er — unrecht hat. Und fo „Ichüttelt“ 
die Dresdener „Volkszeitung“ fein bitterböſes 
Arteil über den „Vorwärts“ ganz mühelos 
„ab“: „Sagen wir alſo: ein alldeutſches 
Urteil über den „Vorwärts.“ 


Wahrzeichen deutſcher Selbſt⸗ 


erniedrigung 

ie bekannt, ſchreibt die „Kreuzzeitung“, 

finden ſich in zahlreichen Städten 

Elſaß- Lothringens noch franzöſiſche Denk- 
mãler, von denen eines der bekannteſten wohl 
das Standbild des napoleoniſchen Generals 
Kleber auf dem nach ihm benannten Platz in 
Straßburg iſt. Zum großen Mißvergnügen 
zahlreicher deutſcher Elemente find dieſe fran- 
zöſiſchen Denkmäler ſeitens der deutſchen 
Regierung mit einer Pietät behandelt 
worden, die vom politiſchen Standpunkt aus 
kaum als glücklich bezeichnet werden kann und 
die auch in den früheren zahlreichen Demon- 
ſtrationen der Welſchlinge vor dieſen Denk- 
mälern kaum eine ausreichende Erklärung 
findet. Man ſollte nun der Meinung ſein, daß 
die in ganz Deutſchland bevorſtehende Ein- 
ſchmelzung der Bronze- und Rupferdentmäler, 
die für ſo viele Städte Opfer und Härten mit 
ſich bringt, vor den überlebten und gegen- 
ſtandslos gewordenen franzöſiſchen Stand- 


594 


bildern in den Reichslanden keinesfalls halt- 
machen, ſondern gerade mit dieſen dauernden 
Erinnerungszeichen an die zweihundertjährige 
Franzoſenherrſchaft aufräumen würde. Doch 
weit gefehlt! Wie man uns mitteilt, verfallen 
in den Reichslanden zwar die nach 1870 ge- 
ſetzten deutſchen Denkmäler, ſoweit ſie nicht 
einen hohen Kunſtwert aufweiſen, der Ein- 
ziehung und Einſchmelzung, die franzö— 
ſiſchen Standbilder jedoch bleiben, weil 
in der Mehrheit vor dem als Grenzlinie an- 
genommenen Fahre 1850 geſetzt, als Alter- 
tümer der Nachwelt erhalten, — als 
Altertümer und, wie man berechtigterweiſe 
hinzuſetzen könnte, als Wahrzeichen dafür, 
daß die Michelei in Oeutſchland anſcheinend 
unausrottbar iſt. Wie man im feindlichen 
Auslande dieſe und ähnliche Fragen behandelt, 
ohne ſich in der gleichen Zwangslage zu be- 
finden wie wir, zeigt zur Genüge wohl die 
Einſchmelzung des Standbildes Fried- 
richs des Großen in Waſhington. 


Deutſche — „Gutmütigkeit“? 


in unglaubliches — Verzeihung, ein in 
„Deutſchland“ nur allzu glaubliches 
Stück wird der „O. T.“ aus Niederbayern 
berichtet: In der Kreishauptſtadt Landshut 
a. d. Zjar wohnt ein Staliener, der heute noch 
italieniſcher Staatsbürger iſt. Oeutſche 
Gutmütigkeit ermöglichte es dem Manne, 
heute noch ſeinem Geſchäft wie in Friedens- 
zeiten nachzugehen; er hat ſogar, wenn wir 
nicht irren, ſtaatliche Aufträge. Anſtatt 
ſich dafür dankbar zu zeigen und ſich bejchei- 
den den notwendigen Kriegsgeſetzen zu unter- 
werfen, verſucht er, den Beſtimmungen hin- 
ſichtlich der Volksernährung ein Schnippchen 
zu ſchlagen und für ſich Sondervorteile 
herauszuholen. Die kommunalen Behörden 
brachten der welſchen Unbeſcheidenheit kein 
Verſtändnis entgegen und billigten dem Sta- 
liener nicht mehr zu, als was der eigenen Be- 
völkerung auch zuſteht. Darüber beſchwerte 
ſich der Fremdling bei der Kgl. Regie- 


Auf der Warte 


rung und beſchuldigte bei dieſer Gelegen- 
heit einen ſehr geachteten Bürger der 
Stadt Landshut, der als deutſcher Mann dem 
Vaterland einen Sohn geopfert hat, eines 
Vergehens gegen die beſtehenden Beſtimmun⸗ 
gen. Anſtatt dem welſchen Oenunzianten die 
Türe zu weiſen, nahm die Behörde die 
Beſchuldig ung willig entgegen und lieg 
über den Bürger Erhebungen pflegen, 
welche die Unwahrheit der Anklagen er- 
gaben. Bis heute hat man nichts davon 
gehört, daß der Italiener wegen feiner 
falſchen Anſchuldigungen etwas zu leiden ge- 
habt hätte. ö 
Vas wohl einem Oeutſchen paſſiert wäre, 
der ſich in Rom, London oder Paris ein ähn- 
liches Stückchen geleiſtet hätte? — fragt der 
Berichterſtatter. Die Frage iſt gegenftands- 
los; in Rom, London oder Paris fehlt jede 
Vorausſetzung der Möglichkeit ſolcher 
Stücke. Wenn es aber zum Schluſſe heißt: Es 
geht doch nichts über die deutſche „Gutmütig⸗ 
keit“! — fo wollen wir dieſes Wort nicht be- 
ſchönigend mit einem derartigen Gebaren in 
Verbindung bringen, das mit edeln, wenn 
auch falſch angewandten Eigenſchaften längſt 
nichts mehr zu tun hat, das nichts anderes iſt, 
als der Ausfluß einer völkiſchen Seuche. 
„Proſkyneſe“ fagten die alten Griechen. Da- 
mit meinten ſie würdelofes Sichſelbſthinwer⸗ 
fen, -fortwerfen. Gr. 


* 


Nach dreieinhalb Kriegsjahren! 


ine kleine Feſtſtellung, die aber Bände 
ſpricht: 

Nach dreieinhalb Kriegsjahren wurden 
die Tagegeldſätze für Offiziere auf die 
Höhe vor dem Kriege herabgeſetzt — die 
Tagegelder für die Herren Abgeordneten 
wurden nahezu um das Doppelte erhöht! 

Wer jetzt noch nicht begriffen hat, wie ⸗ 
viel wertvollere Dienſte die Abgeordneten 
dem Vaterlande leiſten, als die Offiziere, 
der — kann ſich das ja leicht an der Hand der 
Tagegeldziffern ausrechnen. Gr. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Runſt und Muſik: Dr. Karl Siord 
Ale Zuſchriften, Sinſendungen uſw. nur au die Schriftleitung des Türmers, Jehlendorf Berlin (Waunſecb ahn 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Herausgeber: J. C. Rreiherr von zes 


XX. Jahrg. Erſtes Auguſtheft 1918 | j Bett 21 u | 


Das feindliche Doppelgeſicht 
Von Submarinus 


E EN Vatſachen, die durch das deutſche Heer und den ſelbſttätigen Verlauf 
im Oſten entſtanden find, haben unſere Diplomatie über den Null- 
N 2 punkt hinaufgedrückt. Aber ein Element des Nichtoffenen, Be- 
—— fangenen iſt in ihr verblieben. Das macht, weil ſie nicht ſicher auf 
nationalem Boden ſteht. Sie genierte ſich nach der deutſchen Seite wegen ihrer 
Nikodemus-Verabredungen mit unſerer weltpolitiſchen Hochfinanz, und ſie hatte, 
weil fie das ſtammverwandte Mundwerk überdreiſt verwöhnter Journaliſten und 
ähnlicher Eintagswiderſtände fürchtet, nicht den offenen Mut, weltpolitiſche Ge- 
legenheiten, die mit den Notwendigkeiten deutſcher Politik ſo ſehr zuſammenfallen, 
wie die Sicherung von Eſtland und Livland, freiweg und ohne Unentſchloſſenheit 
zu nutzen. Nicht friſch und klar patriotiſch empfindend, dafür in „wirtſchaftlichen“ 
Plänen allzu einſeitig auf kritikloſe Berückſichtigung gedrillt, verſteht fie ſich inner; 
lichſt auch nicht mit nationalen Imponderabilien der gegenüberſtehenden Völker, 
enttäuſcht und verletzt dieſe, vernichtet ihre Dankbarkeit, erwirbt ſich mit undurch- 
dachtem Vorgreifen das Odium und das Mißtrauen der Gewalttätigkeit. Finn 
land und Rarelien, um nicht zu weiteren Beiſpielen abzuſchweifen. Daß politiſche 
Schlauheit, taſchenſpieleriſche Zwecke dabei ſind, iſt ihr ja nicht vorzuwerfen. 
Auf dieſe nach wie vor verſteht ſich England. Die Richtſchnur ſeiner Politik 
iſt gewiß die nationale. In vorderſter Reihe die weltjüdiſchen Belangen auszu- 
Ser Türmer XX. 21 | | 25 


, 


— 


386 | Submerinus: Sas feindliche Ooppelgeſicht 


richten fällt ihr nicht ein. Aber in geeigneten Fällen erklärt ſich England möglichſt 
vor aller Welt und ohne Vorbehalt für auswärtige jüdiſch- internationale Wünfche 
und läßt dann, wenn aus der Sache nichts oder nicht alles wird, Deutfchland auf 
der Anklage, daß es daran ſchuld ſei, ſitzen. Wie das mit dem Zioniſtenſtaat 
in Paläſtina, alſo in der uns verbündeten Türkei, ausgehen wird, werden wir ja 
noch erleben. An ſich iſt ein ſolcher Staat dem hochachtbaren eigennationalen 
Streben dieſes ifraelitifchen Teils nur herzlich zu gönnen. Er iſt auch ſonſt zu wün- 
ſchen. Denn dann entſteht die bislang verwehrte Berechtigung, eine jüdiſche Na- 
tionalität als ſolche zu unterſcheiden. Wir erlangten mehr Gleichberechtigung 
neben dieſen Staatsbürgern, die jetzt das doppelte Recht ausüben, beides zu ſein, 
die wachſam empfindlichen Streiter für ihr Volk und die für Takt unempfindlichen 
Vormünder des Volks, wo fie leben. 

Auf der rumäniſchen Judenfrage ſind wir ſchon richtig ſitzen geblieben. 

Der berühmten Reſolution vom 19. Juli 1917 die Verantwortung laſſend, hat 
der deutſche Unterhändler zu Bukareſt auf eine klare Kriegsentſchädigung für die 
deutſche Geſamtheit verzichtet. Dafür hat er die bekannten, großbanklich ver- 
quickten wirtſchaftlichen Zugeſtändniſſe dem beſiegten Treu- und Friedensbrecher 
abgenötigt, und ohne eine „Reſolution“, die ihn veranlaßte und ihn dabei deckte, 
hat er Rumäniens innerer Politik die Erfüllung alljüdiſcher Wünſche auferlegt. 
— Der Laie hat indeffen unrecht, wenn er bei deutſchen Oberſphären mehr 
heimiſches Raſſegefühl erwartet hätte. Mit dieſer Subſtanz kann man noch 
General und König ſein, doch mit ihrer unvorſichtigen Bekennung kann man 
zurzeit nicht Geſandter, Miniſter, Geheimrat, akademiſcher Sachverſtändiger und 
ähnliches werden. Ergo nach Adam Rieſe kann fie nicht in der Politik ent- 

halten ſein. 

Aber ſo ergibt ſich noch weitere Erklärung. Wo die erwähnte Subſtanz 

im perſönlichen Rückenmark darin iſt, ſetzt ſich auch der ganze Mann für eine Sache 
ein, führt fie durch. Wo fie welk iſt, ſchreitet er angeſichts auftauchender Schwierig- 
keit zum Kompromiß. Erkennen, wo man weichen, nachgeben müſſe, nicht mehr 
„intereſſiert ſein“ wolle, gewöhnte man ſich allzuſehr, für Politik zu nehmen. 
Schwierigkeiten in Handhaben zum Vorteil zu verwandeln, dieſe vormalige Bis- 
marckſche Kunſt liegt nun weit außerhalb der halben Fähigkeiten, denen die Über- 
legenheit, ja die Unabhängigkeit abhanden gekommen iſt. England hat ſie noch. Vir 
haben viel Grund, auf England zu ſchelten, aber auch manchen, es zu beneiden 
und den Augenblick zu fürchten, wenn aus dem ſchwertführenden Krieg das figuren 
beſetzte, kuliſſenreiche Schachſpiel der Verhandlung werden wird. Außer dem feinen 
Beiſpiel der engliſchen Judenverheißungen laſſen ſich andere engliſche Spielvorteile 
im hohen Norden des ſich der Entente weigernden Rußland finden. Die Buchanans 
weichen nicht ſogleich, rücken nicht im diplomatiſchen Salonzug aus, wenn die 
Sache anfängt bedrohlich zu werden oder nur unbequem zu mißglücken. Ihre 
Richtlinie und ihr Rückgrat iſt der Patriotismus. Ihr Parlament fragt die 
engliſchen Miniſter aus, was fie gewannen, welche Ungunſt fie verhüteten, in 
der engliſchen Preſſe ift es nicht denkbar, daß ein Zetermordio über drohende Vor⸗ 
teile, Erreichungen erhoben wird. Die Lichnowſky, Kühlmann und das Berliner 


dubmarmus: Das feindliche Ooppelgeſicht | 387 


Tageblatt führt Tieferliegendes, als der Reklamewunſch, zuſammen. Lichnowſkys 
beſtes dahingehöriges Selbſtzeugnis iſt, daß er den Namen „Petrograd“ gebraucht. 

Die rumäniſchen Unterhändler, als die Verantwortlichen für ihr Volk ſich 
betrachtend, leiſteten Widerſtand, machten Schwierigkeiten. So allerdings des- 
intéreſſierte man ſich wieder etwas, ging zurück. Immerhin nicht fo nachgiebig, 
wie ſonſt die deutſche Technik iſt. Denn hier wußte man wohl, daß man im Rücken 
nicht den deutſchen Michel, ſondern die mit ruhmredigen Beſchwichtigungen nicht 
zufriedenen journaliſtiſchen Maſchinengewehre hatte. Man kam zu einer kom- 
promißlichen, bedingten rumäniſchen Zuſage für die Juden. Da dieſe leichten 
Bedingungen dem Zugeſtändnis wenig nehmen, ſo meinte der deutſche Diplomat, 
er hätte ſeine Schuldigkeit getan. Sollte man meinen. 

Pſychologie haben wir, auch nach dieſer Seite, ſeit Bismarck ja nicht mehr 
gehabt. Sie hat immer nur der echt Empfindende. Drum war auch dies verrechnet. 
Anſtatt des Halleluja gellt in den internationalen Zeitungsartikeln die jüdiſche 
Enttäuſchung, die „großen Nationen der Entente“ werden von ihnen gegen die 
neue mittelmächtliche Vergewaltigung () angerufen, internationale iſraelitiſche 
Kundgebungen, wie die Verſammlung von Scheveningen ſoeben im Juni erklären, 
daß von Oeutſchland „nichts zu erwarten“ ſei. 

Wir haben den Rumänen etwas aufgedrungen, haben den Sieg benutzt, 
ſie in einem Punkte zu vergewaltigen, wo ſie es nicht wieder vergeſſen werden und 
können. Denen jedoch, welchen gedient werden follte, hinterließen wir ihre Un- 
begnügtheit, ihre Verſtimmung, die von dieſem ekſtatiſchen, alles übertreibenden 
Volkstum nicht ſo behandelt wird, als wenn wir nur Balten, Bulgaren, Finnen 
um ihre Hoffnungen kürzen und dieſe ſtatt vor die Erfüllung vor neue Draht- 
verhaue führen. England kann lachen. 

Pumpreich und in der politiſchen Stimmung an Deutſchland angelehnt, 
ſo war mir Rumänien bei einem älteren Aufenthalt, vor dem Krieg, erſchienen. 
Politiſch zwar ſchmudelig auch. Im Handelsteil unſerer linksliberalen Zeitungen 
veranſchlagen auch dieſe ja immer vieles, was ſie im Leitartikel liberalerweiſe 
niemals wiſſen. So auch die parlamentariſche Übung, daß einem guten Teil der 
rumäniſchen Politiker ihr Mandat ſchlechtweg bedeutet, Schmiergelder, Stimm- 
käufe, finanzielle Beteiligungen herauszuſchlagen. Hier gipfeln Paris und Rom 
erſt vollends in Bukareſt, wo auch noch die alte Fanariotenwirtſchaft die „lateiniſche 
Schweſternation“ grundiert. Ernſter zu nehmen, national gediegener, ſo auch 
im Lehrkollegium der Univerjität, iſt von den beiden Hauptſtädten Jaſſy. 

Auf der ſpäteren Fahrt von 1914 war ein jüdiſcher Geſchäftsmann von 
Czernowitz der erſte, der mit der ſcharfen Freimütigkeit, welche ſein Stamm gerne 
dervorkehrt, mir das darlegte, was nie in den Zeitungen ſteht. Dieſe Kreiſe dort 
weitum im Oſten hatten vielleicht ſchon früher gefolgert, als die Rumänen ſelber. 
Sie wußten Beſcheid mit dem diplomatischen Geflechte der Ara Bethmann Ballin. 
„Rumänien kann nicht mit den Mittelmächten gehen. Sie ſagen, ‚wir wollen nicht, 
daß dann ihr verd.. . Juden die Rechte kriegt!“ ſagte wörtlich der Kaufmann 
von Czernowitz. — Im Lande war's dann ſo. Im Manöverzug von Bukareſt nach 
Konſtanza fuhr ich ausſchlie lich im Waggon mit Offizieren der Reiterei. Wie 


388 Submarinus: Das feinbliche Ooppelgeſicht 


überall im Kaffee, auf der Straße, in Studentenverſammlungen ging die leiden- 
ſchaftliche Erörterung um die großen Kriegsparteien. Und um die einheimiſche 
Kernfrage. Den Oeutſchen dazwiſchen traf es nur mittelbar, ohne Ungemütlichkeit, 
Vergebens erinnerte ich an 1878. Der heiße Ruſſenzorn von damals war verblaßt, 
vergeſſen. Es gab nur einen Halt in der Abwehr einer ſchon ſo, trotz der politiſchen 
Beſchränkung, umkrallenden, ausſaugenden, volksenteignenden Gewalt, das, wenn 
auch weſtlich verkettete, nihiliſtiſche und jüdiſch durchwühlte, doch immer noch 
zariſche, orthodoxe Rußland. Man wird ſich wohl der rumäniſchen Abel bewußt 
geweſen fein, ſah aber jedenfalls Übleres, das erſt kommen würde. Ihr Kokettieren 
mit dem Ruſſiſchen, mit Klöſtern und byzantinernden Architekturen vermehrte 
der einfältigen engliſch-koburgiſchen Kronprinzeſſin den nationalen Nimbus. — 
Nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg haben Straßenausſchreitungen in 
Jaſſy und Bukareſt, hat die Hochwoge der Judenverdächtigung, die Gefangen- 
ſetzung vieler als beargwöhnte Verräter und Spione dieſen volkswurzelnden 
Haß beſtätigt. 

Nichtsdeſtoweniger hat der jüdiſch-rumäniſche „Intellektualismus“ ſich auf 
die Seite unſerer mit Rußland verbündeten Gegner geſchlagen. In ſeinem jetzigen 
Andringen an die Regierung und das Parlament pocht er darauf, rumäniſche Juden 
außerhalb des Landes hätten „Studien und Stellung aufgegeben“, um zu den 
Fahnen zu eilen; die es nicht taten, hätten ſich für die Entente und Rumänien 
propagandiſtiſch betätigt, namentlich aber in Nordamerika hätten ſie Bratianus 
diplomatiſche Bemühungen „gefördert“. In der europäiſchen Preſſe traten ſie 
im Namen Rumäniens auf, verknäuelten ſtetig die rumäniſche Politik und die 
eigenen Ziele, fielen aus der Rolle, als fie, der Verhandlungen von Focſani noch 
unficher, Beſſarabien mit feinen zahlreichen Stammgenoſſen beſſer bei Oſterreich 
aufgehoben erklärten, und wie dieſe journaliſtiſche Beredſamkeit einmal iſt, ver- 
mochten fie nie zu unterlaſſen, im Gegenſatz zu Deutfchland auf die von Ziraeliten 
bekleideten Miniſterſtellen in den Ländern der Entente hinzuweiſen. Das aus 
ſchlaggebende Land war ihnen aber von Anfang, wie für fie alle, Nord amerika. 
An England entdeckten fie noch dunkle Punkte. Wenn ſich nun durch vier Jahre 
das lächerliche Schauſpiel zieht, daß Englands Zugriff die dortigen ruſſiſchen Juden 
zum Entente-Heerdienſt bringen wollte, entweder in Rußland oder im Weſten, 
und ſie ſich dieſer Pflicht der „Gleichheit“ und des Kampfes für die Ziviliſation 
alle die Jahre zu entwinden verſtanden, mit gräßlichem Geſchrei und mit Hilfe 
der ſtammgenöſſiſchen Advokaten, die engliſche Politiker find, fo trauerte über 
dieſen Schandfleck auf Englands „Demokratie“ ()) und „Humanität“ der jo im 
brünſtig auf Englands Waffen und Sieg feine Sache ſetzende patriotiſche „rumä⸗ 
niſche Mitarbeiter“ der internationalen und neutralen Journaliſtik. 

Wir in Deutſchland, wie keine Nation in Europa, haben für dieſe weltbürger- 
liche Finanz- und ſonſtige Macht ſo viel getan, daß uns zu tun faſt nichts mehr 
übrig bleibt. Auch mit dem Miniſteramt — Oernburg — iſt es ſchon probiert 
worden. Juden ſelber haben ehrlich feſtgeſtellt, mit einem feineren Akzent des kri⸗ 
tiſchen Tadels, ſachlichen Bedauerns faſt (der Name Goldſtein iſt da im Gedächtnis 
geblieben), daß ihr akademiſches und literariſches Herrſchaftsgefüge in Oeutſch⸗ 


Submarinus: Das feindliche Ooppelgeſicht 389 


land vollkommen iſt. Nichtsdeſtoweniger wird unfer Volkstum als das eigentlichſte 
Hemmnis behandelt, Deutjchlands Nichtunterliegen im Weltkrieg auswärts als 
der verpfuſchte Weltſieg des Judentums betrachtet. 

Der Germane wird eigentümlich vor allen andern Ariern (und Ugriern) 
von jenem Stamme am meiſten halb beneidet, halb gehaßt. Die Gründe, die ihm 
deutlicher bewußt ſind, als ſie meiſt in uns werden, liegen in einem inſtinktiven 
Empfinden, das anthropologiſch iſt. Es iſt etwas Unerreichbares, in der Raſſe 
nicht zu Amalgamierendes da, etwas, das man wohl voll Genugtuung heiraten, 
aber nicht erlangen und nicht nachzeugen kann. Nicht nur die primäre Natur, 
ſondern auch ihre Folgeäußerungen fühlen das verweigerte Herrentum. Der 
Jude, der ſich ſalopp am natürlichſten fühlt, der alles parodiert und karikiert, ſpricht 
doch raſchäugiger, betaſtender, als wir, von den Geſtalten ſchöner Offiziere, vom 
Adligen, von der „Haltung“. Hier iſt der Zentralpunkt für den ſcheinbaren Zwie⸗ 
ſpalt, daß er vom Börſianer zum Landjunker ſtrebt, daß er mit einer ſeltſamen 
Sehnſucht um das Hineinkommen in den Offiziersſtand wirbt, während er gleich- 
zeitig den „Militarismus“, die Heereserziehung begeifert. 

England bietet etwas mehr Chancen — ich bitte dies Fremdwort hier zu 
erlauben — für eine zur ſtraffen Anſtrengung entſchloſſene Mimikry. Schon durch 
den iberiſch-keltiſchen Einſchlag von Gälen, Waliſern, Fren. Mehr durch die ſtark⸗ 
mechaniſche, d. h. minderkritiſche Veräußerlichung der in England geſellſchaftlich 
geltenden Maßſtäbe. Es iſt nicht ganz bequem, „man kommt in England nicht aus 
dem reinen Hemd heraus“, erzählte der reiſende Oskar Blumenthal, aber es läßt 
ſich machen. Auch ſonſt ſind Günſte der Amalgamierung da. Der feſtländiſche 
„Baron Hirſch“ bleibt doch immer kenntlich. D' ſraeli ward Lord Beaconsfield, 
Stern nannte ſich Harmsworth, wurde Lord Northcliffe. Mit dem Niederbruch 
der Herrſchaft der Tories 1850 tat ſich die Ausſicht auf, politiſche Führung durch die 
Liberalen zu erlangen und — bei den Tories. Das wirkte vielgeſtaltig in dieſe 
feſtländiſche Internationalität, ließ England in ihren Blicken wichtiger als Frank- 
reich werden, das raſtloſe Weltreich wichtiger als das politiſche Schlaraffenland 
der Finanzleute und der Advokaten. 

Oennoch tröpfelt die Erreichung nur. Die Überlieferung im Volksganzen, 
welcher das Machtgefühl des Geldes und der großſtädiſchen Meinungsmache nie 
gehörige Beachtung ſchenkt, der energiſche einheimiſche Wettbewerb verſchmälern 
den Erfolg. Auch die ſtammliche Baſis trägt nicht recht, ſie iſt nicht ſeit alters ſo 
ins Land verbreitert, das mehr als 100000 Köpfe zählende Gewimmel in London 
hat eher fein Unliebſames. Amerika, du haft es beſſer, du haft keine Schlöſſer und 
keine Baſalte. Wie Frankreich hinter England, ſinkt England hinter den Vereinigten 
Staaten zurück, wo die angelſächſiſche Sprache den zerriebenſten ethnographiſchen 
Miſchmaſch deckt und man mit jedem Geſicht Amerikaner iſt. 

Die „unbegrenzten Möglichkeiten“ der ſtammlichen Solidarität haben 
dort ihre erſte Weltbaſis gewonnen. Daran mußte die begrenzende Monroe- 
doktrin zugrunde gehen, längſt bevor die formelle Abſage geſchah. Sie war auf 
den Vankee zugeſchnitten. In feiner ſpezifiſchen Groteske, mit feiner Exzentrik⸗ 
Kindlichteit, feinem Selbſthumor, feiner ſchließlichen Einſicht, daß das Geld kein 


390 N Submarinus: Oas feind liche Ooppelgeſicht 


Selbſtzweck ſei, trotz allem Brutalen, beginnt er einer Vergangenheit anzugehören, 
ward tragende Schicht unter dem neueren Alluvium. Die Wandlung wird be⸗ 
zeichnet durch eines jener weder Bildkraft, noch Naivität und Humor enthaltenden 
Wörter auf ismus, die neuerlich alle aus der Münze der Intellektuellen ſtammen, 
Amerikanismus. Es ſtammt aus dem Lande, wo der Filial⸗-Amerikanismus 
am glatteſten von den Eilfertigen, Ungeduldigen auf den Schild gehoben werden 
konnte, aus dem neuen Deutſchland. Aus dem Mittelpunkt Berlin; doch auch 
das vordem engländernde Hamburg trägt ſtarke Züge dieſes ungermaniſchen Ameri- 
kanismus. Drüben find die Namen Wilſon, Morgan keine Verhüllung mehr, über- 
all in den politiſchen, finanziellen, kriegsamtlichen, munitionmachenden Spitzen 
der „neuen Welt“ ſehen die Namen der älteſten hervor. (Zu der ſtrohmänniſchen 
Rolle Wilfons paßt dieſer eitle, fingerfertige Profeſſor, den fein Univerſitäts- 
Kurator den größten Schurken und Lügner der Vereinigten Staaten genannt hat. 
Der ihm dies ins Geſicht ſagte, war Grover Cleveland, der ehrliche Mann und 
zweimalige Präſident aus Wilſons demokratiſcher Partei.) Die beiden kriegs⸗ 
gegneriſchen Diplomatien, die ja Beſcheid wiſſen müſſen, entſandten als Werbe- 
männer nach drüben Herrn Dernburg und den Lord Stern Northcliffe, von denen 
doch dieſer dort häuslichen Fuß faſſen konnte. In Petersburg, in der Botſchaft 
der U. S. an der Fürſtadtkaja, als noch kein jüdiſcher Handelsreiſender einen ruffi- 
ſchen Paß erhielt, wohnte bereits Herr Meyer, an der Hohen Pforte des Iflam 
ſaß Herr Morgenthau. 

Bankmann zweier Welten, ging 1916 Herr Warburg aus Hamburg nach Stoch 
holm, um als deutſcher Aberdiplomat mit dem ſchwankenden, wankenden Rußland 
die ſtillen Präliminarien in Ordnung zu bringen. Schwerlich ohne den bis zum 
Erbrechen erörterten Wiederaufbau Rußlands durch die in Deutſchland verklickte 
internationale Finanz. Abwarten, ohne Ungeduld reifen laſſen kann man nun 
einmal nicht. 

„Wandte ſich, ſo daß bewundern jener ſeinen Rücken kann“, heißt es im 
Lied von König Wilhelm und Benedetti 1870. Daß Herr Protopopow in Stock- 
holm das auch tat, war der kleine Strich durch die zu haſtig gemachte Rechnung. 
Der große kam nach, das Zerberſten des künftlichen Koloſſes in die zum volklichen 
Selbſtwillen dabei erwachenden Nationalitäten. 

Das eilfertig liberaliſierte Rußland, reich am Faſerwurzelgeflecht der Stamm- 
genoſſen, „großzügig“ vom wirtſchaftlichen Neuaufbau in Beſitz genommen, wäre 
das Großreich Nr. II der Weltplutokratie der unbegrenzten Möglichkeiten get 
worden. Der Reihsdiplomatie hat es denn nicht an Geſichtspunkten gefehlt, 
fie müſſe noch wieder das nach den Naturgeſetzen der Völker zerfallende Groß 
khanat der Romanows vermörteln. Hier kam uns die „Schwierigkeit“ zugut. 
Herr v. Kühlmann verzichtete bald, der Weltgeſchichte in den Arm zu fallen. — 
Bei ſachlich klarer Sicht kann niemand meinen, daß wir dies heutige Großrußland, 
alſo das kleinere, zu „fürchten“ haben. Wir müßten es denn durch die Aufdrän- 
gung baltiſcher Gebiete mit freiwilliger Nötigung nach dem Weiten orientieren. 
Wie Oeutſchlands Schwerpunkt vom Hohenſtaufen nach dem oſtelbiſchen Neuland 
aus Entwidlungsgründen rückte, ſo hat ſich der ruſſiſche mit dem Datum 1917 


Submafinus: Das feindliche Doppelgeficht 391 


nach dem nationalruſſiſchen Sibirien und an das öſtliche Weltmeer befreit. Als 
übernationales Völkerkonglomerat weiterbeſtehend, aus der Großdeſpotie, dem 
unhaltbaren Großkhanat, mittels der Epiſode Kerensky in die Hand des goldenen 


Intellektualismus gefpielt, müßte ſich abſehbar auch das zweite Reich der un- | 


begrenzten Möglichkeiten vom Pazifik zum Atlantik auswälzen. Die Oſtſee 
und das Schwarze Meer einſchließend, wie drüben den Erie und den Michiganfee. 

Nichts iſt ſo ſtabil in der Wiederholung, wie die Legenden und Hiſtorien 
des Alten Teſtamentes der Bibel. Zoſeph bei Pharao, Mardochai, Eſther und der 
geſchichtliche Nehemia am Perſerhof. Der tiefſte Sinn des Ahasver-Fluches iſt 
es, daß ſie immer nur die Macht erlangen können, aber kein Herrenvolk der Erde 
fein. Mr. Meyer, the U. 8. Embassador, die iſraelitiſchen Minifter um den Popen- 
john Kerensky, dann Trotzky, Joffe, Kamenjew, — es ſchien jo nah und war doch 
alles vergeblich. Der Turm von Babel liegt in Trümmern, was Rußland hieß, iſt 
„zerſtreut in alle Länder, es iſt nicht mehr einerlei Volk und Sprache unter ihnen“. 
Nur: wegen Störung vertagt bedeutet nicht aufgegeben. Unter der Adreſſe der 
ruſſiſchen „Patriotenliga“ an unſere Feindesregierungen, ich leſe ſie im Pariſer 
„Journal“ vom 13. Zuni, ſteht voran Herr Efremow, folgt Herr Rafalowitſch uſw. 

Wir in Oeutſchland haben keinen Politiker, den man mit fo viel Nutzen lieſt, 
als Georg Bernhard, den ehemaligen „Gracchus“, „Plutus“, damals nur erſt ſehr 
eingeweihten Finanzſchriftſteller. Herrn Theodor Wolff kann man ohne Lupe 
leſen, kann es auch ohne Verſäumnis unterlaſſen. Herrn Bernhard muß man 
mit der Springwurz der Feinhörigkeit aufſchließen. Er iſt die Taube, die aus 
Noahs Arche kommt, man muß ſie beobachten, wie aus dem Flug der Vögel die 
alten Auguren das Schickſal laſen. Sein Wort war: Erhaltung Rußlands, als 
ob wir nur ſo mit ihm Freund ſein könnten, was wir aber ſo viel weniger 
und niemals wieder könnten. Um das den Vaterlandsparteilern einleuchten- 
der, lohnender zu machen, gaben er und feine „Voſſiſche“, die alte liberale England- 
ſchwärmerin, ohne Gnade das britiſche Weltreich dem alldeutſchen Gedanken preis. 
Auch die Berliner Zeitungen, die den Namen der Börſe im Titel tragen, ſprechen 
von der Unentbehrlichkeit des größeren Rußland. England ward Hekuba. 

Inzwiſchen iſt in Oſtſibirien u. a. eine Republik „gegründet“ worden, die 
ſich für ihr problematiſches Daſein auf die Inſpiration aus den Vereinigten Staaten 
beruft. Gleichzeitig lehrt Wilſon, man dürfe es mit den Moskauern, die doch die 
legitimen Herren Sibiriens ſind, nicht verderben. Nichts iſt aufgegeben. Nur die 
Verhüllung der Sprache. Der Geſtörte, Geärgerte, in feiner Voreiligkeit Bla- 
mierte redet hartnäckiger, nervöſer, unverblümter. Wilſons geölte ſelbſtloſe Welt- 
beſcheidenheit ſtellte feſt, daß ſich jetzt, und er denke, nicht vorübergehend, die 
Lenkung Amerikas ein wenig auf alle Nationen erſtrecke. 

Für England ſehr beachtlich anzuhören. Auch für uns. An den „leidenſchaft- 
lichen Britenfreund Wilſon“ glaubten zwar nur die politiſchen Poſemuckler, die 
zu dem Worte „angelſächſiſch“ ſofort verſtändnisvoll Aha! und Selbſtverſtändlich! 
jagen. „Alle Nationen.“ Es ift kein Rätfel darin. Aber viel Offenbarung. 

Vier Jahre Weltkrieg verändern Bedingungen und weitere Entſcheidungs- 
fragen. 1763 ſah die Welt auch anders aus, als 1756, da iſt die „erſte Großmacht“, 


392 Store: Noiegger 


Frankreich, mit Oſterreich verbündete. Englands 1765 beginnende Allmachts⸗ 
periode iſt abgelaufen. Die deutſche Michelperiode der Minderberechtigung und 
Gefolgſchaft gegenüber England muß unbedingt gleichfalls abgelaufen fein. Für 
germaniſches Staatsdenken und Volkstum wird es aber zur nachdenklichen, wenn 
auch politiſch-praktiſch längſt nicht leicht gelöften Frage, was künftig beſſer iſt, — 
Deutſchland contra Amerika mit angehängtem England, oder Deutſchland + = 
land contra vermeintlichen und ſonſtigen unbegrenzten Amerikanismus. | 


ELIA 28 n 


Rojegger - Bon Karl Storck 


Ein echtes Volkskind, Zögling der Natur, 
Wuchs dir zum Weltbild deine Heimatflur 
Und machte dich im Zeitenkampf der Geiſter 
Zu unſrem lieben guten Waldſchulmeiſter. 


Dein offner Sinn, das offnere Gemüt 

Sah den Verfall, doch auch was grünt und blüht, 
Du bliebſt im Kreis der Haſſer und der Macher 
Voll ſteter Liebe ſeelenheitrer Lacher. 


Dich lockt' nicht Glanz; dir täuſcht' nicht fremde Lift 
Der altererbten Güter Wert. So biſt, 

Als andre in die fernſten Fernen trieben, 
Heimgärtner du dem deutſchen Haus geblieben. 


Dir ward als Lohn für ſchwere Erdenpein, 

Der Gottgeweihten einer unter uns zu ſein, 
Die glücklich machen und die glücklich ſind: 

Ein gütiger Dichter und ein reines Kind. 


Nun ruhe gut von langen Kampfesmühn 
In deiner Heimat ſaftigem Mattengrün. 
Du haſt bewährt, was Treue leiſten kann, 
Als edler Chriſt, als braver deutſcher Mann. 


Ropne: Dauerware \ 393 


Dauerware 
Eine Kriegsidylle der Heimat 
Von Guſtav Kohne 


e iſt klar: nicht jeder Ort, zumal ein niederſächſiſches Heidedorf, kann 
\ an der großen Heerſtraße des Lebens und Verkehrs liegen. Auch 
Wulfshagen liegt abſeits davon; liegt verſteckt zwiſchen Tannen- 
Okämpen und Maiengrün. Das iſt ein Zeichen von Beſcheidenheit, 
und kein Verſtändiger wird ihm wegen dieſer Zurückgezogenheit einen Vorwurf 
machen. Denn noch immer gilt Beſcheidenheit als eine Zierde. Das wiſſen auch 
die Bauern von Wulfshagen. Ehrgeiz, Ruhmſucht oder wie ſonſt dieſe Art Un- 
tugenden heißen mögen, ſind den Wulfshagenern fremd. Sie verzichten auch auf 
den zweifelhaften Ruf, der neuen Zeit Richtung und Varſchroute gewieſen zu 
haben, verzichten gern darauf, ganz ohne Groll und Bitterkeit. Die Bauern von 
Wulfshagen zahlen — wenn es durchaus nicht geht, ſich darum herumzudrücken, 
ihre Steuern und gehen jeden zweiten Sonntag in die Kirche. Sie ſchlachten im 
Winter ihre drei oder vier fetten Schweine und ſtechen um die Pfingſtzeit auf 
dem nahen Moore Torf. Aus Vorbedacht, damit fie ihren Veihnachtskuchen im 
behaglichen Zimmer eſſen können und den Faſtnachtspunſch als wirklichen Genuß 
und nicht als Wärmemittel für den Körper zu ſchlürfen brauchen. Denn ſie wiſſen, 
was dem Leib bekömmlich und der Seele zuträglich iſt. Arbeit haben ſie in Fülle; 
aber mit eigentlicher Sorge geben ſie ſich nicht ab. Sorgen zehren und hindern 
gar zu ſehr den Schlaf. Wirtſchaftsfragen, Kulturprobleme, Politik — „na, ick 
meine man!“ würde der Berliner ſagen. Die Bauern von Wulfshagen ſind keine 
Promenadefexen und wiſſen, daß nur Eſſen und Trinken Seele und Leib zu— 
ſammenhält. Dieſes Wiſſen genügt ihnen, und wer mehr von ihnen fordert — 
nun, der wird zwar nicht von ihnen umgebracht; aber er wird mit blinzelnden 
Augen von unten bis oben angeſehen, als gelte es, feine geiſtige Zurechnungs- 
fähigkeit zu prüfen. Den Mund tun ſie ſelten auf, die Bauern von Wulfshagen; 
denn fie wiſſen, daß Reden zwar Silber, Schweigen aber Gold bedeutet. Und 
der Wert des Goldes wird von ihnen ſicherlich nicht unterſchätzt. Niemand kennt 
ſie beſſer, die Bauern von Wulfshagen, als ihr Landrat. Er weiß, daß er am beſten 
mit ihnen fährt, wenn er ſie möglichſt unbehelligt läßt. Er beſchränkt ſich darum 
in ſeinen Anordnungen auf das Notwendigſte und drückt auch bei dieſer N 
noch manches Mal ein Auge zu. 

Nun war aber der Krieg gekommen. Bereits zwei Jahre lang war er am 
Wüten. Und feinem Einfluß hat ſich ſelbſt ein Wulfshagen in ſeinem Kiefern- 
duft und Maienverjtede nicht entziehen können. Mancher Knecht, mancher junge 
Bauer und Tagelöhner ſteht ſeit Anfang draußen. Auch einige Verluſte ſind zu 
beklagen. Nun, man nimmt fie hin, die Verluſte, und fügt ſich ins Geſchick. Denn 
Tod und Unglücksfälle ſind in Wulfshagen von jeher keine unbekannten Gäſte. 
Selbſt an die ruſſiſchen Gefangenen hat die Leutenot Bauer und Bauersfrau 


394 Rohne: Dauerware 


gewöhnt. Aber an eins können fie ſich nicht gewöhnen, wollen fie ſich nicht ge- 
wöhnen: das iſt der fremde Eingriff in ihr Wirtſchaftsleben. Freilich, offenen 
Widerſtand zu leiſten — bewahre Gott! Sie ſind doch Chriſten, die Wulfshagener, 
und darum durch das „Wort“ verpflichtet, der Obrigkeit untertan zu fein. Sie 
geben dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und Gott, was Gottes iſt. Aber damit 
Schluß. Wer mehr von ihnen fordert — nun, die Wulfshagener Bauern bringen, 
wie geſagt, zwar keinen Menſchen um, aber ſie ſind auch nicht ſo dumm, wie 
mancher glaubt! 

Wieder einmal iſt eine neue Verfügung vom Landratsamte eingetroffen. 
Der Gemeindevorſteher Peter Sorgenſchwer lieſt ſie, die Verfügung. Lieſt fie — 
bis zur Hälfte. Dann lacht er auf und wirft fie zu all den andern dummen Schrei⸗ 
bereien, die ganz hinten auf dem Ecktiſch ſtapeln. Er muß ſeinen Hafer dreſchen 
und hat nicht Zeit, ſich mit Larifari zu befaſſen. | 

Vierzehn Tage ſpäter läuft ein Erinnerungsſchreiben ein. Peter Sorgen 
ſchwer greift ſich vor die Stirn und weiß erſt gar nicht, was der Landrat von ihm 
will. Er ſtöbert im Aktenſtoß herum und überfliegt mit nicht mehr ganz ruhigen 
Augen eine Verfügung nach der andern. Brotgetreide — Schweineſchlachtung — 
Milch- und Eierbelieferung —? Zum Teufel auch! Was gehen der Wulfshagener 
Backofen und Hühnerſtall das Landratsamt in Poggenried nur an! Mag der 
Herr Landrat die Naſe in ſeine Geſetzesbücher ſtecken, ſie aber herauslaſſen aus 
ihrem Ochſendreck und nicht hineinnieſen in ihr Butterfaß! Na, ick meine man! 

Diesmal handelt es ſich um eine Dauerware, um die Oauerware der Fleiſch⸗ 
kammer. Dauerware? Dauer — 2 Ah! Aha! Die Mettwurft! Oer Schinken 
und die Speckſeiten! Hahahaha! Jo jo jo! Über das breite Geſicht des Vor- 
ſtehers Peter Sorgenſchwer huſcht ein behagliches Lächeln, und unwillkürlich be- 
leckt er ſeine wulſtige Unterlippe. 

Nun weiß er auch wieder, Peter Sorgenſchwer, daß er über die Dauerware 
ſchon einmal etwas geleſen hat. Noch ein paar vergebliche Griffe, dann hat er 
ſie gefaßt, die einſchlägige Verfügung. Das Blatt ſo weit vorſtreckend, als die 
Arme es geſtatten, denn Peter Sorgenſchwer iſt in jeder Hinſicht ſehr weitſichtig, 
lieſt er die Verfügung diesmal von Anfang bis zu Ende durch. 

„Im! Zä jä!“ läßt er ſich vernehmen. Dann kneift er die Augen ein und 
blinzelt verſchlagen durch die Wimpern. Alſo auf Dauerware iſt es abgeſehen? 
Daue rwa—? Gut. Ihm iſt es recht. Ohne der Frau oder einem ſonſtigen Haus 
genoſſen etwas zu ſagen, klettert Peter Sorgenſchwer auf die Rauchkammer ſeines 
Strohdachhauſes, ganz nach oben, bis in den Hahnenbalken. Wieder leckt er ſich 
unwillkürlich über die wulſtige Unterlippe, und aus feinen fonft fo trüben Augen 
ſtrahlt ein Leben und Leuchten, daß dies derbe, ungewöhnlich breite Bauern- 
geſicht manchen Maler würde gereizt haben, es feſtzuhalten. Vielleicht hätte er, 
der Maler, dann auch die langen Reihen der Würſte, Schinken und Spedfeiten, 
die da unter der Dede hängen, als Staffage mit auf das Bild gebracht — um 
ſie der Nachwelt zu erhalten. Erhalten? Hm! Der Gedanke iſt nicht ſchlecht. 
Dieſer Anſicht iſt auch Peter Sorgenſchwer. Er will treu und ehrlich dafür ſorgen, 
daß es Dauerware wird, was da ſo lecker in langen Reihen vor ihm hängt. Aber 


Kopne: Dauerware 395 


wie es anfangen? Peter Sorgenſchwer verfällt ins Grübeln. Und das iſt doch 
ſonſt gar nicht ſeine Art. Aber hier lohnt es ſich. Ja, wahrhaftig, hier hat das 
Grübeln Sinn und Zweck! Und ſonderbar: trotz der Angewohntheit geiſtiger 
Arbeitsleiſtung iſt des Rätſels Löſung bald gefunden. Da in der Ecke ſteht ja die 
hohe, rauchgeſchwärzte Tonne. Schon zu Urgroßvaters Zeiten hat der von Ort 
zu Ort fahrende Händler in dem langen blauen Kittel alljährlich einen Scheffel 
körnigen Salzes in ſie laufen laſſen. Der dumme Krieg will es, daß das Salz 
pfundweiſe bezogen wird. Pfundweiſe! Ha! Hähä! Na, Schwamm darüber! 
Wozu ſich ärgern! Aber einen Vorteil hat's: die eiſenharte Tonne mit dem faſt 
waſſerdichten Oeckelverſchluſſe iſt entbehrlich. 

Gemeindevorſteher Peter Sorgenſchwer nickt der Tonne wie einem vertrau- 
ten Freunde zu, ſteigt vom Hahnenbalkenboden herunter, winkt Trine, fein treu- 
biederes Weib, zu ſich in die Schlafkammer und vertraut ihr ein Geheimnis an. 

„Tjä, wenn du meinſt, Vader! Mi ſchall et recht wäſen!“ antwortet Trine, 
als ihr Ehemann zu Ende iſt. | 

Am Abend hat Trine noch lange in der Küche zu tun. Die Magd, die ihr 
helfen will, wird zu Bett geſchickt. Eine knappe Stunde lang iſt alles ſtill im Hauſe. 
Nur ab und zu ſtöhnt an der langen Diele eine Kuh, die ſich überfreſſen hat. Dann 
wird's im Hinterhauſe, wo die Wohn- und Schlafräume der Familie liegen, leben- 
dig. Leiſe wird die Stubentür geöffnet, und in Socken ſchleichend treten Bauer 
und Frau heraus. In Socken, die geblendete Stallaterne in der Hand, geht's 
auch vorſichtig taſtend auf die Bodenkammer. Der Bauer kehrt zuerſt zurück. 
Auf den Schultern ſchleppt er die große ſchwarze Tonne. Er geht damit zur Seiten- 
tür hinaus und trägt fie in das Oornen- und Ginſtergeſtrüpp der Sanddüne, die 
die Verbindung bildet zwiſchen dem Obſt- und Gemüſegarten und dem dahinter 
liegenden Kiefernkampe. Einen Spaten hat er ſchon am Nachmittage im Vorbei- 
gehen an der Düne ſtecken laſſen, und eine Schiebkarre iſt dort aus Verſehen ftehen- 
geblieben. So kann die Arbeit gleich beginnen. Peter Sorgenſchwer zieht die 
Jacke aus, wirft die Mütze vom Kopfe, ſpuckt in die Hände und fängt an, ein Loch 
zu graben. Den Sand tut er auf die Karre und ſchiebt ihn weiter rückwärts in 
die Vertiefung, die ein umgewehter Baum zurückgelaſſen hat. Viermal hat er 
die gehäufte Karre ſchon entleert. Nun iſt das Loch ſo tief, daß er bis über die 
Hüfte darin verſchwindet. So hoch iſt auch die Tonne; denn Peter Sorgenſchwer 
ſorgt ſich um alles und hat genau gemeſſen. Alſo noch einmal die Karre gefüllt, 
damit der ſchwarze Behälter einen guten Spatenſtich unter die Erde zu ſtehen 
kommt und der nötige Sand zum Bedecken vorhanden iſt. 

Während ſeiner Grab- und Karrenarbeit ſchleppt Trine, ſein treubiederes 
Weib, eine Schürze voll angehender Dauerware nach der andern an den Bergungs- 
ort. Als der ſchwarze Hohlbauch unten ſteht, werden Speck und Wurſt und Schin- 
ken ihm in den Verſchling getan. Das iſt keine leichte Arbeit. Gemeindevorſteher 
Peter Sorgenſchwer liegt lang auf ſeinem runden Bäuchlein, läßt ſich von Trine, 
ſeinem treubiederen Weibe, ein Stück der im Werden begriffenen Dauerware 
nach dem andern reichen und läßt's vorſichtig in den ſchwarzen Schlund hinab. 
„Ruitt — kumm mit!“ ſchreit ein Käuzchen aus dem nahen Buſche. Sonſt iſt 


396 Kohne: Oauerware 


alles ſtill. Peter Sorgenſchwer ſpornt der Eulenruf zur Eile an. Während er 
Deckel und gelben Sand auf den feuer- und diebesſicheren Dauerwarenbehälter 
tut, holt die Frau eine Schürzevoll trockener Nadeln und halbvermoderten Laubes 
heran. Damit wird das Dauergrab in Andacht und Pietät beſtreut, und Peter 
Sorgenſchwer und Trine, fein treubiederes Weib, kehren mit Schute und Karre 
nach dem langen Strohdachhaus zurück. 

Mit leichtem Herzen legen ſie ſich ſchlafen. Denn auch für ſie gilt das Wort: 
„Nach getaner Arbeit iſt gut ruhen.“ Ebenſo das andere, in dem vom guten Ge⸗ 
wiſſen und ſanften Ruhekiſſen die Rede iſt. ö | 

Am nächſten Sonntagnachmittag hält Peter Sorgenſchwer in AUngelegen- 
heit der Dauerware eine Gemeindeverſammlung ab. Wie gewöhnlich findet die 
Zuſammenkunft im Dorfkruge ſtatt. Die kurze Pfeife im Munde, an den Füßen 
dicke rindslederne Stiefel und auf dem Kopfe eine ſchwere Stoffmütze, kommen 
die Bauern nacheinander angeſchlarrt. Faſt alle bartlos, mit braunen, ſehnigen 
Geſichtern. Bald ſind alle Stühle beſetzt, und der Wirt hat ſeine liebe Not, den 
Beftellungen auf Bier und Schnaps nachzukommen. 

Eine halbe Stunde nach der angeſetzten Zeit rückt Peter Sorgenſchwer mit 
dem Beratungsgegenſtand heraus. „Für Dauerware ſollen wir ſorgen“, beginnt 
er. „Sie verlangen da oben, dat wir recht dicke Schweine ſchlachten. Hä! Oicke 
Schweine! Wovon denn? Von Buchweizenkaff un Rübenblättern? Hat ſich was! 
Sollten uns man unſern Roggen un Hafer laſſen, die da oben! Dann wären 
wir ihnen auch gut für dicke Schweine. Und dann ſoll ich an ſie ſchreiben, woviel 
Wurſt un Schinken un Speck ein jeder auf der Bodenkammer hängen hat.“ 

Durch die Verſammlung geht ein Räuſpern und ein Huſten; auch ein paar 
halb mißlungene Vitze werden laut. Peter Sorgenſchwer iſt es juſt ſo recht, und 
er grieflacht zu dem Räuſpern und dem Huſten. Als Diplomat und Führer der 
Gemeinde weiß er ſich aber zu beherrſchen. „Tjä, Leute“, fährt er fort. „Wat 
ſin mott, dat mott ſin; wat aber nich ſin mott, dat brukt ok nich to wäſen. Zähle 
un wiege ein jeder ſo gut, als er's gelernt hat, un dann ſchreibt er's auf 'n Zettel, 
woviel Schinken un Wurſt un Speck er noch auf'm Boden hängen hat. Den Zet⸗ 
tel bringt er mir dann in mein Haus.“ 

Eine ganze Weile herrſcht völliges Schweigen im Zimmer. Die Bauern 
ſitzen in ſich gekehrt da und ſaugen bedächtig an den Pfeifen. 

„Alſo bloß dat, wat up de Rauchkammer hängt?“ näſelt einer vor ſich hin. 

„Natürlich!“ beſtätigt Peter Sorgenſchwer. „Wat nich im Rauche hängt, 
iſt ok keine Dauerware, kann beſtenfalls erſt welche werden. Verſtehſte? Hä —? 
Un wat noch erſt im Werden und Entſtehen is, dat zählt nicht mit.“ 

„Na,“ wird ihm da zur Antwort, „denn wüllt wi den Stips woll lecken un 
dat Swin woll trecken!“ 

Damit iſt die offizielle Beratung erledigt und die geheime, vertrauliche, die 
von Nachbar zu Nachbar ſetzt ein. Manches „Ah!“ wird laut, manches verſchmitzte 
Lächeln und Zublinzeln iſt zu beobachten. 

Die Folge iſt, daß es in den nächſten Nächten kaum während einer einzigen 
Stunde in Wulfshagen ruhig wird. Hier ſchleppt jemand einen ſchweren Sack 


Brauer: Zm Gras | 397 


nach dem Bienenzaune in der Heide, dort karrt jemand einen unförmlichen Stein- 
topf nach dem Sandberg hinter dem Oorfe. Bei einzelnen kreuzen ſich die Wege. 
Und begegnen ſich dieſe Bauern in den ſpäteren Tagen auf der Straße, und es 
wird nach dem „Woher“, „Wohin“ gefragt, ſo heißt es wohl mit ſchmunzelndem 
Geſicht: „Na, mal up den dicken Findlingsſtein dahinten in der Heide dat Freuh- 
ſtücksmeſſer wegen.“ 

Der andere fängt dann vertraulich an zu lachen, krault ſich mit vielſagender 
Gebärde im Nackenhaar und geht mit einem ſchmunzelnden: „Jo jo jo, dat find 
eis Tieden!“ feiner Wege. 

Peter Sorgenſchwer hat bereits dreimal in nächtlicher Stunde die Vorräte 
feiner Bodenkammer mit den in der Sanddüne eingekellerten gewechſelt. Natür- 
lich aus Pflichtgefühl: um ſie trocken zu erhalten, ſie vor Fäulnis zu bewahren 
und richtige Dauerware daraus zu machen. Jetzt erſt weiß er, wie zutreffend doch 
ſein Familienname iſt. Ja wahrhaftig, er hat's nicht leicht. 

Auch dem Landrat in Poggenried geht ein Verſtändnis für Peters Namen 
auf. Hat es doch Peter Sorgenſchwer in der fleiſcharmen Kriegszeit fertiggebracht, 
trotz des geringen Beſtandes der Vorratskammer, der ja von Polizei und Militär- 
verwaltung beſtätigt worden iſt, volle eindreiviertel Zentner in freiwilligen Gaben 
an die Kreisbehörde abzuliefern. Wer hätte darum wohl ein größeres Anrecht 
auf das „Allgemeine Ehrenzeichen“ gehabt, als Peter Sorgenſchwer, der einfichts- 
volle Erhalter der fo ſehr begehrten Dauerware! Oieſer Meinung iſt auch der 
Kreisblattredakteur in Poggenried. Mit warmen Worten feiert er den neuen 
Ordensritter und ſtellt ihn den übrigen Ortsvorſtehern des Bezirks als Vorbild 
hin. Das iſt gerecht und auch klug und geſcheit gehandelt. Denn nach einigen 
Wochen geht eine zweite Sendung Dauerware von Wulfshagen nach der Kreis- 
ſtadt ab. Diesmal iſt's ſogar noch ein voller halber Zentner mehr geworden, und 
Peter Sorgenſchwer hat Ausſicht auf eine zweite Anerkennung ſeiner Verdienſte 
um das allgemeine Menſchenwohl. 


Im Gras Von Helene Brauer 


Sieh, alle Blumen ſind höher als ich und du! 
Liebſter, ſei leiſe, 
Sie hören zu. 


Laß mich und leg' deinen Kopf ganz ſtill in meinen Schoß: 
Der neugierige rote Klee 
Macht ſchon die Augen groß. 


Und die Feuernelken lachen uns ins Geſicht — 


Ich ſchäme mich fo, 
Küſſe mich nicht 


UP 


398 | Oilers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt 


Was die heutige Frauenbewegung 


leiſtet, und was ihr fehlt 
| Von Marie Diers | 
7 in gänzlich andres Geſicht hat heute das Schrifttum der Frauen- 


| Rampfgefhrei hüben und drüben, Verfechten und Belegen der 


— 


— __ +9 Meinungen für und wider, ein immer erneutes Beleuchten der Natur 


und Beſtimmung des Weibes — vielfach Ausartung in Plattheiten, Worträuſchen, 
geiſtigen Seiltänzerſprüngen. Ä a 

Heute liegt das gefamte Schrifttum zu dieſer Frage faſt ausſchließlich in den 
Händen der Frauenrechtlerinnen. Und dieſe — da nun der Meinungskampf zu 


ihren Gunſten entſchieden iſt, wenigſtens in der Sffentlichkeit — haben es nicht 


mehr nötig, ihre Sache zu verteidigen, zu beweiſen, zu beleuchten. Sie ſteht feſt, 


— 
1 


— —- 


und die Zeit zu poſitiverer Arbeit iſt für ſie gekommen. 

Der Sache an ſich kommt dies zugute. Das erkämpfte Feld wird ausgebaut, 
und was darauf blüht, iſt etwas ſehr Tüchtiges und Brauchbares. Ein Bienenfleiß, 
ein Arbeitsehrgeiz, der den berufstätigen Frauen viel ausgeprägter eignet als 
den Männern, feiert hier ſeine Triumphe. Die Frauen dringen nicht nur tätig, 
ſondern auch beobachtend, ſichtend, feſtſtellend in das Getriebe des öffentlichen 
Lebens ein, ziehen ihre Schlüſſe, ſtellen ihre Folgerungen zuſammen. 

Feder Anklang an den gereizten Kampfton früherer Jahre iſt geſchwunden. 
Es iſt alles ſachlich, unwiderleglich ſachlich. Hier werden die Fundgruben, die 
Stützen und Anhaltpunkte für die Nachkommenden geſchaffen, für das junge Ge⸗ 
ſchlecht, das in die ſchon bereiteten Bahnen nur noch einzutreten hat. 

Die Zukunft unſrer Töchter iſt unmittelbar mit den Befunden dieſer raft- 
loſen und tüchtigen Arbeitsgeiſter verknüpft, an ihren Leitfäden taſten ſie ſich 
in das Berufsleben hinein. : 

Ich greife die Namen der hervorſtechendſten Führerinnen heraus, die durch 
ihren Bienenfleiß, ihr eindringendes Studium, ihre anhaltende Beſchäftigung mit 
den öffentlichen Dingen und nicht zuletzt ihre Lebensklugheit und Gewandtheit 
ſich das Recht erobert haben, den Nachkommenden Leitſtern zu ſein: Sofefine 
Levy- Rathenau; Hildegard Radomski; Dr. Marie Bernays; Frl. Dr. Bäumer; 
Frl. Dr. Salomon; Frl. Dr. Käthe Schirmacher. 

Es ſteht z. B. ſo, daß es für jede Mutter, deren Töchter vor der Berufswahl 
ſtehen, für jedes junge Mädchen, das ſich einen Weg wählen ſoll, in hohem Grade 
ratſam iſt, ſich das Buch von FJoſefine Levy Rathenau: Die deutſche Frau 
im Beruf (Moeſers Buchhandlung) anzuſchaffen. Es gibt einen ausgezeichneten 


überblick über die Berufe, die akademiſchen, ſozialen, kaufmänniſchen uſtw., die 


Anſtellungsmöglichkeiten, die Bezahlungsverhältniſſe. Außerdem hält es mit der 
Zeit Schritt, verzeichnet z. B. ſoviel wie möglich die jeweiligen Veränderungen, die 


der Krieg bringt, erteilt wohlangebrachte Warnungen und ſteht gewiſſenhaft von 


jeder feſten Angabe ab, wo die Verhältniſſe fließend oder unſicher ſind. 


bewegung, als es dies vor einem Dutzend Jahren hatte. Damals 


ö 


Oiers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt 399 


In ihrer durch den Gegenſtand gebotenen Beſchränkung ebenſo zuverläſſig, 


umfaſſend und geordnet iſt die Schrift: Die Frau in der öffentlichen Armen 
pflege von Hildegard Radomski (Moeſers Buchhandlung). Man erhält Ein- 
blick in die verſchiedenen Syſteme der Armenpflege, ihre geſetzlichen Grundlagen, 
die geſchichtliche Entwicklung. Dann auch eingehend in die Pflichten, in die mannig- 
fachen Anforderungen, denen eine Armenpflegerin gewachſen ſein muß, in die 


verſchiedenen Zweige dieſer Arbeit und die Anſtellungsverhältniſſe. Was man 


von dem Stoffe verlangen kann, wird hier lückenlos geboten. 


Dr. Marie Bernays: Zuſammenhang von Frauenfabrikarbeit ö 
und Geburtenhäufigkeit in Oeutſchland (Moefers Buchhandlung) gibt 
ein ſtatiſtiſch nach allen Seiten hin belegtes Bild von dem Anteil der Frau an der 


gewerblichen Arbeit und dem etwaigen Rückſchlag auf ihre Mutterſchaft. Es handelt 
ſich hier allerdings um etwas mehr als eine bloße Sichtung, Einordnung und Dar- 
ſtellling der beſtehenden Verhältniſſe — es bricht durch den objektiv zu betrachtenden 
Zahlen- und Tatſachenſtoff immer wieder ein ſubjektives Mühen, die Schlaglichter 
nicht zu ſtark zuungunſten der Frauenfabrikarbeit fallen zu laſſen. Teilweiſe geben 
dem die Zahlenverhältniſſe recht, es fehlen aber nicht Stellen, an denen die Ver- 
faſſerin etwas vergewaltigend an den Oingen rückt, um ſich ſpäter notgedrungen 
ſelbſt widerlegen zu müſſen. Es iſt ihr durchaus zuzuſtimmen, wenn ſie außer 
der Fabrikarbeit noch eine ganze Reihe andrer Urſachen für den Geburten Rückgang 


namhaft macht: fo den zerſetzenden und ſchwächenden Einfluß der Großftadt, dem 


es zuzuſchreiben iſt, daß die Provinz Brandenburg dank der Willionenſtadt Berlin 
in der abſoluten Geburtenziffer am niedrigſten, wie in dem Geburtenſturz mit an 
erſter Stelle ſteht. Ferner, wenn ſie die Nahrungsmittelteuerung verantwortlich 
macht, auch das Erbrecht am Boden, durch das (3. B. in Heſſen) der begreifliche 
Wunſch, das Kindererbe nicht allzuſehr zu zerſtückeln, zu den erſtaunlich niedrigen 
Geburtenziffern führt. Dann tritt auch der bemerkenswerte Einfluß der Kon- 
feſſionen zutage. Der Katholizismus hat die meiſten Kinder, danach der Pro- 
teſtantismus. Am ſchlechteſten kommen die Miſchehen weg, und an allertiefiter 
Stelle ſteht das unkirchliche Frankreich. 

Es iſt auch ohne Zweifel, daß die willkürliche Beſchränkung der Geburten, 


genährt von dem Trugbild des Neumalthuſianismus, zu dem die Frauenbewegung 


im ganzen und der Bund für Mutterſchutz in ausgeſprochener Weiſe neigt, in das 
Publikum, auch in die Arbeiterſchaft durch einen Teil der Arzte (Dr. Bernſtein und 
Dr. Marcuſe in erſter Linie) und durch profitgierige Händler eingeführt, die Haupt- 
laßt der Verantwortung an dem reißenden Geburtenrückgang trägt. Es bleibt aber 
trotz aller Gegenverſuche beſtehen, daß ein merklicher Rückgang dort eintritt, wo 
ſtarke Fraueninduſtrie herrſcht, wo beſonders die 20—30jährigen in die Fabriken 
ſtrömen, daß im Gegenſatz ein merklicher Geburtenhochſtand in Orten mit hauptſäch- 
licher Männerinduſtrie feſtzuſtellen iſt, und daß die gewerblichen Gifte, denen die 
Arbeiterinnen der Textil-, Tabak-, Metallinduſtrie uſw. ausgeſetzt ſind, unmittelbar 
ſchädlich auf die ungeborenen Kinder wirken. Daß die immer vervollkommnete 
Technik kein Geſchenk für unſre Volksgeſundheit iſt, indem die Muskelarbeit, die 
die Frau (wie auf dem Lande) tüchtig macht zu reicher Mutterſchaft, abgelöſt wird 
von der ſchwächenden Nervenarbeit (eine Arbeiterin bedient 8-10 Webſtühle). 


— nn 


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400 5 Diers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was Ihr fehlt 


Es iſt dann noch ſachlich lobend zu erwähnen: Bürgerkunde und Volks- 
wirtſchaftslehre für Frauen von Elly Heuß Knapp (Voigtländers Verlag) 
und Käthe Schirmacher: Die moderne Frauenbewegung (Verlag Teubnehy. 

Beide Bücher werden ihrem Stoff durchaus gerecht. Wer ſich über das 
eine und das andere unterrichten will, tut gut, ſich dieſe Leitfäden zu kaufen. Kurz 
gefaßt, überſichtlich, erſchöpfend und das Weſentliche erfaſſend. 

Ungefähr dasſelbe, wenn auch mit eingeſchränkterer Anerkennung ließe ſich 
(vom Schrifttum zur praktiſchen Arbeit übergehend) von den ſozialen Frauen- 
ſchulen des Frl. Dr. Bäumer in Hamburg und des Frl. Dr. Salomon in 
Berlin ſagen. Dies find die Anftalten, die an der Spitze des geſamten Frauen- 
ſchulweſens zu marſchieren meinen, und denen auch wohl am meiſten Beachtung 


zuteil wird. = , 4 


Bis hierher weiſen die tatſächlichen und unbeſtreitbaren Leiſtungen der 
Frauenbewegung. Doch nun kommt das große Aber, der gewaltig aufſteigende 
Mangel wie ein gähnender Rachen, den Tauſende nicht ſehen, den die Berufenften 
unter den Zugendleiterinnen noch nicht einmal ahnen, weil ihr Blick ſeit Zahrzehn⸗ 
ten künſtlich auf eine Seitenrichtung eingeſtellt iſt und der doch unſer junges auf⸗ 
wachſendes Mädchengeſchlecht und mit ihm unſre künftigen Mütter verſchlingen 
wird, wenn nicht beizeiten die Herzen erwachen, die Augen wieder ihre natürliche 
Blickrichtung gewinnen. 

Allen dieſen tüchtigen, brauchbaren Büchern und Anſtalten, dem ganzen 
Stabe dieſer Frauenführerinnen fehlt etwas. Und was ihnen fehlt, iſt gerade 
das Beſte und Höchſte, iſt das für Vaterland und Familie Anentbehrlichſte. Dieſe 
Bücher und Frauenſchulen, ſo klug erdacht, ſo emſig geſchaffen und ausgebaut, ſo 
eifrig geprieſen — ſind kernlos. 

Ihnen fehlt der große Sammelpunkt, die heiligende Grundkraft, ohne die 
alles, was ſie bieten, und mag es Tauſendfaches fein, loſe herumflatternde Einzel- 
heiten bleiben, ohne Beziehung zum wahrſten Lebenspunkt. Sie kommen mir vor 
wie Lexika, wie Wörterbücher. Unanzweifelbar in ihrer Fülle, ihrer Richtigkeit, 
ihrer Notwendigkeit und Brauchbarkeit. Aber ohne geiſtigen Mittelpunkt, ohne 
Zuſammenhang in ſich, ohne lebendige Beziehung zu uns. Als Wörterbücher nutz 
lich, aber nicht als Lebensleiter. 

Wer aber keine andere Lektüre hat, der lieſt Tag für Tag in dieſen Wörter⸗ 
J büchern, bis er dumm im Kopf und leer, ausgepumpt im Herzen iſt. 

f Ihnen fehlt das Ideale — das religiöfe u und nationale Moment. 

ö In Foſefine Levys Buch ſucht man es am wenigiten. Sas iſt wirklich ein Nach · 
ſchlagebuch und will nichts anderes ſein. Aber ein leiſes Ziehen und Weiſen nach der 
Seite der Frauenrechtlerinnen iſt darin unverkennbar. Soweit es überhaupt hervor 
tritt, iſt es „links orientiert“. Unter den Berufen fehlt bezeichnenderweiſe der 
der Miſſionarin. Es iſt dies bei der ganzen Stellung der Frauenbewegung ein 
fach ſelbſtverſtändlich. Zu dieſer Sache nachher noch ein weiteres Wort. 

Etwas mehr tritt der Mangel ſchon in Hildegard Nadomskis Buch von der 
Armenpflege zutage. Hier wäre der Ort, an dem die Herzenskraft, die Gefühls 
wärme durchbrechen müßte, wenn ſie da wäre, unhemmbar ſelbſt dann, wenn die 


x 


* 22 um e . 


— „ K Zn N 


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Dlers: Was dle heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt 401 


Verfaſſerin ſich nüchternſte, unbeirrteſte Tatſachenbehandlung zum Geſetz gemacht 
hätte. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Der Abglanz fehlt. 

In der „Bürgerkunde“ von Elli Heuß- Knapp und der „Frauenbewegung“ von 
Käthe Schirmacher fehlt auch dieſer Glanz. Man fragt ſich: Iſt es möglich, das 
wundervolle, reichgegliederte Gefüge unſeres deutſchen Vaterlandes, dies Runft- 
werk höchſter Schaffenskraft, an dem jetzt unberufene, ſchmutzige Hände zu reißen 
wagen, den klaren, kühnen Staatsbau Preußens mit ſeiner kerngeſunden Finanz, 
die beiſpiellos daſteht im Reigen der Völker, ohne ein Wort, ein Zeichen tiefer Er- 
griffenheit, heimlich jubelnder Begeiſterung uns zu zeigen? Soll das „objektiv“ fein? 
O nein, es iſt einfach farblos, leblos, ſchal. Leſe man die prächtigen Ausführungen 
von Schubert über die Verfaſſung und Verwaltung des Deutschen Reiches und Preu- 
Bens, jetzt in ſeiner 26. Auflage, und man wird ſehen, wo es dieſen Frauen fehlt. 

Und wie iſt es möglich, die Frauenbewegung in ihrer geſamten Erſcheinung 
darſtellend, Deutſchland, unſer Vater- und unſer Kinderland, unſer Eigenſtes, das 
uns an Fleiſch und Blut, an Seele und Zukunft geht, nur als geographiſchen Be- 
griff zwiſchen den anderen Staaten zu nennen, einzuordnen? Übrigens mit betonter 
Hinneigung zum weiblichen Stimmrecht, zu jeglichem Frauenrecht überhaupt. 

Käthe Schirmacher iſt heute eine Ausnahmeerſcheinung unter den ganz 
international gerichteten Frauenrechtlerinnen, von denen Minna Cauer, von 
jeglicher nationaler Würde verlaſſen, jetzt im Kriege einen Gruß an die engliſchen 
Frauenrechtlerinnen ſchickt, ihnen herzlich glückwünſchend die Hand drückt für das 
eroberte Stimmrecht — Käthe Schirmacher iſt ganz deutſch geſinnt, ſie glüht in 
heiligem Eifer für des Vaterlandes Not, feinen Stolz und feine Hoffnung. Um fo 
ſeltſamer wirkt dieſes farbloſe Buch, das nur von dem Wunſch nach ausgedehnten 
Frauenrechten Farbe erhält. | 

In den ſozialen Frauenſchulen von Frl. Salomon und Frl. Bäumer iſt eine 
Fülle, eine Aberfülle an Stoff, die den feiner organiſierten Schülerinnen bedrückend 
iſt, weil die Menge in keinem Verhältnis zur Tiefe ſtehen kann, und die gewiffen- 
hafte, kluge Eltern bedenklich machen müßte. Immerhin, es wird viel, alles, was 
nur irgend in den Rahmen geht, geboten — und es fehlt doch eines. Die Ge- 
ſinnungspflege fehlt. Das Religiöfe fehlt und das Weden des Nationalbewußtſeins, 
des Stolzes auf unſer Vaterland, des Verantwortlichkeitsgefühls für unſer Deutſch- 
tum. Der Kern des inneren Lebens fehlt, ohne den keine Jugend gedeiht, ohne 
den Kraft und Glanz im weiblichen Dafein verkümmert und verblaſen wird. 

Anſtatt dieſes ſtarken, ſtolzen, frohſinnigen Glaubens und Wollens aber wird 
die alte fatale „Objektivität“ geboten, mit der ſich unſere Objektiven ſchon lächerlich 
genug gemacht haben. Und dann — trotz dieſer proklamierten Objektivität — eine 
ſubjektive Gehäſſigkeit gegen alles, was ſtark und vaterländiſch auftritt, wie fich 
an den reichlichen Ausfällen von Frl. Dr. Bäumer gegen die Vaterlandspartei 
zur Genüge erweiſt. In dieſen Anſtalten ſollen unſre künftigen Mütter heran- 
gezogen werden — Mütter von Helden, wie ſie unſere Zeit trägt?? 

Das „Soziale“ ſoll das Nationale überflüſſig machen. Es überſchreit es 
heute ſchon. 


Und nun die Folgerung. 
Der Türmer XX, 21 26 


402 | geln: Sommermorgen 


Was der heutigen Frauenbewegung fehlt, was überall in dem Wirken und 
den Spuren dieſer fleißigen, nüchternen Berufsmädchen fehlt — wo wird es uns 
erſetzt, wer erſetzt es uns? 

Wo es da iſt, da fehlt vielfach das, was uns und unſerer Jugend das Wirken 
der Frauenrechtlerinnen unentbehrlich macht: die praktiſche, erfolgreiche Lebens 
durchdringung. Der Menſch lebt zwar nicht vom Brot allein, das ſehen wir an 
der Leere, die dieſe kernloſen Beſtrebungen ſchaffen. Der Menſch lebt aber auch 
nicht vom Geiſt allein — er braucht Geift und Brot. 
| Da fangen unfere Aufgaben an! Die Zeit muß vorüber fein, in der wir 

alles aus den Händen der Frauenrechtlerinnen nehmen. Unſere weibliche Jugend 
braucht heute mehr, ſie braucht geſundere, gehaltvollere Koſt. Schon arbeiten die 
chriſtlichen Frauenſchulen in dieſer Hinſicht, aber noch lange nicht genug, noch lange 
nicht geſchickt genug. Hier iſt ein Feld für unſere organiſatoriſchen Kräfte. Laßt 
uns die jungen Mädchen fo richten, daß fie einſt hier ihre Kräfte einſetzen können. 
Laßt ſie uns darauf ſchulen, fähig zu werden, die Bücher und Nachſchlagewerke, 
die zuſammenfaſſenden Ergebniſſe eingehender Studien ſchreiben zu können, in 
denen neben der Tüchtigkeit und Zuverläſſigkeit der heilige Geiſt nicht fehlt, der 
Geiſt der Religion, des Vaterlandes, des Muttertums. 

Verheißungsvoll ſprießen die jungen Saaten. Ich weiß es aus lebendiger 
Erfahrung. Hier gilt es, die neuen Kräfte zuzubereiten für neue Lebens- und 
Schaffensformen, erfüllt mit den alten heiligen Idealen unſeres Volks! 


MM 


Sommermorgen Von Kriegsfreiw. Alfred Hein 


Die Lerche warf den Tag, den jungen, 
Mit einem friſchen, übermüt’gen Triller 
Herunter und mir Schlafenden ins Herz. 
Und munter war ich aufgeſprungen! 


Und riß die Augen weit! Und lauſchte .. laufchte . . 
Und glaubt’ es endlich — daß im Land der Gräben 
Nur Sommer war — — ein Friede märchenfein 
Den noch kein Todeseiſen ſchrill durchrauſchte. 


Und eine ganze Stunde ging — war zart verwoben 

Ins lichte Blau, dem Tempel meiner Glüͤcksgebete! 

Und mit der Sonne und den Lerchen und dem weichen Duft 
Stieg ich und ſtieg! Ward Nöte, Gold, Demant! 

Und meine Augen waren froh wie Schmetterlinge! 

Als ſprängen Blüten, wurden meine Fäuſte wieder Hand, 
Die felig-langfam nach der ſchönſten Wolke greift . . 


Doch da ein Grollen durch die Stille ſtreift, 
And vor mir waren ſchwarz Granaten aufgeſtoben. 


% 


RISSE 


— 


Hnſere Alten! Wir, die wir jetzt alt geworden ſind, haben als Jünglinge zu Abe 
Füßen geſeſſen, und mit dankbarem Herzen denken wir daran, was wir von ihnen 
mitnehmen durften in unſer Leben und zehren jetzt noch davon. Unſere Zeit, 
die ſo groß und reich iſt an ungeheuren Erlebniſſen, iſt deshalb auch ſo ſehr geneigt, der Alten 
zu vergeſſen — aber was wären wir, wenn wir nicht auf ihren Schultern ſtänden! Vielfach 
kommen ſich die Zungen, die Neuen größer vor, als die Alten, weil ihnen Dinge in den Schoß 
gefallen find, von denen die Alten noch keine Ahnung haben konnten, gber vielfach find fie 
doch nur Epigonen. Was die Alten geleiſtet haben, iſt mehr. Zu den Alten zurückkehren, heißt 
vielfach Neues gewinnen. 

. Juli ds. Is. werden es fünfzig Jahre, daß Auguſt Vilmar in Marburg die Augen 
für dies Leben ſchloß. Man fand ihn an jenem Morgen friedlich entſchlafen in ſeinem Bett, 
wie er ſich abends niedergelegt hatte, ſein Käpplein in den gefalteten Händen. So hatte er 
ſich ſein Sterben immer gewünſcht und vom Herrn erfleht. Er iſt 68 Zahre geworden. Was 
hat der Mann in dieſer Spanne Zeit auf den verſchiedenſten Gebieten des öffentlichen Lebens 
und der Wiſſenſchaft geleiſtet! Wer kennt ihn nicht als Literarhiſtoriker! Seine Geſchichte 
der deutſchen Nationalliteratur zu leſen iſt heute noch ein Genuß. Neuere haben wohl weiter- 


gebaut, aber ihm gleichgekommen, oder gar ihn übertroffen an Klarheit des Urteils und liebe- . 


vollem Ergreifen der gefundenen Schätze hat ihn keiner. Großes hat er ferner geleiſtet auf dem 
Gebiet der Schule. Hier iſt er bahnbrechend geweſen für ſein engeres Vaterland Heſſen und 
weit über die Grenzen desſelben hinaus. Gelehrten und Volksſchulen ſollten ihm mehr fein, 
als Einrichtungen, um mit einem gewiſſen Wiſſensſtoff die Köpfe zu füllen, er wollte Männer 
erziehen, Charaktere, bewußte Chriſten. Als ein Mann, als ein Charakter, als ein 
bewußter Chriſt ſtand er wie eine knorrige Eiche in den Revolutionsſtürmen um die Mitte 
des vorigen Jahrhunderts (Rudolf Roch oll nennt ihn irgendwo einmal die knorrigſte Eiche des 
Heſſenlandes). Da bot er unerſchrocken dem Marburger Mob, der ihm das Haus ſtürmen 
und ihn ſelbſt maſſakrieren wollte, die Stirne, er iſt ein Zeuge, ein Streiter geweſen wider die 
Revolution, wie wenige. — Und nun der Theologe! Oer Schreiber dieſes weiß, daß nam- 
hafte, auch gläubige Vertreter der Theologie ihre Bedenken haben gegen manches in Vilmars 
Lehre, er aber für ſeine Perſon legt in Dankbarkeit einen Kranz auf Vilmars Grab: hier ruht 
ein Mann, der ein Großer war auf dem Gebiet der Theologie, ein Großer in der Kirche des 
Herrn. Auf feinem Grabmal ſtehen, wie er ſelbſt es gewünſcht hatte, die Worte: „Zch habe 
geglaubt an eine Vergebung der Sünden, eine Auferſtehung des Fleiſches und ein e 
Leben. Amen!“ 


404 Chamberlain über die rumäniſchen Zuben 


Zu den Alten zurückkehren, aus den Brunnen ſchöpfen, die ſie gegraben haben, das 
würde großen Gewinn bringen den Zungen. 

Wer über den Werdegang dieſes ſeltenen Mannes Näheres wiſſen will, leſe die höchſt 
intereſſant geſchriebene Biographie Vilmars von W. Hopf (N. G. Elwerts Verlagsbuchhand⸗ 
lung, Marburg). Pfaff, Sup. 


82 
_ Shamberlain über die rumäniſchen Juden 


VL u der auch in deutſchen Blättern und Reden viel erörterten rumäniſchen Zuden- 
frage nimmt Houſton Stewart e in „Deutfchlands Erneuerung“ (3. 


Erft feit dem Jahre 1723, d. h. alſo mehr als ein halbes Jahrtauſend nach der Begrün- 
dung des engliſchen Reiches und erſt nach einer in der Hauptſache dauernden Feſtigung des 
Lanbbeſitzes, ließ das engliſche Volk die Juden zum Grundeigentum zu. Wer weiß, ob das 
heutige England — die Weltmacht — unter anderen Bedingungen je entſtanden wäre? 
Sch glaube es nicht. Denn im frühen Mittelalter waren die Zuden in England ſehr zahl- 
reich; und wenn Sie des berühmten Nationalökonomen Cunninghams Werk The growth of 
English industry and commerce during the early and middle ages (dritte Auflage, 1896, 
S. 199ff.) aufſchlagen, fo werden Sie ſehen, daß dieſe Juden, denen bis zum Jahre 1290 jedes 
Gewerbe und jedes Handwerk offenſtand, und gegen die noch ein Vorurteil herrſchte, ſich 
ausſchließlich mit Galdwucher und anderen unſauberen Geſchäften abgaben. Die vielen Ver⸗ 
ſuche der Negierung, die Juden zur Ergreifung anſtändiger Gewerbe zu bewegen, ſchlugen 
fehl. (S. 203.) Und fo vergleicht denn Cunningham die damalige jüdiſche Kolonie mit „einem 
Schwamm, der das geſamte Vermögen der werdenden Nation aufſog“. Genau ebenſo erging 
es damals dem franzöfifchen Adel; faſt fein geſamter Beſitz war im 13. Jahrhundert an die 
Juden verpfändet (ſiehe André Reville: Les paysans au Moyen Age, 1896, S. 5. Was hat 
nun dieſe Länder vor der gänzlichen Entnationaliſierung ſchon in dieſen erſten Anfängen ihres 
ſtaatlichen Dafeins geſchützt? Einzig die Klauſel, welche den Juden vom Grundbeſitz ausſchloß. 
Ohne dieſe Maßregel wäre der geſamte Boden von England und Frankreich — abgeſehen von 
den Staatsdomänen — vom 13. Jahrhundert ab jüdischer Beſitz geweſen, und die Geſchlechter, 
welche engliſche Geſchichte ſeitdem gemacht haben, hätten als Frondiener der Wucherer ihr 
Daſein friſten müſſen! Jene eine Maßregel genügte aber nicht, um dem zerſetzenden Einfluß 
der großen jüdiſchen Kolonie in England Einhalt zu tun, und ſo entſchloſſen ſich die von jeher 
praktiſchen Engländer zu einem gründlicheren Vorgehen; ſie entfernten ſämtliche Juden aus 
dem Lande. Vom Jahre 1290 bis zum Jahre 1657 hat es in England keinen Juden gege⸗ 
ben — d. h. alſo während der ganzen Konſolidierung der Nation, vom großen erſten Eduard 
(dem erſten echten Nationalkönig und Begründer des eigentlichen Parlaments) bis nach dem 
Tode der großen Herrſcherreihe, die mit Heinrich VIII. beginnt, in Eliſabeth gipfelt und mit 
Cromwell und ſeiner weitſichtigen überſeeiſchen Politik endet. Dieſe Tatſache iſt nun von 
dauerndem Einfluß bis auf den heutigen Tag geblieben. Denn während es zur Zeit der Der- 
treibung 16000 Juden in England gegeben hatte (ſiehe Green: History of the English People, 
Buch III, Kap. 4), was nach den zuverläſſigſten Schätzungen der damaligen Bevölkerungs 
zahlen mindeſtens 1, wahrſcheinlich aber gegen 2 Prozent der Bevölkerung ausmachte, gibt 
es in dem heutigen England (nach dem Jewish Year Book für das Jahr 1898) nicht ganz 
Y4 Prozent Juden. Inzwiſchen war eben das engliſche Volk nach jeder Richtung hin erſtarkt, 

und ſo konnte der Jude nie mehr in dem Maße wie früher — und trotzdem alle Türen und 

Tore ihm offen ſtanden — Fuß faſſen. Wenn alſo, wie geſagt, das e Verhältnis 


Ehamberlain über die rumäniſchen Zuden 405 


der Juden in England und in Rumänien heute dasjelbe wäre, ſo berechtigten die Lehren der 
Geſchichte nicht zu der Behauptung: weil in England die Juden ſeit anderthalb Zahrhunder- 
ten Grundeigentum beſitzen dürfen und ſeit etwa 50 Jahren in jeder Beziehung gleihbe- 
rechtigte Bürger ſind, deswegen iſt ein gleiches für Rumänien ratſam. Nur Sophismus oder 
Anwiſſenheit kann eine derartige Folgerung ziehen. Denn die Geſchichte — deren Lehren zwar 
ſchwer zu entziffern, doch darum nicht zu verachten ſind — ſcheint vielmehr das Gegenteil 
zu beweiſen. Wollte Rumänien ſich nach dem Beiſpiel des erfolgreichen Staates England 
richten, fo müßte es ſchleunigſt ſeine ſämtlichen Zuden des Landes verweiſen und fie erſt nach 
drei oder vier Jahrhunderten wieder zulaſſen, nachdem die Nation ſich äußerlich und inner- 
lich ausgebaut und die Beſitzverhältniſſe ſich dauernd gefeſtigt hätten. 

Nun ſind aber die zahlenmäßigen Verhältniſſe nicht dieſelben. Während im alten, 
ſtarken, feſtkriſtalliſierten England auf 400 Menſchen ein Zude kommt, zählen Sie in Ru- 
mänien auf 100 Menſchen mindeſtens 6 Juden. Der abſoluten Zahl nach beſitzt das verhält 
nismäßig noch ſpärlich bevölkerte Rumänien viermal ſoviel Juden wie das dichtbevölkerte 
England, der relativen Zahl nach ungefähr 25 mal ſoviel! Das allein ſollte genügen, Bedenken 
zu geben. Denn man braucht kein blinder Zudenhaffer zu fein, um aus einer mehrtaufend- 
jährigen Geſchichte zu erkennen, daß der Jude überall und immer ein zerſetzendes Element 
geweſen iſt. Seine guten und ſeine ſchlechten Eigenſchaften wirken beide dahin, daß er das, 
was er berührt, entweder zerſtört oder ſich zum Nachteil des anderen aneignet. Die Juden 
beſitzen viele achtungsvolle Eigenſchaften, doch das muß jeder einſichtige und wiſſende Mann 
zugeben: ſie ſind jedes politiſchen Inſtinktes bar, überhaupt jedes Taktes. Daher durfte jener 
große, weiſe, den Juden von Jugend auf freundlich geſinnte Mann — Goethe — die Behaup- 
tung aufſtellen: „Duldſamkeit gegen die Juden bedroht die bürgerliche Verfaſſung.“ (Dich- 
tung und Wahrheit, 13. Buch.) .. . Wie wollen Sie es nun fertigbringen, das junge, noch nicht 
mit Eiſen gepanzerte Staatsſchiff Rumäniens durch alle Gefahren ſicher hindurchzuſteuern, 
wenn Sie 25 mal mehr Zuden an Bord haben als England? ... Soll ich aus allem Gefag- 
ten noch die Folgerungen ziehen? Nein, nicht wahr? Es iſt nicht nötig. Nieder mit allen 
Judenverfolgungen! Nieder mit allem abſurden, mittelalterlichen Aberglauben! Nieder 
mit aller ſozialen Geringſchätzung und perſönlichem Haß! Gewähren Sie den Juden denfel- 
ben unverletzlichen Schutz, wie Sie ihn allen Fremden gewähren; räumen Sie ihnen außer- 
dem, als alten Inſaſſen des Landes, weitergehende Vorrechte ein; laſſen Sie ſie (da Sie es 
nicht mehr verhindern können) zu dem gewerblichen und induſtriellen Wettbewerb zu — doch 
ſchauen Sie ihnen dabei genau auf die Finger! Aber räumen Sie ihnen kein politiſches Recht 
und kein Recht auf Grundbeſitz ein. Es tun, hieße für Rumänien den Selbſtmord begehen. 
And forgen Sie dafür, daß die Juden nicht die Herren der öffentlichen Meinung durch die Zei- 
tungen, und nicht die Herren der Köpfe und der Herzen durch die Beherrſchung des Bücher- 
marktes und der Schule werden. Der frühere Berliner Vertreter der „Times“ — ein Jude — 
veröffentlichte vor einigen Fahren ein Buch über Oeutſchland, in dem er triumphierend miel- 
det: „Es gibt keine deutſche Literatur mehr, ſondern nur noch eine jüdiſche Literatur in deutſcher 
Sprache.“ Sorgen Sie beizeiten dafür, daß niemals von Rumänien dasſelbe geſagt werden 
könne. Schutzgeſetze wären hier zu wünſchen, doch noch wichtiger iſt die aktive Abwehr des 
jüdiſchen Einfluſſes durch die bewußte Erkenntnis feiner Gemeingefährlichkeit. Nicht etwa, 
als ob ich die Motive des Zuden verdächtigen wollte, ich tue es auf geiſtigem ebenſowenig wie 
auf gewerblichem Gebiete; der Jude hat das Recht, ſo zu ſein, wie er iſt; die Zähigkeit, mit 
welcher er an ſeiner Eigenart feſthält, iſt bewundernswert und nachahmungswürdig; doch für 
unſeren Geiſt und für unſer Gemüt iſt ſein geiſtiger Einfluß ein zerfreſſendes Gift. 


up 


406 Bureaukratie und Auslandokuſde 


Bureaukratie und Auslandskunde 


N N. ur Rückgewinnung und Erweiterung unſrer ausländiſchen Abſatzmärkte ſoll hinfüro 
Yy wo) ganz beträchtlich mehr Auslandskunde getrieben werden. Das Kultusminiſterium hat 
ſich bereits in den Dienft der Sache geſtellt und will an den verſchiedenen Univerſi⸗ 
täten allerhand Vorleſungen einrichten. Mit andern Worten, die Bureaukratie, unter deren 
Leiſtungsfähigkeit wir alle ſeufzen, wird Stellen ſchaffen und Stellen beſetzen, der Steuerzahler 
wird weiter belaſtet, aber daß der deutſche Profeſſor mit Ableſung von längſt überholter Weis 
heit dem deutſchen Handel viel nützen wird, wer möchte ſich ſolch roſigen Hoffnungen hingeben? 
Sollte nicht die Kaufmannſchaft aus eigner Tatkraft Beſſeres zu ſchaffen wiſſen? Die hervor- 
ragendſten Hochſchulgelehrten haben es längſt ſelber zugegeben, daß das Neue, der Fortſchritt 
nicht aus ihrer Mitte, nicht aus dem Schoße des gelehrten Beamtentums hervorging. Gibt es 
heute ein ſchnelleres und billigeres Mittel, ſich über das Ausland zu unterrichten, als die Der- 
tiefung in ſeine Preſſe? Die Zeitungen ſpiegeln die Beſtrebungen und den Kulturſtand des 
Landes. Viel wäre alſo ſchon getan, wenn ſich in allen größeren Handelsſtädten die Kaufleute 
zum gemeinſamen Bezug ausländiſcher Zeitungen zuſammenfänden. Wenn nun aber die 
Regierung Dozenten genug finden ſollte, die im Lauf mehrerer Monate, ihre Weisheit ſtündlich 
und tropfenweiſe verabfolgend, aus Heften vorleſen, was ſchon mehr oder minder lang und 
meiſt beſſer ſchon in Büchern ſtand, — ſollten ſich dann nicht billiger und wirkſamer Bücher her ⸗ 
ſtellen laſſen, die ihre Weisheit in einem oder zwei Tagen vortragen, die man immer wieder 
fragen, mit ſich tragen und ſchließlich weitergeben kann? Solche Bücher finden auch ihren Weg 
in die entlegenſten Winkel, wo man Aufſchluß über das Ausland begehrt. Sodann könnte man 
auch vielleicht gerade die begabteſte und willigſte Jugend für den Dienſt der Auslandskunde 
gewinnen. Es beſteht ein tiefer Zuſammenhang zwiſchen dem Trieb und Drang ins Weite, 
Ferne einerſeits und Fähigkeit zu neuen Einſichten, neuen Forſchungswegen andrerſeits. 
Wenn auch Sokrates und Kant kaum aus ihren Wohnbezirken herausgekommen ſind (beide 
waren arme Schlucker), jo läßt ſich doch für jene Behauptung nicht nur eine Fülle von Tat⸗ 
ſachen herbeibringen, ſondern fie läßt ſich auch ſeeliſch wahrſchelnlich machen. Es iſt das vollere, 
ſtärkere Leben, das über den Trott des Alltags hinaus und hinaufſtrebt, das die Welt räumlich, 
zeitlich und geiſtig durchmeſſen will, alſo ſich nach fernen Ländern ſehnt, die Geſchichte liebt 
und alles, was Geiſt iſt, ſich einverleiben möchte. Zunge Leute voll Wißbegier und Wagemut, 
zu einſamen und weiten Wegen im Näumlichen und Geiſtigen gleicherweiſe entſchloſſen, finden 
ſich in Deutſchland genug — bisher ſind ſie meiſt verkümmert —, ihnen ſollte man das Geld 
zu Auslandsreiſen und Auslandsbeobachtungen geben, nachdem man ihnen an berühmten 
Vorbildern gezeigt hat, wieviel gute Auslandspioniere ihrem Vaterlande genützt haben. 
Dieſen Vorbildern gehörte ein ausgiebiger Raum in den Schulgeſchichtsleitfäden, in 
denen ſie ſich, von einer knappen Erwähnung Friedrich Liſts abgeſehen, überhaupt nicht finden. 
Lift hat in Amerika die große Bedeutung der Eiſenbahnen für die Volkswirtſchaft erkannt und 
mit Dranſetzung feines Lebensglückes die Deutſchen zu entſprechenden Taten vermocht — 
ohne ſeine Heimkehr wäre Deutſchland vermutlich von England fried lich durchdrungen“ worden. 
Zohann Jakob Sturz hatte Nord-, Mittel- und Südamerika bereiſt und in Braſilien eine 
bedeutende Rolle geſpielt. Er predigte den Deutſchen die Nützlichkeit des Hochſeefiſchfangs als 
erſtens einer Nahrungsquelle und zweitens einer unentbehrlichen Schule der Seetüchtigleit. 
Sturz war ein hochverdienter Erzieher zur Seegeltung. Dem engen und beſchränkten Geſichts· 
kreis der preußiſchen Adelsjugend ſtellte er den weiten Horizont des vornehmen jungen Eng 
länders gegenüber. Während der Junker über das Garniſonleben einer beſchränkten Kaſte 
nicht hinauskomme, befahre der junge Gentleman in eigner Yacht die Meere und fühle ſich 
als Herren der Erde. Aber nicht nur den Hochſeefiſchfang, ſondern auch Hebung der Fiſchzucht 


E 


Volkslied und Kunſtgeſang 407 


im Binnenland und Organiſierung des Fiſchhandels von der Küſte bis zu den Alpen predigte 
Sturz, und hierin hatte er einen ebenſo eifrigen Nachfolger in Heinrich Beta, beide Männer 
hatten im angelſächſiſchen Auslande geſehen, woran es in Deutſchland noch gar ſehr fehle: 
an rationeller Fiſchwirtſchaft auf unſeren zahlloſen Gewäſſern. Wäre man ihnen noch mehr 
und gründlicher gefolgt, als man tatſächlich gefolgt iſt, ſo hätten wir in dieſen vier Jahren auch 
Fiſchnahrung reichlicher zur Verfügung gehabt; in den Büchern der Nationalökonomie der da- 
maligen Zeit gab es nicht einmal ein Kapitel über Fiſchzucht und Fiſchfang als Quelle der 
Volksnahrung; wenn es heute anders iſt, ſo iſt es das Verdienſt jener Auslandspioniere, deren 
Namen natürlich vergeſſen find. Als vierten Auslandspionier nennen wir den Dichter und 
Ingenieur Max Eyth: er brachte uns die Zuſammenfaſſung der Landwirtſchaft, Ausſtellungen, 
Verwertung der Maſchinen und beſonders der Dampfkraft auch beim Ackerbau, hob ſomit die 
deutſche Landwirtſchaft auf ein höheres Niveau: das vermochte er nur, nachdem er ſelbſt für 
engliſche Fabrikanten den Oampfpflug in Agypten, Rumänien, Rußland und Amerika ver- 
breitet hatte. Dieſe Auslandspioniere ſollte man unſerer Zugend vorhalten, es waren edle 
und vaterlandsliebende, weitſichtige Männer. Volkswirtſchaftlich und ſprachlich vorgebildet, 
zum Studium des Auslands ein oder zwei Jahre nach allen Windrichtungen entſandt, zur 
ſchriftlichen Berichterſtattung über Geſehenes und Gehörtes verpflichtet, könnten gerade die 


-begabteften jungen Leute auf ein nützliches Tätigkeitsfeld gebracht werden. Heimgekehrt 


würden ſie, als Lehrer oder Schriftleiter tätig, vielleicht auch in der Induſtrie unterkommend, 
durch Fortſetzung des Studiums der ausländiſchen Preſſe fortfahren können, Auge und Ohr 
für ausländiſche Dinge zu bleiben. Natürlich erſt recht könnten auch junge Kaufleute, die beruf- 
lich ins Ausland kommen, durch jene Beiſpiele angeſpornt, die Augen und Ohren unſeres 
Handels vermehren. Daß aber mit Vorleſungen von Aniverſitätslehrern oder auch Männern 
der Praxis viel gewonnen würde, das möchte man bezweifeln, nachdem ſich die Wiſſenſchaft 
der Nationalökonomie in dieſem Weltkrieg als ſo wenig vorbereitet und weitſichtig erwieſen und 
unſere Auslandsdiplomatie, alſo die Bureaukratie, ſich um jeden Kredit gebracht hat. 
Dr. Georg Biedenkapp 


Volkslied und Kunſtgeſang 


nſere Kunſtmuſik befindet ſich in einem bedauerlichen Zuſtande von Volksuntüm- 
L lichkeit; das gilt auch für das Kunſtlied von heute. Es hat ſich feinen Ausdrucks- 
S nmitteln wie ſeinem Gefühlsgehalte nach verſtiegen, oder iſt platt und aufdringlich 
weſchlich geworden. — Zn der Zeit ſeit dem 15. Jahrhundert bis in die erſte Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts ſproß faſt ununterbrochen eine Folge von Liedweiſen kraftvoll volkstümlicher Art, 
die man zu den gelungenſten Kunſtprägungen deutſchen Fühlens zählen muß, und die heute 
noch leben und wirken. Die Kluft zwiſchen dieſen durch Jahrhunderte lebendigen Volksweiſen 
und unſerem Kunſtliede iſt erſchreckend tief. Dagegen hielt ſich das ältere Kunſtlied von 
Schulz bis Brahms in weit engerer Fühlung mit jenen Weiſen. Wenn man dieſe Dinge zu- 
ſammendenkt, muß man zu dem Schluſſe kommen, daß unſerm Kunſtliede eine Neubildung 
dringend not tut. Alle, die es angeht, müſſen dieſe Kluft zunächſt ſehen lernen, ſich der Ver⸗ 
irrung bewußt werden, und dort Heilung erſtreben, von wo erfriſchender und geſundender 
Atem weht; im volkstümlichen Geſange, der Wurzel all unſerer Muſik. 

Zu allen Zeiten übte das Volkslied eine ſtarke Beſtimmungs- und Heilkraft auf das 
Schaffen unſerer Kunſtmuſiker, ſelbſt der größten, aus. Man kann z. B. unfere in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts aufblühende Klaſſik ſtiliſtiſch als eine bewußte Betonung und 
Hinwendung zur volkstümlichen Melodik bezeichnen. Auch die beſtimmenden Perſönlichkeiten 


2 — 


408 Volkslied und Runſtgeſang 


früherer fruchtbarer Epochen waren ſämtlich ihrer ſozialen wie geiſtigen Herkunft nach aufs 
innigſte mit dem geſunden volkstümlich künſtleriſchen Empfinden ihrer Zeit verwurzelt. Das 
kann man ſchon von der Kunſt Wagners, Liszts, Berlioz', Chopins und teilweiſe auch mancher 
deutſchen Spätromantiker nicht mehr fagen. Sie erſcheint bereits dieſer geſunden Atmoſphäre 
entfremdeter als das Schaffen der älteren Meiſter, deren Kunſt in ihrem thematiſchen Kerne 
echt volkstümlich und darum von allgemeingültiger und bleibender Überzeugungskraft ift. 

Der Muſik unſerer Jahrzehnte ſteht dagegen die ungeſunde Bläſſe und das überreizte 
Mienenſpiel volksfremden Weſens auf dem Geſicht geſchrieben, und das Schaffen unſerer Tages- 
größen fußt höchſtens in Außerlichkeiten einmal auf der Volksmuſik, begeht aber meiſt mit 
ausgeſprochener Abſichtlichkeit die von ihr abgelegenen Wege. Liegt das daran, daß unſerer 
Zeit eine kraftvolle Volksmuſik fehlt, oder iſt dieſe entartet und erſtorben, weil ihr von der Kunſt⸗ 
muſik her keine fördernden Kräfte mehr zufloſſen? Tatſächlich entwickeln ſich wohl immer 
beide Zweige der Mufit, wenn ihre Zeit gekommen iſt, gleichzeitig nebeneinander, höchſtens 
ſprießt die ſchlichtere Volksmelodik ein wenig zeitiger, wie das Gras vor Baum und Strauch 
kommt, und reicht ihre beſcheideneren Gebilde der höherſtrebenden Schweſter zur Ausgeſtaltung 
und Veredelung dar. Anſerer Zeit, deren geſamte kulturelle Angelpunkte ſich in einem noch 
nie erlebten Grade lockerten, kann eben kein muſiſches Zeitalter ſein, und beide Zweige der 
Muſik mußten in ihr ſchwer erkranken. Dieſe Tatſache, und die daraus entwachſenen Schäden 
für das ſeeliſche Leben unſeres Volkes werden ſeit Jahren lebhaft beklagt, und man ſinnt aller- 
orten auf Hilfe und Heilung. 

Sie kann nur von beiden Teilen: dem Volke, das nach feinerem künſtleriſchem Erleben 
ſtreben lernen muß, wie auch vom Muſiker, der ſich feiner hohen ſozialen Verpflichtungen be- 
wußter werden muß, gebracht werden. Auf das Volk hoffen die vielen (und ſicher nicht mit 
Unrecht), die ihm, wo und wie ſie nur können, anbieten, was an guter Volksmuſik vorhanden 
iſt. Das hat bereits Erfolge gezeitigt, wenn wir an unſere Wanderjugend denken. Freilich 
wachſen auch noch das großſtädtiſche Gaſſenlied und der Operettenſchlager, die Gegenerſchei⸗ 
nungen unſerer verſtiegenen Runftmufit, friſch weiter. Man darf nämlich die heutige Volks- 
liedbegeiſterung noch nicht als einen Beweis eines neuen Erſtarkens volkstümlichen Geiſtes 
innerhalb der ſchaffenden Kräfte begreifen, vielmehr erſt als ein Anſchwellen der Sehnſucht 
danach in den weiteren nur aufnehmenden Kreiſen, die nur den Wunſch nad) einer fie befriedi- 
genden Kunſt äußern können, der Kräfte, ſich Erſatz zu ſchaffen, aber ermangeln. Die liegen 
und müſſen geweckt werden bei den ſchaffenden Muſikern. Sie gilt es jetzt vor allem zu wecken 
und aus ihrer egoiſtiſchen Freude an ihrer volksfremden überkünſtelten Schaffensart zu reißen, 
und ihnen die neue höhere Aufgabe begreiflich zu machen, daß ſie ſich die Kräfte wiedererwerben 
müſſen, mit deren Hilfe ſie auf den Ruf des Volkes antworten können. 

Denn das tut zuerſt not. Es iſt den meiſten unſerer Muſiker in den letzten Jahrzehnten 
viel von der künſtleriſchen Geſinnung und dem Können unſerer Großmeiſter und der Schar 
ſolider Alltagsmeiſter um ſie herum verloren gegangen. Das müſſen ſie zunächſt einſehen, um 
daraufhin eine gründliche Arbeit an ſich ſelbſt zu leiſten, um wieder eine Kunſt zu ſchaffen, die 
für die kommenden Jahrzehnte annähernd das leiſtet, was z. B. das volkstümliche Kunſtlied in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ſeiner Zeit war. Eine ſolche Weiterentwickelung 
auch nur unſeres Kunſtliedes, die man keineswegs eine Rüdentwidelung nennen darf, würde 
unſere Muſik davor bewahren, ſich ganz aus dem Zuſammenhange mit dem Volksempfinden 
zu löſen. 

-Diefe Mahnung zur Selbſtbeſinnung und Selbſtarbeit kann mit Ausſicht auf Erfolg 
nur an unſere jüngeren noch entwickelungsfähigen Muſiker gerichtet werden. Wer mit den 
hier werdenden Kräften Fühlung hat, weiß übrigens, daß hier manches bereits im ſtillen 
keimt. Man kann ſie dabei nur auf ſich ſelbſt und ihre Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen 
und vorauszufühlen (das Kriterium des echten Talentes und Genies), verweiſen; denn auf 


Volkslied und Kunſtgeſang 409 


den Schulen iſt noch nie gelehrt worden, wie man ſeiner Zeit voranſchreitet. Die Schule, in 
die unſere kommenden Meiſter einzig gehen können, iſt die Kunſt der älteren ſchlichten Meiſter, 
die den Beruf des Künſtlers gegenüber ihrem Volke reiner und tiefer erfüllten, als es den 
Vertretern der neueren Muſik vergönnt iſt. 

Alle geſunde neue Kunſt muß feine Geſtaltungsmittel aus älteren techniſch vorbild 
lichen Leiſtungen auswählend entnehmen und gebiert ſich mit dieſer Hilfe neu, aus dem un 
bewußt neuartigen Erfaſſen und Geſtalten ewig gültiger ſchlichter und echter Empfindungen 
einer neuen. Zeit. Doch greifen denn nicht unſere Kunſtmuſiker von heut ſchon vielfach bewußt 
auf die Technik älterer Meiſter zurück? Das iſt noch für Brahms, als letzten und größten tech- 
niſchen Könner und eigenſten Geiſt unter den Muſikern des neunzehnten Jahrhunderts zu 
bejahen. Sein Schaffen iſt in der Tat ein Beweis dafür, daß auch ein eigenſtes Fühlen nur mit 
Benutzung eines reichen Erbes alter Technik ſich ausſprechen kann. Weiſt man aber auf die 
kontrapunktiſchen Strebungen vieler unſerer modernen Muſiker, z. B. Negers Nachfolge Bachs, 
als etwas Ahnliches hin, ſo iſt dem zu widerſprechen. Die bewußte Anknüpfung iſt nicht zu 
leugnen, doch die Geſinnung, aus der heraus fie erfolgte, führt bei Neger nicht zu einer Weiter- 
führung und kunſtvollen Umbildung Bachſcher Ausdrudselemente und prinzipien, jondern 
zu ihrer Verzerrung. Es iſt eben undenkbar eine Kunſt höchſter Stimmindividualiſierung, die 
nur auf einem ſchlichten und wohlgeordneten Klangboden gedeihen kann, mit dem ungezügelten 
Streben nach aufgeregten, weitausholenden Klangſchritten zu verbinden. 

Wenden wir dieſe Gedanken auf das Kunſtlied an! Es hat, ſeit etwa 1770, als die erſte 
bewußte Wiederanknüpfung ans Volkslied erfolgte, nachdem es ſich, genährt von einer natur- 
begeiſterten Dichtergeneration mit ihrem Haupte Goethe, über Reichardt zu Schubert und 
über dieſen hinaus zu Schumann und Brahms hin entwickelt hatte, einen langen und folge⸗ 
richtigen Entwickelungsgang durchlaufen. Es iſt dann durch Wolf und unſere von ihm vor- 
wiegend beeinflußten neueren Lyriker bis in die letzten Möglichkeiten der Dellamation, ſowie 
der charakteriſierenden und tonmalenden Behandlung der Begleitung getrieben worden. Es 
hat ſich gezeigt, daß mit der letzten Methode zwar auffallende, aber doch nur techniſch aufgeſetzte 
gleichſam unterſtreichende Wirkungen zu erzielen ſind. Während die von innen ausſtrahlenden 
Wirkungen des Liedes, das beweiſt das Schaffen des letzten genialen Liederkomponiſten Wolf 
ſelber noch, immer auf der geſchloſſenen Führung einer als Ganzes intuitiv erfühlten Melodie 
linie und einer aus ihr natürlich herauswachſenden klanglichen Okonomie beruht. 

Zu dieſen über Jahrhunderte hindurch bewährten Grundlagen der Geſtaltung eines 
jeden muſikaliſchen Kunſtwerkes letzten Endes, zu allererſt aber eines jeden prägnanten Lied- 
gedankens müſſen ſich unſere Lied komponiſten zurückfinden. Mit dieſen alten Mitteln gilt es 
neue Wirkungen zu erzielen, welche ſich ſchon einſtellen werden, wenn jene aus einem neuen 
Empfinden heraus gehandhabt werden. Freilich müſſen geiſtesverwandte Dichter den Kom- 
poniften die Hand zu dieſem Werke reichen, wenn auch andrerſeits vieles, was bereits vor Jahr 
hunderten ſchon echt und rein geſagt wurde, noch heute ſeiner Geſtaltung im Geſange harrt. 
Immerhin iſt es an der Zeit für unſere Lied komponiſten, fi) zum Empfang der neuen Lyriker 
zu rüſten. Dazu können fie zunächſt nichts Beſſeres tun, als Umſchau zu halten: einmal in dem 
Beſten, was hier an Textgeſtaltungen für ein Lied geſchaffen wurde, dann auch einen Einblick 
in die Meiſterlieder- und Melodien der letzten 400 Jahre zu gewinnen trachten, um ſich durch 
dieſe Einfühlarbeit in frühere meiſterliche Geſtaltungsart aus ihren übertrieben einſeitigen 
Anſchauungen über den Charakter und die Geſtaltungsgeſetze eines guten Liedes zu befreien. 

Wie wenige unſerer Komponiſten haben die wünſchenswerte Fühlung mit der Muſik- 
geſchichtswiſſenſchaft, die ſelbſt dem Genie nur förderlich ſein kann. Ein Buch wie Hermann 
Kretzſchmars Geſchichte des neueren deutſchen Liedes iſt der gegebene Wegweiſer für einen 
jeden Liedkomponiſten, der ſich bewußt geworden iſt, daß er im blinden Weiterbohren in den 
Wänden einer Sackgaſſe nichts für ſich und ſeine Zeit erreichen kann. 


410 i | | Viogktsiied und Kunfigefang 


Die gleiche Richtung der künſtleriſchen Selbſterziehung weiſen Brahms' Bearbeitungen 
volkstümlicher Weiſen alter Zeit. Man kann annehmen, daß der Meifter ſich dieſer Arbeit 
ebenſoſehr aus egoiſtiſch künſtleriſchen Zwecken unterzog, als in dem Wunſche, von dem Me- 
lodienſchatze älterer Zeiten, deren naive Schönheit ſelbſt ihm, dem ſchwerbluͤtigen Könige einer 
Spätkunſt unerreichbar war, ſich ſelber und ſeiner Zeit einen Teil neuzuſchenken. Dieſes Werk 
iſt bis heute ein Anikum geblieben, weil kein geborener Tonſetzer nach ihm oder vor ihm die 
Notwendigkeit einer ſolchen Arbeit für ſich und ſeine Zeit bekannte. Keinen lockte der Reiz 
einer nach innen wie außen fo lohnenden Aufgabe. Was aber in diefer Richtung an Arbeiten 
noch vorliegt, enttäuſcht, hält man es neben das Werk von Brahms. Robert Franz' wenige 
Faſſungen altdeutſcher Lieder beſtätigen es, daß die Kunſt dieſes Meiſters doch nur vornehmſte 
Salonkunſt ift, deren Sprache mit der unverwüftlich friſchen Melodik namenloſer Sänger des 
15. und 16. Jahrhunderts nicht zufſammenklingt. Alle übrigen Verſuche dieſer Art: z. B. die 
von Tappert, Saran, Druffel, Lange und anderen ſind, ſo verdienſtlich ſie immerhin bleiben, 
künſtleriſch zu unzulänglich. Das gilt auch für die erfolgreichſte Sammlung dieſer Art, die 
von Reimann, wiewohl dieſer Bearbeiter ſich mit der Aufgabe, eine alte Melodie zu einem 
lebenden Liede auszubauen, oft mit bemerkenswertem Geſchick abfindet. 

Löſen kann fie nur der geborene und in ſich konzentrierte Tondichter. Und auch für 
ihn iſt Vorausſetzung des Gelingens eine offenbar ſeltene Unvoreingenommenheit in der Be- 
wertung der modiſchen Ausdrucksformen des Liedes, die gerade dem Künſtler einer ausklingen; 
den Entwicklungsperiode am häufigſten mangelt, wo fie ihm doch am nötigften wäre, um ihn 
vorm Verſinken in Subjektivimus und Manierismus zu bewahren. Hier könnten unſere Lieder- 
komponiſten zeigen, ob es ihnen ernſt um ihre Kunſt iſt, ob ſie noch die Kraft haben, Entſagung 
zu üben, ſich von einem mit überdifferenzierten Ausdruckselementen überladenen Stile ab- 
zuwenden und damit den Zuſammenhang mit der Sprache einer äſthetiſch gefeſtigteren, glüd- 
liheren Künſtlerſchaft früherer Zeiten wiederherzuſtellen. Zugleich damit würden fie unferer 
Zeit einen reichen Schatz alter Weiſen in neuer Form erſchließen und damit auf den Geſchmack 
der Sänger und ihrer Hörer einen merklichen Einfluß gewinnen, ſo daß auch von dieſer Seite 
her dem neuen Liede der Empfang bereitet wäre. Durch eine ſolche Befruchtung des zeit- 
genöſſiſchen Liedſchaffens mit altem gutem Samen wäre ein nicht unbedeutſamer Beltrag 
zur Geſundung und Weiterführung unſerer Liedkunſt geleiſtet. | 

| Hermann Zuftus Wetzel 


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Der Krieg 


— er Vechſel im Auswärtigen Amte, die Erörterung feiner Folgen und 
40 feiner Urſachen im Reichstagsausſchuſſe und noch mehr in der „Un- 
XI Di, öffentlichkeit“ geben dem Grafen Reventlow Anlaß, ſich mit „ge- 
O wiſſen Kreiſen“ zu beſchäftigen, die ihren ſeeliſchen Wohnſitz in „Lao- 
dicäa“ haben. In dieſen Rreifen);werde] feit Jahren die Auffaſſung vertreten: 


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2 ee — 


gewiß müſſe man ſiegen, gewiß brauche man die Oberherrſchaft über Belgien 


und die flandriſche Küſte, gewiß könne man nur auf dieſem Wege die Freiheit 


der Meere und den Beſitz von überſeeiſchen Kolonien ſichern, kurz alles das ſeien 
notwendige Ziele für die deutſche Sicherheit und die Möglichkeit eines unabhängigen 
Gedeihens des Deutſchen Reiches, — aber in dieſem Kriege jene notwendigen 
Ziele zu erreichen, ſei ausgeſchloſſen. Zweifellos werde das Ende dieſes Krieges 


den Abergang zu einem Frieden bilden, der nur als Waffenſtillſtand bezeichnet 


werden könne. Während dieſer Zeit werde das Deutſche Reich, wenn es unbeſiegt 
wie bisher daſtehe, genügend Kraft gewinnen, um im zweiten Kriege alle Ziele 


zu erreichen, deren es für ſeine Zukunft mit Lebensnotwendigkeit bedürfe. 
„Dieſe Theorie“, meint Graf Reventlow, „hat bisher immer eine gewiſſe 
Werbekraft bei allen denen geäußert, die ſich weder zur negativen noch zur poſitven 
Richtung bekennen möchten und die ‚mittlere Linie‘ in der Vertagung der Erreichung 
des Kriegszieles auf den nächſten Krieg erblickt wiſſen möchten. Im Grunde denken 
dieſe Richtungen: die Hauptſache iſt, daß wir erſt einmal irgend einen Frieden 
bekommen, das andere wird ſich dann ſchon finden oder auch nicht. Wir ſind der 


Sache müde, das iſt die Hauptſache! 


Tatſächlich liegen die Dinge ſo, daß, um es gleich offen auszuſprechen, das 


Deutſche Reich niemals erreichen wird, was es in dieſem Kriege nicht erreicht. 


Profeſſor Delbrücks bekanntes Wort: ein unausgefochtener Krieg werde für 
Deutſchland ein großer Sieg ſein, iſt das Gegenteil einer tatſächlichen Wahrheit. 
Wir gehen aber noch weiter: Geht das Oeutſche Reich nicht ſiegreich und nicht 
unter voller Ausnutzung des Sieges für die Genugtuung der deutſchen 
Lebensnotwendigkeiten hervor, ſo wird es nicht imſtande ſein, überhaupt 
wieder einen Krieg zu führen, wenn es wieder angegriffen werden 


23 


412 5 Türmers Tagebuch 


ſollte. Die Möglichkeit der wirtſchaftlichen Wiederaufrichtung des Deutſchen 
Reiches, der Erhaltung und Stärkung ſeiner Wehrkraft — das letztere beſonders 
zur See — hängt eben davon ab, daß das Oeutſche Reich militäriſch und politiſch 
ſiegreich, geſichert und frei aus dieſem Kriege hervorgeht. Geſchieht das nicht, 
fo tritt mit der Verarmung und mit einer ſchnell fortſchreitenden wirtſchaftlichen 
Abhängigkeit von anderen Mächten auch die innere, die ſoziale Zerrüttung 
ein. Sie allein würde mit dem Wiederaufbau auch ausſchließen, daß die Wehr- 
kraft auf der Höhe gehalten wird. Aber auch abgeſehen von der Möglichkeit, nicht 
nur Schwere Erſchütterungen, ſondern völlige mehr oder minder gewaltſame 
Umwälzungen im deutſchen Reichs- und Staatsweſen im demokratiſchen Sinne, 
Möglichkeiten, die wir unter ſolchen Amſtänden für unausweichliche Ge— 
wißheiten halten, würde ein nicht ſiegreich endender Krieg mit entſprechendem 
Frieden das Deutſche Reich und Volk in einem Zuſtande der Auszeh rung laſſen, 
deſſen Behebung unmöglich wäre. Auch dann, ſo iſt mit Sicherheit anzunehmen, 
würde es weder möglich fein, die Wehrkraft zu Lande und zu Waſſer auf die er 
forderliche Höhe zu bringen, noch auch wieder zu der wirtſchaftlichen und innerlich 
nationalen Kraft zu gelangen, welche die Führung und den ſiegreichen Ausgang 
eines neuen Verteidigungskrieges geſtattete. Unſere Feinde wiſſen das ſehr 
genau und zwar ſchon lange. Wir haben früher wiederholt ſolche britiſchen 
Stimmen angeführt, u. a. auch aus dem Buche ‚Vindication of England‘, zu dem 
Lord Haldane Gevatter geſtanden hat. 

Für das Deutſche Reich heißt es, wie man früher in der Heilsarmee ſang: 
‚Heute rette deine Seel’, morgen iſt es ſchon zu ſpät!“ Alles Gerede, Deutſchland 
könne gewiſſermaßen in zwei Abſätzen fein Kriegsziel erreichen, iſt Trugſchluß 
und zwar ein gefährlicher. Beiläufig ſei im Zuſammenhange ſolcher Behauptungen 
auch auf die Bundesgenoſſen hingewieſen und deren Verhältniſſe. 

Anſere Feinde, das muß man jagen, haben wirklich ſich mit Sorgfalt und 
allem Eifer beſonders während der letzten beiden Kriegsjahre angelegen ſein laſſen, 
den Deutſchen ihre Flluſionen und Sentimentalitäten auszutreiben; es ſcheint 
aber wirklich unmöglich zu ſein. Sie wollen uns vernichten und wir faſeln 
von ‚Derftändigung‘ und von ‚ehrenvollem Schluß‘, wie Herr Scheidemann 
jagt. Graf Czernin ſagte ſogar ‚höchſt ehrenvoll“. Das Ehrenvolle hilft uns gar 
nichts und bedeutet nichts anderes als den Achtungserfolg eines Theater 
ſtückes. Ein Dichter, der nur Achtungserfolge erzielt, verſchwindet von der Bühne, 


und der Direktor wird ruiniert. 


Vas das Deutſche Reich für feine Sicherung und Unabhängigkeit und Gedeih- 
möglichkeit zu erreichen gezwungen iſt, das muß es in dieſem Kriege erreichen.“ 

Dieſem „kategoriſchen Imperativ“ halte inan gegenüber, was „das Oeutſche 
Reich“ in Wirklichkeit ER durch die glänzendſten Siege in dieſem Kriege 
erreicht hat. Von Breſt-Litowſk wollen wir für heute abſehen, aber der „Sieg- 
friede“ von Bukareſt? Was hat der uns gebracht? Der Abgeordnete v. Graefc- 
Goldebee bucht in der „Deutſchen Zeitung“ den Ertrag mit folgenden „Aktiv- 


poſten“: 


„Erſtens: Der Vertrag erklärt den offiziellen Verzicht auf Kriegsentſchädi⸗ 
gungen. Wem zuliebe? Doch nicht aus der militäriſchen Lage, ſondern nur aus 


Zürmers Tagebuch 415 


Rückſicht auf die Verzichtsreſolution der Reichstagsmehrheit vom 
Juli 1917, obwohl dieſe Mehrheit ja gar nicht mehr geſchloſſen hinter dieſem trau- 
rigen Produkt Erzbergerſcher Schiebung ſteht. Aber obendrein iſt die Erklärung 
des Vertrages nicht einmal ganz aufrichtig; denn praktiſch ift ja durch den Ver- 
trag das Prinzip des annexions- und entſchädigungsloſen Friedens abſolut 
durchbrochen, — freilich faſt ausſchließlich zugunſten unſerer Verbündeten! 
Die Größe der von Sſterreich- Ungarn ‚anneltierten‘ Grenzgebiete iſt noch immer 
nicht genau feſtzuſtellen; es ſcheint aber doch eine Fläche zu ſein, die vielleicht 
nicht kleiner iſt als Elſaß- Lothringen! Und die Holzbeſtände darauf werden 
auf hohe Millionenwerte geſchätzt. Auch die Abtretung der Nord- Dobrudſcha 
fällt unter den Begriff der „Annexion“, und endlich bedeutet auch die Nichtbezah- 
lung der von uns und unſeren Verbündeten aus Rumänien importierten Waren 
eine ‚Rriegsentihädigung‘, wenn auch eine als Entgelt für die von Rumänien 
an uns vor der Kriegserklärung verübten Erpreſſungen ſehr minimale. Praktiſch 
iſt alſo die Theorie vom Verzichtsfrieden abſolut über den Haufen geworfen worden, 
aber trotzdem hat man dem Vertrage einen papiernen Verzichtsfriedensmantel 
umgehängt, um den Verzichtlern eine goldene Brücke zu bauen; und wie gerne 
haben fie dieſe beſchritten, weil der Vertrag ja zugleich den ſchönſten Geſchäfts- 
frieden für die goldene Internationale, die Seele des Verzichtsfriedensrummels, 
bedeutet! Infolge dieſer mutloſen Inkonſequenz hat man deutſcherſeits nicht ge- 
wagt, eine bare Kriegsentſchädigung für uns zu fordern, die ſich freilich nicht für 
die ſchämigen Verzichtsleute hätte verſchleiern laſſen, — und ſo ſchleppen nicht, 
wie Staatsſekretär Helfferich einſt als ſelbſtverſtändlich bezeichnete, unſere Feinde, 
ſondern wir ſelbſt das Bleigewicht der Williardenſchuld weiter auf unſerem eigenen 
Buckel herum! Wahrlich kein Anlaß, um unſere Unterhändler mit theatraliſchem 
Ehrenempfang bei ihrer Rückkehr aus Rumänien zu feiern! 

Zweitens: Za aber, ihr wilden Überannexioniſten, beruhigt euch doch, 
das Petroleumabkommen bringt uns ja dauernd eine hochanſehnliche Kriegs- 
entſchädigung! „Uns?“ wer iſt das? Mag fein, den kapitaliſtiſchen Kreiſen, welche 
die verſchiedenen Petroleumgeſellſchaften finanzieren werden; aber das Reich 
lehnt es ja, wahrſcheinlich mit Recht, von vornherein ab, ſich ſelbſt mit nennens- 
wertem Kapital oder überhaupt an dem „riskanten Unternehmen“ (sic!) zu 
beteiligen. Wo ſoll da eine dem deutſchen Volke zugute kommende ‚Rriegs- 
entſchädigung“ herauskommen? Wenn das Reich ohne Kapitalbeteiligung ſich 
einen Gewinnanteil wirklich ſichern will, wie beſcheiden könnte der beſtenfalls ſein; 
denn angeſichts etwa von vornherein amputierter Gewinnchancen werden unſere 
Finanziers kein Kapital in ein riskantes Unternehmen“ zu ſtecken ſich bereit finden! 
Das Geſchwätz von einer verſteckten Kriegsentſchädigung durch das Pe- 
troleumabkommen iſt alſo reiner Schwindel; nur der rumäniſche Staat 
hat durch die dreifachen Abgaben, die ihm ohne jedes Riſiko zugeführt ſind, feſte 
Ausſichten auf erkleckliche Einnahmen, denen er dank der Inveſtierung deutſchen 
Kapitals und deutſcher Intelligenz zur Erſchließung der Erdölquellen mit guten 
Hoffnungen entgegenſehen darf. Und wenn der Coup gelingt, können ſich vielleicht 
dermaleinſt auch gewiſſe Großbanken vergnügt die Hände reiben, — das deutſche 
Volk wird aber nichis Weſentliches von dieſem Teil des Vertrages haben, als 


414 Zürmers: Tagebuch 


daß vorausſichtlich fein Petroleumbedarf gefichert fein wird, wofür es aber fein 
gutes Geld, und das nicht zu knapp, zu bezahlen haben wird. Das heißt man dann 
pfiffig eine Schlau durchgeführte ‚Rriegsentihädigung‘! Sonderbar! 

Drittens: Das überſchüſſige Getreide haben unſere hervorragenden 
Unterhändler uns aber doch zukünftig aus Rumänien geſichert, — für einen 
Preis freilich, den man dem deutſchen Bauer als ‚Wucherpreis verjagt; 
für den rumäniſchen Bauer hat man überhaupt ein verdächtig wohlwollendes 
Verſtändnis, ‚er ſoll durch dieſe hohen Preiſe zu verſtärktem Anbau angeregt 
werden“. Ja, bekommt denn der rumäniſche Bauer dieſen hohen, von uns gezahlten 
Preis wirklich ſelbſt? Beileibe nicht! Denn die rumäniſche Regierung darf einen 
beliebig hohen Aus fuhrzoll auf Getreide zu Laſten des Bauern erheben. Wer 
die rumäniſchen Verhältniſſe kennt, wird nicht einen Moment zweifelhaft ſein, 
daß die rumänifche Regierung von dem von uns zu zahlenden Getreidepreis einen 
ſehr hohen Prozentſatz als Ausfuhrzoll einbehalten wird, ſo daß der Bauer nur 
eine beſcheidene Vergütung für ſeine Produkte erhält, das übrige fließt direkt 
in die rumäniſche Staatskaſſe. Das iſt allerdings eine fortlaufende „Kriegs- 
entſchädigung“, die gezahlt wird, — aber leider von uns an die Ru 
mänen! 

Viertens: der Vertrag will ſich wiederum, getreu den Forderungen der 
Reichstagsmehrheit, nicht in die inneren Verhältniſſe Rumäniens einmiſchen; 
darum Finger weg von der Königsfrage, obwohl ſie doch in gewiſſer Weiſe 
unſere Intereſſen ebenſo berührt, wie die rumäniſchen. Aber die ſtaatsbürgerliche 
Stellung der Juden in Rumänien, die gilt auf einmal nicht als eine , innere 
Angelegenheit‘? Difficile est satiram non scribere! Man beruft ſich dabei 
auf die im Berliner Vertrage von 1878 übernommenen Verpflichtungen für die 
rumäniſchen Juden. Nun, erſtens kannte man damals noch nicht das ſelbſtloſe 
Dogma von dem Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker und der Nichteinmiſchung 
in innere Angelegenheiten beſiegter Staaten. Für diejenigen, die es jetzt ſonſt 
überall fordern, ſollte alſo logiſcherweiſe die damalige Einmiſchung doch nicht 
mehr verbindlich fein, und wenn ſchon, dann doch höchſtens ſpäter beim allgemei- 
nen Friedensſchluß in Gemeinſamkeit mit allen damaligen Garantiemächten. 
Aber ebenſo, wie im innerpolitiſchen Kampf Gott, König, Junker, Agrarier, All- 
deutſcher, Schlotbaron uſw. gröblichſt beſchimpft werden dürfen und nur der Zude 
außerhalb der Kritik ſtehen ſoll, fo iſt er wohl auch in der internationalen Politik 
ſakroſankt, — ſeine Angelegenheiten ſtehen über allen ſonſt ſo geheiligten Dogmen, 
gewiſſermaßen jenſeits von Gut und Böſe! 

Ich verzichte angeſichts des Raummangels noch auf die Fülle von weiteren 
Einzelheiten einzugehen, die alleſamt den Bukareſter Friedensvertrag vor der 
Geſchichte als ein Dokument brandmarken dürften, das die Namen ſeiner Väter 
nicht gerade in die Liſten deutſcher Heroen einfügen wird, z. B. die mangelhafte 
Feſtlegung für die Sühne der ſchamloſen Verbrechen an unſeren Ge— 
fangenen, der ungenügende Schutz der Auslanddeutſchen, namentlich 
in Beßarabien uſw. — Es mag das Vorſtehende genügen, um der vielfach völlig 
irregeleiteten öffentlichen Meinung die Augen einigermaßen darüber zu 
öffnen, was ſich bei einer ‚Offenfive der Wahrheit‘ gegen den Vertrag für jeden 


Tuͤrmers Tagebuch | 415 


herausſtellt, der ſehen will. Nicht aus Luft an fruchtloſer Kritik muß das dargelegt 
werden, ſondern um der Gefahr willen, die darin liegt: „Noch ein paar ſolcher 
Siegesverträge, und wir ſind verloren!“ 


* * 
* 


Kühlmanns Spuren! — Sie werden ſich ſo bald nicht verwiſchen laſſen, 
wie wir uns denn überhaupt nicht darüber täuſchen wollen, daß ein gutes Stück 
unſerer nationalpolitiſchen Zukunft durch die Unglaublichkeiten der Beth und 
Kühlmänner mit ihrem Anhang bereits verbaut worden iſt! Rächt ſich jede 
Schuld auf Erden, ſo die politiſche auf das ſchwerſte und nachhaltigſte. Die politiſche 
Tat wächſt ſich im Guten und Schlimmen zu allen, auch ihren letzten Folgerungen 
aus, die Geſchichte kennt kein Vergeſſen und Vergeben, ihr Spruch iſt unbarm- 
herzig und unwiderruflich. Unter dieſen Geſichtswinkel wird man das Urteil 
über die „Taten“ der Beth- und Kühlmänner zu ſtellen haben. 

Darf man nun in der Entlaſſung Kühlmanns etwa einen Sieg der „All- 
deutſchen“ und in dem neuen Staatsſekretär des Auswärtigen, Herrn von Hintze, 
einen „Kandidaten“ dieſer „Alldeutſchen“ erblicken? Beſondere Beachtung ver- 
dient hier, wie ſich die „Deutſche Zeitung“ zu der Frage ſtellt. „Natürlich“, meint 
ſie, „wäre es uns durchaus erfreulich, wenn der neue Staatsſekretär des Aus- 
wärtigen auch nur annähernd in dem Grade unſer Mann wäre, wie die gegne- 
riſche Preſſe es verbreitet. Wir haben indeſſen bisher keinerlei Recht, anzu- 
nehmen, daß dem wirklich fo iſt; an ſich erſcheint es auch nicht ſehr wahrſcheinlich, 
daß eine Perſönlichkeit, die unſere Beurteilung unſerer Aufgaben im Weltkrieg 
teilt, dafür zu haben fein würde, eingeengt z. B. durch die Payerſchen partei- 
politiſchen Gebundenheiten, als Außenminiſter verantwortlich zu wirken und fein 
perſönliches Anſehen dabei aufs Spiel zu ſetzen. Indeſſen ſei dem, wie ihm ſei; 
in jedem Falle müſſen wir es einſtweilen ablehnen, uns in dem Sinne mit dem 
bisherigen Geſandten in Chriſtiania verkoppeln zu laſſen, als ſei nunmehr einer 
der Unſeren dazu berufen, darzutun, was ſich mit den von uns vertretenen An- 
ſchauungen an außenpolitiſch führender Stelle im Reich praktiſch anfangen laſſe. 

Nicht in Abrede ſtellen wollen wir dagegen, daß das, was über Herrn von 
Hinkes bisheriges Wirken bekannt iſt, ihm einen Anſpruch auf unſere Zuneigung 
gibt, und zwar alles in allem wohl aus ähnlichen Gründen, wie ſie die Feinde 
der deutſchen Sache im Inland und im Ausland veranlaſſen, ihn mit einem 
deutlichen Unbehagen an feinem neuen Platz erſcheinen zu ſehen. Herr von 
Hintze ſcheint uns hiernach eine Perſönlichkeit zu ſein, die, auch wenn dies nicht im 
ausdrücklichen Anſchluß an irgendwelche deutſch-wölkiſch gerichtete Vereinigungen 
zum Ausdruck gekommen ſein ſollte, unbeeinflußt durch die Rückſicht auf Beliebt 
heit oder Unbeliebtheit bei dritten oder auch durch die Stickluft der Berliner 
Wilhelmſtraße rein vaterländiſch empfindet. So, wie er uns geſchildert wird, 
iſt er im bismarckiſchen Sinne allezeit weder durch engliſche noch durch ruſſiſche 
noch durch irgendwelche andere Vorlieben in ſeinem Eintreten für den Vorteil 
des Reichs irgendwie beeinflußt worden. Die Seeluft, in jungen Jahren geatmet, 
iſt der Entwicklung ſolcher Männer günſtig; günſtiger jedenfalls als Hofluft. Als 
Seemann hat Herr von Hintze früh gelernt, mit Angehörigen fremder Nationen 


416 Zürmers Tagebuch 


und Raſſen ſo umzugehen, wie es ihrer beſonderen Art entſpricht. Jedenfalls 
ſcheint er dem Fehler der meiſten Oeutſchen — leider auch der meiſten Deut- 
ſchen von ſtaatsmänniſchen Anſprüchen — nicht zu unterliegen, in ſtammfremden 
Leuten immer nur Leute des eignen Schlages zu ſehen. Nicht zu begrei- 
fen, daß ſie meiſt ganz andere Anſchauungen hegen über das, was Rechtens oder 
für ſie wünſchenswert iſt und was nicht, als wir, und — daß man ſie demgemäß 
behandeln muß! Der neue Staatsſekretär des Auswärtigen iſt eine ungewöhnlich 
vielſprachige Perſönlichkeit. Er ſpricht Engliſch, Franzöſiſch und Ruſſiſch mit allen 
Feinheiten, — wie verſichert wird, genau fo gut wie feine Mutterſprache; an- 
nähernd ebenſogut Spaniſch und hat z. B. in den letzten Jahren das Norwegiſche 
ſo weit beherrſchen gelernt, daß er ſeit geraumer Zeit mit den Miniſtern des Landes, 
bei dem er bisher beglaubigt war, ganz gut in deren eigner Sprache verhandeln 
konnte. Für ſeine Energie und Findigkeit ſpricht eine ganze Reihe von Tatſachen, 
die im Laufe der Zeit in die Öffentlichkeit gedrungen find. Erinnert ſei an die 
Art und Weiſe, wie er während der ruſſiſchen Revolution von 1905 als deutſcher 
Marinebevollmächtigter feinen Aufträgen am Zarenhofe gerecht geworden iſt, 
oder an ſein Erſcheinen zu Kriegsbeginn in Deutſchland wie ſpäter in Peking. 
Daß es ihm an dieſen Eigenſchaften auch bei der Wahrnehmung der beſonderen 
Seiten ſeiner Stellung als deutſcher Geſandter im Ausland nicht gefehlt hat, 
dafür zeugen eine Menge Geſchichtchen, die draußen im Umlauf und, wie z. B. 
die nachſtehende, mitunter auch wirklich verbürgt ſind. In der Hauptſtadt eines 
der Länder, in denen er in der letzten Zeit gewirkt hat, betritt Herr von Hintze 
ein Geſchäft. Es iſt in einem der von England verhetzten Staaten; man welß 
nicht, wer er iſt, aber man erkennt ihn als Oeutſchen. Er bringt fein Begehren 
vor. „Wir bedauern! An Deutſche verkaufen wir nicht!“ wird ihm zur Antwort. 
„Na, denn nicht!“ Nach der deutſchen Geſandtſchaft zurückgekehrt, begrüßt Herr 
von Hintze einen Kreis von ihm geladener Gäſte. Dann nimmt er einen der jünge⸗ 
ren Herren der Geſandtſchaft etwas beiſeite. Er gibt ihm ſo, daß alle Welt es hört, 
den Auftrag, ſofort zu dem Miniſter des Auswärtigen zu fahren und ihm zu be- 
richten, das und das ſei dem deutſchen Geſandten widerfahren. Herr von Hintze 
würde Wert darauf legen, noch im Laufe des nächſten Vormittags durch den Herrn 
Miniſter Aufſchluß darüber zu erhalten, ob ſolche Stimmung allgemein verbreitet 
ſei und was geſchehe, ihr entgegenzuarbeiten. Derartig energiſches Auftreten 
machte den deutſchen Geſandten keineswegs unbeliebt. Wie es immer im Leben 
iſt — wenn auch gerade die deutſche Diplomatie unter Berliner Einflüſſen viel- 
fach anders darüber denkt —, trat regelmäßig genau die entgegengeſetzte Wirkung 
ein. Das Haus ſeines Amtsvorgängers in Chriſtiania war unter dem Einfluß der 
Ententediplomatie von den amtlichen Kreiſen der norwegiſchen Hauptſtadt nach 
Möglichkeit gemieden worden. Unter Hintze hörte das ſchnell auf. Man erzähtle 
ſich ſeither in Chriſtiania, daß jedesmal, wenn einer der Amtsvorgänger Hintzes 
beim Miniſter des Auswärtigen geweſen war, beinahe in feſtem Herkommen der 
engliſche Geſandte eine halbe Stunde ſpäter erſchienen ſei und fo das letzte Wort 

behalten habe. Unter Hintze habe ſich das Verhältnis umgekehrt. Da ſei der 

Engländer auf einmal ohne Kenntnis von den Beſuchen feines deutſchen Wett⸗ 

bewerbers geblieben; eine halbe Stunde nach ſeinen eigenen Beſuchen ſei aber 


Eürmers Cageduch 417 


nunmehr regelmäßig Herr von Hintze im Minifterium des Auswärtigen auf- 
getaucht und habe ſeinerſeits das letzte Wort behalten. 

Derartige kleine Züge find allerdings geeignet, für den neuen Mann eine 
gewiſſe günſtige Voreingenommenheit in unſeren Kreiſen wachzurufen; fie klin 
gen jedenfalls ganz anders, als z. B. was über Herrn von Kühlmann bei deſſen 
Auftauchen in Berlin in Umlauf kam. Auch daß es Herrn von Hintze in gewiſſem 
Sinne an den Eigenſchaften eines Originals mit dem Anſpruch auf Volkstümlich⸗ 
keit nicht fehlen ſoll, nimmt nicht gegen ihn ein. So wird man auf unſerer Seite 
wohl geneigt fein dürfen, ihm ein gewiſſes Vertrauen entgegenzubringen und fei- 
nem Wirken, deſſen Ergebniſſe im übrigen abzuwarten bleiben, ohne Voreinge⸗ 
nommenheit entgegenzuſehen. Er ſoll die Gabe haben, durchaus ſelbſtändig zu 
ſehen und unbegründete Vorurteile, die man ihm beigebracht, ſeien ſie zugunſten 
oder zuungunſten beſtimmter Dinge oder Menſchen, ſehr ſchnell hinter ſich zu 
laſſen. Aus dieſem Grunde ſtört es uns nicht weiter, daß Herr von Hintze, vermut- 
lich auf Grund amtlicher Darſtellung von Berlin her, vor vierzehn Tagen Auf- 
faſſungen über allerlei hierher mitgebracht haben ſoll, die uns unhaltbar erſcheinen. 
Derlei wird — nehmen wir an — ſeine Richtigſtellung ganz von ſelbſt finden. Herr 
Erzberger war ihm z. B. als ein ſehr ordentlicher, fleißiger und wohlgeſinnter Volks- 
vertreter geſchildert worden, dem lediglich Eiferſucht und ſtinkender Neid den hehren 
Glanz des bekannten Ehrenſchilds zu rauben ſuche. Herr von Hintze wird Gelegen- 
heit haben, den Herrn kennen zu lernen. Etwas anderes dagegen ſtimmt uns bis 
zu einem gewiſſen Grade beſorgt. Der neue Mann ſoll perſönlich empfindlich ſein. 
Das würde kein beſonders günſtiges Vorzeichen für feine Tätigkeit gerade im Aus- 
wärtigen Amt abgeben. Bernhard von Bülow hatte nicht ganz unrecht, als er 
meinte, ein Staatsmann müſſe mit der Haut eines Nilpferdes gewappnet ſein. 
Als der Vorgänger Bethmanns das ſprach, hat er offenbar ganz unmittelbar an 
die Verhältniſſe der Berliner Wilhelmſtraße gedacht.“ 

* * 


* 

Leicht wird es der neue Herr in der Wilhelmſtraße nicht haben. Noch bevor 
er fein Geſchäft dort angetreten hat, findet er es mit einer neuen ſchweren Hypo- 
thek belaſtet: der Erklärung des Reichskanzlers Grafen Hertling über die „Wieder- 
herſtellung Belgiens“. Nach der amtlichen Veröffentlichung der Rede iſt es 
verſtändlich, wenn die „Internationale Korreſpondenz“ behaupten konnte, daß 
Graf Hertling in der belgiſchen Frage ſich dem Standpunkt der Sozialdemo—- 
kratie weſentlich genähert und nicht nur dem Gedanken an Annexion gegen- 
über Belgien, ſondern auch der Herabdrückung des Landes zu einem deutſchen 
Vaſallenſtaat deutlich abgeſagt habe. Der Kanzler hat in feiner Erklärung gejagt, 
daß er Belgien nur als Fauſtpfand für die künftigen Friedensverhand— 
lungen betrachtet und nicht beabſichtige, Belgien in irgendeiner Form zu behalten. 
Er hat ferner erklärt, daß das nach dem Kriege wiedererſtandene Belgien als felb- 
ſtändiges Staatsweſen daſtehen und, keinem als Vaſall unterworfen, mit uns in 
guten freundſchaftlichen Verhältniſſen leben müſſe. Die Erklärung des Grafen 
Hertling geht alſo bedeutend weiter, als ſelbſt die Außerungen, die Herr 
von Bethmann Hollweg über Belgien getan hat. Bethmann Dolwes hatte 

Der Tuͤrmer XX, 21 


418 Zürmers Tageduch 


ſeinerzeit das Wort geprägt von den Einfallstoren im Oſten und Weiten, die wir 
unſeren Gegnern nehmen müßten, und von den realen Garantien, die geſchaffen 
werden müßten, um der Wiederholung eines Überfalles auf Oeutſchland, wie ihn 
dieſer Weltkrieg darſtellt, vorzubeugen. Auf die Forderung ſolcher realen Garan- 
tien gegenüber Belgien, wie fie ſeinerzeit der Zentrumsführer Spahn im Reichs- 
tag formulierte, als er forderte, daß Belgien wirtſchaftlich, militäriſch und 
politiſch feſt in unſerer Hand bleiben müſſe, hat Graf Hertling in feiner Er- 
klärung vor dem Hauptausſchuß des Reichstages anſcheinend völlig verzichtet. 
Man müßte denn ſchon den Satz, den er in anderem Zuſammenhang ſagt, daß 
wir die notwendige Sicherung für künftige ſchwierige Verhältniſſe uns beim 
Friedensſchluß ſchaffen müſſen, auch auf die belgiſche Frage beziehen. 

Gegen die Richtlinien, die der Reichskanzler mit ſeiner Erklärung über die 
belgiſche Frage aufgeſtellt hat, muß im Intereſſe der deutſchen Zukunft ſchärfſter 
Einſpruch erhoben werden. Belgien iſt ſchon vor dem Kriege ke in unabhängiger 
Staat geweſen, ſondern ſeine Politik wurde von Paris und London aus geleitet, 
und wenn es noch eines Beweiſes bedurft hätte nach den Ereigniffen, die ſich in 
den erſten Auguſttagen in Würfeln abſpielten, ſo haben die Berichte der belgiſchen 
Geſandten den klarſten Beweis dafür erbracht, daß die belgiſche Regierung ſchon 
lange vor Ausbruch des Krieges ſich ihrer Handlungsfreiheit begeben hatte. Würde 
Belgien nach dem Kriege als völlig unabhängiger Staat wiederhergeſtellt, ſo iſt 
es doch keinen Augenblick zweifelhaft, daß es völlig in ſeiner politiſchen 
Haltung von England abhängig wäre. Die Belgier, zumal das belgiſche 
Königshaus und die Regierung, find durch den Krieg zu noch unverſöhnlicheren 
Feinden Deutſchlands geworden, als ſie es ſchon vorher waren, und ein ſelbſtändi⸗ 
ges Belgien würde zweifellos eine ausgeſprochen deutſchfeindliche Boli- 
tik treiben. Was das militäriſch in einem künftigen Kriege bedeuten würde, ift 
ſo oft dargelegt worden, daß es keines weiteren Wortes bedarf. Wollen wir uns 
davor ſchützen, daß Belgien abermals das Einfallstor für unſere Feinde wird, und 
zwar ein Belgien, das mit engliſcher Hilfe militäriſch weit beſſer für den 
Kriegs fall gerüſtet iſt, jo müſſen wir darauf beſtehen, daß das Land militäriſch 
feſt in unſerer Hand bleibt, daß insbeſondere die flandriſche Küſte, deren Wichtig 
keit als Operationsbaſis für unſere U-Boote gerade die letzten engliſchen Angriffe 
gegen Oſtende und Beebrügge gezeigt haben, unter deutſchem Einfluß bleibt. 

Daneben muß auch politiſch der deutſche Einfluß in Belgien gewahrt bleiben. 
In dieſer Beziehung hatte die deutſche Verwaltung, zögernd zwar, verheißungs 
volle Anfänge gemacht. Die Verwaltungstrennung zwiſchen Vlamen und Wallo⸗ 
nen, die noch unter Bethmann Hollweg durchgeführt war, und die Unterſtützung, 
die die Regierung den vlamiſchen Beſtrebungen zuteil werden ließ, ließen hoffen, 
daß man in Berlin ſich entſchloſſen hatte, Belgien in zwei voneinander unabhängige 
Gebiete zu teilen. Nach den Erklärungen Hertlings müßte man annehmen, daß 
dieſer Plan jetzt fallen gelaſſen iſt. Damit würde man nicht nur ein ſchweres 
ſittliches Unrecht gegen die ſtammesverwandten Vlamen tun, denen in mehr 
fachen feierlichen Kundgebungen der Schutz ihres Volkstums zugeſagt 
iſt, und die man im Falle eines völligen Verzichts auf Belgien der Rache der 


> Zürmers Tagebuch | | f | 419 


Französlinge ausliefern würde, ſondern man würde auch dieſen deutſchen 
Stamm rettungslos in die Arme Englands treiben, bei dem alleine ſie 
dann noch Schutz zu finden hoffen könnten. Die künftige Neuordnung in Belgien 
müßte unter allen Umſtänden an der Teilung Belgiens in einen vlamiſchen 
und einen walloniſchen Staat feſthalten, und zwar unter getrennten Herrfcher- 
häuſern. Daß Deutfchland feine Hand dazu bieten ſollte, den König Albert auf 
dem Throne zu halten, muß vom deutſchen Standpunkt aus als völlig aus- 
geſchloſſen gelten. 

Endlich: auch in wirtſchaftlicher Beziehung müßten wir beim Friedensſchluß 
Belgien in unferer Hand behalten. Der Schaden, den ein wirtſchaftlich unabhängi- 
ges Belgien durch Zollſchranken und andere wirtſchaftliche Maßnahmen dem deut- 
ſchen Handel und der deutſchen Induſtrie zufügen würde, läßt ſich heute noch gar 
nicht überſehen. Die Beſchlüſſe der Pariſer Wirtſchaftskonferenz deuten ja darauf 
hin, welche Abſichten unſere Feinde in dieſer Beziehung verfolgen. 

Es iſt alſo ein Unding, wenn man Belgien nur als Fauſtpfand für die künf- 
tigen Verhandlungen betrachtet. Die Bedeutung, die die belgiſche Frage für die 
Zukunft Oeutſchlands hat, iſt fo groß, daß fie in keinem Verhältnis zu den übrigen 
Fragen ſteht, die beim Abſchluß des Friedens zu löſen ſind. Jede Regierung, die 
den Krieg ſiegreich beenden will, muß es als die Hauptaufgabe beim Friedensſchluß 
betrachten, daß Belgien politiſch, militäriſch und wirtſchaftlich feſt in unſerer Hand 
bleibt. Bedeutet die Erklärung des Grafen Hertling wirklich, daß man auf Bel- 
gien völlig verzichten will, [jo würden alle die Parteien, die auf einen deut- 
ſchen Frieden hinarbeiten, in eine ſcharfe Kampfſtellung gegen die 
Regie rung des Grafen Hertling treten müſſen. Es bleibt zunächſt zwar 
noch immer die Möglichkeit, daß Graf Hertling die Worte von den notwendigen 
Sicherungen auch auf Belgien bezogen wiſſen will, aber wir müſſen geſtehen, daß 
unfere Hoffnungen in dieſer Beziehung nur noch gering find ... 

Das iſt nicht die leichteſte Aufgabe für Herrn von Hintze, wie wir ihn über- 
haupt nicht um das Erbe Kühlmanns beneiden. Ein ganzes Bündel ungelöſter 
Fragen harrt feiner. Da iſt in erſter Linie die Polenfrage, bei der der vielgeprie- 
ſene Czernin, Kühlmanns Meiſter, aus Anlaß des Friedens von Bukareſt uns in 
aller Form hineingelegt hat. Der beſte Gradmeſſer für ſeine politiſche Fähigkeit 
wird die Löſung dieſer Frage bedeuten. Es gibt eine preußiſch-polniſche, eine 
ruſſiſch-polniſche Löſung der Frage, vielleicht auch eine dritte, aber es gibt keine 
öſterreichiſch-polniſche Löſung, wenigſtens nicht für Oeutſchland. Herr 
von Hintze muß die ruſſiſche Frage zu löfen verſuchen, die durch die ſchändliche Er- 
mordung des Grafen Mirbach noch verwickelter geworden iſt. Es find die türkiſch⸗ 
bulgariſchen Zwiſtigkeiten zu überbrücken mit der ganzen Summe der damit zu- 
ſammenhängenden Fragen, und es iſt vor allem unſere Politik einzuſtellen auf 
den Endkampf mit England. ‚Die Politik iſt viel mehr Charakter als Geiſt', 
jagt Thiers im Hinblick auf Napoleon, ein unbedingt wahres Wort, das ausſchlag⸗ 
gebend iſt für den deutſchen Staatsmann, der den Weltfrieden ſchließen muß.“ 


I 


Kühlmann 


De „Deutſche Tageszeitung“ hatte einmal 
auf Herrn von Kühlmann ein Wort 
Friedrichs des Großen angewendet: wenn 
man näher zufähe, fände man „un grand 
rien“ (ein großes Nichts). „Herr von Kühl- 
mann“, ſchreibt das Blatt neuerdings, „hat 
ſich noch in jeder ſeiner Dienſtſtellungen als 
eine oberflächliche, an der eigentlichen Sache 
weder intereſſierte noch zu intereſſierende In- 
telligenz gezeigt, hielt ſich aber ſelbſt für ganz 
hervorragend ſtaatsmänniſch befähigt und für 
genial; daher feine Neigung zum Improviſie- 
ren und zum Kokettieren eben damit. Seine 


Neigung zu Redeblumen, die manchmal aller⸗ 


dings mißglückten, wurde unterjtüßt durch die 
andere Neigung, geſchichtliche Kenntniſſe und 
tiefe allgemeine Bildung zu zeigen, wo nur 
oberflächliche Anſätze dazu vorhanden waren. 
Auch in der Durchführung deſſen, was er feine 
Politik nannte, herrſchte die Oberflächlichkeit, 
außerdem Mangel an Ziel und Charakter, und 
uͤber allem ſchwebte die Gleichgültigkeit 
der Sache gegenüber. Dazu kam beherr- 
ſchend das Beſtreben, populär im Sinne der 
Reichstagsmehrheit zu fein, und die Nei- 
gung, einem Anſchluſſe Deutſchlands an die 
angelſächſiſchen Mächte alles zu opfern, außer 
vielleicht Elſaß- Lothringen. Kühlmann ſtand 
im Grunde auf dem Scheid emannſchen 
Programm und auf der vom ‚Berliner 
Tageblatte“ empfohlenen Methode des 
Friedens ‚mit Hin- und- her- ſchieben“ . Er iſt 
Internationaliſt. Da er fich hierzu, um 
Staatsſekretär bleiben zu können, nicht be- 
kennen konnte und deshalb nach Möglichkeit 
nicht bekennen wollte, ſo war der im Grunde 


ſchroffe Gegenſatz der Richtung, in der Kühl- 
mann wollte und ſich treiben ließ, zu der Poli; 
tik des Kanzlers für viele latent. Ebenſo viele 
hatten größtes Intereſſe daran, daß dieſer 
Gegenſatz latent bliebe. Sie hofften, und 
Kühlmann auch, daß er als Exponent 
der Verzichtmehrheit und mit ihr 
ſchließlich maßgebend dem Reichskanz- 
ler, der Heeresleitung und dem Deut- 


ſchen Kaiſer entgegentreten würde. Da 


Kühlmann ſich zu dieſem Programm nicht be; 
kennen konnte, ſo war auch keine Lopalität 
möglich. ... Die letzte Rede gab dann den 
Ausſchlag. Wie der gute Homer der Über- 
lieferung nach zuweilen einſchlummerte, ſo 
war es hier Herrn von Kühlmann gegangen, 
er plauderte ſich ſelbſt aus und betonte 
den Gegenſatz zur Politik des Kanzlers, zur 


Heeresleitung und den Gegenſatz feiner ge- 


ſamten Anſchauung von dieſem Kriege gegen 
den Deutſchen Kaiſer.“ Kühlmanns Tätig- 
keit während des Krieges und vor allem als 
Staatsſekretär war „eine ununterbrochene 
Reihe von Minderleiftungen und Mißerfolgen. 
Es ging immer erſt, wenn er felbft kräftig an · 
geleitet und geführt wurde, malgrö lui!“ 


Ein kleiner Rechenfehler 


rm in Arm beſtätigen „Berliner Börfen- 

zeitung“ und „Vorwärts“, daß Herr 
von Kühlmann den Grafen Hertling zum 
Kanzler gemacht habe. „Beide Blätter“, be- 
merkt die „Oeutſche Zeitung“, „find die ge 
treueſten Anhänger des entlaffenen Staats 
ſekretärs, — ob ſie dem Geſtürzten damit 
einen Gefallen getan haben, ift doch recht 
fraglich. Denn es dürfte den Schilbträgern 


Auf der Warte 


Kühlmanns nicht unbekannt fein, aus wel- 
chem Grunde ihr Freund ſich ſeinerzeit für 
den jetzigen Reichskanzler eingeſetzt hat. Es 
wird in der Kühlmannpreſſe jetzt nachdrücklich 
betont, Herr von Kühlmann habe eigentlich 
ein großes Opfer gebracht, als er das Dornen- 
volle Amt übernommen habe. An ſeinem 
Amte habe er nicht geklebt und es jederzeit 
gern aufgegeben. Das ſtimmt, Kühlmann 
klebte wirklich nicht an dem Staatsſekretärs- 
poſten, weil ſein Sinn nach Höherem 
ſtand. Er gefiel ſich in der Rolle des Ver- 


trauensmannes der Demokratie und hoffte 


auf die Nachfolgerſchaft Hertlings. Seine Ge⸗ 
treuen waren durchaus in Bilde, daher die 
aus Anlaß jeiner Rede von ihnen ausgegebene 
Loſung: Kühlmannkriſe gleich Kanzlerkriſe. 
Dabei rechnete man, daß eine derartige Kriſe 
mit dem Sturze Hertlings und dem Siege 
Kühlmanns enden würde. Die Rechnung 
war falſch und mußte nach Lage der Dinge 


falſch ſein; damit war Kühlmann erledigt. 


Das iſt die tatſächliche Unterlage der jetzigen 


Vorgange. | 
* 


Ein verhängnisvoller Fehler 


Wo dn ſich ohne Not eines Trumpfes be- 


geben, ſtatt ihn wider den Gegner, 


auszuſpielen? Leider hat ſich Graf Hertling 
in feiner Erklärung über Belgien — wenig- 
ſtens nach der Auffaſſung des größten Teiles 
der Preſſe — zu einem ſolchen unglücklichen 
Verzicht bewogen gefühlt. „Die Wirkung 
auf das Ausland“ kann, wie u. a. die „Kreuz 
zeitung“ bemerkt, „nur wieder die ſelbe ſein, 
wie bei unſeren vielen früheren Friedens- 
angeboten. Die feindlichen Staats- 
männer haben ebenſo wie die deutſche 
Sozialdemokratie ſchon lange das Be- 
ſtreben gezeigt, der deutſchen Reichsleitung 
eine offene Erklärung über den Ver— 
zicht auf Belgien zu entlocken. Schon 
dieſe Beſtrebungen hätten davor warnen 
mũſſen, es zu tun. Und ſogar Herr von Kühl- 
mann hat ſich wiederholt den Vorwurf ge- 
fallen laſſen, daß er in der belgiſchen Ange- 
legenheit zu unbeſtimmt ſei. Es wird nun die 
Frage aufzuwerfen fein: Hat ſich die kriegs- 


421 


politiſche Lage jo geändert, daß es ſich emp- 
fiehlt, die Zurückhaltung in der belgiſchen 
Frage, die doch nur einen Teil unſerer weſt- 
lichen Kriegsziele bedeutet, mehr oder weniger 
aufzugeben oder nicht?“ 

Selbſtverſtändlich verneint die „Kreuz- 
zeitung“ dieſe Frage und führt dann weiter 
aus: „Man könnte mit der vom Grafen Hert- 
ling gewählten bedingten Form einverſtanden 
ſein, wenn dieſem Satz nicht klipp und klar die 
Erklärung folgte: „Wir beabſichtigen nicht, 


Belgien in irgendeiner Form zu be— 


halten.“ Damit hat ſich die politiſche Leitung 
eines ihrer beſten Trümpfe begeben. 
Wenn ſich der Engländer an den Der- 
hand lungstiſch ſetzt, weiß er alſo ſchon 
ganz genau, wie der Gegenſpieler ſeinen 
beſten Trumpf anwenden wird, während er 
ſelbſt wohlweislich die Karten an ſich hält. 
So ſtellt ſich die Bekanntmachung der Ranzler- 
worte über Belgien geradezu als eine 
Aufforderung an unfere Gegner dar, 
ihr Angebot zur Rückgewinnung Belgiens 
möglichſt hoch zu ſchrauben. Das iſt nicht 
nur ein politiſcher, ſondern auch ein 
pſychologiſcher Fehler.“ 

Ein geradezu verhängnis voller, wenn er 
nicht wenigſtens noch in etwas gutgemacht 
werden kann und wird! 


Belgien als Zugeſtändnis an 
die Sozialdemokratie? 


lles andere als glücklich nennt die „Poſt“ 

die Erklärung des Grafen Hertling über 
Belgien: „Wie die Dinge tatſächlich liegen, 
bietet ein ‚nach dem Kriege wiedererſtandenes 
Belgien‘, alſo ein Belgien in der alten Staats- 
form und mit der alten Regierung, keinesfalls 
eine Sicherung derart, wie ſie Deutſchland 
fordern muß und wie ſie auch früher in der 
Formel der ‚realen Garantien“ amtlich ge- 
fordert wurde. Des Kanzlers Erklärungen 
zeigen alſo doch immerhin andere Färbung 
als der frühere amtliche Standpunkt. Sie 
wirken wie ein Zugeſtändnis an die immer 
heftiger andrängende Sozialdemokratie, 
die den Kern des belgiſchen Problems nicht 
begriffen hat und nicht begreifen will. Sie 


422 


ſind dazu in einer Stunde abgegeben worden, 
die ganz deutlich den ſozialdemokrati— 
hen Einfluß verrät, nämlich das Geſchrei 
über den Fall Rühlmann; und fie werden 
deshalb im Auslande wohl nicht anders ge- 
deutet werden, als ein Zugeſtänd nis, daß 
die deutſche Regierung nicht imſtande 
ſei, eine folgerichtige und kräftige bel- 
giſche Politik angeſichts der demokratiſchen 
Quertreibereien im eigenen Lande durch- 


zuhalten.“ 
% 


Politik und Kriegführung 


n ihrer letzten Wochenſchau (15. Juli) 

ſchreibt die „Tägl. Rundſchau“: 

Durch die Taten und Meinungen des 
Staatsſekretärs von Kühlmann war von An- 
fang an ein immer wieder peinlich ſich fühlbar 
machender Gegenſatz zwiſchen der auf Tat und 
Willen geſtellten Haltung unſerer Oberſten 
Heeresleitung und der Geſchäftsgebarung 
unſeres Auswärtigen Amtes gegeben. Immer 
wieder mußte da eingerenkt und ausgeglichen 
werden; immer wieder mußte der Säbel in 
Ordnung bringen, was die Feder verdorben 
hatte. Man erinnere ſich nur der Grotesken, 
die Herr von Kühlmann in Breſt-Litowſk mit 
Herrn Trotzki aufführte, und aus denen dann 
ein anderer Wille als der ſeine, eine andere 
Kraft als die ſeine nach unendlichen Irrungen 
und Wirrungen das herausholen mußte, was 
in dieſen Tagen ſeine Verteidiger als ſein 
Verdienſt geltend machen wollten, um den 
Anhaltbaren zu halten. 

Mit dieſem peinlichen Gegenſatz dürfte 
nunmehr durch Herrn von Hertling aufgeräumt 
fein. Weithin fihtbar machte er in dieſen 
Tagen, daß unſere politiſche Reichsleitung, 
für die er und er allein die Verantwortung 
trägt, ſich bewußt iſt, der organiſchen Einheit 
mit der Heeresleitung unter allen Umftänden 
zu bedürfen. Die Leute, die bei uns ſeit Jahr 
und Tag die Heeresleitung unter die politiſche 
Leitung und die politiſche Leitung unter einen 
parlamentariſchen Stammtiſch von unter ſich 
herzlich uneinigen Ehrgeizlingen beugen möd- 
ten, treten zur Begründung ihrer Anſpruͤche 
immer wieder die alte Wahrheit breit, daß 


Auf der Warte 


Kriegführung eine Fortführung unſerer Poli- 
tik mit anderen Mitteln ſei. Daraus wollen 
fie den Anſpruch herleiten, Heer, Heeres- 
leitung und Kriegführung zu willenloſen Werl 
zeugen bankerott gewordener Piplomaten- 
und Parlamentarierkünſte zu machen. Selbſt⸗ 
verſtändlich iſt das Gegenteil das Logiſche: da 
die Künſte der Diplomatie an der Aufgabe der 
Wahrung unſerer berechtigten Intereſſen in 
der Welt geſcheitert find, müffen jetzt im Krieg 
und folange der Krieg dauert, eben die ande; 
ren Mittel, die militäriſchen, durchaus ent- 
ſcheiden und durchaus allem anderen voran⸗ 
ſtehen. Erſt wenn es ihnen gelungen iſt, unſere 
Lage in der Welt ſo herzuſtellen, daß niemand 
mehr wagen kann, ſie uns zu beſtreiten, erſt 
dann können wir wieder den Verſuch machen, 
der Diplomatie es zu überlaſſen, auf Grund 
der militäriſchen Erfolge und Sicherungen, 
und nur auf dieſer allein von der Heeres - 
führung zu ſchaffenden Grundlage, mit ihren 
Mitteln wieder zu wirtſchaften. Es iſt nicht 
ſo, daß mit dem Krieg unſere Diplomatie ein 
neues Werkzeug in ihren Dienſt nahm. Nein, 
wir haben mit dem Griff zum Schwert von 
der Unzulänglichkeit unſerer Diplomatie an 
eine höhere zInſtanz appelliert. Dieſe 
höhere Inſtanz hat ſich herrlich bewährt. 
Sie muß von Gottes und Rechts wegen 
Herr über den Verlauf des Verfahrens blei- 
ben bis zum Ende ... Wenn einſt die Ge- 
ſchichte des Grafen Hertling zu ſchreiben iſt, 
dann wird es die ſchönſte Aufgabe des Dar- 
ſtellers ſein, zu zeigen, wie ein Leben voller 
Arbeit und voller Erfolge feine ſchöne Krö⸗ 
nung fand in der Erkenntnis, dazu berufen 
zu fein, treu darüber zu wachen, daß dem 
deutſchen Volke nichts von dem leichtſinnig 
vertan und verſpielt werde, was es mit dem 
Einſatz all feines beſten Blutes und Gutes 
unter der Führung ihrer herrlich und einzig 
in aller Welt erſtandenen Herzöge von Gottes 
Gnaden ſich in diefem Ringen um Sein oder 
Nichtſein gewonnen hat. 

Wir haben in dieſer Woche allerhand er- 
lebt: Kühlmanns Ende, Hintzes Anfang, die 
Anmaßung, die Blamage der Zulileute, ihre 
vergebliche belgiſche „Diverſion nach außen“ 
mit ihrem Fälſchungsverſuch und deſſen Rlar- 


Auf der Warte 


ſtellung. ... Aber an Anfang dieſer inhalts- 


reichen Woche ſehen wir den Kanzler aus den 
Großen Hauptquartier kommen, und an ihrem 
Ende ſehen wir ihn wieder dorthin fahren. 
Es iſt wie eine ſymboliſche Rahmenzeichnung 
um das bunte Geſchehen dieſer Tage. Weit- 
hin ſichtbar ſehen wir ihn in allen feinen Hand; 
lungen und Entſcheidungen, in feinem Kom- 
men und Gehen die organiſche Einheit zwi- 
ſchen Reichsleitung und Heeres leitung vor der 
Welt bekunden, ſehen ihn das Bekenntnis 
leben, daß Entſcheidungen über unſeres Reiches 
und Volkes Schickſale nicht anders geformt 


werden dürfen als mit Hilfe des ſtärkſten Wil⸗ 


lens und der ſtärkſten Hände, die für uns wir- 
ken. Das iſt, aus allem Vielerlei des Geſchehens 
herausgeſchält, der politiſche Sinn der Ge- 
ſchichte jüngſter Tage und ihr guter Gewinn. 


Ein Propaganda ⸗Miniſterium 


fordert der Reichstagsabgeordnete Siegfried 
Heckſcher, einer von den völkiſch aufrechten 
unter den Fortſchrittsmännern, in der „Voſſ. 
Ztg.“ Das deutſche Verfahren, auf alle 
Kundgebungen der feindlichen Staats- 
männer zu ſchweigen, ſei nicht länger zu 
ertragen. Für jeden, der die Wirkung der 
Northelif fe- Propaganda im Auslande und bei 
uns verfolgt, kann es nur eine Auffaſſung 
geben, nämlich die, daß dieſes Schweigen 


einem Verſagen der deutſchen Staats- 


kunſt gleichkommt. „Mit meiſterhaftem Ge- 
ſchick wird jede einzelne Rede der engliſchen 
Führer nicht nur auf ihre Wirkung in England, 
ſondern auch auf ihre Beeinfluſſung der öffent- 
lichen Meinung bei den Neutralen und ganz 
beſond ers auf ihre Wirkung in Deutſch- 
land eingeſtellt. Man horche einmal im 
Lande und ſelbſt an der Front herum, wie es 
wirkt, wenn der einfache Mann die bilder- 
reichen, von ſcheinbar echtem Idealismus er- 
füllten Phraſen eines Lloyd George geleſen 
hat, eines Balfour, eines Asquith oder eines 
Wilſon, der die erprobten Methoden den Eng- 
ländern mit Erfolg abgeguckt hat. HYundert- 
tauſende Deutſche fragen ſich, wenn ſie eine 
Kundgebung des Präſidenten der Vereinigten 
Staaten geleſen haben, verzagt und erbittert, 


425 


was ſagt die deutſche Regierung? und 
die Wolke des Unmuts, der Dumpfheit 
und des Zweifels breitet ſich, zum er- 
heblichen Teile dank dieſer Northeliffe- 
ſchen Propaganda, weit und weiter 
über das deutſche Volk. Vas verſchlägt 
es dagegen, daß die Oberſte Heeresleitung ihre 
ausgezeichneten Kommentare zu den amt- 
lichen Heeresberichten veröffentlicht, was 
hilft es, wenn der Admiralſtab ſeine geſchick⸗ 
ten Erläuterungen dem Bericht über die U- 
Boot-Erfolge anfügt, was nützt es ſchließlich, 
wenn das Wolffſche Bureau eine lebloſe, 
nüchterne Bemerkung der Veröffentlichung 
der engliſchen, amerikaniſchen und auch fran 
zöſiſchen Miniſterreden anreiht! 

Wir verſuchen unſer Land gegen feindliche 
Spionage, gegen Agenten - und Halunkentum 
hermetiſch abzuſchließen, wir laſſen es je- 
doch mit offenen Augen wehrlos zu, 
daß ein Strom vergiftender Reden ſich 
über unſer Volk ergießt. 

Nun geht es nicht an, daß feindliche Rund- 
gebungen von irgendwelchem Gewicht unſerem 
Volke vorenthalten werden. Es iſt aber für 
unſer Volk notwendig wie das tägliche Brot, 
daß der engliſch - amerikaniſch-franzöſiſchen Be⸗ 
einfluſſung die deutſche Auffaſſung entgegen- 
geſetzt und die Gerechtigkeit und die Größe der 
deutſchen Sache und des deutſchen Gedankens 
in das volle und klare Licht gerückt wird. So⸗ 
weit die Verteidigung, aber damit nicht ge- 
nug! Wir müſſen unſere Sache auch im An- 
griff vor dem Forum der Kulturwelt ver- 
fechten, Tag für Tag, ohne die bängliche, 
pedantiſche Furcht vor Wiederholungen. 

Meine Überzeugung von der eindringlichen 
Wirkung der Northcliffeſchen Propaganda 
geht fo weit, daß ich behaupte, der Staats- 
ſekretär von Kühlmann hätte feine letzte, un- 
glückliche Rede nicht gehalten, wenn nicht 
auch er unbewußt unter den Ausſtrahlungen 
der Northeliffefhen Mache ftünde. 

Was ich ſeit Jahren verfechte, wiederhole 
ich heute, daß mächtiger als die engliſche 
Flotte, gefährlicher als das engliſche Heer 
Reuter und die engliſche Nachrichtenpropa- 
ganda ſind. Ein Volk, das, wie das deutſche, 
auf eine vierjährige Kriegszeit von fo un- 


424 


erhörten Leiſtungen und Erfolgen zurüd- 
blickt, hat wahrlich alles Necht, mit hellem 
Stolz und Vertrauen in ſeine Zukunft zu 
blicken. Soll dieſes Vertrauen, frage ich, 
künſtlich unterhöhlt werden durch jene raf- 
finierten Machenſchaften der Feinde im 
Bunde mit der hilfloſen Untätigkeit deutſcher 
Staats kunſt?“ 


Zur engliſch⸗nordamerikaniſchen 
Verbrüderung 


as einſt zwiſchen Engländern und 
Nordamerikanern in blutigen Rämp- 
fen ausgefochten wurde, in dem Unabhängig 
keitskriege der nordamerikaniſchen Staaten 
gegen Englands Tyrannei und die wilden 
Indianer, die im engliſchen Solide ſkalpierten, 
und in dem zweiten Kriege von 1812 mit 
Zerſtörung Waſhingtons und engliſchen Greu- 
eln, ſoll vergeſſen und vergeben fein. Win- 
ſton Churchill, in Worten ſo prahleriſch und 
rabuliſtiſch wie Lloyd George, nannte auf 
dem engliſch-amerikaniſchen Bruderſchaftsfeſt 
in London am 4. Juli 1918, am Jahrestag 
der nordamerikaniſchen Anabhängigkeitserklã⸗ 
rung von 1776, dieſe Erklärung „eine der 
großen Taten, auf denen die Freiheiten der 
engliſchen Völker beruhen“. Demnach wäre 
die Geſchichte der nordamerikaniſchen Un- 
abhängigkeitskämpfe eine in Deutſchland er- 
fundene Legende ſchlimmſter Art. Denn 
nicht die Engländer führten nach der verbeffer- 
ten Lesart Krieg gegen die nordamerikani- 
ſchen Freiſtaaten, ſondern nur ihr König, ein 
Deutſcher, der damals auf dem Thron ſaß. 
Schon wird nach engliſcher Angabe in Nord- 
amerika ein Schulbuch geſchrieben, das die 
wahre Geſchichte des Krieges zwiſchen Eng- 
land und den nordamerikaniſchen Freiſtaaten 
von 1776 erzählt. Ein Oeutſcher trägt die 
Schuld an dieſem Kriege. Die Engländer 
kämpften immer nur für die Freiheiten ande- 
rer Völker, auch 1776 und 1812, auch als fie 
die Sklavenſtaaten im Buͤrgerkriege gegen 
die Nordſtaaten unterſtützten. 
Oxford, Cambridge und die Aniverſi- 
täten der nordamerikaniſchen Anion wer- 
den darangehen, die Weltgeſchichte von der 


Auf der Warte 


Verfälſchung durch die Deutſchen, die Welt 
ſelbſt von dem Gift der Hunnen zu befreien. 
Zu dieſem Zweck ſoll das engliſch-mordameri⸗ 
kaniſche Großkapital bereits bedeutende Geld- 
mittel in Ausſicht geſtellt haben. Wer wagt 
es noch, die Ehrlichkeit der englifch-nordameri- 
kaniſchen Verbrüderung anzuzweifeln? 
* P. DO. 


Graf Mirbach, der Tod und das 
„Berliner Tageblatt“ 


amals, als Graf Mirbach mit der Ver- 
tretung des Deutſchen Reiches bei der 
Sowjetrepublik in Moskau betraut wurde, 
regten ſich jo manche Stimmen in verſchie⸗ 
denen Lagern, die mit viel Reſerve, ja, in 
der Molltonart trüber Vorausſagen dieſe 
Berufung beſprachen. Dieſem voreiligen Ge- 
ſchwätz machte der Tod, als gutbezahlter 
Dienſtmann der Entente, ein jähes Ende. 
Den Grafen Mirbach hat man nun in ſeiner 
Heimat zur letzten Ruhe getragen. Und 
das Stirnrunzeln all' derer, die in feiner Be- 
rufung voreilig einen Mißgriff der Regierung 
ſahen, glättete vor einigen Tagen kein anderer 
als Kerenski, der noch vor dem Tode des 
Grafen dem „Petit Parisien“ mitteilte, daß 
der perſönliche Einfluß dieſes Botſchafters in 
jüngſter Zeit ein ſchrankenloſer geworden ſei, 
daß er durchgreifende Reformen auf allen 
Gebieten plane und aus dieſen Gründen die 
Entente das höchſte Intereſſe daran habe, 
ihm — dem Grafen — raſch entgegenzu⸗ 
wirken. Auch das Berliner Tageblatt findet 
in dem Nachrufe für den ermordeten Bot- 
ſchafter Worte, die dem Ausdruck geben, daß 
der auf fo ſchmähliche Weiſe ums Leben Ge- 
kommene „ſcheinbar nach beſten Kräften 
und nicht ohne Erfolg bemüht geweſen iſt, 
ſich den Verhältniſſen in Rußland anzupaſſen 
und nützliche Beziehungen zu den Bolſchewill 
anzuknüpfen“. — Aber — —, ja, das Ber- 
liner Tageblatt kann ſich doch dieſen einen 
ſchweren Vorwurf nicht erſparen, von einer 
Schuld können ihn ſelbſt ſeine Freunde nicht 
freiſprechen: Graf Mirbach war, fo konſta⸗ 
tiert das Berliner Tageblatt nachdenklich — 
„ſehr blond!“ — Wie kann man aber auch! 
O. Boettger Seni. 


Auf der Warte 


Ein Norweger gegen den 
ſcheinheiligen Humbug“ 

in Norweger, der es wagt, wider die 

Einheitsfront der norwegiſchen Preſſe 
gegen Oeutſchland anzukämpfen, verdiente 
ſchon faſt den bekannten Stern im Baedeker 
als Auszeichnung für Sehenswürdigkeiten. 
Einer dieſer ganz, ganz ſeltenen Norweger, 
die den Mut haben, eine eigene Meinung in 
der Offentlichkeit zu vertreten, iſt Dr. Her- 
mann Harris Aall. Der bekannte Rechts- 
gelehrte, berichtet die „Voſſ. Ztg.“ aus Chri- 
ſtiania, hat ſeinen Landsleuten ſchon wieder- 
holt mit derben Worten die Wahrheit geſagt. 
gest veröffentlich Aall in „Ukens Nevy“ 
einen Aufſatz, in dem er mit dem Auslands- 
leitartikler des norwegiſchen Ententeblat- 
tes „Aften posten“ abrechnet. Er betont 
darin, er brauche nicht die Zentralmächte zu 
verteidigen. Dazu ſei das Verbrechen Eng- 
lands und feiner Mithelfer zu himmel- 
ſchreiend. Um das zu beweiſen, geht er auf 
die Tatſachen ein, die zum Kriegsausbruch 
geführt haben. „Dieſe Tatſachen ſind, daß 
England, Frankreich und Rußland ſich foli- 
dariſch zur Verteidigung des Verbrechens von 
Sarajewo ſtellten, laut dem britiſchen Blau- 
buch Nr. 12. Ich denke an Deutſchlands 
Friedensbitte an Rußland, Frankreich und 
England, die dieſe Staaten abſchlugen — die 
britiſche Regierung ſo unbedingt, daß ſie ſich 
ſogar weigerte, mitzuteilen, unter welchen 
Bedingungen fie den Oeutſchen geſtatten 
würde, am Leben zu bleiben (engl. Blaubuch 
123). Oder ich denke an die Ausdehnung des 
Krieges, wie Großbritannien einen neutralen 
Staat nach dem anderen gelockt, bedroht und 
ausgehungert hat, lauter Staaten, die keinen 
Grund hatten, mit den Mittelmächten Krieg 
zu führen —, bis jetzt die Kriegsflammen um 
die ganze Erde zucken, entzündet durch die 
Dämonen der Lüge, zum Beſten des britiſchen 
Profitbegehrs, des Machthungers und des 
Haſſes gegen den Tüchtigeren. Oder ich denke 
an die Fortſetzung des Krieges, trotz inftän- 
diger Aufforderungen der Mittelmächte an die 
Entente, einen Verſtändigungsfrieden zu 
ſchließen ...“ In dieſem Zuſammenhang geht 


425 


Aall auch auf den Brief des Kaiſers Karl ein, 
den die Entente jedenfalls für authentiſch ge- 
halten und „deshalb vor der Welt verjchwie- 
gen hat, um keine Friedensſtimmung in ihren 
Ländern zu erwecken ...“ And dann beweiſt 
der Verfaſſer mit unangreifbaren Daten, daß 
es zuerſt Eng land war, das die hohe See mit 
Treibminen verſeucht hat, mit „dieſen ver- 
fluchten Minen, die ſo vielen unſerer Seeleute 
das Leben gekoſtet haben“. Er weiſt auf den 
völkerrechtswidrigen Aushungerungskrieg hin, 
auf die giftigen Gasbomben, die England 
ſchon im Burenkrieg anwandte und die es ge- 
meinſam mit Frankreich auch in dieſem Krieg 
benutzte. „Schon im September 1914 jubeln 
franzöſiſche Blätter über die wunderbaren Ne- 
ſultate der Giftgaſe — ‚Aftenpostens‘ eigener 
Pariſer Korreſpondent berichtet darüber —, 
während die erſte deutſche Gasbombe von 
Ententeſeite erſt am 24. April 1915 gemeldet 
wird.“ And zum Beweiſe, daß auch die erſten 
Luftangriffe auf unbefeſtigte Städte 
von der Entente ausgeführt worden ſind, kann 
ſich Aall ſogar auf das engliſche Fachblatt 
‚Aeroplane‘ berufen, in dem es am 10. Oktober 
1917 heißt: „Die erſten Fliegerbomben in die- 
ſem Krieg wurden von britiſchen Marine- 
fliegern auf Oüſſeldorf, Köln und Friedrichs- 
hafen geworfen. Es kann einen ekeln bei die 
ſem polternden Gefhwäß, daß wir Vergeltung 
üben müßten. Das iſt nur ſcheinheiliger 
Humbug.“ 

Es erſcheint dem deutſchen Leſer vielleicht 
merkwürdig, daß man ſolche Einzelheiten 
hervorheben muß. Aber Tatſache iſt, daß 
z. B. die Leſer von „Aftenposten“ bis 
heute nichts vom Suchomlinowprozeß 
wiſſen. Und nicht beſſer ſteht es um die 
Kenntnis von den Geheim verträgen der 
Entente zur Zertrümmerung und Aufteilung 
der Mittelmächte. Solche Dinge könnten zu 
leicht das ſchöne, mühſam erarbeitete Bild von 
dem räuberiſchen Deutſchland beeinträchtigen. 


Blut und Leben fürs Vaterland 


m gegen die neue Börſenſteuer zu de- 
monſtrieren, beſchloß die Hamburger 
Wertpapierbörſe jeglichen Börſenverkehr 


426 


einzuſtellen. Prompt gab darauf das Stell- 
vertretende Generalkommando des 9. Armee- 
korps die Antwort: es verfügte, da mit Ein- 
ſtellung des Börſenverkehrs jede Voraus- 
ſetzung für die Zurückſtellung der Firmen- 
vertreter und Angeſtellten der Wertpapier- 
börſe entfällt, daß die zurückgeſtellten 
Wehrpflichtigen ſofort in den Heeres- 
dienſt eingeſtellt werden. — Der Verein 
Wertpapierbörſe trat daraufhin ebenſo „fo- 
fort“ zu einer Verſammlung zuſammen und 
beſchloß, „unter dem Zwang dieſer Verhält- 
niſſe den Börſenverkehr unverzüglich wie- 
der aufzunehmen“. Die Verfügung des 
Generalkommandos fuhr auch den gleichen 
Organiſationen der Berliner Börfe jo in die 
Glieder, daß die Kursnotierungen der Ber- 
liner Börſe am ſelben Tage wieder aufgenom- 
men wurden. Was ſagen wohl unfere Männer 
im Schützengraben zu ſolchem Verhalten? 
Bezeichnend iſt, daß nur wenige Zeitungen 
von obigen Vorgängen Kenntnis genommen 
haben. Bl. 


* 


Zur Reform der Diplomatie 


gehört auch die Abſtellung veralteter Vor- 
rechte, die im 18. Jahrhundert bei damaligen 
Reiſeverhältniſſen ihre Begründung hatten. 
Gewiſſe altüberlieferte „Courtoisien“ werden 
zum Unfinn und zur ſittlichen Verführung, 
wenn der Perſonalſtand der Geſandtſchaften 
in die drei- und vierſtelligen Zahlen ſchwillt. 
Die Serben in Bern, die den diplomatiſchen 
unbehelligten Warenſchmuggel en gros be- 
trieben, hat man nun doch zur Rede geſtellt. 
In franzöſiſchen Kurierkoffern wanderten 
ſtändig hohe internationale Beträge herein 
und heraus, um die Kursverhältniſſe der 
Valuta verbeſſert auszunutzen. Kaum lernt 
man eine der meiſtens nicht dummen, in den 
Bureaus unentbehrlichen Damen kennen, 
daß fie ſchon liebenswürdig den Rat erteilt, 
jetzt müſſe man öſterreichiſche Kronen kaufen. 
Zu den Bekleidungs- und Ernährungs verhält- 
niſſen ihrer reſpektiven Heimatländer tragen 
die Damen „verdienſtlich“ bei. Dieſe viel- 
leicht unnötigen Dinge mögen erwähnt fein, 
weil manche Blätter in Deutſchland leicht 


Auf der Warte 


über die Schweiz räfonieren, ohne zu willen, 
wieviel Nachſicht und Geduld da gegen andere 
geübt wird. 

Zuweilen entſchädigt wohl auch ein 
Humoriſtikum. Anterhaltend iſt die Bundes⸗ 
ſtadt. Die tibetaniſche Geſandtſchaft hatte zu 
gewiſſer Zeit vornehmlich die Oirektive, ſich 
jtart auf Kulturpropaganda zu verlegen. 
Wohl weil das Hunnenreich da irgendwo in 
der Gegend von Tibet feinen Urſprung ge- 
habt haben ſoll, mußte ſie ſich jetzt noch die 
Köpfe deswegen zerbrechen. Nun beſaß 
einer der vielen jüngeren Tibetaner eine 
belgiſche Freundin oder vielmehr er beſaß 
ſie nicht, da ſie in der okkupierten Ferne weilte. 
Sie konnten zuſammen nicht kommen, ſummt 
das alte Volkslied, nach deſſen Weiſe auch 
das andere tragiſch geht: „Es war eine ſchöne 
Jüdin.“ Der lebhafte Umgang mit jungen 
Jüdinnen gehört zum diplomatiſchen Ritus 
der Buddhiſten. Bei dem qualvollen Beraten 


über die Kultur blitzte dem jungen Herrn, 


geſcheit wie Diplomaten manchmal ſind, der 
Vorſchlag auf, die belgiſche Pianiſtin ſo und 
jo könne Konzerte zur tibetaniſchen Propa- 
ganda geben. Man hatte nie von ihr ver- 
nommen, aber ſie kam, ſie ſah, ſie ſpielte, 
das Reich Tibet, deren Lamabs ſich höchlich 
beglückt bezeigten über die näheren Berfona- 
lien, zahlte 500 Rupien für jedes Klavierſpiel 
der propagandiſtiſchen Belgierin. Dann wurde 
auf einmal dieſes eingeſtellt, als die Vorgeſetz⸗ 
ten der Legation, hochachtbare Leute, die Zu⸗ 
ſammenhänge als allzu gemuͤtvoll entdeckten. 
Um auf die deutſche Diplomatie und 
deren Reform zurückzukommen, ſo hat der 
namentlich aus Hamburg empfohlene handels- 
wirtſchaftliche Stab bei den Geſandtſchaften, 
der jetzt wie alles Schöne proviſoriſch iſt, 
noch mehr für ſich, wenn man die Entſagung 
den Privatgeſchäften gegenüber dann auf 
den Ehrenkodex ſetzt. Mutz 
0 


Ein verſchleuderter Schatz 


as Vertrauen! — „Bethmann,“ ſchreibt 
„Deutſchlands Erneuerung“ (Heft 6, 
1918), „der, was die Ausnutzung der 
politiſchen Schwächen des deutſchen Vol 


Auf der Warte 


kes zu ſeinen Gunſten anbetraf, entſchieden 
ein Seelenkenner war, hat während ſeiner 
Amtsführung im Kriege unzählige Male 
Vertrauen erfleht, erbeten, verlangt, ge- 
fordert, ertrotzt, ja geradezu amtlich an- 
befohlen. Weite, durchaus geiſtig hoch- 
ſtehende Schichten unferes Volkes, ſehr vor- 
nehm denkende Menſchen haben ihm reſtlos 
vertraut, und wie viele mögen auch jetzt noch 
den Glauben an ihn und ſeine Beweggründe 
bewahrt haben! Und doch hat es kaum eine 
Zeit gegeben, in der das allgemeine Ver- 
trauen des Volkes zu ſeiner Regierung und 
die allgemeine Vorſtellung von ihrer Weis- 
heit und Kraft fo ſchmählich enttäuſcht und 
erſchüͤttert und untergraben worden iſt, als 
gerade die Zeit der Bethmannſchen Regierung. 
Als er ging, genoß er bei keiner einzigen Partei 
mehr auch nur einen Funken Vertrauen. 
Nicht nur in ausgeſprochen völkiſchen Kreiſen, 
deren Mißtrauen er früh erweckt hatte, fon- 
dern auch weit darüber hinaus in anderen 
reichs- und kaiſertreuen Schichten war end- 
gültig der Traum ausgeträumt, der Traum: 
daß man beruhigt Berlin walten laſſen könne; 
daß eine Schar von unermüdlichen, fachlich 
dem Vaterlande dienenden, hervorragenden 
Männern die Belange des Reiches nach 
größten, geſchichtlichen und reindeutſchen 
Geſichtspunkten mit Mut und Zielbewußtſein 
wahrnehme; daß man jede Kritik hintan- 
zuhalten und ſich lediglich des wachſenden 
Wohlſtandes zu freuen hätte; daß man durch 
unbed ingtes, blindes Vertrauen zu den Nach- 
folgern Bismarcks und durch Einſtehn für ſie 
ſtaatserhaltend wirke .. 

Bethmann hat nicht für Deutfchland, 
ſondern gegen Oeutſchland regiert. Wer es 
nicht ſchon vorher wußte und feine Geiftes- 
richtung am Falle Kapp erkannte, dem hat 
wohl jetzt die Lichnowſkyſche Denkſchrift 
die Augen geöffnet. Oder er leſe die unſagbar 
törichte Bethmann ⸗Lebensbeſchreibung von 
Hermann Kötſchke, bei der ſchon die Be- 
ſtellung des Biographen das gleiche bare Un- 
vermögen beweiſt wie die Beſtallung Lich 
nowſkys zum Perſonalien Dezernenten und 
Botſchafter. Doch täglich kann man noch 
das wahrhaft erfhütternde Schauſpiel er- 


427 


leben, daß in Ehren ergraute Beamte oder 


wiſſenſchaftlich hervorragende Männer erſt 


jetzt von der grauenvollen Ahnung ge- 
faßt werden, welch eine UAnſumme von 
Unfähigkeit, Eitelkeit, Strebertum und 


Unſach lich keit mit und unter Bethmann zu 


unſerem Verderben am Werke geweſen iſt, 
und welche aller Erfahrung und Ge— 
ſchichte ins Geſicht ſchlagende Richt- 
linien für deſſen Politik maßgebend waren. 
Wenn erſt jetzt noch ſtumme Stimmen reden 


werden, wird niem and mehr daran zweifeln. 


Es iſt unſagbar viel Vertrauen gewiſſenlos 
verſchleudert und verwirtſchaftet worden und 
geht noch heute nachträglich verloren, was 
ſeit Bismarcks Tagen ein köſtlicher Beſitz des 
deutſchen Volkes war. 

Darum mögen ſich jetzt alle, die an ſicht⸗ 
barer Stelle von Einfluß ſtehen, der Gefahr 
bewußt fein, die eine weitere Einbuße an Ver- 
trauen bedeuten würde. Dieſe Stellen mögen 
ſich ſehr ernſt überlegen, ob es angebracht 
erſcheint, die ausgeſprochenen Vertreter 
des Bethmannſchen Syſtems und feiner 
fo entſetzlich zuſammengebrochenen Piplo- 
matie, deren Folgen wir mit teuerſtem 
Blute bezahlt haben und noch bezahlen, 
die Kühlmann, Bernſtorff, Lucius, Lur- 
burg, Baron de Schoen, Riezler uſw. 
uſw. noch in verantwortungsreichen 
Stellen zu beſchäftigen. Es muß ganz 
offen geſagt werden, daß man dieſe Weiter- 
verwendung in den Kreiſen, die bisher ohne 
politiſche Exrpreſſung auf der einen, Belohnung 
auf der anderen Seite anſtandslos ihre vater- 
ländiſche Pflicht treu bis zum Tode erfüllt 
haben, dauernd als Schlag ins Geſicht 
empfindet. .. Niemand hat jetzt noch eine 
Entſchuldigung. Kein einziger deutſcher Mann 
in der Heimat, der ſehn und hören kann, darf 
ſich noch mit „Vertrauen“ und „Idealismus“ 
entſchuldigen.“ 


Pr 


Der Engländer und der Japaner 


er Berichterſtatter der „Daily Mail“ hat 
den japaniſchen Miniſterpräſidenten 


Grafen Terautſchi, hernach auch den früheren 


Minifter des Auswärtigen Kato und den 


428 


gegenwärtigen Miniſter des Auswärtigen 
Baron Goto mit der gleichen Zudringlichkeit 
und Dreiftigleit einem Verhör unterworfen. 
Sehr huͤbſch kennzeichnet Graf Reventlow die 
ironiſch überlegene Haltung des Japaners 
Goto dem Engländer gegenüber: 

Dieſer Miniſter antwortet mit unzerſtör⸗ 
barer Ruhe und zuweilen mit ſtarker Fronie. 
Als er z. B. fragend darauf aufmerkſam ge- 
macht wird, wie es komme, daß der deutſche 
Geiſt in der japaniſchen Armee und der „ger- 
maniſierte Charakter der japaniſchen Kultur“ 
im Widerſpruche zur allgemeinen Verbrei- 
tung der engliſchen Sprache in Japan ſei, er- 
widert der Miniſter: die Frage ſei gut, ſo 
etwas habe ihn noch nie ein Fremder ge- 
fragt. Seiner Anſicht nach ſei dieſes eine 
ſchöne Seite des japaniſchen Charakters. 
Japan nähme Ziviliſation von jedem Volke 
auf, bliebe aber dabei immer japaniſch und 
laſſe ſich im Charakter nicht beeinfluſſen. Der 
Minifter kommt dann auf ſich ſelbſt zu ſprechen 
und tut den Ausſpruch: „Ich bin keineswegs 
prodeutſch, ich bin nicht antiengliſch, ich bin 
ganz Japaner.“ Der Zeitungsmann kommt 
hier aus dem Konzept, unterbricht den Mini- 
ſter: er habe nicht ganz folgen können, als der 
Minifter ſagte, er ſei „nicht antiengliſch“. 
Warum? Baron Goto ſetzte es ihm freund- 
lich auseinander: er könne nicht prodeutſch 
fein, weil Deutſchland ein Feind fei, und 
nicht antiengliſch, weil man einem Freunde 
gegenüber nicht unfreundlich ſei. Der Bericht; 
erſtatter fragte nachher, ob Japan wirklich 
nicht wie die anderen Verbündeten für ein 
„Ideal“ kämpfe, ſondern nur für materielle 
Zwecke? Oer Miniſter antwortet: Japan 
habe ohne andere Gründe gegen Deutſchland 
zu den Waffen gegriffen, nur um feiner Ver- 
tragspflicht zu genügen. Darin liege Japans 
Rechtfertigung. Der Berichterſtatter wendet 
ein, dieſe Pflicht ſei kein Ideal geweſen, und 
Baron Goto entgegnet, daß hinter der Pflicht 
das Ideal geweſen ſei. Dem Engländer ge- 
nügt dies alles nicht, und er hat das Gefühl, 
der Miniſter habe zu wenig antideutſche 
Ideale, deswegen ſagt er die alte Lüge: der 
deutſche Kaiſer habe geſagt, die Japaner ſeien 
Affen. Als Antwort ſpricht Baron Goto von 


Auf der Warte 


den 30 000 Gedichten des verſtorbenen 
Kaiſers Meili, welche die ſchönſten Ideale 
der Menſchheit enthielten. 

Welcher Eng länder hätte vor zwei Jahren 
und vor einem Jahre öffentlich an die japani- 
ſchen Miniſter die Frage geſtellt, ob ſie an 
einen Sieg der Verbündeten gegen 
Deutſchland glaubten? — Baron Goto 
antwortet wohlwollend: Gewiß, aber ihr müßt 
euch Zeit laſſen, es iſt ein häufiger Fehler der 
Menſchen, daß ſie nicht warten können 

Die japaniſchen Staatsmänner wiſſen 
genau, daß ihre Verbündeten ihnen nichts 
vorſchreiben und ſie in nichts hindern 
können. Sie wiſſen ebenfalls genau, daß, 
abgeſehen von dieſer unmittelbaren Obn- 
macht Japan gegenüber, die angelſächſiſchen 
Miniſter jetzt jede Konzeſſion machen wür- 
den, um Japan bei der Stange des Bünd⸗ 
niſſes zu halten. Sein Ausſcheiden oder nur 
ein tatfächliches Sichzuruͤckziehen aus dem 
Bündniffe würde unabſehbare Folgen für 
die angelſächſiſchen Mächte herbeiführen, 
für jetzt und für die Zeit nach dem Kriege. 


London — Weltbankhaus ge⸗ 


weſen! . 
ondon hat aufgehört, das Bank und 
Wirtſchaftszentrum der Welt zu ſein! 
Dieſe Betrachtung von deutſcher Seite wird 
jetzt von einem engliſchen Fachmanne in 
der Londoner „Pall Mall Gazette“ heſtätigt: 
„Bei Kriegsausbruch war London der 
Finanzmittelpunkt — das ſogenannte all- 
gemeine Abrechnungshaus — der ganzen 
Welt, durch das eine rieſige Menge inter- 
nationaler Geſchäfte vermittelt und erledigt 
wurden. Auswärtige Banken deponierten 
bei dieſen Geſchäften ſtets große Geldſummen 
in London. Jetzt ſehen wir täglich, daß dieſe 
Geſchäfte direkt und nicht über London 
abgeſchloſſen werden. Amerika und Japan 
treiben Handel miteinander, aber die Ab- 
ſchlüſſe nehmen nicht mehr ihren Weg 
über London. Das gleiche gilt von Süd- 
amerika und Spanien. Die großen Geld- 
ſendungen Südamerikas an Spanien werden 
jetzt direkt geſchickt und nicht, wie vor dem 


1 X u — y un 


Auf ber Warte 


Kriege, durch Vermittlung der Londoner 
Banken. Worauf deuten dieſe Dinge hin? 
Es iſt klar, daß in England nach dem Kriege 
große Veränderungen ſtattfinden werden. 
Es wird nicht allein nötig fein, für die Wieder 
herſtellung alter und die Errichtung neuer 
Induſtrien große Geldſummen aufzutreiben, 
ſondern wir werden gezwungen ſein, hart 
zu kämpfen, um, wenn möglich, unſere 
finanzielle Poſition wieder zu erlangen.“ 

„Wenn möglich!“ Ein beredtes Gejtänd- 
nis, das hier dem tiefbekümmerten engliſchen 
Geſchäftsgemüte entſchlüpft iſt. Selbſt fo 
verachtete Staaten, wie die ſüdamerikaniſchen, 
erfrechen ſich — —! Es iſt nicht auszudenken, 
es iſt ſchon der Untergang der „Welt“! Und 
des „Weltgewiſſens“. 

* 


Wie fie es machen 


ürzlih ſtarb in Wien eine dortige drt- 
liche Größe, der frühere Abg. Bieloh- 
lawek, ein Gegner der Juden. Mit welchen 
Mitteln er von der großen Wiener Tages- 
preſſe bekämpft wurde, erzählte ohne Scheu 
ein Mitglied dieſer Preſſe, Stefan Großmann, 
in der Voſſiſchen Zeitung. 

„Ich habe damals mit einigen jungen 
Freunden in Wien den Kampf gegen Bielohla- 
wet als innig gefühlten Spaß ein paar Jahre 
lang betrieben. Wir nahmen ihm die Freude 
an ſeinen verwegenen Coupletrefrains, in- 
dem wir noch mehr erfanden als er. Wir 
machten Bielohlawek durch eine Biolohlawel- 
legende unſchädlich. Wir veröffentlichten 
Schilderungen: Bielohlawek auf dem Hof- 
ball, Bielohlawek über Ibſen, Bielohlawek 
in Cronville, lauter Erfindungen, aber 
mit beinahe echten Ausſprüͤchen, die ganz 
ſo klangen, als ob er ſie geſagt hätte. Zu- 
weilen waren unfere erfundenen Bielohlaweks 
noch ſchlagkräftiger als feine echten. Er 
ärgerte ſich ſehr, denn erſt an unſeren frechen 
Bielohlawekerfindungen konnte er die Red- 
heit, Unwiſſenheit, Roheit feiner eigenen 
Kundgebungen erkennen. Sein Mutterwitz 
aber, an dem er ſich mit einigem Recht er- 
freuen konnte, wurde ihm durch unſere ſchock⸗ 
weiſe vorgebrachten Erfindungen verleidet. 


429 


Er ſtudierte das Preßgeſetz und berichtigte. 
Aber dann lachten die Wiener erſt recht über 
ihn, denn fie ſagten ſich: wie treffend müffen 
dieſe Satiren fein, wenn Herr Vielohlawek 
ausdrücklich feſtſtellen muß, daß ſie erfunden 
und nicht Wirklichkeit find. Übrigens er- 
fanden wir auch drollige Berichtigungen.“ 
Mit ſolchen Tricks verfolgt die große Wie; 
ner Tagespreſſe jede Perſönlichkeit, die ihr 
mißliebig iſt, und ſcheut ſich nicht, um mit 
Großmann zu reden, die „frechſten Erfin- 
dungen“ in die Welt zu ſetzen. Als vor 
Jahresfriſt der neue Leiter des Hofburg- 
theaters von Millen kowich feine Antrittsrede 
hielt, verhieß er, „das chriſtlich-germaniſche 
Schönheitsideal“ zu verwirklichen. Für die 
Kenner der Wiener Tagespreſſe waren die 
Tage dieſes Mannes gezählt. Planmäßig 
fielen die Läſterzungen der Preſſe über ihn 
her und dürfen jetzt ihren Erfolg bejubeln. 
Herr von Millenkowich iſt zur Strecke gebracht 
worden. Weshalb hat er auch die Kühnheit 
gehabt, von einem chriſtlich-germaniſchen 
Schönheitsideal zu ſprechen? Darin ſah die 
international und interkonfeſſionell gerichtete 
große Wiener Tagespreſſe eine Herausforde- 
rung und beeiferte ſich, den Mann mit allen 
Mitteln, auch mit Hilfe von Erfindungen, un- 
möglich zu machen und ihm ſein Amt zu ver- 
leiden. Paul Dehn. 


% 


„And dieſe Leute dirigieren 


eine Millionenpartei !“ 
De „Köln. Ztg.“ veröffentlicht den Brief 
eines org aniſierten Sozialdemokra- 
ten an den Abgeordneten Meerfeldt. Der 
Briefſchreiber iſt 1912 eigens von Paris nach 
Köln gefahren, um dem Vorgänger Meer- 
felds ſeine Stimme in der Stichwahl zu geben. 
Er wendet ſich u. a. gegen die Erklärung der 
Parteileitung, in der dieſe das Wort vom 
„verkappten Annektieren“ ausſprach: 

„ Die xealen Garantien, die wir 
zum Schutz unſerer geographiſch fo ungünffi- 
gen jetzigen Grenzen haben müſſen, kön- 
nen eben in nichts anderem beſtehen, als in 
einer unter möglichſter Schonung der 
nationalen Anſprüche der Einwohner er- 


450 


folgenden loſen Angliederung an den 
deutſchen Staatenbund. Wenn unſere 
Parteileitung dieſe Aktion, die uns übrigens 
kein unparteiiſch urteilender Ausländer ernft- 
lich übelnehmen wird (und wenn ſchon ), mit 
dem bösartigen Wort: „Verkappte Annexion“ 
belegt und gar dieſes verhängnisvolle Wort 
in die Welt hinausſchreit, ſo daß es alle 
offenen und geheimen Feinde hören, und gar 
in dieſem Augenblick, wo es unſeren vor einer 
ſo unendlich ſchweren Aufgabe ſtehenden 
Unterhändlern dieſe Aufgabe noch unendlich 


mehr erſchweren muß, ſo verdiente eine ſolche 


ebenſo deplazierte wie törichte, ja ge- 


radezu verbrecheriſche „Tat“, daß alle 


urteilsfähigen Parteigenoſſen dem Vor- 
ſtande ihre Mitgliedsbücher vor die 
Füße werfen ſollten. Die Lorbeern der 
„Unabhängigen“ haben augenſcheinlich unſere 
Parteileitung nicht ſchlafen laſſen, ſie mußte 
doch auch etwas tun, um ſich den ‚Maffen‘ 
wieder in Erinnerung zu bringen. Und 
dieſe Leute dirigieren eine Millionen- 
partei! Es wird einem angſt und bange, 
wenn man ſieht, mit wie wenig Weisheit 
nicht nur die Welt, ſondern auch eine große 
Partei regiert wird! Wenn es auf dieſe Weiſe 
weitergehen ſollte, ſo wird das Friedenswerk 
in Breſt-Litowſk viel mehr durch unſere Par- 
tei als durch die Alldeutſchen geſchädigt. Die 
Alldeutſchen find eine ſehr kräftige 
und nützliche Anterſtützung unſerer 
Anterhänd ler, die dadurch den Nuffen ad 
oculos demonſtrieren können, wie ſehr man 
ihnen entgegenkomme, indem man ſo weit 
von den alldeutſchen Forderungen abrücke.“ 

Weiter wendet ſich der Briefſchreiber 
gegen die Auffaſſung, daß die Annexion 
von Elſaß- Lothringen Frankreich in 
den Krieg gegen uns getrieben habe. 
„Nichts iſt verkehrter als eine derartige welt- 
fremde Auffaſſung. Ich habe lange in Frank- 
reich gelebt und darf mir wohl ein Urteil in 
dieſer Sache erlauben. Der Kriegsgrund 
der Franzoſen gegen uns gehört abſo- 
lut ins pathologiſche Gebiet. Es iſt der 
Haß des Kranken gegen den Geſunden, 
der einem Gefühl der Angſt und Schwäche 
gegenüber dem Starken entſpringt. Das ſich 


Auf der Warte 


nicht vermehrende 40 Willionenvolk ſieht ſich 
neben dem mächtig wachſenden 70. Millionen- 
volk und fühlt ſich nicht eher ſicher, als bis 
dieſes, nach feiner Auffaſſung, jo unſchaͤdlich 
gemacht iſt, daß es es nicht mehr zu fürchten 
braucht.“ | 

Bemerkenswert iſt auch die Anſicht des 
Briefſchreibers, daß viele Anhänger der 
Sozialdemokratie durch die traurigen Erfah- 
rungen der zentraliſtiſchen Bewirtſchaf⸗ 
tung der Konſumartikel in den letzten Jahren 
in ihrem Glauben an das Allheilmittel 
des Sozialismus ſtark ſchwankend ge 
worden ſind, und daß die Partei nach dieſer 
Richtung hin ihr Prog ramm werde än- 
dern müſſen. 


Johannes Scherr über deutſchen 
Chauvinismus 


rohannes Scherr war ein Vorkämpfer aller 
freiheitlichen Beſtrebungen, ein Demo- 
trat, doch nicht weltbürgerlich, ſondern natio⸗ 
nal gerichtet, ein Mann, deſſen Worte heute 
noch gehört zu werden verdienen. Zn ſeinen 
„Blättern im Winde“ (1875) wandte er ſich 
gegen die ſchon damals hervortretenden welt- 
buͤrgerlichen Anwandlungen unter feinen 
Geſinnungsgenoſſen. „Laſſet euch auch nicht 
irre machen in der Beſchaffung eines ge⸗ 
ſunden Nationalegoismus, wenn da und 
dort ein mehr oder weniger dummer Zunge 
über deutſchen Chauvinismus ſchreit. In 
einem Lande, das ſeit den Tagen Armins des 
Cheruskers bis heute förmlich darauf ver- 
ſeſſen war, einheimiſche Größen durch das 
Verkleinerungsglas, fremde dagegen durch 
das Vergrößerungsglas anzuſehen? Chau- 
vinismus unter einem Volke, das von jeher 
bis zur Stunde ſich gedrungen fühlte, ſogar 
ſeinen fremden Todfeinden nicht etwa nur 
Gerechtigkeit, ſondern auch Verehrung zu 
zollen? Oeutſcher Chauvinismus! Das ift, 
wie wenn der Millionenheimer (Ritter von 
Ofenheim in Wien), den ſie 1875 irgendwo 
laufen ließen, geſagt hätte: „Ich habe meine 
galiziſchen Eiſenbahnen mit Katechismus 
paragraphen gebaut.“ P. O. 
* 


1 


t 


Auf der Warte 


Wer find die Leute? 


| Dew „unſterblichen Kriegsorganiſationen“ 


widmet das „Größere Oeutſchland“ 
folgende Würdigung, der ſich der Türmer in 


allen Stücken nur auf das nachdrücklichſte an- 


ſchließen kann: 
In der „Norddeutſchen Allgemeinen gei- 
tung“ bekämpft Dr. Auguſt Weber, Mit- 


arbeiter im Reichswirtſchaftsamt, das Ver- 
langen nach möͤglichſt ſchneller Abſchaffung 


aller Rriegsämter und Kriegsorganiſationen, 
angeblich um die Allgemeinheit gegen die 
Maßnahmen des freien Handels zu Ihüßen. 
Zwar hat ſich in zwei Menſchenaltern der 
deutſche Kaufmann mindeſtens ebenſogut be- 
währt, als der Beamte, und theoretiſch ſingt 
man bei jeder Gelegenheit ein Preislied auf 
ſeine Tatkraft, Tüchtigkeit und weitſchauende 
Klugheit. Aber in Wirklichkeit wird er ganz 
anders bewertet; gewinnſüͤchtig, wie er nun 
einmal ift, muß er durch den mit allen Vor- 
zügen ausgeſtatteten Verwaltungsjuriſten er- 
ſetzt werden. Wie ſchade, daß man dieſe all- 
wiſſenden Herren dem deutſchen Volke nicht 
ſchon vor Jahrzehnten als Lenker und Leiter 
für ſeine Handelstätigkeit beſtellt hat; dann 
hätte ſicherlich England keinen Grund gehabt, 
auf unſere Handelserfolge eiferfüchtig zu fein. 
Aber jetzt geben fie ja glüdliherweife in den 
meiſten Rriegsämtern und Organiſationen den 
Ausſchlag. Als dieſe ins Leben gerufen wur- 
den, mußten natürlich Sachverſtändige zu- 
gezogen werden, die „gehört“ werden ſollten. 
Das heißt, aus dem Amtsſtil in unſer gelieb- 
tes Deutſch übertragen, fie fanden alle Vor- 
bereitungsmaßregeln fertig vor und hatten 
nur ja oder nein zuf agen. Wer aber nicht mit 
dem Kopfe nickte, ſondern eine fachmänniſche 
Meinung im Gegenſatz zu der papierenen 
Weisheit kundgab, der wurde einfach nicht 
wieder eingeladen. So war man die un- 
bequemen Leute los und konnte ſich für alle 
Verordnungen, mochten fie noch fo wider- 
ſinnig ſein, auf die „einhellige Zuſtimmung 
der beteiligten Kreiſe“ berufen. Welche Zu- 
ſtände ſich daraus ergeben haben, weiß jedes 
Kind. Oarum iſt es die allerhöchſte Zeit, in all 
die unzähligen Amter und Kriegsgeſellſchaf⸗ 


451 


ten, die oft geradezu gegeneinander arbeiten, 
mit dem vollen Strahl der Öffentlichkeit hinein 
zuleuchten, wie es der Reichstag verlangt. Wir 
wollen endlich einmal genau wiſſen, mit wem 
wir es zu tun haben, und das deutſche Volk 
darf angeſichts ſeiner ungeheuren Opfer und 
Entbehrungen zum mindeſten verlangen, daß 
die Herren, die in den zahlloſen Kriegsſtellen 
über feine Wirtſchaftsgüter verfügen, auch die 
offene Verantwortung dafür übernehmen. 
Denn auf die Dauer wirkt ihr Beſtreben, be- 
ſcheiden im verborgenen zu blühen und ſich 
hinter der Namenloſigkeit eines „Amtes“ zu 
verſtecken, doch nicht gerade günftig, zumal 
wenn man an die Klubſeſſel und Rieſen- 
gehälter denkt, die mit dem Nutzen der Amts- 
ſtellen in keinem Verhältnis ſtehen. Oder 
ſollten vielleicht für dieſe Neigung zum In- 
kognito beſondere Gründe vorhanden ſein? 


® 


Geſundes Volksurteil 


n einem Berner Gerichtsverfahren wegen 
Landesverrat und Nachrichtend ienſt zu- 
gunſten von Frankreich mußte auch der 
Ad vokat Dr. Brüftlein verurteilt werden. Er 
kam ſehr glimpflich davon, mit Anrechnung 
eines Spitalaufenthalts und der Erlaubnis, 
da ihm der Arzt Arterienverkalkung beſchei⸗ 
nigte, auch den kleinen Strafreſt im Kranken- 
haus zu verbringen. Das Gericht hatte die 
bisherige Unbeſcholtenheit des angeſehenen 
Mannes und Politikers in Betracht gezogen, 
der aus Geſinnung ſich vergangen habe. 
Dagegen lehnen ſich Zuſchriften an die 
Preſſe auf. Bisher unbeſcholten ſind auch 
viele einfache Leute, die wegen geringerer 
Geſetzvergehen zu ganz anderen Strafen ver- 
donnert werden. Gebildete und hochange⸗ 
ſehene öffentliche Wortführer ſeien deſto 
mehr verantwortlich zu machen, wenn ſie 
ſich um das Landeswohl und das Geſetz 
nicht kümmern. Das Volk habe ein Recht, 
in ſolchen Fällen „ein raſſiges Urteil“ zu 
erwarten. 
Auch in Deutſchland wird's nicht ſchaden, 
das zu vernehmen. Ein gefürchteter Grafen 
name erſteht da aus halbverklungenen Erinne- 


452 


rungen, wo Nix und Nöd ſich regt. Dort in 
der Demokratie ſind es deren Privilegierte, 
die Politiker, die ſich in ärztliche Wattierung 
packen laſſen dürfen. Mutz. 


„Rußland“ als Strafe 
5 die Auffaſſung, die man jetzt im 


neuen Oſtland von den Zuftänden in 
Rußland hegt, iſt eine Bekanntmachung des 
Revaler Stadthauptmanns bezeichnend. In 
dieſer wird den Teilnehmern an Streiks an- 
gedroht, daß ſie nach Rußland abgeſchoben 
werden follen. Die Auswanderung nach 
Rußland als Strafe, bemerkt die „Libauſche 
Zeitung“, noch dazu für Streikende, deren 
Herzen doch für die bolſchewiſtiſche Freiheit 
ſchlagen müßten, — nichts kann die Sinnes- 
wandlungen beſſer kennzeichnen! 


> 


Klarſtellung der Kanzlererflä- 
rung über Belgien 


ine bedauerliche Irreführung hat Arteile 

über die Abfichten des Grafen Hertling 
in der belgiſchen Frage hervorgerufen, die 
dieſen nicht gerecht werden und ſich daher 
ohne weſentliche Einſchränkungen nicht mehr 
aufrechterhalten laſſen. Nur die Aus- 
führungen des Reichskanzlers vom 12. Juli 
waren veröffentlicht worden und konnten da- 
her auch nur zugrunde gelegt werden; erſt 
nachträglich entſchloß man ſich zur Bekannt- 
gabe auch der vom 11. Juli. Mit Recht be- 
tont die „T. R.“: „Wenn man ſich ſchon ent- 
ſchloß, aus den ‚vertraulichen‘ Beratungen 
des Reichstagsausſchuſſes öffentlich zu be- 
richten, ſo mußte dieſer Entſchluß auch in 
ſeiner Tragweite voll erwogen werden und 
nicht der beſſere und wirkungsvollere 
Teil der Stellungnahme des Reichskanzlers 
zuruͤckgehalten und erſt verſpätet beinahe zu 
ſpät, der Öffentlichkeit fo beiläufig und halb 
hintenherum verzapft werden. 


Auf der Warte 


In der Erklärung vom 11. Zuli bindet 
ſich der Reichskanzler nach allen Richtungen 
hin in der belgiſchen Frage durch die Exlaute 
rungen, die er dem Ausdruck „Fauſtpfand“ 
zuteil werden läßt. Es müſſen, fo heißt es 
nunmehr, alle Gefahren ‚befeitigt‘ ſein, 
ehe dieſes Fauſtpfand herausgegeben werden 
kann. Oieſe Gefahren werden dann nach 
ihrer militäriſchen und wirtſchaftspolitiſchen 
Seite hin umſchrieben und ihre Beſeitigung 
nur durch enge Beziehung“ und ‚Derftän- 
digung“ mit Belgien als moglich hingeſtellt. 
Eine Loslöſung Belgiens von der ihm von 
England und Frankreich drohenden Gefahr iſt 
die Grundformel jeder Verſtändigung mit 
Belgien. Hiermit iſt geſagt, was gejagt wer- 
den mußte. 

Es bleibt nun noch übrig, die bedauerliche 
Tatſache feſtzuſtellen, daß die zuerſt ver- 
öffentlichte Auslaſſung des Kanzlers in Wirk- 
lichkeit die zuletzt abgegebene und damit nach 
allgemeinem Rechtsbrauch gültige iſt. Dieſe 
Auslaſſung ſteht aber in Widerſpruch zu der 
obigen Veröffentlichung. Der Kanzler hat 
das Wort, um dieſen Widerſpruch aufzu- 
klären .,. 

Immerhin hat der Kanzler nicht nur dem 
Sinne nach, ſondern auch mit ausd rücklichen 
Worten, als ſelbſtverſtänd lich betont, 
daß von einer Aufgebung unſeres wert- 
vollſten Fauſtpfandes Belgien gar nie- 
mals die Rede ſein könne, bevor nicht 
die von uns als notwendig erkannten 
Sicherungen unſerer zZntereſſen ge 
ſchaffen ſeien, und zwar Sicherungen nicht 
nur militäriſcher, ſondern auch wirtfchaft- 
licher Art. Der Kanzler ſetzt bei alledem alſo 
nicht nur auch militäriſche Sicherungen als 
ſelbſtverſtänd lich voraus; er ſtellt fie vielmehr 
allem anderen voran, auch den gewiß 
wichtigen wirtſchaftlichen Intereſſen. Veſſen 
Sache es aber ausſchließlich ſein wird, Art 


und Maß militäriſcher Sicherungen für 


Deutſchland zu beſtimmen, darüber kann in 
Mitteleuropa und in aller übrigen Welt wohl 
kein Zweifel ſein.“ 


Verantwortlicher und Hauptſchriſtlelter: 3. E. Freiherr von nn e Bildende Kunſt und Muſik: Dr. Rari Stoci 
Alle Nuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Behlendort-Berlin ( aumſerbahn) 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Sibirien und das oſtaſiatiſche Problem 


Von Dr. Freiherrn von Mackah 7 


Pioniere! Pioniere! f 
Hinter uns liegt das Vergangene, 
Vor uns eine neue, weitere Welt, reizvollere, 


Friſch und ſtark ergreifen wir ſie, Welt der Mühſal und des Marſches ! 


Pioniere! Pioniere! 


7 n dieſen Verſen hat einſt Walt Whitman, der Dichter und Träumer 


von der Zukunftsgröße des Sternenbannerreichs, den Geiſt des 
Nordamerikanertums, ſeinen Tatendrang und ſeine Wanderluſt 


erſten Rangs emporringt, auf Sibirien? Die tragiſche Geſchichte des großen 
aſiatiſchen Länderblocks zwiſchen dem Aral und dem Ochotskiſchen Meer reicht, 
in nur zu vielen Richtungen an die Art der Eroberung Amerikas durch die ſpaniſchen 
Konquiſtadoren erinnernd, bis in das dunkelſte Mittelalter zariſcher Machtherr- 


lichkeit. Die Petersburger Archive breiten tiefe Verſchwiegenheit über die Greuel 


der erſten „friedlichen Durchdringung“ des Landes, als in deſſen weite Räume 


ſich Heere von Verbannten in bunter Zuſammenwürflung, beſtehend aus Weiß“, 


Rot- und Kleinruſſen, Seutſchen, Polen, Litauern, Eſten, Finnen, Kaukaſiern, 
kurz allen Parteien der zariſchen Völkerherberge ergoſſen und in verzweifeltem 
Der Türmer XX. 22 z “ | 28 


> gekennzeichnet: paſſen fie heute, da die „Neue Welt“ bereits zu 
altern beginnt, nicht beſſer auf ein Land, das in Aſien als ein anderes Amerika 
ſich mitten in den Kriegsſtürmen zu politiſcher und weltwirtſchaftlicher Bedeutung 


E 
ur. 


454 Maday: Sibirien unb das oftaflatifche Problem 


Selbſterhaltungskampf teils die eingeſeſſenen Stämme verdrängten, teils ſich mit 
ihnen vermiſchten. Die Wirkungen des Abſtoßungs- und Angleichungsprozeſſes 
waren ſehr eigentümlicher Art. Die halbwilden Steppenvölker zogen ſich in un- 
wirtliche Berggegenden zurück und nahmen in ihre Einſamkeit gleichſam als 
veſtaliſche Herdglut nichts als tiefen Haß gegen das Moskowitertum mit. Das 
zugeſtrömte Europäertum aber vertrat eine höhere Geſellſchaftsſtufe und Bildung 
als das Großruſſentum; in ausgewechſelter Form wiederholte ſich die Geſchichte 
des Chanats Kaſan, wo einſt die Wolgabulgaren eine Hochburg iſlamiſcher türkifch- 
tatariſcher Geſittung ſchufen, deren Gewerbe- und Kunſtblüte wie wiſſenſchaft⸗ 
lichen Leiſtungen die Moskowiter nichts Gleichwertiges entgegenzuſetzen hatten. 
Nach der erſten Umwälzung von 1905 begann zugleich mit der Stolipinſchen Agrar- 
reform die ſyſtematiſche Anſetzung von Bauern in Sibirien, um dort, wie der Mi- 
niſterpräſident ſich ausdrückte, eine „regierungstreue Landbevölkerung“ zu ſchaffen; 
die Menge der Umgeſiedelten erreichte die Höchſtziffer von 664000 im Jahre 1908, 
um dann ſchon 1910 auf die Hälfte zurückzuſinken, während die Zahl der Rüd- 
wanderer ſeit 1905 von 3600 Köpfen unaufhaltſam bis zum Zwölffachen dieſer 
Summe ſtieg. Schon dieſe Feſtſtellung iſt das lautredende Zeugnis der Tatſache, 
wie wenig der ruſſiſchen Regierung eine bodenſtändige Feſtwurzelung der Um- 
geſiedelten gelungen iſt. Das Endergebnis des mit fo großen Hoffnungen be- 
triebenen Kulturwerks war tatſächlich kein anderes, als daß in Weſtſibirien ein 
unter ärmlichen Verhältniſſen dahindämmerndes Arbeiterproletariat ſich zu- 
ſammenballte, daß in Mittelfibirien dank der überlieferten weitflächigen Raub- 
wirtſchaft des ruſſiſchen Bauern ſchon um die Jahrhundertwende kaum Siedelungs- 
land mehr frei war und das Schreckgeſpenſt des Landhungers um ging, während 
in Oſtſibirien nach dem mandſchuriſchen Krieg der japaniſche Koloniſt und vorab 
der chineſiſche Kuli als überlegener Wettbewerber ſich erwies. Man kann ſich hier- 
nach ohne weiteres denken, in welche Lage das großruſſiſche Kolonialland geriet, 


als ihm mit dem Kriegsbeginn alle waffenfähigen Männer entzogen wurden und 


dieſer „Generalſtreik der Arbeitsfähigen“ mit der Länge der europäiſchen Kämpfe 
immer weiter ſich ausdehnte. Ein zuverläſſiger Boden für die Entwicklung vater- 
ländiſcher Gefühle, ftaatliher Ordnung und Anhänglichkeit an das Mutterland 
fehlte, dafür war ein Ackerfeld beſtellt, auf dem der anarchiſtiſch gefärbte Sozialis⸗ 
mus ebenſo gut gedeihen mußte wie im engeren Umkreis der Petersburger Macht- 
haberſchaft. In Tomsk und Irkutsk bildeten ſich „nationale“ ſibiriſche Regierungen, 
die aber nichts anderes ſind als Bauern- und Soldatenklubs nach dem Vorbild 
der Petersburger Sowjets und mit dementſprechenden Leiſtungen: es wird viel 
geredet und in ſozialiſtiſchen Theorien regiert, aber in der Praxis lediglich der 
kümmerliche Reſt früherer Ordnung zerſtört und durch „fliegende Agrarkomitees“ 
das echte alteinſäſſige ſibiriſche Bauerntum, das niemals hörig war und ſich zum 
Teil eine verhältnismäßig große Wohlhabenheit bewahrt hat, von Haus und Hof 
getrieben. f | 

Sibirien iſt fünfundzwanzigmal größer als Deutſchland; feine Bevölkerung 
aber zählt nur 8,5 Millionen Köpfe, wovon die Hälfte in der Zeit ſeit 1905 einge- 
wandert iſt, während es mit den landwirtſchaftlichen und induſtriellen Kräften 


Mackay: Sibirien und das oftaflatifhe Problem ö 435 


und Schätzen feines Bodens, gering gewertet, das Dreifache der Menſchenmaſſe des 
Deutſchen Reichs ernähren könnte. Rußland ſteht vor dem endgültigen Fiasko 
jeiner Politik, die dieſes Rieſengebiet zu einem geſchloſſenen, ganz Alien beherrſchen- 
den Bollwerk ſeiner Machtherrlichkeit machen wollte; „ein großer Aufwand, 
ſchmählich, iſt vertan!“ Aber auch der Yankee dürfte die Erfahrung machen, daß, 
mag er mit noch ſo großer Betriebſamkeit feiner Kapitalgewalt als Bauunter- 
nehmer, Bergwerksſpekulant und Händler ſich vordrängen, ſich politiſch ſeinem 
Marſch dieſelben Widerjtände entgegenſetzen wie beim Zug über Panama nach 
Südamerika. Wie dort aus Eingeborenen, den Reſten ſpaniſcher Herrſchaft und 
dem Schwemmſand eines vielfältigen Einwandererſtroms eine neue lateiniſche 
Raffe ſich geformt hat, die der allamerikaniſchen Gleichmacherei mit unbeugſamem 
Selbſtbehauptungswillen des Blutes ſich entgegenſtemmt, ſo hat ſich in Sibirien 
aus gleichartigen Kräften und Säften das Wurzelgeflecht eines Volkstums ent- 
wickelt, das in ſeiner neuen Welt ein eigenes Daſein leben und ſein Schickſal ſelbſt 
beſtimmen will, fo wie einſt in den Sezeſſionskriegen das nordamerikaniſche Mutter- 
land ſich auf eigene Füße ſtellte. 

Heute aber richtet noch eine andere Nation begehrliche Blicke nach dem 
aſiatiſchen Amerika: Japan. Die Mittelmächte haben durch die Zertrümmerung 
des einſtmals weltgebietenden zariſchen Staatsweſens mittelbar für das Mikado- 
reich gearbeitet und ihm vorab durch die Bedingungen des Friedensſchluſſes, daß 
das geſamte ruſſiſche Heer abzurüſten habe, freie Hand für feinen Eroberungs- 
drang auf dem aſiatiſchen Feſtland geſchaffen. Zugleich iſt die oſteuropäiſche Kriſe 
ein neues beredtes Zeugnis für die Tatſache, wie die Entente oder vielmehr der 
Rumpfverband, der heute von dem Einkreiſungs-Vielverband noch übrig iſt, in 
der Unverſöhnlichkeit der inneren Gegenſätze einem Queckſilbertropfen gleicht, 
deſſen Beſtandteile durch zufällige Verſchiebung der Horizontale, auf der ſie ruhen, 
ſich zuſammengefunden haben, aber ebenſo ſchnell wieder auseinanderrinnen, 
wenn dieſe Lage neuerdings verändert wird. Im Dezember vergangenen Jahrs 
hatten Truppen der chineſiſch-mandſchuriſchen Gouverneure Charbin auf Er- 
ſuchen der dort anſäſſigen ruſſiſchen Kaufleute und mit Zuſtimmung Tokios zur 
Vertreibung der dort plündernden Bolſchewiken beſetzt: das war der erſte Auftakt 
der heutigen oſtaſiatiſchen Kriſe. In London und Paris griff man die ſcheinbar 
günſtige Gelegenheit zur Verwirklichung der Idee auf, mit Hilfe japaniſcher Divi- 
ſionen ein neues ruſſiſch-ſibiriſches Staatsweſen zu ſchaffen, das den Verpflich- 
tungen des Ententebündniſſes treu bleiben und die Petersburger maximaliſtiſchen 
Machthaber vom Rüden aus maͤttſetzen ſollte. In Tokio ſah man natürlich den 
Plan mit ganz anderen Augen an. So wenig Oeutſchland an einen Alexanderzug 
quer durch Sibirien nach der Mandſchurei hin denkt, um dieſes nach den Hirngeſpin- 
ſten von Lord Cecil zu „germaniſieren“, ſo weit entfernt iſt man in Tokio von der 
Torheit, auf den Wegen der ſibiriſchen Bahn bis zum Aral vorzudringen; man 
weiß ſehr wohl, daß keine der müſlimiſchen Völkerſchaften im Herzen Aſiens, am 
wenigſten jetzt, da ihr Selbſtbewußtſein ſtärker als jemals aufflammt, die heid- 
niſchen Mongolen als ihre Retter und Schutzherren begrüßen, daß alſo Japan 
durch die Herausforderung der nach Selbſtändigkeit ringenden ſibiriſchen Na- 


3 


436 N Maday: Sibirlen und das oftaflatifhe Problem 


tionalitäten lediglich in ein Weſpenneſt ſtechen und in unabſehbare Verwicklungen 
ohne Erfolgsausſichten ſich eindrängen, das heißt mit ſolchem napoleoniſchen Feld⸗ 
zug ſich lediglich um die Früchte des bisherigen maßvoll und ſyſtematiſch betriebenen 
Machtaufbaus auf dem aſiatiſchen Feſtland bringen würde. Wenn Japan ſeine 
mongoliſche Monroelehre der amerikaniſchen entgegenſtellte, ſo lag der tiefere 
Sinn des damit gegebenen politiſchen Kurſes im Zweck und Ziel, an Stelle des 
ſchwebenden, von Europa abhängigen Gleichgewichts, das die weſtlichen Mächte 
durch Einflußſphärenbildung in Oſtaſien zu ſchaffen ſuchten, ein eigenſtändiges 
aſiatiſches zu ſtellen, deſſen Anordnungskraft in Tokio ruhen ſollte. Wohl hat 
immer wieder bald die eine, bald die andere der Ententemächte zu ſpekulativen 
Zwecken die Freundſchaft der in den Vielverbandsring aufgenommenen oſtaſiati- 
ſchen Vormacht gefucht, die aber doch immer wieder erkennen mußte, wie unab- 
weisliche geographiſche, raſſenpolitiſche, kulturmoraliſche Geſetze, die Lage des 
Staatsweſens abſeits des europäiſchen weltpolitiſchen Zentrums und die Gegen- 
ſätze von Blut- und Geſittungsgrundlagen gleich zerſetzenden baſiſchen Säuren 
gegen jedes aufrichtige Einvernehmen wirkten: dieſe Tatſache tritt heute deut- 
licher denn je hervor. Kato, der einſtmalige Botſchafter in London und Privat- 
ſekretär Lord Greys, bekennt offen, daß „für Japan keine Urfachen zu Streitig⸗ 
keiten mit Deutſchland beſtänden“ und daß Tokio „nur wegen des Bündniſſes, 
das eine begrenzte Teilnahme vorſah, in den Krieg eintrat“. Alſo nicht nach Wilfon- 
ſchen Phraſen um des Kampfes für Völkerfreiheit, ſondern lediglich um völter- 
rechtlicher Verpflichtungen willen, deren Erfüllung tatſächlich mehr auf Koſten 
der Bundesfreunde als des Scheingegners geſchah, hat Japan ſein Schwert in 
die Schanze der Entente geſchlagen. Wenn ſo der Vater des britiſch-japaniſchen 
Bündniſſes ſpricht, ſo kann man ſich denken, wie von anderer weniger parteiiſcher 
Seite geurteilt wird. Der bekannte und beredte E. 3. Dillon wies, ſehr bezeichnend 
für dieſe Verhältniſſe, jüngſt in einer von der Zeitſchrift „L’Europe Nouvelle“ 
veröffentlichten Unterfuhung der oſtaſiatiſchen Frage auf eine Außerung des 
„Schin Nippon“ hin, der meinte: 

„Wer kann im geringſten bezweifeln, daß wir eines Tages der Gegenſtand 
des britiſchen Neides werden? Es iſt ſicher, daß Auſtralien, Neuſeeland und die 
anderen britiſchen Beſitzungen öſtlich von Indien ſtrategiſch durch den wachſenden 
Einfluß Japans bedroht werden. Die britiſchen Kolonien fühlen ſich heute unter 
dem Druck unſerer Militärmacht ſehr unbehaglich und die Beteiligung Amerikas 
am Krieg hat die Beziehungen der zwei angelſächſiſchen Völker noch inniger ge- 
ſtaltet. So wird unſere Allianz mit Großbritannien enden. Das neue ſozialiſtiſche 
Rußland wird den Frieden in Oſtaſien nicht mehr ſtören, und Großbritannien wird 
die Hilfe Japans nicht mehr brauchen. Nach dem Krieg wird es in Übereinftimmung 
mit den Vereinigten Staaten alle ſeine Kräfte auf den Kampf gegen die gelbe 
Gefahr hin ſammeln. .. Die Raſſenvorurteile find unüberwindbar. Japaner, 
Chineſen, Indier werden von den Angelſachſen immer als tiefſtehende Veſen 
empfunden werden. Dieſe drei Völker müſſen daher einen Bund ſchließen.“ 

Und Dillon ſelbſt führt dazu warnend aus: Durch die Politik der Vereinigten 
Staaten und der britiſchen Kolonien werde der Raſſengegenſatz auf das ſozial⸗ 


Madap: Sibirien unb das oſtaſiatiſche Problem | 437 


wirtſchaftliche Gebiet übertragen, um hier, indem die Japaner, Chineſen, Hindus von 
den Angelſachſen mit den niedrigſten Völkern auf eine Stufe geſtellt würden, ein 
Feuer leidenſchaftlicher Gegenſätze zu entzünden, deſſen politiſche Folgen „bis ans 
Ende der Dinge“ beharren würden. Dagegen ſtänden die Japaner in ihren ethiſchen, 
politiſchen und ſtaatlichen Anſchauungen den Deutſchen unendlich näher als den 
engliſch ſprechenden Nationen, daher es nur natürlich ſei, daß ſie immer wieder 
bewundernde Blicke auf dieſes Deutſchland würfen, das heute gegen die Welt 
ſiegreich kämpfe. Wie zutreffend dieſe Kritik iſt, zeigt ſich darin, daß, mit der Dauer 
der Kriegskriſe die Zwieſpältigkeit der öſtlichen Politik des Vielverbands immer 
größer wird. Die neue ſogenannte japaniſch-chineſiſche Militärkonvention richtet 
im Grunde ihre Spitze ſehr viel weniger, wie amtlich angekündigt wird, gegen 
Deutſchland als gegen England und die Vereinigten Staaten, die dadurch aus 
ihren Einflußgebieten im Reich der Mitte hinausgedrängt werden ſollen. Frank- 
reich will von dem Paktieren mit dem „verräteriſchen Rußland“ nichts wiſſen, 
weil es keinerlei Vorteile davon ſich zu verſprechen hat. Wilſon möchte den Weifun- 
gen Tafts folgen, der feierlich erklärte, „die Vereinigten Staaten müßten nach 
Rußland gehen, um die Oſtfront wiederherzuſtellen“, kann aber für die praktiſche 
Durchführung dieſes Plans zu keinerlei Einigung mit England kommen, das ſeine 
eigennützige Politik an der Murmanküſte und in Perſien verfolgt und ſehr wohl 
weiß, daß jedes Auftreten amerikaniſcher Macht auf aſiatiſchem Boden als Spreng- 
mittel gegen das Vertragen mit Japan wirkt. So bleibt die Nemeſis den Entente- 
Brandſtiftern wie in der Alten, ſo auch in der oſtaſiatiſchen Welt an den Gurten. 
Die Behauptung, daß ein zerſchlagenes Rußland die Auslieferung Aſiens an unſere 
Feinde bedeute und Deutfchland mit neuer Vereinſamung bedrohe, iſt ein Schlag- 
wort, deſſen Wahrheitsgehalt bei näherer Prüfung ſich als ſehr gering erweiſt 
und jedenfalls irgendwelche Wirklichkeitsbedeutung nur für denjenigen haben kann, 
der kleingläubig nicht der gewiſſen Zuverſicht iſt, daß die errungene Rückenfreiheit 
in Oſteuropa uns einen Sieg im Weſten und an der flandriſchen Küſte derart ver- 
bürgt, daß an der entſcheidenden Stelle Breſche in die Alleinherrſchaft Albions 
über die Meere gelegt wird. Wollte Japan bis tief ins Herz Inneraſiens vorrücken, 
jo würde damit wohl England berechtigter Schrecken in der Sorge um Indien in 
die Glieder fahren, könnten aber die Mittelmächte noch immer gelaſſen der Ent- 
wicklung der Dinge zuſehen. Denn je mehr die japaniſche Macht ſich in der Tiefe 
des aſiatiſchen Raumes verankerte, deſto ſchärfer müßte ſich der Gegenſatz zwiſchen 
ihr und den übrigen Verbandsmitgliedern zuſpitzen, deſto mehr wäre fie in Rückſicht 
auf dieſe wie auf die Verhältniſſe in China darauf angewieſen, in irgend einer 
Form einen Vergleich mit den Mittelmächten anzuſtreben, um nicht gerade in der 
Zeit ſchickſalsſchwerſter Entſcheidungen neuerdings der politiſchen Vereinſamung 
anheimzufallen, deren Gefahren abzuwenden die ſtete, ſchwerſte und wie ein roter 
Faden durch alle politiſchen Kriſen ſich ziehende Sorge Sotoſchiros ſeit der erſten 
Berührung mit den abendländiſchen Mächten geweſen iſt. Japan kann nicht ver- 
kennen, wie der Vierbund entgegen den Erwartungen der erſte Machtfaktor in 
Weſtaſien mit unausbleiblichen Rückſtoßwirkungen nach dem fernen Oſten hin zu 
werden auf dem Wege iſt: dieſe Tatſache wird Tokio zur weiteren Einſicht zwingen, 


| 438 Koppin: Sommerſeele 


daß die fo maßvollen Anſprüche Deutſchlands, mit dem gemeinſam es um die 
Befreiung der Welt vom britiſchen Druck kämpft, zur Machtbehauptung wohl- 
erworbenen Beſitzes in der Südſee als Stütze unſeres Handels und eines vernünfti- 
gen Gleichgewichts im Bereich der pazifiſchen Machtſphäre Japans wohl ver- 
ſtandenen Intereſſen nicht widerſprechen, ſondern förderlich ſind. Die große Linie 
der Politik Deutſchlands freilich deutet nach wie vor nicht nach Tokio, ſondern nach 
Peking. Jeder, der in Oſtaſien Lebenserfahrungen geſammelt hat, weiß, daß 
entgegen dem Schein der gegenwärtigen Verhältniſſe in Wirklichkeit nicht das Reich 
der zehntauſend Inſeln, ſondern China das oſtaſiatiſche Land der Zukunft iſt. 
Unter den vielen Anſatzſchwächen der Taktik Tokios ſteht an erſter Stelle die grund- 
legende Verkennung der Tatſache, daß große, in den Tiefen jahrtauſendlanger 
Geſchichte, in altüberliefertem geſellſchaftlichem und kulturſittlichem Gemeinbürg- 
ſchaftsgefühl verankerte Staaten vom Gepräge des Reichs der Mitte wohl Zeiten 
der Ohnmacht haben, ſich aber von ſolchen Schwächeanfällen immer wieder, ihre 
Gegner überraſchend und deren Leitſeil abſchüttelnd, vermöge der natürlichen, 
nicht zu entwurzelnden körperlichen, politiſchen und moraliſchen Innenkräfte 
erholen. Das als kranker Mann verſpottete osmaniſche Reich iſt ein lautredendes 
Zeugnis deſſen, und China wird aller Vorausſicht nach in gemeſſener Zeit und — 
hoffentlich! — in Stütze auf dieſelben Machthilfen, welche die Türkei emporge- 
hoben haben, ein neues Beiſpiel dieſer Wahrheit werden. 


s 


en 


Sommerſeele . Bon Richard O. Koppin 


Blau hat der Himmel Seiden ausgeſpannt 

And ſie mit Flimmer feſtlich überflutet, 

Das Kornfeld flammt, von rotem Mohn durchglutet, 
Und trunkne Träume taumeln durch das Land. 


Die Königskerzen leuchten ſtolz und hehr, 

Als trügen ſie das Land, darauf ſie ſtehen, 

Schon ſeit Jahrhunderten zu Erb' und Lehen — 
Und aus den Wieſen haucht es ſchwül und ſchwer. 


Weich harft der Wind ein mittagmüdes Lied, 
So märchenleis, oft traumhaft unterbrochen, 
Und manchmal nur gemahnt ein fernes Pochen, 
Wie Stund“ um Stunde aus dem Tag entflieht. 


Und ſonnenſelig ſchließt ſich jeder Blick, 
Und jede Seele ſchwillt zu reifer Fülle, 
Und jede Sehnſucht ſenkt die letzte Hülle 
Erwartungsvoll dem großen Sommerglüd. 


v 


Schmitt: Wie ich die Wunſchfee interviewte 439 


Wie ich die Wunſchfee interviewte 
Von Askan Schmitt 


ie hübſche Hilfsfee, die mir auf mein Klingeln öffnete, erklärte zwar 
2 beſtimmt, die Wunſchfee ſei für keinen Menſchen mehr zu ſprechen, 
= 7 M aber ſo leicht läßt ſich ein Journaliſt, der interviewen will, nicht ab- 

s weiſen. Ich ſagte etwas von einer außergewöhnlichen Veranlaſſung 
und bat, wenigſtens meine Karte hereinſchicken zu dürfen. 

Nein, war die Antwort, ſie dürfe leider auch keine Karten mehr annehmen. 

„Ganz recht,“ antwortete ich, „ich kann mir ja denken, wie Ihre Herrin 
unliebſam überlaufen wird. Aber ich bemerke, daß ich nicht als Privatbeſuch, 
ſondern als Vertreter der Preſſe komme. Wollen Sie das wenigſtens beſtellen?“ 

„Tut mir herzlich leid, aber ich muß ausnahmslos jeden Beſuch abweiſen, 
und wenn es Prinzen regierender Häuſer wären.“ 

„Alle Hochachtung vor Prinzen regierender Häuſer, aber immerhin: ſie ſind 
doch nur Einzelmenſchen. Aber Vertreter der Preſſe, das iſt wohl etwas anderes. 
Alſo bitte, liebes Kind, melden Sie mich ruhig an; ich übernehme die Verant- 
wortung.“ 

Angemeldet wurde ich zwar immer noch nicht, hatte aber durch meine 
Hartnäckigkeit zunächſt erreicht, die Wunſchfee wenigſtens zu ſehen zu bekommen. 
Mit erzürnter Miene trat ſie aus dem Hintergrund und ſagte: „Sie ſcheinen ja 
noch aufdringlicher zu ſein als die anderen. So hören Sie denn von mir ſelbſt, 
daß ich grundſätzlich keine Wünſche mehr erfülle, grundſätzlich nicht, mein Herr.“ 

„Aber gnädige Frau,“ antwortete ich, „ich kam doch gar nicht, um einen 
Wunſch auszuſprechen.“ 

Die Wunſchfee ſah mich verwundert an und ſchien zu denken: So etwas 
iſt mir doch noch nicht vorgekommen. Ihre Neugierde war offenbar erregt. „Wenn 
ich Sie nun wirklich vorlie ße,“ ſagte ſie, „könnte ich mich wenigſtens feſt darauf 
verlaſſen, daß Sie es niemandem erzählten?“ 

„Aha,“ dachte ich, „ganz wie der Fleiſcher Stöweſand, als er mir neulich 
gegen ſehr gutes Geld und ſehr gute Worte ein Pfund Speck markenfrei abließ“, 
und verſicherte ihr meine vollkommenſte Diskretion. Mit einer anmutigen Geſte 
lud fie mich darauf zum Nähertreten ein, zum offenbaren Erſtaunen der Hilfs- 
fee über die Tatſache, daß es Sterbliche gab, denen mehr gewährt wurde als 
Prinzen regierender Häuſer. 

„Alſo Sie wünſchen?“ fragte die Wunſchfee, nachdem ich ihr gegenüber 
in einem freundlich ausgeſtatteten Zimmer Platz genommen hatte. 

„Vorſicht! — eine Falle!“ dachte ich. „Denn wenn ich jetzt ehrlich ſagte, 
ich wünſchte etwas über das Wünſchen der Menſchen zu erfahren, dann hätte ich 
ja entgegen meiner in der Tür gegebenen Verſicherung doch einen Wunſch ge- 
äußert und wäre als Lügner entlarvt.“ 

Es blieb mir alſo nichts übrig, als der Höflichkeit Zwang anzutun, indem ich 
einer Dame auf eine Frage überhaupt nicht antwortete, ſondern das Geſpräch 


449 Schmitt: Wie ich die Wunfchfee interviewte 


auf andere Bahnen zu lenken ſuchte. „Gnädige Frau find aber entzückend ein- 
gerichtet“, ſagte ich, mich umblickend. 

„Was Sie da ſehen,“ antwortete fie, „ſind meiſtens kleine Stiftungen dant- 
barer Menſchen, die es ja auch noch gibt, wenn ſie auch in der ung der Un- 
dankbaren verſchwinden.“ 

„Der Undank der Menſchen war ſicher der Grund, der gnädige Frau zur 
Einſtellung Ihrer Tätigkeit brachte?“ 

„Ihr Undank nicht nur, ſondern wohl noch mehr mein Arger ger ihre 
Torheit. Sie glauben gar nicht, wie töricht die Menſchen ſind.“ 

„0 doch“, antwortete ich. 

„Aber wie töricht ſie insbeſondere beim Wünſchen ſind, davon tönnte ich 
Ihnen eine ganze Reihe von Beiſpielen erzählen — wenn es Sie intereſſieren ſollte.“ 

ich erklärte, daß mir nichts angenehmer fein würde, innerlich frohlockend, 
wie ſchnell ſich mein Wunſch, noch ehe er ausgeſprochen war, erfüllen ſollte. 

„Da find zunächſt“, fagte die Wunſchfee, „die Leichtſinnigen, die unüber- 
legt darauf los wünſchen. Wie jenes Ehepaar, bei dem die Frau zuerſt eine Wurſt 
auf den Tiſch wünſchte, der Mann dieſe Wurſt darauf aus Wut über den ſo ſchnell 
verlorenen erſten Wunſch der Frau an die Naſe wünſchte und nun den dritten 
Wunſch opfern mußte, um ſeine Frau von dieſer Naſenverunſtaltung wieder zu 
befreien.“ 

„Ja, das Märchen habe ich ſchon als Kind gehört“, fagte ich. „Das an- 
gebliche Märchen“, fügte ich ſchnell hinzu, denn es ſchien die Wunſchfee nicht 
angenehm zu berühren, daß ich ihren Bericht als Märchen bezeichnet hatte. 

„Dieſe Wurſtgeſchichte“, fuhr fie fort, „war nur ein Beiſpiel für viele, wie 
die Menſchen erſt lebhaft gewünſchte Dinge wieder fortwünſchen. Ein andermal 
handelte ſich's um ein Haus, wieder ein andermal um eine Frau. Zch ſag's ja: 
zu töricht ſind die Menſchen. Daß ſie gewöhnlich nicht richtig handeln können, iſt 
ja allgemein bekannt, aber ich erfuhr außerdem fortwährend, wie ſie noch nicht 
einmal richtig zu wünſchen verſtehen. Da gibt es neben den Übereilten auch ſolche, 
die aus allzu großer Bedenklichkeit verkehrt wünſchen. Dann wieder andere, die 
ſich ſelber gar nicht klar ſind über das, was ſie haben wollen, nachher eigentlich 
etwas ganz anderes gemeint haben wollen, als ſie geſagt hatten, und mir wegen 
angeblicher Nichterfüllung zugeſagter Gelöbniſſe mit Prozeſſen drohten.“ 

„Das iſt allerdings ein Gipfel der Unverſchämtheit“, warf ich ein. 

„Ja, ich erlebte maßches. Noch ein Beiſpiel. Ein junger Mann hatte ſich 
eine ſchöne, junge, reiche und liebenswürdige Frau gewünſcht und ſie auch be⸗ 
kommen. Gar nicht ſo ſehr lange danach ſuchte er mich auf und erklärte mir mit 
impertinenter Miene, das wäre ja ein nettes Frauenzimmer, das ich ihm ge 
liefert hätte: feine Frau wäre ihm ſchon untreu geworden. ch erinnerte ihn daran, 
daß er ſich zwar eine ſchöne, junge, reiche und liebenswürdige Frau gewünſcht, 
aber von Treue kein Wort geſagt hätte. Die Treue verſtände ſich doch von felber, 
antwortete er darauf. „Wie Sie geſehen haben,“ entgegnete ich ihm, ‚ift das doch 
nicht der Fall.“ Darauf wurde er wieder ungezogen und rief mir zu, ich ſchiene 
ja reizende Grundſätze zu haben. Ich verſichere Ihnen, mein Herr, daß ich per⸗ 


Schmitt: Wie ich die Wunſchfee interviewte | 441 


jönlich die Treue hochhalte und meinem Mann ſtets treu bleiben würde, wenn ich 
verheiratet wäre. Aber was hat denn die einfache Feſtſtellung einer bedauerlichen 
Tatſache mit meinen Grundſätzen zu tun?“ 

„Ich begreife jetzt, gnädige Frau, wie Ihre Erfahrungen Sie allmählich 
zur Peſſimiſtin machen mußten“, ſagte ich hierauf. 

Aber die Wunſchfee ſchien ſich doch nicht ohne weiteres auf eine peſſimiſtiſche 
Weltanſchauung feſtnageln laſſen zu wollen, ſondern fuhr fort: „Ich will nicht un- 
gerecht ſein, hier und da erlebte ich auch Schönes. Ich erinnere mich da eines 
reizenden ſiebenjährigen Mädchens, das ich im Garten ſpielend traf. Ich kam 
ins Geſpräch mit ihm und ſagte, ich wäre die Wunſchfee. Ein Erwachſener würde 
vermutlich geantwortet haben, das könnte jeder ſagen und müßte erſt durch die Tat 
bewieſen werden, ehe es geglaubt werden könnte. Aber das Kind glaubte mir 
ohne weiteres auf mein ehrliches Geſicht. Ich ſtellte ihm drei Wünſche frei. Es 
wünfchte ſich eine Puppe mit Rlappaugen, eine Tüte Pralinés und einen Laub- 
froſch und ſtrahlte vor Glück, als es die Erfüllung ſeiner beſcheidenen Wünſche 
vor ſich ſah. Das war einmal eine reine Freude. Leider war ſie nicht von langer 
Dauer. Denn als ich das Kind nach kurzer Zeit wieder ſah, ſtrahlte es nicht mehr, 
ſondern ſchien recht bedrückt.“ N 

„Das kleine Mädchen hatte alſo auch ſeine Wünſche inzwiſchen bereut“, 
ſagte ich. N | 
„Sind Sie verheiratet?“ fragte die Wunſchfee. 

„Bis jetzt noch nicht.“ | | 

„Ich dachte es mir, wegen Ihres mangelnden Verſtändniſſes des kindlichen 
Seelenlebens. Bereut hatte mein kleines Mädchen gar nichts. Im Gegenteil: 
es hatte überall triumphierend ſein Glück verkündet. Aber törichte Menſchen hatten 
ihm darauf den Erfolg ſeiner Begegnung mit mir verekelt. Zunächſt die lieben 
Eltern. Die hatten es heftig ausgeſcholten, daß es ſie nicht erſt um Rat gefragt, 
denn dann würden ſie ihm klargemacht haben, wie viele wichtigere und höhere 
Dinge es im menſchlichen Leben gibt als Puppen, Naſchwerk und Fröſche. Dann 
die älteren Geſchwiſter. Die hatten es ausgelacht, weil es ſich nicht viel Geld ge- 
wünſcht hatte, dafür hätte es ſich doch einfach alles kaufen können, was es haben 
wollte. Ich tröſtete das Kind, ſo gut es ging, und ermahnte es ernſtlich, von ſeiner 
Erfahrung zu lernen und künftig in ſeinem Leben über erfüllte Herzenswünſche 
möglichſt zu ſchweigen. — Wenn doch die Menſchen ſich immer nur um ihre eige- 
nen Angelegenheiten kümmern wollten, anſtatt die anderer zu kritiſieren! — Eine 
ähnliche Torheit iſt es auch, wenn man jemandem Wünſche freiſtellt und er dann 
ſolche nicht für ſich, ſondern für andere ausſpricht.“ 

„Das kommt auch vor?“ fragte ich erſtaunt. 

„Ofter, als Sie denken“, antwortete die Wunſchfee. „Was glauben Sie wohl, 
was in der letzten Zeit allein den Engländern an Prügeln gewünſcht wurde. Es 
war wirklich eine ganze Menge, mein Herr.“ 

„Das dürfen Sie den Deutfchen nicht fo übelnehmen, gnädige Frau.“ 

„Den Patriotismus der Oeutſchen in allen Ehren. Geſtatten Sie aber der Ob- 
jektivität halber die Bemerkung, daß es auch Oeutſche gibt, die Prügel verdienen.“ 


442 Schmitt: Wie ich die Wunſchfee intervlewte 


„Mir aus der Seele geſprochen, gnädige Frau. Gewiſſe — — —“ 

„Ach bitte nichts von Politik!“ unterbrach mich die Wunſchfee. „Übrigens, 
Politik — Da kann ich Ihnen gleich wieder ein ärgerliches Beiſpiel aus meiner 
Praxis erzählen. War da ein Mann aus guter Familie, begütert, gebildet, glüd- 
lich verheiratet, hatte eigentlich alles, was ein Menſch ſich nur wünſchen kann, 


auch viel freie Zeit, das war vielleicht fein Unglück. Alſo kurz und gut: der Mann 


wünſchte ſich ein Reichstagsmandat. Was habe ich ihm abgeraten! Aber nein! 
Ich hätte ihm nun doch einmal verſprochen, feinen Lieblingswunſch zu erfüllen, 
und müßte nun mein Verſprechen auch halten. Was blieb mir übrig? Er kriegte 
alſo ſein Mandat — —“ 

„Nun, und?“ 

„Seitdem grüßt mich der Menſch nicht mehr.“ 

„Je länger ich Ihnen zuhöre, gnädige Frau,“ nahm ich wieder das Wort, 
„deſto erklärlicher wird es mir, daß Sie zur Einſtellung Ihres ſchönen bisherigen 
Berufs kamen, ſo ſchmerzlich es auch für die Menſchheit ſein mag.“ 

„Nicht nur für die Menſchheit“, antwortete die Wunſchfee. „Sch leide ſelber 
darunter. Denn eigentlich“ — und ein äußerſt anmutiges Lächeln verklärte ihre 
Züge —, „eigentlich erfülle ich ſehr gerne Wünſche.“ 

„Aber wenn dem ſo iſt,“ ſagte ich, „ſollten ſich gnädige Frau doch nicht ſelbſt 
ſtrafen und ſich wenigſtens die Spenderfreude nicht ſolchen gegenüber verſagen, 
die einen weiſen Gebrauch von Ihrer Güte machen würden.“ 

„Und zu denen rechnen Sie ſich natürlich ſelber?“ fragte die Wunſchfee, 
halb ironiſch und halb ermutigend lächelnd. 

ich ignorierte das Froniſche und antwortete: „Gnädige Frau könnten ja 
einmal einen Verſuch machen.“ 

Sie ſah mich an und ſagte: „Na alſo — natürlich nur der Wiſſenſchaft halber 
und ohne jede Verpflichtung für mich —: was würden Sie denn wünſchen, wenn 
Sie jetzt drei Wünſche frei hätten?“ 

„Ehe wir fortfahren, gnädige Frau, muß ich Ihnen ein Geſtändnis machen.“ 

„Ein Geſtändnis?“ 

„Ich habe Ihnen bereits die Erfüllung eines Wunſches abgeliſtet. Sch hatte 
den Wunſch, etwas über das Wünſchen der Menſchen zu erfahren, und der wurde 
mir ja jetzt in ſo liebenswürdiger Weiſe von Ihnen erfüllt.“ 

„And was würden Sie zum zweiten wünſchen?“ 

„Der zweite Wunſch wäre die Entbindung von einem Verſprechen. Ich 
hatte gnädiger Frau verſprechen müſſen, von der Tatſache der heutigen Audienz 
niemandem Kenntnis zu geben. Da ich es aber ſtets für gut halte, die Menſchen 
zur Einſicht ihrer Torheit zu bringen, möchte ich ergebenſt darum bitten, von dem 
heute von Zhnen Gehörten Gebrauch machen zu dürfen.“ 

Sie wurde nachdenklich und ſagte: „Hierauf einzugehn ſcheint mir nicht 
wünſchenswert, denn ich würde bald wieder von neuem überlaufen werden, 
wenn es herumkäme, daß ich Sie empfangen.“ 

„Aber dem könnte ja gerade ein Riegel vorgeſchoben werden, indem ich 
in meinem Bericht gnädige Frau erklären ließe, Sie hätten mir als einem Ver⸗ 


Leffler: Einem Toten 445 


treter der Preſſe dieſe ausnahmsweiſe Unterredung nur bewilligt, um die breitefte 
Öffentlichkeit wiſſen zu laſſen, daß Sie Ihre Tätigkeit gänzlich und unwiderruf- 
lich eingeſtellt haben.“ 

„Ja, das iſt aber auch wahr“, antwortete fie. „Alſo ich bin einverſtanden 
mit Ihrer Abſicht, fie liegt ja ganz in meinem Intereſſe. Und nun der dritte 
Wunſch! — Sie brauchen wohl etwas Zeit zur Überlegung?“ fuhr ſie fort, als 
ich nicht ſogleich antwortete. 

„Das eigentlich nicht. Nur — verzeihen Sie — ein kleines Bedenken, einen 
Appell an Ihr Billigkeitsgefühl. Sie erklärten mir, die Bekanntgabe meines 
heutigen Interviews läge in Ihrem Intereſſe. Wäre es da ganz gerecht, mit 
der Erfüllung dieſes Wunſches mein Wunſchkonto zu belaſten?“ 

„Sie ſind ein unglaublicher Menſch. Alſo meinetwegen. Der Wunſch ſoll nicht 
zählen. Tun Sie alſo jetzt den zweiten. Zetzt bin ich aber wirklich neugierig.“ 

Sie ſah bezaubernd aus in dieſem Augenblick. Ich wollte ſchon etwas ſehr 
Kühnes wünſchen, entſchloß mich aber doch vorläufig zur Beſcheidenheit und ſagte 
nur: „Daß ich einmal wiederkommen darf!“ 

„Gut. Sie ſollen Ihrem zweiten Wunſch entſprechend noch einmal wieder- 
kommen dürfen. Und nun den dritten. Aber — die Zeit iſt ſchon etwas vorgerückt — 
bitte keine allzulange Überlegung. Es kommt dadurch auch gar nicht immer das 
Beſte heraus.“ 

„Den dritten Wunſch, gnädige Frau, werde ich mir erlauben Ihnen bei 
dem mir gütigſt bewilligten neuen Beſuch zu Füßen zu legen.“ 

Damit erhob ich mich. „Auf Wiederſehen!“ ſagte die Wunſchfee. Ich küßte 
eine feine Frauenhand. Die Audienz war beendet. 

ich habe dann unmittelbar unter dem friſchen Eindruck des Gehörten den 
Bericht niedergeſchrieben, den der geneigte Leſer im vorſtehenden vor ſich hat. 
Hinzuzufügen erlaube ich mir noch, daß ich den neuen Beſuch bald machte, den 
mir noch freiſtehenden dritten Wunſch äußerte und die gütigſte Gewährung fand. 
Von einem näheren Eingehn auf dieſe Unterredung und ihre Folgen für mich 
glaube ich jedoch abſehen zu dürfen, da an das Privatleben auch eines Zourna- 
liſten die Offentlichkeit keinen Anſpruch hat. 


Einem Toten Von Eliſabeth Leffler 


Was du mir einſt geſagt, iſt längſt verrauſcht. 

Sch habe viel werbenden Worten gelauſcht 
Seither. 

Doch keines hat ſo heiß, ſo ſchwer 

Und ſo zwingend und dringend um mich geworben 
Wie der flehende Blick, mit dem du geſtorben. — 


ar 


444 Gr.: Nervenzufanmenbrühe als Grundlagen deutſcher Politik 


Nerbenzuſammenbrüche als Grund⸗ 
lagen deutſcher Politik 
| Von F. E. Frhrn. v. Gr. 


eeelle Schlaglichter in die Hohlräume unſerer Politik bis zum Auszuge 
(_ IN \ > Kühlmanns wirft ein Aufſatz von Georg Cleinow in den „Grenzboten“ 

X )} 7 (19. Juli 1918). Um die darin geoffenbarten Schönheiten bis auf 
— den Grund auszukoſten, muß man ihn mit dem aufmerkenden Ver- 
ſtändnis des Kenners und nur langſam und beſinnlich ſchlürfen. Cleinow führt aus, 
wie das Mißgeſchick unſerer Diplomatie vor dem Kriege fie doch nicht habe ver- 
hindern können, auch nach dem Abbruch der diplomatiſchen Beziehungen einen 
ſtarken Einfluß auf die Führung der Geſamtpolitik auszuüben; wie die Ara Falken“ 
hayn in der Oberſten Heeresleitung (1915) ihr eine den Kriegsverhältniſſen nicht 
ganz angepaßte Ausbreitungsmöglichkeit gegeben habe; und wie dieſer erſt ein 
Ziel geſetzt werden konnte nach neuen unzweifelhaften Mißerfolgen bei um ſo 
einſchneidenderen militäriſchen Erfolgen: 

„Dieſe Entwicklung, die durch die Verhältniſſe des Koalitionskrieges ſowie 
durch die jahrelange Erziehung der Diplomaten zu einer taſtenden Methode 
in der Politik eine naturgemäße Förderung erhielt, hatte nun im Gefolge, daß 
das tatſächlich vorhandene gewaltige politiſche Kriegsziel, die Zertrümmerung 
des feindlichen Ringes unter ihren Händen zu zerflattern drohte und ſich 
an ſeine Stelle der Wunſch zu ſchieben begann, den Krieg ſo ſchnell wie möglich 
zu beendigen. Unjere Maßnahmen in Polen und die einleitenden Sitzungen der 
Friedensverhandlungen zu Breſt ſtanden unter dem Zeichen ſolcher Inkonſequenz. 
Die diplomatiſche Auswertung der Siege im Oſten iſt durch die Friedensſchlüſſe 
und die Schaffung neuer Staaten zwar eingeleitet, aber weder in Polen, noch 
in Finnland, Rumänien, in der Ukraina und Moskau ſichergeſtellt: keiner der ge- 


nannten Staaten iſt fo feſt in unferer Hand oder ſo eng mit unſerem Wohlergehen 


verbunden, daß er genötigt wäre mit uns zu ſtimmen, wenn etwa morgen all- 
gemeine Friedensverhandlungen beginnen ſollten. Schon 1916 wurden wichtige 
Fauſtpfänder, die wir von Rußland in Polen erobert hatten, durch die berühmte 
Novemberakte preisgegeben. Alles, was wir ſeitdem erreichten, ruht noch 
auf der Spitze unſerer Bajonette. 

Die ſcheinbare Fruchtloſigkeit der militäriſchen Erfolge in politiſcher Be- 
ziehung führte im Sommer 1917, der überdies durch die Ernährungsfchwierig- 
keiten ſtark belaſtet war, jenen Nervenzuſammenbruch in Berlin herauf, 
der in der Reſolution der Reichstagsmehrheit vom 19. Zuli feinen un- 
erfreulichen, die Kraft der Feinde belebenden Ausdruck fand. Hatte die Ver- 
abſchiedung des Herrn von Bethmann Hollweg auch ſchon die Luft wohltuend 
erfriſcht, ſo fand der Zerſetzungsprozeß an der inneren Front doch erſt ein Ende 
durch den Rücktritt der Regierung Dr. Michaelis und die Übernahme des Reichs- 


Gr.: Nervenzufammenbrüche als Grundlagen deutſcher Politit 445 


kanzlergeſchäfts durch den alten Zentrumsführer und gewiegten Parlamentarier, 
den Grafen Hertling. 

In jener Übergangszeit von Bethmann zu Graf Hertling hat der damalige 
Leiter des Auswärtigen Amtes, der Staatsſekretär Pr. von Kühlmann, eine 
nicht zu unterſchätzende Vermittlerrolle zwiſchen der Regierung, der Oberſten 
Heeresleitung und den Parteien des Reichstages geſpielt; er hat ſich dabei um ſo 
mehr das Vertrauen der Linken erwerben können, als er ſich nicht ſcheute dahin 
zu wirken, daß das ganze innerpolitiſche Programm Bethmann Holl- 
wegs von der Regierung Hertling übernommen wurde. Ohne Frage hat 
dieſe Taktik, wenn ſie lediglich unter dem einen Geſichtspunkt der vorläufigen 
Befriedigung der Linken und der vorübergehenden Stärkung der inneren 
Front betrachtet wird, gewiſſe Erfolge gezeitigt. Die Übernahme der Reichskanzler 
geſchäfte durch den Grafen Hertling bedeutete für den damaligen Augenblick eine 
ſtarke innerpolitifche Entlaſtung, und feine ruhige, vornehme, Vertrauen heiſchende 
Geſchäftsführung hat ſich wiederholt bewährt. Die Feſtigung der inneren Front 
ging um ſo leichter von ſtatten, als bald auch die großen militäriſchen Siege in 
Italien die Stimmung allenthalben neu belebten und während des Winters 
Ernährungsſchwierigkeiten, wenigſtens in Oeutſchland, nicht eintraten. 

Herr Graf Hertling legte ſich damals, am 29. November, der Reichstags- 
mehrheit gegenüber auf jenes Programm feſt, als deſſen Träger in den Augen 
der Linken Herr von Kühlmann galt. Das war der Angelpunkt zu Kühl- 
manns Stellung im Reichstag. Darum war es auch kaum zu vermeiden, 
daß die Stimmung wieder abzuflauen begann, als die Friedensverhandlungen 
in Breſt-Litowſk jene gewaltſame Korrektur erfuhr, die ſich äußerlich an den 
Namen des Generals Hoffmann knüpfte; auch die großen militäriſchen Erfolge 
des abgelaufenen Frühjahrs vermochten ſie nicht oder doch nur ſehr vorübergehend 
zu beleben. Die Unerfreulichkeiten des Monats Zuni, die ſehr grelle Schlaglichter 
auf die Verhältniſſe bei unſerem Bundesgenoſſen an der Donau warfen, ſchienen 
ſie völlig umzuwerfen. Die nationalen Parteien waren empört durch die Art, 
wie die Verhandlungen geführt wurden, die Linke dagegen beleidigt, daß wir 
in Breſt-Litowſk nicht ohne weiteres alle von Rußland gewonnenen 
Fauſtpfänder herausgaben und die von uns beſetzten Gebiete räumten; 
ſie rief nach der Verpflichtung vom 29. November und verwies die Regierung auf die 
Entſchließung vom 19. Juli, ‚eine Annexionen, keine Kontributionen!“ Die Furcht 
tauchte wieder auf und wurde von der Linken von den Männern, die dem Staats- 
ſekretär als befreundet galten, gefliſſentlich weitergetragen, daß die Breſter 
Methoden niemals zum Frieden führen würden. Herr von Kühlmann verlor, 
als man auf der Linken zu bemerken glaubte, daß er in Breſt-Litowſk eine Politik 
gegen feine Überzeugung führte, an Vertrauen. Dann kam der Friede von Bu- 
kareſt. Er iſt wohl der Geſamtheit des deutſchen Volkes unverſtändlich geblieben: 
keine nennenswerte Kriegsentſchädigung als Strafe für den gemeinen Verrat 
Rumäniens, keine Beſeitigung des willensſchwachen Königs! Herr von Kühl- 
mann aber trat als Träger einer beſtimmten Richtung immer mehr in den Vorder- 
grund. Natürlich umgeben von einer eigenartig nebligen Atmoſphäre, die die Luft 


446 Gr.: Nervenzuſammenbrüͤche als Grund lagen deutſcher Politit 


des Diplomaten iſt; fie läßt den Kämpfer ſelten in ſcharf umriſſenen Linien er- 
ſcheinen, wo ſein Hauptverteidigungsmittel die Verſchleierung iſt. Kühlmann 
erſchien auch ſeinen Freunden nicht als der heroiſche Vorkämpfer für den 
Vorteil ſeines Landes, als den ſie ihn ſich gewünſcht haben, ſondern als ein 
verſchmitzter und durchaus vorurteilsloſer Diplomat, der alle Verhältniſſe nur kalt 
blütig benutzte, um ein eigenes, zunächſt nicht klar erkennbares Programm ſchließ⸗ 
lich durchzuſetzen, wenn es ſo weit ſein würde. Die Angriffe der alldeutſchen Preſſe 
ließen das perſönliche Element in Kühlmanns Politik noch ſchärfer hervortreten. 
Es war bald nicht mehr von der Politik des Reichskanzlers, ſondern von der Kühl- 
manns die Rede, Graf Hertling ſchien für die auswärtige Politik abgedankt zu 
haben, wenn er auch wiederholt Gelegenheit nahm zu betonen, daß er allein 
verantwortlich für die Politik des Reiches ſei. Und dann geſchah das, was der 
Diplomat unter allen Umſtänden vermeiden muß, ſolange er ſeinen Zweck nicht 
erreicht hat: Herr von Kühlmann nahm feine Zuflucht zu einer Demon- 
ſtration. In der Morgenausgabe der ‚Norddeutſchen Allg. Ztg.“ vom 24. Zuni 
finden wir die Mitteilung von einem parlamentariſchen Abend beim Staats- 
ſekretär des Auswärtigen Amtes, in der abgeſehen von hohen Beamten und Parla- 
mentariern der Linken nur die Profeſſoren Meinecke, Troeltſch, Alfred 
Weber, Hans Delbrück und Herckner, das find ſozuſagen die wiſſenſchaft— 
lichen Träger des Peſſimismus in Berlin, aufgeführt ſind. Die Tagespreſſe 
hatte wohl keine Zeit mehr, dieſe Kundgebung zu unterſtreichen; an anderer Stelle 
iſt fie nicht unbeachtet geblieben. Am 24. Zuni deckte dann Herr von Kühlmann 
ſeine Karten vollends auf, wie ſich nachträglich herausſtellte, ohne ſich darüber auch 
nur mit einer dafür amtlich in Frage kommenden Stelle ins Einvernehmen geſetzt 
zu haben. Die Fühlungnahme mit einem ſüddeutſchen Bundesfürſten, der die 
Oberſte Heeresleitung unterrichtet haben mochte, genügte jedenfalls nicht. Der 
Herr Reichskanzler wurde vollkommen überraſcht, der „Vorwärts“ Ai jenen 
empörenden Flaumacher-Artikel. 

Herr von Kühlmann iſt alſo nicht eigentlich das Opfer irgendwelcher Intrigen 
und Gegenſätze zu, anderen Faktoren“, jagen wir offen heraus zur Oberſten Heeres- 
leitung, ſondern ſeiner eigenen Fehler. Ob nun Ungeduld oder Erbitterung über 
die Machtloſigkeit der Diplomatie oder andere Gründe Herrn von Kühlmann 
beſtimmt haben, möge dahingeſtellt bleiben... Worüber der Staatsſekretär fiel, 
iſt fein offenbarer Verſuch, den Willen der Zufallsmehrheit vom 19. Juli 
1917 zum allein gültigen zu machen und mit dieſer gegen die wirkliche 
Strömung im Lande, von der Graf Hertling ſich vorſichtig tragen läßt, zu 
regieren. 

Damit ſoll nicht geſagt ſein, daß Herr von Kühlmann zurücktreten mußte. 
Sein Verbleiben oder Rücktritt war eine Nervenfrage, die er ſelbſt gegen ſich 
entſchieden hat, vielleicht infolge der Erkenntnis, daß er die Kräfte, auf die er ſich 
ſtützen wollte, überſchãtzte. Jedenfalls erweckt fein Rücktritt den Eindruck, als habe er 
einen kühnen Handſtreich führen wollen und in feinem eigenen Zntereſſe läge es, 
wenn dieſer Eindruck durch gewiſſe Ausſtreuungen aus dem Kreiſe feiner Umgebung 
nicht noch verſtärkt würde! War ihm um die Sache, für die er zu kämpfen ſchien, 


Gr.: Newenzujammendrüde als Grundlagen deutſcher Politik 447 


jo viel zu tun, wie man nach feinem Auftreten glauben ſollte, fo mußte er ver- 
ſuchen, ſich unter allen Umſtänden im Amt zu halten, wenn er ſich feine Stellung 
auch ſchon außerordentlich erſchwert hatte. Nun Herr von Kühlmann auf ſeinem 
ſofortigen Rücktritt beſtanden hat, erſcheint es mir von perſönlichen wie von po- 
litiſchen Geſichtspunkten aus unpraktiſch, fein Verhältnis zur Oberſten Heeres- 
leitung als Haupturſache in den Vordergrund zu rücken, während doch der wirk- 
liche Grund in Kühlmanns Nervenzuſammenbruch unter dem Einfluß 
der in der Großſtadtluft verkümmerten Stimmung der Kreiſe, mit 
denen er ſich umgab, zu finden iſt. Man könnte glauben, daß Herr von Kühl- 
mann, wie er die letzten Wochen ſich einem ungehemmten Peſſimismus hingab, 
nun auch bezüglich feiner eigenen politiſchen Zukunft zuſammen mit dem ‚Berliner 
Tageblatt“ und der „Frankfurter Zeitung“ à la baisse ſpekuliere.“ 

Aus den Erklärungen des Grafen Hertling im Hauptausſchuſſe des Reichs- 
tages wurde deutlich, daß Herr von Kühlmann in dieſem Augenblicke nicht 
gehen durfte, daß er vielmehr den Zeitpunkt ſeines Rücktritts dem Ermeſſen 
des Reichskanzlers überlaſſen mußte. „Eine der wichtigſten Künſte, die der 
Diplomat beherrſchen muß, iſt die, fein Tun zu verfchleiern, um für jede Bewe- 
gung, die aus der Richtung der Politik herausſchlagen könnte, gedeckt zu ſein. 
Darin hätte der geſchiedene Staatsſekretär ſeinen Regierungschef unterſtützen 
müſſen. Herr von Kühlmann hat den Reichskanzler im Gegenteil ge— 
zwungen, ſich noch einmal vor aller Welt auf jenes Programm feftzu- 
legen, das, durch die militäriſchen Erfolge und die Notwendigkeiten 
längſt überholt, Freund und Feind verlocken wird, die Friedensſchlüſſe 
im Oſten als Proviſorien zu betrachten, die jederzeit umgeſtoßen 
werden können. Die wiederholte Erklärung des Grafen Hertling über Belgien 
hat ſolcher Auffaſſung beſonders kräftige Nahrung gegeben. So vorſichtig 
ſie abgefaßt iſt, ſo klar in ihrer hypothetiſchen Form, ſie iſt dennoch geeignet, auf 
die Stimmung in Belgien ungünſtig zu wirken und beſonders unter der vlamiſchen 
Bevölkerung ein Stutzen hervorzurufen, während die Feinde jenſeits der Schützen- 
graben in ihr eine Beſtätigung des Eindruckes von der wankenden inneren 
Front, den Kühlmanns Reden am 24. und 25. Juni hervorriefen, 
finden werden.“ 

Ein ſchärferes Urteil, als es ſich aus dieſen, überaus ſchonenden Darlegungen 
ſelbſt herausſchält, kann über die „politiſche“ „Führer“ rolle der Reichstagsmehrheit 
und ihres Geſchäftsführers und Vollziehungsbeamten kaum noch gefällt werden. 
Klare ſachliche Richtlinien, Geſichtspunkte, die über den Kirchturm des Partei- 
dorfs, über nebelhafte Hirngeſpinſte aus verwaſchenen, dazu nicht einmal ver- 
dauten Theorien hinausreichten, laſſen ſich auch mit der Lupe nicht entdecken. 
Dagegen feiern politiſches Spießer und Stammtiſchheldentum, kindiſche Recht- 
haberei, emporkömmlinghaftes Auftrumpfen mit der Zufallsmacht einer Zu- 
fallsmehrheit wahre Orgien, und die letzten Entſcheidungen über die Kriegsziele 
des deutſchen Volkes im Weltkriege werden durch „Nervenzuſammenbrüche“ 
herbeigeführt, — die Frage, ob die Vertretung der deutſchen Auslandspolitik 
den Händen ihres bisherigen Leiters überantwortet bleiben darf oder nicht, iſt 


448 Bruch: Raft in der Mittagemwiefe 


eine „Nervenfrage“! Weil aber eine Reichstagsmehrheit im Zuli 1917 „die Nerven 
verloren hat“, wird der deutſche Reichskanzler im Juli 1918 gezwungen, „ſich 
noch einmal vor aller Welt auf jenes Programm feſtzulegen, das, durch die mili- 
täriſchen Erfolge und die Notwendigkeiten längſt überholt, Freund und Feind 
verlocken wird, die Friedensſchlüſſe im Oſten als Proviſorien zu betrachten, die 
jederzeit umgeſtoßen werden können“, und eine Erklärung abzugeben, in der die 
Feinde eine Beſtätigung des Eindrucks aus Kühlmanns Reden „von der wanten- 
den inneren Front finden werden“. Nervenzuſammenbrüche als Grundlagen 


deutſcher Politik! 
f e 
n 


Raſt in der Mittagswieſe Bon Margarete Bruch 


Meine weißbeſternte Wiege, 

Wieſe, wiege mich von hinnen, 
. Bis ich ohne Seele liege, 

Auf zu Wolken fliege. 


Leichter ſchon als Vögel ſchweif' ich. 
it das Tod? 

Schmetterling und Fliege ſtreif“ ich 
Leicht, von Zitterglut umworben, 
Nun begreif’ ich: ö 

Ja, ich bin gejtorben ... 


Adlig ſteigen, 

Mich mit Ehren zu beſtatten, 
Beim Geläut der Grillengeigen 
Ritterſporn und Türkenbund 
Nieder von der Matten 


Meine Stirne zu bekrönen, 
Müht ſich eine wilde Nofe, 
Noch voll Tau die Blütenfchale, 
Zart wie Muttergottesfrau. 


Und zwei dicke Kröten-Schweſtern, 
Schön gekrönte Prachtgeſtalten 
(Noch verhaßte Weſen geſtern), 
Kommen nach der Frauen Weife, 
Leichenſchau und Schwatz zu halten. 


Aber golden an die Gräſer 
Rührt zur Feier meines Todes 
Pan, der große Zlötenbläfer ... 


2 


Holten: Pie Mutter | 449 


Die Mutter 
Legende von Elſe v. Holten 


ine Seele verließ die Hülle des gebrechlichen Leibes und ſtieg durch 
die Nacht empor. Alle Bande löſten ſich, Gram und Glück ſanken 
0 blutlos zurück in die Niederungen der Erde. Die Seele tanzte wie 
ein verwehter Schmetterling im Wirbel durch Luftſtrömungen und 
fand ſich am Tor des Himmels wieder. Das ſtand azurblau in unermeßlicher Höhe 
und Breite im Raum. Über dem erſten Tore wölbte ſich ein zweites, darüber ein 
drittes, über dem entferntere aufblitzten, fo daß die Seele, geblendet von unermeß- 
lichen Ausdehnungen, die Augen ſchloß. 

„Vas begehrſt du?“ fragte eine Stimme neben ihr. „Mit welchem Rechte 
ſuchſt du Zeitliche die Ewigkeit?“ Die kleine Seele forſchte nach einem inneren 
Wert, nach einer glänzenden Gabe, die fie rechtfertigen könnte. Dann ſank fie 
zuſammen und flüſterte verzagt: „Ich war nur eine Mutter.“ 

„Bauteſt du dir ſchon auf Erden in der Ewigkeit eine Heimat?“ forſchte die 
unerbittliche Stimme weiter. 
| „ah weiß es nicht. Ich hatte nie Zeit, daran zu denken“, ſprach die geängſtigte, 
kleine Seele. 

And ſie ſank am Tore des Himmels entkräftet und verbraucht zuſammen. 

Als ſie ſich aufrichtete, ſchritt ein Zug himmliſcher Geſtalten an ihr vorüber 
durch das Tor und grüßte ſie mit ſtillem Ernſt. 

„Das ſind die Gebete an den Krankenlagern deiner Kinder“, ſprach der 
Wächter. „Sie zeugen für dich.“ Andre folgten. Sie trugen Kleinodien in den 
Händen und verneigten fi) vor ihr. „Das find die Schätze ſtillen Frohſinns, un- 
erſchöpflicher Lebenskraft, die du Mann und Kindern gabſt. Sie ſtrahlen für dich“, 
ſprach der Wächter mild. 

Ein ſtarker Engel ſchritt aufrecht und allein. Er hielt eine Harfe, die mit 
Blumen umwunden war. 

„Das ſind deine ungeborenen Lieder, deine Träume, die du ohne Klage in dir 
verſchloſſeſt, weil deine Pflicht dich zu anderem rief! Dein Genius, der ſie hütet, 
legt ſie noch heute nacht in die Hände deines erſtgeborenen Sohnes, der an deinem 
Sarge weint, als unſichtbare Gabe deiner Liebe. Denn du warſt eine . 
im Reich der Träume“, ſprach feierlich der Wächter. 

Glanz brach vor ihnen auf. Die Seele blickte auf eine Erſcheinung, die einen 
weiten, ſchimmernden Mantel von unbeſtimmten Farben trug. Aus den Falten, 
die von milden Lüften bewegt wurden, ſchienen ſie die geliebten Geſichter ihrer 
Verlaſſenen anzulächeln. Sie ſchrie auf. — „Das iſt deine Entſagung,“ ſprach 
der Wächter, „fie iſt die größeſte deiner Fürſprecher.“ Da wuchſen der Seele 
der Mutter Schwingen, die ſie mit ſtarken Schlägen in das e Blau 


trugen. — 
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Der Türmer XX, 22 29 


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955 ver, och, der Entente-Generaliſſimus an der Weftfront, ſchrieb 1903: „Die Preußen 
Win „% verſtehen den Krieg, ohne ihn zu führen, fie haben ihn eben ſtudiert.“ — „Wenn 
Dein Sachverſtändiger fein halbes Leben darauf verwendet, einen dunklen Gegen- 


ſtand überall aufzuklären, ſo wird er wohl weiter kommen, als einer, der in kurzer Zeit damit 


vertraut ſein will. Daß alſo nicht jeder von neuem aufzuräumen und ſich durchzuarbeiten 
brauche, ſondern die Sache geordnet und gelichtet finde, dazu iſt die Theorie vorhanden. Sie 
ſoll den Geiſt des künftigen Führers im Kriege erziehen, oder vielmehr ihn bei feiner Selbſt⸗ 
erziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten.“ Dieſe Auffaſſung von der Be- 
deutung und dem bedingten Werte der Thorie, mit der Karl von Clauſewitz die Militär- 
wiſſenſchaft auf völlig neuen Boden ſtellte, gilt heute noch unverändert. Vor 100 Jahren etwa 
erſtand als Niederſchlag der Erfahrungen der Napoleoniſchen Kriege ſein geniales Werk „Vom 
Kriege“, das den Krieg nicht nur von feiner militäriſchen Seite, ſondern auch als ſoziale Er- 
ſcheinung zu erfaſſen ſuchte; auf ſeinen Grundgedanken beruhten die Feldzugspläne Moltkes, 
Blumenthals, und beruht noch unſere Heerführung im heutigen Völkerringen. Seine Auf- 
faſſung des Krieges als eines „politiſchen Akts“ iſt für die moderne ſoziologiſche Betrachtung 
von grundlegender Bedeutung geworden. e iſt die Bedeutung von Clauſewitz der 
Allgemeinheit nur wenig bekannt. 

Als Zwölfjähriger nimmt er 1792 an der verunglückten Campagne in Frankteich teil, 
erlebt, ſelbſt tapfer kämpfend, die Schmach von Jena und muß als Adjutant des Prinzen 
Auguſt von Preußen dieſem in die Gefangenſchaft nach Frankreich folgen. 1809 arbeitet er 
unter Scharnhorſt, der ihm väterlich zugetqn iſt, im Kriegsminiſterium und beteiligt ſich in 
ruſſiſchen und preußiſchen Dienſten an den Freiheitskriegen. Deutſchland, Frankreich, Belgien 
lernt er fo aus eigener Anſchauung kennen. Das Jahr 1830 ruft ihn von dem unbefriedigenden 
Verwaltungspoſten des Direktors der „Allgemeinen Kriegsſchule“ in das Lager der preußiſchen 
Obſervationsarmee als Generalſtabschef zu ſeinem Freunde Gneiſenau nach Polen, wo beide 
kurz nacheinander von der Cholera hingerafft werden. — Anlage, Schickſal, idealiſches Streben. 
ſchufen ihn früh zum reifen Manne mit dem klaren Wirklichkeitsſinn und divinatoriſchem Blick, 
dem Ernſte der Lebensauffaſſung und dem leidenſchaftlichen Herzen von ungewöhnlicher Tiefe 
und Zartheit der Empfindung und voll quälender Sorge um Leben und Ehre ſeines Staates. 
Aus feinem Schauen und Streben erwuchs ihm die Freiheit des Geiſtes, die ſich von den Er- 
eigniſſen nicht überwältigen läßt, aus der „inneren Kultur der Seele“ (Gneiſenau) die Hoheit 
wahren Geiſtesadels. Indes darf auch die flüchtigſte Andeutung ſeiner Weſensart der ihm 
eigentümlichen Scheu vor der Öffentlichkeit, der leichten Verwundbarkeit feines Gemüts nicht 


Elauſewitz 451 


vergeſſen. Dieſe Naturanlage mußte ſich durch das Mißverhältnis zwiſchen dem Bewußtſein 
eigenen Könnens und Schaffensdranges und ſeiner äußeren Stellung, die ihm niemals eine freie 
Entfaltung ſeines Genies gönnte, noch ſteigern. Scheu vor breitſpuriger Philiſterplattheit, 
lärmender und dabei geiſtig weit unterlegener Kritik, das Gefühl des „odi profanum vulgus“ 
hinderte ihn auch, mit feinen Werken vor die Öffentlichkeit zu treten. Manche Arbeiten, von 
leidenſchaftlichem Wunſche eingegeben, auf das Chaos der öffentlichen Meinung klärend ein- 
zuwirken, blieben als Rechenſchaftsablage für ſich ſelbſt liegen und kamen ſo auch nicht in die 
Ausgabe ſeiner Werke, die ſeine ihm geiſtig und ſeeliſch ebenbürtige, in innigſter Liebe mit 
ihm verbundene Frau nach ſeinem Tode herausgab. 

Drei ſolcher politischen Denkſchriften finden ſich verſteckt in dem 1878 erſchienenen „Leben 
des Generals von Clauſewitz“ von Karl Schwartz. Obwohl lediglich für das Tagesintereſſe 
verfaßt, laſſen fie doch die „Hauptlineamente“ der hiſtoriſch-politiſchen Auffaſſung von Clauſe- 
witz erkennen. Hans Delbrück nennt in feiner damaligen, ſpäter in die „Hiſtoriſchen Aufſätze“ 
aufgenommenen Beſprechung des Schwartzſchen Buches den erſten dieſer Aufſätze ein „Rabinett- 
ſtück einer politiſch-hiſtoriſchen Abhandlung“. Dieſes Lob darf auch von den folgenden beiden 
Arbeiten aus dem Jahre 1830 gelten, in denen Clauſewitz die Bedeutung der damals brennen- 
den belgiſchen und polniſchen Frage für ſeinen Staat darzuſtellen ſucht. Die gewaltſame 
Löſung Belgiens aus der unnatürlichen Verbindung mit Holland bedeutete im Grund einen 
Sieg Frankreichs und Gewinn Englands. In der Regelung 1831 zahlte Preußen, welches 
das 1815 feſtgeſetzte Beſatzungsrecht der Maasfeſtungen verlor, die Zeche. Überraſchend ſchnell 
hatte ſich Frankreich nach 1815 erholt und die Expanſionspolitik des ancien régime und der 
Revolution wieder aufgenommen. Der Teilungsplan Polignacs genügt als Beleg. Indes 
wurden feine aggreſſiven Abſichten durch die werbende Kraft der politiſchen Ideale verdeckt. 
England, das ſich im Kampf gegen Bonaparte eben die Weltherrſchaft geſichert hatte, hielt 
offiziell an dem alten Gegenſatz gegenüber der franzöſiſchen Gefahr feſt; die öffentliche Meinung 
dagegen neigte großenteils zu Frankreich. Vor allem aber ſtand das noch nicht gehaßte, dafür 
verachtete, „in ſeiner politiſchen Einrichtung ſo äußerſt ſchwache, in ſeinen Richtungen ſo ſehr 
geteilte deutſche Reich“ (Clauſewitz) den weſtlichen Einflüſſen offen. Der Vulgärliberalismus 
bezog Ideen und Ideale aus Frankreich und überſah, daß in den deutſchen Mächten trotz aller 
Lahmlegung der Kräfte „der eigentliche Schwerpunkt des europäiſchen Widerſtandes“ gegen 
Frankreich lag, und daß die Geburt Belgiens den franzöſiſchen Gelüſten Tor und Tür öffnete. 
Dieſelbe Verkennung der politiſchen Tatſachen ſpiegelt die Polenſchwärmerei der damaligen 
Zeit. „Der Gedanke, daß durch die Herſtellung eines ſelbſtändigen polniſchen Reiches auch 
Deutſchland in Mitleidenſchaft gezogen werden müſſe,“ ſagt Brandenburg in feiner „Reichs“ 
gründung“, „daß die zu Öfterreih und Preußen gehörigen Teile des alten Polen darnach 
ſtreben würden, ſich dieſem Reiche abzuſchließen, daß dadurch die deutſche Oſtgrenze in er- 
heblicher Weiſe gefährdet und auch das Deutſchtum an der unteren Weichſel und der Oſtſee 
bedroht werden könnte, iſt den meiſten Liberalen nicht gekommen.“ 

Clauſewitz behandelt dieſe politiſchen Fragen rein politiſch und bietet mit feiner Auf- 
faſſung den ſchlagenden Gegenbeweis gegenüber neueren, ſo von Endres in „Politik und 


Krie rung“ unternommenen Verſuchen, eine Theorie von dem unvereinbaren Gegenſatz 
3 


zwiſchen „politiſcher und militäriſcher Denkweiſe, zwiſchen der langfriſtigen Kunſt in der Er- 
faffung von Zuſtänden und der kurzfriſtigen militäriſchen Runft der Vaffentat“ herauszu- 
Hügeln. Heute, wo unſer Blick auf die wenig erfreuliche Entwicklung der polniſchen Verhältniſſe 
und die Grundfrage nach dem Schicksal Belgiens gerichtet iſt, verdienen die vergeſſenen Aus- 
führungen von Clauſewitz die weiteſte Beachtung. Noch wichtiger als die reizvollen unmittelbar 


in die Augen ſpringenden Parallelen zwiſchen dem Damals und Heute erſcheint uns der Hin- 


weis auf die geſunde, geſchichtspolitiſche Auffaſſungsweiſe feiner Darftellung. Nicht an Wiſſen, 
geſchichtlichen und politiſchen Kenntniſſen gebricht es ja unſerem politiſierenden Publikum, 


452 | Clauſewlz 


wohl aber an politiſchem Sinn, politiſcher Lebenserfahrung und Denkart. Sucht der eine 
Teil voll Eifer, aber in kleinlichem und ſo ganz unhiſtoriſchem Bemühen die Geſchichte ohne 
Kückſicht auf ihre Bedingtheit für die praktiſche Politik, gleichſam als politiſche Milchkuh aus⸗ 
zubeuten, fo deutet der andere feine Lauheit als Sachlichkeit oder überjieht in ſeiner ſich ſelbſt 
jo ungemein großzügig, überlegen dünkenden Art, in äſthetiſch, ethiſch, humanitär⸗weltbürger⸗ 
lich gefärbten Nebelwolken die in Volkstum und Nationalſtaat wurzelnden Wirklichkeiten des 
geſchichtlichen und politiſchen Lebens. — 

Das Erlebnis des preußiſchen Exiſtenzkampfea mußte die politiſchem Weltbuͤrgertum 
abholde Art von Clauſewitz, mußte ſein Verſtändnis für den Friederizianiſchen Machtſtaat 
noch ſtärken. Andererſeits ſahen wir eingangs ein Hauptverdienſt ſeines Buches „Vom Kriege“ 
in der Forderung, in der Geſchichte eine Schule ſtrategiſcher Denkart, nicht aber ein praktiſches 
Schluͤſſelbuch zu ſehen. Mehr kann die Geſchichte auch nicht dem Politiker bieten; denn fie 
wiederholt ſich nie. Ein grundlegender Faktor ändert ſich indes in der Abwandlung des ge- 
ſchichtlichen Lebens nur langſam: die geographiſchen Bedingungen und das mit dem Boden 
erwachſene Volkstum. Seine Bedeutung mag der Hinweis auf „die Bismarck eigentümliche 
Art, politiſche Fragen vor allem geographiſch zu betrachten“ dartun. (Haller, „Bismarcks 
Friedensſchlüͤſſe“, 2. Aufl., S. 70.) Schon die Tatſache, daß Clauſewitz als ſtrategiſcher Denker 
die jeweilige Bedeutung der phyſiſchen Grundlagen im Völker- und Staatenleben, damit alſo 
die geopolitiſchen Geſichtspunkte mit in den Vordergrund ſeiner Betrachtung ſtellte, ſichert 
ſeinen Arbeiten Lebensdauer. Er weiſt auf die unpolitiſche Taktik der Allierten 1815 hin, die 
durch Verzicht auf Annexionen zu verhüten hofften, daß Frankreich der Nevanchegedanke ein- 
geimpft werde. Denn ſelbſt das niedergeworfene Frankreich, meint Clauſewitz, behalte in ſeiner 
Eigenſchaft als „ſehr homogenes, ungeteiltes, wohlgelegenes, gut begrenztes, reiches, kriege 
riſches und geiſtreiches Volk“ ſeine innere Kraft ungebrochen. 

Damit iſt indes nur eine Seite ſeiner geſchichtspolitiſchen Begabung angedeutet. Die 
lebendige Erkenntnis der Geſchichte lehrt ihn im Staatsorganismus gleich Adam Müller „die 
innige Verbindung der geſamten phyſiſchen und geiſtigen Bedürfniſſe, des phyſiſchen und 
geiſtigen Reichtums, des äußeren und inneren Lebens einer Nation zu einem großen, energiſchen, 
unendlich beweglichen und lebens vollen Ganzen“ zu ſehen, vom Willen zum Dafein, vom Triebe 
zur Selbſterhaltung und Vergrößerung durchſtrömt. Oaher ſucht er die Gegenſätze der Völker 
nicht etwa in Prinzipien, ſondern „in der ganzen Summe ihrer geiſtigen und materiellen Ver- 
hältniſſe zueinander“. Bewußtes und unbewußtes Streben nach Gegengewichten erhält das 
Staatenſyſtem im Gleichgewicht; „denn die ganze phyſiſche und geiſtige Natur wird durch 
Gegenſätze im Gleichgewicht erhalten“. Dieſer philoſophiſch vertieften Auffaſſung des Prinzips 
der „Mechanik der Macht“ (Hintze) entſpricht ſeine umfaſſende Betrachtungsweiſe, welche 
die geſchichtlichen und politiſchen Ereigniſſe ſtets in den allgemeinen Zuſammenhang der ma- 
teriellen und ideellen Macht- und Intereſſenkämpfe ſtellt. Daher fein Unmut gegenüber der 
Philiſtermanier, dann endlich aufzuwachen und nach „Schuldigen“ zu ſuchen, wenn man ſich 
ſelbſt unmittelbar in den Strudel geriſſen fühle, ſtatt daß man die Entwicklung der Ereigniſſe 
verfolgt und ſich vorgeſehen hätte, daher auch feine Sronifierung des äſthetiſch gefärbten, un 
politiſchen Doktrinarismus, für den die realen Machtverhältniſſe des Staatenlebens nicht be- 
ſtehen, in deſſen Zdeologie etwa die reine Demokratie für ein „idylliſches Friedens verhältnis“ 
bürgt. „Politik“, ſagt Steffen in ſeinem neueſten Buch „Der Weltfriede und ſeine Hinderniſſe“, 
„iſt Wille und Handeln. Und in der Politik wollen und handeln ſtets konkrete Menſchen — nicht 
‚Beinzipe‘ oder, Syſteme“.“ — Die Geſchichte enthüllt Clauſewitz das Walten des Lebensgeſetzes 
von Freiheit und Notwendigkeit, aber ſeine wahrhaft hiſtoriſche Denkweiſe ſcheut ſich, den Sinn 
all der wahrnehmbaren Kräfte, unter deren Wirken der ſtets ſich erneuernde Vorgang des Wachs 
tums und Vergehens der Staaten ſich vollzieht, den Sinn der Imponderabilien des geſchichtlichen 
Lebens auszudeuten. In ihrem Wirken ſieht er gleich Ranke „das Geheimnis der Weltgeſchichte 


Clauſewitz 2 453 


So umfaſſend ſein Geſichtskreis, ſtets richtet ſich ſein Blick unwillkürlich und zielbewußt 
auf die Frage nach der jeweiligen Bedeutung der politiſchen Gruppierungen und Wandlungen 
für die eigene Nationalexiſtenz. Was Ranke als oberſten Grundſatz des Politikers hinſtellt, 
„inmitten des Konflikts der Weltmächte, der idealen ſowohl wie der realen, die man nicht be- 
herrſchen kann, das eigene Intereſſe zu wahren und zu fördern“, ſehen wir in der Nichtung 
des Clauſewitzſchen Geiſtes verwirklicht. Die Ereigniſſe in Belgien und Polen regen den da- 
mals dreißigjährigen Moltke zu lediglich geſchichtlich orientierten Arbeiten an. Clauſewitz hin- 
gegen ſtellt an den Anfang feiner Aufſätze die Grundfrage: Welche Folgen haben dieſe po- 
litiſchen Veränderungen für den eigenen Staat? Und bei der Beantwortung kommt ihm ein 
ungewöhnliches Maß politiſcher Pſychologie und richtiger Einſchätzung der Faktoren zuſtatten, 
handelt es ſich nun um Stärke, Eigenart der Gegner, um die Art des Verhaltens ihnen gegen 
über oder um Wertung der Sympathien und Antipathien der öffentlichen Meinung. Von 
ſeiten Rußlands befürchtet er keine feindliche Stellungnahme für die zwei nächſten Generatio- 
nen, aber darüber hinaus läßt er jede Möglichkeit offen. Auch den Zerfall des europäiſchen 
Rußland ſtellt er mit in Rechnung; Polen hält er für ziviliſiert in etwa hundert Jahren. Sehen 
wir nicht den unbelehrbaren Franzoſen des Weltkrieges vor uns, der heute auf Pötain, morgen 
auf Clemenceau und Foch ſchwört, wenn Clauſewitz ſchreibt: „Man glaubt nicht, wie hartnäckig 
der Franzoſe an der Idee feiner Anüberwind lichkeit hängt, wie leichtgläubig er in den Händen 
ſeiner Parteihäupter iſt, und wie toll dieſe, am Abgrund ſchwindelnd, das Letzte wagen.“ Aber 
gerade dieſe außerordentlich feine politiſche Witterung, nicht die „Schlachtenfreudigkeit“ des 
Militärs (Bismarck) ſagte ihm, daß der Staatsmann in gewiſſen Lagen den Willen und Mut 
zeigen müſſe, an die ultima ratio der Waffen zu appellieren. — 

Karoline von Humboldt ſchreibt 1813 an ihren Gatten: „Metternich hat wohl nicht die 
großen Anſichten, die er haben ſollte, und mit denen allein er der Zeit gewachſen wäre... Du 
eineſt mit dem hellſten Verſtande die Einſicht, die man nur durch das Gemüt er— 
langt“, und fie ſpricht damit treffend eine allgemeine Wahrheit aus. Die kühle Verſtandes- 
ſchärfe des gewiegteſten Politikers kriecht in großen geſchichtlichen Augenblicken am Boden, 
ſein Wollen entbehrt der Kraftquelle, wo die auch dem Gemüt entſpringende Einſicht, wo der 
Funke politiſcher Leidenſchaft fehlt. Leicht nehmen die Dinge in der Seele des handelnden 
Staatsmannes die Geſtalt perſönlicher Gefühle und Leidenſchaften an. (Haller a. a. O., S. 65.) 
Sie muß er niederhalten, ſoll feine Politik nicht in die Irre gehen. Oft verwechſelt aber die 
Allgemeinheit die Bändigung der Leidenſchaften mit Leidenſchaftsloſigkeit und überfieht über 
der berechtigten Bekämpfung der „Gefühlspolitik“ und chauviniſtiſcher Sentimentalität, daß 
ohne die große politiſche Leidenſchaft nichts Großes geſchieht. Sie birgt als wahrhaft ſchöpfe⸗ 
riſche Urkraft in ſich die Fähigkeit hellſichtiger Phantaſie; ihr entſpringt das Aufgehen der 
Perſönlichkeit in der Pflicht, die großen Zeiten einzig ebenbürtige Geiſtesverfaſſung, die Ent- 
ſchlußkraft, in entſcheidenden Lagen alles einzuſetzen, zu ſiegen oder unterzugehen. „Groß, 
unbeſchreiblich groß iſt die Zeit,“ ſchreibt der Verfaſſer der „drei politiſchen Glaubensbekennt⸗ 
niſſe“ 1808 an feine Braut; „von wenigen Menſchen wird fie begriffen; ſelbſt den vorzüglichſten 
Gelehrten und Weiſen unter uns ift ſie ſelten mehr als ein Werkzeug, um irgend ein dünkel⸗ 
volles Syſtem durch ſie darzuſtellen; alles das iſt eitles Spiel von Kindern und Toren. Mit dem 
Gemüte will die Zeit aufgefaßt ſein; ohne Vorurteil ſoll man fie anſchauen und betrachten. 
Nur in einem Gemüte voll Tatkraft kann ſich die tatenreiche Zukunft verkündigen; unter ſteter 
Berührung muß es ſein mit Gegenwart und Vergangenheit und unverloren in philoſophiſchen 
Träumen.“ In dem „Stolz eines glorreichen Unterganges“ ſieht Clauſewitz das große be- 
herrſchende Gefühl in der Natur Friedrichs des Großen und deutet damit gleich Rankes „Großen 
Mächten“ auf das „innere, moraliſche, geiſtige Element ſeines Widerſtandes“ hin. 

Th. Lindner ſagt von der Wiederaufrichtung Preußens, ſie ſei eine Lehre, was Willen 
und Wiſſen im Verein vermögen. Das Schickſal hat es Clauſewitz verſagt, feine genialen ftrategi- 


454 | Mel 


ſchen Fähigkeiten und fein geſchichtspolitiſches Verſtändnis in größerem Maß durch die Tat 
zu erproben. Sich in den Strudel „der unendlichen Konflikte an Intereſſen und Parteiungen, 
die ſeinem Verſtand zuwider“ waren, durchzuſetzen, dazu war ſeine Natur wohl zu fein gebaut. 
Dafür liegt aber in der organiſchen Verſchmelzung realpolitiſchen Denkens, Wollens, Fühlens 
mit der Reiz, der von feiner ſympathiſchen Perſönlichkeit ausgeht. — 

Dr. Ernſt Bender, z. Zt. im Felde 


Adel 


zie Alldeutſch!“ nennt ſich ein Buch von Richard Pretzell, das ſoeben erſchienen und 
durch die Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher, Leipzig, zu beziehen iſt. Es 
d iſt ein fo ganz eigenwüchſiges persönliches Buch, daß der Verfaſſer ſicher nicht auf 
ungeteilte Zuſtimmung auch der feiner Geſinnung nächſtverwandten Kreiſe rechnen wird. 
Aber ſoll es darum und weil es den Mut hat, auszuſprechen, was ihm nur viele Feinde, wenig 
offene und aufrechte Freunde gewinnen kann, totgeſchwiegen werden? Nein, eben um ſeiner 
Tapferkeit willen, der bei uns leider fo ſelten vertretenen „Zivilkurage“, ſei hier darauf hin- 
gewiefen und als Probe für die Art des Verfaſſers das Stück über den Adel wiedergegeben — 
ohne jedes Urteil für oder gegen. Es ſtammt aus dem Sommer 1916: 

Zm Adel und im freien Bauerntum, die die gleiche Wurzel haben, ruhen Werte, deren 
das Vaterland nicht entraten kann, ja an denen es ſich vielleicht noch einmal aufrichten und 
erneuern kann. Nötig iſt aber, daß wir unſern Wert und Unwert richtig erkennen, uns reinigen 
von dem Weſensfremden, was wir teilweiſe über uns haben Macht gewinnen laſſen. 

Die urſprünglichen Tugenden des Junkers oder preußiſchen Adels find wohl weſentlich 
folgende: Er hat fein eigentliches Intereſſe hinter dem des Staates und Volkes zurücktreten 
laſſen und bei magerſten Gehältern und Penſionen die zuverläffigften Staatsbeamten, ja 
Staatsmänner und Offiziere geſtellt. Wenn er dafür auch wenig Dank erntete, und ſehen 
mußte, wie manche feiner Fürſten ſtiller Aufopferung und Pflichttreue die Anerkennung ver- 
ſagten, er murrte nicht. 

Aber es gab hier doch immer eine Grenze. Die hohen Eigenſchaften, die er betätigte, 
waren die Zeichen des dem Könige ergebenen treuen deutſchen Dieners im Sinne des ritter; 
lichen Gefolgmannes, der unter Umſtänden dem König gerade dann die treueſten Dienſte tut, 
wenn er ihm widerſpricht und den Gehorſam verweigert auf Wegen, die König und Vater 
land in den Abgrund führen. Wenn wir nach oben ſchauen, ſo können wir dies mit gutem Ge⸗ 
wiſſen nur dann, wenn wir in unſerer Weltanſchauung, unferer Tradition, unſerer Würde 
ruhen. Es iſt nicht damit getan, daß wir uns als gehorſamſte Diener empfehlen. Oder fürchten 
wir die Monarchie zu gefährden, wenn wir als freie deutſche Männer vor den König treten? 
Sie iſt im Gegenteil dann gefährdet, wenn wir dem ſtarken und zielbewußten Willen, der hinter 
unſeren Feinden, der Demokratie und der Internationale ſteht, nichts entgegenzuſetzen haben 
als eine ſtumpffinnige, tatenloſe Königsgefolgſchaft, die dem Königswagen blindlings nach- 
reitet, auch wenn fie ſieht, auf dem Kutſchbock ſitzen des Fahrens Untundige. 

Wo waren denn bis jetzt unſere Verſuche, dieſe Fahrer vom Bocke herunterzureißen? 
Der Landtag hat einmal angeſetzt zur Tat; aber als der Reichskanzler die Herren zu ſich befahl 
und ihnen, wie ein Schweizer Blatt ſich ausdrückte, den Kopf wuſch, da ſanken fie zuſammen 
und erklärten: die Reſolution ſei keineswegs als Mißtrauensvotum gegen ihn aufzufaſſen, 
im Gegenteil, ſie ſei als Stütze für ihn gemeint geweſen. 

Und wo war bis jetzt eine Aktion, in der der preußiſche Adel gemeinſam und geſchloſſen 
vor feinen König trat: „Majeſtät, fo geht es nicht weiter !“? Mir iſt von einem einzelnen Schritt 

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Abel 455 


bekannt: Die Eingabe des Fürſten Salm an den Kaiſer. Sie war von Bürgerlichen veranlaßt 
und die Unterzeichner waren zu 60 % Bürgerliche. 
Wenn der Adel vom völkiſchen Standpunkte aus als Element der Ruhe und Stetigkeit 


zum Feſthalten des Typus beiträgt, fo darf dieſe Ruhe nicht zum indolenten Schlafe werden, 


der zum Untergang führt: zumal in Zeiten demokratiſcher Hochflut. Die Pflicht des Königs- 
dieners iſt beim Adel verbund en mit den Pflichten des Führers, Wächters und Rämp- 
fers, des Vorkämpfers. Ein ſolcher wartet nicht immer auf den Befehl, der ihn ruft, 
ſondern in Zeiten des Sturmes tritt er ungerufen hervor. 

Wo bleiben die adligen Vorkämpfer unſeres Volkes in dieſer ſchweren 
Zeit? ... Wenn noch einmal in der Weltgeſchichte dem deutſchen Adel Gelegenheit geboten 
iſt, ſich als Führer der deutſchen Nation zu bewähren, ſo iſt es jetzt. Erweiſt er jetzt nicht ſeine 
Exiſtenzberechtigung durch die Tat, verharrt er in feiner Paſſivität, dann gibt er den Demo- 
kraten recht, die ihn ſchon lange als eine veraltete, der Exiſtenzberechtigung entbehrende Ein- 
richtung hinſtellen; dann gräbt der Adel ſich ſelbſt ſein Grab, in das ihn hineinzulegen Hände 
genug bereit find, auch Hände, die ſehr hohe Amtsſiegelringe ſchmüͤcken. 

Was wird unſer Adel einft zu ſagen wiſſen, wenn ihn das deutſche Volk fragt: „... Ein 
ſchwacher Staatsmann hat ſich die einzige wirkſame Waffe, die wir gegen unſeren ſchärfſten 
Feind hatten, entwinden laſſen, und ihr habt ihm nicht gewehrt! Der einzige Mann der Re- 
gierung, der eures Charakters war, wurde von Händlern angegriffen und ihr habt ihn nicht 
geſchůtzt. Den einzigen Standesgenoſſen von euch, der mit feiner Geiſteskraft die herrliche Waffe 
der Zeppeline geſchaffen hat, hat man zur Seite geſchoben, und ihr habt ihm nicht geholfen!“ 

„Za, wir haben doch nichts machen können!“ werdet ihr entgegnen. Wirklich? Habt 
ihr alles getan, was ihr tun konntet? Seid ihr einmal vor den Reichstag getreten und habt 
erklärt: „Wir können nicht verantworten, einen Milliardenkredit für die Kriegführung zu be- 
willigen, ſolange wir eine Zivilregierung haben, von der wir glauben, ſie wird uns um alle 
Früchte des mit dieſem Gelde zu erringenden Sieges bringen?“ Habt ihr den Mut gehabt, 
je einem Miniſter den Etat zu verweigern, von dem ihr alle überzeugt ſeid, er iſt ſeinem Amte 
in keiner Weiſe gewachſen? „Aber das hätte doch einen fürchterlichen Skandal gegeben!“ 


Seid ihr deſſen ſicher? Vielleicht hättet ihr die ganzen Nationalliberalen, die deutſche Frak- 


tion und den adligen Teil des Zentrums mit euch geriſſen und wäret mit einem Schlage wieder 
Führer des Volkes geworden. Seht, es lechzt nach einer befreienden Tat und nach Führern. 
Und wenn es nichts als einen Skandal gegeben hätte; ihr hättet eure Pflicht getan. Zgit 
Angſt vor einem Skandal, der ſich an Pflichterfüllung anknüpft, Sache des Adels? 

„Aber unſer Parteiintereſſe hätte gelitten.“ Euer Parteiintereſſe? Es handelt ſich 
um König und Vaterland! Iſt da Sorge um Parteiintereſſe Sache des Adels? Und wenn 
die Partei darüber zugrunde ginge! Aber ſie würde es nicht tun; im Gegenteil, ſie würde 
welte Kreiſe zurückgewinnen, die wegen ihrer nationalen Schlappheit und Vorſchiebung der 
Partei? und Wirtſchaftsintereſſen von ihr abgefallen find, und nichts ſchädigt eine Partei 
mehr als untätiges Verſagen. Es wäre ein ehrenvoller Untergang und kein allmähliches 
Erſticktwerden im Sumpf der jüdiſchen Demokratie, in den ſie jetzt hineinſteuert. 

Aber der Eindruck im Auslande! Und wenn er ungünſtig wäre, iſt Furcht vor dem 
„Eindruck im Auslande“ Sache des deutſchen Adels, wollen wir König und Vaterland zu- 
grunde gehen laſſen, daß das Ausland „einen guten Eindruck“ hat? Selbſtmord aus Furcht 
vor dem Tode begehen? 

Aber das Ausland würde dadurch den Eindruck der Uneinigkeit haben, „eines ſich zer⸗ 
fleiſchenden deutſchen Parlaments, und das würde die Sache des Vaterlandes ſchädigen“. 
Zum Teufel noch einmal! Laßt doch das Ausland „Eindrücke“ haben, wie es mag! Entweder 
wir ſchlagen unſeren Feind oder wir ſchlagen ihn nicht. Jeder andere „Eindruck“ als der der 
Waffen iſt gänzlich gleichgültig; wegen unſerer angeblichen „Einigkeit“ ſchließen ſie keinen 


456 | Abel 


Tag früher Frieden... Kein Menſch im Auslande glaubt an Einigkeit zwiſchen Weftarp und 
Liebknecht, Heydebrandt und Müller-Meiningen. Jedes Kind im Auslande weiß von den 
großen Parteien der Annexioniſten und Antiannexioniſten, in die Deutſchland geſpalten iſt. 
Bis jetzt iſt der Eindruck im Auslande: Die Deutſchen haben wackere Feldherren, gute Sol- 
daten, vorzügliche Techniker und im übrigen iſt ſich die Bevölkerung in nichts einig als in un- 
ergründlicher Schwͤchlichkeit gegenüber dem Auslande und der eigenen Regierung. 

Um nun von den großen Mitteln der Etats- und Kreditverweigerung zu den kleineren 
überzugehen: Warum tritt der Adel und ſeine Vertretung nicht für Abſchaffung der politiſchen 
Zenſur ſein? Aus Angſt vor der Sozialdemokratie? Varum ſetzt er ſich nicht mit aller Kraft 
für Freigabe der Kriegszielerörterung ein? Wiederum aus Angſt vor der Sozialdemokratie 
und dem Eindruck im Auslande? 

Darf Angſt das Leitmotiv für den deutſchen Adel ſein? Weiß er nicht, daß die gand⸗ 
habung diefer Zenſur des Burgfriedens, des Kriegsziels und der Kritikverbote nur der Sozial- 
demokratie und der Internationale zugute kommt?: Daß er ſich mit der Unterſtützung der Re- 
gierung in dieſen Fragen mitſchuldig macht, wenn die Kriegsziele der Sozialdemokratie und der 
Internationale Wirklichkeit werden und Oeutſchland in der dann kommenden roten Flut ertrinkt? 

Um es wieder und wieder zu betonen: König und Vaterland find in Gefahr! In aller- 
höchſter Gefahr! Warum treten die Konſervativen nicht hervor mit dem Antrag, die politiſche 
Zenſur aufzuheben? Der halbe Reichstag, wenn nicht der ganze, würde ihnen folgen. Es iſt eins 
der wenigen noch verfügbaren Mittel, um den immer ſchneller dem Abgrund zurollenden Wagen 
aufzuhalten. Gewiß wird ein erbitterter Kampf im Innern des Landes ausbrechen. Aber iſt 
es beſſer, den Wagen kampflos „in Einigkeit“ abſtürzen zu laſſen, als noch in letzter Stunde — 
ſoweit find wir — das Außerſte zu verſuchen, ihn zu retten? Seit wann iſt es die Art des 
deutſchen Adels, den Kampf zu ſcheuen? Tut er es, ſo geht er mit Recht zugrunde, und er 
wird der erſte ſein, den die rote Flut ertränkt. Für lendenlahme Kompromißanträge in der 
U-Boot- und Zenſurfrage, die das Papier nicht wert find, darauf fie geſchrieben, ſollte ſich 
der deutſche Adel und ſeine Partei zu gut ſein! 

Mich überkommt jedesmal ein tiefes Schamgefühl, wenn ſich Reichstags vertreter 
unſeres Standes beklagen, ſie ſeien in ihrer Wirkſamkeit durch die Zenſur gehemmt. Warum 
wehren ſie ſich nicht? Sie tun ja nicht einmal das, was unter Geltung der Zenſur geſchehen kann! 

Vor mir liegen das Liebigſche Buch, die Marinebriefe, die Schäferſchen Eingaben, 
liegen Dutzende von unter der Hand verbreiteten Kriegsſchriften, die faſt alle aus anderen 
Lagern ſtammen, als aus dem unſern. Wo bleibt da die Führerſchaft des Adels? Vo 
ift feine Unterftügung mit Geld und anderen Mitteln? Über das ganze Reich haben ſich heute 
ſchon Organiſationen verbreitet, die im vertraulichen Kreiſe die Kriegsziele erörtern — was 
wird darin unter uns geleiſtet? Der Bund der Landwirte iſt ja an einer der eee 
beteiligt; aber ausgegangen iſt auch dieſe nicht von ihm. 

Abgeſehen von der eigenen Tätigkeit iſt es Pflicht jedes verantwortungsbewußten 
führenden Adels, die Kräfte im Volke, die in gleicher Richtung arbeiten, herauszufinden und 
zu unterſtuͤtzen, ſich zu verbinden mit den Deutſchen, mit unſeren eigentlichen Brüdern, die 
jonft in unſerem Volke leben und an feinem Heile arbeiten. Da er ſich im Vergleiche zu ihnen 
meiſt in unabhängiger und freier Lage befindet, erwächſt ihm die vermehrte Pflicht zur Arbeit 
für die Allgemeinheit, zu um fo furchtloſerem Eintreten für das, was wir als Männer und 
Deutſche als recht und richtig erkannt haben. 

Außer dem Stande der Zunker gibt es nur noch einen in Oeutſchland, der ſich gleicher 
Ungnade des B-Syſtems und gleicher Anfeindung des Berliner Tageblattes und der Frank- 
furter Zeitung erfreut wie er: der Alldeutſche Verband. Die gleiche Feindſchaft allein, mit der 
man ihm begegnete, hätte uns auf ihn aufmerkſam machen müfjen. Wir waren empört und 
entruͤſtet über die Verleumdungen der Zunker, die jene Blätter täglich brachten; aber die 


Adel 457 


Verleumdungen des Alldeutſchen Verbandes haben wir ruhig auf uns wirken laſſen. Es ſitzen 
dort keine verſtiegenen Phantaſten, ſondern kluge, real denkende Männer, die allerdings keiner 
Clique angehören, dafür aber e ins über alles ſtellen: die Wahrung der deutſchen Ehre, die 
bei vielen, die ſich Realpolitiker nennen, jeden Kurs verloren hat. 

Warum haben wir ihn nie unterſtützt; warum unterſtützen wir ihn heute noch nicht? 
Gehört nicht auch das zu den wichtigſten Aufgaben des echten Adels, das Wertvolle zu fördern, 
wo immer er es findet? In allen den Vereinen, die vom jüdiſchen Großkapital unter Führung 
einiger Regierungs vertreter gegründet werden, finden ſich ſeine Namen zahlreicher als in 
den unabhängigen nationalen Vereinen. 

Der Junker ſieht und erkennt nicht die ſtarken und tiefen idealen Strömungen unſeres 
Volkes. Hindern ihn vielleicht daran die bisher freieren, abgeſchloſſeneren Verhältniſſe des 
Land lebens, in denen er feine natürlichen Inſtinkte, fein Rüdgrat, feinen Stolz beſſer wahren 
konnte, wie mancher vom modernen Leben vielfach abhängige Stadtbewohner oder Beamte? 
Aus der Freiheit, die er jetzt noch beſitzt, ſollte er den Antrieb herleiten und die ehrenvolle 
Pflicht, eine Brücke zu ſchlagen zu ſeinen kämpfenden Brüdern. Von dieſem gemeinſamen 
Kampfe wird dann viel, ſehr viel abhängen für das Wohl des Vaterlandes. Er hat alle ihm 
an ſich naheſtehenden „Intellektuellen“ allzulange von ſich ferngehalten; teils 
aus Hochmut, teils aus falſch verſtandenem Eigennutz. Seine Macht wäre heute ſchon infolge 
des Mangels an intellektueller Stütze erſchöpft, wenn ihm nicht die wirtſchaftlichen Elemente 
im Bund der Landwirte einigen Erſatz zugeführt hätten. Doch unter dem wirtſchaftlichen 
Geſichtspunkt allein kann man auf die Dauer weder eine Partei erhalten, noch 
Politik im großen Stile treiben. Und beides brauch heute der Adel, wenn er eine 
Macht bleiben will. Die Macht an ſich iſt nicht böſe. Wer zu ihr berufen iſt, ſie aber nicht zu 
behaupten, ja nicht einmal um ſie zu kämpfen wagt, der wird ſchmachvoll zugrunde gehen; 
und das mit Recht. 

Wenn wir unfere Herrenrechte behaupten wollen, ſo müſſen wir mit ihnen die Ent- 
wicklung unſerer Herrentugenden verbinden in dem Bewußtſein, für die leibliche und ſeeliſche 
Beſchaffenheit unſeres Volkes, ſowie für ſeine Erziehung verantwortlich zu fein. Wo zeigen 
ſich dieſe Tugenden heute in Krieg? Täte unſer Adel feine Pflicht, fo müßten fie ſich, 
gerade in der Politik, klarer zeigen als je vorher. Dem objektiven Beobachter muß 
das ganze politiſche Leben dieſer Tage den Eindruck eines eintönigen Grau erwecken, in dem 
Konſervatismus, Nationalliberalismus, Zentrum, Freiſinn, Junkertum, Bürgertum, Zuden- 
tum und katholiſche Kirche ineinander verſchwimmen. In ö Kompromiſſen ſtecken 
auch noch Scheidemann und Liebknecht. g 

Durch Paktieren mit den Feinden, durch Verſuche der a an ihn verlieren 
wir nicht nur Würde und Ehre, ſondern auch die Macht, die in unſere Hand gehört, ſolange 
wir an ſie den ſittlichen Maßſtab legen und ſie maßvoll handhaben. Wenn man ein Gebetbuch 
in ein Butterpapier wickelt, wird nie das Butterpapier fromm, ſondern das Gebetbuch fleckig, 
hat einmal Panizza geſagt. 

Mögen wir rechtfertigen, was Nietzſche ſagt — wer kennt fein Werk unter uns? —: 
„Die Zukunft der deutſchen Kultur ruht auf den Söhnen der preußiſchen Offiziere. Bauern- 
blut iſt noch das beſte in Deutſchland und der märkiſche und preußiſche Adel und der Bauer 
gewiſſer norddeutſcher Gegenden enthält gegenwärtig die männlichſten Naturen, und daß 
die männlichſten Naturen herrſchen, iſt in der Ordnung.“ 

Sie müſſen ihre Männlichkeit aber auch betätigen. Ein großer Teil der altpreußiſchen 
Lande iſt in ſeinen Händen, und der von ihm beeinflußte Teil der Bevölkerung iſt der einzig 
wirklich zuverläſſig königstreue im alten Sinne des Wortes. Heute noch. 

Heute iſt der Adel noch eine Macht. Er gebrauche ſie; noch ein kleines, und es wird 


zu jpät fein! 
AD 


458 Die Berliner Akademie der Wiſſenſchaſten und Bismard 


Die Berliner Akademie der Wiſſenſchaften 
und Bismarck 
ID 


(N auf Erſuchen des preußiſchen Kultusminiſters hat die Berliner Akademie der Wiſſen⸗ 
f 22 N ſchaften ein Gutachten zu den Verdeutſchungen im preußiſchen Staatshaushalt 
El Roerſtattet. Dieſes Gutachten läuft auf eine Verteidigung des Fremdworts hinaus. 
Die Akademie beruft ſich für ihre Stellungnahme am Schluß ihres Gutachtens u. a. auch auf 
Bismarck mit der Behauptung, er ſei „puriſtiſchen Beſtrebungen wenig geneigt geweſen“. 
Dieſe allgemeine Wendung, die durch Belege nicht erläutert wird, nimmt ſich in einem wiffen- 
ſchaftlichen Gutachten ſeltſam aus. Vielleicht meint die Akademie, Bismarcks bekannte Aus- 
druckswelſe ſei genügend Beweis für ihre Behauptung von Bismarcks Stellung zu „puriſtiſchen 
Beſtrebungen“. Dem iſt aber nicht fo. Auch hier iſt leider wie jetzt jo oft im politiſchen Mei- 
nungskampfe Bismarck als Schwurzeuge angerufen worden, ohne daß man für nötig gehalten 
hat, ſich mit ihm vertraut zu machen. In einem Geſpräch mit feinem wackern Schild knappen 
Hermann Hofmann über die Puttkamerſche Rechtſchreibung kam die Rede auch auf die Fremd- 
wörter: „Etwas anderes“, fuhr Bismarck da fort, „iſt es, Fremdwörter zu überſetzen oder 
durch ein deutſches Wort auszudrücken. Sc ſelber kann mich zwar nicht mehr daran gewöhnen, 
aber ich gebe bereitwillig zu, daß es nichts Auffallendes oder Störendes hat, wenn man z. B. 
ſtatt Kuvert Briefumſchlag ſagt.“ Wie kann man angeſichts dieſer Außerung behaupten, Bis- 
marck ſei „puriſtiſchen Beſtrebungen wenig geneigt geweſen“? Oeutlich hört man aus dieſen 
Worten vielmehr fein Bedauern heraus, daß es für ihn zur Überwindung einer Angewohnheit 
zu ſpät war. Hofmann ſpricht noch an einer andern Stelle von Bismarcks auffallender Vor; 
liebe für Fremdwörter; und er meint, daß Pismarck viel Fremdwörter gebrauchte, „lag nicht 
nur an den Gewohnheiten des diplomatiſchen Amtes, ſondern auch daran, daß er wie alle 
ſeine Zeitgenoſſen eine Erziehung hatte, die auf den Gebrauch fremder Sprachen und Aus- 
drücke, namentlich der franzöſiſchen, hinleitete. Was man in der Zugend immer vor Augen 
und Ohren gehabt, das bleibt einem als Gewohnheit bis zum ſpäden Alter anhaften.“ Man 
geht wohl nit fehl in der Annahme, daß Hofmann hier Gedanken wiedergibt, die Bismarck 
ſelbſt — vielleicht öfter — geäußert hat. 

Man kann alſo der Akademie der Wiſſenſchaften, genauer dem für die Abfaſſung jenes 
Gutachtens verantwortlichen Herrn den Vorwurf nicht. erſparen, daß Bismarck recht leicht 
fertig als Schwurzeuge zitiert worden iſt. 

Es iſt ja gewiß ſehr hübſch und löblich, daß man ſich heute Bismarcks mehr erinnert 
als früher und lebhafter das Bedürfnis empfindet, ſich auf feine Autorität zu ſtützen. Aber 
dann ſoll man ſich auch die Mühe nehmen, den Mann, ſein Werk und ſeine Worte, kennen 
zu lernen, ihn zu ſtudieren. Sonſt mißbraucht man ſeinen Namen und „blamiert“ ſich. 


Hans Haefde 
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Roch ein Zeſue · Oratorium 459 


Noch ein Jeſus⸗Oratorium 


an wird es als ein Zeichen der Zeit anſehen dürfen, das Ausſicht auf Überwindung 
des künſtleriſchen Tiefſtandes der letzten Jahrzehnte gibt, wenn jetzt mehrere 
Muſiter ſich an die künſtleriſche Behandlung des Lebens Zefu wagen und mit 
dieſen Werken Beachtung finden. 

Nachdem im erſten Maiheft auf das bedeutſame Werk Gerhard v. Keußlers hingewieſen 
worden iſt, ſollen die folgenden Zeilen zur Beſchäftigung mit dem Oratorium „Jeſus“ (Vor- 
ſpiel und zwei Teile) von Paul Gläfer anregen, das bei C. F. Kahnt in Leipzig erſcheint. 

Das Werk iſt ein erfreuliches Zeugnis dafür, daß in den ſächſiſch-thüringiſchen Kantoren, 
die ſeit den Zeiten der Reformation dem deutſchen Volke die größten Meiſter evangeliſcher 
Kirchenmuſik geſchenkt haben, der alte Schöpfergeiſt noch lebendig iſt, daß das Vorbild Bachs 
in ihnen weiter wirkt und daß der geiſtige Zuſammenhang mit der alten Kunſt, der in dieſen 
Kreiſen nie zerriſſen worden iſt, die rechte Grundlage für eine entwicklungsfähige Zukunft 
geſchaffen hat. 

| Mit Recht hat ein ernſthafter deutſcher Kritiker jüngſt bei der Beſprechung einer Auffüh- 
rung neuer Kirchenmuſik betont, daß trotz aller Weiterbildung der Kunſt gerade in der kirchlichen 
Muſik der Aufbau auf einem feſten Grunde überaus wichtig ſei. Luftſchlöſſer find nirgends 
weniger am Platze als da, und etwas Ordentliches gelernt zu haben it die erſte Vorausſetzung 
für das Gelingen großer kirchlicher Werte. 

Gelernt hat Paul Gläſer, der als Kantor in dem ſächſiſchen Mittelſtädtchen Großenhain 
wirkt, alles, was ein Kirchenmuſiker braucht. Seine muſikaliſche Satzkunſt iſt ausgezeichnet, 
feine Behandlung der Solo- und Chorſtimmen geradezu ideal. Wenn man erlebt, wie ſündhaft 
moderne Komponiſten mit den Singſtimmen umgehen, um nur zu erreichen, daß die Geſchichte 
dann doch nicht klingt, kann man nicht genug rühmen, wie geſangmäßig Gläſer ſchreibt und 
wie herrlich dieſer natürliche Geſangſtil klingt. Das Sopran; und Baritonſolo des Werkes 
gehören zu den Aufgaben, um die ſich geſunde Stimmen reißen werden wegen der herrlichen 
Wirkungen, die fie damit erzielen können. Und für Chöre gibt es kaum Oankbareres zu fingen 
als dieſes Oratorium. Daß auch der Orcheſterklang blühend und reich und natürlich iſt, ſei 
nur erwähnt. 

Die Hauptſache iſt: das Ganze iſt echte Kirchenmuſik. „Was iſt echte Kirchenmuſik?“ 
fragte der bereits erwähnte Kritiker. Ohne Gläſers „Zefus“ zu kennen, gab er darauf eine 
Antwort, die gleichzeitig als treffendſte Kennzeichnung der Gläſerſchen Muſik gelten kann. 
Er antwortete: „Eine Muſik von innerer Kraft, die Kunſt und Volkstümlichkeit verbindet, 
überzeugend durch Ungewolltheit im Ton und im Können, kernig und gemütsreich im Aus- 
druck.“ 

Wie ſchwer die Verbindung von Kunſt. und Volkstümlichkeit iſt, beweiſt uns die Tatſache, 
daß es je länger je mehr an neuen Werken auf allen Gebieten fehlte, die dieſe Forderung er- 
füllen. Wie glänzend Gläſer ſie erfüllt, wird jede Aufführung feines Werkes von neuem be- 
weifen. 

Die evangeliſche Kirchenmuſik iſt der Heimatboden, auf dem er erwachſen iſt, und er 
ſchuf ſein Werk aus innerer Notwendigkeit. Darum, daß es leben wird, braucht uns demnach 
nicht bange zu fein; aber daß es fo bald als möglich überall zu klingendem Leben erweckt werde, 
das wäre wünſchenswert. Denn die Beſchäftigung mit dieſer Muſik kann in vielen Tauſenden 
von Sängern, die dies Oratorium in Choraufführungen mitſingen, wieder das rechte Gefühl 
für wahrhaft geſunde deutſche Muſik wecken helfen, kann das Verlangen nach einer Kunſt ſtillen, 
die den ganzen Menſchen erfaßt und in den Tiefen des Gemüts Kräfte erweckt, die leider viel; 
fach geſchlummert haben und abgeſtumpft worden ſind. 


460 | Oeutſcher Kunſtſchuz 7. 


Daß das Werk dazu imſtande iſt, dankt es nicht nur ſeiner Mufit, ſondern vor allen Dingen 
ſeiner ganzen Anlage, ſeinem Aufbau. 

Auch das Bauen, das Gliedern, das man in früheren Jahrhunderten können mußte, 
wenn man überhaupt als Künſtler gelten wollte, und deſſen Geſetze jedem von Zugend auf in 
Fleiſch und Blut übergingen, haben unſere Modernen in allen Künſten ja gründlich verlernt. 
Aber all dem Geſchwätz von Impreſſionismus und Expreſſionismus und ähnlichen Tagesphraſen 
hat man vergeſſen, daß alles, was nicht umfallen foll, auf feſten Beinen ſtehen und wohl ge- 
gründet ſein muß, und muß nun oft erleben, daß alle die ſogenannten Kunſtwerke, die man 
in kindiſcher Unbeholfenheit zuſammenleimt und ⸗kleiſtert, keinen Halt haben und vom erſten 
Sturm der Wirklichkeit über den Haufen geblaſen werden. 

Gläſer iſt altmodiſch. Er hat einen Plan, er hat Grundſätze und Stilbewußtſein. Er 
wählt von den verſchiedenen Möglichkeiten, Jeſu Wirken in einem großen muſikaliſchen Kunſt⸗ 
werk darzuſtellen, eine aus und bleibt dann feſt auf feinem Wege ohne Stil manſcherei und 
Flickwerk. 

Nicht nur, um den Vergleich mit Bach zu vergneiden, verzichtet er auf einen Erzähler. 
Weil er ein geborener Dramatiker iſt, nimmt er an Stelle des epiſchen Berichts eine raſche 
Folge von Szenen, in denen alle Perſonen unmittelbar handelnd auftreten, und fügt zwiſchen 
die einzelnen Abſchnitte (etwa nach Art der Trauerſpiele der alten Griechen) Ruhepunkte ein, 
die lyriſche Betrachtungen zur Vertiefung der angeſchlagenen Stimmungen geben. 

Bei der ganzen Anlage ſeines Oratoriums zeigt er überall das natürliche Gefühl für 
Sicherung und Wirkung des Aufbaus. Man ſteht vor dem Geſamtkunſtwerk wie vor einem 
Bauwerk aus der alten Zeit, deſſen Teile im rechten Verhältnis zueinander ſtehen und ſich 
gegenſeitig ſtützen und ſteigern. 

Ich muß, um nicht unnötigerweiſe koſtbares Papier zu verbrauchen, darauf verzichten, 
meine Behauptungen im einzelnen zu beweiſen. „Unnötigerweiſe“ glaube ich ſagen zu dürfen, 
da ich hoffe, daß, wer Verlangen nach einem neuen kirchlichen Kunſtwerk hat, ſich veranlaßt 
ſehen wird, meiner Worte Richtigkeit durch Vergleich mit dem eigenen Eindruck des Werkes 
zu prüfen. 

Gerade unter den Leſern des „Türmers“ werden wohl viele das Werk lieb gewinnen 
und dafür ſorgen, daß es in den deutſchen Städten heimiſch werde. 

Es iſt auch kleinen Städten zugänglich und ſollte vor allen Dingen da ſich feſt einbürgern, 
wo ſich von Werken wie Bachs Paſſionsmuſiken doch nur unzulängliche Aufführungen ermög- 
lichen laſſen. Ich möchte aber mit dieſer Bemerkung ja keine Unterſchätzung des Werkes als 
eines etwa nur für Kleinſtädte geeigneten veranlaſſen. 

Selbſt der hervorragendſte Chor in den deutſchen Großſtädten wird ſich der (übrigens 
ungemein dankbaren) Aufgabe, dieſes Werk in aller Pracht erklingen zu laſſen, nicht zu ſchämen 
brauchen. Dr. Georg Göhler 


2 
Deutſcher Kunſtſchutz ?! 


ei den letzten Beratungen des Kunſthaushalts im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 
iſt des breiten über den Schutz des in Oeutſchland vorhandenen Nunſtbeſitzes 
gegen Abwanderung verhandelt worden. Nur ungern verzichtete man auf ein 
Geſetz, das ſogar den privaten Beſitz erfaſſen ſollte. Um jo überraſchender und peinlicher wirkt 
unter dieſen Umftänden die Nachricht, daß gerade jetzt ein Stockholmer Sammler ein Meifter- 
werk aus Rembrandts ſpäter Zeit, das Frauenbildnis mit dem Hunde, das dem Kolmarer 
Muſeum gehörte, erworben hat. Es iſt alſo da eines der ſchönſten Werke Rembrandts, das 


Oeutſcher Kunſtſchutz 2. . 461 


man in öffentlichem deutſchem Beſitz ganz ſicher glaubte, verhandelt worden. Die „Runft- 
chronik“ bemerkt zu dem Fall: „Es hätte wohl in einem ſolchen Falle, wenn denn zwingende 
Gründe vorgelegen haben ſollten, zum Verkaufe zu ſchreiten, der Verſuch gemacht werden 
mũſſen, das Werk für Deutfchland zu erhalten. Man hat gejehen, wie in England durch öffent- 
liche Subfkription Meiſterwerke beſonderen Ranges vor der Abwanderung nach dem Auslande 
bewahrt wurden, und es hätten ſich wohl auch in dieſem Falle Mittel und Wege finden laſſen, 
einen unerſetzlichen Rembrandt für Oeutſchland zu retten. Diefes Bild iſt aber nicht das einzige 
Stück, das die Stadt Kolmar aus ihrem Kunſtbeſitz veräußert hat, da gleichzeitig das ausgezeich- 
nete Spedfteinrelief Friedrich des Schönen von der Pfalz, ein Hauptwerk von Dauher, ver- 
kauft wurde. Als Käufer wird der Kronprinz Rupprecht genannt. Dies gibt vielleicht den 
Schluͤſſel dafür, daß die bayeriſche Regierung, die ſeit Zahresfrift die Rolmarer Kunſtwerke in 
ihrer Pinakothek gewiſſermaßen in Schutzhaft hat, die Erlaubnis zur Herausgabe des Rembrandt 
aus der Pinakothek gegeben hat. Das Dauher-Relief iſt wenigſtens in Deutſchland geblieben; 
weshalb machte aber der Statthalter von Elſaß- Lothringen, ohne deſſen Erlaubnis die Stadt 
nicht verkaufen durfte, weshalb machte die bayeriſche Regierung nicht zur Bedingung, daß 
der Rembrandt wenigſtens nur an ein öffentliches Muſeum in Deutſchland verkauft werden 
durfte? Den Statthalter und vielleicht ſelbſt die Stadtverwaltung hat man wohl dadurch zu 
dem Verkauf bewogen, daß ein Paar kleine Holzfiguren, die zum Iſenheimer Altar gehörten, 
von dem Käufer des Rembrandt im Tauſch angeboten wurden. Aber was bedeuten dieſe 
beiden derben Hirtenfiguren, die keineswegs etwa Arbeiten von Grünewald ſind, neben einem 
Rembrandt, obendrein einem Hauptwerk des Künſtlers! Wenn unſere Behörden mit ſolchem 
Beiſpiel vorangehen, wie konnten ſie daran denken, ein Kunſtausfuhrgeſetz in Ausſicht zu 
nehmen!“ 

Nachträglich veröffentlicht die Korreſpondenz Hoffmann eine Erklärung der Direktion 
der Kgl. Bayeriſchen Staatsgemäldeſammlungen, der zu entnehmen iſt, daß die Kolmarer 
Stadtvertretung das Bild auf Grund des Angebots einer Münchener Kunſthandlung ver- 
äußerte. Das Bild ſei erſt um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Kolmar gekommen, fei 
in der rein elſäſſiſchen Sammlung wenig am Platz geweſen und der jetzige Verkauf habe die 
Erwerbung einer geſchloſſenen Sammlung elſäſſiſcher Altertümer möglich gemacht, deren Ab- 
wanderung zu befürchten war. Von dem Verkauf des Rembrandt Bildes nach Stockholm habe 
man erſt viel ſpäter Kenntnis erhalten, es war beabſichtigt, das Bild in Oeutſchland unter- 
zubringen. | Zu 

Ob die in Frage kommenden amtlichen Stellen diefe Erklärung wirklich als eine Ent- 
ſchuldigung für das unbegreifliche Vorkommnis auffaſſen? Wie konnte man dem Händler die 
Möglichkeit zu einer fo heimlichen Abſchiebung laſſen? Überhaupt! Man betont ſonſt überall 
die Verantwortlichkeit der Behörden gegen die Öffentlichkeit. Muſeen find ein Volksbeſitz, 
ſelbſt wenn die Eigentumsverhältniſſe in einzelnen Fällen anders liegen ſollten. Zugegeben, 
daß bei Ankäufen eine vorherige öffentliche Behandlung ſchädlich fein könnte, Verkäufe wich- 
tiger Kunſtdenkmäler dürften keinesfalls heimlich vorgenommen werden. St. 


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— 77 


Der Krieg 
N 77 uch die nachtrã liche Veröffentlichung der Ausführungen des Grafen 
8 . 9 555 N . * 
7 N: Hertling vom 11. Zuli über Belgien haben nicht vermocht, die ſchädi⸗ 
4 gende Geſamtwirkung der hoch- amtlichen Kundgebung aufzuheben. 
DIA Daran kann heute leider nicht mehr gezweifelt werden. Wohl findet 
ſich in dieſen Ausführungen der Satz: „Wir müſſen uns in den Friedensbedingungen 
dagegen ſichern, daß, wie ich es ſchon früher ausgedrückt habe, Belgien nicht wieder 
das Vormarſchgebiet für unſere Feinde wird, nicht nur in militäriſchem Sinne, 


Sur mers Oe 


a, 


ſondern auch in wirtſchaftlichem. Wir müſſen uns dagegen ſichern, daß wir nicht 


nach dem Kriege wirtſchaftlich abgeſchnürt werden.“ So richtig das iſt, — doch 
zeigt ſich hier, wie die „Deutſche Tageszeitung“ leider feſtſtellen darf, wieder der 
alte, in unſeren Kriegszielbeſtrebungen ſo häufige Zwieſpalt und Viderſpruch: 
„Das Ziel wird richtig bezeichnet, aber die Mittel, durch die allein es erreicht 
werden kann, werden entweder abgelehnt oder bleiben unklar. Belgien 
wird ſich in dieſe für das deutſche Ziel erforderlichen Bedingungen nur fügen, 
und gar auf die Dauer, wenn es muß. Nicht als Vormarſchgebiet für unſere 
Feinde im militäriſchen und im wirtſchaftlichen Sinn zu dienen, weder direkt noch 
indirekt, das ſind Bedingungen, und zwar ſolche, welche den belgiſchen Neigungen 
und Abſichten und der ſchon vor Kriegsbeginn befolgten Politik Belgiens ſtrilte 
zuwiderlaufen. Wenn Graf Hertling darauf hinweiſt, das alles läge im belgiſchen 
Intereſſe und die beſte Sicherung ſei eine Verſtändigung mit Belgien in wirtſchaft⸗ 
lichen und politiſchen Fragen, ſo klingt das ſehr hübſch, aber es ſind nur Worte, für 
deren Verwandlung in wirkliche Akte und Zuſtände keine Möglichkeit, geſchweige 
denn eine Wahrſcheinlichkeit beſteht. Auffallend iſt, wie daneben bemerkt werden 
muß, daß der Reichskanzler auch dieſes Mal die maritime Seite der Frage 
völlig außer acht läßt. Die Wiederherſtellung des ſogenannten Belgiens und 
das Aufgeben der flandriſchen Küſte würde die deutſche Seemacht und Seegeltung 
auf einen Bruchteil, ſogar ihres jetzigen Maßes, zurückführen und die „Freiheit 
der Meere‘, die ‚freie Luft für die Entwicklung unſeres Volkes“ zu einer leeren 
Phraſe machen. Wir möchten auch bei dieſer Gelegenheit in aller Beſcheidenheit 


Türmers Tagebuch . | 465 


zu bedenken geben, daß es der Sache nicht dienen kann, wenn vom Regierungs- 
tiſche aus ſolche Luftſchlöſſer und Illuſionen gezaubert werden. Belgien wird ſich, 
wie geſagt, nur verſtändigen, in dem vom Reichskanzler bezeichneten Sinne, 
wenn es unbedingt muß. Wenn es aber auch geneigt und dabei ‚unabhängig‘ 
wäre, fo würden die Weſtmächte es beherrſchen und als willenloſes Ob- 
jekt auf ihren Bahnen leiten. 

Die jetzigen Auslaſſungen des Kanzlers aber werden bei den Belgiern und 
ihrer Regierung und bei ihren Vormündern, nämlich den das Oeutſche Reich ver- 
nichten wollenden Großmächten die gegenteilige Überzeugung hervorrufen, 
daß nämlich der Kanzler bereit ſei, Belgien aufzugeben und dieſe Ab- 
ſicht nur durch einige Redewendungen verſchleiert habe, einmal um 
ſeinen Rückzug nicht zu ſichtbar zu machen, dann, um die deutſche Bevölkerung 
glauben zu machen, das deutſche Ziel laſſe ſich auch ohne Mittel erreichen. Man 
wird bei unſeren Feinden in den Darlegungen des Kanzlers vor allem in der 
Tatſache ihrer Veröffentlichung wohl die Anbahnung des Entſchluſſes 
zum Rückzuge und den Ausdruck vollendeten Zweifels an der Mög— 
lichkeit einer für Deutſchland ſiegreichen Ausnutzung des Krieges 
erblicken. Unſere Feinde werden nicht töricht genug fein, ihrer Zufriedenheit 
Ausdruck zu geben, ſondern das Gegenteil betonen, ſchon um der deutſchen 
linken Preſfſe das nötige Futter zu geben. 

Die „Germania“ und Blätter der Linken erklären bereits, daß die deutſche 
Verwaltung in Belgien ſich der Politik des Kanzlers nunmehr anpaſſen müſſe, 
das bedeutet die Forderung des Aufgebens einer getrennten Dlamen- 
Politik und Wallonen-Politik. .. In der Tat würde es ziemlich zwecklos fein, 
jene getrennte Politik der Vlamen und der Wallonen zu treiben, wenn man nachher 
ein Belgien herſtellen will, welches unabhängig — gegen Selbſtändigkeit 
Flanderns und Walloniens haben wir nichts, wie geſagt — wäre. Jene „Un- 
abhängigkeit“ würde lediglich Abhängigkeit von unſeren Feinden 
bedeuten und zwar eine ſchon jetzt von Belgien erſehnte und erſtrebte 
Abhängigkeit. Ein ſelbſtändiges Flandern und Wallonien iſt aber 
nur unter deutſchem Kurs denkbar, darüber mögen ſich Vlamen und Wallonen 
keinen Illuſionen hingeben, vor allem aber wäre es außerordentlich töricht, wenn 
Deutſche es glaubten. Der belgiſche Staat und die jetzige Oynaſtie ſind im Laufe 
des Krieges zu einer Verkörperung, zu einem Symbol des Zufammen- 
ſchluſſes unſerer Feinde geworden und nebſt ihren Anhängern mit Haß und 
Rachſucht angefüllt. Dem kann nur durch Teilung und durch die Entfernung 
der Oynaſtie und durch paritätiſche Pflege und Entwicklung der beiden 
Stämme unter deutſchem Schutze begegnet werden. 

Der Reichskanzler hat in feiner Rede vom 11. Zuli auch gejagt: „dieſes 
Fauſtpfand gibt man alſo nur heraus, wenn dieſe Gefahren befeitigt find‘. Auch 
damit kann man an und für ſich einverſtanden ſein, wenn die Begriffe der Gefahren 
und ihrer Beſeitigung nicht durch die nachfolgenden Sätze wieder ö zum 
mindeſten fraglich und utopiſch gemacht worden wären. 

Die Ausführungen des Kanzlers beider Tage und die Tatſache, daß ſie 


464 | | Zürmers Tageduch 


gemacht, vor allem, daß fie veröffentlicht Sue ind durch den Oruck der 
Sozialdemokratie und die Furcht vor ihr hervorgerufen worden. Das 
iſt der eigentliche Kernpunkt der ganzen Sache. Dieſe Angſt ſcheint in Oeutſch⸗ 
land alſo nunmehr unveränderlich den maßgebenden Einſchlag der politiſchen 
Weltanſchauung und Ziele bilden zu ſollen. Man wird weit damit kommen. Die 
fortwährende Berufung des Kanzlers auf die Oberſte Heeresleitung wird am 
Endergebnis nichts ändern.“ 
> * 
* i . 

Die Furcht iſt ein ſchlechter Berater. Im bürgerlichen Leben mag ſich der 
einzelne mit'dem Schaden, der ihm aus feiner übergroßen Angſtlichkeit erwächſt, 
abfinden, wie er will und kann; im politiſchen aber müſſen die Völker für ihn 
haften und opfern. Das erleben wir nicht nur im Reiche, ſondern auch an der uns 
verbündeten Monarchie. Dort war (und iſt!) die Furcht eine zwiefache: die vor 
der roten Internationale und die vor den (jlawifchen) „Nationalitäten“. Zetzt ſcheint 
die Erkenntnis zu dämmern, daß man ſich durch dieſe Fürchte nur noch tiefer in 
die Neſſeln geſetzt, nur noch in größere, in unmittelbare Lebensgefahr geſtürzt hat. 
„Nach den zwei beamteten Männern der Monarchie,“ ſchreibt die „Tägl. Rund- 
ſchau“, „nach Burian und Seidler, der nicht mehr beamtete, der Mann, der offiziell 
von der politiſchen Bühne abgetreten iſt, aber hinter den Kuliſſen wohl um ſo 
ſtärkeren Einfluß hat, Graf Czernin. Neulich erſt von Kaiſer Karl empfangen 
und von der Wiener pazifiſtiſchen ‚Neuen Freien Preſſe“ hoffnungsvoll wieder 
als Mann der Zukunft empfohlen, deſſen Audienz dann auf einmal lediglich pri- 
vaten Charakter hatte und der an allerhöchſter Stelle, ſo ſollten wir es glauben, 
natürlich nur über rein nichtpolitiſche Fragen geſprochen hatte. Aber Graf Czernin, 
der in den Friedensfragen die Führung übernommen und zu Bethmanns Zeiten 
der Wortführer der Mittelmächte geworden war, iſt nicht der Mann, der auf ſeinem 
Gute Ackerbau und Viehzucht triebe, er iſt auch jetzt noch der Diplomat, der den 
Ehrgeiz hat, die Politik des Ballplatzes, der Wilhelmſtraße zu beeinfluſſen, und 
bei dem die Welt aufhorcht, wenn er ſpricht. Dieſer perſönlichen Vorliebe hat 
der offizielle Nachrichtendienſt Rechnung getragen und uns die Rede des Grafen 
Czernin im Wortlaut vorgeſetzt. Ihre tatſächliche Bedeutung entſpricht ihrem 
Umfange, und man wird ſich in ihrem innerpolitiſchen Teil im Anſchluß an die 
auf den gleichen Ton geſtimmten Darlegungen Burians und Seidlers als den 
Notſchrei eines Mannes anzuſehen haben, der zur Einſicht gekommen iſt, daß 
Oſterreich- Ungarn in dem von der Entente angerührten Strudel untergehen müffe, 
wenn nicht eine gründliche und dauernde Anderung des Kurſes eintritt, der die 
Deutſchen Sſterreichs benachteiligte und die Tſchechen und ſonſtigen Feinde der 
Monarchie verhätſchelte. Graf Czernin ſieht die Gefahr darin, daß man in Deutſch⸗ 
land aus dem Kurſe, der namentlich ſeit der Thronbeſteigung Kaiſer Karls betrieben 
worden iſt, und der ſich, unglückbringend am 2. Juli 1917, alſo vor mehr denn 
FJahresfriſt, darin äußerte, daß Kaiſer Karl anläßlich der Geburt eines Sohnes 
Tauſende von flawiſchen, hauptſächlich tſchechiſchen, Hochverrätern begnadigte, 
die Auffaſſung herleiten müſſe, in Zukunft würden dieſe Elemente in Wien in 
Regierung und Hofburg die Hauptrolle fpielen, und Sſterreich- Ungarn müſſe 


K 


Zürmers Tagebuch 465 


demnach der Feind Deutſchlands werden, weshalb es deutſcherſeits Pflicht fei, 
mit Mißtrauen dieſer Politik gegenüberzuſtehen. Graf Czernin hat am 2. April 
vor den Mitgliedern des Wiener Gemeinderates den Wahnſinn dieſes Tſchechen- 
kurſes mit klaren und deutlichen, unmißverſtändlichen Strichen gezeichnet, und den 
Finger an die Wunde gelegt, an der Öfterreich leidet. | 

Die Folge war, daß Graf Czernin, als er mit Clemenceau die Auseinander- 
ſetzungen hinſichtlich des Kaiſerbriefes hatte, durch tſchechiſche Intrigen in der 
Hofburg zu Falle kam. Seine Gegner, deren verräteriſches Treiben er bloßgelegt 
hatte, waren ſtärker geweſen als er, und der Kaiſer Karl, der mit der Wandlung 
der Tſchechen gerechnet hatte, konnte ihn nicht halten. Nun hat Herr v. Seidler 
jetzt eine Anderung des Kurſes angekündigt und ſich wieder auf den deutſchen Kurs 
beſonnen, derſelbe Herr v. Seidler, der nach feiner am 23. Juni 1917 er- 
folgten Berufung zum Minifterpräfidenten am 2. Juli 1917 den tſchechiſchen 
Begnadigungsakt unterſchrieben und gutgeheißen hatte und der durch 
Berufung eines mit dem CTſchechentum verwachſenen Ukrainers und der Be— 
rufung des ſloweniſchen Sektionschefs Dr. Jvan Zolger und des tſchechiſchen 
Herrenhausmitgliedes Grafen Silva-Tarouca ſeinem Miniſterium eine bedroh- 
liche Zuſammenſetzung gegeben hatte. Begreiflich, daß man in deutſchen und 
bündnistreuen Kreiſen Sſterreichs dieſem Minifterpräfidenten fkeptiſch gegen- 
überſtand. Als Herr v. Seidler im Abgeordnetenhauſe ſeine Rede gehalten, hatte 
er zwar von den überraſchten Deutſchen ſtarken Beifall und die Verſicherung der 
Unterftüßung gefunden, aber im Herrenhauſe war man kalt geblieben. Seidler 
hatte ſeine gleiche Rede ohne ein Zeichen des Beifalls wiederholen müſſen; man 
konnte und wollte ihm nicht vergeſſen, daß er, wie die „Neue Freie Preſſe“ ſich 
ausdrückte, noch immer der Miniſterpräſident der Amneſtie, taſtender Ver— 
faſſungspläne und duldſamen Gewährenlaſſens bei den politiſchen Ausſchreitungen 
der Tſchechen war, ein Mann, der feine Linie nicht gefunden hat. Sollte Seidler, 
im Begriffe ſich zu wandeln, jetzt durch das Herrenhaus fallen, hatte man in Wien 
beſorgt gefragt, und dabei an den Einfluß des Herrenhauſes gedacht. In dieſem 
Augenblick iſt Graf Czernin für Seidler eingetreten und hat erklärt, wenn der 
Miniſterpräſident wirklich den Weg gehe, den er gehen wolle, dann würde man 
ſich unbedingt hinter ihn ſtellen müſſen. In der äußeren Politik ſei es der deutſche 
Kurs, den Sſterreich- Ungarn gehe, der innere Kurs müſſe auch der deutſche fein 
und bleiben, denn nur dann ſei eine geſunde Politik möglich, jeder andere Weg 
ſchädige den europäiſchen Einfluß der Monarchie. 

Das iſt für Czernin der ſpringende Punkt. Wie könne man europäiſche 
Politik machen, wenn man das Vertrauen Deutſchlands nicht beſitze, deshalb nicht 
habe, weil die Wege der Monarchie unklare ſeien, und gerade dieſen Einfluß auf 
die europäiſche Lage wünſcht Czernin für Oſterreich-Ungarn. Woraus hervorgeht, 
daß Berlin der Wiener Politik die Führung bis zu einem gewiſſen Grade wieder 
abgenommen hat und daß man dieſen Zuſtand in Wien mit Beſorgnis ſieht. Des- 
halb wirbt Graf Czernin um unſer Vertrauen in einer immerhin beachtenswerten 
Form und iſt in ſeiner Verurteilung des Tſchechenkurſes diesmal von beiſpielloſer 
Schärfe, die die ſeiner Rede am 2. April um ein Weſentliches übertrifft. De ver- 

Der Türmer XX, 22 


466 Türmers Tagebuch 


urteilt er zugleich die Hofpolitik, die durch ihren Einfluß der Monarchie den Weg ins 
Freie verbaue und die Friedens- und Bündnispolitik der Mittelmächte erſchwere. 
Denn, fo meint Czernin, wo ſoll der Friede herkommen, wenn der Friedensver⸗ 
mittler fehle, der Oſterreich- Ungarn doch fein könne, Oeutſchland Wien aber ab- 
lehne? Wo ſoll der Friede herkommen, wenn das Ausland zu der Erkenntnis 
gelangen müſſe, dank der Macht der Tſchechen und Slawen ſei der Ab- 
fall der Monarchie vom Bündnis nur eine Frage der Zeit? Alles das 
ſagt Graf Czernin in der Hauptſache nach oben, es ſoll aber auch in Berlin und 
im Ausland gehört werden. Man ſoll ſich in Berlin des Freundes an der nicht 
immer blauen Donau erinnern, der weniger unbeliebt ſei als der große Bruder 
an der Spree, der keine direkten Reibungen mit England habe, und der in ſeinen 
Anſprüchen „beſcheidener“ fei, ‚freier von Wünſchen nach Ländererwerb“ als der 
große Bruder an der Spree. Herr Graf Czernin beliebt zu ſcherzen. Hfter- 
reich- Ungarn fühlt ſich ziemlich frei von Wünſchen nach Ländererwerb? Man 
kann jo etwas leicht ſagen, nachdem man geſättigt vom Tiſche aufge 
ſtanden iſt und reichlich Landerwerb in Rumänien erhalten hat und 
vielleicht nur noch in Serbien und an der italieniſchen Grenze Berichtigungen 
verlangen wird, und nicht nur nicht abgeneigt iſt, vielmehr die Forderung 
ſtellt, ganz Polen unter Habsburger Schutz zu ftellen, während der deutſche 
Bruder bisher alle Hände voll zu tun hatte, fein Haus — und das ſeiner Bundes- 
genoſſen — zu ſchützen. Oder würde Graf Czernin uns ſagen können, wo wir 
nur einen Zoll Neuland mit dem Oeutſchen Reiche vereinigt haben? Graf Czernin 
verſichert, daß die Monarchie die deutſchen Intereſſen genau ſo vertreten wolle wie 
die eigenen, und deshalb eben wolle man die erſte Violine im Friedens- 
konzert ſpielen. Der Wunſch iſt verſtändlich, und daß Sſterreich- Ungarn unfere 
Intereſſen genau ſo vertreten wolle wie die ſeinigen, iſt bundesgenöſſiſch gedacht 
und zugleich ſelbſtverſtändlich, denn auch wir haben auf den Schlachtfeldern die 
Intereſſen des Freundes zu den unſeren gemacht, ohne vorher zu fragen, welche 
Kriegsziele der Bundesgenoſſe beſitze, haben auch nicht beſorgt gefragt, ob deſſen 
„Ziele defenſiver oder offenſiver Natur ſeien. Graf Czernin ſagte in dieſem Zu- 
ſammenhang: für Eroberungsziele eines „fremden Staates“ würden die Völker 
Sſterreichs den Krieg nicht führen, ‚diefe Zumutung“ allein müßte das Bündnis 
ſprengen. 

Man ſollte meinen: nach den wiederholten klipp und klar ausgeſprochenen 
Erklärungen des Kanzlers, die im Namen und im Einverſtändnis mit der deutſchen 
Oberſten Heeresleitung abgegeben worden find, ſollte Graf Czernin wiſſen, 
daß Deutſchland, der ‚fremde Staat‘, keine „Zumutung“ an die Monarchie geſtellt 
hat, für deutſche ‚Eroberungsziele‘ den Krieg fortzuführen, daß wir nur unſer 
Leben ſichern wollen und müſſen. Graf Czernin möchte den Frieden auch jetzt 
anlocken, wie er es während ſeiner ganzen Amtszeit vergeblich getan hat, aber er 
ſollte bedenken, daß er letzten Endes gegen den Frieden arbeitet, wenn er 
die Sprengung des Bündniſſes an die Wand malt und die Gegner in dem 
Glauben beſtärkt, Deutſchland hätte Kriegsziele, die auf eine Unterjohung der 
Welt hinauslaufen. Ein deutſcher Sozialiſt, Dr. Paul Lenſch, hat neulich in der 


Zürmers Tagebuch 467 


‚Siode‘ beklagt, daß infolge der mangelnden Initiative der deutſchen Staats- 
männer im Auslande der Glaube möglich geworden iſt, die Freiheit und die 
menſchliche Kultur würden vernichtet, wenn Oeutſchland nicht vernichtet würde. 


Solche Reden wie die des Grafen Czernin über die deutſchen 


Eroberungsziele müſſen dieſen Glauben vertiefen und den feind— 
lichen Vernichtungswillen ſtärken. Das liegt nicht im deutſchen Intereſſe, 
deren Vertretung Graf Czernin uns in Ausſicht ſtellt. Wir haben in Oeutſchland 
volles Verſtändnis für ſeine Beſtrebungen, den Frieden herbeizuführen, aber dies 
zarte Gewächs will vorſichtig mit zarten Händen angefaßt werden, ſonſt gedeiht es 
nicht. In dieſer Hinſicht waren die Reden des Grafen Burian und des Herrn 
v. Seidler die zweckmäßigeren, fo ſehr wir es begrüßen, daß auch Graf Czernin 


ſich dafür einſetzt, daß Sſterreich- Ungarns Politik auf den deutſchen Kurs feit- 


« 
gelegt werde, N 5 4 


Ungelöfte Fragen, Probleme, Hinderniſſe und Hemmungen, wohin wir nur 
ſchauen. Und, was das Bitterſte, zu einem guten Teile ſelbſtgeſchaffene, felbit- 
heraufbeſchworene. Das neueſte — Litauen! Wie waren die Litauer froh, 
daß ſie nur befreit wurden und ſich unter deutſchen Schutz ſtellen durften! Und 
heute ? „In Litauen,“ jo wird dieſes Skandalon in der „Unabhängigen National- 
korreſpondenz“ vorgeführt, — „in dem durch deutſches Blut befreiten, durch 
deutſche Großmut zu neuem nationalen Leben erwachten, dem noch unter deut- 
ſcher Militärverwaltung ſtehenden, in Litauen wandelt man polniſche Wege, 
konſtituiert ſich im Teil der Taryba, des Landesrates, aus eigener Machtvoll- 
kommenheit, über den Kopf der deutſchen Verwaltung und Regierung hinweg zum 


Staatsrat — nicht einmal in Varſchau beſaß man ſolche Dreiſtigkeit —, und bietet, 


als erſte Amtshandlung, abermals über den Kopf der deutſchen Regierung hin- 
weg, dem Herzog von Urach die Krone des Landes an. Es genügt, den offiziöſen 
Kommentar zu leſen, der dieſer Erſtaunlichkeit mit auf den Weg gegeben wird. 
Da wird die Übergehung der Reichsregierung feſtgeſtellt, dem Staatsrat die Kom- 
petenz ſamt dem Recht, ſich zu konſtituieren, beſtritten, erklärt, daß Litauen nicht 
das Recht zugeftanden werden könne, in der Thronfrage eine ſelbſtändige Ent- 
ſcheidung zu treffen, ohne daß dabei den deutſchen Intereſſen entſprechend Rech- 
nung getragen werde. Der mit der Kronantragung Bedachte ſei infolgedeſſen 
peinlich berührt und habe nicht angenommen. Schön und gut ſoweit. Ins- 
beſondere die endliche deutliche Hervorkehrung der deutſchen Intereſſen. Nur 
ſteht der Durchſchnittsmenſch wieder vor der Frage: wie konnte es überhaupt 
wieder einmal ſoweit kommen, wo kommen wieder einmal dieſe impertinenten 
vollzogenen Tatſachen her? Die Regierung iſt nicht unſchuldig, wenn auch die 


Hauptſchuld anderswo liegt. Es war ein grundlegender Fehler, daß man 


die Tabyra, den Landesrat, feinerzeit feine Unabhängigkeitsaktion vom 
Stapel laſſen, die damalige Erklärung als Grundlage für die weitere Entwicklung 
paſſieren ließ, ſtatt energiſch und deutlich den Unterfchied zwifchen, vom Stand- 
punkt der deutſchen Intereſſen, unmöglicher An abhängigkeit und zuzugeſtehen⸗ 
der Selbſtändigkeit klarzumachen. Zetzt, wo ſich der Landes- bzw. Staatsrat 


27 best WERL * 


468 | Türmers Tagebuch 


Rechte anmaßt, die aus Unabhängigkeit allerdings reſultieren würden, betont man 


die deutſchen Intereſſen. Damals hat man geſchwiegen, den Erzberger und 


Genoſſen zuliebe. etzt reifen die Früchte. Denn es find Früchte Erzberger- 
ſchen Wirkens, die uns dieſe Sommertage verſchönen. Der Herzog von Urach 
iſt bekanntlich des Buttenhäuſers heißer Favorit im Rennen um die Krone Gedy- 
mins. Und der Königsmacher hat alle Künſte ſpielen laſſen, um die Litauer für 
ſeine Pläne zu gewinnen. Gekirrt hat er ſie vollends, indem er ihnen Schutz und 
Schild war, ſamt feiner Reichstagsmehrheit, in allen Fragen, die fie in Widerſtreit 
mit deutſchen Intereſſen brachten. Es braucht ja nur von irgendwo her jemand mit 
Beſchwerden gegen deutſche Verwaltung und deutſche Regierung aufzutauchen, 
ſo findet er im Reichstag das Gremium der Erzberger, Haußmann, Haas, David 
bereit, eine fürchterliche Muſterung über Regierung und Militärbehörden abzu- 
halten und in ſchöner Argloſigkeit auf das heilige Recht der Fremden gegen— 
über den deutſchen Intereſſen zu ſchwören. Dann werden in einem Konferenz- 
zimmer am Königsplatz die Köpfe zuſammengeſteckt, dann wird ‚Material‘ über⸗ 
reicht, dann geht der Tanz im Hauptausſchuß und im Plenum los, und alles iſt 
zufrieden. Die Herren aus Polen oder Litauen oder der Ukraine, weil, ſie ſolch 
mächtige Schützer gefunden haben, die ihnen die Bruſt mit neuer Impertinenz und 
Aufſäſſigkeit ſchwellten, die Herren der Volksvertretung, weil fie erſtens wieder 
etwas zu regieren und zweitens einen Grund haben ſich zu wundern, was ſie doch 
eigentlich für Mordskerle find. Und fo wäre alles in Ordnung; die deutſchen 
Intereſſen freilich, die ſind beim Teufel. Soll ſich eine Reichstagsmehrheit, 
die alle Monate aus einer anderen Ecke Frondeure unter ihren ſchützenden Mantel 
zu nehmen hat, auch noch um deutſche Intereſſen kümmern? 

Das Endergebnis ſolch echt Buttenhäuſer Abderitenſtreiche haben wir vor 
Augen. In dieſem Frühjahr Höllenlärm gegen die Militärverwaltung Litauen, 
weil fie die Herren von der Taryba nicht nach allen Richtungen der Windroſe 
fahren läßt, Nackenſteifen aller Aufſäſſigen: wir von der Mehrheit ſorgen ſchon, 
daß euch kein Haar gekrümmt wird. Zuverſichtlicher Glauben der mit ſolcher Gunſt 
Beehrten. Drei Monate ſpäter ſieht ein Kind, daß die Militärverwaltung im Recht 
war, die Dinge richtig beurteilte, die deutſchen Intereſſen zu wahren ſuchte. Was 
damals durch Geltendmachen der deutſchen Stellung im Wege der Verſtändigung 
hätte erreicht werden können, das muß jetzt im offenen Konflikt erzwungen 
werden: die Angleichung zwiſchen deutſchen Intereſſen und litauiſchen Wünſchen. 
Wo ſchiedlich-friedliches Vertragen zu gegenſeitiger Wertſchätzung geführt hätte, 
da muß jetzt Unterwerfung des einen Teils eintreten, die ihn verbittert und ent- 
fremdet. Warum? Weil parlamentariſche Schildbürger unter Voran 
tritt des unvermeidlichen Herrn Erzberger den letzten Reſt kühler 
Aberlegung aus den Köpfen der von ihnen Beſchützten vertrieben, 
ihnen einen Teil ihres Größenwahns eingeimpft haben. etzt erhält der litauische 
‚Staatsrat‘ feine Abfuhr vor aller Öffentlichkeit, und der Herzog von Arach i 
‚peinlich berührt“. Sie mögen ſich beide mit Herrn Erzberger auseinanderſetzen, 
der ihnen ſolch minder erfreuliche Situationen ſchuf. Aber damit ſind doch die 
Dinge nicht erſchöpft. Der Schaden für das Reich, der Eindruck im Aus 


Türmers Tagebuch 469 


lande, die beiderſeitige ſcharfe Verſtimmung, das ſind doch empfindlichere 
Realitäten. | | 

Wie lange ſollen ſolche Dinge noch fortgehen? Wie lange die Erz- 
berger und Genoſſen ein Monopol auf Schädigung der deutſchen Intereſſen 
an allen Ecken und Enden genießen? Herr Erzberger, der in ſeinem vorzüg- 
lichen Ernährungszuſtande einen geradezu hervorragenden Landſturmmann ab- 
geben würde, iſt kürzlich vom Auswärtigen Amt wieder weiter reklamiert worden, 
nachdem feine Zurückſtellung vor einiger Zeit abgelaufen war. Der mit Laien- 
verſtand Begabte begreift nicht, daß man den trefflichen Schwaben ſo von der 
Erfüllung ſeiner vornehmſten Bürgerpflicht abhält. Begreift es erſt recht nicht 
angeſichts des Unheils, das er an allen Enden anrichtet. Man kann geſpannt fein, 
ob nach dieſer neueſten Frucht Erzbergerſcher Quertreiberpolitik in der 
Wilhelmſtraße auch weiterhin ſeine Unentbehrlichkeit empfunden wird. Das 
deutſche Volk aber verbittet es ſich, daß feine Intereſſen, für die es Gut und Blut 
opfern muß, durch die Großmannsſucht einzelner in derart ſchwerer 
Veiſe geſchädigt werden, wie es durch die Konventikelpolitik im Reichs- 
tage geſchieht.“ | 


Frieden? 
Wi wir uns den Weg zu ihm ſelbſt 


verrammelt haben, wie die Schafe 
verrammeln lie ßen durch „Staatsmänner“, 
deren politiſche Inſtinktloſigkeit und Unfähig⸗ 
keit nur noch durch eine deutſche Neichstags- 
mehrheit überboten werden konnte! „Jedes 
Jahr,“ hebt Prof. Dr. Fritz Kern in der 
„T. R.“ hervor, „haben wir irgendeine grobe 
Torheit begangen, welche den Eindruck unfe- 
rer Siege verwiſchte und den Feinden den 


| Entſchluß zu einem neuen Kriegsjahr er⸗ 


möglichte. Es ſcheint nunmehr feſtzuſtehen, 


daß die Feinde auch zum Kriegsjahr 1919 


entſchloſſen find. Die inneren Wirren Öfter- 
reichs, der durch uns nicht verhütete Maritza⸗ 
ſtreit, die von uns dem rumäniſchen Thron 
erhalten gebliebene Ententedynaſtie, weit 
über all das hinaus aber die Ungeſchicklich⸗ 
keiten deutſcher innerer Politik beſtärkten, wie 
es ſcheint, wieder einmal ihre Einbildungen. 
Und wir ſelbſt find es, die durch unſere 
unpolitiſchen Außerungen den Feinden unſere 
Kraft und unſeren tiefſten Willen zur Selbft- 
behauptung beſſer verſchleiern, als es irgend; 
ein Spionageabwehrdienſt vermöchte. So- 
lange Bethmann regierte, wußte England, 
daß es immer noch einen guten Frieden be- 
kommen konnte. Es hatte alſo keine Eile, 
ihn zu erlangen. Solange der Krieg währte, 
war dann ja das Riſiko Deutſchlands viel 
größer als das Englands. Als dann Beth- 
mann ging, übernahm die Reichstagsmehrheit 
das Geſchäft, die Feinde zu verſichern, daß 
ſie bei endloſer Verſchleppung des Krieges 
nichts riskierten. So wütet ſie nur aus 


politiſchem Ungeſchick gegen ihre eigenen 
guten Abfichten. . 

Unſere Feinde haben zu viel in den 
Krieg hineingeſteckt, als daß ſie ihn mit 
einer halben Löfung beendigen wollen. Sie 
wollen uns ruinieren, ſie wollen ſich nicht 
mit uns verſtändigen. Das iſt heute eine 
Tatſache. Das Einzige, aber auch Aller- 
einzige, was der Menſchheit den Frieden 
wiederbringen kann, iſt der Glaube an 
den Stern Oeutſchlands. Würde jeder 
Deutſche ihn ſich des Morgens und Abends 
erflehen, dann hätten wir vermutlich den 
Frieden ſchon längſt. Denn auch der Welt- 
bund der Feinde kann nur dadurch ver- 
anlaßt werden, an feinem geringeren Riß 
zu verzweifeln, daß ſich ihm der Glaube An 
den Stern Oeutſchlands aufdrängt, wie denn 
dieſer zum Beiſpiel auch über die politiſche 
Entwicklung in Oſteuropa ſchließlich ent- 
ſcheiden wird. 

Ein Staatsmann, der nicht an Oeutſch⸗ 
land glaubt, iſt in gegenwärtiger Stunde in 
Deutſchland undenkbar. Statt deſſen aber 
hat Kühlmann auf die Notwendigkeit po- 
litiſch-diplomatiſcher Verhandlungen hinge 
wieſen. Ja, worüber ſoll man denn unter- 
handeln? Über Wilſons Phraſen, die nur 
dazu dienen, die deutſche Demokratie gegen 
eine eingebildete Annexioniſtengefahr aufzu- 
putſchen und zum angelſächſiſchen Gimpel zu 
machen? Wollte man hierüber unterhandeln, 
dann würde man ſehr bald auf den Punkt 
kommen, wo Deutſchland alle Viere 
von ſich ſtrecken müßte. Es gibt eben nichts 
zu verhandeln, ſolange die Feinde noch eine 
deutſche Niederlage für möglich halten und 
hoffen können, daß der Unglaube vielleicht 


Auf der Warte 


den Deutſchen noch verderben und mit der 
angelſächſiſchen Weltherrſchaft wettbewerbs- 
unfähig machen wird. Die Angelſachſen 
haben bisher noch jeden Gegner beſiegt, der 
mit ihnen angebunden hat. Sie haben nie 
den Glauben an ſich ſelber verloren, 
ihr jeweiliger Gegner ſtets. Wer mit den 
Angelſachſen Krieg hat, mache ſich dies 
bis in alle Folgen hinein klar. 

gebt haben wir einen neuen Staatsſekre- 
tär, von dem, auch bevor man ihn kennt, an- 
zunehmen iſt, daß er an Deutſchland glaubt. 
Sonſt hätte er ſich doch nicht auf dieſen Poſten 
ſetzen laſſen! Er wird den Angelſachſen viel- 
leicht die Augen öffnen über die Einmütigkeit 
unſeres Glaubens und damit unſerer Kraft. 
Allſofort aber erhob ſich deutſcher 
Philiſterſinn aufgeregt und forderte naiv 
und ungeſchickt (als ob der Feind nicht Honig 
aus jeder Blüte ſaugte), daß der gute Ein- 
druck des Miniſterwechſels ſofort aufge- 
wogen werde durch eine neue Verkündi⸗— 
gung des Kleing laubens . 

Zn Wahrheit hat ſchon die bloße Nachricht 
von Kühlmanns Entlaſſung das deutſche An⸗ 
ſehen in Holland und Skandinavien ausge- 


ſprochen geſtärkt. Der Nieuwe Rotterdamſche 


Courant aber erklärte: ‚So erhalten denn die 
Deutſchen endlich auch ihren Lloyd George 
oder Clemenceau. Zt dies ein Schlag für 
den Frieden? Auch die ſogenannte Ver- 
ſöhnungspolitik opn deutſcher Seite hat den 
Frieden nicht gebracht.“ Der Vergleich mit 
Lloyd George und Clemenceau hinkt. Aber 
daß v. Hintze die Tür zum Frieden ſich ebenſo 
durch Verſöhnungsungeſchicklichkeiten werde 
verrammeln laſſen wie ſein Vorgänger, iſt 
allerdings nicht wohl anzunehmen.“ 


* 
Sin Taſtverſuch des Grafen 
Czernin 

Gez fo ſetzt ſich die „Oeutſche Tages- 

zeitung“ mit der letzten Rede des Grafen 
Czernin abſchließend auseinander, — „gewiß 
hat der frühere k. k. Außenminiſter die Ab- 
ſicht, im Auslande gehört zu werden. Aber 
für fo naiv halten wir den Grafen nicht, als 
daß er ſich an den Markt ſtellt und ohne 


471 


Nebenabſichten ruft: „Wir Öfterreicher find 


gute Leut', wir laſſen mit uns reden, und 
weil wir mit uns reden laſſen, müßt ihr auch 
ſo geſcheit ſein und auch mit dem Bruder 
Preuß reden‘. Wenn man ſich das vor Augen 
hält, verſteht man, daß dieſe Ausführungen 
zum mindeſten ebenſogut auf Berlin be- 
rechnet waren, ja daß dies ihre Hauptabſicht 
geweſen iſt. Schon in Berlin, unmittelbar 
vor ſeinem Rücktritt, hat Graf Czernin mit 
der pazifiſtiſchen Strömung einer ge- 
wiſſen Preſſe in Sſterreich gearbeitet. 
Damals geſchah dieſe Arbeit nicht in der 
breiten Offentlichkeit wie jetzt. Für dieſe 
pazifiſtiſche Preſſe iſt der Satz von der Ge- 
fährdung des Bündniſſes berechnet, für ſie 
iſt auch der Satz berechnet, ‚aus dieſem Di- 
lemma wäre doch ein Ausweg zu finden, 
wenn jede der beiden Mächte ihre Friedens- 
vorſchläge ſchriftlich einer neutralen Macht 
übermitteln würde‘. Es iſt das ein Gedanke, 
der in Öfterreih bis in die allerhöchſten 
Kreiſe hinein ſehr reichlich propagiert wird, 
und deſſen hauptſächlichſte Träger in deutſch⸗ 
nationalen öſterreichiſchen Kreiſen als die 
drei ſchlimmen L... bezeichnet werden. So 
iſt dieſer Vorſchlag einer Vermittlung 
der Friedensvorſchläge an eine neu- 
trale Macht über das pazifiſtiſche Preffe- 
geſchrei hinaus ein Taſt verſuch nach der 
höheren und höchſten Richtung in Öfter- 
re ich.“ 
* 


„Deutſch und charakterlos“ 


ie rumäniſche Regierung hat bekanntlich 
einen Prozeß gegen Bratianu und Ge- 
noſſen eingeleitet, und in dieſer Liſte der 
Angeklagten ſteht auch Take Jonescu. Die 
Tatſache, daß dieſer ſchlimmſte der rumäniſchen 
Kriegshetzer aber den Moldauſtaub von ſeinen 
Füßen geſchüttelt hat, macht den Prozeß zur 
Farce, wie ja fo vieles von den rumänifchen 
Hoffnungen Deutſchlands zur Farce ge- 
worden iſt. | 
Der Mann, ftellt die „Deutſche Tages- 
zeitung“ feſt, ſitzt heute mit deutſcher Hilfe 
in der Schweiz, gewährt Unterredungen, 
hetzt gegen uns, und wir dürfen ⸗ uns von 


472 


Deutſchen im Auslande und wohlgeſinnten 
Neutralen beſtätigen laſſen, daß das 
deutſche Verhalten, das einen ſolchen 
Kriegshetzer in das neutrale Ausland 
habe befördern helfen, unbegreiflich 
ſei, und man nächſtens das ſchöne Wort: 
„Deutſch ſein, heiße Charakter haben“, in das 
andere umbiegen müſſe: „Deutſch und 
charakterlos“. Dieſe und ähnliche Auße⸗ 
rungen ſind in der deutſchen Schweiz und 
darüber hinaus laut geworden, und man darf 
ſich nicht einmal darüber wundern. . . 

Wir haben uns über Northeliffes Arbeit 
entrüftet, Wir ſprechen von Lügenpropa- 
ganda. Aber dieſe Entrüſtung und dieſes 
Sprechen hätten genügen ſollen, und es 
wäre nicht nötig geweſen, daß man der 
Entente noch beſonders wirkſame und 
fähige Agenten zur Verfügung ſtellt. 
Daß Take Zonescu ſofort feine Tätigkeit auf- 
nehmen würde, wenn er neutralen Boden 
betreten hatte, war zu erwarten. Daß er in 
maßloſer Weiſe gegen Deutſchland hetzen 
würde, war ebenſo zu erwarten. Oder wollte 
man auch an ihm den Zuſammenbruch der 
berühmt- berüchtigten deutſchen politiſchen 
Güte erweiſen, die einen Mephiſto zugleich 
mit dem Fauſt erlöſen möchte? 


Profeſſor Delbrück 


n den Erörterungen, die durch die Er- 
J klärungen des Reichskanzlers über Bel- 
gien hervorgerufen wurden, iſt ja reichlich 
viel politiſche Narrheit zutage gefördert wor- 
den. Aber den Preis, — ja den Preis ſpricht 
Graf Reventlow Herrn Profeſſor Hans Del- 
brüd zu, und wer wollte ihn der Ungerechtig⸗ 
keit zeihen, wenn er bewundernd zu der 
Leiſtung des Herrn Profeſſors emporſchaut? 

„In Erklärungen, die er dem Berliner 
Vertreter des ‚Neuen Wiener Journals“ ge- 
geben hat, ſagt der Herr Profeſſor u. a.: 
„Belgien iſt nicht bloß eine deutſche Frage 
und ein deutſches Intereſſe, ſondern iſt ein 
Weltproblem. Selbſt Amerika hat, wie 
wir nicht leugnen dürfen, das höchſte 
Intereſſe daran, daß Belgien unabhängig 
bleibt. Denn eine auch nur indirekte Herr- 


Auf der Warte 


ſchaft Deutſchlands in Belgien würde Frank- 
reich und England eine Stellung geben, 
daß man ſie nicht mehr als Großmächte 
betrachten könnte, und das wäre eine Situa- 
tion, welche die Welt nicht akzeptieren kann. 
Prof. Delbrück dürfte, wie ſchon manchmal, 
mit ſeinen Worten unſeren Feinden eine 
Freude machen. Er tritt ſo wacker für die 
angelſächſiſchen Mächte und gegen die 
Zukunft des Deutſchen Reiches ein, 
daß er einen warmen Händedruck des 
Fürſten Lichnowſky verdiente. Seine 
Sorge iſt: England und Amerika dürfen 
ihre Großmachtſtellungen nicht verlieren. So 
rührend dieſe Sorge iſt, fo töricht iſt fie als 
politiſcher Beweisgrund. Ein Belgien, felb- 
ſtändig im Innern, nach außen hin unter 
deutſchem Einfluß, ſichert dem Deutſchen 
Reiche Großmachtſtellung und Gleich- 
berechtigung in der Welt. Da Prof. Del- 
brüd der Anſicht iſt, daß ein gleichberechtigtes 
Deutſches Reich die angelſächſiſchen Mächte 
zu ſehr beeinträchtige, jo müſſen wir freilich 
verzichten. Ein abhäng iges Oeutſchland 
wird gewiß von allen Deutichen mit Freuden 
ertragen werden, wenn nur Belgien ‚un- 
abhängig“ wird, alſo unter den Einfluß unſerer 
Feinde gerät. Kurz, Herr Prof. Delbrück hat 
ſich einmal wieder ein Denkmal geſetzt. 

Nicht minder wertvoll iſt das, was er über 
die Vlamen ſagt: Sie brauchten uns am 
allerwenigſten Sorge zu machen: ‚Sie 
wären ja eine ganz elende Geſellſchaft 
und nicht wert, daß man für fie einen Finger 
krümme, wenn fie ſich bei fo günſtigen Be- 
dingungen nach dem Kriege nicht ſelbſt zu 
helfen imſtande wären.“ Wie ſchade, daß 
Prof. Delbrück nicht Vlame werden kann, 
um der elenden Geſellſchaft zu zeigen, wie 
ſie es machen ſoll!“ 

* 


Herr von Hintze 


in Außenſeiter, ſo umreißt ihn Georg 
Cleinow in den „Grenzboten“: noch 
dazu aus einem Reſſort hervorgegangen, das 
in erbittertſter Rivalität gegen das Auswärtige 
Amt durch ein Jahrzehnt und länger der 
auswärtigen Politik des Reiches die von 


Auf der Warte 


ſeinen Leitern als notwendig erkannte Rich- 
tung zu geben trachtete. Herr v. Hintze iſt 
von Haus aus Marineoffizier, der ſeine 
diplomatiſche Begabung ſchon als junger 
Flaggoffizier nachzuweiſen Gelegenheit hatte. 
Er wuchs auf und bildete ſeinen politiſchen 
Charakter an den poſitiven Aufgaben, die 
dem Admiralſtab und dem Reichsmarineamt 
ſeit Beginn der großzügigen und weitbliden- 
den Flottenpolitik Kaiſer Wilhelms des Zwei⸗ 
ten geſtellt waren. Das Auswärtige Amt 
hat eine ſolche Erziehung ſeinem jungen 
Nachwuchs im allgemeinen nicht angedeihen 
laſſen können. Der Charakter ſeiner Politik 
war dazu verdammt, paſſiv zu fein; es mußte 
die ſtarken Individualitäten unter ſeinem 
Nachwuchs unterdrücken und zurüddämmen, 
und nie iſt es darin rückſichtsloſer vorgegangen, 
als zur Zeit der Reichskanzlerſchaft des 
Fürſten Bülow. Dennoch wird der neue 
Chef manch eine hervorragende Kraft unter 
feinen Mitarbeitern finden und auch Charak- 
tere, wie ſie die Zeit benötigt. Es gilt, ſie 
zu finden und ihnen den ihnen gebührenden 
Platz anzuweiſen. Doch wie dem auch ſei: 
mit Herrn von Hintze zieht in jedem Falle ein 
neuer Geiſt in das alte Gebäude in der 
Wilhelmſtraße. Ob er darin wird heimiſch 
werden können, das hängt von der Art ab, 
wie er ſich und dem Amt die großen politiſchen 
Aufgaben ſtellt. Bleiben ſie wie bisher 


defenſiver Natur, und ſtehn ſie nicht im 


Einklang mit dem mächtigen Aufwärtsſtreben 
der Nation, das ſich in der Entwicklung 
unſerer induſtriellen und ſonſtigen Unter- 
nehmungsluſt ebenſo offenbarte wie ſeit 
vier Jahren in den gewaltigen Leiſtungen 
von Heer und Flotte, ſo wird auch Herr 
von Hintze nicht imſtande ſein, neues Leben 
in die Diplomatie zu bringen, und er wird 
ſich, wie ſeine Vorgänger, in Reſſortkämpfen 
und Parlamentsmiſeren zerreiben. Kann 
aber die Diplomatie freier als bisher und 
ungehindert durch die Berliner Stimmungen 
an die militäriſchen Erfolge anknüpfen, und 
ſich unbeirrt durch ſchwachherziges Philoſo- 
phieren und Aſthetentum der großen Auf- 
gabe, den diplomatiſchen Ring um uns zu 
zerbrechen, widmen, mit einem Vort, wird 


415 


Herr von Hintze die Kraft haben, Deutſchland 
durch die zwar noch enge Breſche zu führen, 
die Hindenburg und Ludendorff ſchon jetzt 
zur Freiheit geſchlagen haben, dann wird 
er auch der von uns allen erſehnte Mann 
am Steuer ſein, und in der Geſchichte der 
großen Politik des Deutſchen Reiches könnte 
dann vielleicht ein wichtiger Abſchnitt ſehr 
wohl heißen: von Bethmann zu Hintze. 


Propaganda ⸗WMiniſterium 


u der Forderung des Abgeordneten Heck- 
ſcher, ein Propaganda-Miniſterium zur 
Abwehr der engliſchen Lügenarbeit zu Schaffen 
(vgl. Heft 21, S. 425), wird der „D. T.“ ge- 
ſchrieben: 

Gar zu ſehr läßt ſich in der Tat die deutſche 
Regierung von dem Grundſatz leiten „qui 
s’excuse, s’aocuse“ oder „Schweigen iſt Gold, 
Reden iſt Silber“. Das iſt ein Standpunkt, 
der ſeine Berechtigung finden würde, falls 
deutſche Politik in der Welt bei der großen 
Mehrheit über allem Zweifel erhaben auf- 
gefaßt und Verſtändnis finden würde. Das 
iſt aber keineswegs der Fall. Vielmehr iſt 
die Verblendung und Subjektivität der Maſſen 
in allen feindlichen und manch einem neutralen 
Lande fo ungeheuerlich groß, daß die Behaup- 
tung nahe liegt, der Krieg wäre längſt 
zu Ende, ja hätte vor allem niemals 
dieſen Umfang angenommen, wenn 
die feindliche Propaganda nicht mit fo 
unerhört durchgreifenden Mitteln ge— 


arbeitet hätte. Somit iſt auch das Wort 


Dr. Heckſchers von der ſiegreichen engliſchen 
Feder nicht unberechtigt. Zweifellos hat die 
Entente, an ihrer Spitze England, trotz all 
der niederſchmetternden militäriſchen Miß 
erfolge, ſich in erſter Linie mit der Feder 
über Waſſer gehalten. 

Da heißt es endlich, ein Gegenmittel 
finden. Wie gegen die engliſche Blockade uns 
der U-Boot Krieg nicht erſpart bleiben durfte, 
jo gebietet die Stunde, geboten die Verhält⸗ 
niſſe ſchon längſt, den geiſtigen Kampf, 
den Propagandakrieg durchgreifend zu 
organiſieren und durchzuführen, wenn 
wir nicht um einen großen Teil der Früchte 


474 


unſerer Opfer, Leiden und Taten gebracht 
werden ſollen. .. Unſer Volk, das bereit- 
willigſt fo viel Kräfte für das Heer zur Ver- 
fügung geftellt hat, wird auch manchen Mann 
in den Dienſt der z. Zt. überaus wichtigen 
Stelle im Auswärtigen Amte hergeben, 
wenn damit erreicht wird, daß der Sieg, den 
wir auf den Schlachtfeldern erringen, auch 
auf den Kampf mit geiſtigen Waffen über- 


tragen wird. Für die derart erſehnte Aus- 


dehnung des Auswärtigen Amtes wäre wohl 
in erſter Linie die Schaffung eines Propa- 
ganda⸗Miniſteriums die erſprießlichſte Stütze 
und Entlaſtung, die Zeit und Stunde ge- 


bietet. 
* 


„Die Zeit des Bettelns iſt vor⸗ 
über“ 


en „Berliner N. Nachr.“ wird geſchrieben, 

daß jetzt auf allen Tagungen der Deut- 
ſchen Böhmens naturgemäß die Verord- 
nung über die Kreiseinteilung eingehend 
behandelt werde. „Dabei wird, der gefchicht- 


lichen Wahrheit entſprechend, hervorgehoben, 


daß die Verordnung den ſtaatlichen Inter- 
eſſen entſpricht und den Deutſchen keine 
Vorteile bringt. Vor allem ſteht ja noch 
gar nicht feſt, welcher Art die Beamten ſein 
werden, die an die Spitze der Kreiſe berufen 
werden ſollen. Immer wieder bricht die 
Stimmung der deutſchen Maſſen in den Ver- 
ſammlungen durch, die ein Redner in die 
Worte kleidete: ‚Die von den Deutſchen ge- 
brachten Opfer ſind ſo groß, daß es Pflicht 
der Regierung iſt, ſie anzuerkennen und die 
Forderungen der Deutſchen zu erfüllen. Die 
Zeit des Bettelns iſt vorüber.“ In der 
Tat iſt nicht daran zu denken, daß deutſche 
Abgeordnete ſich der Regierung ohne be- 
ſtimmte Gegenleiſtungen dieſer zur Ver- 
fügung ſtellen dürfen. Sie würden unbarm- 
herzig von ihren Wählern abgetan werden. 
Das wiſſen auch die Abgeordneten genau. Die 
Stimmung der Deutfchen iſt fo gereizt, weil 
fie erkannt haben, daß ihre bisherige Loya- 
lität ihnen nur zum Nachteil ausgefchla- 
gen iſt. Andererſeits nehmen die Ernährungs- 
verhältniſſe in Deutſchböͤhmen eine ſolche Ge- 


Auf der Warte 


ſtalt an, daß es unmöglich noch länger fo weiter 
gehen kann. Politiſche und Ernährungsfragen 
wirken alſo zuſammen.“ 

Auch die Ernährungsfragen werden aber 
für unſere deutſchen Brüder in Öfterreich 
weſentlich, wenn nicht entſcheidend, von den 
bekannten politiſchen Rüdfichten beſtimmt. 
Es wird nun alles darauf ankommen, daß ſie 
ihre Erkenntnis von dem „Dank“, den ſie für 
ihre Opfer geerntet haben, auch in Tat en 
umſetzen und ſich nicht wieder durch ſchöne 
Worte und leere Verſprechungen einfangen 
laſſen; daß fie rückſichts los auf ihren 
nationalen Forderungen ſtehen blei- - 
ben. Dann, aber nur dann werden ſie das 
große Wunder erleben, daß man auch in 
Wien anders kann, wenn man — muß. 

| Gr. 


Wie werden wir daſtehen? 


3 den „Berliner Neueſten Nachrichten“ 
veröffentlicht Eberhard Kraus eine Reihe 
von Aufſätzen über „Die Gefahren vom 
Oſten“. Manche ſeiner Betrachtungen ftim- 
men doch recht nachdenklich. „Wie werden 
wir daſtehen“, fragt er an einer Stelle, „wenn 
das allein die Einhaltung der bisher ab- 
geſchloſſenen Verträge verbürgende deutſche 
Schwert wieder in die Scheide geſtoßen 
iſt und die von ihm geſchnittene Frucht auf 
offenem, ungeſchutztem Felde liegen bleibt? 
Manches Verſäumnis, manches Ungeſchick in 
der Oſtpolitik iſt ja, dank dem Starrſinn und 
der Torheit unſerer Gegner, nachträglich auf 
allerhand merkwuͤrdigen Umwegen doch wie- 
der ausgeglichen worden. Einen ungewöhn- 
lichen Eindruck aber muß es doch auf alle 
unſere Nachbarn gemacht haben, daß wir 
die reiche Ernte unſerer Siege im Oſten, 
ſtatt ſie auf vollbeladenem Wagen in unſer 
Scheunentor zu fahren, erſt nach und nach 
auf kleinen Handwägelchen und Schubkarren 
heranbrachten und dann in Feimen längs 
der Umzäunung aufſtapelten. 

Wird unſer freies, friedliches Schaffen 
wirklich allein dadurch geſichert werden, daß 
wir unſere Umzäunung erweitern und in 
Geſtalt möglichſt ſelbſtändiger kleiner Puffer- 
ſtaaten Müll- und Paliſadenreihen gegen 


Auf der Warte 


den rieſenhaften Nachbar im Oſten aufrichten? 
Dann ſorgen wir vor allem doch dafür, daß 
die Paliſadenreihen nur nach außen und 
nicht auch nach innen ſtehen können! 
Ein kraftvolles, ſelbſtbewußtes Volk müßte 
für jede Gefahr eine Abwehr, für jeden 
Schaden ein Heilmittel finden können. Wir 
haben bereits Feinde wie Sand am Meer 
innerhalb wie außerhalb der Umzäunung 
und die bösartigſten und verbiſſenſten, die 
Tſchechen, ſitzen mitten im deutſchen Sprach- 
gebiet. Wer ſich freilich nicht dazu entſchließen 
kann, Schwären und Beulen zu beizen oder 
anzuſtechen, der wird ſich niemals von ihrem 
Gift befreien. Wir gewahren in hellem Ent- 
ſetzen, daß wir von allen benachbarten Völkern 
gehaßt, aber von keinem gefürchtet 
werden, oder vielmehr, daß die Furcht vor 
uns lediglich unſeren gewaltigen Kultur- 
ſchöpfungen, nicht etwa unſerer völkiſchen 
Entſchloſſenheit und Schlagkraft gilt. 


” A 
Für wen kämpfen wir? 


Ein. weitere nachdenkliche Betrachtung 
aus der genannten Aufſatzreihe von 
Eberhard Kraus: 

„Anjere vom ruſſiſchen Zoch erlöſten 
deutſchen Stammesbrüder haben in zahl- 
loſen Kundgebungen ihre Freude und Dank- 
barkeit zum Ausdruck gebracht. Von ihren 
Sorgen und Befürchtungen ſchweigen ſie. 
Welches iſt nun ihre größte Sorge? Daß in 
den neuentſtehenden Staatsgebilden unter 
deutſchem Schutz die Gefahr ihrer 
Entdeutſchung größer werden könnte 
als einft unter der zwar mißgünftigen, aber 
doch wiederum läſſigen Herrſchaft der Ruſſen. 
Daß eine ſolche Sorge ſich überhaupt feit- 
ſetzen und Boden gewinnen konnte, iſt wohl 
der beredteſte Beweis dafür, daß wir während 
des Weltkrieges eine Politik geführt haben, 
die nützlich für andere Völker, nützlich viel- 
leicht auch für den Geſamtbegriff Mittel- 
europa war, aber dem deutſchen Volke 
bisher noch keinen geſicherten Gewinn 
eintrug, ſondern eher neue Schwierigkeiten 
und Gefahren bereiten half. a 

Ein großer Teil unſerer Reihstagsmehr- 


475 


heit trägt mit an der ſchweren Sündenlaft 


der Verantwortung für dieſen unerfreulichen, 
ja widernatürlichen Verlauf der Dinge. 
Noch heute iſt der deutſche Bauer der beſte, 
der tüchtigſte Kulturpionier der ganzen Welt; 
denn der Tſcheche, der Pole, die mit ihren 
geringeren Bedürfniſſen, ihren urfprüngliche- 
ren Gewohnheiten gegen das Werk ſeiner 
Hände vordringen, ſind gar keine Koloniſten, 
ſondern bloße Landnehmer. Siedler und 
Befruchter iſt nur, wer ſich aus dem Nichts 
ein Neſt zu ſchaffen weiß, nicht wer ſich 
in ein fertiges hineinſetzt. Nun ge- 
winnen wir im Baltenlande endlich für an- 
ſiedelungsluſtige Deutſche einen dünnbevöl- 


kerten, ellenbogenfreien Raum, den die 


ruſſiſche Menſchenflut deshalb noch nicht zu 
überſchwemmen vermochte, weil der ruſſiſche 
Bauer in den vorgeſchrittenen Wirtſchafts- 
formen des Abendlandes nicht zu beſtehen 
vermag. Die letzte Stunde zur Ausbreitung 
unſeres Volkstums in Europa hat geſchlagen; 
laſſen wir ihren mahnenden Klang ungenutzt 
verhallen, dann fällt die Wachstums- 
ſperre wie ein eherner Schlagbaum für 
immer dröhnend vor uns nieder. Und doch 
gibt es deutſche Volksvertreter, Gelehrte, 
Tagesſchriftſteller, die keinen ſehnlicheren 
Wunſch haben, als dieſe blutig erkämpften 
Gebiete wieder in die Mordbrenner- 
fäuſte ruſſiſcher Anarchiſtenhorden zu- 
rückzuliefern. Wie würde ſolchen Leuten 
wohl. in England, Frankreich, Italien mit- 


geſpielt werden!“ 
2. 


Die Folgerichtigkeit der deut⸗ 
ſchen Staatskunſt 


an denke daran, erinnert die „Deutſche 
Zeitung“, wie ſorgfältig das Deutſche 

Reich darauf bedacht war, auch nur den An 
ſchein zu vermeiden, als ob die Geſchicke 
der deutſchen Volksgenoſſen in Öfter- 
reich- Ungarn es irgend etwas angingen. 
Das Verbleiben des rumäniſchen Königs- 
hauſes wurde von Czernin-Kühlmann zu 
einer inneren Angelegenheit Rumäniens 
erklärt, in die ſich die Mittelmächte nicht ein; 
zumiſchen hätten. Dagegen bemerkt die 


476 


„Norddeutſche Allgemeine Zeitung“ vom 
8. Mai 1918 zu dem Zudenparagraphen 
im deutſch- rumäniſchen Friedens vertrag,, die 
Mittelmächte hätten es für ihre kulturelle 
Pflicht gehalten, dieſe Frage verbindlich zu 
löſen; der bisherige Zuſtand habe ſich weder 
mit den zntereſſen Rumäniens noch mit 
den Forderungen der im Oſten Europas 
durch den Krieg heraufgeführten neuen 
Zeit vertragen.“ 

Die bethmann“-halboffiziöſe „Frankfurter 
Zeitung“ (Nr. 353) ſchrieb ſchon am 21. De- 
zember 1916 in einer Reihe vielbeachteter 
Kriegszielaufſätze: eins der Ziele im Oſten 
ſei ein „geſichertes“ Rumänien. Die Siche- 
rung Rumäniens hat als erſte Voraussetzung 
zu erfüllen „die Vollendung der Bauern- 
befreiung und die Neuregelung der Rechte 
der „Fremden“ in Rumänien“. „Die Frage 
des Fremdenrechts deckt ſich faſt mit der 
Frage der Zuden.“ 

Die beſondere Feinheit dieſer kühlen deut- 
ſchen Staatskunſt wird erſt deutlich, wenn 
man die Zudenpolitik der deutſchen Staats- 
männer in Polen damit vergleicht. In 
Polen wollen die dortigen Zuden nicht nur 
Gleichberechtigung als Staatsbürger, fon- 
dern Anerkennung als eigene Nation; mit 
Recht; ſie bilden dort eine ſcharf abgeſonderte 
Nation unter der übrigen Bevölkerung. Die 
polniſchen Zuden begrüßten den Einmarſch 
der Deutſchen mit großer Freude, und ihre 
Anerkennung als Nation hätte uns einen zu- 
verläſſigen Bundesgenoſſen und ein Gegen- 
gewicht gegen die deutſchfeindlichen Polen ge- 
ſchaffen. Aber die Abgeſandten des Herrn 
v. Bethmann predigten den polniſchen Juden 
als deutſcher Weisheit letzten Schluß, ſie möch- 
ten ihre Träume von einer eigenen Nationali- 
tät ſchleunigſt aufgeben und ſich der bürger 
lichen Gleichberechtigung würdig zeigen, in- 
dem ſie zu überzeugten Polen würden. 
Die offiziöſe deutſche Judenpolitik erfüllt 
alſo die Wünſche der Juden, wo fie Oeutſch- 
land ſchaden, und erfüllt ſie dort nicht, 
wo fie Oeutſchland nützen können; ſie ent- 
behrt inſofern nicht einer gewiſſen Folge- 
richtigkeit. 


** 


Auf der Warte 


Ein weltwirtſchaftlicher Genera⸗ 


liſſtsmus | | 


M dem üblichen Tamtam melden die 
Pariſer Blätter eine neue Großtat 
des Präſidenten Wilſon. Um die Kriegs- 
anſtrengungen des Verbandes unter Führung 
der nordamerikaniſchen Union und Englands 
wirkſamer zu geſtalten, hat Wilſon einen 
Oberleiter ſämtlicher Kriegsinduſtrien der 
Vereinigten Staaten ernannt und ihn mit 
dem Oberbefehl über alle induſtriellen Kräfte 
betraut. Dieſer neue Mann ſoll weitgehende 
Vollmachten zur Regelung der Erzeugung 
und Feſtſetzung der Preiſe aller notwendigen 
Waren auch für den Bedarf des bürgerlichen 
Lebens erhalten. In der ganzen Weltwirt- 
ſchaft würden dadurch Umwälzungen hervor- 
gerufen werden, wie ſie noch nicht dageweſen 
ſeien. Denn der neue weltwirtſchaftliche 
Generaliſſimus werde nicht nur in den Ver- 
einigten Staaten von. Nordamerika Erzeu- 
gung und Ankauf regeln, ſondern als Ver- 
treter von 26 Regierungen alle Geſchäfte in 
allen Teilen der Erde, abgeſehen von dem 
Gebiet der Mittelmächte, zentraliſieren. 

Der neue Generaliſſimus, ein Günftling 
Wilſons, iſt der Neuporker Börſenmakler 
Bernard M. Baruch, der Anfang 1916 
bedenklich von ſich reden machte, als ſich 
herausſtellte, daß gewiſſe Neuyorker Börſen⸗ 
ſpekulanten durch ihre vorzeitigen Kennt- 
niſſe von Wilſons damals bevorſtehender 
Friedensnote große Beträge verdient hatten. 
Die Empörung darüber war ſo weitgehend, 
daß auf Antrag des Kongreßmitgliedes Word 
eine Unterfuhung über die Vorgänge an der 
Börfe und über die Beziehungen führender 
Börſenleute zum Präſidenten Wilſon und 
feiner Umgebung eingeleitet wurde. Da- 
mals geſtand der Börſenmakler Baruch, daß 
er an der Börje zwiſchen dem 10. und 23. 
Dezember 1916 zwei Millionen Mark ge- 
wonnen habe, weil er Papiere verkaufte, als 
die Friedensrede des Herrn von Bethmann 
Hollweg erſchien. Varuch beſtritt zwar, vor- 
zeitig Kenntnis von Wilſons Friedensnote er- 
halten zu haben, doch wurden feine vertrau- 
lichen Beziehungen mit den leitenden Diplo- 


Auf der Warte 


matiſchen Kreiſen in Waſhington feſtgeſtellt. 
Nach ſeiner Kriegserklärung ernannte Wilſon 
den Börjenmaller Baruch zum Leiter des 
ſtaatlichen Ausſchuſſes für Rohſtof fe, Erze und 
Metalle, und nunmehr ſoll dieſer Spekulant 
als weltwirtſchaftlicher Generaliſſimus für 
26 Regierungen den angekündigten Wirt- 
ſchaftskrieg gegen die Mittelmächte vor- 
bereiten! P. D. 


** 


Kleiſts Grab und Franzoſen⸗ 
gelder 


u den peinlichen Begleiterſcheinungen der 

Aufführung von Molieres „Bürger als 
Edelmann“, die Herr Reinhardt im ver- 
floſſenen Winter zu veranſtalten für eine un- 
abwendbare nationale Pflicht hielt, gehörten 
auch die wahnwitzig hohen Preiſe, die dem 
Publikum am Abend der erſten Aufführung 
abgefordert wurden. Im vierten Fahre des 
engliſchen Hungerkrieges ſollten in den erſten 
15 Parkettreihen 30 Mark für den Platz, in 
den hinterſten, die ſich im Dunkeln unter 
dem übergebauten erſten Rang verlieren, 
immer noch 20 Mark bezahlt werden. Man 
fragte ſich befremdet, ob Herr Reinhardt 
wirklich nur mit den Kriegsgewinnlern des 
plutokratiſchen Weſtens rechnete und ob es 


empfehlenswert ſei, daß eine wenigſtens 


äußerlich vornehme Bühne dem Kriegs- 
wucher einen Billettwucher an die Seite ſetzte. 
Daß die Phantaſiepreiſe zu allem übrigen für 
ein franzöſiſches Stück gefordert wurden, 
vermochte die Bitterkeit der ganzen An- 
gelegenheit ſelbſtverſtändlich nur zu erhöhen. 
Moliere iſt gewiß nicht ohne Grund ein be⸗ 
rühmter Dichter; gerade dieſes Stück aber ift 
veraltet und dem lebenden Geſchlecht voll- 
kommen gleichgültig. | 

Das Befremden des urteilsfähigen Pu- 
blitums, das am Abend der erſten Auf- 
führung allgemein war, ſcheint ſich am 
nächſten Tag auch der Direktion mitgeteilt zu 
haben. In einer Notiz, die zur Beruhigung 
an die Preſſe verſandt wurde, las man, daß 
die unglaublichen Billettpreiſe lediglich aus 
einem ſchönen Gefühl der Pietät gefordert 


477 


worden ſeien. Mit den auf dieſe Weiſe er- 
zielten Überjhüffen wolle Herr Reinhardt 
dem Kleiſtgrab in Wannſee eine dauernde 
Pflege angedeihen laſſen. Wer an dem frag- 
lichen Abend blutete, blutete alſo nicht zu- 
gunſten ſchnöder Gewinnſucht, ſondern aus 
fehr ehrenwerten literarhiſtoriſchen Gründen. 
Ob dieſe nachträgliche geiſtvolle Erklärung 
für die ſchmerzvoll Betroffenen ein linderndes 
Pflaſter geweſen iſt, wiſſen wir nicht, be- 
ſtimmt aber wiſſen wir, daß fie von der Ber- 
liner Preſſe niemals fo kritiklos hätte hin- 
genommen werden dürfen, wie es leider der 
Fall geweſen iſt. 

Zunächſt: Wenn Herr Reinhardt einem 
einzelnen Theaterbeſucher dreißig Mark oder 
zwanzig Mark zugunſten des Kleiſtgrabes 
abfordert — — warum ſagt er das nicht 
gleich? Die literarhiſtoriſche Abſicht wäre 
für ihn doch ſo etwas wie eine Empfehlung 
geweſen und ſelbſt die intimſten Freunde 
dieſes betriebſamen Mannes pflegen einzu- 


räumen, daß er ſich eine Gelegenheit der 


Selbſtempfehlung ſo leicht nicht entgehen 
läßt. Warum alſo bringt er ſich in den un- 
angenehmen Verdacht, daß die Beſucher 
ſeinem Privatſäckel dienen, während fie tat- 
ſächlich dem Kleiſtgrab in Wannſee eine 
Ehrung erweiſen? Warum erfuhr man von 
den edlen Abſichten erſt etwas, als am anderen 
Morgen die lauwarmen Rezenſionen bereits 
vorlagen und die Durchführung der fenfatio- 
nellen Preiſe unmöglich erſchien? Warum 
mußte die philanthropiſche Erleuchtung in ſo 
peinlicher Weiſe mit der ſinkenden Geſchäfts- 
konjunktur zuſammenfallen? Der Laie wird 
nie verſtehen, daß eine Bühne vom Rang des 
Deutſchen Theaters nicht ſofort am Abend der 
erſten Aufführung ihre literarhiſtoriſche Men- 
ſchenfreundlichkeit dem ergriffenen Publikum 
enthüllte. 

Selbſt aber wenn man loyal annehmen 
will, daß das Deutſche Theater von Anfang an 
von der genannten edlen Abſicht beſeelt war, 
ſteht man vor einer überaus peinlichen Situa- 
tion. Wenn der Leiter eines Theaterbetriebs, 
in dem Willionen feſtgelegt ſind, wirklich für 
die Pflege des Kleiſtgrabes etwas zu tun 
wünſcht, ſoll er freundlichſt ſeine Hände in die 


478 


eigene Taſche ſtecken. Eine Pietät, die das 
Publikum brandſchatzt, um ein Dichtergrab 
zu pflegen, hat einen ſonderbaren Bei- 
geſchmack. „Seht, wie ich Kleiſt liebe“, ſagt 
Herr Reinhardt, „ich verſchenke zu ſeinen 
Gunſten die Gelder, die ich vorher anderen 
abgenommen habe.“ Soll es in der Ber- 
liner Preſſe wirklich Sitte werden, derartige 
Taktloſigkeiten ohne Widerſpruch paſſieren 
zu laſſen? 

Vor allem aber: Hat niemand die Läſt e- 
rung empfunden, die darin liegt, daß Kleiſts 
Grab aus den ſenſationellen Preiſen eines 
franzöſiſchen Stückes gepflegt werden ſoll? 
Hat darum Kleiſt die „Hermannsſchlacht“ 
gegen das Franzoſentum geſchrieben, daß 
man ihm Kränze franzöſiſchen Urſprungs 
aufs Grab legt? Hat er ſeinem wilden Haß 
gegen Paris nur Worte geliehen, um jchließ- 
lich unter die Patronage eines Pariſer Dich- 
ters geſtellt zu werden? Uns will ſcheinen, 
als ob dieſe Kleiſtehrung einer Blasphemie 
zum Verwechſeln ähnlich ſehe und darum 
möchten wir fie nicht ohne Widerſpruch hin- 
gehen laſſen. Das nationale Taktgefühl der 
Berliner Direktoren iſt ſo wie ſo nicht ſtark 
entwickelt. Schweigt die Preſſe bei jo pein- 
lichem Anlaß, können wir leicht eine völlige 
Verwirrung der Begriffe erleben. 

E. Schl. 


* 


Aug’ um Auge, Zahn um Zahn 
B': den Naſſeverhältniſſen in unſerer 

deutſchen Preſſe ſollte man eigentlich 
erwarten, daß wenigſtens bei ihr dieſe alt- 
teſtamentliche Loſung ausgiebig befolgt würde. 
Es ſcheint aber nur für innere Politik zu 
gelten. Wo es gegen Deutſche geht, gibt es 
keine Schonung. Anders liegt der Fall, wenn 
es ſich um unſre Herren Feinde handelt. Da 
wird eine Schonung und Zurückhalutng ge- 
übt, die von unſerem Volk längſt nicht mehr 
begriffen oder, was viel ſchlimmer iſt, gründ- 
lich mißverſtanden wird. Der „Türmer“ hat 
jo oft auf das Gefährliche dieſer Haltung hin- 
gewieſen, daß er des ſteten Wiederholens 
begreiflicherweiſe müde wird. Aber dann 


Auf der Warte 


zeigt irgendeine Zuſchrift, daß auch in dieſem 
Schuͤtzengrabendienſt das zähe Durchhalten 
oberſte Pflicht iſt. So liegt mir ein Brief vor, 
in dem ein im Lazarett liegender Krieger 
ſeinem Herzen Luft macht: „Unſere Gegner 
führen ihren Preſſefeldzug nicht, weil ſie die 
Deutſchen wirklich für Barbaren halten, 
ſondern weil ſie ſicher ſind, allmählich auf die 


Deutſchen ſelbſt Eindruck zu machen. Um 


jo mehr, als bei uns die Abwehr ſehr unzu- 
länglich und lau geführt wird. Wenn bei 
uns heute viele Leute daran glauben, daß 
wir am Kriege ſchuld ſind, liegt es nur daran, 
daß bei uns die ſchlau berechneten Reden 
der Gegner lang und breit ohne jede eigene 
Bemerkung abgedruckt werden. Auch daß 
viele unſerer Arbeiter meinen, es wäre für 
ihr Auskommen gleichgültig, ob ſie deutſch 
oder engliſch wären, beruht auf der von der 
Preſſe verſchuldeten Unwiſſenheit. Unſere 
Preſſe beſchuldigt zwar oft unſere Regierung, 
in der Abwehr der Feinde nicht ſcharf genug 
zu ſein; ſie verabſäumt trotzdem ihre Pflicht, 
nun erſt recht in die Breſche zu treten. Im 
Gegenteil: wie ernſthaft werden alle die 
Phraſen wiedergegeben und beſprochen, mit 
denen unſere Feinde ihre einzige wahrhafte 
Abſicht bemänteln, das deutſche Volk zu ver- 
nichten. Wie wenig werden die Gelegen- 
heiten ausgenutzt, dieſe Verlogenheit unſerer 
Gegner gebührend vor aller Welt zu brand- 
marken! 

Vor allem aber, welche Schwäche in der 
tatſächlichen Abwehr der feindlichen Maß⸗ 
nahmen! Da wird gegen das deutſche Volk 
ein erbarmungsloſer Aushungerungskrieg ge- 
führt. Die zehn Millionen feindlicher Ein- 
wohner im beſetzten Gebiete Belgiens und 
Nordfrankreichs wiſſen nichts von Hunger. 
Es werden ihnen Nahrungsmittel zugeführt 
und fie dürfen ihren Boden für ſich ausnutzen. 
Warum nimmt Oeutſchland für ſich nicht 
wenigſtens die Hälfte?! Wie es unſere Feinde 
halten wurden, ſieht man an ihrem Benehmen 
gegen die Neutralen.“ — 

Ich weiß nicht, ob die Bewohner der be- 
ſetzten Gebiete ſo ganz von Not frei ſind, wie 
der Briefſchreiber annimmt. Aber ich bin 
überzeugt, England wäre im gleichen Falle 


Auf der Warte 


mit Belgien folgendermaßen verfahren. Es 
hätte ſeinem Feinde erklärt: Du ſuchſt mich 
mit allen Mitteln auszuhungern. Ich befinde 
mich dagegen in der Notwehr. Ein Hilfsmittel 
iſt für mich die Vermehrung des bebauungs- 
fähigen Landes und die Verminderung der 
Eſſer. Ich ſtelle eine Friſt von drei Tagen. 
Wird innerhalb derſelben die Blockade nicht 
aufgehoben, die Einfuhr von Lebensmitteln 
für meine Zivilbevölkerung nicht freigegeben, 
bin ich gezwungen, Belgien von feiner Be- 
wohnerſchaft gewaltſam zu räumen und dir 
dieſe Millionen zur weiteren Verköſtigung 
auf deinem Boden zuzuweiſen. Belgien 
ſelbſt brauche ich für mich. Goddaml, dieſe 
Sprache würde drüben verſtanden werden. 
St. 


Verpöbelung 


s war vorauszuſehen, daß der rieſige 
Gelderfolg der Schändung Schuberts 
im „D reimäderlhaus“ alle Schmeißfliegen 
des Geſchäftslebens gierig nach ähnlicher 


vogelfreier Beute äugen laſſen würde. Das 


Kino zumal darf ſich da nicht lumpen laſſen. 
Schon iſt ihm der „Parſifal“ zum Opfer ge- 
fallen, nachdem zuvor Wagner ſelbſt herum 
gezerrt worden iſt. Jetzt hat auch Beethoven 
daran glauben müſſen. Ein Antündigungs- 
blatt fanfart in großen Tönen: 

„Der Film erfüllt immer mehr feine Auf- 
gabe, Gegenwart und Vergangenheit im 
Lichtbilde feſtzuhalten. So ſtellt ein in Wien 
aufgenommenes Filmdrama ‚Der Mär- 
tyrer feines Herzens“ den großen Ton- 
heros Ludwig van Beethoven in den Mittel- 
punkt einer Handlung, die treffend als Beet- 
hovens Lebensroman bezeichnet wird. Der 
Film, der von dem bekannten Wiener Schrift- 
ſteller Emil Kolberg verfaßt und von dem 
renommierten Regiſſeur Emil Zuftig — wir 
nennen abſichtlich die Namen dieſer edlen 
„Künſtler“. O. T. — inſzeniert wurde, hält 
die trauten hiſtoriſchen Stätten des alten 
Wien im Bilde feſt und zeigt uns neben 
Beethoven auch ſeine Zeitgenoſſen Haydn, 


479 


Schubert und andere in verblüffend porträt- 
getreuen Masken. Auch Beethovens ‚un- 
ſterbliche Symphonie“ erſcheint im Film, 
der in eine ergreifende Apotheoſe ausklingt, 
der das Thema ‚Seid umſchlungen Millionen‘ 
zugrunde liegt. Beethoven ſelbſt wird von 
Fritz Kertner von der Volksbühne dargeſtellt. 
Der Film, der, was Ausſtattung, Inſzenie⸗ 
rung, Darſtellung und photographiſche Aus- 
führung anbelangt, die heimiſche Induſtrie 
auf einer ſtaunenswerten Höhe zeigt, dürfte 
eines der größten künſtleriſchen Ereigniſſe 
dieſes Jahres werden.“ ö 

Wollen die Behörden denn nicht endlich 
gegen dieſe Schändung heiligſten Herzens 
beſitzes unſeres Volkes vorgehen? Zede 
kleine Beleidigung des Angehörigen eines 
dynaſtiſchen Hauſes wird ſtrafrechtlich ver- 
folgt. Sind dieſe Majeſtätsbeleidigungen der 
Herrſcher im Reiche des Geiſtes nicht ſchlim⸗ 
mer?! Jede Verhöhnung einer religiöſen 
Einrichtung wird beſtraft! Iſt unſere Ver- 


ehrung des Großen und Heldenhaften nicht 


ein ebenfalls heiliger Volksbeſitz? Jeder 
Meyer, Müller und Schulze, der da noch 
atmet im roſigen Licht, wird gegen die Hervor- 
zerrung, geſchweige denn gegen die Ver⸗ 
zerrung und Verleumdung feiner Lebens- 
führung geſchützt. Sollen bloß die Edleſten 
und Beſten unſeres Volkes von jeder ſchmutzi⸗ 
gen Hand betaſtet, jeder dergeilten Phantaſie 
verſchmuddelt werden dürfen?! Wie fümmer- 
lich wirkt alles Gerede von Kunſtpflege in 
Parlamenten und Kultusminiſterien, wenn 
ſich keine Hand hebt gegen die geldgierigen 
Tempelſchänder! K. St. 


* 


Der heilige Snob 


&; ſcheint in dieſem Kriege fo unſterblich, 
wie der heilige Bure aukratius. Wir haben 
doch die ſtrenge Papierverteilung, dank der 
manches ernſte Werk nicht erſcheinen kann. 
Aber ſeinem heiligen Vetter Snob tut St. 
Bureaukratius natürlich nichts zuleide. Zeuge 
deſſen einige neue Zeitſchriften, die im Krieg 
überhaupt erſt entſtehen konnten. Ich will 


480 


nicht Partei ſein und zitiere deshalb die „Neue 
Zürcher Zeitung“: „Man hätte gedacht, fol- 
chen literariſchen Unternehmungen blühe jetzt 
der Weizen nicht mehr. Zeitſchriften von ver- 
ſchwenderiſcher Fülle, von makelloſem Papier. 
Auf herrlichen Flächen werden mit den fchön- 
ſten Lettern Gedichte zelebriert. Nie hat ſich 
die Kunſt koſtbarer zu geben gewußt. Ein 
Jahrgang des „Marſyas koſtet nur fechs- 
hundert Mark. Wer wagt ſolche Griffe in 


die Börſe, als jene Reichen, von denen Franz 


Blei ſpricht, ‚die, wo was zum Hängen lieben“ 
und nun auch gerne was hinlegen möchten? 
Es iſt alſo die Zeitſchrift der Kriegsgewinner, 
und wie man's auch deute, Dichter, wie Karl 
Sternheim, veräußern ſo ihre geiſtigen Werke 
an die Geſellſchaftsſchicht, die ſie ſeit dem 
„Snob“ andauernd ſchildern. Die Geſchichte 
des Emporkömmlings iſt ja zweifelsohne jetzt 
die fette Weide für Darſteller vom Schlage 
Sternheims. Wollen aber dieſe Dichter, die 
ſo ſehr mit ihrer geiſtigen Sendung prahlen, 
ihren Beruf üben, für viel Geld ihren Ab- 
nehmern den verdienten Spiegel vorzu- 
halten? Ein gefährlicher Spiegel für die 
Dichter ſelber. — In München iſt ſoeben das 
erſte Heft einer Zeitſchrift ‚Die Dichtung‘ 
erſchienen. Im Grunde hat auch ſie keine neue 
Phyſiognomie, als daß ſie in der Zeit der 
Papiernot den Geiſt durch den Papierprunk 
betont. Feierlicher und ernſter kann ſich der 
Dichter nicht nehmen als hier. Damit ſei 
nicht gejagt, daß nicht ernſte literariſche Ge- 
ſinnung dieſe Blätter beherrſcht, aber auch 
dieſe Zeitſchrift erweckt den Eindruck eines 
ſehr jungen Luxus, der die Vornehmheit 
edler Einfachheit nicht erlernen kann.“ 
St. 


* 


Zur Strecke gebracht 


ein, es iſt kein fröhliches Halali, das durch 

den Blätterwald hallt. Man muß das 
Gehör dafür bekommen haben, um zu merken, 
wie die hundert Einzelſtimmen im Grunde 
zu einem Triumphorcheſter zuſammenklingen. 


Auf der Warte 


Sie haben es wieder einmal erreicht, wie ſie 
es immer erreichen, und Michel merkt es nicht 
oder hilft am Ende gar noch mit, um ja nicht — 
wie ſagte doch Goldſtein! — antiſemitiſch zu 
erſcheinen. Der Direktor des Wiener Burg- 
theaters iſt gefallen. Er war von der „maß- 
gebenden“ Preſſe verurteilt, ſeitdem er es 
gewagt hatte, ſich zur chriſtlich- germaniſchen“ 


„Weltanſchauung zu bekennen. Seither war 


die Meute hinter ihm her und verbellte, was 
er tat oder nicht tat. Zm Waldgebiet des 
juͤdiſch⸗deutſchen Parnaſſes iſt ein „chriſtlich⸗ 
deutſcher“ Theaterdirektor Freiwild. 

Vor mir liegt der (nicht an mich gerichtete) 
Brief einer Dame der Wiener Geſellſchaft: 
„Die jüdiſche Preſſe hat ein Jahr lang gegen 
Millenkovich in der gemeinſten Weiſe gehetzt 
und gefhürt. Jedes Stück, das er angenom- 
men hatte, mußte durchfallen. Endlich iſt's 
erreicht — Millenkovich gibt feine Demiſſion, 
die ſofort angenommen wird. Jetzt gehen die 
gemeinſten Artikel durch die Blätter. Als 
Vereinsmeier und Wirtshausbrüderl wird er 
behandelt, jeder Schimmer von Rünftlertum 
wird ihm abgeſprochen, — nun iſt er ja ge- 
gangen. Das genügt aber dieſen Zeitungs- 
helden nicht. Sie werfen ihm nach, was ſie 
finden; die Artikel nehmen kein Ende. Zetzt 
heißt es: er iſt nicht freiwillig gegangen, er 
mußte gehen. — Und keine Stimme er- 
hebt ſich für den Mann, der doch vormals fo 
beliebt war. Alles drängte ſich zu feinen Vor; 
trägen, — er war als Menſch beliebt.“ 

Das iſt der ſpringende Punkt: keine 
Stimme erhebt ſich für den Mann. Jetzt 
nicht für den Geſtürzten, aber vorher auch 
nicht für den noch auf ſeinem ausgeſetzten 
Poſten Stehenden. Es fehlt bei uns die 
Zivilcourage. Wenn alle jene, die ſich nach 
Blut und Weltanſchauung zur chriſtlich; 
germaniſchen Kunſt hingezogen fühlen müßten, 
auch offen und mutig dazu bekennen wür- 
den, jo könnten die Maulwürfe noch fo viel 
wühlen und nagen. Wir könnten ihrer 
lachen, ſo freilich ſind ſie ihres Erfolges 
immer ſicher. St. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Runft und Muſik: Dr. Karl Store 
Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Berlin (Wannſeebahn) 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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Herausgeber: J. C. Freiherr von Grotthup 


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sum 


ZI. Jahrg. Erftes Septemberheft 1918 2. Belt 23 5 


Die Wohlweislichen 
Von H. Schäff 


nter denen, die umgehen in verſchiedenſter Geſtalt, unſer Volk zu 
S verwirren und zu veruneinigen, ſind auch die Verehrer und Ver- 
breiter der Wohlweisheit, es ſind jene, die die Armut ihres Wollens 
und Könnens hinter einem überragenden Standpunkt verbergen und, 
indem ſie ſich der Höhe des Himmels nahezu gleichſtellen, mitleidig herabſehen 
zu dürfen glauben auf Tag und Stunde und auf alles, was ſich den Bedürfniſſen 
des Zeitlichen und Räumlichen verpflichtet fühlt, und ſie ſagen, wir ſeien allzumal 
Schuldner und hätten die jetzige Weltkataſtrophe gemeinſam verdient. Gewiß iſt 
kein Volk ſo makellos, auch das anſtändigſte nicht, um ganz außer Vergleich mit 
den andern geſtellt und vom Schickſal ausgenommen zu werden. Auch das unſrige 
nicht. Denn obwohl die Raffenfeele unſrer Gegner einen augenſcheinlichen Nieder- 
gang in ſich aufweiſt, läßt ſich doch zu ihrem Lobe nicht Weniges ſagen. Wenn auch 
nicht ihre Geld- und Ländergier, fo haben doch ihre Vaterlandsliebe, ihr nationales 
Ehrgefühl, ihr Glaube an den Sieg ihnen bewunderungswürdige Kräfte verliehen 
und fie uns zu überraſchenden Gegnern gemacht. Sie biſſen im Dulden und Aus- 
harren die Zähne zuſammen und ihr Inſtinkt, von dem wir noch viel zu lernen haben, 
ließ ſie nicht vergeſſen, daß man dem Feind ſein Herz nicht verraten darf. 


* * 
* 


1 


2 


Oer Türmer XX, 25 


482 | Schüßf: Die Woßlweislichen 


Wir ſind allzumal der Sterblichkeit und ihrem Tribut untertan, und kein 
Deutſcher, der unbefangen denkt, wird unſer Volk dort ſchadlos halten wollen, 
wo ihm ſein gerütteltes Maß verdientermaßen zukommt, gleich all den andern. 
Zieht man aber auf allen Seiten die gemeinſamen Verfehlungen ab, ſo bleibt 
doch vom Soll und Haben für uns Oeutſche ein Überſchuß, der uns außer Zweifel 
ſetzt, weshalb wir nicht bloß gegen uns ſelber, ſondern auch gegen eine ganze Welt 
um uns her und zwar ohne Phariſäertum kämpfen dürfen und zu kämpfen haben. 


Nun fagen die Wohlweislichen, es handle ſich in dieſem Weltringen nicht 
um einen Zweikampf zwiſchen Beſſer und Schlechter, ſondern lediglich um einen 
Zuſammenſtoß von Intereſſen. Eine ſolche Gleichſtellung der Gegenſätze verrückt 
aber den Schwerpunkt der Wahrheit ins unwahre. Mit dem dogmatiſchen Sprüd- 
lein vom allſeitigen Unrecht, welches dies Mehr oder Winder nicht berühre, ift 
es nicht getan. Dieſer Unterſchied kann nur zugunſten unſrer Widerſacher gering- 
ſchätzig übergangen werden. Es will auch nicht viel heißen, daß unſre Wohlweislinge 
zwar einen gewiſſen Unterſchied zwiſchen hüben und drüben gelten laſſen, wenn 
ihnen dieſer Unterfchied fo unweſentlich erſcheint, daß fie ihn nicht der Mühe wert 
finden, ihren grundſätzlichen Abſtand aufzugeben und ihren Platz innerhalb des 
Geſchehens auf jener Seite einzunehmen, wo, wie ſie ſelbſt zugeben, ein kleineres 
gegen ein größeres Übel im Streite liegt. In Wirklichkeit ift dieſer Unterſchied 
groß genug, um auch die erhabenſten Ausflüchte zu entwaffnen. Mögen die Rämp- 
fenden es alleſamt verdient haben, nicht leichten Kaufes von dieſer Weltkataſtrophe 
loszukommen — und dieſer Krieg hält ja auch alle mit eiſerner Fauſt feſt —, ſo 
iſt doch eines unbezweifelbar: die Sache, die wir zu verfechten haben, iſt eine beſſere. 
Und um ſo unverzeihlicher iſt es von uns, wenn wir ihr nicht jene Entſchloſſenheit 
und Selbſtüberwindung leihen, die unſre Gegner ihrer ſchlechteren Sache zu ſchenken 


wiſſen. 1 4 


* 


Die Wohlweisheit hat aber noch einen weiteren Trumpf in den Händen, 
indem fie mit dem Anerforſchlichen Geſchäfte zu machen ſucht, indem fie ausruft, 
es komme doch alles, wie es kommen werde: deshalb ſei es das Beſte, nichts zu 
wollen und ſich vor jedem Uberſchwang der Seele und allen Verſuchungen des 
Gehirns fern zu halten. Ein ſchlaues Verſteckſpiel fürwahr, um die eigene Nichtig- 
keit zu verhüllen. Wohl vermag auch das lebendigſte Rechtsbewußtſein nicht vor 
den dunkeln RNatſchlüſſen des Himmels zu ſchützen. Wohl muß dem Unerforſch- 
lichen gegenüber nicht nur der Einzelne, ſondern auch ein ganzes Volk auf die 
Irrationalität des Geſchehens gefaßt fein. Kein Volk, und fei es auch das nach- 
denklichſte, beſitzt ſich genug und kennt den Wert, den es in den Augen der Vor- 
ſehung einnimmt. Mögen wir uns im Vergleich mit andern für noch ſo viel beſſer 
halten dürfen, wer weiß denn, ob unſer Mehr dem Einſatz entſpricht, den die Ent- 
wicklung der Dinge zur gegebenen Friſt benötigt? Sind wir doch in der Hand der 
Allmacht nur das Mittel eines unüberſehbaren Weltvorgangs, vor dem keine noch 
ſo naheliegende Selbſteinſchätzung bewahrt. Das darf uns aber nicht hindern, 
den uns zugewieſenen Platz einzunehmen, um ihm auf jede Möglichkeit hin gerecht 


Bauer: Beftärtung 483 


zu werden. Mag auch alles in der Hand des Geſchehens ſchon vorherbeſtimmt fein, 
mag keinerlei Recht und Aufwand vor Fehlſchlägen bewahren, ſo erlaubt doch dieſe 
Einſicht niemanden, ſich von den Grenzen unſrer Menſchlichkeit zu entfernen, 
welche vor allem die Grenzen unfres Volkstums und unfres Blutes find. Und in 
dieſem natürlichen Ausmaß, das unfre beiten Kräfte birgt, heißt es ſich halten und 
entfalten, wie immer auch die Würfel fallen. Das iſt jenes Lebensgeſetz, welches 
Glauben und Treue verlangt, ſobald es den Namen Vaterland trägt. 
* * 

Alles, was das Daſein der Welt und alle ihre Anforderungen von uns wollen, 
iſt letzterhand doch nicht dieſe oder jene Frage an das Geheimnis der Dinge, ſondern 
der tapfere Entſchluß, in jeder Lage das Los derer mitzutragen, denen wir von Hauſe 
aus zugeteilt ſind, mit denen uns dieſelben Weſenswurzeln verbinden, die gleich 
uns derſelben Lebensſcholle tief innerlich geweiht find. Dieſes Bewußtſein macht 
ſchickſalsfrei und ſchirmt uns vor den Anfechtungen des Unerforſchlichen. Uns 
bleibt nur, an unſer gutes Recht zu glauben, nicht bloß im ſtillen Kämmerlein, 
ſondern mit Hand und Fuß und Schuß und Schlag. Mag dann über uns hinweg- 
gehen, was immer, unſer Glaube, unſre Treue und unſre Ehre iſt der Sterblichkeit 
nicht untertan und bleibt auch vor dem Unerforſchlichen beſtehen, wie alles, was, 
und ſei es auch in der vergänglichſten Form, in ſich ewig iſt. 


— 2 


ä 


9 = 


Beſtärkung; Von Hans Bauer Champagne) 


Ourchwühlt von bangen Fragen 
Marſchieren wir in ſchwerem Schritt. 

Ein fernes Rollen ſchreitet mit 

And klingt, als würd' ein Kreuz geſchlagen. 


Das nachthell überſternte 
Gezelt des Himmels brennt und loht, 
Wir fühlen uns wie Saat vorm Tod, 
Die unreif iſt zur Ernte. 


Da ſchrickt's durch Nacht und Sorgen 
Wie heißer Mut von Mann zu Mann, 
Da ſpringt uns neu ein Glaube an: 
Wir ſind das Volk von morgen! 


In Sturm und Todgegrolle 

Ver bläſt uns doch kein Sterbewind, 

Weil wir nicht Saat und Blüte ſind, 9 
Nein, Grund und Ackerſcholle. 


W 


484 Schlaitzer: Her alte Voß 


Der alte Voß 


Aus dem Leben eines Daheimgebliebenen 
Von Erich Schlaikjer 


zitten im Dunkel feines Arbeitszimmers ftand der alte Voß. Der 
E hohen, ſtraffen Geſtalt merkte man nichts an; aber die feſten, un- 
3 4 ) erbittlihen Stahlaugen, die unter den grauen, buſchigen Augen- 
e brauen hervorblickten, waren bekümmert. Sie ſchauten durch die 
Stämme der Linden hindurch, die draußen vor dem Haus ſtanden und ihren Schat- 
ten ins Zimmer warfen. Sie ſchauten in das bleiche Licht des Sommerabends hin- 
aus, der draußen auf der Landſtraße lag, aber fie fanden keine Rettung. 

Oer große, ſtarke Mann machte einen nachdenklichen Gang durch das Zim- 
mer, und in den Möbeln des kleinen, ſtillen Raumes knackte es unter ſeinem ſchweren 
Tritt. Er ſtrich mit der Hand über das gelichtete Haar des mächtig gearbeiteten 
Schädels. Er ließ feine Gedanken mit der äußerſten Anſtrengung arbeiten, aber 
eine Rettung wollte nicht kommen. 

Der alte Voß war ein oſt-holſteiniſcher Schulmeiſter von der kernhaften 
Sorte, die auch den Erwachſenen des Dorfes ihren Willen aufzwingt. Auch wenn 
die Bauern ihm längſt ihre Kinder ſandten, blieb er die feſte moraliſche Autorität, 
vor der fie Rechenſchaft abzulegen hatten. Ihre Nacken waren ſteif, aber feine 
Fauſt war ſtark, und er hatte manchen ſtarren Sinn zur Anerkennung feiner Men- 
ſchenpflicht gebeugt. Gefühlvoll war er nicht. Seine Grundſätze waren unerfchütter- 
liche Dogmen. Die feſtgefügte Welt der überkommenen Ordnung mußte ſiegen. 
Wer damit in Konflikt geriet, ging zugrunde. Das war nicht zu ändern. Er war 
ſo etwas wie ein rauher Soldat des Lebens, der alte Voß. 

An dieſem dunklen Abend aber fiel es ihm ſchwer, die unerbittliche Härte 
zu bewahren. Immer wieder glitt ſeine Hand durch den kräftigen militäriſchen 
Schnauzbart und ſtrich um das feſte, energiſche Kinn. Nach ſeinen Grundſätzen 
war die Sache vollkommen klar. Er wußte aber, daß in dieſem Fall ein junges 
Herz dabei zerbrechen würde. f 

Die blonde Magd, die dort am Türpfoſten auf dem Stuhl ſaß und in Scham 
und Tränen vergehen wollte, war einmal ſeine Lieblingsſchülerin geweſen. Er 
ſah ſie noch deutlich vor ſich, wie ſie am Bankende ſaß und mit gläubigen blauen 
Augen zu ihm emporblickte. Er ſah die Nachmittagsſonne, die ſich durch die Linden 
hindurchſtahl und einen goldenen Schein um ihren blonden Scheitel wob. Und 
nun war das alte Elend da: ein Kind unterwegs und keine Möglichkeit zu heiraten. 
Ein im verborgenen geſtohlener Traum von Glück und nun ein Weg in Einfam- 
keit und Schrecken hinaus. | 

Stine zitterte auf ihrem Stuhl unter fortwährenden Schauern der Angſt 
und der Reue. Vor dieſer Stunde hatte ſie ſich gefürchtet, wie vor dem Weltende 
und dem letzten, unvermeidlichen Zuſammenbruch. Sie kannte jeden Stuhl in 
dieſem Raum und jede Photographie an den Wänden. Sie kannte die Schwarz- 
wälder Uhr, die nun in die unheimliche Stille hineintickte, und der feuerfeſte Geld- 


Schlaitjer: Der alte Voß 485 


ſchrank der Sparkaſſe, die vom alten Voß verwaltet wurde, war ihr immer als 
der Inbegriff aller irdiſchen Macht erſchienen. Sie hatte ſo oft in dieſem Zimmer 
geſtanden und hatte für ſich und ihre arme Mutter Rat und Beiſtand geholt. Immer 
war ſie dankbaren Herzens weggegangen. Nun aber war ſie auf ewig ausgeſtoßen 
und durfte nie mehr die Augen erheben. 

„Wie weit biſt du?“ 

„Im dritten Monat“, hauchte ſie. 

Ein Ruck von Zorn und Grimm ging plötzlich durch die Geſtalt des 
alten Voß. | 

„Dein geliebter Heinrich war immer ein Jammerburſche“, knirſchte er durch 
die Zähne. 

„Herr Voß!“ kam es bittend vom Stuhl der Scham und des Leidens. 

„Ach was! Gutmütig war er in der Schule ſchon. Aber ohne Feſtigkeit in 
den Knochen. Nichts von einer Fauſt und einem Kerl. Alles Unglück kommt von 
dieſen ſchwachen Naturen.“ 

„Seine Mutter hält ihn ſo ſtreng.“ 

Seine Mutter! 

Der alte Voß blieb auf einem Gang durch das Zimmer jäh ſtehen, und ihre 
Stirne ſenkte ſich unter ſeinen grauen, unerbittlichen Stahlaugen. 

„Haſt du ſie am Nachmittag in ihrem gepolſterten Lederſtuhl am Fenſter 
ſitzen ſehen?“ 

Sie nickte. 

„Mit der Adlernaſe und den kalten, funkelnden Augen eines Raubvogels.“ 

Sie nickte. 

„Willſt du mir glauben, daß ſie eher dein rotes, warmes Herz mit ihren 
mageren Krallenfingern aus der Bruſt reißt, als daß ſie eine arme Magd als Frau 
auf den Erlenhof nimmt?“ 

Stine ſagte nichts, aber ihre Geſtalt zitterte, wie unter einem unbarmherzi- 
gen Schickſal. 

„Iſt dir bekannt, daß du als lediges Mädchen mit deinem Kind in die Ein- 
ſamkeit hinaus mußt?“ 

„da.“ 

„Siehſt du wohl! Und das iſt es, was ich deinem Windhund zum Vorwurf 
mache. Ihr Weibsleute habt keinen Verſtand, wenn's unter dem Mieder warm 
zu werden beginnt. Er aber iſt ein Mann, und wenn ein Mann keinen Verſtand 
und keinen Willen hat, holt ihn der Teufel beſſer heute als morgen.“ 

Schwer und zornig ging ſein Schritt durch das Zimmer. 

„An die dreißig Jahre iſt der verfluchte Junge nun ſchon alt geworden, und 
noch immer hat ſeine Mutter keine Fauſt von ihm geſehen. Noch immer ſchlägt 
fie den Mägden ins Geſicht, als ob er nicht im Haufe wäre. Ein Waſchlappen, der 
ganze Lumpenheinrich. Auf dem Heuboden beim Mädchen: ja, da geht's. Da 
helfen ihm ſeine blauen Augen und ſeine blonden Haare. Heiraten kann er dich 
nicht. Das iſt richtig. Er wird nicht einmal wagen, den Gedanken zu denken. Aber 
das ſage ich dir: Wenn er mir in dieſer Angelegenheit nicht endlich zeigt, daß ein 


486 | | Schlaitjer: Oer alte Voß 


Kerl in ſeiner Hoſe ſteckt, dann ſchlage ich ihn mit meinen Fäuſten zuſammen und 
werfe ihn zum Zimmer hinaus.“ 

Eine faſt ungebändigte Wut ging in dieſem Augenblick durch feinen g 
tigen Körper. 

„Herr Voß! Ach, Herr Voß!“ 

Stine wand ſich unter ſeinen Worten. Auch wußte ſie, daß er durchaus der 
Mann war, derartige Drohungen in die Wirklichkeit umzuſetzen. An eine derbe 
Beweisführung hatte er ſeine Bauern gewöhnt. Das verſtanden ſie am beſten. 

„Komm her!“ ſagte er plötzlich. | 

Sie kam auf geräuſchloſen Strumpfſocken zu ihm hinüber. Die Holzſchuhe 
hatte ſie reſpektvoll draußen vor der Tür ſtehen laſſen. 

Er faßte ſie unters Kinn, und ihr tränengefülltes blaues Auge lag ſo offen 
vor ihm wie ihre Seele. 

„Zu einer Heirat kann ſelbſt der leibhaftige Gottſeibeiuns die Alte nicht 
zwingen. Du mußt unbedingt vom Hof herunter. Ich will die Krallen der Megäre 
nicht erſt in deinem Geſicht ſehen. Wohin du kommſt, muß ich mir überlegen. Das 
Kind ſoll bei dir bleiben. Ich bringe dich bei gutmütigen Leuten unter und ſetze 
mein Wort dafür ein, daß dir nichts geſchieht. Auf dem Stuhl an der Tür hat 
manche vor dir geſeſſen. Du bleibſt in meinen Augen ein braves Mädchen. Mach' 
dich auf ſchwere Jahre gefaßt und ſchicke mir morgen deinen Windhund.“ 

In Stine quoll es plötzlich heiß auf. Es war wieder wie einſt in der Religions- 

ſtunde. Sie ergriff ſeine Hand mit beiden Händen und küßte ſie inbrünſtig. 


2. * 
*. 


Am nächſten Abend ſaß Heinrich auf demſelben Stuhl und drehte die Mütze 
verlegen in der Hand. Es gab ſonſt eine feſte Rangordnung im Dorf. Die Bauern 
und Bauernſöhne behielten die Holzſchuhe an. Die Oienſtboten ließen fie vor der 
Tür. Diesmal aber hatte Heinrich fie draußen gelaſſen. Hochmut war nicht an- 
gebracht. 

Eine lange, bange Stunde verging. Wenn der alte Voß einmal in tiefen 
Gedanken ſtill ſtand, tickte die Schwarzwälder Uhr ſo unheimlich laut. Es lag etwas 
Unbarmherziges und Hartes in ihrem ewigen gleichmäßigen Ticken. Sein und 
Stines Glück wurde in dieſer dunkeln Stunde begraben. Wie konnte ſie da nur 
ſo kalt und gleichgültig die Minuten zerhacken? Es war, als wenn die Uhr jedesmal 
auf ſeine aufgeregten und zerriſſenen Nerven geſchlagen hätte. 

Mitunter ſandte er den Blick durch die Stämme der Linden hinaus. Ein 
friedlicher Sommerabend lag auf der Dorfſtraße. Wer in dieſem Licht atmete, 
der war glücklich. Der konnte frei von Schuld und Fehle ſeines Weges ziehen. 
Der war von einem freundlichen Tag umſpielt. Hier in der Dämmerung aber 
waltete die Schuld, und daheim im gepolſterten Lederſtuhl ſaß mit kalten, funkeln 
den Augen die Rache. 

Der alte Voß ſtand mitten im Zimmer und ſchloß feine Rede fo: „Vas ich 
von deinem Heldenſtück halte, iſt dir jetzt bekannt. Wer einem ordentlichen Mãd⸗ 
chen etwas einbrockt, ohne ſie vor Schande bewahren zu können, nimmt eine ſchwere 


Schlaikjer: Der alte Voß | 487 


Verantwortung auf ſich. Dir hat's wieder einmal am feſten Willen gefehlt. Ich 
möchte endlich einmal ſehen, daß du ein Mann wirſt, der das Leben in ſeine Hand 
nimmt und meiſtert. Glaubſt du, daß ich das jemals erlebe?“ 

Heinrichs Geſicht war mit dem Feuer der Scham übergoſſen. Er wagt 
nichts zu verſprechen. 

„Die Suppe iſt aber nun einmal angerührt und muß ausgelöffelt werden. 
Das Mädchen muß zunächſt vom Hof herunter. Ich glaube, die Augen deiner 
Mutter wären imſtande, das Kind unter ihrem Herzen zu töten.“ 

„Sie kann erſt auf Oktober kündigen“, warf Heinrich zaghaft ein. 

„Dann muß ſie ungeſetzlich aus dem Dienſt laufen. Ich nehm's auf mich. 
Geld dürfen wir von der Alten nicht verlangen. Wer ihr auch nur einen Taler 
nehmen will, iſt in ihren Augen verflucht. Und du haſt es wohl immer noch nicht 
ſo weit gebracht, daß du über irgend etwas ſelbſtändiger Herr biſt?“ 

Heinrich ſenkte den Blick. In dieſer langen, ſchweren Sekunde war es ihm, 
als müßte er vor Scham in den Erdboden ſinken. 

„Hab' mir's gedacht. Mit den alten Weibsbildern iſt ſchwerer fertig zu wer- 
den, als mit den jungen. Stine muß ſich mit ihrem Kind alſo allein durchbringen. 
Sie iſt eine tüchtige Dirn und kann das auch. Du etablierſt die umgekehrte Welt. 
Der Vater ſetzt den Balg in die Welt, und die Mutter verſorgt ihn. Das Weib 
muß ſtark ſein, damit der Mann ſchlapp ſein kann. Aber na! Wenn deine Mutter 
über Stines Verſchwinden raſt, ſchickſt du ſie zu mir. Wenn ſie durch das Gerede 
der Leute von dem Kind erfährt, ſchickſt du ſie ebenfalls zu mir. Ich habe ſie für 
deinen Vater mehr als einmal gebändigt. Ich kann auch dir den Dienſt erweiſen. 
Im Oktober wird ſie ſiebenundſechzig.“ 

„Achtundſechzig.“ 

„Am fo beſſer. Schließlich kommt die Stunde, in der fie ſtirbt. Wir wollen 
wenigſtens zu Gott hoffen, daß die Natur mit ihr keine Ausnahme macht. Dann 
biſt du der Herr auf dem Erlenhof, und Stine und dein Kind halten ſich für dieſen 
Tag bereit. Die Verwandten werden ſchnattern und die anderen Bauern im 
Dorf werden murren. Sie haben ſelber Töchter, die ausgezeichnet auf den Erlen- 
hof paſſen würden. Das eine wie das andere brauchſt du nicht zu fürchten. Ich 
zerbreche es unbarmherzig. Ich trete es unter die Füße, wo es ſich hervorwagt. 
Du biſt von heute ab ein verheirateter Mann und warteſt auf den Tag, wo du 
dein Weib redlich machen kannſt. Verſagſt du in dieſem Punkt, haſt du mein Zim- 
mer zum letzten Male betreten, und ich werde der ganzen Welt ins Geſicht ſagen, 
daß der Erlenhof auf einen Spitzbuben gekommen iſt.“ 

Was war das? Als Heinrich auf die Oorfſtraße herauskam, meinte er plöß- 
lich, über die kleine, ſtrohgedeckte Kate hinwegſpringen zu können, die auf der 
anderen Seite lag. Der alte Voß wollte Bauernſohn und Magd zufammenbrin- 
gen? Oer alte Voß wollte die Mutter bändigen und den Haß der anderen Bauern 
niedertreten? Nun war es auf einmal wieder hell geworden, und er konnte ſo 
leicht wie ein Vogel in die Zukunft hineinfliegen. 

Als die Frau mit der Hakennaſe und den funkelnden Raubvogelaugen be- 
reits ſchlief, waren Heinrich und Stine in der Sommernacht hinter dem Stall 


488 Schlaither: Der alte Voß 


zuſammen. Heinrich lag auf den Knien und weinte vor N in den ſchwangeren 
Schoß hinein. 

„Weißt du, was ich glaube?“ ſagte Stine, und ihre e Augen 
blickten träumend vor ſich hin. 

„Nun?“ 

„Ich glaube, daß der alte Voß der redlichſte Menſch auf der ganzen Erde iſt.“ 

„Das glaube ich auch“, ſagte Heinrich. 

* * 


* 

Was auf den Höfen umher ſaß und was auf den Feldern der Bauern arbei- 
tete, war auf der Schulbank des alten Voß groß geworden. Dreißig Jahre hatte 
er nun ſchon in der Gemeinde gearbeitet und war zum Vertrauensmann aller 
Einwohner geworden. Die Sparkaſſe wurde von ihm verwaltet. Hatte jemand 
kein Geld, kam er zu ihm. Hatte jemand ſo viel, daß er etwas davon anlegen wollte, 
kam er auch zu ihm. Die Schriftſätze des Gemeindevorſtehers an die Behörden 
gingen durch ſeine Feder. War man mit der Feuer- oder Viehverſicherung nicht 
zufrieden, ſo ſah man ſich mit ſeiner Hilfe nach einer anderen um. Haperte es mit 
dem Verſtändnis eines Artikels im landwirtſchaftlichen Fachblatt, brachte man 
ihn zu ihm. Kannte man ſich in der Politik nicht mehr aus, holte man feinen Rat. 
War jemand mit einem Zwiſchenhändler in ein Geſchäft hineingeraten, das er 
nicht mehr überblickte, ging er zum alten Voß. Wollte ein Sohn nicht gut tun oder 
drohte ein Mädchen auf Abwege zu geraten, mußten ſie ſich auf den Stuhl ſetzen, 
wo Heinrich und Stine geſeſſen hatten. Im Sterbehaus ſaß er am Sarge und bei 
den Hochzeiten ſaß er zu oberſt an der Tafel. Alle menſchlichen und alle geſchäftlichen 
Fäden des Dorfs liefen in ſeiner Hand zuſammen. Konnte man ſich über das 
Erbe nicht einigen, wurde er gerufen, und wenn ſeine hohe, mächtige Geſtalt in 
der niedrigen Bauernſtube ſtand, war es ihnen immer, als fülle Gott-Vater ſelber 
den Raum, und als müßten nun alle heimlichen ſchlechten Gedanken ſich ver- 
kriechen. Von ſeiner unbeugſamen Redlichkeit ging es wie Religion und Weihe 
aus. Man ſchämte ſich der eigennützigen Gier, und wer zu ſchlecht war, ſich zu 
ſchämen, den bannten ſeine grauen, unerſchrockenen Stahlaugen und fein unzer- 
brechlicher Wille. Der Beſitzteufel krümmte fi unter feiner feſten Fauſt, aber er 
duckte ſich immer. Wer beim alten Voß den Reſpekt verloren hatte, war in der 
Welt des Dorfes ein gezeichneter Mann. 

* ** 

Wenn im letzten Schuljahr die Kinder ſich anſchickten, ins Leben hinauszu- 
treten, gab es eine Religionsitunde, die niemand vergaß, der beim alten Voß 
auf der Schulbank geſeſſen hatte. Sie kam immer unerwartet, aber wenn ſie 
plötzlich aus dem Alltag des Unterrichts heraufſprang, ging ein heiliger Ernſt 
durch das Klaſſenzimmer. Dann ſprach der alte Voß über die menſchliche Redlich; 
keit. Dann war jedes Wort wie Hammerſchlag, und hinter jedem Satz lag ein 
ganzes gelebtes Leben. Jede Schuld konnte mit Tränen und Reue abgewaſchen 
werden. Zeder Fehltritt konnte verziehen werden. Zede ſchlechte Aufwallung 
konnte man vergeſſen. War jemand aber erſt ein unredlicher Menſch geworden, 
war er ſchlechter als das Tier auf dem Felde. Die Tiere waren unſchuldig, aber er 


Sälaitjer: Oer alte Voß 489 


war ein gefallener Mann. Keine Verachtung war jo tief und herb, daß ein unred- 
licher Menſch ſie nicht verdiente. Sein bloßes Dafein verpeſtete die Luft für andere. 
Er war wie jemand, der ſich vom offenen, ehrlichen Kampf losgeſagt hatte, um 
dem Gegner aus dem Hinterhalt mit einer vergifteten Waffe in den Rücken zu 
fallen. Jede Berührung mit ihm befleckte. Durch jeden Händedruck erniedrigte 
man ſich. Sein Geld war Schmutz. Wer ihn in ſein Zimmer ließ, gab die Ehre 
des Hauſes preis. An der Redlichkeit ſollte ſich alle Religion erweiſen. In dieſem 
einen hing das ganze Geſetz. 

Die tiefe Stille einer atemloſen Andacht lag im Zimmer. Von den Kindern 
wußte jedes, daß man den Mann dort auf dem Katheder in Stücke reißen konnte, 
daß man ihn aber nie zu einer unredlichen Handlung würde zwingen können. 
Die große Stunde war da, die ſie als das Bekenntnis des alten Voß ins Leben 
mit hinausnehmen ſollten. Sie erlebten jetzt, was auch ihren Vätern ſchon mit 
einem heiligen Schauder über den Rücken gelaufen war. Nie würden ſie dieſe 


Stunde vergeſſen. ri 4 
* 


Aber hart konnte er fein, der alte Voß, unerbittlich hart. Ein ſtrenger Pflicht- 
begriff beherrſchte ſein Leben und beherrſchte durch ihn auch die andern. Gefühl- 
vollen Erwägungen war er wenig oder gar nicht zugänglich. Wenn das Herz 
einmal mit der Pflicht in einen unauflöslichen Streit geriet, hatte das Herz zu 
leiden oder zu brechen. Das ließ ſich nicht ändern. Feſte Ordnung mußte ſein, 
und nur durch treue Pflichterfüllung konnte ſie aufrechterhalten werden. Was 
ſollte werden, wenn jedermann ſeiner Neigung folgen wollte? Vom „Recht der 
Perſönlichkeit“ hielt der alte Voß nicht viel. Er betrachtete das Leben als eine 
Aufgabe, die jedem einzelnen geſtellt war, und die jeder einzelne in ehrenwerter 
Weiſe zu löſen hatte. Der eigentliche Inhalt des Lebens war ihm darum die 
Arbeit, und die Hauptfreude war das Wohlgefallen am Segen der Arbeit. Wer 
nichts tat, wer keine Pflicht zu erfüllen hatte, war in den Augen des alten Voß 
ein Kadaver, der gar nicht früh genug eingeſcharrt werden konnte. 

Es lag in ſeiner redlichen Natur, daß die Härte ſich nicht nur gegen andere, 
ſondern vor allem gegen ihn ſelber richtete. Drei Söhne hatte er, und alle drei 
wurden von feinem ſchmalen Schulmeiſtereinkommen auf höheren Schulen unter- 
halten. Der älteſte ſtudierte Medizin, der zweite Theologie, der dritte beſuchte 
ein Schullehrerſeminar. Das wollte verdient ſein und wollte es um ſo mehr, 
als er, trotz unerbittlich durchgeführter Sparſamkeit, ſeinem Anſehen im Dorf 
doch niemals etwas vergab. Er hätte weder ſich noch ſeiner Frau noch ſeinen 
Söhnen Läſſigkeiten im Anzug oder Auftreten vergeben, die nach ſeiner Anſicht 
nun einmal nicht ſein ſollten. Mit der nebenamtlichen Verwaltung der Spar- 
kaſſe war da allein nicht durchzukommen. Seine Stellung als ewig geſuchter 
Ratgeber hatte dazu geführt, daß er ſich in alle öffentlichen und rechtlichen Ver- 
hältniſſe hineingearbeitet hatte, die in das Leben der Dorfbewohner eingriffen. 
Ob es ſich nun um die Militärpfliht handelte oder um eine Frage der Arbeiter- 
verſicherung oder um die Regelung einer Hypothek: man klopfte beim alten Voß 
niemals vergeblich an, und ſeine unbeugſame Rechtlichkeit entſchied nicht nur 


490 Schlaitjer: Oer alte Do 


nach dem Buchſtaben, ſondern auch auf Grund einer ehrenwerten Geſinnung. 
Faſt jedes wichtige Schriftſtück des ganzen Kirchſpiels ging durch ſeine Feder, und 
ſein Arbeitstag ſchloß erſt, wenn er nachts um elf Uhr die Lampe auf feinem Arbeits- 
tiſche ausblies und ins Bett ging. Geſchenke wurden ihm oft angeboten, aber auch 
wenn ſie gut gemeint und redlich verdient waren, wurden ſie zurückgewieſen. Er 
hatte zu oft geſehen, wie Amtskollegen durch Freundlichkeiten der Bauern in 
Abhängigkeit geraten waren. Sein war die Aufgabe, die er ſich geſtellt hatte, 
ſein war die Arbeit und ſein die Genugtuung über das Gelingen. Außerdem 
hatten die Tagelöhner und ihre Kinder in ſeinen Augen den erſten Anſpruch auf 
ihn. Die aber hatten nichts zu verſchenken. 


* * 
x 

Seine Frau war die Tochter eines Großbauern aus einem Nachbardorf. 
Die Familie gehörte zu den ganz Alteingeſeſſenen und war in der Gegend von 
jeher führend geweſen. Der Hof aber hatte in der Agrarkriſis der achtziger Jahre 
ſchwer gelitten, und ſo waren die materiellen Verhältniſſe recht ſchwierig. Außer- 
dem waren drei Söhne vorhanden, die jeder in ſeiner Art reichliche Aufwendungen 
verlangt hatten. Nach Geld hatte er nicht geheiratet, der alte Voß. 

Vas ihn damals angezogen hatte, war die ſeeliſche Vornehmheit des jungen 
Mädchens geweſen. Sie hatte etwas ausgeſprochen Zartes und Keuſches, das ſie 
den Männern gegenüber zu einem ſcheuen, flüchtigen Reh machte. Voß aber hatte 
ſich ihr Vertrauen und ihre Gunſt erworben, und wenn ſie ihn mit ihren reinen 
blauen Augen anſah, war ihm, als wäre ihm ein unendlicher Schatz zuteil geworden. 

Ihr Leben in der Ehe aber war ein einziger Aufblick zu ihm. Er ſtand ſo feſt 
und unerſchütterlich am Steuer ihres Lebensſchiffes, daß die Zuneigung ihres 
Herzens ewig warm blieb. Sie brauchte wie keine andere den Stolz auf ihren 
Mann. Sie hätte nicht leben können ohne dieſen Stolz und war glücklich, daß er 
ihr fo reichlich geſchenkt wurde. Wenn fie an einer Hochzeitstafel in ihrem feſt⸗ 
lichen Kleid neben ihm ſaß, lag eine ſtille, bezwingende Würde ihn ihrem Ausſehen. 
Alle Würde aber war nur der Widerſchein des Stolzes, daß er ihr Mann gewor- 
den war. 

Dabei wußte fie trotz aller Hingabe doch im Haus ihre eigene Selbftändig- 
keit zu wahren. Der alte Voß war ihr gegenüber von einer altfränkiſchen Ritterlich⸗ 
keit. Er hatte immer das Gefühl, daß er ſie zerbrechen könnte, wenn er ſie mit 
ſeiner ſtarken Kraft zu ungeſtüm anfaßte. Darum war er nie zarter und weicher, 
als wenn er mit ihr ſprach. Oft genug war fie ihm in den Arm gefallen. Oft ge- 
nug hatten ihre ſchlanken Frauenfinger einen Knoten entwirrt, den er mit einem 
raſchen Hieb durchzuhauen entſchloſſen war. Im Dorf wußte man ganz genau, 
ob man in einer beſtimmten Angelegenheit zu ihm gehen ſollte oder ob man beſſer 
den Weg über fie legte. Wenn fein eiſerner Starrkopf einmal mit einem bäueri- 
ſchen Starrkopf zuſammentraf und kein Ausweg ſich öffnen wollte, legte ſie ihm 
den weichen Arm um den Hals. Und dann beugte ſie den ſteifen Nacken wie den 


eines Kindes. 
* * 


Schlaltjer: Oer alte Voß 491 


Die Söhne waren bald fertig. Alle drei befanden ſich im letzten Jahr ihrer 
Ausbildung. Aber Schulden waren entſtanden. Selbſt bei der äußerſten An- 
ſpannung der Kräfte hatte ſich das nicht vermeiden laſſen. Die Studienzeit jedes 
einzelnen war ſozuſagen mit einer Schlußhypothek belaſtet. An der Tilgung würde 
der alte Voß zunächſt noch mitarbeiten müſſen. Es war nicht zu verlangen, daß 
die Jungens als neugebadener Arzt, Paſtor und Schulmeiſter gleich ſollten Schul- 
den abtragen können. Eine Reihe von Jahren würde die Hauptlaſt noch auf ſeinen 
Schultern liegen, aber dann würde er frei werden. Dann konnte er anfangen, für 
einen anſtändigen und ſorgloſen Feierabend zu arbeiten. Die Söhne würden ja 
wohl auch ein Weib nehmen und ein Heim gründen. Die Frau träumte ſchon 
jetzt von kleinen blonden Enkelkindern. Dann kam die Zeit der Ernte. Dann ſollte 
er ſich freuen dürfen über den willensſtarken Fleiß, mit dem er das Feld ſeines 
Lebens beackert hatte. Dann durfte das arbeitſame Schulhaus vom Beſuch froher 
Menſchen und von heiteren Feſten widerhallen. Dann hatten die ſtarken Schultern 
der Söhne die Hauptlaſt auf ſich genommen. Am langen Lebenstag die Arbeit 
und am Abend die Gäſte. So war es der Lauf der Welt und jo war es gut. 

* * 


* 

Als der Krieg ausbrach, gab ſich der alte Voß einen Ruck und warf alle 
Träume hinter ſich. Nun galt es ſtark zu ſein. Nun war im Grunde die Zeit ſeiner 
Lebensanſchauung gekommen: die Zeit, wo jeder wußte, daß man um der Pflicht 
willen lebte und auch die härteſte Pflicht auf ſich nehmen mußte. Nun brauchte 
man Männer und Eifen. 

Die drei Jungens gingen alle freiwillig mit. Das taten ihre Studientame- 
raden auch. Von der Seminarklaſſe des Jüngſten ſchieden nur zwei aus, die beide 
verkrüppelt waren. Das war vollkommen in der Ordnung. Wenn der alte Voß 
den einen nach dem andern an die Bahn brachte, war er nicht traurig, ſondern 
ſtolz. Alle drei waren grade, ſtarke Burſchen. Alle drei hatten fein leidenſchaft- 
liches Ehrgefühl geerbt. Alle drei waren in ſtrenger Pflichterfüllung erzogen und 
brannten darauf, ihre Muskeln und Nerven zu ſpannen. Wenn der alte Voß vom 
Bahnhof zurückging, ſummte er ein Soldatenlied vor ſich her. Die Zeit der Kraft 
war gekommen, und er hatte drei tüchtige Söhne als lebendiges Kapital hinein- 
geſteckt. Auch ſeine Arbeit und ſeine Lebensauffaſſung kämpften draußen auf 
den Schlachtfeldern mit. 

Straff und aufrecht ſtand der alte Voß auf dem Katheder und zog die Nutz- 
anwendung des Krieges. Was würde jetzt aus dem Land werden, wenn das Volk 
in Wohlleben erſchlafft wäre? Was für einen Sammeranblid würden wir bieten, 
wenn nicht jeder zum ſchwerſten Opfer bereit wäre? Was ſollte man nun mit den 
lebendigen Leichen anfangen, die keine Pflicht und keine Ehre im Leibe hätten? 
Die Frauen weinten. Das ließ ſich nicht ändern. War von jeher ſo geweſen. Im 
Krieg weinten die Frauen. Die Männer aber hatten ſtolz zu ſein und zu kämpfen. 
Straff und aufrecht ſtand er vor der Klaſſe, und ſeine Worte waren feſt gehämmert. 
Wenn er aber am Nachmittag nach der letzten Schulſtunde ſeinen gewohnten 
Spaziergang machte, war es, als ſähe man einen in harter Zucht geſtählten Sol- 
daten des Lebens durch die Gaſſe ſchreiten. Dann und wann ſauſte ſein Rohrſtock 


492 Schlaither: Oer alte Voß 


mit ſtartem Schwung durch die Luft. Dann konnte man ſicher fein, daß feine 
Gedanken draußen auf dem Schlachtfeld waren. 
* * 


* 

Der Mediziner fiel vor einer engliſchen Kugel in Flandern. Er fing den 
Todesreigen an. Die andern im Dorf waren noch alle lebendig. Seine Mutter 
weinte ihre leidenſchaftlichſten Tränen. Der alte Voß ſtand ihr bei; aber er weinte 
nicht. Im Krieg ſtarben Menſchen. Das wußte man von vornherein. Es würden 
im Dorf noch mehr fallen. Was follte daraus werden, wenn alle ein großes Zlen- 
nen anſtellen wollten? Der Krieg war da. Es galt, ihn aufrecht zu tragen. 

Als er in der Nacht in feinem Arbeitszimmer allein war, öffnete er die alte 
Schatulle und holte vorſichtig und mit großer Feierlichkeit eine ſchlichte Mappe 
hervor. Auf der inneren Seite des Umſchlages ſtand mit ſeinen eigenen, ſteilen, 
kräftigen Schriftzügen: e 

„Dokumente und Zeugniſſe für Friedrich Karl Voß. 
Geboren am 10. November 1889.“ 

Mit ſeiner ordnungsliebenden Hand fügte er hinzu: „Gefallen im Oktober 
1914 als Kandidat der Medizin vor einer engliſchen Kugel in Flandern.“ 

In der Mappe waren alle Schulzeugniſſe aufbewahrt, von den erſten, die 
er ſelber geſchrieben hatte, bis zu den letzten. Nun legte er das Band des Eiſernen 
Kreuzes hinein und ſchloß die Rechnung. Als er aber im erſten Zeugnis des fehs- 
jährigen Knaben von feiner eigenen Hand die Bemerkung las: „Kann nicht ſtill⸗ 
ſitzen“, brach plötzlich ein Schluchzen aus feiner Bruſt. Er ſah den kleinen, zapp- 
ligen Flachskopf vor ſich, der durchaus nicht begreifen konnte, daß er nicht wie 
ſonſt ſeinem Vater aufs Knie krabbeln durfte. Er ſah die erſtaunten blauen Augen, 
die zum erſtenmal in Pflicht und Leben hineinblickten. Faſt war es geweſen, als 
erſchrecke er vor all dem Neuen und ſehne ſich nach dem Kinderzimmer zurück. War 
eine unbewußte Ahnung in ihm geweſen, daß das Leben ihm ſo rauh mitſpielen 
würde? Nun war der blonde Kopf von damals von einer Kugel durchbohrt und 
ſchlief in der flandriſchen Erde. Nun brauchte er keine tadelnde Anmerkung ins 
Zeugnis mehr. Nun war er ſtill. 

Es war Mitternacht vorüber, als der alte Voß die Lampe löſchte und ins 
Schlafzimmer ging. Seine Frau lag wach und weinte in die Kiſſen hinein. 

„Du kommſt ſpät.“ 

„Die Arbeit zog ſich ſo lange hin“, ſagte Voß. 

Dann ging er ſtill ins Bett. 

* * 
5 | 

Der Tod forderte viele Opfer im Kirchſpiel. Immer wieder zuckte fein 
Strahl in ein ſtrohgedecktes Bauernhaus hinab. Wie bange Gewitterſtimmung 
lag es über allen. Es war eine ſchwere Zeit. — 

An einem kalten Januartag mit grauem Winterrauch über den Feldern 
kam ein Telegramm, daß der Schulamtskandidat im Weſten gefallen ſei. Er hatte 
eben fein 21. Lebensjahr vollendet. Die Frau war bei Nachbarsleuten auf Be 
ſuch. Als ſie den Poſtboten zu ſo ungewohnter Stunde ins Haus gehen ſah, kam 
ſie unruhvoll nach Hauſe. Es war die fünfte Stunde am Nachmittag. 


Schtaitzer: Der alte Voß | 495 


„Mein Gott, ſo jung!“ ſagte ſie, als Voß ihr mit einem traurigen Blick das 
Telegramm hinhielt. Dann brach ſie ſtill und ohne Klage zuſammen. 

Voß trug ſie auf ſeinen ſtarken Armen ins Bett und wachte bei ihr bis zum 
nächſten Morgen. Sie kam auch wieder auf die Beine, aber ſie wankte nur noch 
wie ein bleicher Schatten durchs Haus und weinte viel vor ſich hin. 

In einer Dämmerſtunde ſtand ſie weinend am Fenſter des Wohnzimmers, 
das aufs freie offene Feld hinausführte. 

Voß trat von hinten auf ſie zu, beugte ihr den Kopf zurück und ſtreichelte 
ihre Wange. 

„Ihr Männer ſeid hart“, ſagte ſie mit zuckenden Lippen. „Wir Frauen 
würden keine Kriege machen.“ 

„Kriege macht man nicht. Sie kommen wie das Schickſal über ein Volk.“ 

Voß ſagte es ſchonend und ließ das Thema ſofort fallen. Sie vertrug neuer- 
dings nicht, daß er den Krieg verteidigte. Still und ſchweigſam gingen fie neben- 
einander durch die Räume. Wurden lärmende Stimmen auf der Straße hör- 
bar, zuckte die Frau zuſammen, als wenn ein bloßliegender Nerv getroffen wäre. 
Voß legte ihren Kopf an ſeine Bruſt und küßte ihr die Stirn. 

„Ich begreife nicht, wie die Leute ſo laut ſein können,“ ſagte ſie dann mit 


ihrer matten Stimme, „ſie wiſſen doch, daß wir zwei Leichen im Hauſe haben.“ 
„* 5 ** 


* 

Dann aber kam der ſtrahlende Zulitag des Jahres 1915, an dem der Brief- 
träger Wilhelm Lührs den ſchwerſten Gang ſeines Lebens machen mußte. 

„Als wenn du im Wald eine Eiche fällſt,“ erzählte er ſpäter, „ſo war es, als 
ich ihm das Paket hingab. Wenn ich ſo etwas oft beſtellen ſollte, wollte ich lieber 
tot fein.“ 

Man kannte dieſe Pakete im Ort fe gut. Sie enthielten Ahr, Börſe, Brief- 
taſche und ſonſtige Habſeligkeiten der Gefallenen. In dieſem Fall lag auch noch 
ein Zettel dabei, den der dritte Sohn des alten Voß auf der Bruſt getragen hatte. 
Es ſtand darauf: 

„Lieber Vater und liebe Mutter! Nun iſt auch der Letzte von Euch gegangen. 
Dieſe Zeilen treffen Euch nur, wenn ich falle. Wir drei Brüder wollen nun im 
Himmel beiſammen ſein und an Eure große, unendliche Liebe denken. Ich wäre 
ein ſchlechter Paſtor geworden, wenn ich nicht zu ſterben wüßte. Trauert nicht 
um mich. In der Welt habt ihr Angſt, aber ſeid getroſt, ich habe die Welt über- 
wunden. N In heißer Liebe ewig Euer Gotthold.“ 

Die Frau überwand es nicht. Sie wurde aufs Krankenlager geſtreckt und 
fiel wilden Fieberphantaſien zum Raub. Der alte Medizinalrat aus der Kreis- 
ſtadt kam und ſchüttelte den Kopf. Hier war ſeine Kunſt zu Ende. Die Seele 
war krank, und für die Seele hatte er keine Medizin. Er verordnete kalte Umjchläge 
um den Kopf und ſtellte alles übrige dem lieben Gott und der Zeit anheim. Beim 
Abſchied drückte er dem alten Voß lange und warm die Hand. 

Der Briefträger hatte recht: der alte Voß war wie eine Eiche, die von einem 
furchtbaren Axthieb bis ins Mark getroffen war. Der ſtarke Mann bebte und 


zitterte und wurde von Tränenſchauern gerüttelt. Die Sorge um die Kinder 


„ 4 
un. er 


494 Schlaitjer: Der alte Op 


wurde von der heißen Sorge um die Frau völlig in den Hintergrund gedrängt. 
Er lag an ihrem Bette auf den Knien und flehte zu Gott um ihr Leben. Wenn ſie 
ihn auch verließ, war alles um ihn verſunken. — 

Sie verließ ihn nicht. Der Anfall wich, und das Bewußtſein kehrte langſam 
zurück. Matt und namenlos leidend lag ſie in ihrem weißen, ſauberen Bett. Die 
Hände waren gefaltet, und der Blick ſtierte in dumpfer Ergebenheit geradeaus. 
Es war, als ob noch ein Reſt des Fiebers in ihrem Gehirn hockte und nicht weichen 
wollte. Sie erkannte ihren Mann wohl, aber ſie blieb vollkommen gleichgültig. 
Sie antwortete auch nicht auf feine Fragen. Ihre Augen hatten eine dunkle, un- 
ſtete Färbung angenommen und blickten immer geradeaus ins Leere. 

Nur einmal ſagte ſie etwas. Als er am Nachmittag an ihrem Bett ſaß und 
ihre Hand ſtreichelte, fingen ihre Lippen an, ſich zu bewegen. Er ſtreichelte ihre 
Stirn, als könnte er damit alle Hinderniſſe hinwegſtreichen. Wenn ſie nur erſt 
ſprechen wollte! Wenn nur die Seele ſich in Worten entladen könnte! Er hatte 
auf dieſen Augenblick gehofft, wie auf die Rettung ſeines eigenen Lebens. 

Mühſam bewegten ſich ihre Lippen, und ihre Augen irrlichterten ratlos wie 
geängſtigte Vögel im Zimmer umher. Es war, als könnte fie durchaus nicht den 
Satz zuſtande bringen; als müßten alle Seelenkräfte kreißen und gebären, um ein 
paar arme Worte herauszubringen. Schließlich aber hatte fie die Bruchſtüͤcke 
zuſammengebracht, die ſie in ihrem Gedächtnis ſuchte. Es war die Erzählung vom 
Züngling zu Nain, die in ihr lebendig geworden war. Langſam und wie aus einem 
fernen Traum heraus ſagte fie: „Und er war der einzige Sohn ſeiner Mutter.“ 

Dann zuckten ihre Lippen, aber ſie weinte nicht und ſagte auch nichts mehr. 

* = 


* 

Als fie aufkam, ſaß fie teilnahmlos in ihrem Lehnſtuhl. Wenn fie überhaupt 
etwas ſagte, wiederholte fie jenen Satz aus dem Jüngling zu Nain. Es war, als 
ob alle Kräfte ihrer Seele ſich in dieſem einen Satz erſchöpften. Im Garten blüh- 
ten die Roſen. Die Roſen waren in jedem Jahr die ganze Freude ihrer reinen 
Seele geweſen. Der alte Voß ſtellte ihr herrliche, friſch erblühte Roſen auf den 
Tiſch; aber ſie bemerkte es gar nicht. 

Als er ſie am Abend wie ein Kind entkleidete und ins Bett legte, ſagte ſie: 
„Und er war der einzige Sohn ſeiner Mutter.“ 

0 | 


4 

Dann mußte Voß an einem Nachmittag über Land. Eine Bäuerin hatte 
ihren Mann verloren, und er ſollte ihr bei der nötig gewordenen Regulierung der 
Beſitzverhältniſſe helfen. Abends um acht Uhr kehrte er durch den freundlichen 
Sommerabend zurück. Es hatte ihn erleichtert, auf einige Stunden die Gedanken 
anderer denken zu dürfen. 

Als er aber vor ſeinem Haus ankam, durchfuhr ihn ein jäher Schreck. Die 
Haustür war bekränzt, und weiße Roſen waren in das Grün gemiſcht. Wit zit⸗ 
ternder Hand öffnete er und trat ein. Sein Arbeitszimmer war unter Rofen fait 
verborgen. Der Flur war mit Roſen überladen. Der ganze Garten mußte ge 
plündert ſein. Ein überſtarker Geruch ging durch das Haus. 

„Gott im Himmel, hab' Mitleid mit mir! Was ſoll das bedeuten?“ 


I BEIM, Per DF 


Schlaitjer: Der alte Voß 495 


Er ſtand ſchwer atmend ſtill und blickte vom Flur in die Küche hinein. 

Auf einmal öffnete ſich die Küchentür, die in den Garten hinausführte, und 
ſeine Frau kam mit einem Arm voll Roſen herein. 

Als ſie ihn ſah, ſchwang ſie eine Handvoll Roſen über dem Kopf und lachte laut. 

„Sie kommen!“ rief ſie. „Heute kommen ſie!“ 

Dabei tanzte ſie mit der Leichtigkeit eines jungen Mãdchens in der Küche umher 
und ſtreute überall ihre Roſen hin. Und ihr krankes Lachen ging durch das ſtille Haus. 

Da war es, als ob etwas in dem alten Voß zerbrach, das ihn bisher aufrecht 
gehalten hatte. Da bat er Gott aus einem heißen Herzen, ſeine arme Frau zu ſich 
zu nehmen. f 

Als fie ihre Roſen verſtreut hatte, flog fie ihm um den Hals und küßte ihn. 

„Sie kommen!“ ſagte fie. „Heute kommen fie.“ 

Dann weinte ſie laut auf und glitt an ſeinem Körper auf den Fußboden 


herunter. 
Ende Juli brachte der alte Voß fie in die Provinzial-Irrenanſtalt nach 
Schleswig. = Mi 


de 


Er begann ſich in der Einſamkeit ſeines Arbeitszimmers zu fürchten. Im 
September nahm er Stine und ihr Kind ins Haus. Das würde auf dem Erlenhof 
wie eine Herausforderung empfunden werden; aber das ſchadete nichts. Heinrich 
war im Anfang des Sommers als ein froher Urlauber im Dorf gewefen. Er hatte 
jeinem alten Schulmeiſter in die Hand geſchworen, daß er nunmehr ein Mann ge- 
worden ſei und daß er bei ſeiner Rückkehr auf dem Erlenhof andere Zuſtände 
ſchaffen wolle. Mochte die Megäre alſo immerhin wiſſen, daß er für Stine und 
ihr Kind Partei nahm. Er brauchte jemand um ſich, der ihn liebte. Und daß Stine 
ſich für ihn würde totſchlagen laſſen, das wußte er. 

Als im Oktober die dunklen Herbſtabende kamen, dachte er viel über ſein 
Schickſal nach. In einer ſtillen Nachtſtunde meinte er, klar zu ſehen. Auf dem 
Arbeitstiſch brannte die grünbeſchirmte Lampe. In tiefen Gedanken ging er 
auf und ab. In den Möbeln knackte es unter feinem ſchweren Tritt. 

Dann blieb er plötzlich ſtehen und meinte ein bleiches Licht der Erkenntnis 
zu erblicken. Er war zu reich geweſen. Er vermochte es erſt jetzt zu ſehen, wo 
ihm der Reichtum genommen war. Drei wohlgeratene Söhne und eine über alles 
geliebte Frau. Ein Leben voll geſegneter Arbeit. Das war zu viel geweſen. 

Aber warum hatte er dann nicht die Frau behalten dürfen? Warum durfte 
er nicht mit ihr Hand in Hand gehen und an die Kinder denken? Warum ſollte er 
ſo einſam ſein bis an ſein Grab? 

Über dieſen Gedanken kam er nicht hinaus. Nie hörte irgend jemand von 
ihm ein Wort der Läſterung über den Krieg. Nie duldete er, daß in feiner Gegen- 
wart von anderen eins geſprochen wurde. Die Not des Landes war eine heilige 
Sache. Wer daran rührte, der vergriff ſich am Willen Gottes. Er hatte ſeine 
Pflicht getan wie alle anderen. Nur daß er auch ſeine Frau hingeben mußte: das 
war hart. Das wollte in ſeinen eiſenharten Schädel nicht hinein, und er ward 
nicht müde, im Gebete um die Geneſung der Frau zu ringen. 

% 


* 


496 | Bruch: An eine Abendwolle 


Gott erhörte ſein Gebet: der Frieden brachte ihm ſeine Frau zurück. Sie 
war blaß und faſt überirdiſch zart geworden; aber das Licht ihrer blauen Augen 
war wieder erwacht. Sie gingen wieder Hand in Hand und bekränzten gemein- 
ſam die Erinnerungen an ihre lieben Toten. Sie wanderten treu und geduldig 
und harrten auf den Tag, wo ſie ſich mit den Vorangegangenen in einer anderen 
Welt treffen ſollten. Wenn der alte Voß nach Schulſchluß ſeinen gewohnten Spa- 
ziergang machte, ſchritt wieder ein ſtraffer, erprobter Soldat des Lebens durch 
die Gaſſe. Feſt und aufrecht bekannte er ſich wie immer zur Pflicht und zur Pflicht- 
erfüllung. Nicht ein Atom ſeiner Lebensanſchauung hatte er geändert. 

Nur ſchweigſam war er geworden, jo unendlich ſchweigſam. 


N Er, — un RACKS = a man 


An eine Abendwolke Bon Margarete Bruch 


Wolke, die voll Gluten ift, 
Wandelnd über dumpfer Welt, 
Allem Sternentum geſellt: 
Niemand ſieht, wie ſchön du biſt. 


Ob du Lilienkleider trägſt, 

Ob du glühnde Löwenpranken 
In die blauen Himmel ſchlägft, 
Niemand ſieht, wie ſchön du biſt. 


Denn: Der Menſchen Werk und Wille 
Flieht der Seele reine Stille, 
Die der Gottheit Spiegel iſt. 


Volke, graue Schwänin nun, 
Sterne ſchon in Veilchenflügeln 
Trägſt du. Über Tannenhügeln 
Scheinſt du läſſig auszuruhn. 


Aber immer drängt es dich, 
Alter Form dich zu entwinden, 
Dich zu ſuchen, dich zu finden 


Alſo in Geburt und Tod 
Wandelnd über Menſchenſtraßen, 
Die dein Göttliches nicht faſſen: 
Schöne Wolke, wie du einſam biſt. 


22 


Mehr Vertrauen! 497 


Mehr Vertrauen! 


n der „Deutſchen Politik“ wendet ſich Paul Nohrbach gegen eine 
gewiſſe Übung, dem Volke Beruhigungspulver zu verabfolgen, wenn 
einmal auch in der militäriſchen Kriegführung nicht alles ganz nach 


2 


N 


die ſich der allzu verwöhnte Heimkrieger leiſten zu dürfen glaubt. Die Betrach- 
tungen Rohrbachs enthalten in ihren Grundzügen (abgeſehen von unangebrachten 
Seitenhieben auf die „Alldeutſchen“) des Erwägenswerten genug, um auch den 
Türmerleſern unterbreitet zu werden. 

Ohne Zweifel, meint Rohrbach, hätten wir in den erſten Tagen des Rück- 
ſchlages gegen unſere Offenſive in Frankreich in Gefahr geſchwebt: „Es iſt gleich- 
gültig, wie uns der Rückſchlag erklärt wird. Jeder Mangel an Erfolg hat ſeine 
natürliche Erklärung. Daß es nicht ſchuldhaftes Verſehen war, das wiſſen wir bei 
unſerer oberſten Heeresleitung. Sind Hindenburg und Ludendorff Götter? Können 
ſie keine Fehler machen? Liegen etwa die Zukunft und die Abſichten der Feinde 
ohne Hülle vor ihnen und ihren Gehilfen? Soll ein nicht gelungener Offenſipſtoß 
nach jo vielen gelungenen ſchon genug fein, um ihnen ein Stück Vertrauen beim 
deutſchen Volk zu rauben? Warum hat man uns denn angefangen zu behandeln, 
als ob wir Franzoſen oder Italiener wären? Wozu gab man die beſchönigenden 
Erklärungen und die Berichte aus, die des Vertrauens auf den Mut des Volkes ent- 

behrten? Das Volk, die Gebildeten und auch die Maſſe, iſt bei uns militäriſch zu 
gut geſchult, um nicht die Abſicht zu merken: mit ſolchen Wendungen ſoll ‚beruhigt‘ 
werden; alſo ſcheint man Beruhigung für nötig zu halten! 

Es gibt keinen ſichereren Weg, Beunruhigung hervorzurufen, als eine ge- 
wiſſe Art, beruhigen zu wollen. Das gilt namentlich einer Öffentlichkeit gegen- 
über, wie der unſrigen. Die Engländer geben ihre offiziellen Kriegsberichte nach 
Mißerfolgen, deren ſie ja bisher eine ziemliche Menge zu buchen haben, gewöhnlich 
auch in einer Form, bei der die Nachteile möglichſt verſchleiert werden. Die halb- 
offiziellen Kommentare bei ihnen tun das aber nicht; die ſind offen, manchmal 
rückſichtslos offen. Sie ſind das mit Abſicht, weil die militäriſche und politiſche Lei- 
tung in England das engliſche Volk kennt. Wer ſich ſtark fühlt, den ſpornt ein 
Mißerfolg und ſelbſt eine Kette von Mißerfolgen zu verſchärften Anſtrengungen 
und um ſo zäherem Willen an. So und nicht anders ſoll man auch zu uns 
ſprechen. Man ſoll offen ſagen, wie es ſtand und ſteht: das Vorhaben gelang nicht, 
wir haben Verluſte gehabt, der Feind Erfolge; keine entſcheidenden und keine billig 
erkauften, aber immerhin nennenswerte Erfolge; es gilt jetzt Ruhe und Mut zu 
behalten, die Feſtigkeit zu verdoppeln, neue Anſtrengungen zu machen. Noch 
hat ſich kein deutſcher Fürſt und kein deutſcher Heerführer vergeblich an die be- 
ſonnene Entſchlußkraft und Opferwilligkeit unſeres Volkes gewendet. Was das 
Volk aber verlangt, das iſt vertrauensvolle Offenheit. Es will ſehen, daß ſeine 
Führer Mut haben und daß ſie ihm vertrauen; dann gibt es alles her, was nötig 
iſt, aber ‚beruhigt‘ will es nicht werden... Niemand von uns denkt daran, zu ver- 

Der Türmer XX, 25 ö 32 


498 Mehr Vertrauen i 


zagen, wenn einmal auch dem Feind ein Erfolg blüht. Wir haben unſere Heerführer 
und die Kraft, die Überzeugung unſerer Feldgrauen: es geht ums Ganze. Daraus 
ſchöpfen wir unſeren Mut. Bekommen wir aber Berichte, wie neulich, ſo iſt es 
ſchwer, die Miesmacher und Angſtmeier, die auch bei uns een auf den Mund 
zu ſchlagen. 

Dazu noch etwas anderes. Man ſage doch auch offen Ferse daß die Ameri- 
kaner in Frankreich jetzt eine ſtarke und kampfkräftige Macht bilden und daß weitere 
amerikaniſche Verſtärkungen fortgeſetzt über den Ozean transportiert werden. 
Als es ſich darum handelte, ob der Krieg mit den Vereinigten Staaten kommen 
werde oder nicht, da hieß es andauernd, erſt daß England gezwungen ſein würde, 
nachzugeben, bevor nennenswerte amerikaniſche Truppen nach Europa gelangen 
könnten, und dann, es werde überhaupt nicht möglich ſein, große amerikaniſche 
Streitkräfte aufzuſtellen, auszubilden, herüberzutransportieren und zu verpflegen. 
Das waren auch Beruhigungspulver, die nicht hätten verabreicht werden Sollen... . 
Der Bericht des amerikaniſchen Kriegsminiſters in der ‚Times‘ beziffert die amerika- 
niſche Armee auf etwas über eine Million Mann und die Verluſte bei der Überfahrt 
auf wenige Hundert. Das eine wird nach oben und das andere nach unten übertrieben 
ſein, aber feſt ſteht, daß genug amerikaniſche Soldaten gegen uns kämpfen, um uns 
den Sieg ſpürbar zu erſchweren, und daß die amerikaniſchen Transporte nicht haben 
verhindert werden können. Gewiß iſt ihnen Abbruch geſchehen, aber nicht genug 
Abbruch, um ſie als eine erheblich ins Gewicht fallende Kampfkraft auszuſchalten. 
Was haben nun alle jene ‚beruhigen‘ ſollenden Verſprechungen und Berechnungen 
für einen Zweck gehabt? Wie feſt wurde an das Verſprechen geglaubt, im vorigen 
Sommer werde es mit Englands Widerſtandskraft zu Ende ſein! Die Enttäuſchung 
kam und ſie wurde überwunden. gebt iſt die Rechnung mit den Amerikanern als 
falſch erwieſen, und die innere Widerſtandskraft unſeres Volkes wird auch damit 
fertig werden. Wir haben nicht verzagt, als wir den Zweifrontenkrieg zu führen 


hatten, wir haben den Niederbruch Rußlands erlebt, und wir werden jetzt im Weſten 


auch die Amerikaner auf uns nehmen. Hindenburg, ſein Stab und unſere Truppen 
werden auch für fie reichen. Es gibt noch Nachwuchs in Deutſchland, und wer da 
glaubt, wir hätten keine Kraft mehr herzugeben, wenn es ums äußerſte geht, der 
ſoll nur kommen, der wird ſeine Hiebe ſpüren. Aber bitte keine Beruhigungen 
weiter! Nur dann wird es möglich fein, alle Verzagtheit niederzuringen, alles 
vaterlandsſchwache Gefühl, wo es ſich zeigt, zu überwinden, wenn wir hart und 
klar von unſerer Regierung und unſerer oberſten Heeresleitung die Dinge fo be- 
nannt und hingeſtellt bekommen, wie ſie ſind. Ein ſtarker Feind muß ein ſtarker 
Feind heißen, Gefahr Gefahr und begangener Irrtum ein Frrtum. Was haben 
wir davon gehabt, daß uns Dinge vorgemalt wurden, die ſchön geweſen wären, 
wenn ſie nicht auf einer Reihe von Selbſttäuſchungen beruht hätten? Auf dieſe 
Weife erſchüttert man nur das Vertrauen. Wir Deutſche gewinnen keine Kraft, 
keinen Aufſchwung aus ſolchen Reden. Wir gewinnen Kraft nur aus dem eigenen 
Einblick in die Tatſachen und aus dem Vertrauen in unſere Führung. 

Nur jetzt keinen Ton von Friedensentſchließung und Friedens- 
bereitſchaft! Damit ſtärken wir den Feind und verſchlechtern unſeren moraliſchen 
und materiellen Kredit in der Welt. Schlecht genug iſt er ſchon infolge der entſetz⸗ 


Mehr Vertrauen! a 499 


! 


— 

lichen, durch vier Fahre bewieſenen Unfähigkeit unſerer Regierung zur moralifch- 
politiſchen Angriffsſtrategie und Taktik. Ein Fehlſchlag an der Kampffront ſtärkt 
beim Gegner vor allen Dingen die Kriegstreiber, und das iſt gut, denn fo erfährt 
es jedermann, daß unſere Vernichtung das Ziel iſt. Schon vor unſerer letzten Offen- 
ſive wurde hier geſchrieben, daß es niemals einen Frieden mit Lloyd George, 
den Northeliffeleuten, Clémenceau, Poincaré geben wird, niemals! Dieſe wollen 
nicht den Frieden, ſondern die Demütigung Deutjchlands, ſeine Verkleinerung 
und Ausſchaltung aus Weltpolitik und Weltwirtſchaft. Sie ſind jetzt hoch und werden 
ſchärfer als je ihren Willen verfolgen. Bedeutete die Friedenspartei beim Gegner 
vorher wenig, ſo iſt ſie jetzt erſt recht kraftlos. Für uns gibt es jetzt nur eine 
Friedenspolitik: weiterfechten und wieder ſiegen. Wer uns etwas 
anderes rät, der iſt unſer Freund nicht. Sollen wir daran zweifeln, daß auch 
der Schlachtenſieg ſich wieder zu uns wenden wird, ſolange wir Hindenburg, 
Ludendorff und unſere unerſchütterte Front im Weſten haben? Was iſt uns an- 
deres geſchehen, als was Franzoſen und Engländern ſehr viel öfter geſchehen iſt? 
Haben die darum aufgehört, an den Sieg zu glauben? Nur den Luxus von 
Friedensreſolutionen nach dem bisherigen Schema dürfen wir uns jetzt 
im Augenblick noch weniger geſtatten als früher. Der Mißerfolg auf dem 
Schlachtfelde kann leichter wieder gutgemacht werden als ein ſtarker Fehler in 
der Politik. ... Auf jeden Fall iſt gegenwärtig an Frieden weniger zu denken als 
zu irgendeinem Zeitpunkt ſeit Beginn unferer Offenſive. Alle Inſtinkte der Ver- 
nichtung gegen Deutſchlands Zukunft haben momentan einen neuen Antrieb emp- 
fangen. Es wäre noch ſehr viel ſtärker der Fall, wenn die Feinde es fertig ge- 
bracht hätten, nicht nur unſere Offenſive zurückzudrängen, ſondern auch die ihrige 
vorzutragen und ähnlich in unſere Front einzubrechen, wie wir es dreimal gegen ſie 
fertig gebracht haben. 

Folgt nun aus dem allen, daß wir Sorge um den Ausgang des Krieges 
haben müſſen? Muß etwa damit gerechnet werden, daß wir den Krieg verlieren? 
Wenn unſere Regierung dabei bleibt, der Armee die ganze Kriegsarbeit alle in 
zu überlaſſen, ſelbſt aber ihre Pflicht zu verſäumen, wird ohne Zweifel der Krieg 
ins Endloſe verlängert werden. Es iſt eine ganz wahnſinnige Zdee, die Ar- 
mee ſoll den Krieg führen, die Regierung aber mittlerweile zuſehen, 
ob ſie nicht Friedensanknüpfungen zuſtande bringt. Die Regierung 
ſoll, genau fo wie die Armee, alle ihre Kraft zuſammennehmen, um den Feind zu 
ſchlagen, nicht auf militäriſchem, ſondern auf politiſchem Gebiet. Darin beſteht 
ja die Überlegenheit unſerer Gegner im ganzen, daß fie den Krieg nicht nur mit 
militäriſchen, ſondern auch mit politiſchen Mitteln führen, und daß ſie es beſſer 
als wir wiſſen: auf dem Schlachtfelde allein iſt dieſer Krieg nie zu gewinnen, weder 
für den einen, noch für den anderen Teil. Das hat der Staatsſekretär v. Kühlmann 
auch gejagt, aber er hat trotzdem geirrt, denn für ihn waren das Gegenftüd zu den 
Kämpfen — Verhandlungen. Irgendeinmal kommen die Verhandlungen 
ſicher, die Zeit dazu iſt ſolange noch nicht reif, wie die feindlichen Völker 
noch unter der Herrſchaft ihrer Kriegshetzer ſtehen. Bis dahin iſt es die Aufgabe 
der Politik, nicht die Offenſive des Schlachtfeldes mit dem Gezirp und Geflöte 
der Verhandlungsſehnſucht, ſondern mit dem Trommelfeuer der politiſchen 


— 


500 gauck: Abend 


Offenſive zu begleiten, das ebenſo überwältigend geleitet werden und wirken 
muß wie das der Geſchütze. Die Diplomatie der Entente führt Krieg gegen uns, 
Krieg mit allen Mitteln, Krieg mit dem Höchſtmaß von Lüge, Verleumdung und 
Roheit, aber auch mit dem Höchſtmaß der Geſchicklichkeit und des Erfolges — die 
unſere erſchöpft ſich aber in Beteuerungen, wie gern ſie Frieden haben 
möchte. Die feindlichen Heeresleitungen haben wunderbare, ausgezeichnete, 
erfolgreiche Helfer an ihrer Diplomatie, die unſere hat fo gut wie gar keine Hilfe 
von der politiſchen Seite her, und die Aufgabe zu ſiegen, laſtet allein auf ihr. 
Dieſen Zuſtand bei uns drücken die Engländer höhniſch aus, wenn ſie ſagen: die 
Deutſchen mögen alle Schlachten gewinnen, den Krieg werden wir doch gewinnen. 
Käme es eines Tages ſo, ſo wäre bei uns ſicher nicht das Militär ſchuld, ſondern die 
Regierung. Wir haben es ſchon oft geſagt und werden es ſo lange wiederholen, 
bis das Ende auf die eine oder die andere Art da iſt: eine Armee, wie die deutſche, 
unter Führern, wie wir ſie haben, iſt imſtande, Siege auf dem Schlachtfelde zu 
gewinnen, auch wenn ſich die Welt gegen fie zuſammenballt. Aber fie iſt nicht im- 
ſtande, eine Welt zu beſiegen, die an ihr Recht und an Deutſchlands Unrecht glaubt. 
Dieſer Sieg kann nur gewonnen werden, wenn zugleich mit der militäriſchen die 
politiſche Offenſive vor ſich geht, und wenn dieſe ebenſogut geleitet wird wie jene. 

Wir können nicht nur geſchlagen werden, ſondern wir werden geſchlagen wer- 
den, wenn unſere Regierung es weiter ſo wie bisher an Einſicht und an Mut fehlen 
läßt. In der Tat, es handelt ſich nicht nur um Einſicht, ſondern auch um Mut, 
ja faſt könnte man ſagen, daß der Mut noch vor die Einſicht gehört. Dem Mutigen 
iſt der Geift des Angriffs eingeboren. Es iſt eine dumme Redensart, zu 
jagen, wir ſtänden zu hoch, um uns auf Verleumdungen und Beleidigun- 
gen zu rechtfertigen. Es kommt hier nicht aufs Rechtfertigen an, ſondern aufs 
Angreifen. Die beſte Deckung iſt der Hieb — fo wie Hindenburg es macht, und 
wenn wir ſein Rezept nicht auch in der politiſchen Offenſive befolgen, ſo heißt das, 
gegen Überlegenheit nur mit einem Arm fechten wollen. Wer auf den Feind los 
will, der findet auch die Mittel, ſchafft ſich die Kenntniſſe, das Material und die 
Hilfskräfte, um zu ſchlagen. Anſerer Diplomatie aber fehlt der Angriffsgeiſt, 
darum ſitzt fie ewig in der Defenſive und war bisher ihrer Aufgabe fo wenig ge- 
wachſen ...“ 


Abend Von Ernſt Hauck 


Nun lockt der Amſel Flötenſpiel um eins ſo traut 

Als hoch im lichten Tag. 

Wie dunkle Dome ſtehn die Wälder aufgebaut, 

Aus Waſſerſpiegeln letzte Sonnenliebe ſchaut. 

Mud fällt ein Glockenſchlag 

Schon will am Himmelsrand ein ſilbern Sternlein brennen — 
Und aus den Tiefen ſteigt ein ſchweigend Gottbekennen. 


% 


Peter . 


* ie letzten Worte des letzten Buches, das der Alte von Krieglach aus ſeinen gütigen 
Händen gab — Heimgärtners neues Tagebuch war dieſer eee — klangen 


mit ter a auch des Herzens Unruß' hinweg und Schließe einen Sonderfrieden mit mir ſelber.“ 

Vom 31. Auguſt des vorigen Jahres find dieſe Worte datiert. Und nun, da wieder der 
Sommer verloht und der Auguſt hingeht, iſt zur Wahrheit geworden, was durch das gütevolle 
Lächeln des Weiſen und Verſöhnten als bange Ahnung durchklang. Er hat für immer die Feder 
hingelegt, und er, der ſo gern verkündigte: „Euer Ziel ſei der Frieden des Herzens“, hat den 
letzten und tiefſten Frieden gefunden, nachdem ſich längſt vor ſeinen Ohren alle Mißklänge 
gelöſt und vor ſeinen gütigen und ſchalkhaften, leiderfahrenen und doch weltgläubig hellen Augen 
alle Wirrniſſe zu klären begonnen hatten. Nur wenige Wochen vor ſeinem 75. Geburtstag, am 
26. Juni, iſt Roſegger ſtill und heimlich hinweggeſchlichen — faſt mit einer feiner kleinen Ulk 
launen und Liſten, zu denen er ſo bäuerlich verſchmitzt und doch ſo tiefherzlich ſchmunzeln 
konnte. Er war kein Freund des Gefeiertwerdens, und ſeine Popularität, die ihm ſo viele 
Sommertage verdarb und immer neue naſeweiſe Frager und Verhimmler zuführte, war oft 
eine ſchwere Laſt für den Kränkelnden, die er freilich mit Humor und Güte trug, wie alle Laſten 
ſeines Lebens. Aber gern entſchüpfte er ſeinen Peinigern, war plötzlich unſichtbar und auf 
Reifen, und freute ſich königlich der gelungenen Lift und der paar freien Atemzüge. So iſt 
er auch jetzt knapp vor der Feier auf Reiſen gegangen, hat alles Sichtbare verlaſſen und im 
Anſichtbaren, Un vergänglichen, wo fein Herz längſt die Heimat wußte, ewige Einkehr gehalten. 

Mit ihm iſt nicht nur einer der eigenſtärkſten und einflußreichſten Dichter der Gegen- 
wart, ſondern auch einer der wenigen Ganzdeutſchen und Tiefdeutſchen von uns genommen 
worden. Ein Mann, der die geſammelte Offenbarung deſſen verkörpert, was wir in idealifieren- 
den Bildern unſeres Volkstums ſehen möchten. Eine Geſtalt wie Peter Roſegger iſt die er- 
greifendſte Apologie unſeres Volkes. Aus Bauern- und Handwerkerſtand iſt er gekommen, 
aus Wald und Bergluft und Einſamkeit. Ihnen hat er die Treue bewahrt, als die Welt ihn 
umfing und umſchmeichelte, aus ihnen ſog ſeine Künſtlerſchaft die klare, nie verſiegende Kraft. 
Und doch hat er ſich klug und hell durch dieſe Welt geſchlagen, die ihm zuerſt ſo fremd und 
fern rauſchte, hat ihre Hemmniſſe überwunden, ihre Lockungen überhört, iſt aufrecht und ziel- 
ſicher und doch in einfältiger Demut ſeinen Weg gegangen, immer er ſelbſt geblieben, hat 
immer getan und geſprochen, was Herz und Wille in ihm ſchöpferiſch formten, furchtlos, ob 
heute dieſe, morgen jene Gruppe feiner Getreuen enttäuſcht und unwillig mäkelte. Im Grunde 
war er ihrer doch immer ſicher, ſoweit ſie ehrlich und treu waren, denn der Zauber ſeines reinen, 


502 | Peter Rofegge 


bergbachklaren Menſchentums hielt alle im Bann. Und wie ſeine Liebe zur heimatlichen Natur, 
wie ſein Weltleben und die Wahrhaftigkeit ſeines Weſens, war deutſch auch ſein Sehnen und 
Ringen nach dem Göttlichen und Uferlos-Großen wie feine rührende Liebe zu allem Kleinen 
und Hilfloſen, zu den Kindern, denen ſeine reichſte, verſtehendſte Guͤte galt, und zu den Tieren 
der Erde, deutſch ſein ſtolzes Bekenntnis zum eigenen Volke, dem er durch Wort und Tat zum 
größten Wohltäter der Gegenwart wurde, wie fein gläubiger Aufblick zu heiligen, verbrüdern- 
den Menſchheitszlelen, an denen ihn auch dieſer Krieg nicht irre machte. Und deutſch war ſein 
Arbeits- und Pflichtgedanke, ſeine Gläubigkeit und doch das ſtolze lutherhafte Feſthalten am 
Kriterium des eigenen Urteils und eigenen Gewiſſens, ſein Humor, der aus den tiefſten Quellen 
ſeiner Weltweisheit herzbefreiend aufquoll, und ſeine mit ſtreitbarer Tatkraft gepaarte Liebe 
zu allem Lebendigen, ſein Sehnen nach Frieden und Freiheit der Seele. 

Darum iſt auch Noſegger in dieſem Volke „populär“ geworden, darum hat er über dieſes 
Volk hinaus bei Franzoſen und Engländern, Schweden und Norwegern, Dänen und Hollän- 
dern in ihrer Mutterſprache Freunde geworben. Vor allem aber im eigenen Volke, wo ſeine 
Schriften in Hunderten von Auflagen, in Millionen von Einzelbänden lebendig find. Nicht 
immer ſind hohe Auflagen ein Ehrenzeichen für den Dichter. Namentlich heutzutage. Wo 
aber jeder Hauch von Senſation fehlt, wo nur der Wald der Heimat rauſcht, in deſſen Schatten 
die Schickſale ringender Menſchenherzen einfach und naturgewaltig Geſtalt gewinnen, wo Güte, 
Kraft und tiefſte Menſchlichkeit lauter und rein ſchimmern und fröhlich machen, da iſt Populari- 
tät nur das laute Bekenntnis, daß wir alle aus den Irrungen und Wirrungen moderner Kunſt 
und Kultur mit fliegenden Fahnen in das Lager eines Sängers eilen, deſſen Lied die Urklänge 
des Göttlich-»Menſchlichen in mütterlich trauten Heimatweiſen aufrauſchen läßt. Es iſt das 
erquickende Zeichen, daß noch nicht alles krank, halb, ungläubig und undeutſch in uns iſt, daß 
nur der Prophet reden muß, und die Jünger erwachen aufs neue. Darum hat Karl Buſſe 
recht, wenn er am Verewigten noch zu ſeinen Lebzeiten rühmte: „Immer hat er das Herz des 
Volkes geſtärkt, gelabt und tapfer erhalten. Nichts hat er geſchrieben, was dieſes Volk hätte 
verwirren, unſicher machen oder gar entmutigen können. Das muß ein ſchönes Bewußtſein 
in der Abenddämmerung ſein — doppelt heute, wo die Nation der härteſten und blutigſten 
Prüfung unterworfen wird. Wenn der alte Peter nun ſieht, wie ſie die Prüfung beſteht, dann 
darf er ſtolz empfinden, daß auch er dazu geholfen hat. Es gibt nur ſehr wenig lebende Oichter, 
die Gleiches von ſich ſagen dürfen.“ 

* * 
* 

Zu der Höhe dieſer Wirkfülle und Allbeliebtheit iſt ein langer Weg vom Rluppenegger- 
haus in Alpl bei Krieglach, das noch heute ſteht wie hundert Jahre vor der Geburt feines be- 
rũhmteſten, nun heimgegangenen Sohnes. Das Dach freilich iſt anders geworden, die Gtal- 
lungen ſind verſchwunden, und über das urbar gemachte Land rauſcht näher und näher der 
neugeforſtete Wald, als wolle er über dem Heinen verlaſſenen Anweſen wieder zufammen- 
ſchlagen, um den Kreislauf irdiſchen Werdeganges wieder einmal zu ſchließen. Auch der Oichter, 
der hier ſeinen Ausgang nahm, iſt im Tode wieder ganz heimgekehrt — nur von Wald und 
Kindern umkränzt, von ſeinen nächſten Heimatgenoſſen geleitet, ohne Prunk, Gebärden und 
Rede ſtill zu den Vätern gegangen. Zunge Stimmen klangen an ſeinem Grabe, junge Augen 
füllten ſich angeſichts des Todes mit Staunen und Tränen. Kein verlaſſener Waldſchulmeiſter 
konnte einfacher die letzte Straße gehen. Roſegger wollte wieder ganz der Sohn ſeiner engſten, 
treugeliebten Waldheimat ſein. Auch hier hat ſich ein Kreis geſchloſſen. 

Aber zwiſchen Aufgang und Niedergang liegen hier 75 reiche, köſtlich geſegnete Jahre. 
Da iſt in Arbeit und Mühen feine dämmernde Kindheit erwacht — und doch fo ſchöͤn wie ein 
Waldmärchen, von dem er berichtet: „Als ich mich auf dieſer Erde fand, war ich ein Knabe 
auf einem ſchönen Berge, wo es grüne Matten gab und viele Wälder, und wo, ſoweit das Auge 
trug, andere Berge ftanden.“ Da hat er bei Vieh und Pflug mithelfen wollen, um einſt ein 


eter Roſegger 503 


braver Bauer zu werden und das Leid der erſten Enttäuſchung erlebt: er war zu ſchwach zum 
Beruf ſeiner Väter. So ging er 17jährig zum Dorfſchneider in die Lehre, mit dem er von 
Haus zu Haus zog und an 67 Bauerntiſchen arbeitete. Dazwiſchen aber keimte und glühte 
die heilige Saat, der kränkliche Schneiderlehrling las halbe Nächte hindurch laut im Prediger 
ton, was Volkskalender und alte, ſeltſam-phantaſtiſche Zejus- und Heiligenbücher ihm boten, 
und begann ſelbſt zu ſinnen, zu träumen und zu ſchreiben. Mit 21 Jahren lenkt er durch eine 
Einſendung von Manufkripten die Aufmerkſamkeit des Redakteurs der Grazer Tagespoſt Spo- 
boda auf ſich, er wird durch Gönner und Freunde Handelsakademiker in Graz und hat fünf 
Jahre ſpäter mit feinen Dialektgedichten „Zither und Hackbrett“, zu denen Hamerling ein freund- 
liches Vorwort ſchrieb, einen ſo durchſchlagenden Erfolg, daß ſein Leben entſchieden iſt. 

Nun geht ſein Weg raſch hinan, Erfolg reiht ſich an Erfolg, aber auch künſtleriſch hebt ſich 
ſeine Kraft. Vom Dialektdichter, vom liebenswürdigen Fabulierer, den er nie ganz ablegt, 
wächſt Roſegger mit dem „Gottſucher“, dem „Ewigen Licht“ und dem Jeſusroman „J. N. R. J.“ 
zu reifſter Künſtlerhöhe. Zeichnen die erſten beiden Bücher die Tragödie des Wahrheitsſuchers, 
die via dolorosa des Sdealijten, jo hören wir im Zefusbuch die ſymboliſch verhüllte Weisheit, 
wie wir begnadigt werden können: indem wir in der Haſt unſeres Erdenwandels, jeder ſtill 
für ſich, an unſerem Chriſtus dichten. Und ein zweiter Dreibund unvergänglicher Meiſterwerke 
find die „Schriften des Waldſchulmeiſtere“, mit deren gütiger, ſonniger Waldarbeit und Wald- 
fröhlichkeit der Dichter die widerſtrebendſten Herzen bezwingt, dann „Jakob der Letzte“, dieſe 
tiefe Tragödie modernen Bauerntums, und „Erdſegen“, beide voll hoher Hymnen auf Wald 
und Kornfeld und Ackerliebe. Daneben ſteht etwas einſam die Erzählung vom bäuerlichen 
Wahrheitshelden „Peter Mayr“ aus Tirol. Aber außer dieſen Hauptwerken, den Pfeilern 
ſeiner Unſterblichkeit, hat Nofegger auch alle übrigen Gebiete erzählender Kunſt umſpannt, 
die luſtige Oorfſchnurre ſowohl wie die ernſte Novelle und tagebuchartige Proſaweisheit, die 
er faſt ſämtlich zunächſt ſeiner 1876 gegründeten Zeitſchrift „Heimgarten“ anvertraute. Von 
Bühnenftüden errang nur das Volksſchauſpiel „Am Tage des Gerichts“ einen namhaften Er- 
folg. Im ganzen hatte er ſelbſt vor der Bühne eine begreifliche Scheu. Auch bekannte er 
offen: „Ich entdeckte in mir weder dramatiſchen Beruf noch Luſt, mein ruhiges Leben mit 
Aufregungen der Theaterwelt zu vertauſchen.“ Er fühlte ſelbſt, daß ſein unbeſtrittenes Feld, 

wo er reichſter König war, das epiſche bildete. 

Klar, einfältig und lauter wie der Dichter und Menſch iſt ſeine Sprache. Man hört 
ihn ſprechen, plaudern, ſchmunzeln und kichern — und dann wieder zur Höhe des durchglühten 
Predigers aufflammen. Auch ſein Hochdeutſch hat eine Fülle mundartlich gedachter Wendungen 
und Zierate aufgenommen, wodurch es fo friſch, geſund und ozonreich wirkt. And weil er aus 
der Anſchauung dichtet, weil er klar ſieht, was er ſchildern will, ſo formt ſein Erzählen oft mit 
patriarchaliſch einfachen Mitteln die wunderbarſte Plaſtik. Er iſt temperamentvoller, ſprudeln- 
der, problemdurchkämpfter, auch ſchöpferiſcher, als der ſtille Stifter, aber in ihrer Naturkunſt 
und feinen, durchſeelten Waldfreude find ſie Brüder. Wald und Bauerntum bleiben der heilig- 
feſte Grund, wenn Roſeggers Gottſucherweh auch zu den Sternen ſteigt oder in den tiefſten 
Schächten der Rätſel gräbt. 

Wald und Bauerntum, beiden hat der Oichter die ehrfürchtigſten Kränze gewunden. 
Seine Stimme kann prophetenhaft werden, wenn er ſie preiſt. Das Prieſterliche, Weihevolle 
des Erdbeſtellers, der mit Himmel und Grund in altheiligem Bündnis lebt, ergreift ihn immer 
ſelbſt aufs neue, wenn er ihn ſchildert. „Zuerſt der Gottſchöpfer, und gleich unterhalb ſein 
Handlanger, der Bauer“, heißt es im „Erdſegen“. Und im ſelben Buch an anderer Stelle: 
„Die Menſchheit ſteht nirgends ſo feſt gegründet als im Bauerntum, und dieſes nirgends ſo 
tief als in den Bergen.“ Und die Heimat des Bauern, des Menſchen überhaupt iſt der Wald. 
Immer wieder rauſcht ſein tiefgrünes Zelt um Noſeggers Geſtalten und Schickſale, bald hell 
und kulturzeugend, voll werbender Freude, dann wieder drohend, ſchwer und voll unergründeter 


. 


504 Peter Rofegger 


Geheimniſſe. Vom Wert und Troſt des Waldes hat der Dichter goldene Wonte gejproden. 
Nur zwei feien hier. genannt: wie man ihm nahen und wann man ihn ſuchen ſoll. „Nur der 
Einſame findet den Wald; wo ihn mehrere ſuchen, da flieht er, und nur ſeine Bäume bleiben 
zurück.“ „Die wildeſten Konflikte des Herzens löſen ſich nicht in Tränen und nicht in Blut, 
ſondern nur im reinen Tau des Waldes.“ — Dieſer reine Waldtau, er liegt aber nicht nur unter 
Fichten und ſchimmerndem Laubdach, ſondern klar, ſtark und tröſtend auf allen Worten und 
Werken des Sängers. 

And Rofeggers Werke erſchöpfen ſich nicht in Lied und Schrift. Nur halb kennt und 
ſchätzt man ihn, fo Anſterbliches er als Dichter erſchuf, wenn ſein ſchlichtes, heilbringendee 
Menſchenwirken nicht genannt wird. Sein Künſtlertum und fein Menſchentum find ebenbürtig 
große Kräfte und Wirkzentren. Nur die augenfälligſten Schöpfungen dieſes Mannes, der ein 
Schãtzer und Wohltãter der Menſchheit war wie jener Zofef, den er als Kind einſt ſuchen ging und 
über deſſen Tod er bittere Tränen vergoß, ſeien hier erwähnt: die evangeliſche Heilandskirche 
in Mürzzuſchlag, für die er 88000 Kronen warb, und der Wiederaufbau der kleinen katholiſchen 
Kirche in St. Kathrein am Hauenſtein; das heitere Waldſchulhaus ſeines Heimatsortes, das den 
bedrohten Ort neu feſtigt und feiner Jugend all das bietet, was Roſegger ſelbſt jo bitter ent; 
behren mußte; die Oreimillionenſammlung für den deutſchen Schulverein und neuerdings 
noch der Plan eines Erholungsheims für leidende Volksſchullehrer, wofür er ſchon vor einem 
Jahr 150000 Kronen zuſammengebeten hatte. Doch neben dieſen großen, ſichtbaren Zeichen 
leben von jedem Tag feines Oaſeins fo unendlich viel Förderungen, Troſtworte, Freundestaten 
und kleine, im verborgenen faſt ſchamhaft gewirkte Liebeswerke, daß der Strom von Güte und 
Segen nicht zu erfaſſen iſt, der von dem einen ſtets kränkelnden Menſchen ausging. Dabei 
hielt er immer ſelbſt Ausſchau nach neuen Freunden, die ihn brauchen könnten, denen auch er 
neue Anregungen verdanken wollte. So ſehr ihn Zudringliche quälten und marterten, er hatte 
noch immer Zeit und Luſt, die Stillen zu finden, die ihn nicht zu ſuchen wagten. Ich habe 
einſt jahrelang in Graz neben ihm gelebt, ihn faſt täglich in der Sonne des Stadtparks geſehen, 
ohne ihm zu nahen. Später druckte er einmal einen kleinen Kunſtwartaufſatz von mir in feinem 
„Heimgarten“ ab. Und wieder vergingen Fahre, da freute ihn einer meiner Artikel in der 
Oſterreichiſchen Rundſchau, in dem ich Einfachheit, Echtheit und Schönheit des Lebens forderte, 
jo ſehr, daß er mir als Erſter die erſte herzlichliebe Karte ſchrieb. So iſt mancher zu Nofegger 
gekommen, oder richtiger: der Meiſter kam zu ihm, und es gab immer neues Leben um den 
Ewigjungen. 

Darum war er auch ein Meiſter der Fröhlichkeit und Weltgläubigkeit — trug er doch in ſich 
die beſte Gewähr eines Sinnes der Welt, einer lebendigen Güte und Kraft. Die Welt ſah er 
dabei durchaus nicht idealiſiert und roſarot, er fand bittere Worte für ihre Härte, ergreifende 
Tragödien für die zerſchmetternde Wucht ihrer Konflikte und Kämpfe. Aber die Güte baut 
immer wieder empor, das machte ihn fröhlich und ſchaffensſtark. „Das ſchwere Leben iſt am 
leichteſten zu tragen, wenn man ſich ſchwere Aufgaben ſtellt“, lautet einer ſeiner mannhaften 
Weisheitsſprüche. Und darum fand er wie Goethes Türmer, was je die glücklichen Augen ſehen, 
doch ſchön, und mitten im Krieg rief er den Kinderloſen erſchütternd zu: „Das Leben iſt ſchön — 
weckt Kinder auf!“ 

Edel ſei der Menſch, hilfreich und gut — nicht bald iſt ein Menſchenleben zu finden, das 
ſo reich und hingebend dieſe ſchlichten Goetheworte befolgte wie Roſegger. Darum gelten auch 
vor allem für ihn jene anderen, verherrlichenden Worte unſeres Größten: 


„Alle Tag' und alle Nächte 
Rühm’ ich fo des Menſchen Los: 
Denkt er ewig ſich ins Rechte, 
Sit er ewig ſchön und groß!“ 
* 
* 


"=; N * Denn 3 W 9 nn 


Peter Noſegger 505 


Zwei heilige Borne gibt es, aus denen die Menſchheit, aus denen namentlich unſer 
Volk und feine Beſten je und je ſchöpfen: Antike und Chriſtentum, edle Selbſtbehauptung 
und Selbſthingabe, Schönheit und Sittlichkeit, fröhlich-ſtarke Erfaſſung des Diesfeits und 
gläubige Ahnung einer geiſtigen, tiefinnerlichen, unſichtbaren Welt. Nicht alle Geſchlechter 
greifen zu den Urquellen zurück, aber die Krüge mit dem heiligen Waſſer wandern von Ge- 
neration zu Generation. In Humanismus und Reformation quoll es wieder aus Artiefen 
ſchöpferiſch auf, die beiden Kräfte klärten, ergänzten und bereicherten ſich gegenſeitig und haben 
in ihrer Verbindung das Edelſte unſerer klaſſiſchen Dichtung geſchaffen. Auch in der Gegen- 
wart blüht die beſte Kraft idealiſtiſcher Welt und Kunſterfaſſung aus dieſem Bund, ſo in der 
Philoſophie des Zenenfers Eucken und in dem literariſch-menſchlichen Idealismus Friedrich 
Lienhards, der den Weg nach Weimar, den Weg zu einem inneren, kunſt- und perſönlichkeit- 
verklärten Deutſchland weiſt. In dieſer Luft, in dieſer Sehnſucht, im Reichtum dieſer neu- 
lebendigen Schätze aus Antike und Chriſtentum, klaſſiſcher Dichtung und klaſſiſcher Philoſophie 
leben und atmen und ſind wir Modernen. 

Peter Rojegger iſt fern von all dieſer reichen, anregenden Atmoſphäre groß und er ſelbſt 
geworden. Er wußte nur zu gut, was ihm damit verloren ging. Die lebendige Berührung mit 
der Antike blieb ihm verſagt, auch zur klaſſiſchen Dichtung fand er erſt in ſpäteren Zahren als 
Gaſt und ehrfurchtsvoller Fremder. Und das Chriſtentum fand er, mit Aberglauben und einer 
Art Götzendienſt vermiſcht, lediglich im engen Katholizismus feiner Bauern vor. Aus eigener 
Kraft mußte er auch hier ſeinen Weg bauen, mußte ſich und ſeinem Gewiſſen ein neuer Luther 
werden, bis er aus der von Kindheit an geliebten überlieferten Zeſusgeſtalt jenen „ſtarken, 
tatkräftigen, gottfrohen Mann, mit dem ſich's ganz unmittelbar und freundſchaftlich leben ließ“, 
geſchaffen hatte, der ihm dann zur ſegnendſten Leuchte feines Lebens wurde und alles er- 
ſetzen mußte. Natürlich ließ ſich jene zeit- und kulturfremde Einſamkeit des Ungeſchulten nie 
ganz verwiſchen, namentlich im Religiöſen, im Ringen um Weltanſchauung und Klarheit iſt 
es oft ergreifend zu ſpüren, daß der Dichter und Sucher von unten an neu anfangen mußte, 
daß ihm von der Arbeit von Vergangenheit und Gegenwart wenig zur Verfügung ſtand. Daher 
ringt er oft mit Problemen, die uns keine mehr find, und beſchwert fein Suchen mit alten Be- 
griffen und Vorſtellungen, die auch uns das Folgen ſchwerer machen. Oft bleibt er im Kon- 
feſſionellen ſtecken, ja er hat eigentlich nicht einmal aus dem katholiſch-evangeliſchen Konflikt 
herausgefunden und für den modernen Proteſtantismus kein Verſtändnis aufgebracht. Andrer- 
ſeits aber hat dieſe köſtliche Freiheit von Schule, Gedächtnisdrill, Sekkatur — die in der Schule 
nie ganz fehlt — und all den tauſend Exanien ihm eine wundervolle Fülle ungebrochener Energie 
und Arſprünglichkeit bewahrt, alles, was er dann errang und beſaß, war wirklich ſein, war 
geworden und erkämpft und nicht erlernt, und gleichzeitig ſchützte ihn die weitherzige Toleranz 
jeder ehrlichen Überzeugung gegenüber vor der Gefahr der Enge und Verſchloſſenheit. 

So hat Peter Roſegger auf eigenen, ſelbſtgebauten Wegen bis zu den Höhen hinauf 
gefunden, wo er unſern Größten nahekam. Als Dichter und als ſuchender Menſch. Er hat 
ſich einen poetiſch verklärten Realismus zurechtgelegt, der gleich weit entfernt war von natura- 
liſtiſcher Kunſtloſigkeit wie von unwahrer Phantaſterei. Kunſt und Dichtung ſollen ſchöner 
ſein als das Leben, ſie ſollen ſtiliſieren, ausheben und das Allzuvergängliche abſtreifen, das 
hat er immer gelehrt und danach getan. Und wie Hans Sachs hat er den Schwank und die 
Schnurre verſtanden, in denen plötzlich ſo viel irdiſche und göttliche Weisheit aufleuchtete, und 
hat mit Gott, Chriſtus und den Heiligen bei aller tiefen Ehrfurcht oft recht familiäre Töne an- 
geſchlagen. Wie Leſſing forderte er vor allem praktiſches Chriſtentum, trat unbeirrt für den 
Schwachen und Terroriſierten ein, wurde von engherzigen Kirchenmenſchen bekämpft und 
verfolgt und hat von der Kanzel ſeiner Dichtung aus immer Duldung und Liebe gepredigt. 
Wie Schiller rang er in ſiechem Leib und in prieſterlicher Auffaſſung feiner Dichterwürde nach 
ſittlichen Zielen, predigte und erzog und liebte Volk und Menſchheit mit ganzer, ſelbſtaufopfern- 


506 Ä Goethe als Regierender 


der Hingabe. Und wie Goethe war er fo glüdlich, fein Leben aus einem Guß zu leben, ohne 
Bruch und Umkehr, wie er glaubte er daher an die Stetigkeit der Entwicklung, an eine Gött- 
lichkeit und Führung der Welt, wie er lehrte er ſtrenger Pflichten tägliche Bewahrung als 
ob erſter Lebensaufgabe, wie er und fein Fauſt ſtand er mitten im Leben und ſozialen Wirken, 
ſchuf Neuland für tauſenderlei Arbeit, freien Grund für freies Volk und konnte auch von ſich 
ſagen: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aonen untergehen.“ Immer ſtrebend 
bemüht, als Menſch und Kämpfer, war er, wenn je ein heutiger Menſch, auf dem Weg der Er- 
löſung. Doch auch die „Gnade“ hat er empfunden, die geheimnisvolle Kraft, die jeden Guten 
und Ehrlichen ſtärkt und trägt, die „von oben“ teilnimmt an dem Strebenden. „Je weiter der 
Weg, deſto größer die Gnade“, ſagt ganz im Geiſte Goethes eines feiner tiefſten Worte. 

And doch: bei mancher Berührung mit unferen Größten war RNoſegger anders, ſchlichter, 
kindlicher, heiterer und märchenhafter. Oer Heiland, die Kinder und die Tiere geleiten feine 
Wege. Wie eine wundervolle Legende floß ſein Leben hin, im Bunde mit allem Heiligen und 
Kindlich-Reinen. Und apoſtoliſch klang immer wieder mahnend und gottfröhlich die alte Weis“ 
heit auf: Die Liebe iſt das ewige Licht! Laſſet uns von Liebe reden! And: Euer Ziel ſei der 
Frieden des Herzens! 

So war er ſelbſt, je weiter er ging, eine immer größere und reichere Gnade für uns 
alle. Und dieſe Gnade wird bleiben und ihre unerſchöpfliche Segensfülle für Volk und 
Menſchheit. Prof. Dr. Emil Hadina (Wien) 


Goethe als Regierender 


Eine zeitgemäße Betrachtung 


N gelen. die nur von dem Genie gemeiſtert werden können. Gleichviel dann, woher 

N05 es konimt, ob zünftig oder nicht, ob durch die Schule gegangen oder lehrerlos: fo- 
bald wir nur den erſten genialen Griff ſpüren würden, würden wir nach keinem Woher mehr 
fragen — ſelbſt wenn es das als fo weltfremd verſchriene Land der Dichter und Denker wäre. 

Vor nicht ganz eineinhalb Jahrhunderten, da trat in Klein- Deutſchland, wie das Thü 
ringer Ländchen ſpöttiſch geheißen wurde, einer auf, der mit der bloßen Gottesgabe im Kopfe 
und dem Tatendrang im Herzen es unternehmen wollte, den Staat zu regieren: einer, der aus 
dem Land der Dichter und Denker kam, ein „gewiſſer Dr. Goethe“, wie man ſich in den Weimarer 
amtlichen Kreiſen mit Vorliebe ausdrückte. Allerdings, Amtszeugniſſe hat er feinem Freund, 
dem Herzog, nicht vorlegen können, aber dafür hat dieſer ſeit früheſter Jugend gelernt, Geift 
und Perſönlichkeit zu ſchätzen, und daraufhin wird es von ihm gewagt. Nicht glatt freilich geht 
es bei den nun folgenden amtlichen Ernennungen ab, denn die Zünftigen ſetzen Widerſtand 
entgegen, wo ſie nur können. Weimars hervorragendſter Beamter, der Miniſter v. Fritſch, der 
die Geſchicke des Herzogtums 14 Fahre lang geleitet hat, reicht infolge der „Veränderungen, 
die der Herzog in dem geheimen Conſeil, d. i. dem Miniſterium, plane“, fein Entlaffungs- 
geſuch ein. 

Darin warnt er den Herzog beſonders, den ſchöngeiſtigen Frankfurter Advokaten, wenn 
auch genialen Dichter, Dr. Goethe, in den geheimen Rat aufzunehmen. Er, Fritſch, ſei fo ſehr 
von dem Fehlerhaften dieſes Schrittes überzeugt, daß er nicht in einem Kollegio ſitzen könne, 
deſſen Mitglied gedachter Dr. Goethe werden ſolle. Der Herzog wird das bei feiner raſch auf- 
lodernden Gemütsart wohl kaum ruhig hingenommen haben, hegte außerdem ſchon lange den 
Wunſch, Fritſch loszuwerden. Trotzdem antwortet er ihm erſt nach 16 Tagen und bittet ihn, 
im Amt zu bleiben. Es iſt kaum anders möglich, als dieſe große Mäßigung dem Einfluß Goethes 


Goethe ais Regierender | 507 


zuzuschreiben, zumal wir wiſſen, daß er andere Schreiben an Fritſch ſelber durchgeſehen und 
Schärfen darin gemildert hat. Und es legt ein gutes Zeugnis für ihn ab, daß er den Vert eines 
erfahrenen Beamten erkennt und ihn nicht leichtfertig in ſeinem Intereſſe opfert. Der Brief 
des Herzogs aber iſt ein kleiner Katechismus der Fürſtenweisheit: 

„Ich habe Fhren Brief, Herr Geheimer Nat, vom 24. April richtig erhalten. Sie ſagen 
mir in demſelben Ihre Meinung mit aller der Aufrichtigkeit, die ich von einem fo rechtſchaffenen 
Manne wie Sie ſind, erwarte. Sie fordern in demſelben Ihre Dienſtentlaſſung, weil, ſagen 


Sie: Sie nicht länger in einem Kollegio, wovon der Dr. Goethe ein Witglied iſt, ſitzen können. 


Dieſer Grund ſollte eigentlich nicht hinlänglich ſein, Sie dieſen Entſchluß faſſen zu laſſen. 
Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Ent- 
ſchluß billigen, Goethe aber iſt rechtſchaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren 
Herzen. Nicht alleine ich, ſondern einſichtsvolle Männer wünſchen mir Glück, dieſen Mann zu 
beſitzen. Sein Kopf und Genie iſt bekannt. Sie werden ſelbſt einſehen, daß ein Mann wie 
dieſer nicht würde die langweilige und mechaniſche Arbeit in einem Landeskollegio von unten 
auf zu dienen, aushalten. Einen Mann von Genie nicht an dem Ort zu gebrauchen, wo er ſeine 
außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt denſelben mißbrauchen. Was den Punkt 
anbetrifft, daß dadurch viele verdiente Leute, welche auf dieſen Poſten Anſprüche machten, 
zurückgeſetzt würden, fo kenne ich niemanden in meiner OSienerſchaft, der meines Wiſſens 
darauf hoffte; zweitens werde ich nie einen Platz, welcher in ſo genauer Verbindung mit mir, 
mit dem Wohl und Wehe meiner Untertanen ſteht, nach Anciennität, ſondern nach Vertrauen 
beſetzen. Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe 
in mein wichtigſtes Kollegium ſetze, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Profeſſor, Kammer- 
oder Regierungsrat war, dieſes verändert gar nichts; die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich 
aber und jeder, der ſeine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm zu erlangen, ſondern um 
ſich vor Gott und ſeinem eigenen Gewiſſen rechtfertigen zu können und ſuchet auch ohne den 
Beifall der Welt zu handeln. Nach dieſem allen muß ich mich ſehr wundern, daß Sie, Herr 
Geheimer Rat, die Entſchließung faſſen, mich jetzt zu verlaſſen, wo Sie ſelber fühlen müſſen 
und gewiß fühlen, wie ſehr ich Ihrer bedarf. Wie ſehr muß es mich befremden, daß Sie, anftatt 
ſich ein Vergnügen daraus zu machen, einen jungen fähigen Mann, wie mehrbenannter 
Dr. Goethe iſt, durch Ihre, in einem zweiund zwanzigjährigen treuen Dienſt erlangte Erfahrung 
zu bilden, lieber meinen Dienſt verlaſſen, und auf eine, ſowohl für den Dr. Goethe, als, ich 
kann es nicht leugnen, für mich beleidigende Art; denn es iſt, als wäre es Ihnen ſchimpflich, 
mit demſelben in einem Kollegio zu ſitzen, welchen ich doch, wie es Ihnen bekannt, für meinen 
Freund anſehe, und welcher nie Gelegenheit gegeben hat, daß man denſelben verachte, ſondern 
vielmehr aller rechtſchaffenen Leute Liebe verdient.“ 

Trotz dieſes Briefes brauchte es noch die Vermittelung der Herzogin Amalia, um Fritſch 
zum Bleiben zu bewegen — ein Beweis, wie groß die Kluft zwiſchen Naturgenie und an- 
erzogener Befähigung iſt. 

Darauf begann Goethe ſeine Beamtentätigkeit, auf nichts angewieſen als ſein geſundes 
Urteil und die Gaben feines Geiſtes. Und wenn er im Lauf der Zeit fo ziemlich alles in die 
Hand bekommt, was einem Staatsmann nur zugemutet werden kann, ſo muß ſein Einfluß 
noch weit über ſeine Reſſorts hinaus als entſcheidend angeſehen werden, da der Herzog kaum 
irgend eine Angelegenheit ohne den Rat ſeines Vertrauten entſchied. Goethe kann mit vollem 
Recht der Mitregent des Herzogs genannt werden. Als Reſſorts erhielt er die Leitung der 
Wegebaukommiſſion und der Kriegskommiſſion, beides Amter, die er in völlig verwahrloſtem 
Zuſtand antraf; und kaum hatte er ſie zur Zufriedenheit geregelt, da wartete ſeiner ſchon das 
noch ſchwierigere Amt der Finanzkommiſſion. Zwar iſt es ein Augiasſtall, aber das Reinigungs- 
werk gelingt, wenn auch nach harter Mühe. Daneben gibt es kaum eine Kleinigkeit, die nicht 
Goethes Aufmerkſamkeit auf ſich zieht und zu den heilſamſten Reformen Anlaß gibt. Er befaßt 


508 Goethe als Regierender 


ſich mit Leihhausordnungen, mit Tuchmanu faktur- Reglements, ſtellt eine Feuerlöſchordnung 
her, entwirft eine Konkurskonſtitution, nimmt Bewäſſerungsfragen in die Hand, ſucht einen 
Bergbau einzuführen, verbeſſert die Armenhauspflege, trägt ſein Teil zur Löſung der auch 
damals ſchon beſtehenden ſozialen Frage bei, kurz, bringt es dahin, daß das kleine Weimar 
bald als eines der beſtregierten Ländchen und als vorbildlich für ganz Deutſchland gilt. Denn 
die Reformen ſtehen durchaus nicht etwa nur unerprobt auf dem Papier, ſondern werden mit 
aller Tatkraft durchgeführt — was erſt die wahre Probe für den Staats mann iſt. Dieſe ganze 
Rieſenaufgabe, ſonſt der Inhalt eines Menſchenlebens, wird in 8 bis 10 Fahren gelöſt. Aber 
was konnte dem Lebensſtrom widerſtehen, der von dieſem jungen begeiſterten Mann ausging! 
Schaffen wollte er; und was gibt es Schöneres als den Schaffensdrang an die wirkliche, lebende 
Welt zu wenden, anſtatt den Kopf mit Phantaſieträumen anzufüllen! Das Mißtrauen, mit 
dem die Weimarer nach dem Herzogsſchloß ſahen, war groß genug, als es hieß: da regiert der 
Herzog mit dem Dr. Goethe zuſammen. Aber das Erſtaunen wuchs und wuchs, als es ſo ganz 
anders kam. War das der junge Mann, von dem man nichts als Tollheiten erwartet hatte? 
Man hatte tatſächlich alle Urſache, dem Herzog zu feinem Freunde Glück zu wünſchen. „Goethe 
lebt und regiert und wütet und gibt Regen und Sonnenſchein und macht uns glücklich, er mache, 
was er will.“ So ſchreibt Wieland. 

Auch die ſchwerſte Probe ſtaatsmänniſchen Könnens ſollte Goethe ablegen, die in der 
hohen Politik. Im Siebenjährigen Kriege hatte man in Weimar erfahren, daß das Herzogtum 
im Falle eines Konflikts zwiſchen Preußen und Sſterreich nicht unbeteiligt bleiben könnte. 
Als nun im Jahre 1778, alſo gleich in den erſten Fahren feiner Weimarer Tätigkeit, dieſe Gefahr 
in die Nähe rückte, galt es einen Entſchluß zu faſſen, denn ſchon ſtellte der preußiſche König 
das Anſinnen, in Weimar Werbungen vornehmen zu dürfen, und preußiſche Huſaren ſtanden 
eines Tages auf dem Marktplatz. Dadurch aber mußte notwendigerweiſe auch das Eingreifen 
Oſterreichs hervorgerufen werden. In der allgemeinen Natloſigkeit des Konſeils fand Goethe 
den einzigen der Lage angemeſſenen Ausweg: er ſprach den Gedanken eines Zuſammenſchluſſes 
der kleineren Fürſten Mitteldeutſchlands aus. Der Zweck des Zufammenſchluſſes ſollte die 
Wahrung der Neutralität nach beiden Seiten hin ſein, doch gab Goethe unverhohlen ſeiner 
Meinung Ausdruck, daß die größere Gefahr für den Beſtand eines auch innerlich ſtarken Deut- 
ſchen Reiches von Oſterreich ausgehe. Dementſprechend hatte der Fürſtenbund, der bald darauf 
unter Einſchluß der ſüddeutſchen Fürſten gegründet wurde — die zahlreichen Fürſtenbeſuche 
des Herzogs und Goethes anläßlich ihrer Schweizerreiſe waren dieſem Zweck gewidmet — 
eine ſtarke Neigung zu Preußen, jo daß Friedrich der Große ihn bald ganz feinen Plänen dienft- 
bar machen konnte. So iſt alſo in Goethes Kopf der erſte Keimgedanke zu einem neuen deut- 
ſchen Reich unter Preußens Führung zu ſuchen. Denn alle ſpäteren Fürftenbünde gründen 
ſich mehr oder weniger auf das Beiſpiel dieſes erſten Bundes, der von Weimar angeregt und 
unter Führung Badens verwirklicht wurde. Auch Preußen gegenüber wußte Goethe übrigens 
die Selbſtändigkeit feines kleinen Staates trotz des Eintritts in den Fürſtenbund wohl zu wahren. 
Er erreichte als der einzige, daß Weimar ſich nicht wie die anderen Staaten zu unbedingter 
militäriſcher Hilfeleiſtung zu verpflichten brauchte. Wenn der Herzog nun allerdings an den 
Fürſtenbund gleich die Hoffnung auf eine Neubelebung des deutſchen Reiches knüpfte, ſo 
blieb Goethe im Gegenſatz zu ihm recht kühl in ſeinem Urteil, und die Folgezeit hat ihm auch 
hierin recht gegeben. 

Die Regelung des Verhältniſſes zum Fürſtenbund war Goethes letzte politiſche Tat. 
Schon längſt hatte er feinen Tatendrang von dieſer Seite her befriedigt und verſpürte das 
Bedürfnis, ſeine Perſönlichkeit nach anderer Richtung hin auszugeſtalten. Nur die Sorge 
um das Geſchick des Herzogtums bewog ihn, die Bürde jo lange zu tragen, bis er die Politik 
in feſte Bahnen geleitet hatte. Der junge ſchöngeiſtige Advokat und Dichter war in zehn Jahren 
ein Staatsmann geworden, dem der Landesherr keinen ebenbürtigen folgen laſſen konnte. 


Clauſewitz zur polniſchen und belgiſchen Frage 509 


„Tauſenden wurde durch Goethe die Glückſeligkeit bewahrt“, ſchrieb der Herzog an Goethes 
Mutter. In der Tat, Tauſende, nein, Willionen erhalten durch ein einziges Genie nicht nur 
die Glückſeligkeit, ſondern auch das Leben! Dr. Erich Klein 


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N ZN rſtaunt horchten die Abgeordneten der Paulskirche bei der Polendebatte des Zuli 1848, 
@ 2 wie ihnen aus der überragenden Rede Wilhelm Jordans ein ungewohnter Klang 
— entgegenhallte. Die „rührenden Zeremiaden über die verſchiedenen Nationalitäten, 
die der Wucht des deutſchen Stammes erliegen mußten“, hieß er „ſchwachſinnige Sentimentali- 
tät“. „Sie jagen,“ rief er in die Derfammlung, „die politiſche Klugheit rate, die Gerechtigkeit 
fordere, die Humanität gebiete die Herſtellung eines freien Polens. Ich ſage: die Politik, die 
uns zuruft: Gebt Polen frei, es koſte was es wolle, iſt eine kurzſichtige, eine ſelbſtvergeſſene 
Politik, eine Politik der Schwäche, eine Politik der Furcht, eine Politik der Feigheit. Es iſt 
hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen aus jener träumerifchen Selbſtvergeſſenheit, 
in der wir ſchwärmten für alle möglichen Nationalitäten, während wir ſelbſt in ſchmachvoller 
Unfreiheit darniederlagen und von aller Welt mit Füßen getreten wurden, zu erwachen zu 
einem gefunden Volksegoismus, um das Wort einmal geradeheraus zu fagen, welcher 
die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen obenanſtellt. — Dasſelbe politiſche 
Ethos klingt als Grundton in den beiden Arbeiten, die ſchon achtzehn Jahre zuvor in der Stille 
des Arbeitszimmers Karls von Clauſewitz' entſtanden waren, und auf die unſer Aufſatz über 
den ſtrategiſchen und politiſchen Denker hinwies. Aber ſchon ihre Überſchriften „Die Verhält- 
niſſe Europas ſeit der Teilung Polens“ und „Zurückführung der vielen politiſchen Fragen, 
welche Deutſchland beſchäftigen, auf die unſerer Geſamtexiſtenz“ verraten, wie ſich bei Elaufe- 
witz auf dieſem Grundton die Harmonie allſeitiger Betrachtung aufbaut, die politiſche Fragen 
nur in ihrem größeren Zuſammenhang, in Abhängigkeit und Wechſelwirkung zu erfaſſen ſtrebt. 
Im folgenden bieten wir einen gedrängten Auszug, gemiſcht aus den beiden Oenkſchriften 
Clauſewitzens. Rechtſchreibung und Zeichenſetzung find moderniſiert. 

Clauſewitz führt u. a. aus: Wenn jetzt eine ganze Menge von Menſchen ſelbſt in Deutfc)- 
land die Wiederherſtellung Polens bloß aus moraliſchen Gründen wünſchen und ſich wegen 
der politiſchen bei dem Gedanken beruhigen, daß Polen ja ehemals dageweſen ſei, ohne 
Deutſchland zu gefährden oder zu bedrängen, ſo iſt es, weil ſie den Zuſtand von Europa nicht 
ins Auge faſſen. .. And wie ſteht es nun mit den moraliſchen Gründen, aus welchen die Wieder- 
herſtellung Polens gewünſcht wird? Wollen die philoſophiſchen Politiker unſerer Tage eine 
Reviſion aller Völkerprozeſſe vornehmen und Rechenſchaft fordern, warum ſo viele Völker, 
die auch ſelbſtändig waren, als ſolche untergegangen ſind und ſich in andere verſchmolzen haben, 
dann müſſen fie die Vorſehung ſelbſt vor ihren Nichterſtuhl ziehen. Und wenn das eine Ab- 
ſurdität iſt, warum wollen ſie gerade mit dem polniſchen Reiche anfangen, und warum wollen 
ſie die Teilung dieſes Landes und ſeinen Untergang als Staat aus moraliſchen und nicht aus 
politiſch-hiſtoriſchem Geſichtspunkte betrachten? Und wie ſteht es nun mit den moraliſchen 
Gründen, aus welchen die Wiederherſtellung Polens gewünſcht wird? Es iſt dieſe Tendenz 
der öffentlichen Meinung nichts als eine Modeanſicht, welcher mehr ein äjthetifches als ein mora- 
liſches Prinzip zugrunde liegt. Man gefällt ſich in dieſem Enthuſiasmus, wie man ſich in dem 
vom Trauerſpiel erregten Schmerz gefällt, und die Leute geben ſich dieſer Erholung hin, weil 
ſie glauben, es koſte ihnen nichts, weil ſie immer nur zwei Schauſpieler ſehen, Ruſſen und 
Polen, die durch das Proſzenium von ihnen getrennt ſind, weil ſie nicht ahnen, daß fie mit- 


510 Clauſewitz zur polniſchen und Beiglichen Frage 


ſpielen, ja, daß ſie das ganze Schauſpiel zu bezahlen haben werden.. Rein verſtändiger Menſch 
kann in Abrede ſtellen, daß es Torheit iſt, ... mit Zdeen zu ſpielen, an welche die höchſten 
Intereſſen des Vaterlandes geknüpft find, und ſich in einem falſchen Enthuſiasmus zu ver- 
beißen, um Darüber des wahren unfähig zu werden... Hier in Polen will ein ſehr fähiges Volk. 
uns gern glauben machen, daß es eine heilſame Mittelmacht gegen Rußland bilden würde. 
Zu einer heilſamen Mittelmacht würde ein in den Polen ſelbſt liegendes, befreundetes Verhältnis 
zu den Oeutſchen gehören. Nun gibt es aber kein Volk, gegen welches die Polen mehr Gering- 
ſchätzung zeigten als gegen das deutſche, hauptſächlich weil es keines gibt, was einen ſtärkeren 
Gegenſatz zu ihrer National-Eigentümlichkeit bildet. Ferner gibt es kein Volk, mit welchem 
Polen permanentere feindliche Intereſſen hätte als Oeutſchland, nämlich Preußen. Es hat 
einmal die Länder bis zur Oſtſee beſeſſen; bis dahin wird z. Z. noch ſeine Sprache geredet; 
dort findet es den natürlichen Ablauf ſeiner rohen Produkte; ſelbſt das deutſche Oſtpreußen 
war einſt fein Lehensträger. Nun find aber die Polen, wie jeder weiß, ein eitles und nament- 
lich gegen uns ſtolzes Volk; ſie würden alſo nichts mehr auf dem Herzen haben als ihre erſte 
unabhängige Stellung zu benutzen, um ihre materiellen und moraliſchen Intereſſen auf unſere 
Ankoſten zu befriedigen, und wenn fie dies je mit Erfolg können, jo wird nichts natürlicher 
ſein als die Tendenz, nach und nach das ganze Bett des flawiſchen Völkerſtroms wieder ein- 
zunehmen, welches bekanntlich bis an die Elbe reichte und in den wendiſchen Völkerſchaften 
noch Trümmer feines ehemaligen Daſeins zeigt. Wir fragen, ob es einen natürlicheren Feind 
für uns gibt als dieſes Polen, und ob es nicht im höchſten Grad abſurd wäre, uns lieber Ruß⸗ 
land als einen ſolchen zu denken, was halb nach Aſien hingewendet iſt und deſſen Herrſchaft 
auf zwei Generationen hinaus den unſrigen als eng verbunden betrachtet werden könnte. 
Wehe uns, wenn Rußland in den Fall kommen könnte, die Krone Polens aufzugeben und 
feine polniſchen Provinzen Litauen, Wolhynien wieder abzutreten. .. Rußland, einmal zu 
dieſem Opfer gezwungen oder vermocht, würde dann ſeinen Blick ganz von dem Weſten Eu- 
ropas abwenden, von dem es weder zu hoffen noch zu fürchten hätte, würde Deutſchland vor 
der Hand ſeinem Schickſal überlaſſen, und Polen und Franzoſen würden ſich an. der Elbe die 
Hand zu reihen ſuchen. .. Der natürliche Verbündete Frankreichs iſt Polen; Oeutſchland fteht 
zwiſchen den Polen und Franzoſen mit feiner beiden Völkern fremdartigen Nationalität inne... 
Jeder Krieg, den Oſterreich und Preußen mit Frankreich hätten, würde von einem Kriege mit 
den Polen begleitet fein, die durch franzöſiſches Geld, franzöſiſche Intrigen jedesmal dazu an- 
geregt ſein würden. Wenn wir uns dieſes neue Polen als nicht ſehr mächtig und dabei immer noch 
von Rußland bedroht denken, fo wird es doch imftande fein, auf beide Staaten einen Drud 
auszuüben, welcher einen Teil ihrer Kräfte dem Kriege gegen Frankreich entzieht und die freie 
Muskelbewegung lähmt. .. Auf dieſe Weiſe iſt es, daß die polniſche Frage wie die belgiſche 
und italieniſche (für Oſterreich) unſeren höchſten und heiligſten Intereſſen nahe tritt, ſich an 
die Frage unſerer Geſamt-Exiſtenz knüpft.“ — 

„Selbſt das entwaffnete, niedergeworfene Frankreich hört in ſeiner Eigenſchaft als 
ein ſehr homogenes, ungeteiltes, wohlgelegenes, gut begrenztes, reiches, kriegeriſches und 
geiſtreiches Volk niemals auf, die Mittel in ſich zu bewahren, welche feine Selbſtändigkeit und 
Unabhängigkeit für die Dauer ſichern, daß es dieſe, wenn es ſich zu törichten Unternehmungen 
verleiten läßt, auf einen Augenblick verlieren kann, aber immer gewiſſermaßen von ſelbſt wieder 
dazu gelangen wird. Der Angriffsluſt Frankreichs gegenüber bedarf Oeutſchland eines Vor⸗ 
werks, Belgiens. Auf belgiſchem Boden haben ſich die franzöſiſche Eroberungspolitit Ludwigs 
XIV. und der folgenden Zeit ausgetobt. Nicht eher iſt von einer bleibenden Eroberung in 
Deutſchland die Rede geweſen, als bis Sſterreich dieſe Länder aufgegeben hatte. Von dem 
Augenblick an, nämlich 1794 iſt das linke Rheinufer gefallen und die Staaten Süddeutſchlands 
find von franzöſiſchen Heeren zertreten worden. Der Verluſt Belgiens an Frankreich muß un- 
mittelbar die Eroberung des linken Nheinufers nach ſich ziehen. Alles, was die Franzoſen von 


Der Treppenwitz der d Weltgeſchichte 511 


natürlichen Grenzen ſagen, und worunter ſie jetzt die Schelde und Maas und Rhein verſtehen, 
ſpäter vielleicht die Weſer und Elbe verſtehen werden, bezieht ſich nicht im mindeſten auf die 
Sicherheit ihres Staates, ſondern auf die Sicherheit ihrer Oberherrſchaft. .. Dagegen iſt freilich 
nicht zu leugnen, daß wenn Frankreich durchaus über Europa herrſchen ſoll, wie es in den 
dreizehn erſten Jahren dieſes Jahrhunderts getan hat, es den Rhein wieder haben muß; nur 
um jene Frage handelt es ſich noch. — Aber Belgien war nicht bloß ein Außenwerk Oeutſch- 
lands und Europas, ſondern es war auch der pied & terre (Fußſchemel) der Engländer, wenn 
fie dem bedrängten Kontinent beiſtehen wollten... Der General Richemond hat es le camp 
retranch6 de l’ennemi (feindliches Militärvorwerf) genannt, und ſo iſt es in der Tat... Wie 
wir uns auch die künftige Geſtaltung (Belgiens) denken möchten, dieſen Punkt unferes eigenen 
hochwichtigen Intereſſes ſollten wir nie aus den Augen, nie aus dem Herzen verlieren.“ — 
„Was iſt das Reſultat unſerer ganzen Betrachtung? Daß es Zeit iſt, an uns ſelbſt zu denken 
und nicht mit unnützen, und fern liegenden Fragen auf eine ſolche Art zu ſpielen, daß dadurch 
eine gediegene nationale Geſinnung untergraben werde. .. Mögen fie (die Franzoſen) ſich 
ihren Illuſionen ihrer exaltierten Eitelkeit hingeben; fie werden, wenn wir Deutfche unſere 
Pflicht tun, ſehen, daß ihre hochfahrenden Pläne zu nichts führen, daß jie in dem Elende der 
Völker verſinken werden, die der Fuß des Krieges zertritt. Wir aber, wir Oeutſchen alle, müſſen 
gefaßt fein, dieſem Dämon zu begegnen, und dazu bedürfen wir der Kraft eines edlen Selbft- 
gefühles, alſo neben der Treue gegen unſere Fürſten, gegen unſer Vaterland auch die Treue 
gegen uns ſelbſt. Dr. Ernſt Bender, z. Zt. im Felde. 


Der Treppenwitz der Weltgeſchichte 


ie neue (9.) Auflage des von W. L. Hertslet begründeten Werkes „Der Treppen- 
witz der Weltgeſchichte“ (bei Haude & Spener in Berlin) bezeichnet der jetzige 
Herausgeber Hans F. Helmolt als „durchweg verbeſſert und vermehrt“. Mit 
Recht! Denn außer dem ganz neuen Kapitel „der Weltkrieg“ enthält dieſe Auflage mindeſtens 
vierzig „Neuheiten“. Andrerſeits iſt zwar auch manches, was die 8. Auflage noch enthielt, 
weggelaſſen worden. Es handelt ſich dabei aber um mehr oder weniger belanglofe Dekorations- 
ſtücke der Weltgeſchichte. 

Der Weltkrieg iſt ja für manchen bislang brav in den trüben Gewäſſern des Kosmo— 
politismus plätſchernden Deutſchen zu einem Damaskus geworden. Sehr erfreulich! Minder 
erfreulich aber war es, wenn ein ſolcher moderner Paulus nicht nach dem Vorbilde des alten 
ſich zunächſt eine Zeit der Zurückgezogenheit „in Arabien“ auferlegte, ſondern ſich berufen 
fühlte, fofort als Prophet des Deutſchtums, des Englandhaſſes uſw. vor die Öffentlichkeit 
zu treten. Denn nur zu leicht drängte ſich angeſichts ſolches Wandels der Verdacht der Aus- 
nutzung der Konjunktur auf. Der Treppenwitz hat ein ſolches Damaskus nicht erlebt, weil 
er es nicht nötig hatte. Vielmehr hat hier ſchon vor dem Kriege deutſche Objektivität wirklich 
einmal auch „die anderen“ kritiſch unter die Lupe genommen. So wurde bereits vor dem 
Kriege die Magna Charta, das „Bollwerk der engliſchen Freiheit“, auf ihre wahre Bedeutung 
zurückgeführt, wurde bereits damals den Engländern ihr Anſpruch auf größere Wahrheits- 
liebe beſtritten; wurde bereits damals den Franzoſen beſcheinigt, daß ſie „gewiſſermaßen nur 
auf der Bühne leben, nur in der Arena atmen“ könnten, ſo daß bei ihnen „der Treppenwitz 
der Weltgeſchichte von Dagobert an bis auf Eugenie eine Vielſeitigkeit und einen Prunk wie 
bei keinem andern“ Volke entfaltet habe. Andrerſeits iſt die bei einem ſolchen Werke ja vor- 
nehmlich verneinend gerichtete Kritik hier doch nicht ſo umſtürzleriſch entartet, daß ſie nicht 


512 Oer Treppenwitz der Weltgeſchichte 


auch „rettend“ eingriff. Des zum Beweiſe ſei nur hingewieſen auf die faſt begeiſtert zu nennende 
Charakteriſierung Friedrich Wilhelms I. Wenn Helmolt übrigens des Königs Vorliebe für 
die „langen Kerle“ mit einem Hinweis auf die darwiniſtiſche Anſchauung verteidigt oder für 
unſere Zeit verſtändlich zu machen ſucht, ſo braucht man darin keineswegs ein Hineintragen 
neuzeitlicher Anſichten in die Vergangenheit zu ſehen. Denn der König ſah es gerne, wenn 
ſeine „langen Kerle“ ſich auch mit Mädchen von gleichem Wuchs verheirateten. 

Von dem vielen Neuen, was die 9. Auflage bringt, hat manches „aktuelles Intereſſe“. 
So ſteht Huttens Wort „o Zahrhundert! o Wiſſenſchaften!“ in unmittelbarer Beziehung 
zu den uns ſo nahe gerüdten Rokitnoſümpfen. Dieſe waren nämlich damals ſoeben an Stelle 
eines bis dahin angenommenen Gebirges als Quellgebiet zahlreicher großer Ströme ent- 
deckt worden. Und im Hinblick auf das damit beſeitigte Vorurteil, daß große Flüſſe nur auf 
hohen Gebirgen entſpringen könnten, hat Hutten jenes Wort geſchrieben. — Unmittelbar 
veranlaßt durch die Ehrabſchneidereien unſerer Feinde ſind die Richtigſtellungen, die ſich mit 
der Menſchenfreſſerei und der Vielweiberei der Deutſchen des 17. Jahrhunderts befaſſen. — 
Für jene Lügen können ſich unſere Feinde leider ebenſo wie Gerard für ſeine Darſtellung der 
Plünderung Roms im Fahre 1527 auf deutſche Geſchichtswerke berufen. Hoffentlich laſſen 
ſich unſere Hiſtoriker ſolche Vorfälle eine Warnung ſein. Wie tief ſich ein einmal zugelaſſener 
Irrtum einfreſſen kann, zeigt ja namentlich ein Schandfleck in unſerer Sprache: Vandalismus, 
gegen den der „Treppenwitz“ und der im gleichen Verlage erſcheinende Büchmann nun ſchon 
ſeit Fahren kämpfen. Leider macht Helmolt bei dieſer Gelegenheit dem engliſchen Sprach- 
gebrauch ein Zugeſtändnis, das doch wohl zurückgenommen werden könnte. Denn mit einem 
Hinweis darauf, wie Alarichs Weſtgoten im Peloponnes gehauſt haben, iſt das engliſche 
„Gothism“ doch wohl kaum zu retten. Alarichs Zug ſollte ein Rachezug fein für eine ähnlich 
teufliſche Germanenhetze, wie wir fie ſeit dem Jahre 1914 in den verſchiedenen Ententeländern 
erlebt haben. Sonſt find die Goten nie jo aufgetreten. Will man alſo chroniſche Zerftörungs- 
wut mit Hilfe eines Volksnamens bezeichnen, fo bieten ſich ganz andere Völker als Paten dar, 
z. B. die Römer, die Franzoſen, die Engländer uſw. Auch die Wendung Helmolts: „Anderſeits 
muß man den alten Germanen keine zu hohe Kultur zuſchreiben“, iſt für Laien irreführend. 
In dieſen Kreiſen ſchätzt man die Kultur unſerer Altvordern wohl eher zu niedrig ein. Was 
weiß man da, um nur dies Beiſpiel anzuführen, von den Luren? 

Zn dem Endkapitel „Geſuchtes“ ſtellt Helmolt 24 Fragen, fordert alſo weithin zur 
Mitarbeit auf. Und der Mitarbeit weiteſter Kreiſe bedarf der Herausgeber eines ſolchen Werkes, 
damit endlich einmal mit den zahlloſen, zum Teil recht albernen Märchen aufgeräumt wird, 
die zum Teil auch an den ſchiefen und völlig verkehrten Urteilen ſchuld find, die uns im po- 
litiſchen Leben unſers Volkes begegnen. So wäre ſehr angebracht ein Hineinleuchten in die 
Arſachen der franzöſiſchen Revolution, ferner eine Beleuchtung der Taten und Leiſtungen 
der Engländer und der Franzoſen im Dienfte der Kultur, insbeſondere der Koloniſation. Auch 
dem Schlagwort von dem Pazifismus der Anion könnte der Boden entzogen werden durch 
einen Hinweis auf die Art und Weife, wie das Riefengebiet dieſes Staates aus dem verhältnis 
mäßig kleinen Raum zwiſchen dem Atlantifhen Ozean und den Alleghanys- ſich entwickelt 
hat. Hinſichtlich der deutſchen Geſchichte aber empfehlen wir der Aufmerkſamkeit des Heraus- 
gebers eines der vielen Phantaſieprodukte des an Einfällen ſo reichen Herrn Delbrück. Wir 
meinen Bismarcks „Staatsſtreichpläne“, einen der ſchlechteſten Treppenwitze, die je gemacht 
worden ſind. Prof. Hans Haefcke 


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ET Sauen Sie in jene gärende Welt des Oſtens und Südoſtens! 
N N / \ Es wäre nach meiner Meinung das gräßlichſte Unglück, das unfer 

2) Hcutſches Reich und alſo die europäiſche Gefittung treffen könnte, 
wenn jenes alte Öfterreih zuſammenbräche. .. Aber wiſſen wir 
denn, ob das Schickſal dieſen ehrlichen Wunſch für den Fortbeſtand des Nachbar- 
reiches erhören wird? Wollen wir uns denn ſelbſt die Augen verbinden, daß dort 
ein Raſſenkampf im Anzuge iſt, der früher oder ſpäter uns felber mit 
hineinreißen kann 'in feinen Strudel? Können wir uns verbergen, daß im 
letzten Kriege durch unſere großen Erfolge in allen Nachbarvölkern ein ungeheueres 
Kapital des Haſſes ſich angeſammelt hat gegen das ſieggekrönte Oeutſchland? 
Es geht heute durch die Welt wie eine dunkle Ahnung, daß auch dem Deutſchen 
Reiche, wie einſt dem preußiſchen Staat, fein Europäiſcher Krieg, fein Sieben- 
jähriger Krieg, nicht erſpart bleiben wird...“ | 

Heinrich von Treitſchke ſprach dieſe Prophetenworte in einer Reichstags- 
rede vom 29. November 1871. Heute iſt nicht mehr die Frage, ob wir früher oder 
ſpäter in den Strudel jenes Raſſenkampfes hineingeriſſen werden, ſondern wir 
ſind bereits in ihn hineingeriſſen, ob wir's auch nicht wahr haben wollen, ob wir 
uns auch noch immer in der Überlegenheit des unbeteiligten Zuſchauers gefallen, 
der ſich in die „inneren Angelegenheiten“ der verbündeten Monarchie „nicht ein- 
zumiſchen“ habe. Als wenn's nach unſeren Wünſchen, nach unſerem Ruhebedürf- 
nis ginge. 

Wie wenig iſt dieſer Krieg, der die Maſſen doch immer wieder in Eilzugs- 
geſchwindigkeit von einem Winkel Europas in den anderen trug, ſelbſt unſeren 
Seeresangehörigen zu einem Lehrmeiſter politiſcher Geographie geworden! Mit 
Bedauern ſtellt Dr. Richard Bahr in der „Deutſchen Politik“ dieſe Erfahrungs- 
tatſache neuerlich feſt: „Auch die Gebildeten unter ihnen ſahen nur Berge, Städte, 
Dörfer, Weiler — die Menſchen ſahen fie nicht. Sie kamen in Galizien, auch in 
manche, nicht madjariſche Teile Ungarns und ſtießen dort auf Verrat, Verwahr- 
loſung, auf mangelnde Ordnung und Diſziplin. Sie zogen daraus nicht etwa 

Der Türmer XX, 23 N 39 


514 | Türmers Tagebuh 


den für Akademiker und Offiziere am Ende nicht ſo ganz fernliegenden Schluß: 
wie unendlich ſchwer müſſen es unſere öſterreichiſchen Blutsbrüder haben, in ſolcher 
Umwelt überhaupt noch etwas zu ſchaffen. Sie hatten auch keinen Blick für das 
Martyrium, das jeder dieſer kernhaften Alpler, dieſer hochkultivierten Deutfch- 
böhmen Tag für Tag erduldet, wenn er, um ihr Gehalt zu geben, ſie einigermaßen 
wetterfeſt und zuverläſſig zu machen, mit ſlawiſchen Analphabeten in die nämliche 
Truppeneinheit gefügt wurde. Sie hielten ſich an die gleichen Kappen, die gleiche 
Brüder decken müßten, und alles galt ihnen bald als eine einzige Schlamperei. 
Sie trafen häufig auch auf eine unfähige Führung, auf leichtlebige, ſtellenweis 
ſchon leichtfertige Offiziere, über die nirgends härter geurteilt wird als in den 
ernſten Kreiſen Deutſchöſterreichs. Aber ſie überſahen ganz, wie Anſehnliches, 
Tüchtiges, jeden Preiſes Würdiges daneben gerade von den aus dem deutſchen 
Akademikerſtand hervorgegangenen öĩſterreichiſchen Reſerveoffizieren in Waffen- 
handwerk, Technik und Organiſation geleiſtet wurde. Sie differenzierten ſchier 
grundſätzlich nicht, fällten hart, ungeheuer ſelbſtſicher und lauter, als es die Akuſtik 
des Bündniskrieges verträgt, ihre Sprüche, und nun erwies ſich, daß der gemein- 
ſame Heeresverband bis zu einem gewiſſen Grade auch verbindet, die ſonſt aus- 
einanderſtreben. Bei Tſchechen und Südflawen wären derlei Empfindungen 
ſchwerlich aufgekeimt. Aber dieſen Deutſchen war es, wennſchon die dynaſtiſchen 
Gefühle merklich erkalteten, doch noch immer die K. und K. Armee, unter deren 
Fahnen Väter und Großväter fochten und ſtarben. Schließlich mochten ſie wohl 
auch finden, daß mitunter auch anderswo mit Waſſer gekocht wurde und nicht jeder 
Offizier, der irgendwo in der galiziſchen oder rumäniſchen Etappe inappellabel, 
mit geſpreizten Herrengebärden gebot, ſchon der Hindenburg oder Ludendorff in 
Perſon ſei. 

Derweil war aber auch daheim, im Hinterland, eine unbehagliche 
Stimmung aufgekommen. Eine, die nicht ſo ganz berechtigt, aͤber immerhin 
menſchlich begreiflich war. Auch Oeutſchland war wirtſchaftlich mangelhaft vor- 
bereitet in den Krieg gegangen. Aber dann hatte es, geſtützt auf den immer noch 
beiten Beamtenapparat der Welt, die gröbſten Unterlaſſungsſünden einigermaßen 
wieder gutgemacht. Das war in Sſterreich gar nicht möglich. Denn wenn auch in 
der Zentrale der ehrlichſte Wunſch beſtanden hätte (er war nicht immer vorhanden), 
das deutſche Beiſpiel bis aufs i-Tüpfelchen nachzuahmen, es fehlte an den aus- 
führenden Organen. Man kann mit flawiſchen Bezirkshauptleuten die Erzeugung 
des ſlawiſchen Landmanns nicht rückſichtslos erfaſſen, ihn nicht zur Belieferung 
des verhaßten deutſchen Nachbars zwingen. Man wird das auch im kommenden 
Erntejahr nicht zuwege bringen, wennſchon mit allem Recht von den Herren Mini- 
ſtern etwas mehr Dampf verlangt werden muß. Es handelt ſich hier eben in erſter 
Reihe um einen Konſtruktionsfehler, und der liegt in dem Beamtenaufbau des 
Staates ſelbſt. Nun hat man vom Reich aus ja immer wieder ausgeholfen. Aber 
man hat es dabei mit der Sonne gehalten, die auch über Gerechte und Ungerechte 
ſcheint. Hat unterſchiedslos geholfen und — unterſchiedslos geſchimpft. Mit 
Vorliebe juſt auf die deutſchen Stammesgenoſſen, denen, wenn der Hunger 
ſie zu verzweifelten Bittgängen über die Grenze trieb, man den geiſtreichen Rat 


Zünmess Tagebuch 515 


gab, fie möchten ſich doch zunächſt an ihre ſlawiſchen Peiniger wenden. Daß ihre 
Not von Tſchechen und Slowenen gewollt, auch ein Kampfmittel, vielleicht das 
vornehmſte, in ihrem inneren Krieg gegen die Deutſchen, denen bei der Beſied- 
lung der habsburgiſchen Erblande das Schickſal die unfruchtbaren Alpen; und 
Waldgegenden zuwies, war ſelbſt politiſch ſonſt geſchulten Köpfen ſchwer begreiflich 
zu machen. Damit aber neben dem Spott auch der dreiſte Hohn nicht fehle, er- 
ſtanden zu gleicher Friſt in vielgeleſenen, leider nicht ganz einflußloſen reichs 
deutſchen Blättern warme Fürſprecher des Tſchechentums. Das ſei im 
Grunde gar nicht deutſchfeindlich. Zum mindeſten dem im Reich zujammen- 
geſchloſſenen Großteil der Nation nicht abgeneigt. Nur die einſeitig gegen 
Rußland gekehrte Politik Habsburgs wäre ihnen gegen Herz und Verſtand ge- 
gangen, und aus ſolchen Stimmungen und Verſtimmungen heraus die Verräterei 
und Sabotage der Kriegsanfänge zu erklären. (Als ob dieſe Verrätereien nicht bis 
auf dieſen Tag fortdauerten und die Tſchechen ſich nicht auch heute noch als Ver- 
bündete der Entente fühlten.) Für die Zukunft aber könnten, wofern wir nur die 
ewig Herbſtzeitloſen mit ihrem Traum vom „deutſchen“ Sſterreich preisgäben, 
Tſchechen und Slowenen gerade uns zu wertvollen Weggefährten werden: Brücken 
zum wiedererſtarkenden Rußland, Helfer am Wunderbau des neuen Rontinental- 
bundes ... 

Kann man ſich wundern, wenn in Sſterreich, wo man die Verüber folchen 
Unfugs nicht fo von Angeſicht kennt, wie wir fie kennen, wo die große Firma auch 
den dilettierenden Schwätzer und den grundſatzloſen Streber deckt, derlei Gerede 
geradezu wie eine bewußte Herausforderung wirkte? Die beklemmende Empfin- 
dung ſtärkte, daß Oeutſchöſterreich auf ſich allein angewieſen bliebe, in feiner 
Schickſalsſtunde auf Hilfe vom Reich nicht zu rechnen habe? Dabei habe ich noch 
nicht alle Quellen aufgezeigt, aus denen bei unſeren Stammesgenoſſen das Un- 
behagen floß und annoch fließt. Über manches, wie über die herriſche, betont un- 
liebenswürdige Art, in der unſere Unterhändler, Zivil wie Militär, ſich bei den 
zwiſchenſtaatlichen Verhandlungen gefallen ſollen, läßt zurzeit ſich nicht gut reden. 
Anderes wird erſt in Zukunft, nach dem Krieg, offenbar werden. Das Reich wird 
beim Neuaufbau der öſterreichiſchen Wirtſchaft zu helfen haben und wird ſich ganz 
ſelbſtverſtändlich dafür feine Prozente berechnen müſſen. Dabei aber werden 
die gemeinſamen Feinde alles deutſchen Weſens, die zugleich die geſchworenen 
Feinde des Bündniſſes ſind, nicht ganz unvorbereiteten Boden finden, wenn ſie 
der kurzſichtigen Eigenſucht einreden, Sſterreich ſei einfach in Deutſchlands Hand, 
ſeine wirtſchaftlichen Kräfte könnten überhaupt nicht mehr ſelbſtändig ſich regen. 

Auf dieſe Entwicklung dünkt mich, ſollte man bei uns ein wenig Acht zu haben 
anfangen. Wie immer der Krieg ausläuft, wir werden arm aus ihm herausgehen. 
Arm an Zuneigung und Vertrauen in der Welt. Über einen kühlen Reſpekt werden 
auch die bis zuletzt neutral Gebliebenen nicht herauskommen und ſelbſt da, wo wir 
befreit, beſetzt und, ſicher nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen, „Ordnung geſchafft“ 
haben, werden unſeren abziehenden Truppen und Beamten vielfach Erbitterung 
und Feindſchaft folgen. Als Freunde für Leben und Sterben werden uns nur die 
bleiben, die Natur zu ſolchen uns ſchuf: die Stammesgenoſſen, die durch 


516 Zürmers Zogshuc, 


Sprache, Kultur, durch eine lange Reihe gemeinſamer geſchichtlicher 
Erinnerung uns Verbundenen. Mit dieſem Gut ſorglich und pfleghaft um- 
zugehen, iſt kluge, im beiten Sinn vorausſchauende Politik. Gewiß,.es find nur 10, 
12, wenn man Balten. und. aus Rußland rückwandernde deutſche Kaloniſten hin 
zurechnet, höchſtens 14 Millionen. Aber es ſcheint mir leider nicht ausgeſchloſſen, 
daß dieſe 12—14 Millionen eines Tages noch, mit der Wiener Nationalökonomie 
zu reden, Grenznutzen bekommen können ...“ 

Das Verſtändnis für die öſterreichiſchen Fragen wirdedem Reichsdeutſchen 
auch dann, wenn bereits die Teilnahme geweckt, eine erſte Kenntnis vermittelt iſt, 
bekanntlich ſehr oft noch dadurch erſchwert, daß er unwillkürlich. Zu- und Ab- 
neigungen, die er aus dem reichsdeutſchen innerpolitiſchen Leben bezieht, 
auf fein. Verhältnis zu den öſterreichiſchen Fragen überträgt. Dabei verfällt 
er notwendigerweiſe je nach ſeinen Parteibegriffen der einen oder anderen per- 
ſpektiviſchen. Täuſchung. Wer durch die konſervative Brille. ſchaut, gelangt leicht 
dazu, die Anforderungen, die er an den geſchloſſenen und einheitlichen Na- 
tionalftaat ſtellt, auch dem Nationalitätenſtaat zuzumuten; die Folge 
davon iſt oft ein an Hochmut ſtreifendes Verkennen der Schwiorigkeiten, welche 
dein. Volksdeutſchen, der nicht Reichsdeutſcher iſt, im Nationalitätenſtaate ent- 
gegenſtehen. Es läßt ſich aber immer wieder beobachten, bemerkt Hermann Ull- 
mann im 10. Heft der deutſchröſterreichiſchen Monatſchrift „Oeutſche Arbeit“, daß 
dieſem Fehler viel leichter abgeholfen werden kann als den Irrtümern der liheral. 
Bebrillten. „Dieſe können ſich beim beſten Willen nicht vorſtellen, daß es ſich im 
Nationalitätenſtaate nicht um eine Auseinanderſetzung von Genoſſen eines Volkas, 
eines Blutes, einer Kultur über die Staatsform handelt, wobei doch immer, 
von der alleräußerſten Linken abgeſehen, wenigſteus jetzt während des Krieges 
als ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung das uneingeſchränkte Bekenntnis. zum ge- 
meinſamen Staate und Volke galt; daß ſich vielmehr. Menſchen grundverſchiedener 
Herkunft, verſchiedener Sprache und Kultur, Völker, die ſich ſeit Jahrhunderten 
bekämpfen, in SOſterreich gegenüberſtehen. Dabei ift dieſen Völkern insgeſamt 
mit der einzigen Ausnahme des deutſchen ihre Nationalität wichtiger 
als der Staat, in dem fie leben. Das iſt der entſcheidende Unterſchied. 
Fit es wirklich fo ſchwer, ſich vorzuſtellen, daß Menſchen, die jenſeits von Raudnitz 
wohnen, imſtande ſind, etwas vollſtändig anderes anzuſtreben, als der biedere 
deutſche Reichsbürger, der ſeit der Begründung des Reiches nicht mehr über fein - 
ſtaatlich ſicher umhegtes Daſein hinausgeblickt und nur noch die Sorge um den Aus- 
bau ſeines von Bismarck errichteten Hauſes gekannt hat? Faſt möchte man glauben, 
daß dem Reichsdeutſchen vor lauter lobenswertem Staatseifer jeg— 
licher Sinn für eigentlich völkiſches Streben, aber auch der Blick für die 
Wirklichkeit, die ihn außerhalb feines feſten Neichsgebäudes umdroht, verloren 
gegangen iſt. Die Erlebnisenge, das geringe Maß von Wirklichkeitsſinn, die 
Genügſamkeit, mit der man ſich immer wieder darauf beſchränkt, Erlebniſſe, die 
man mit dem Volksgenoſſen gemacht hat, verwäſſert und gemildert auf den völlig 
anders gearteten Nachbar und Feind zu übertragen, grenzt ans Unbegreifliche. 
Der ‚Auslandsdeutfche‘, der im Verkehr mit Fremden und Feinden oder auch 


Zürmers Tagebuch 517 


mit nur andersigeavteten Nachbarn aufgewachſen ift oder ſich gebildet hat, könnte 
nicht fertig werden mit Predigen und Warnen, wenn er erſt einmal im 
reichsdeutſchen Leben Umſchau gehalten hat. Ich kenne ‚Auslandsdeutſche“ 
aus allen Teilen der Welt, mit den verſchiedenſten Erfahrungen und Erlebniſſen, 
die dieſer gegen das Deutſchtum entfeſſelte Weltkrieg in der Hauptfeſtung, im 
Reich, zuſammengeführt hat: fie find völlig einig indem maßloſen Erſtaunen, 
das je nach dem Temperament ſich humorvoll oder in Ekbitterung entlädt, über 


dieſe⸗ Weltfremdheit des Reichsdeutſchen mitten in feinem ſchwerſten 


Dafeinstampfe.“ 
Angeſtraft, unbeanſtandet darf in großen deutſchen Blättern der'hunds- 
gemeine Rat gegeben werden, die Deutſchen in Böhmen den Tſchechen zu opfern, 


denn dieſe hätten ja gegen „uns“, die Reichsdeutſchen, nichts und würden unſere 


beſten Freunde werden, ſofern wir ihnen nur unſere deutſchen Brüder in Böhmen, 
an Händen und Füßen gefeſſelt, ausliefern. Von der völkiſchen Schurkerei eines 


ſolchen bezahlten Verrates um des Zudaslohnes willen einmal abgeſehen, — der 


Judaslohn würde nicht einmal ausgezahlt. Die Tſchechen denken auch nicht im 


Traume daran, mit den Oeutſchen Brüderſchaft zu ſchließen, und ſeien dieſe ſchon 


Reichsdeutſche, und bettelten fie noch fo rührend mit dem wedelnden Schwänzchen. 

War das tſchechiſche Volk mit feiner unerhörten Frechheit ſchon Jahrzehnte 
vor dem Kriege der ſchlimmſte Hetzer unter den „Nationalitäten Oſterreichs — 
jo hat es,“ unterſtreicht Johannes Hering in der „Unabh. Nat. Korreſp.“, „dieſem 


nicht nur für das deutſche Volk, ſondern für ganz Europa gefährlichen Treiben 


damit die Krone aufgeſetzt, daß ſeine Führer die Hauptſchürer des Weltbrandes 
waren. Und im Kriege? Regimenterweiſe ſind tſchechiſche Mannen zum 
Feinde übergelaufen und kämpfen an deſſen Seite gegen uns. Viele 
Tauſende von Deutfhen mußten wegen der in der verlaſſenen Schlacht- 
front entſtandenen Lücken ihr Leben laſſen. Doch nicht genug damit, 
Tſchechen kaufen die Bauernhöfe der gefallenen Deutſchen auf und laſſen 
obendrein auch noch die Deutſchen in Böhmen abſichtlich hungern, wenn 
es geht, verhungern. 

Auch in Zukunft werden ſie jede Schwäche des deutſchen Volkes ausnutzen 
und mit jedem Feinde gegen uns ſtehen. Werden die fiebenhunderttaufend 
tſchechiſchen Verräter wieder aus Rußland hereingelaſſen, ſo dürfen 
wir ſicher ſein, daß ſie nur auf eine Gelegenheit warten, unter den wehrlofen 
Deutſchen in Böhmen ein Blutbad anzurichten, wie es nur mit der Bartho- 
lomäusnacht verglichen werden kann. Aber auch ohne ſolche Gewalttat werden 
fie die Deutfchen vernichten, wenn es den Tſchechen in der bisherigen Weiſe weiter 
möglich bleibt, das deutſche Volk in Böhmen überall zurüdzudrüden. Der deutſche 


Wall im Norden des böhmiſchen Keſſels würde verſchwinden, wenige Jahrzehnte 
‚genügten dazu, und dann werden dieſe Elemente unmittelbar Grenznachbaͤrn 
von Bayern, Sachſen und Preußen werden. 


Sollten alle dieſe Ausſichten noch immer keinen Anlaß geben, das wie jedes 
in der Übertreibung törichte Prinzip der Nicht Einmiſchung in die inneren 
Verhältniſſe anderer Staaten aufzugeben, wo doch Volksnotwendig— 


518 Ä Zürmers Tagebuch _ 


keiten es von uns verlangen? Sollten die Hohenzollern und Habsburger während 
des Weltkrieges noch nicht eingeſehen haben, daß ihre Throne ausſchließlich 
von den treuen Oeutſchen geſtützt werden? 

Man hat die tſchechiſchen Hochverräter in bemerkenswertem politiſchen 
Optimismus begnadigt. Sollen auch die Verräter, die jetzt als der Kern der 
tſchecho-ſlowakiſchen ‚Banden‘ in Rußland wüten, wieder ins Habsburger Reich 
zurückgelaſſen werden?“ 

Ich bezweifle nicht im geringſten, daß auch die hier vorgebrachten Wirklich- 
keiten vom deutſchen Reichsphilifter mit überlegenem Achſelzucken als „Über- 
treibungen“, „Gefühlspolitik“ oder dergl. Tiefſinn beiſeite geſchoben werden. 
Nun laſſe man aber einmal die folgende Mitteilung des Reichsratsabgeordneten 
Regierungsrates Hartl in der „Reichenberger Zeitung“ auf ſich wirken. Danach 
hat dieſer mit Rückſicht auf die ſteigende Beunruhigung der deutſchböhmiſchen Be- 
völkerung bereits anfangs Juni dem Minifterpräfidenten Dr. v. Seidler darüber 
berichtet, daß die Tſchechen ſeit Wochen Lebensmittel nur gegen Waffen 
und Munition hergeben, und ihn auf die große Gefahr aufmerkſam gemacht, 
die ſich hieraus entwickeln könne. Ferner habe er unter An führung be— 
ſtimmter Fälle ſowohl an den Miniſterpräſidenten wie an den Miniſter des 
Innern und den Statthalter eine Eingabe gerichtet, welche mit folgenden Sätzen 
ſchloß: „Die Tatſache ſteht jedenfalls feſt, daß die Tſchechen in der an- 
gegebenen Weiſe ſich ſelbſt mit Waffen und Munition verſorgen und 
uns Deutſche davon entblößen. Sch halte dieſe Tatſache für höchſt bedenklich 
und fühle mich verpflichtet, die Aufmerkſamkeit der zuſtändigen Stellen darauf zu 
lenken. Bemerken muß ich aber, daß bloße Weiſungen an die tſchechiſchen 
Bezirkshauptleute, in ihren Bezirken Erhebungen einzuleiten und 
die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, nach allen bisherigen Er— 
fahrungen erfolglos bleiben dürften. Hier muß in anderer Weiſe ein— 
gegriffen werden!“ Von den angeführten Zentralſtellen wurde die Zuſicherung 
gegeben, daß man der Angelegenheit mit dem gebotenen Ernſte nachgehen werde. 
Aber das hinderte die Wiener Zenſurbehörde nicht, der „Oſtdeutſchen Rundſchau“, 
die zweimal den Verſuch machte, den Abdruck der Mitteilung aus der deutjch- 
böhmiſchen „Reichenberger Zeitung“ zu verbieten, trotzdem ſie bereits von der 
ganzen deutſch-böhmiſchen und alpenländiſchen Provinzpreſſe gebracht worden 
war. Erſt auf den dritten Anhieb gelang es der „Oſtdeutſchen Rundſchau“ die 
nun in ganz Oſterreich bereits allbekannte Notiz durchzudrücken. Wo fängt eigent- 
lich in Oſterreich die ſlawiſche Orientierung an und wo hört fie auf? 

* * 


a 

Aber was geht dieſe deutſche Not der Brüder jenſeits des Kreideſtrichs den 
Spießer im Reiche an? Er hat ja in den letzten Wochen mit ſich ſelber und ſeinen — 
Büren genug zu tun gehabt. Es war ein erbärmliches Schauſpiel, das ein 
nicht gerade geringer Teil unſerer wortgewaltigen, ſonſt aber nur wehleidigen 
Heimkrieger einer feindlichen Welt zum beſten gaben. Und warum? | 

„Weil,“ fo reibt es ihnen der bekannte Abgeordnete W. Bacmeiſter in feinem 
„Größeren Oeutſchland“ verdientermaßen unter die Naſe, „weil die deutſche Oberſte 


Türmers Tagebuch ö 519 


Heeresleitung in gewiſſen Augenblicken des gewaltigen Ringens es für notwendig 


gehalten hat, einzelne Stellungen zu räumen; weil die franzöſiſchen Heeresberichte 


aus jenen Tagen als Erfolg der gewaltigſten Kraftanſtrengung, welche die fran- 
zöſiſche Armee je gemacht ha, die Gefangennahme von 20000 Oeutſchen meldeten 
und die Erbeutung von einigen hundert deutſchen Geſchützen. Vergeſſen wurde, 
daß die Erfahrungen von drei Jahren einen gewiſſen Anfangserfolg jeder groß- 
zügig eingeleiteten Offenſive mit faſt mathematiſcher Sicherheit vorausſehen laſſen; 
vergeſſen wurde, daß drei deutſche Offenſivſtöße über 200000 Gefangene ein- 
brachten und 3000 Geſchütze. Vergeſſen wurde, den Erfolg der franzöſiſchen Offen- 
ſive zu meſſen an dem Einſatz, den die feindliche Heeresleitung dafür verbraucht hat; 
vergeſſen wurde, die erſten beiden Tage des dann elend ſteckengebliebenen Foch- 
ſchen Vorſtoßes ſinngemäß hineinzuſtellen in den Rahmen des großen Geſamt—- 
geſchehens. Und, was ſchlimmer iſt als alles das, vergeſſen wurde auch, daß wir 
Laien daheim ein Urteil über den ungeheuren und ſo ungemein ver— 
wickelten militäriſchen Vorgang der dritten Juliwoche des Jahres 1918 un- 
möglich ſelbſtändig finden können. Anſtatt aus Einzelheiten, die im Rahmen 
des Ganzen Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten find, vorzeitige und ſchiefe Beur- 
teilungen zu ziehen, hätte das deutſche Volk in jenen Tagen die Pflicht gehabt, 
in Treue das Vertrauen zu bewahren, das ſich Hindenburg und Ludendorff, 
das ſich die deutſchen Generale und das geſamte Offizierkorps, das ſich die deutſche 
Armee ſo reichlich verdient haben. 

Was mußten wir ſtatt deſſen erleben? Eine Fülle von törichten Gerüchten 
ging durch das Land. Die feindlichen Heeresberichte, die mit rühmenden 
Reden doch fo Schnell bei der Hand find, wußten nicht annähernd ſo Furchtbares 
zu melden, wie es in Oeutſchland von Mund zu Mund getragen wurde. 
Es waren Feſttage für die alten Weiber beiderlei Geſchlechts. Eine Welle 
von Hyſterie kam über uns. Nervöſe und Miesmacher wetteiferten in Albern- 
heiten, mit denen fie bei dummen und Schwachen nur zu viel Glauben fanden. 

Das Ganze war ein trauriges Bild. Man hörte in Oeutſchland, im Eiſen- 
bahnwagen und ſonſtwo Kerle ruhig, ja, gläubig an, die, wären ſie Franzoſen und 
ſprächen fie jo in Frankreich, von den Zuhörern verprügelt und dann den Ge- 
richten ausgeliefert werden würden. Man hatte vielfach offenbar gar keine Emp- 
findung dafür, daß, ſelbſt wenn ihre dummen Erzählungen wahr geweſen wären, 
ihr Weitertragen ein Verbrechen am eigenen Volke war. Man fühlte das Fehlen 
einer ſo ausgeprägten nationalen Geſinnung, wie man ſie in England, 
Frankreich und Italien findet, wo man auch Miesmacher hat, wo man ſich aber ein 
ſolches Treiben im Zorn des nationalen Selbſterhaltungstriebes zu verbitten 
verſteht. | 

Es wird Zeit, daß das deutſche Volk in der Heimat ſich auf fich ſelbſt beſinnt, 
an dem Siegeswillen ſeiner Armee ſich ein Beiſpiel nimmt, ſich klar darüber wird, 
daß ohne den Sieg ein großes und ſtarkes, freies deutſches Volk nicht ſein wird, 
daß der Sieg aber nur von dem erkämpft wird, der an ihn glaubt, zuver- 
ſichtlich, uneingeſchränkt, felſenfeſt glaubt. Gewiß, die Politik, die wir 
unter dem ewig zweifelnden Bethmann erlebt haben, die Politik, die den 19. Juli 


520 Zürmere Tageduch 


1917 mit feinem Nervenzuſammenbruch erzeugte und die zu einer Kühlmannrede 
führte, war wenig geeignet, das deutſche Volk in der Heimat mit dem nationalen 
Inſtinkt und mit dem Siegeswillen zu erfüllen, die das erſte Erfordernis 
der Zeit ſind. Solange ſelbſt die amtliche deutſche Politik einen Weſensbeſtandteil 
ihrer Aufgaben darin ſieht, das deutſche Volk vor überzeugtem Nationalbewußtſein 
zu bewahren, ſolange wird es dieſem Volke wahrlich ſchwer genug gemacht, 
die nationalen Notwendigkeiten zu erkennen und fie. über alles andere zu 
stellen. Iſt die Hoffnung berechtigt, daß die amtliche Politik ihren Auf- 
gaben in Zukunft beſſer gerecht wird?“ 
* * 
* 

Alle dieſe und ähnliche Erſcheinungen ſchießen letzten Endes aus dem ſewen 
Boden empor, aus „deutſcher Humilität und Bedientenhaftigkeit“, wie Pfarrer 
Karl Spieß-Dörſcheid das unerſchöpfliche Kapitel benennt: 

In den baltiſchen Ländern lebt ein altes Deutſchtum. Es iſt die dort herr- 
ſchende Klaſſe, die für die Kultur dieſer Länder viel geleiſtet hat. Die Entſcheidung 
der Waffen hat dieſe Länder in deutſche Hand gegeben. Welcher deutſche So- 
zialiſt wagt es, auch nur eine loſe Angliederung dieſer Gebiete an das 
Reich gutzuheißen? 

In Elſaß-Lothringen lebt eine Bevölkerung, die zu neun Zehnteln kern- 
deutſch iſt. Das Land wurde einmal gewaltſam als erobertes Land dem fran- 
zöſiſchen Reich angegliedert. Deutſchland gewann es wieder zurück. gebt ſetzt 
Frankreich das Leben von Millionen ſeiner Männer dafür ein, es wiederum mit 
Gewalt an ſich zu bringen. Wo iſt der franzöſiſche Sozialiſt, der den Ver— 
zicht auf dieſes Land auch nur anzudeuten wagte? 

Großbritannien fiel über die Burenrepubliken her. Es hatte nicht einmal 
einen Schein des Rechts auf ihr Gebiet. Die engliſchen Arbeiter blieben die- 
ſem offenen RNaubkrieg gegenüber gleichgültig. 

Es gehört zu den älteſten Überlieferungen der deutſchen Demokratie, die 
nationalen Beſtrebungen der Finnen, Letten, Litauer und Polen mit warmer 
Teilnahme zu begleiten. Ein ſozialiſtiſcher Schriftſteller hat ſich ſogar einmal für 
die unantaſtbare Souveränität der Marokkaner begeiſtert. Das Selbitbeitimmungs- 
recht der Bondelzwarts und Hereros fand ſtets bei deutſchen Arbeitern warmherzige 
Verteidiger. Dagegen kann ſich ein „Demokrat“ durch nichts ſo leicht ver- 
dächtig machen als durch Betonung deutſcher Rechte und Anſprüche. 
Was für franzöſiſche und engliſche Arbeiter ſchlechthin ſelbſtperſtändlich iſt, iſt 
für uns — beinahe — das Gegenteil. 

Dieſe bitteren Wahrheiten finden ſich nicht etwa in einem Blatt „all- 
deutſcher Machtpolitiker“ oder einem „Unternehmerorgan“. Der ſie ausſpricht, 
iſt ein waſchechter Sozialdemokrat, und ſie ſtehen in der ſozialiſtiſchen 
Wochenſchrift „Die Glocke“ (Nr. 1 vom 6. April d. 3.). Das gibt ihnen ihre Be- 
deutung. 

Wir reihen ihnen eine andere Stimme aus demſelben Lager an. Oer ſozial- 
demokratiſche Reichstagsabgeordnete Lenſch ſpricht in feinem Buch „Drei Zahre 
Weltrevolution“ von der „gewaltigen geſchichtlichen Miſſion“, die Deutichland in 


7 7 


Türmers Tagebuch 521 


dieſem Krieg zu erfüllen habe. Die deutſche Sozialdemokratie habe dieſe Miſſion 
nicht erkannt. Warum nicht? Daran hinderte fie nach Lenſch „die deutſche Humili⸗- 
tät“, das Niedrigkeitsgefühl, dieſes üble Erbteil deutſchen Elends. Deutſchland und 
eine beſondere geſchichtliche Aufgabe! Ja, was wäre denn da, aus der internatio- 
nalen Brüderlichkeit geworden? Und wenn deutſche Sozialdemokraten von einer 
hiſtoriſchen Aufgabe Deutſchlands in adieſem Krieg geſprochen hätten, wäre das 
nicht auf eine „Aberhebung“ und damit auf einerfzepelhafte Verletzung der Ge- 
fühle „unſerer gusländiſchen⸗Brüder“ hinausgelaufen? Wie bitter und wie wahr! 

Aber ſeien wir gerecht! Wir finden dieſes „beträchtliche Manko unſerer 
politiſchen Kultur“, wie es die „Glocke“ bezeichnet, keineswegs nur in der Arbeiter- 
ſchaft. Wir finden es in den breiteſten Schichten unſeres „demokratiſchen Bürger- 
tums“; wir ſtoßen tagtäglich in den Spalten der „Frankfurter Zeitung“ und des 
„Berliner Tageblatts“ auf dieſes ſelbe Manko. Ja es macht ſich in den höchſten 
Kreiſen breit, dort wo die Geſchicke unſeres Volkes entſchieden werden. Wir⸗brau- 
chen nur die Namen Lichnowſky und Kühlmann zu nennen. Dieſes ſchwach ent- 
wickelte, vielfach ſogar völlig verkümmerte Empfinden für das gute Recht 
unſeres Volkes iſt ein böſes Erbteil, der Fluch der deutſchen Vergangenheit. 


Wir haben die ſozialdemokratiſchen Stimmen angeführt, um zu beweiſen, daß 


man kein „Alldeutſcher“ zu ſein braucht, um das zu erkennen. 

Wir wollen uns nicht in Klagen erſchöpfen, ſondern lieber fragen: Wie 
kann es beſſer werden? Ein geſchichtliches Erbe wird man nicht von heute auf 
morgen los, dazu bedarf es jahrzehntelanger geduldiger Erziehungsarbeit. Aber 
dieſe Arbeit kann nur unter einer Vorausſetzung Erfolg haben: Wenn wir eine 
ſtarke zielbewußte politiſche Leitung haben. Solange ſich eine Regierung 
in demütigen Friedensangeboten, in Entſchuldigungen über deutſche Siege — 
auch das iſt bekanntlich vorgekommen! —, in verächtlichen Anbiederungsverſuchen 
ans Ausland wegwirft, ſolange ſie trotz unſerer militäriſchen Machtentfaltung 
in verſchüchterter Haltung vor den Feinden daſteht, ſolange kann kein geſundes, 
kräftiges und ſtolzes Gefühl für unſer gutes Recht im Volke aufkommen. Man muß 
immer, um den Jammer und Wahnſinn unſerer politiſchen Zuſtände zu begreifen, 
die Frage ſtellen: Was würden unſere Feinde machen, wenn ſie in einer militäriſch 
ſo günſtigen Lage ſtünden wie wir? Welche Sprache würden ſie führen! Und wie 
würden fie die Fragen der öſtlichen Nandſtaaten, des Baltikunis, Belgiens mit 
dem Recht des Siegers löſen! Für dieſes Recht hat die Welt ein ſehr gutes 
Verſtändnis. Wie wenig nutzen wir das aus! Statt deſſen hören wir die öligen 
Phraſen von „Verſtändigung“, „Verſöhnung“, „Völkerbund“. Sollen wir die 
„deutſche Bedientenhaftigkeit“, den Fluch unſerer Geſchichte, nie loswerden? 


—j— — 


polen will 


Be zeichnen für die engliſche Auffaſſung 
der polniſchen Frage äußert ſich ein 
Leitaufſatz der „Morning Post“ vom 12. 
Juni 1918: 

In Oeutſchland wird Rußland jetzt als 
deutſches Hinterland betrachtet. Finnland 
und die anderen baltiſchen Provinzen Ruß- 
lands werden bereits germaniſiert, und durch 
dieſe Ausdehnung Deutjchlands nach Oſten 
iſt Polen für Oeutſchland wichtiger als je ge- 
worden. Die öſterreichiſche Löſung der polni- 
ſchen Frage iſt Deutſchland nicht mehr genehm. 
Die deutſchen Kaufleute lenken ihre Blicke zu- 
rück zu den Tagen der Hanſa, in denen der 
ruſſiſche Handel in Nowgorod von den preußi- 
ſchen Städten ſtreng monopolijiert war; fie 
denken nicht daran, den ruſſiſchen Handel mit 
Oſterreich zu teilen und beſtehen daher darauf, 
daß Polen in deutſchen Händen bleibt. Öfter- 
reich ſoll jo geſchwächt und in eine fo unter- 
geordnete Stellung gebracht werden, daß es 
künftig zu ſelbſtändiger Aktion ebenſo unfähig 
wird wie Bayern oder Sachſen. 

Deutſchland beabſichtigt dazu das aller- 
wirkſamſte Mittel anzuwenden, die Zollunion. 
Oſterreich, auf dieſe Weiſe wirtſchaftlich an 
Deutſchland gefeſſelt, wird nicht länger in 
der Lage ſein, eine unabhängige polniſche 
Politik zu treiben. Alle wahren Freunde 
Polens — und Polen hat mehr falſche als 
wahre Freunde — müſſen ſich gefreut haben 
über die neueſte Erklärung der Weſtmächte, 
daß fie den Verſuch machen wollen, ein un- 
abhängiges Polen mit freiem Ausgang 
zur See bei Danzig zu ſchaffen. Ge— 


Warum England ein Groß- 


— 
92 
2... 


lingt das, ſo. wäre es aus mit dem Po— 
panz Mitteleuropa. Ein unabhängiges 
und völlig wieder vereinigtes Polen würde 
Europa und die Welt von der drohenden 
preußiſchen Herrſchaft befreien. Es würde 
die baltiſchen Nationen und vielleicht auch 
Rußland retten. Böhmen könnte mit einem 
ſolchen Nachbarn wieder einmal an ſeine 
Freiheit denken und würde ſicherlich die Un- 
abhängigkeit Italiens und der Balkanſtaaten 
ſtützen. Man bedenke, was es für das baltiſche 
und öſtliche Europa bedeuten würde, wenn 
eine ſtarke freie Nation ſich zwiſchen Deutſch⸗ 
land und Rußland einſchiebt. Alle Schwär- 
mer für Freiheit und freies Selbſtbeſtim⸗ 
mungsrecht der Nationen würden dabei auf 
ihre Rechnung kommen. Vir für unſer Teil 
ſind für die Wiederaufrichtung Polens aus 
keinem erhabeneren Grunde, als weil 
wir ſie für ein britiſches Intereſſe hal- 
ten. Sie würde zur Wiederherſtellung des 
europäͤiſchen Gleichgewichts beitragen und 
die militäriſche Macht Preußens [hwä- 
chen, die zum großen Teil auf Schleſien, 
Poſen, Oſt- und Weſtpreußen beruht, und 
auch Preußens wirtſchaftliche Kraft 
würde in Schleſien und dem Weichſeltal ge- 
troffen werden. Es würde ein mit dem 
deutſchen rivaliſierendes politiſches und wirt- 
ſchaftliches Syſtem entſtehen. All das liegt 
im Intereſſe Großbritanniens, das jetzt 
von der deutſchen Herrſchaft und Kontrolle 
über Europa bedroht wird und jede Waffe ge- 
brauchen ſollte, um dieſe Gefahr zu ver- 
mindern. — 

Dieſe Äußerungen des engliſchen Blattes 
ſind auch inſofern ſehr bezeichnend, als ſie uns 
diejenige Handlungsweiſe Sſterreich, 


Auf der Warte 


Rußland, Finnland uſw. gegenüber zumuten, 
die England an unſerer Stelle ohne allen 
Zweifel in der Tat anwenden würde. In- 
ſofern find fie alſo ein engliſches Bekennt⸗ 
nis. Daß daneben auch die Gelegenheit 
wahrgenommen wird, uns mit den genannten 
Staaten und Völkern zu verhetzen, iſt ja 
nur ſelbſtverſtänd lich. 
* 


Profeſſor Delbrücks Pathologik 


rof. Delbrück bemüht ſich, in einem 

Flugblatt Stimmung für das Weiter- 
beſtehen der Friedensreſolution zu machen. 
Er begründet die angebliche Notwendigkeit 
mit folgender Pathologik: 

„Mit einer feierlichen Zurücknahme ſeiner 
Friedensreſolution würde der Oeutſche Reichs- 
tag nicht nur den Kriegswillen des Feindes 
ſtärken, ſondern auch den deutſchen Kriegs- 
willen ſchwächen, denn die ſehr große 
Mehrheit des deutſchen Volkes, oder wenn 
jemand das beſtreiten will, jedenfalls ſehr 
große Teile des deutſchen Volkes beſtehen 
nach wie vor darauf, daß ſie nicht gewillt ſind, 
ſich für angebliche Sicherungen () zu 
ſchlagen, deren Notwendigkeit oder auch nur 
Nützlichkeit beſtritten iſt.“ 

Daß die Aufhebung der Refolution gerade 
im Ausland als Zeichen unſerer Kraft gelten 
würde, vermag Herr Prof. Delbrück natürlich 
nicht einzuſehen, vielmehr ſagt er, ihre Zurück- 
nahme würde im Auslande den „falſchen 
Eindruck erwecken, daß fie im Juli 1917 aus 
bloßem Kleinmut gefaßt worden iſt“. 
Falſchen Eindruck? fragt die „T. R.“. Die 
ganze Welt weiß, daß die Reſolution nur aus 
Angſt und aus einer ſchweren Nervenkriſe 
heraus entftanden iſt, aus mangelndem Ver- 
trauen zu Hindenburg und Ludendorff. 
Dann ſchreibt Herr Delbrüd: 

„Es iſt ſchon ſehr viel verſäumt worden, 
indem die politiſche Leitung des Reiches 
die Agitation gegen die Reſolution nicht 
kräftig und entjchieden genug zurüdgewiefen 
hat. Die große ſtrategiſche Offenſive hätte 
begleitet und unterftüßt werden müſſen durch 
eine ebenſolche politiſche Offenſive, die die 
Heimatfront unſerer Gegner in derſelben 


523 


Weiſe bearbeitet hätte, wie Hindenburg mit 
feinen Feldgrauen die Schüßengrabenfront.“ 

Nach Delbrück, meint die „T. R.“, ſollte 
alſo das Volk noch weiter und noch mehr zer- 
klüftet werden, als es durch die Reſolution 
ohnehin ſchon zerriſſen worden iſt. 


* 
Lloyd George oder — „Bor- 
wärts“? 

Tr für Tag ſchallt uns aus den feind- 

lichen Blättern entgegen, der deutſche 
Sieg wäre der Untergang aller Ziviſation, 
die Pruß Boches ſeien Verbrecher, Banditen, 
Blutſäufer, Anbeter der brutalen Gewalt, 
Anterdrücker der kleinen Völker, ſie raubten 
und plünderten mit Vorbedacht im eroberten 
Lande, fie gingen darauf aus, ſich Sklaven 
raſſen für den preußiſchen Militarismus zu 
unterjochen uſw. Alle dieſe Ausbrüche geifern- 
den Haſſes könnten uns, meint die „D. T.“, 
eigentlich kühl laſſen. „Aber die Schlagworte 
vom Militarismus, von Junkerkaſte und unter- 
drückter Freiheit, von Kampf der Demokratie 
gegen die Autokratie ſind uns merkwürdig 
vertraut: es ſind die ſelben Ausdrücke, 
mit denen unſere demokratiſche Preſſe 
Tag für Tag die eigene Regierung be— 
kämpft. Wer heute lieſt, daß die preußiſchen 
oder baltiſchen Junker das Volk knechten, daß 
ein deutſcher Friede die Vergrößerung der 
Macht der deutſchen Wilitärkaſte und die 
Sklaverei für die übrige Welt bedeutet, daß 
die Oenkſchrift des Fürſten Lichnowſky die 
Schuld Deutſchlands am Ausbruch des Krie- 
ges beweiſt, daß Deutſchlands Endziel die 
Aufrichtung eines alldeutſchen Gewaltreiches 
vom Atlantiſchen Meer und der Oſtſee bis 
zum Perſiſchen Golf iſt, vermag nicht zu 
entſcheiden, ob ſolche Außerungen aus 
dem „Vorwärts“ ſtammen oder aus 
dem Munde des Herrn Lloyd George.“ 


Nachrichtendienſt 


Me dagen über große, für die Deut- 
ſchen höchſt verzweifelte Aufſtände 
in der Ukraine ergoſſen ſich wochenlang über 
uns, geſchmuͤckt mit der Abdankung des Het- 


524 


manns und ähnlichen Einzelheiten. Teils 
waren die bekannten Agenturen der Entente 
und ihre verkappten „neutralen“ Korre- 
ſpondenzbureaus die Übermittler, teils ward 
auch von Krakau aus allerlei geleiſtet, hierin 
wie anderweitig. Ein ſchweizeriſcher höherer 
Offizier, Major Brockmann, der aus der 
Ukraine „über Kijew“ heimkehrte, erfuhr 
hier verwundert dieſe Nachrichten und ſandte 
der „N. Zürcher Zeitung“ eine Schilderung, 
die gedruckt am 29. 7. erſchien: daß die 
Ukraine ganz ruhig ſei, das Land ſehr gut 
beſtellt, die angeblich aufſtändiſche Land- 
bevölkerung vollauf mit der recht guten Ernte 
beſchäftigt, froh, daß Krieg und Revolution 
ein Ende hätten. Die deutſchen und öſter⸗ 
reichiſchen Beſatzungstruppen, über das ganze 
Land zerſtreut, lebten in ſehr gutem Ver- 
hältnis mit den Bewohnern, von „Bedrän- 
gungen“ ſei keine Rede. Dieſe Richtigſtellung 
durch einen neutralen Beobachter machte 
ſtarken Eindruck, da ſie überraſchend war. — 
Am 1. Auguſt erfuhr man in Oeutſchland und 
umliegenden Ländern endlich dann auch 
durch das Wolffbure au im üblichen dürftigen 
Dementiton, daß der ukrainiſche Bauern- 
aufſtand in keiner Weiſe den Tatſachen ent- 
ſprechend ſei. ed. h. 


Eine „innere Angelegenheit“ 
Rumäniens 


Der Zoller“, das geleſenſte Tageblatt 
„Hohenzollerns und offiziöſe Organ des 
fürſtlichen Hofes in Sigmaringen, berichtet 
in Nr. 167 an auffälliger Stelle folgendes: 

Der frühere rumäniſche Miniſter 
Antoneſcu, der bekanntlich vor einiger 
Zeit — in öſterreichiſchem D-Zug mit 
amtlicher deutſcher Erlaubnis — nach 
der Schweiz reiſte, ſchreibt im Pariſer 
„Temps“: 

Die Königin Maria beſucht in den 
Karpathen die Oörfer, die an Sſterreich— 
Ungarn abgetreten werden müſſen. Sie 
küßt die Kinder und verteilt an die Bauern 
Kleider und Lebensmittel. Die Bauern 
üſſen ihr die Hände und rufen: Auf bal- 
diges Wiederſehen! 


Auf der Warte 


Dazu bemerkt „Der Zoller“: „Man 
braucht nur daran zu erinnern, daß die Kö- 
nigin von Rumänien mit die treibende Kraft 
bei dem Bündnisverrat des Landes war und 
aus ihrer ausgeſprochenen Vorliebe für die 
Feinde der Mittelmächte nie ein Hehl ge 


macht hat, um ſich die Antwort auf die Frage, 


was fie mit ihren Beſuchen in den abge- 
tretenen Gebietsteilen bezweckt, von ſelber 
geben zu können.“ 

Begreift man nun, wie recht unſere 
Friedensunterhändler hatten, als ſie die 
Frage, ob die Familie der Königin Maria 
dem rumäniſchen Throne und Volke erhalten 
werden ſolle, für eine „innere Angelegenheit“ 
Rumäniens erklärten? 

* 


Die „Verantwortung“ 


1 eine der vielgeſchwungenen ſchillern⸗· 
den Phraſen, die als „Erſatz“ für po⸗ 
litiſche Taten in den Handel gebracht werden. 


Graf Cgzernin hatte bekanntlich wiederholt 


erklärt, daß er für die Sendung des Flügel 
adjutanten Kaiſer Karls, des Oberſten Rande, 
zum König von Rumänien die „volle Ver ⸗ 
antwortung“ übernehme. Kaltlächelnd er 
widert darauf die „Deutſche Tageszeitung“: 
Wir wüßten nicht, was gleichgültiger wäte 
als die Frage, ob Graf Czernin die volle Der- 
antwortung „übernimmt“ oder nicht. Im 
Laufe des Krieges iſt die Phraſe von der 
Verantwortung eine mit großer Vorliebe be 
ſonders von hochbeamteten und beamtet ge 
weſenen Rednern gewefen. Herr v. Beth 
mann Hollweg und Herr v. Kuhlmann haben 
oft feierlich und mit edelſtem Mannesmute 
von ihrer Verantwortungsübernahme 9% 
ſprochen und im Tone der alten Propheten 
verkündet, daß unſere Feinde für dies oder 
das einmal die Verantwortung oder die 
Verantwortung vor der „Geſchichte“ (wet it 
„die Geſchichte“ꝰ), oder wenn Herr von Beth⸗ 
mann Hollweg den Augenblick, melodramatiſch 
zu werden, gekommen ſah: „Vor Gott und der 
Geſchichte“, zu tragen hätten. Mit der vor 
geſchriebenen tragiſchen Empfindung der 
Furcht und des Mitleids lieſt man folde 
Worte, kann ihnen aber gewöhnlich nicht ent 


Auf der Warte 


nehmen, daß der Held ſterben wollte, ſondern 
im Gegenteil, daß ſeine Seele nach Fortdauer 
feines amtlichen Daſeins oder nach Auf- 
erſtehung in dieſem Sinne ſchrie. So war 
es immer bei Herrn von Bethmann und ſo 
iſt es heute beim Grafen Czernin. Ob ſolche 
Herren erklären, die „Verantwortung über- 
nehmen“ zu wollen oder jie irgend wohin 
abſchieben, ändert an den Tatſachen und 
an deren Gange, ebenſo an ihren Fehlern und 
ihrer Schuld nicht das geringſte. In Deutich- 
land aber macht ſie noch immer Eindruck, 
dieſe Seifenblaſe der Verantwortung. 


Franzöſiſche Patrioten 


ir leſen in dem Antwerpener Vlamen- 

D blatt „Het Vlaamsche Nieuws“ fol- 
gende hübſche Zuſammenſtellung: 

Der große Patriot, der Caillaux der Flau- 
macherei beſchuldigt und einer der beſten 
Pariſer Theaterdichter, heißt — Bernſtein! 
— Francis de Croiſſet mit ſeinem adeligen 
franzöſiſchen Namen; eigentlich ſollte er 
Wiener heißen, und er iſt der Sohn eines 
Brüſſeler Juden! 

Doch wer leitet denn die Pariſer Pa- 
triotenpreſſe, die immer von „la douce 
France“ ſpricht? 

Marcel Hutin, der bekannte Bericht- 
erſtatter des katholiſch-konſervativen „Echo 
de Paris“, heißt Moritz Hirſch. Fordyce, 
der früher am „Journal“ und heute am 
L'Quvre“ arbeitet, heißt Aarohnſon. Adrien 
Vely, der Chroniſt des ariſtokratiſch-katholi⸗ 
ſchen „Gaulois“, an dem Meyer das Zepter 
ſchwingt, heißt Levy. Paul Louis, der Leiter 
der Abteilung „Ausländiſche Politik“ am 
„Petit Parisien“, heißt Paul Louis Levy. 
Noziere, der bekannte Mitarbeiter des Temps, 
heißt Weill. Louis Foreſt vom „Matin“ heißt 
Guegenheim. Weiß man ſo in der Preſſe 
lange nicht immer, ob die Leute wirklich ſo 
heißen, wie ſie zeichnen und wie auf ihrer 
Beſuchskarte ſteht, in der literariſchen Welt 
war dies vor dem Krieg ſchon ebenſo arg. 
Erneſt La geuneſſe hieß Cohn! 

Und ſo kann man eine endloſe Reihe 


nennen. Hirſch, Aarohnſon, Meyer, Levy, = 


525 


Weill, Guegenheim, Cohn! Das ſind die 
hervorſtechendſten Pariſer, die Schriftleiter 
vom „Matin“, „Journal“, „Petit Parisien“, 
„Gaulois“, „Temps“, „Eeho de Paris“! 
8 W. 

Die Schweiz — unabhängig? 

in Schweizer iſt es, der dieſe Frage in 

der „Zürcher Poſt“ ſchon in der Aber— 
ſchrift ſeiner Ausführungen aufwirft, um 
ſie dann unmißverſtändlich zu verneinen. 
Profeſſor Burckhardt, Staatsrechtslehrer in 
Bern, erklärt u. a. — und zwar aus Anlaß 
des Schweizer Nationaltages —, die Schweiz 
ſei heute dem wirtſchaftlichen Einfluß 
der Entente bereits erlegen. Die Be- 
dingungen dieſer mächtigen Staatengruppe 
ſeien für die Schweiz geradezu beſchämend. 
Wohl werde eine ähnliche Kontrolle auch vor: - 
deutſcher Seite ausgeübt, aber die deutſche 
Kontrolle über die Verwendung von Kohlen 
und Eiſen greife viel weniger weit um 
ſich und würde ſofort dahinfallen, wenn die 
Entente die ihrige aufgeben würde. Die 
Entente wolle Deutſchland wirtſchaftlich iſo⸗ 
lieren, nicht umgekehrt, und die Schweiz müffe 
gehorſam mithelfen zum Schaden der 
ſchweizer Freiheit. Ein Land, deſſen Handel 
und Gewerbe ſich in ſolcher Weiſe vom Aus- 
land kontrollieren laſſen müſſe, ſei nicht mehr 
frei. Die Schweiz müſſe zuerſt dafür Sorge 
tragen, dieſe Feſſeln abzuſchütteln, dann 
könne fie das Freiheitszeichen am National- 
tage wieder leuchten laſſen; jetzt habe die 
Schweiz kein Recht dazu. 


Ein künftiger Botſchafter des. 
Deutſchen Reiches 


as zweite Morgenblatt der „Frankfurter 
Zeitung“ vom 28. Zuli d. 3. bringt 
folgende Anzeige: 
Freund unſerer Familie, 
At tach in hoher Poſition, mit größter 
Zukunft, große, elegante Erſcheinung, 
30 Jahre alt, freidenkend, geſund, aller- 
erſte Familie, Vater Exzellenz, ſucht, 
da keine Geſellſchaften ſtattfinden, auf 
dieſem Wege eine Lebensgefährtin 


526 


aus beſter Familie, deren Bermögen 
es geſtattet, die Frau eines zukünf— 
tigen Botſchafters zu werden. Ge- 
genſeitige Diskretion Ehrenſache. Ver- 
mittler ſtreng verbeten. Um ausführ- 
liche Anträge erſucht gefälligſt poſt- 
lagernd Invalidendank, Berlin, unter 
Chiffre „Glück 1888“. 

Dieſe Anzeige des künftigen Botſchafters 
des Deutſchen Reiches bei einer auswärtigen 
Großmacht in der demokratiſch-pazifiſtiſchen 
„Frankf. Ztg.“ iſt, ſo meint die „T. R.“, 
typiſch für den Geiſt mancher Diplomaten, 
die Deutſchland, die deutſche Sache, die 
deutſche Kultur im Auslande an hervor- 
ragender Stelle vertreten ſollen und wollen. 
Es iſt begreiflich, wenn ſolche deutſchen Ver- 
treter nicht das richtige Verſtändnis für das 
aufbringen, was uns draußen nottut, und man 
begreift die vielfachen Klagen unſerer draußen 
um ihr Deutſchtum kämpfenden Landsleute 
über das mangelnde Verſtändnis der amt- 
lichen deutſchen Vertreter. Bedauerlich zu- 
gleich, daß der diplomatiſche Nachwuchs 
ſolche Wege — durch die „Frankf. Ztg.“ — 
beſchreiten muß, um vorwärts zu kommen. 
Man dotiere einen Botſchafterpoſten ſo, daß 
er mit einem tüchtigen Mann beſetzt werden 
kann, der hierfür geeignet iſt, damit ınan 
nicht eine Perſönlichkeit heranziehen muß, 
die ſich einmal auf den Exzellenz Vater und 
dann auf die reiche Frau, gefunden 
durch die „Frankf. Ztg.“ und aus deren 
bekanntem Anhang, berufen kann, um 
damit die Eignung für dieſen Poſten nach- 
zuweiſen. Ein Botſchafterpoſten iſt der 
höchſte im Auslande zu vergebende, und 
ſein Inhaber vertritt den Monarchen — —! 


** 

Alſo! 

ie Austauſchtransporte von Zivil- und 

Kriegsgefangenen auf Grund des Ber- 
ner Abkommens ſind zwiſchen Frankreich 
und Oeutſchland nun endlich in Gang ge- 
kommen. Monat lich kehren nunmehr 10000 
gefangene Soldaten und 3000 Zivilgefangene 
aus Frankreich nach Deutſchland zurück; 
die kriegsgefangenen Offiziere dürfen zwar 


Auf der Warte 


noch nicht nach der Heimat zurückkehren, 
werden aber in der Schweiz interniert. 
Auf dieſer Grundlage werden im Monat je 
400 Offiziere ausgetauſcht. Deutſche Vor- 
bedingung für das Inkrafttreten des Berner 
Abkommens war die Herausgabe der ſeitens 
der Franzoſen verſchleppten Elſaß-Loth- 
ringer. 

Die Erfüllung dieſer Forderung iſt den 
Franzoſen ſehr ſchwer gefallen; auch die 
Ausſicht auf den Beginn des Gefangenen- 
austauſchs hat fie noch nicht herbeigeführt. 
Vielmehr mußte zu Zwangsmaßnahmen 
geſchritten werden. Es ſind 600 Männer 
und 400 Frauen in geeigneter gefell- 
ſchaftlicher Stellung aus den von uns 
beſetzten franzöſiſchen Gebieten in Vergeltung 
des franzöſiſchen Verhaltens den Reichs- 
ländern gegenüber ihrerſeits aus ihrer Heimat 
fortgenommen worden, und zwar wurden 
die Männer nach Rußland in die Ge— 
gend von Wilna, die Frauen nach Holz- 
minden gebracht. Das hat denn endlich 
gewirkt. Man ſieht, folgert die „Deutſche 
Zeitung“ aus dieſen Angaben, auf welcher 
Verkehrsgrundlage man mit der Klaſſe von 
Feinden, die uns gegenüberjteht, allein auf 
Ergebniſſe zu rechnen hat. 


* 


Franzöſiſche Gefangene in die 
2. Klaſſe — Deutſche Bürger 
in die 3. Klaſſe! 


o geſchehen im vierten Kriegsjahre, 
Juli 1918, wobei beſonders zu betonen 
iſt, daß der Fall keineswegs vereinzelt Da- 
ſteht, vielmehr allein ſchon auf der erwähnten 
Strecke mehrfach beobachtet worden iſt, und 
daß er auch auf anderen Strecken des Reiches 
mit veränderten Umſtänden ſich als deutſcher 
Brauch eingebürgert hat: 

„Die Reiſenden, welche den Vormittags 
zug Berlin —Güſten benutzen wollen, er- 
lebten einmal wieder eine recht unangenehme 
Überrafhung. In dem einzigen Wagen des 
Zuges, welcher 2. Klaſſe führt, und der 
täglich ſchon immer überfüllt zu fein pflegt, 
war das eine Abteil mit drei jungen Kriegs- 


Auf der Warte 


gefangenen (franzöſiſche Offiziere) be— 
ſetzt, die in Begleitung von ebenſoviel deut- 


ſchen Landſturmleuten ſich in den Polſtern des 


Abteils breit machten und mit ironiſchem 
Lächeln dem Andrang der Mitreifenwollen- 
den zuſahen. Die deutſchen Herren und 
Damen mit Fahrkarten 2. Klaſſe wurden 
von dem Zugperſonal höflichſt eingeladen, 
es ſich in der 3. Klaſſe fo bequem wie mög- 
lich zu machen. Der deutſche Staatsbürger 
iſt ja mit der Zeit daran gewöhnt, alle mög- 
lichen Zumutungen der Behörden ſtill— 
ſchweigend und ergeben über ſich ergehen zu 
laſſen. Wenn er aber mitanſehen muß, wie 
unſern Feinden die beſten Plätze ein- 
geräumt werden und er ſelbſt im eigenen 
Lande den Gefangenen gegenüber zu— 
rückg eſetzt wird und dabei einen Vergleich 
mit der Behandlung deutſcher Gefangener in 
Feindesland zieht, fo iſt das eine das vater- 
ländiſche Gefühl in einer Weiſe verletzende 
Behandlung, daß es nur zu verwundern iſt, 
daß die Außerungen des Wißfallens und 
Argers, die man zu hören bekam, ſich noch 
immer in parlamentariſchen Grenzen hielten.“ 

Sagen wir: zu bedauern, nein, als eine 
offene Schande zu brand marken iſt, 
daß deutſche Hund ede mut ſich dergleichen 
überhaupt bieten läßt!! 


* 


Das Rührmichnichtan des 
Großkapitals 


aum iſt die erſte Zuckerſendung aus der 

Ukraine eingetroffen, da ſteht's ſchon 
wieder zu leſen: endlich, endlich wird auch 
die Süßigkeitsinduſtrie in dem zu Anfang des 
Wirtſchaftsjahres vorgeſehenen Umfang be- 
liefert werden können! (Ein Seufzer der 
Erleichterung wird ſich allen bonbonhung- 
rigen Backfiſchen entheben.) Und nebenbei 
wird vielleicht auch noch der Einmachzucker 
ein wenig vermehrt werden können. Ganz 
nebenbei wird endlich den Bundesregierungen 
etwas zur Verfügung geſtellt werden können, 
um ihre Untertanen für die ausgefallene 
Brotmenge zu entſchädigen. Es ſollte dem 
unbefangenen Staatsbürger jedoch ſcheinen, 


527 


daß in dieſem Falle gerade die umgekehrte 
Reihenfolge am Platze wäre. Wenn das 
Volk kein Korn aus der Ukraine bekommt, 
dann hätte es wenigſtens auf den Zucker An- 
ſpruch, aber nicht in Form von Bonbon und 
Süßigkeiten, die zu unerſchwinglichen Phan- 
taſiepreiſen und außerdem meiſt nicht auf 
dem allgemeinen Verkaufswege in das Pu— 
blikum gelangen. Es wäre doch lehrreich zu 
vernehmen, in welchem Verhältnis den obigen 
drei Zwecken entſprochen wird; aber die 
Reichszuderjtelle ſchweigt ſich über die In- 
duſtriebelieferung aus, während für die beiden 
anderen Zwecke die Zahlen gegeben werden: 
3500000 Doppelzentner Einmachzucker, und 
150000 Doppelzentner für die Zwecke der 
Bundesregierungen. Warum das Schwei— 
gen? In welchem Umfange iſt denn die Be— 
lieferung der Süßigkeitsinduſtrie vorgeſehen? 
Muß es nicht ſeltſam berühren, wenn die 
meiſten Reichsſtellen allen tatſächlichen An- 
gaben über ihre Stellungnahme zur Induſtrie 
ſo beharrlich auszuweichen ſuchen? Das Volk 
legt ſich das auf feine Weife aus und ſpricht 
von dem Rührmichnichtan des Großkapitals. 


* 


* 


Starker Tabak! 
De Preiſe für orientaliſche Tabake haben 


eine ungeheure Höhe erreicht. Woran 
liegt das? Im Lande ſelbſt find die Produ- 
zentenpreiſe niedrig, alſo muß man anderswo 
ſuchen. Da lüftet nun die Fachpreſſe für 
Tabakhandel den Schleier an einem Zipfel, 
und nun fällt ein helles Licht auf Machen- 
ſchaften, die jeden zum Verwundern bringen 
mußten, wenn man ſich heutzutage überhaupt 
noch über etwas verwunderte. Es hat alſo — 
ſo teilt die „Münch. Poſt“ mit — die Firma 
Kiaſſim Emin — Mitinhaber Baron Michel- 
Raulino — ſich ſelbſt im Orient billig mit 
rieſigen Maſſen Rohware verſehen; dann 
hat ſie bei den Bauern angefragt, ob ſie 
kleine Pöſtchen von Tabak zum Preiſe von 
1 Lewa (= 80 9%) zu verkaufen hätten. 
Natürlich wollten die Bauern nun keinen 
mehr billiger abgeben. Die Firma Kiaſſim 
Emin bot ihren Tabak, den fie für 3—5 Lewa 


528 


gekauft hatte, zu 30 Lewa aus und konnte 
ſich darauf berufen, daß ſie ihre Ware unter 
dem Marktpreis abgebe! Doch noch mehr! 
Unter den Zigarettenfabriken, welche die 
Herſtellung billiger Mannſchafts zigaretten für 
das Feldheer unter Berufung auf ihren Man- 
gel an billigen mazedoniſchen Tabaken ver- 
weigerten, gehörte die Hofzigarettenfabrit 
Zuban in Dresden — Mitinhaber Baron 
Michel-Raulino! Der Generalanzeiger für 
den Tabakhandel fragt nun, warum die 
Firma Zuban keine billigen Tabake hatte 
und antwortet zugleich darauf: „Weil die 
Wucherfirma Kiaſſim Emin (Inhaber Baron 
Michel und Kiaſſim Emin) der Hofzigaretten- 
fabrik Zuban (Hauptinhaber: d ieſelben) ihre 
billig eingekauften Tabake zu Wucherpreiſen 
berechnete.“ 

Dabei war dieſer Baron Geſchäftsführer 
der Zigaretten und Tabakeinfuhrgeſellſchaft 
Dresden. Allerdings hat ihn nach dieſen 
Enthüllungen das Reichswirtſchaftsamt tele- 
graphiſch aufgefordert, abzudanken. 

Ebenſo ſtark iſt der Tabak, der den biederen 
Frankfurtern, ohne daß die ſtädtiſchen Be- 
hörden einſchreiten, vorgeſetzt wird. Das iſt 
der unter der Marke Schlawiner von Zoh. 
Peter Raulino & Co. in Bamberg — auch 
hier ſpukt wieder ein Raulino! — zu 50 9 
für das Paketchen vertriebene Knaſter, der 
aus 70 Prozent Buchenblättern und 20 Pro- 
zent Hopfen beſteht, dieſelbe edle Miſchung, 
die von der geeres verwaltung verboten 
worden iſt. Wenn unſere ſtämmigen Mannen 
an der Front das Zeug nicht vertragen konn- 
ten, wie follen all die D. U. und Schwäd)- 
linge hinter der Front damit fertig werden? 

B 


* 0 
Wanderflegel und Wander- 
vögel | 

n der letzten Zeit häufen fich die Be- 
ſchwerden über eine zunehmende Ver- 
wilderung der wandernden Zugend. Ein 
Naturliebhaber ſchildert mit gerechter Em- 
pörung dieſe geckenhaft aufgeputzten jungen 


Auf der Warte 


Leute, die mit Spielhahn- oder Faſanenfeder 
am Hut durch Stadt und Dorf ihre bunt- 
geſchmückte Zupfgeige ſpielen. 

„Um noch mehr aufzufallen, kehren fie 
am Abend derart mit Grün geſchmüͤckt zuruck, 
daß fie wie wandelnde Sträucher ausſehen. 
In einem Ausflugsort der Umgegend trafen 
wir Sonntag mehrere, welche ſich darin ge- 
fielen, große Büſche blühenden Weißdorns 
meterhoch aus dem Ruckſack herausſtehen zu 
laſſen. Ebenſo lächerlich fanden wir den von 
zarter Hand geflochtenen Eichenkranz um 
die Schläfe des barhäuptigen ‚Arions“.“ 

In einer Zuſchrift an die „Köln. Ztg.“ 
wird ſogar Klage darüber geführt, daß Ur- 
lauber aus dem Weiten zurüdbleiben mußten, 
weil ganze Horden dieſer aufgeputzten Wan- 
derflegel die Abteile füllten. In dieſer Zeit, 
wo die Wagennot zur größten Einſchrän kung 
zwingt, ſollte Leutchen ſolchen Schlages von 
vornherein der Zutritt zu den Bahnſteigen 
verſperrt ſein. 

Bedauerlich iſt, daß eine an ſich geſunde 
Bewegung, wie ſie der „Wandervogel“ dar- 
ſtellt, durch ſolcherlei Auswüchſe in Mißkredit 
gerät. Wie ſoll das Publikum die Echten 
von den Falſchen, die Wandervögel von den 
Wanderflegeln unterſcheiden? Das Bundes- 
organ der Wandervögel wendet ſich ſelbſt 
gegen dieſe Banauſen der Natur, „die ledig- 
lich die Außerlichkeiten des Wandervogels 
übernommen haben und dieſe verzerten und 
übertreiben. Sie verwechſeln Ruppigkeit 
mit Natürlichkeit, Gröhlerei mit Fröhlichkeit, 
wiſſen ſich nicht zu benehmen, wenn ſie mal 
ohne Aufſicht ſind, verſchmutzen den Wald, 
den ſie doch eigentlich wegen ſeiner Schönheit 
aufſuchen, und laufen dem Bauer über die 
Saat, bei dem ſie womöglich Gaſtfreundſchaft 
genoſſen haben.“ 

Immerhin ſollte der Bund, damit 
die reinliche Scheidung jedem allzeit erſicht⸗ 
lich bleibt, einer Anregung des „Hann. 
Kurier“ folgen und feine Mitglieder ver- 
pflichten, auf ihren Wanderfahrten ein ein- 
heitliches Abzeichen zu tragen. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Runft und Muſik: Dr. Rarl Stord 
Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf ⸗Berſin (Wannſeebahn) 
Druck und Verlag: Greiner. & Pfeiffer, Stuttgart 


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eber: J. C. Rreiherr von Srottung 


II. Jahr. Zweites . ima Brft 24 


Deutſchlands größte Gefahr 
Von 8. G. Freiherrn von Grotthuß 


AR ie droht, trotz einer Welt von Feinden, nicht von außen, fie droht von 
8 N innen her! Wie eine dunkle, verhängnisſchwere Wolke hängt ſie 
28 über unferem Haupte. Wir haben ihre Schatten erſt jüngſt herauf- 
2 2 ziehen ſehen, als erbärmlicher, frevelhafter Kleinmut und Undant 
behoſte Waſchweiber mit ſchlotterndem Gebein, irren Gebärden und wirrem 
Geſchwätz wie einen aufgeſtörten Ameiſenhaufen mit Achzen und Krächzen, köpf- 
lings und rücklings wild durcheinanderwirbeln ließ, und das, weil ſie, zu Tode 
erſchrocken, die fürchterliche Entdeckung — einer glatten Selbſtverſtändlichkeit 
machen mußten! Daß es nämlich bei Schlägen nicht ganz ohne Rüdfchläge herzu- 
gehen pflegt; daß auch die größten Feldherrengenies aller Zeiten den Erfolg nicht 
ausſchließlich für ſich allein in Pacht genommen hatten; und daß noch nie ein 
Krieg, auch der ſiegreichſte nicht, geführt worden iſt, in dem nicht auch der Sieger 
dann und wann Niederlagen, ſchwere und ſchwerſte ſogar, erlitten hätte. Und 
dabei konnte hier nicht einmal von Niederlagen die Rede ſein. Es waren Schlappen 
mit folgenden planmäßigen, ſchon im voraus für den eintretenden Fall in Rech- 
nung geſtellten militäriſchen Zweckhandlungen, über deren entſcheidende Gründe 
und ferneren Zielſetzungen die guten Leute im Lande nur mehr oder weniger 
ins Blaue hineinſchwätzen, nicht aber Urteile e können, die auch nur ernit- 


hafte Beachtung verdienten. 
Ser Türmer XX, 24 54 


550 | SGtotthuß: Oeutſchlands größte Gefahr 


Wie war bei dieſer Lage der Singe dieſer moraliſche Zuſammenbruch, wenn 
auch ſelbſtverſtändlich nicht des deutſchen „Volkes“, fo doch gerade genügend zahl- 
reicher Heimkämpen nur möglich? Nun, — aus eben der ſelben „Stimmung“ 
heraus, die den weltberühmten Nervenzuſammenbruch der Reichstagsmehrheit 
vom 19. Juli 1917 mit ihrer nicht minder berühmten „Friedensreſolution“ herbei- 
führte. Bei ihrer unvermeidlichen, nun längſt Geſchichte gewordenen kriegs- 
verlängernden Wirkung hätte ſie auch der weiſeſten Abderitenverſammlung 
alle Ehre gemacht. Aber wie wurde ſolche „Stimmung“ möglich? 

Hier dürfen wir nicht auf der Oberfläche haften bleiben, hier gilt es tiefer 
zu ſchürfen, auf den Grund zu kommen, auf dem ſolches Gebilde wachſen konnte. 
Mit ſcharfem, hartem Spaten unternimmt es Karlernſt Knatz in der „Voſſiſchen 
Zeitung“, und was er zutage fördert, iſt, wenn auch — Gott ſei's geklagt! — in 
feinem Urbeſtande das alte deutſche Erbübel, jo doch von fo unabſehbarer Trag- 
weite auch und gerade für den Ausgang dieſes Krieges, für ſieghafte Selbſt⸗ 
behauptung oder ſchwächlichen Zuſammenbruch des deutſchen Volkes, daß es 
mir geboten erſcheint, dem von aller Überfchwenglichkeit freien, aber darum 
nicht minder ergreifenden Warnerrufe, ſonſtiger Gepflogenheit entgegen, an 
dieſer bevorzugten Stelle Gehör zu verſchaffen. Es iſt — wohlgemerkt — ein 
freiſinniges Blatt, das ihm ohne jeden Vorbehalt den leitenden Platz 
in feinen Spalten eingeräumt hat! — Sm folgenden nimmt der e ſelbſt 
das Wort. 

N 

Selbſt wenn Rückſchläge noch viel ernſterer Natur einträten, als die, 
die wir augenblicklich an der Weſtfront ſehen, ſo müßten wir ſie mit Gleichmut 
tragen. In entſcheidenden Augenblicken des Einzellebens wie des ſtaatlichen 
Dafeins find es oft nicht fo ſehr die Ereigniſſe ſelbſt, die die endgültigen Folgen 
beſtimmen, als der ſeeliſche Untergrund, auf den die Ereigniſſe geſchleudert 
werden. Auch einem Volk leuchten ſeines Schickſals Sterne in der eigenen Bruſt. 
Zwar machen Geſchehniſſe das, was man die „Stimmung“ nennt, aber die 
Stimmung lenkt auch die Geſchehniſſe, formt, verändert, vernichtet ſie, 
geſtaltet ſie um. Zwiſchen beiden iſt eine Wechſelwirkung, und da von beiden die 
Stimmung das ſeeliſche, das geiſtige Kräfteglied iſt, ſo ziemt ſich für den Menſchen 
als geiſtiges Weſen, den Willen bei der Stimmung anzuſetzen. 

Als die Stimmungswettermacher des Xerxes, ganz im Wilſon Northcliffe⸗ 
Stil, ſchon vor zweieinhalb Jahrtauſenden, Leonidas und fein Häuflein durch die 
Ankündigung zu erſchüttern ſuchten, die Pfeile des perſiſchen Heeres würden durch 
ihre Maſſe die Sonne verfinſtern, gab der Grieche die gleichmütige Antwort: 
Nun, ſo werden wir im Schatten fechten. Der griechiſche Vorhutführer wußte, 
daß das zwar ein allzu blühendes perſiſches Bild war, aber er wußte auch, daß 
furchtbare Wirklichkeit dahinter ſtand. Dieſer Leonidas aber war erfüllt von der 
politiſch-völkiſchen Unbeirrbarkeit feines Griechenſtaates. Die gleiche Eigen- 
ſchaft haben die Franzoſen, die Engländer, ſelbſt die Italiener. Es ſcheint, daß 
fie von allen europäiſchen Völkern allein den Deutſchen und den Slawen fehlt. 
Es iſt traurig, daß man die Frage ſtellen muß, aber es iſt notwendig: Würde 


A 2 rn. Ne 3 r 


Grotthuß: Oeutſchlands größte Gefahr 531 


das deutſche Volk mit der gleichen wütenden, aber bewundernswerten 
Beharrlichkeit ſtandhalten, feine Söhne opfern, immer wieder an- 
laufen, mit ſtählernem Herzen das eigene geliebte Land in wüſte 
Trümmer ſtürzen ſehen, immer neue Hilfsmittel den letzten Rräfte- 
kammern des Beſitzes, des Körpers, der Seele entpreſſen, wie die 
Franzoſen, wenn die feindlichen Heere ſeit drei Jahren etwa auf einer 
Linie ſtünden, die von Aachen über Frankfurt nach Heidelberg liefe? 
Vnſelig hat ſich unſere Geſchichte mit tiefſten Eigenſchaften unſerer völkiſchen Art 
verſchwiſtert, um uns ſchwächer als andere zu machen in einem Wichtigſten: in 
dem Bewußtſein und Willen zur Ewigkeit, Unverwechjelbarteit mit anderen, zu 
felſenfeſter Selbſtbehauptung unſeres Volkes gegenüber allen andern. Vielmehr: 
wie in allen Dingen zwiſchen Himmel und Erde, ſo iſt auch hier das eine die Urſache 
des andern, die deutſche Geſchichte die Folge der deutſchen Art, und dieſe Art 
wiederum erhalten und geſteigert durch die Geſchichte. Von jeher lag das, was 
das Deutſchtum zuſammenband, es als etwas Einheitliches erſcheinen ließ, ledig- 
lich im luftigen Bereiche deſſen, was man — auch das iſt bezeichnend — 
im Deutſchen nur mit dem Fremdwort „Kultur“ benennt. Die Einzel- 
leiſtungen deutſcher Dichtung, deutſcher Kunſt, deutſcher Muſik, deutſcher Denk- 
arbeit, fie waren es, die, oft recht gewaltſam zuſammengebündelt, die Gemeinſam- 
keit des Deutſchtums darſtellten. Was wir nie befaßen und noch immer nicht be- 
ſitzen, iſt die derbere Grundlage aller dieſer Herrlichkeiten, das dem Arttrieb des 
Tieres verwandtere Gefühl der völkiſchen Einheit ſchlechthin. Jeder Fran- 
zoſe, ohne Ausnahme, jeder Engländer iſt im Beſitze dieſes Artriebes. Dieſes 
Triebes, der gar nicht zu denken, gar nicht lebensfähig iſt, ohne eine gewiſſe Blind- 
heit gegen die Schwächen des eigenen und die Tugenden der anderen Völker, 
der nur möglich iſt, wenn er allein auch über Recht und Unrecht entſcheidet. In 
der volkstümlichſten aller britiſchen Weisheiten, in dem „Right or wrong — my 
country“ wurzelt auch des Engländers ſtärkſte Kraft. 

Es iſt wie ein Geheimnis, daß bei Romanen, Angelſachſen und Nordländern 
das völkiſche Bewußtſein ſehr früh in der Geſchichte ſich mit dem mehr zufälligen 
des politiſchen Einheitsgefühls vermählte, daß beide ganz und gar ineinander 
verwuchſen, und daß dieſes nun aus zwei Quellen zuſammengeſtrömte, unendlich 
ſtarke Gefühl über alle Stammesunterſchiede ſiegte und noch ſiegt, die doch in 
allen Breiten bis in den Teilbegriff des Landſtriches veräſtelt ſind. Fühlte ſich 
der Belgier nicht als Romane, faſt als Franzoſe? Und mir ſcheint die Gewähr 
noch nicht gegeben, daß er es nicht auch künftig tun wird. Zit der Korſe je 
weniger „Italiener“ geweſen als der Florentiner? Und England vollbrachte das 
Angeheure, den Titel eines „engliſchen Bürgers“ über die halbe Welt unter- 
jochten, ausgeplünderten oder liſtig betrogenen Völkern als eine Bezeichnung 
der höchſten Ehre voll aufzuzwingen. Würden bei uns die Geſchichtsſchulbücher 
nicht jahrzehntelang ſo jämmerlich gefälſcht worden ſein, ſo würde heute jeder 
mannbare deutſche Jüngling wiſſen, daß bei uns von einem politifch-völtifchen 
Einheitsgefühl noch nie geſprochen werden konnte. Noch immer find wir „Brüder- 
ſtämme“, gut zwei Dutzend (die, in allen inneren Fragen zum mindeſten, jederzeit 


552 Srotthuß: Heutſchlands größte Gefahr 


bereit find, fich gegenſeitig Backzähne auszuſchlagen), aber ein Volk, ein Reich 
von der Art wie die franzöſiſche Republik oder wie das britiſche Imperium, in 
denen beim leiſeſten Hammerſchlag an die äußerſten Grenzen ſofort das Ganze 
in wildeſte Bewegung gerät, von dieſem Gefühl haben wir noch immer 
kaum einen Hauch. 

Nur dieſes Gefühl aber iſt die feſte Grundlage einer Stimmung, die wohl 
Wellenberge und Wellentäler, Entſpannung und Hochdruck kennt und aushält, 
die aber nie auch nur einen Augenblick im Widerſtand gegen den Feind be- 
irrbar iſt. Man gebe den Franzoſen Elſaß- Lothringen, und fie werden in ſpäteſtens 
einem Jahrzehnt beide Provinzen, die Deutſchſtämmigen in ihnen eingeſchloſſen, 
zu verbiſſenen Anhängern der franzöſiſchen Republik gemacht haben! Aber 
freilich — um das zu können, muß man ein politiſches Volk ſein, muß man 
blinde Stärke für nützlicher im Daſeinskampf der Völker halten, als ſehende, alles 
„gerecht“ prüfende Schwäche, muß man auch haſſen können, wo noch zu 
lieben Verderben bedeutet, muß man Eigenliebe und Selbſtſucht beſitzen, 
muß man empfindlichſten völkiſchen Stolz mit Bewußtſein hegen und 
pflegen, weil man fühlt, daß man ohne dieſes alles aufhört, ſelbſt im unver 
äußerlichen Bezirk feiner Art, noch ſelbſt zu fein. Mit welcher göttlichen 
Unbekümmertheit, der der deutſchen in die tiefſte „Gerechtigkeit“ emſig bohrenden, 
überfeinerten Gedanklichkeit als ſchaudervolle Sittenverwilderung, ſchamloſe Ge 
meinheit erſcheint, brauchen Engländer, Franzoſen, Staliener, Amerikaner neben- 
einander den Stachel des Haſſes und den ſanften Wedel der Völkerbeglückung 
und der Weltſittlichkeit! Sie beſpeien uns als den Abſchaum der Erde und reden 
uns gleichzeitig wie Kindern zu, deren „guter Kern“ noch der Beſſe— 
rung fähig iſt. Wie brauchen ſie jedes Mittel, und ſei es auch das widerwärtigſte, 
wenn es nur zu dem einen dient, auf das es in der Tat allein ankommt: den Feind 
zu ſchädigen. 

Wir können das alles nicht, haben das alles nicht, wagen das alles nicht. 
Wir leiden an völkiſch-politiſcher Blutarmut. Nur deshalb konnte auch Oeutſch⸗ 
land ſchon vom zweiten Kriegsjahr an — es iſt kaum faßbar bei einem Staate 
weſen, das von einem Dutzend ſtarker Gegner mit völlig eindeutiger 
Vernichtungsabſicht berannt wird — der Tummelplatz aller möglichen 
Arten von „internationalen“ Gefühlen und Beſtrebungen werden. In 
England, Frankreich und Italien warfen die Sozialiſten nach den erſten Schlachten 
das „Internationale“ köpflings über Bord — in Deutſchland griffen 
dieſe ſchönen, aber im Blutſchweiß der nächſten Tage höchſt unbrauchbaren Leit- 
ziele ſogar in bürgerliche Kreiſe mit währendem Kriege immer weiter 
über. Und doch war es der deutſche Kant, der nüchtern als weſentliche Begriffs 
eigenſchaft des „Ideales“, des Hochzieles feine Unverwirklich barkeit feſtſtellte. 
Der Weltſtaat iſt unmöglich, wie es der Bolſchewismus für den DVolteftaat if. 
Der Oeutſche aber kann ruhig die Hälfte feines weltbürgerlichen Fühlens als 
ſchädlich zum Teufel jagen, und er wird noch immer in feiner Seelengrundſtim⸗ 
mung fo überſtaatlich und grenzenfrei fein, wie Engländer, Franzoſen und Ztalienet 
zuſammen es nicht find. Wilſon und Lloyd George erfinden ſich einen „Völker 


Soderer: Nachtgefühl | 535 


bund“, der ihnen ſelbſtverſtändlich nichts anderes iſt als ein Rriegs- 
mittel gegen Oeutſchland — in eben dieſem Oeutſchland erörtert man 
ernſthaft, was wohl von dieſem Völkerbund zu halten ſei. In Frank- 
reich ſchimpft die Arbeiterpreſſe genau ſo auf die Boches wie die bürgerliche — in 
Deutſchland wird in einem breiten, „demokratiſchen“ Flügel tagaus, tagein mit 
Eifer unterſucht, was etwa doch Liebenswürdiges an unſeren Feinden 
zu finden ſei. i 

Stimmung? Wundert man ſich noch, daß jeder im unvermeidbaren Hin und 
Her eines Entſcheidungsringens von uns aufgegebene Kilometer Bodens — noch 
immer feindlichen Bodens, wohlgemerkt — bedenklichere Folgen für die 
deutſche Stimmung haben kann, als Frankreichs Stimmung unter 
fürchterlichen Schlägen Hindenburgs oder die Englands unter U-Boot- 
Verderben und ſelbſt unter indiſchen Aufſtänden je leiden kann? 

Wir leiſteten viel, und wir können noch mehr. Aber wenn uns auf die Dauer 
die ſinnliche Inbrunſt des Empfindens als politiſches Volk ſchlechtweg, das nur 
mächtig und ſich ſelbſt allein beſtimmend lebt oder — nicht mehr lebt, verſagt 
bleibt, ſo werden „Stimmungen“ zunichte machen können, was körperliche 
Tüchtigkeit und geiſtiges Vermögen gegen jede Übermacht hielten. 

Wan kann jede Politik machen. Man kann ſie mit Liſt machen und mit 
Wahrheit, mit Vorſicht oder mit Tollkühnheit, „moraliſch“ oder „unmoraliſch“, 
„weſtlich“ oder „öſtlich“, weil eben dieſe Begriffe für den Einzelnen wohl rihtung- 
gebend, für einen Staat, ein politiſches Volk aber nur Zweckmäßigkeits fragen 
ſind, untergeordnet dem Oberbegriff des bedingungsloſen Willens, den 
Lebensraum zu erkämpfen, den es braucht. Das iſt die Stimmung, die unver- 
änderlich bleiben muß im Sieg wie in der Niederlage. Fehlſchläge, Mißerfolge 
ſind für ein ſtarkes politiſches Volk nur Peitſchenſchläge, unter denen Nerven 
und Sehnen ſich mächtiger ſpannen. Hindenburgs Art iſt im Rückſchlag faſt 
noch größer als im Siege: er beſchönigt jenen nicht, wie er dieſen nie übertrieb. 
Er meldet dieſen wie jenen und geht über den Tagesbericht zu neuen Taten über. 
Es iſt dieſe Stimmung des Hauptquartiers, die das ganze politiſche Oeutſch- 
land brünſtig verſuchen muß, ſich zu eigen zu machen. 


N 
Nachtgefühl Von Otto Doderer 


Das große Dunkel hüllt mich ein. 

Die Pulſe pochen fern wie fremde Klänge, 
Und unbedrückt von aller Erdenenge 
Quillt mein geheimſtes, tiefſtes Sein 

Zu mir herauf 

Und iſt voll Frieden ſtill und ſtet 

Und ſchwebt hinauf 

Und löſt ſich auf 

In einem ſeligen Gebet. 


. 


534 | Scridel: Fürs deutſche Vaterland 


Fürs deutſche Vaterland! 
Von Leonhard Schrickel 6. 8. im Felde) 
9 


: in trüber, nebeliger Herbittag hing draußen in Fetzen an den naſſen, 
kahlen Aſten des Parks, der ſchweigend durch die hohen, in tiefe 

Niſchen eingelaſſenen Fenſter des alten Schloſſes ſtarrte. In dem 
O geräumigen, behaglich durchwärmten Zimmer, das mit altehr- 
würdigem, bei aller Schlichtheit koſtbarem Hausgeſtühl ausgeſtattet und mit teil- 
weiſe ſchon verblaßten Bildern tüchtiger, in ihrer handwerklich derben Art 
meiſterlicher Maler geſchmückt war, ſaßen fünf junge Offiziere, die, mancherlei 
verheilende Wunden unter den Verbänden tragend, neuen Kämpfen entgegen- 
genaſen. 

Stumm und in ſich gekehrt, ließen ſie die Stunden vorüberwandern und 
die Abenddämmerung über ſich kommen. Nur das Kniſtern der im gewaltigen 
bis zur Decke reichenden Kachelofen brennenden Holzſcheite und das gleichmäßige 
Ticken der geſchnitzten und vor Alter tiefſchwarz gewordenen Kuckucksuhr unter- 
brachen die Stille. Keiner der Offiziere ſchien eine Unterhaltung zu wünſchen; 
ſie ſannen in ſich hinein oder ſannen hinaus in die Welt, wer weiß wohin — — 

Im Alter ungefähr gleich, waren ſie im Ausſehen doch grundverſchieden. 
Der eine, in der Uniform der ſächſiſchen Gardereiter, dem ein Schuß die Linke 
zerſchmettert hatte, ſaß in der Fenſterniſche tief in einen Lehnſtuhl geſchmiegt 
und hing mit den Blicken an dem letzten verblaſſenden Fetzen des ſchwindenden 
Tags ſo feſt, als hefte er feine ganze Seele an dieſen Reſt, mit dem er ja wohl 
am liebſten auf und davon gegangen wäre. Ihm gegenüber ſtand, an den Fenfter- 
balken gelehnt, ein hoher, ſchlanker Bayer, der gedankenverloren eine langſam 
verſchwelende Zigarette zwiſchen den Lippen hielt und, in den ins Dämmern 
hinabſinkenden Park hinausblickend, ſicherlich nichts von allem Sichtbaren ſah, 
ſondern in ſich hineinlauſchte, wo ſich manches Geweſene lieblich und grauſam 
in buntem Wechſel entrollen mochte. Tiefer im Zimmer, am breiten, mit einer 
ſchweren, gewirkten Dede belegten Eichentiſch ſaßen zwei Leutnants eines rheini- 
ſchen Regiments, vor ſich die halb geleerten Römer, die ſie vergeſſen zu haben 
ſchienen, und am Ofen ſtand ein kleiner, rundlicher Artilleriſt, der mit feinen Ge- 
danken offenbar draußen bei ſeiner Batterie war, die jetzt gewiß wieder harte, 


heiße Arbeit verrichtete. Er war es auch, der ſchließlich das Schweigen brach, 


unbewußt einen kurzen Befehl ausſtoßend, der alle Blicke auf ihn lenkte und vor 
dem er als vor einer unliebſamen Störung des tiefen, tagmüden Friedens ſelber 
erſchrak. 

Der Bayer lächelte leiſe. a 

„Gemach, Herr Kamerad, gemach .. .“, beruhigte er den verlegenen Ar- 
tilleriſten. 

„Noch draußen?“ frug der Gardereiter und wandte, ſich aufrichtend, den 
Kopf nach dem Störenfried, der jetzt eine Entſchuldigung ſtammelte, die aller- 
ſeits ſchmunzelnd aufgenommen wurde. 


Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 555 


Er war erſt zwei Tage vom Feldlazarett herein, der Leutnant Wild, und 
noch nicht heimiſch geworden in dem freundlichen Aſyl für Erholungsbedürftige, 
was ſein Hinüberverlieren ins Kampfgewühl verſtändlich machte. Aber da das 
Schweigen nun einmal gebrochen war, fand ſich, wenn auch zögernd vorerſt, Wort 
zu Wort und allmählich kam gar eine Unterhaltung in Fluß. 

„Wo ſtanden Sie zuletzt, Wild?“ frug der Rheinländer einer. Und als der 
Gefragte antwortete: „Im Oſten“, war das Zeichen zum Reden gegeben. Auch 
die beiden rheiniſchen Offiziere hatten ja monatelang gegen Rußland im Felde 
gelegen; der Sachſe war Anno 1914 Adjutant beim Stabe Madenfens geweſen, 
und der Bayer wußte, daß er nach feiner Geneſung einem vor Dünaburg liegenden 
Regiment zugeteilt werden würde. So ging denn alsbald ein Fragen und Berichten 
an, daran ſich alleſamt in ihrer ruhigen, ſachlichen Art beteiligten, wobei denn 
manches verwegene und manches luſtige Stücklein zur Sprache kam. Auch Er- 
fahrungen anderer Art, die man abfeits des Kampfes gemacht, wurden mit- 
geteilt und dabei auch der deutſchen Koloniſten in Ruſſiſch-Polen gedacht, auf 
die man ſo oft und oft unvermutet geſtoßen war. Keiner der Offiziere hatte ſich 
vor dem Kriege je träumen laſſen, daß jenſeits der Reichsgrenze ſo viele Deutſche 
ſäßen, Bauern und Handwerker, Kaufleute und Lehrer, Pfarrer und Künſtler. 
Man gab offen zu, daß man baß erſtaunt geweſen, dieſe Volksgenoſſen in ſo großer 
Zahl da drüben im Nuſſiſchen zu finden, von deren Dafein man nie etwas gewußt, 
um die man ſich nie auch nur im mindeſten gekümmert. Zetzt, obgleich vorher 
vergeſſen und unbeachtet, kamen fie den deutſchen Truppen brüderlich und hilf- 
reich entgegen, taten, was in ihren Kräften ſtand, Soldaten und Offizieren das 
ſchwere Kriegshandwerk erträglicher zu machen, und jede Begegnung mit den 
Verſprengten, ſeit Urgroßväter Zeiten in Rußland Eingeſeſſenen ward immer 
zu einem neuen Feſt, das [hen mit dem erſten Gruß in treu bewahrter Mutter- 
ſprache anhob. 

Freilich hatte mancher der grauſam heimgeſuchten und bitter unter den 
Kriegsnöten leidenden Koloniſten auch ſeinen Groll ſich vom Herzen geredet, den 
er gegen die unmütterliche, ihrer Söhne ſo völlig vergeſſende alte Heimat im 
Innerſten hegte. Und es war unter den fünf Offizieren keiner, der jetzt nicht offen 
den Preisgegebenen zugeſtimmt hätte. 

„Sie haben ein Jahrhundert lang und länger für das Deutſchtum auf Poſten 
geſtanden in ſchweren, ſtürmiſchen Zeiten, unerſchüttert und treu, und wir haben 
es ihnen weder gelohnt, noch haben wir es auch nur beachtet und geſehen. Sie 
waren Für uns ausgelöſcht aus dem Gedächtnis des Volkes oder galten uns 
als Fremde. Wir haben ſchmählich an ihnen gehandelt und dennoch haben 
fie ihr Volkstum, ihre Sprache und ihren Glauben gehütet und gehalten gegen 
alle Bedrückung und Bedrohung und offene Feindſchaft der ruſſiſchen Gewalt- 
herren.“ | 
„Gewiß,“ ſtimmte der Artilleriſt dem ſächſiſchen Reiter zu. „Aber es find 
uns durch unſere Schuld auch viele, viele verloren gegangen.“ 

vdch glaub's nicht,“ wehrte ein Rheinländer und der Bayer ſtimmte ihm 
bei: „Oeutſch bleibt deutſch.“ ö 


556 . Schrickel: Fürs deutſche Vaterland 


„Sie waren verlaſſen und ohne jede Hilfe, ohne jede Hoffnung auf Hilfe 
durch ihr Vaterland, und die ruſſiſche Fauſt lag ſchwer auf ihnen. Da mußte 
mancher ſich beugen, mancher zuſammenbrechen und fo fein Oeutſchtum ver- 
lieren, wenn er es nicht gar verleugnete und — verachten lernte.“ 

Doch das wollte keiner Wort haben. Da meinte Leutnant Wild, der Ar- 
tilleriſt: 

„Ich hab's erfahren.“ 

Horchten alle auf. Mit zuſammengezogenen Brauen ſaßen fie und ſchauten 
durchs dämmerdunkle Zimmer nach ihm hin, der unbeweglich am Ofen am 
und in eine trübe Vergangenheit zurückzublicken ſchien. 

„Erzählen Sie,“ forderte der Bayer ihn plötzlich auf, und auch die andern 
bedrängten ihn. | 

„Gern,“ willigte er ein. „Wenn Sie Geduld genug haben, die... nun... 
ſehr unbedeutende Geſchichte anzuhören, die Ihnen neben Ihren eigenen Kriegs- 
erlebniſſen freilich ſehr ſimpel vorkommen wird — —“ 

„Angefangen!“ unterbrach ihn einer der Rheinländer und ſchob ſeinen 
Stuhl an den Ofen vor den kleinen Diden, was ihm die übrigen ſogleich nach- 
taten, fo daß ſich im Augenblick ein Kreis tief in die behäbigen Lederſeſſel zurück- 
gelehnter Zuhörer um ihn gebildet hatte. Einen auch ihm angebotenen Stuhl 
lehnte Wild ab. 

„Ich muß geſehen werden; danke.“ 

„Hochmut?“ ſcherzte der Sachſe. 

„Vorſicht,“ bekannte Wild. „Im Stuhle könnt' ich unter den kleinen dicken 
Lederknopf geraten.“ 

Man lachte. Der Bayer ſtrich ein Zündholz an und ſetzte flink noch eine 
Zigarette in Brand, was man mit der gebührenden Achtung ſich erſt vollziehen 
ließ, dann rückte inan ſich noch einmal zurecht. 

„Nun losgeſchoſſen.“ 

Und Wild begann: 

„Wir hatten drei Tage hinterm Serwetſch im Sumpf geſteckt und ſozuſagen 
ins Blaue hineingefunkt, denn auf dem Lande, das keinen Baum und keinen 
Hügel hervorbrachte, ſondern endlos öde und flach dalag, braute ein dichter 
Novembernebel, ſo daß eine Beobachtung nicht möglich war. Auch die Flieger 
konnten uns keinerlei Auskunft über die feindliche Stellung und unſere Feuer 
wirkung bringen. Trotzdem ſchoſſen wir abwechſelnd aus allen Geſchützen, um 
uns die Ruſſen vom Leibe zu halten und unſere etwas ſchwierige Lage nicht merken 
zu laſſen. Da tauchte in der dritten Nacht ein roter Schein vor uns im Dunſt auf; 
kaum ſichtbar, ſchwamm das dünne Lichtgerinnſel wie ein verwaſchenes Blutmal 
durch den Nebelbrodem. Wir nahmen's für ein Signal, das die Ruſſen in der 
Nebelnot zu eigenen Zwecken anzuwenden genötigt ſein mochten, da ſie natürlich 

ebenſo unter dem unſichtigen Wetter zu leiden hatten wie wir, ſprachen es zugleich 
aber als willkommenes Ziel an. Ich ließ meine Batterie auf den roten Stern 
halten. Nach dem dritten Schuß war er erloſchen, was uns veranlaßte, die Gegend 
kräftiger zu befeuern. Eine Stunde etwa ſchoſſen wir noch und da ſich inzwiſchen 


Sceldel: Fürs deutſche Vaterland! 537 


der Nebel endlich gehoben hatte und nun der Mond molkig durch die Schwaden 
ſickerte, ging die Infanterie zum Angriff über. Gegen Morgen war die etwa zwei 
Kilometer entfernte, von ihren Verteidigern ſchleunigſt geräumte ruſſiſche Stellung 
erreicht, worauf unſere Bataillone weiter vorſtießen. Auch wir überwanden 
ſchließlich den Sumpf und fuhren feindwärts. In einem faſt völlig zerſchoſſenen 
Dorf, von dem anzunehmen war, daß wir es unter Feuer gehabt, mußten wir 
haltmachen. 

Ich ſaß ab und ging, mich nach einem wenn auch nur halbwegs brauch- 
baren Ausguck umzuſehen. Aber es lag alles in Schutt und Aſche; nur kümmerliche 
Mauerreſte und etliche brandgeſchwärzte Schornſteine ragten noch aus dem Wuft 
heraus. Auch die Kirche war niedergelegt, und meine Hoffnung, am Ende doch 
noch die Turmruine als Auslug benutzen zu können, wurde getäuſcht. Ich fand 
neben einer zerbröckelten Mauer nur noch einen dem Einſturz nahen Turmreſt 
und dahinter einen wüſten Trümmerhaufen, auf dem als wie ein Grabkreuz ein 
hohes Kruzifix ſteckte. Etwas verwundert trat ich näher, — und gewahrte neben 
dem Kruzifix einen Mann lang hingeſtreckt auf dem noch rauchenden Schutt- 
haufen liegen, das Geſicht auf den Armen. Zuerſt hielt ich ihn für tot; als ich 
jedoch dicht bei ihm ſtand, merkte ich, daß er lebte und rief ihn an, meine Piſtole 
lockernd. Da hob ſich ein blutleeres, verzerrtes Geſicht und zwei ſeltſam geweitete, 
aber wie erloſchen dreinſtarrende Augen richteten ſich ſuchend auf mich. Haar 
und Bart des Fremden waren wirr, die Kleider beſchmutzt, doch nicht eigentlich 
ärmlich, wie denn das fahle, hagere Geſicht Geiſt und Bildung verriet, wenn es 
jetzt auch von Schmerz zerwühlt war. Daß der etwa 36jährige geweint hatte und 
heftig litt, war offenſichtlich; aber ſobald er ſich meiner Anweſenheit bewußt ge- 
worden und ſich an mir gleichſam wieder in der Welt zurechtgefunden hatte, zwang 
er alles innerliche Gewühl nieder und gab ſich äußerlich gefaßt und ruhig. Er 
verſtand es durchaus, ſeinen Schmerz zu verbergen und bot mir alsbald einen 
höflichen, etwas erſtaunten Gruß. Das Erſtaunen war jedoch ſogleich an mir, 
denn der Mann ſprach deutſch! 

Seinen von ihm verleugneten Zuſtand mit Fleiß überſehend, frug ich ihn 
jetzt, was ich zu wiſſen für nötig hielt; erfuhr, daß die Ruſſen fluchtartig abgezogen 
waren und ſo bald nicht wieder haltmachen würden, es ſei denn, daß neue Truppen 
zu ihnen ſtießen und die Flüchtigen mit Gewalt zum Stehen brächten. Einen 
Ausguck gab es nicht, ein Unterkommen, vermutete er, auch nicht mehr. Indeſſen 
ſahen wir uns gemeinſam danach um und fanden freilich alles zerſchoſſen und 
zerfallen, was zu Kloſter und Kirche gehört hatte. Nur ein Kellerraum ſchien 
noch einigermaßen erhalten, und da er von der Seite her einen noch gerade paj- 
ſablen Eingang hatte, ſtiegen wir hinab. Das ſchmale, niedrige Gelaß war zum 
Glück trocken und hell und barg — o Wunder und Segen! — einen kleinen Vorrat 
an Milch und Käſe; da ſich auch noch ein paar leere Holzkübel fanden, die ſich um- 
ſtülpen und trefflich als Sitzgelegenheiten benutzen ließen, hob ich ſchließlich auf 
Einladung meines zwar wortkargen, aber nicht eben unfreundlichen Wirtes zu 
tafeln an, was mir nicht übel von der Hand ging, da es während der zwei letzten 
Tage im Sumpf außer Sauer- und Stickſtoff und dergleichen Naturprodukten 


558 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 


nichts gegeben hatte. Auch er langte auf mein Zureden hin ein ganz klein wenig 
mit zu, ließ ſich auch, die guten Zigarren verſchmähend, meine letzte Zigarette 
aufnötigen, und dann währte es nicht mehr lange, bis wir ein wenig ins Geſpräch 
kamen. Ich frug nach den Mönchen und Prieſtern, nach Kirchen- und Klofter- 
geſchichte und erhielt gemeſſene Antwort; frug nach dem Kruzifix, das ſo ſeltſam 
auf dem Trümmerhaufen ſtand, und da gab er ſtückweiſe und allmählich ſeine 
Geſchichte preis. 

Er war Lehrer, Kantor und Küſter in einer Perſon. Seine Urgroßeltern 
waren vor etwa 100 Jahren aus Süddeutſchland ausgewandert; wahrſcheinlich 
nicht aus meinem königlichen Württemberg, ſondern aus dem Elſaß; Genaues 
wußte er nicht. Als Handwerker hatte der Urgroßvater hübſches Geld in Ruß 
land verdient; der Vater aber, als kleiner, ſtolzer Beamter, hatte es wieder 
draufgehen laſſen müſſen, zuerſt um ſeine in lächerlichem Ehrgeiz erſtrebte Stelle 
zu bekommen und dann, um ſich in ihr zu erhalten. Natürlich war der Großvater 
ſchon, von feiner alten Heimat völlig abgetrennt und von den Verhältniſſen ge 
zwungen, ruſſiſcher untertan geworden. Der Lehrer ſelbſt hatte in Moskau feine 
Schule beſucht, dann in Kiew eine Stellung erhalten und war endlich nach Bol 
Gorodiſchtſche geſchickt worden, wo noch etliche 60 deutſche Koloniſten in Wohl- 
habenheit unter den ruſſiſchen Bauern wohnten. Dieſe Koloniſten endlich vollends 
von ihrer Überlieferung, ihren alten Gewohnheiten und Gebräuchen abzuziehen 
und zu ruſſifizieren, hatte man ihm aufgegeben, und da er dank der Umgebung, 
in der er herangewachſen war, und dank der genoſſenen Erziehung, aber auch 
wegen gewiſſer übler Erfahrungen und widriger Zufälle der Geſinnung na 9 
ein vollkommener Ruſſe geworden war, hatte er ſich wohlgemut und entſchloſſ en 
an die ihm geſtellte Aufgabe gemacht, unterſtützt von der Regierung, die ihm 
einen anſtändigen Sold zahlte — ich hätte, ihn verbeſſernd, ſagen mögen: Judas 
lohn! — und ihm mit allen jenen Mitteln gefällig war, die für ſolche Zwecke bereit 
gehalten zu werden pflegten. 

Zu einem guten Teil war ihm ſein Unternehmen bereits gelungen, als der 
Krieg ausbrach. Und da er nun, ohne jede innere und äußere Verbindung mit 
Deutſchland, durch feine Behörde, die orthodoxe Geiſtlichkeit, durchziehende Sol 
daten und die ruſſiſchen Zeitungen nichts als Scheuſäligkeiten von der deutſchen 
Kriegführung hörte und furchtbare ihnen zugeſchriebene Grauſamkeiten in aller 
Munde waren, entflammte er wie ein echter ruſſiſcher Muſchik in wildem 
Haß gegen die „Barbaren“ und lechzte förmlich danach, fie zu vernichten. Was 
Wunder, wenn er ſich eines Tages ohne Zaudern bereit finden ließ, dem ruſſiſchen 
Herrn Spionendienſte zu leiſten und trotz der nahenden Gefahr und des Abzugs 
der geiſtlichen Herren und der Bauern mit Weib und Mutter im Oorfe zurüd- 
blieb, die Deutfchen erwartend, um fie dann im abgekarteten Spiel an feine Auf- 
traggeber zu verraten. 

Nachdem die Oeutſchen die Gegend zu beſchießen angefangen hatten, ohne 
jedoch infolge des Nebels die Ortſchaft zu treffen oder den einige Werft davor 
im Graben liegenden Ruſſen allzuviel Schaden zuzufügen, kamen eines Abends 
unvermutet Koſaken in das mit allerhand Truppen belegte Oorf. Ein ihren Ar 


Schrickel: Fürs beutfche Vaterland! 5 539 


ſprüchen genügendes Unterkommen nicht mehr findend, ſtürmten fie kurzerhand 
zum Kloſter, trotz des beſtehenden Verbots, das alle Klöſter vor ſolchen Gäſten 
ſchützen ſollte, zerſchlugen das Tor und verbreiteten ſich über den Hof, drangen 
in alle Gänge und Gelaſſe, räuberten im Keller, was ihnen anſtand und fielen 
lärmend in die Kirche ein. Da ſie Wein und Schnaps, ſo ſie vorgefunden, nicht 
ſchonten, ſtieg ihre Munterkeit höher und höher und veranlaßte fie, auf neuen 
Streifzügen durch das Kloſter ſich nach weiteren Schätzen umzuſehen. 

Seine junge, ihm ſeit knapp fünf Monaten verbundene Frau und ſeine 
weißhaarige Mutter, die der Lehrer vor dem Gelüſt der Horde nicht ſicher glaubte, 
verbarg er in einem abgeſchiedenen Kellerraum. Eben noch rechtzeitig, denn 
kaum hatte er den Schlüſſel abgezogen und ſich auf den Rückweg gemacht, als 
ein durchdringendes Gezeter den Kreuzgang erfüllte. Er eilte die Treppe hinauf, 
durchhaſtete einige Zimmer und trat auf den Hof, — da brachte das wilde Rudel 
die Magd geſchleppt, die, halbnackt und ſchon halb zu Tode geſchunden, wehrlos 
dem wüſten Haufen preisgegeben war. Unter Lachen, Flüchen und ſchmutzigen 
Späßen ſtießen und zerrten ſie das aufſchreiende Opfer über den Hof in die Kirche, 
wo unterm Portal ſchon der Hetmann und etliche feiner Kumpane auf dieſe neue, 
ungeduldig begehrte Beute warteten. Im Tumult ging's durch den Chorraum 
und hinter den Altar ins Sanktuarium, wo unter lautem Hallo und Gepolter 
ausgemacht wurde, die kraftlos Zuſammengebrochene fürs erſte einzuſchließen 
und für eine ſpätere Stunde aufzubewahren, zumal man jetzt zu Pferde mußte, 
um draußen ein wenig Dienſt zu tun und ſich den Aufpaſſern wieder einmal zu 
zeigen. 

Als ſie davon waren, eilte der Lehrer, der unentſchloſſen, erſchrocken und 
von hundert quälenden Gedanken und Sorgen um die Seinen gemeiſtert, tatlos 
alles Geſchehen ſich hatte vollenden laſſen, an die kleine verſchloſſene Eichen 
pforte. 

Im Sanktuarium war es totenſtill. Leiſe klopfte er und flüſterte den Namen 
der Magd. Da hörte er, wie ſich ein Körper mühſam vom Boden aufzurichten 
ſuchte, und merkte, daß die Gerufene lauſchte. 

„Herr .. ., kam es wie aus atemloſer Bruſt. 

„Ich bin's, Matke. Sprich“, forderte er die völlig Zerbrochene auf. 

Da ſchleifte ſich der arme Körper drinnen über den Boden zur Tür und 
halberſtickte Rufe klangen auf. 

„Helft ... Helft . .. Macht auf, um Gottesbarmherzig ... barmherzigkeit 
willen... Ich. .. Heiland ..., die Stimme löſchte aus und irre Finger taſteten 
nach der Klinke. 

Stand der Lehrer mit gerinnendem Blut und fand kein Wort des Troſtes 
und keins der Abwehr, urplötzlich ſeine Ohnmacht und ſchlimme Lage gewahr 
werdend und faſt bereuend, daß er feinem törichten Mitgefühl nachgegeben und 
die Magd angerufen hatte. Nun freilich kam dieſe Reue zu ſpät und er fand 
ebenſowenig die Kraft, wieder davonzulaufen und die einem ſchweren Geſchick 
Preisgegebene ſich ſelbſt zu überlaſſen. Und alſo vor der Pforte ſtehend wie hin- 
gebannt, mußte er alsbald die bettelnde Magd anhören, die, ob ſeines Schweigens 


540 Scäridel: Zürs deutſche Vaterland 


von fteigender, verzehrender Angſt überflutet, ſich näher an die Tür rückte, die 
Lippen gegen das Getäfel preßte und mit haſtigen, bettelnden Händen an der 
Pforte wie ſchmeichelnd auf und nieder glitt. 

© „Herr helft ... Helft !! . .. Laßt mich nicht wieder an fie fallen. Um 
alles, Herr ... Hört Ihr? hört Ihr? Macht mir die Tür auf. Der Nachſchlüſſel 
hängt in Eurer Stube, Herr. Erbarmen ...“ und ließ ermattet die Stirn ſchwer 
gegen die Pforte fallen. 

Er aber ſtand, von eiſigen Schauern überrieſelt und mit Flammen im Hirn 
und wußte nicht ein noch aus. 

„Betet !... mehr brachte er an Rat nicht zuſammen. Aber die Magd achtete 
dieſes Rates ſo wenig als ſie Faſſung genug gehabt hätte, ihn zu befolgen. 

‚Der Schlüſſel, Herr ..“ wimmerte fie wie ein wundes, verendendes 
Tier. „Rettet .. . oder tötet mich!“ flog es jach von ihren Lippen, und es war 
zu hören, wie ſie ſich ſtraff auf die Knie erhob, und ihre Stimme klang ſtark und 
ſicher, als fie von neuem forderte: ‚Gebt mir ein Meſſer, ein Beil, einen Hammer. 
Gebt mir einen Strick, Herr, daß ich mich erwürge, ehe fie kommen. Eilt... 

Aber das weigerte er ihr. 

Was willft du da von mir ..., und wußte doch ſelber keinen anderen Aus- 
weg. Da brach ſie in lautes, gellendes Weinen aus und die Hände klatſchten auf 
den Boden, als wäre fie vornübergefallen. Riet er ihr in blinder Haft aufs Gerate 
wohl, das Fenſter zu erklimmen. Es war hoch, gewiß, aber wenn fie den Tiſch 
an die Mauer rückte und einen Stuhl darauf ſtellte, vielleicht daß fie die Fenſter⸗ 


bank erreichte. Es war freilich auch vergittert, aber ſo Gott half, war der Stäbe 


einer vielleicht locker, alſo daß ſie ihn herausbrechen oder zur Seite biegen und ſo 
entſchlüpfen konnte. Nein, er glaubte im nächſten Augenblick ſelbſt nicht mehr 
daran, aber ſo unſinnig der Rat ſein mochte, im erſten Auftauchen ſchien er ihm 
Rettung zu verheißen. Und die Magd befolgte ihn. 

Er hörte fie auf die Füße ſpringen, von neuer Kraft durchſtrömt; hörte, wie 
ſie den Tiſch an die Mauer ſchob, in der Haſt allerlei Gerät herunterſtoßend, 
daß die Scherben flogen; dann hob fie einen Stuhl auf den Tiſch ... und 
wieder klirrten Flaſchen oder Gläſer zu Boden... und nun ... nun ſtand fie 
wohl oben. 

Mit angehaltenem Atem lauſchte er ... Sie ſchien die Stäbe erfaßt zu 
haben und ſich emporzuziehen. Keuchend. Keuchend und dabei mit verſagender 
Stimme Gott anrufend ... Umſonſt ... Die Kräfte reichten nicht aus und fie 
glitt wieder herab. 

Jetzt betete fie inbrünſtig; ihr Atem flog, das Weinen ſtieg in ihre Stimme 
und jetzt klomm ſie wieder an der Wand empor, ſetzte die Füße ein, daß der Mörtel 
fiel, ſtemmte die Knie gegen die Mauer und biß knirſchend die Zähne aufeinander, 
alle Kraft aufbietend ... Da, ein wilder, wunder Schrei: „Maria !! und dann 
glitt ſie abermals kraftlos herab; der Stuhl ſtürzte um und ſie fiel auf den Tiſch. 

„Matka. . . 

Weh mir ... und aus der Tiefe einer zertrümmerten Seele dringendes 
leiſes Wimmern. 


Schrickel: Furs deutſche Vaterland! Sal 

Planlos lief der Lehrer ein paar Schritt in die Kirche, eilte zur Pforte zurück, 
lauſchte wieder und ſah ſich um, als müßte von irgendwoher Hilfe kommen. Auch 
er begann zu beten. 

Es half nichts, und die Zeit rann dahin. Aber was konnte er tun? Schloß 
er die Tür auf und verhalf er der Eingefangenen dergeſtalt zur Flucht, ſo war 
ihm der Tod ſicher, auch wenn die Räuber ihn nicht bei feinem Helferswerk er- 
tappten. Ja, ſelbſt wenn es ihnen beikam, daß er unſchuldig fei, ſie würden ihre 
Rache und Wut trotzdem an ihm kühlen, ihn vorfordern und nach der Magd fragen 
und dann erſchlagen. Bei Gott, er fürchtete den Tod nicht. Aber fein jung’ Weib 
und ſeine Mutter lagen da drüben in Angſt und Not im Kellergelaß. Und die 
Horde würde alles nach der Magd durchſuchen; nicht raſten, bis jeder Winkel 
durchleuchtet, jede Tür aufgebrochen war. Und dann — — 

Er mußte ſein Leben erhalten und Matka mußte bleiben. Er durfte ihre 
Flucht nicht fördern. Mehr! Er mußte ſie verhindern! 

Aber da war noch ein anderes, um das ſie bat: der Tod. Doch ſie töten 
oder ihr den Tod in die Hände drücken, das lag ganz außer feiner Macht. Der- 
gleichen vermochte er kaum zu denken, geſchweige denn zu tun. Wie auch hätte 
er mit ſolcher Schuld vor ſeinem höchſten Richter beſtehen ſollen? 

So war er machtlos gegen das ſich unaufhaltſam Vollendende, wandte 
ſich ab und taumelte in die abendlich durchdämmerte Kirche. 

Da klangen Schritte und Stimmen heran. Lärmend wälzte ſich die Rotte 
über den Hof. Er ſah fie durch die einbrechende Dunkelheit auf das Portal zu- 
kommen, beladen mit Wein- und Schnapsflaſchen, die ſie irgendwo zuſammen⸗ 
geſtohlen oder erpreßt haben mochten. Ihre Geſichter, von dem ewigen Lämpchen 
am Turmgang beleuchtet, glühten, ihre Schritte waren ſchwer und unſicher. 
Mit ihnen zu verhandeln, war ausſichtslos. Die Magd war unrettbar an ſie 
verloren. 

Mit einem Sprung brachte er ſich zur Seite und barg ſich hinterm Chor- 
geſtühl, um den wüſten Zug vorüberzulaſſen und dann ungeſehen durch die 
Seitentür aus der Kirche zu ſchlüpfen und in das Nebengebäude zu eilen, Wache 
zu halten für alle Fälle, daß ſich keiner der trunkenen Geſellen etwa in jene ab- 
gelegenen Räume verlöre und dann von ungefähr an die Falltür geriete, hinter 
der Frau und Mutter ſchlimme Stunden verbrachten. Aber die Rotte machte 
unverſehens an der Kirchtür Halt, redete eifernd miteinander und ſchlug ſich dann 
ſeitwärts in den Kreuzgang, wo ſie für ihr wüſtes Gelage und Geſchrei mehr 
Platz hatte. 

Auch die Magd mochte den Lärm hören, der ihr die Anweſenheit ihrer 
Peiniger ankündigte, denn jetzt warf fie ſich mit der ganzen Wucht ihres Körpers 
gegen die Tür und riß mit aller Gewalt an der Klinke, in höchſter Todesnot nach 
dem Lehrer rufend. Entſetzt ob dieſes verzweifelten Tuns und drohend klingenden 
Schreies lief der wieder aus ſeinem Verſteck hervor und eilte an die Pforte, die 
ſinnlos Tobende zu beſchwichtigen. 

‚Still doch! Du rufſt fie ja nur. Schweig und fie werden dich ln 

Aber taub gegen ſeine Mahnung, raſte fie wider ihn. 


542 Schrickel: Furs beutſche Baterand! 


‚Öffnet oder tötet mich! Ich will nicht wieder unter fie fallen! Helft, ſag 
ich, oder ... oder ... — und nun ſchrie ein wilder Haß aus ihr —: ‚ich verrate 
ihnen Euer Weib!“ 

Das traf ihn wie ein Keulenſchlag und taumelnd ſank er gegen den Pfoſten. 
Als er aber ſtumm blieb, wollte ihm die Zunge doch nicht mehr gehorchen, fing 
die Magd von neuem ihn zu beſtürmen an: 

‚Hört Ihr? Zch ſchwör's bei meiner Mutter Seligkeit und Marias Krone: 
wenn Ihr nicht helft, jetzt, gleich, verrat' ich Euer Weib an die Koſaken, das viel 
ſchöner ift als ich und jung und von weißer Haut und voller .. 

„Matka!“ And als ſtünde fie erreichbar vor ihm, hob er die Fauſt, fie zu 
ſchlagen. Dann fing er an, mit fliegender Zunge auf fie einzureden, ihr alle Strafen 
der Hölle ankündigend, wenn ſie ihren fluchwürdigen Vorſatz durchführe, ihr alle 
Reichtümer der Erde verheißend, wenn ſie ihn aufgäbe; beſchwor ſie und redete 
ihr vor, daß die Gefahr vorüber ſei oder doch vorübergehen werde. Aber ſie ließ 
ſeine Worte nicht bis zu ſich, wehrte ſie ab und wiederholte ihre Drohung oder 
beſtürmte ihn mit wilden Bitten um Hilfe. Und wie er noch ſo ſtand und gegen 
ihre Worte focht, ſtieß ihn jählings eine Fauſt zur Seite. 

Der Hetman, der ſein Opfer ſuchte. 

„Zum Teufel, Schuft, was ſtehſt du da?“ 

Lallend ſtieß es der graubärtige Niefe heraus, der, auf unſicheren Füßen 
ſtehend, ihn mit dem ſtieren Blick des Trunkenen anfeindete. Doch wenn auch 
erſchrocken, jetzt wich der Lehrer nicht, ſondern behauptete ſich, ſo gut es gelingen 
wollte, und fing ein haſtiges, unterwürfiges Bitten an, die Magd loszubetteln. 
Aber mit wenig Glück. 

„Vas, du Hundſohn!“ brüllte der Hetman, und das rot aufgedunſene Geſicht 
erglühte noch tiefer in Ärger und Wut. ‚Willſt du das Rebhuhn für dich?“ und 
ſuhr ihm mit der Fauſt an die Gurgel. Ohne ſich zu wehren, ließ ſich der Lehrer 
abſchütteln und zu Boden werfen, dann am Boden liegend, ſuchte er des Gewalt- 
tätigen Füße zu küſſen. 

‚Um Gottes Erbarmen willen fleh' ich Euch an, Herr ... Ein Fußtritt 
machte ihn verſtummen und ſchleuderte ihn beiſeite. Mit einem böſen, heiſeren 
Lachen ſchloß nun der Hetman die Pforte auf, trat ein und warf ſie hinter ſich zu. 

Jetzt erſt packte den Lehrer die Angſt; er ſprang auf, griff nach der Klinke, 
gewaltſam ins Sanktuarium nachzudringen, ſchauderte zurück, von auflodernder 
Angſt um die Seinen, die er mit feinem Unternehmen einem furchtbaren Schickſal 
auslieferte, jählings überwältigt, und ſtürzte davon, ſich vor dem hochaufgerichteten 
Marterkreuz Chriſti niederwerfend. In ſtummen Gebeten rang er um Hilfe und 
Gnade und ſchrie lautlos aus ganzer Seele zu dem Gekreuzigten empor. Da gellte 
ein alles durchdringender Schrei durch die dunkle Kirche und traf ihn wie ein Fauſt⸗ 
hieb. Matka ... In höchſter Not ſchlang er die Arme klammernd um das hoch- 
ragende Kruzifix und ſtürmte lauter und lauter auf den Gemarterten ein, — aber 
das Geſchrei der Magd übergellte feine Stimme, hallte durch den weiten Chor 
und brach ſich an den Gewölben, riß ihn empor und, ehe er ſich's bewußt geworden, 
gepeitſcht von Verzweiflung und Staufen, packte er das ſchwere, eichene Kruzifix, 


Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 843 


hob's aus den Eiſenringen und lief mit der gewaltigen Laſt gegen das Sank- 
tuarium, das Heiligtum hoch in den Händen tragend, nicht um es als Heiligtum 
dem raſenden Tier beſchwörend vorzuhalten, ſondern um es als Waffe zu ge- 
brauchen, die Pforte damit einzurennen und den Trunkenen zu zerſchmettern. 
Ein paar Schritte gelangen, dann wankte er, die Kraft der Arme verſagte, und 
krachend ſchlug das Kreuz zu Boden, daß er in wildem Entſetzen zurückfuhr vor 
dem Angeheuerlichen, fo er da feinem Heiland angetan; dann, wie von den 
Furien der Hölle gehetzt, jagte er in langen Sätzen davon. 

An der Falltür, die in das Kellergelaß zu den Seinen führte, hielt er an 
und brach in die Knie. Heller Schweiß rann ihm von der Stirn und Froſtſchauer 
fuhren ihm durch die Adern. Es war Totenſtille rundum. Als ob die Nacht über 
Ungeheuerlichem brütete; als ob der Pulsſchlag der Welt ſtockte ob unausdenkbar 
Fürchterlichem. 

— Ob die Magd ſein Weib verriet —? Ob fie, ſich vor Grauſigſtem zu retten, 
ſich aus den Klauen des Todes zu ringen, jetzt, im haſtenden Augenblick, das Tier 
und mit ihm das ganze Nudel auf fein Weib hetzte und auf feine Mutter ... 

Und noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht, erfüllte neuer Tumult 
den nächtigen Hof, und kreiſchendes Gelächter und wutheiße Flüche brauſten heran. — 
Sie waren auf der Spur. — Er wußte: jetzt kam das Ende. Jetzt kam das Unaus- 
denkliche, denn — da war kein Zweifel mehr! — die Magd hatte ſein Weib an 
die Horde verraten und führte die Schar am Ende ſelber herbei. Noch hatte er 
Zeit, einen Stein vom Boden zu raffen, der immer bereit lag, um die geöffnete 
Falltür zu ſtützen, dann wälzte ſich der trunkene Haufe polternd hinter einer voran- 
leuchtenden Laterne daher. Ohne Beſinnen warf er ſich den Nahenden entgegen 
und gebot ihnen Halt, drohend den Stein zum Schlage erhebend. Aber ein wildes 
Gelächter war die Antwort, und dann war er von Fäuſten und Füßen zur Seite 
geſchleudert und lag ächzend und wehrlos am Boden, während die Rotte an ihm 
vorbeidrängte und die Tür erbrach. Mit einem Freudengeheul ſtürmten ſie in 
das Gelaß hinein. — 

Ihm vergingen ſchier die Sinne. In ſeine Ohren dröhnten Sturmglocken, 
ſein Blut quoll ihm in die Augen, daß es ihm war, als ſtünde die Erde bluttriefend 
ringsum; feine Adern ſchienen zum Zerplatzen überfüllt — und wie von einem 
Dämon gehetzt, ſprang er durch das nächſtbeſte Fenſter ins Freie, lief quer über 
den Hof, riß im Vorüberraſen das rotleuchtende ewige Lämpchen, das neben 
dem Turm vor einem Marienbilde hing, aus den dünnen Ketten und eilte die 
Stufen in den Turm hinauf. Oben bei den Glocken ſprang er in eine der Schall- 
Luken, beugte ſich weit hinaus und ſchwenkte die Lampe durchs Dunkel der Nacht. 

Er rief die „Barbaren“ zu Hilfe. Daß er ſie haßte und verachtete, hatte 
er vergeſſen; unter der Wucht des alles zerſtörenden Grauens und der ſich über- 
ſtürzenden Ereigniſſe trieb ihn eine unbeſtimmte, unabweisbare Hoffnung, Er- 
löſung und Beiſtand bei jenen zu ſuchen, die er zu verraten gekauft war. Es war 
nichts in ihm, das wie alte, urgroßväterliche Erinnerung geweſen wäre; nichts, 
das einem blutsbrüderlichen Gefühl, einem Erwachen zum Bewußtſein ſeines 
Deutſchtums ähnlich geweſen wäre; nein. Lediglich das übermannende, grenzen- 


544 Schrickel: Furs beutſche Vaterland! 


loſe Entſetzen vor den ruchloſen Frauenräubern, vor dem ſeinem Welbe und feiner 
Mutter drohenden, an ihnen in dieſen Sekunden vielleicht ſchon ſich vollziehenden 
Schickſal ließ ihn ohne Überlegen und ohne Wahl das ewige Lämpchen in die Nacht 
hinausſchwingen. Die Blicke der wachſamen Feinde wollte er herbeilenken und 
ihre Hilfe rufen, und bedachte nicht, was ihm widerfahren würde, wenn er zu- 
gleich von den ruſſiſchen Spähern geſehen ward. 

Sekt wurde unten im Hof das mit ihrer Beute zur Kirche zurückkehrende 
Rudel wieder laut; wie Wolfsgeheul klang's, wie das Gebell tollwütiger, brünſtiger 
Hunde ... Dazwiſchen klagte eines Weibes qualdurchloderte Stimme — — 

Höher und wilder ſchwang er die Lampe an den Kettenreſten und bohrte 
mit aller Anſpannung die Blicke ins Dunkel, wie um die Retter mit den Augen 
zu rufen, wo die Stimme ſie nicht erreichen konnte; ging Gott mit ſtürmiſchen, 
faſt herb fordernden Worten an, das Seinige in dieſer fürchterlichen Stunde zu 
tun und die Gerufenen anzufeuern, ihre Sinne und Seelen ihm zuzuwenden. 
Da hob in den Lüften ein Sauſen an, ein Heulen, Gebrüll, Getöſe, daß er jubelte. 
Das war Gottes Stimme! ... Und dann barſt die Erde unter ihm, daß der Turm 
wankte. Ein Heer von Flammenfäuſten fuhr empor und riß dicht an der Kirche 
die Mauerkrone herunter, und eine ſchwere Wolke ſchwarzen Rauchs ſchlang ſich 
um den Turm wie eine todverkündende, mächtige Fahne. 

Der erſte Schuß hatte geſeſſen. 

Eh’ er's zutiefſt gefaßt, dröhnte die Nacht von neuem, als ftürze die halbe 
Welt zuſammen, und mitten aus der Kirche quoll Rauch und Feuer in dicken 
Schwaden. Und faſt gleichzeitig ſtieß ein Sturm und Donner den Turm um; 
die Glocken gellten ſchrill auf, die Füße glitten ihm ins Leere und er ſank ins boden; 
loſe Dunkel hinunter — — 

Als er gegen Morgen zu ſich kam, fand er ſich unter Trümmern halb ver⸗ 
graben und ringsum war nichts als Schutt und Aſche ..., ein einziges Grab 
alles 

Nachdem er ſich hervorgewühlt, ohne Ziel und rechten Willen, und dann, 
auf den Trümmern hockend, die Kräfte mählich wiederkehren fühlte, begann et 
das halbverkohlte Gebälk und die Stein- und Mörtelmaſſen wegzuräumen, nach 
ſeinem Weibe ſuchend. Denn daß er ihnen hier ein Grab getürmt, das war er 
allzu ſicher. 

Ein paarmal brach er über der Arbeit nieder, von feinem Weh und feiner 
Gewiſſensnot überwältigt, aber er raffte ſich doch immer wieder auf, ſich vor⸗ 
ſprechend, daß es ſo gut ſei, wie es ſei, und daß er die Toten bergen und noch im 
Grabe von den wilden Tieren ſcheiden müſſe, denen er fie entriſſen. 

EA, Entriſſen“, daran klammerte er ſich. 

Und fo grub er zu. Fand da einen Koſaken, dort einen Koſaken. Dann den 
Hetman und nahe bei ihm fie, die er mit tauſend Sehnſüchten ſuchte, nach der 
alle feine Schmerzen ſchrien und über der er nun doch kraftlos und ſtumm zu 
ſammenbrach. — 

Als er ſich wieder gefunden, deckte er das Grab ſtill wieder zu; nach ſeiner 
Mutter grub er nicht mehr. Oben auf das von den Trümmermaſſen gehäufte 


„ 2 cn Zu Zn „ ĩð[1 , ĩ on in „25 * 


Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 545 


Riefengrab ſetzte er das nur wenig beſchädigte, offen daliegende Kruzifix, mit 
dem er den Hetman am Abend zuvor hatte erſchlagen wollen. Und neben dem 
Gekreuzigten ſank er nieder, aller Hoffnung, aller Freude und Kraft beraubt, 
zu Boden gedrückt trotz allem von einer heimlich gefühlten, himmelan getürmten 
Schuld und von unſagbarem Leid zerriſſen. 

So fand ich ihn.“ 

Leutnant Wild ſchwieg. Eine Weile war es ganz ſtill im Zimmer, gleich 
als ſtünden die Offiziere mitſammen an jenem ſeltſamen Grabe. Nur die Uhr 
tickte. Dann ſog plötzlich der Bayer, als wollte er ſich dem Bann gewaltſam ent- 


winden, krampfhaft an ſeiner inzwiſchen erloſchenen Zigarette, ſtand wie ärgerlich 


auf, trat an den Tiſch, fie in den Aſchenbecher zu legen, und frug dabei aus ſicherer 
Entfernung: 
„Na und?“ 

„Tja . . “ machte Wild, „damit iſt die Geſchichte eigentlich aus, denn ich 
wollte Ihnen ja von einem erzählen, der ſeine deutſche Heimat vergeſſen hatte, 
wenn nicht gar verachtete.“ 

„And folgt gar nichts mehr?“ 

„Doch. Und ich will es nicht unterſchlagen.“ 

„Alſo ...“ ermunterte ihn der wieder herangetretene bayriſche Offizier, 
dem der ſächſiſche Gardereiter um das Verfahren abzukürzen, ein Zündholz für 
die neue Zigarette reichte, ihn alsdann ſanft wieder in den Stuhl drückend. 

„Das Allernächſte“, fuhr der Artilleriſt fort, „wiſſen Sie ja ſchon: ich ging 
mit ihm oder er mit mir, wir fanden Milch und Käſe und er erzählte ſtückweiſe, 
was ich Ihnen da ſoeben im ganzen berichtet habe. Was ich dazu ſagte und dachte, 
iſt nebenſächlich; genug, ich ſprach ihm, ſo gut ich's konnte, Mut zu, ſchüttelte ihm 
verſchiedene Male die Hand, nötigte ihm noch glücklich eine Zigarre auf und trollte 
ſchließlich wieder ab. 

Aber etwa eine Stunde ſpäter ſaß ich ſchon wieder bei ihm, denn ich konnt's 
einfach nicht, den Mann fo ſich ſelber überlaſſen. Ich wollte ihn dem Leben wieder- 
gewinnen und ihm fo nebenher zeigen, daß wir ‚Barbaren‘ denn doch nicht das 
waren, als was uns die engliſchen Schächer in der Welt ausſchrien. Kurz und 
gut, ich redete ihm weidlich zu, den Kopf hochzunehmen und ſich wieder ins tätige 
Leben einzuwurzeln. Erſt wollte er natürlich nicht. Was ſollte er noch da? 

„Ich kann's ja doch nicht ſchleppen.“ 

„Warum denn nicht? Verſuchen Sie's! riet ich und fing an wie ein gelernter 
Paſtor ihn zu bearbeiten mit einem Eifer und einer wirklich aufrichtigen Hingabe, 
daß ich mich noch jetzt darüber wundere. Seine Frau ... das war ein herber Ver- 
luſt; aber — und darauf wies ich ihn nachdrücklich hin — wie viele Frauen in 
Deutſchland haben gleich ſchwere und noch viel, viel ſchmerzlichere Verluſte zu 
tragen. Und tragen ſie! Und manch einem der Unſern — fügte ich bei —, die hier 
im Felde ſtehen, ſtarb daheim das Weib ... und er mußte auf ſeinem Poſten 
bleiben. And blieb! Und dann wies ich ihn auf feine Schulkinder hin. Im Orte 
waren etwa drei Dutzend deutſche Kinder vorhanden geweſen, denen er die 
Würzelchen, die ſie an die alte Heimat banden, een ſich bemüht hatte. 

der Türmer Xx, 24 | 85 


„3 ed — 


546 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 


Jetzt waren ob der Kriegswirren und nach der rückſichtsloſen Verſchleppung der 
Koloniſten durch die Ruffen vielleicht noch fünf, ſechs deutſche Kinder im Dorf 
oder in deſſen Nähe verborgen. Gut. Da gab's Arbeit für ihn. Auf ſie wies ich 
ihn alſo hin. An ihnen konnte er gutmachen, was er etwa gefehlt. Durch das 
Leben dergeſtalt die Schuld ſühnen, wenn er ſich dergleichen aufgeladen. Als 
Menſchenbildner ſollte er Gutes tun; ſollte an den Herzen der Kinder horchen, 
in denen das Blut der Vätex noch leiſe ſang; wo der Keim Deutſchheit ſeine feinen 
Wurzeln noch immer trieb; all das ſollte er hegen und pflegen und ſo ſich ſelber 
wieder in ſeine geiſtige Heimat zurückfinden. Solcherart konnte er Glück ſäen 
und Segen ſchaffen jenen und ſich ſelber. 

Er gab mir keine Antwort, aber er widerſprach nicht. Und als ich ihm fchließ- 
lich zum Abſchied die Hand gab und ſagte: „Sie haben nicht an ſich, nicht an uns 
mehr geglaubt, weil wir euch hier draußen vergeſſen hatten; aber von neuem 
werden wir euch nicht mehr vergeſſen, des dürft ihr gewiß fein‘, blieb er zwar 
noch ebenſo verſchloſſen und düſter, aber in ſeinem Blick glomm ein ſchwaches, 
doch ſpürbares Leuchten tief innen. 

Gegen Abend rückten wir mit unſeren Geſchützen vor und ſchlugen uns 
in der Folge an die drei Monate mit den Ruſſen herum, die mir ſchließlich eins 
auswiſchten, ſo daß ich mich auf den Schub mußte bringen laſſen. 

Beim Rücktransport fuhr der übel ratternde Panje- Wagen durch Bol Goro- 
diſchtſche. Da fand ich neben den Kirchtrümmern einen kleinen Holzbau, der mir 
einladend zur Raſt nach der beſchwerlichen und miſerablen Fahrt winkte. Ich 
ließ halten, mich vom Wagen heben und in das Haus tragen, wo mir — der Lehrer 
entgegentrat. Das war eine wunderhübſche Überraſchung, die mir in doppelter 


Hinſicht angenehm war. Er ſorgte denn auch aufs allerbeſte und eifrigſte für mich 


und tat, was nur immer in ſeinen und der ihm anhangenden Kräften ſtand, mir 
die Lage zu erleichtern. Anhänger hatte er nämlich. Zunächſt 9 Kinder und damit 
deren Eltern. Lauter Oeutſche, die inzwiſchen wieder zum Vorſchein gekommen 
waren. Das Haus aber hatten ihm deutſche Soldaten gebaut; es war zugleich 
die Schule. Er machte die Nebentür auf und ließ mich in das zweite Zimmer 
blicken. Da ſaßen juſt die Buben und Mädel bei der Arbeit, ihm mit glänzenden 
glückhaften Augen entgegenſchauend, und es war zu ſehen, wie ihre Luſt und 
Freude ſich in feinen Blicken widerſpiegelte. An der Wandtafel ſtanden einige 
Sprüche und darüber, wie für die Dauer hingeſchrieben, in feſten Schriftzügen 


die Worte: „Ans Vaterland, ans teure, ſchließ dich an, 


Das halte feſt mit deinem ganzen Herzen, 
Hier find die ſtarken Wurzeln deiner Kraft... 


Er fühlte wohl, daß ich heimlich von meinem Stuhl aus ihn anſah, denn 
er ſagte, ohne daß ich meine Frage ausgeſprochen, mit leiſer, wie in Scheu und 
ſpäter Scham verhaltener Stimme: 

„Ich lehre fie das Heiligſte verſtehn.“ 

Da nahm ich wortlos feine Hand. — — Er aber ſchloß die Tür wieder und 
wandte den Kopf zur Seite; mochte ſein, daß er Tränen verbarg oder bekämpfte. 


Weiß- v. Nuckteſchell: Ernte 547 


Ein paar Stunden ſpäter fuhr ich, im reichlich mit Stroh und ſogar einem 
mir von einer Bäuerin gewaltſam aufgedrungenen großen Federkiſſen ver- 
ſehenen Wagen meine Straße weiter. Im Schritt natürlich. Nebenher marſchierte 
der Lehrer. Das wollte er ſich nicht nehmen laſſen, und er ſchritt rüſtig dahin, 
friſch und voll wachſenden Lebensmutes, wie in leiſe jubelnder Zuverſicht und 
ſelbſtſicherer Kraft. 

N Und immer neben mir ... gen Oeutſchland. 

Als wir endlich voneinander ſchieden, drückte er mir, ſchon im Davongehen, 
noch ein kleines Briefchen in die Hand und war dann fort, ehe ich's mich verſah. 
Es war, in ein Papier eingeſchlagen, das Bild feiner mädchenhaft jungen, wirklich 
lieblichen Frau, die da nun unter dem Trümmergrabe lag, und auf der Rückſeite 
des Bildes ſtand in großer, ſtraffer Schrift: 

„Fürs deutſche Vaterland.“ 

Da wußt' ich, daß er ſich gefunden. Als ich mich nach ihm umſah, ſtand er 
ſchon weit dahinten und winkte mit beiden Armen noch lange . lange... 

So grüßte er ſeine ferne, ihm wieder erſtehende Heimat. 


« 


Sea, 


Ernte Bon Alice Weiß- v. Ruckteſchell 


Wie war der Abend klar und rein, 
Als wollte alle Welt 

So ſtill, ſo hell, ſo friedlich ſein 
Wie unſer Erntefeld. 


Wie hat der Himmel goldenrot 

Ob unſerm Dorf gelacht. i 
Und irgendwo herrſcht Weh und Tod 
And geht die blut'ge Schlacht.. 


Doch über ſtilles Ernteglüd 

And über Kriegsgebraus 

Sieht Gottes ew' ger Sonnenblick 
Und löſcht die Feuer aus. 


Die Stunde kommt, die Stunde naht, 
Und ſei fie noch fo weit. 

Es reift zur Ernte jede Saat, — 

Und Gott kennt ſeine Zeit! 


W 


548 Riegelsberger: Ein Schandmal auf der deutſchen Erde 


Ein Schandmal auf der deutſchen Erde 


Das Turenne⸗Denkmal in Sasbach bei Achern 
Von Profeſſor J. Riegelsberger 


7 eit Beginn des Weltkrieges nehmen die Feinde Beſitz von unbeweg- 
lichem deutſchem Eigentum in ihrem Lande. Aus Rom kommt die 
Nachricht, daß der deutſche Proteſtantenfriedhof in Nom der Madt- 
22 befugnis der „Barbaren“ entzogen und der Hut der Römer über- 
antwortet werden ſoll. Die franzöſiſche Preſſe hat leidenſchaftlich die Forderung 
erhoben, daß ſogar die Grabdenkmäler auf den deutſchen Kriegerfriedhöfen in 
Frankreich entweiht und entfernt werden. Der „boche“ habe höchſtens ein Recht 
auf ſechs Schuh Tiefe, die Engelsköpfe mit den Stieraugen, die von den „geſchmack⸗ 
loſen Barbaren“ gebildet wurden, müßten unbedingt beſeitigt werden. | 

Wie verhalten wir Deutſche uns angeſichts dieſer Tatſachen gegenüber fran- 
zöſiſchem Grimdbeſitz mit einem Denkmal, das als höhnendes Sinnbild einſtiger 
deutſcher Schwäche und Schmach uns wie ein Pfahl im Fleiſche ſitzt? Wir meinen 
den franzöſiſchen Boden mit dem Turennedenkmal in Sasbach bei Achern in 
Baden. 

Von der Landſtraße, die Baden von Baſel bis Weinheim durchzieht, führt 
unmittelbar am ſüdlichen Eingang des Dorfes rechts ein ſchnurgerader, langer 
Zugangsweg in einem breiten Raſenteppich, eingeſäumt mit verſchnittenen Hecken 
und Bäumen und einem Gitter, zum Denkmal. Der Eingang wurde kurz vor dem 
Kriege mit Ketten gegen Fahrzeuge abgeſperrt. In der Mitte der Anlage bringt 
ein Rondell aus Tannen etwas Abwechſlung in die Eintönigkeit der Garten- 
anlage im Stile von Lenötre, die in ihrer Symmetrie und Geziertheit lebhaft an 
Verſailles erinnert. Ein zweites Rondell aus Linden umgibt das Denkmal am 
Ende der Anlagen. Daß der franzöſiſche Wächter die ganze künſtleriſche Garten- 
anlage durch das Hineinpflanzen von Frühzwetſchgenbäumen verfchandelt hat, 
iſt wohl nur auf ſeinen den Geſchmack verderbenden Aufenthalt im Lande der 
„Barbaren“ zurückzuführen. Das Denkmal iſt ein großer Obelisk aus Granit 
aus dem Achertal, angefertigt vom Bildhauer Friedrich aus Straßburg im Jahre 
1829, Das Ganze iſt im Empireſtil gehalten mit dem klaſſiziſtiſchen Palmetten⸗ 
ſchmuck. Die Vorderſeite zeigt den Kopf Turennes in Relief. Darüber prangt 
die Inſchrift in Goldlettern: La France à Turenne. Die linke Seite enthält den 
Todestag: Ici Turenne fut tu6 le 27 Juillet 1675. Die Rückſeite ſchmückt Turennes 
Wappen. Darüber iſt das Jahr der Errichtung verzeichnet: Erige en 1829. Pie 
linke Seite verherrlicht die Siege des Feldherrn: Arras, Les Dunes (Niederlande), 
Sinsheim (Baden), Entzheim, Türkheim (Elſaß). Die Kriegskunſt hat Turenne 
übrigens von einem deutſchen Feldherrn, von Bernhard von Weimar, gelernt. 
Als Symbol des Kriegers umgibt ein Gitter aus Lanzen und Hellebarden das 
Denkmal. Ein alter dreiſciliger Oenkſtein links vom neuen Denkmal enthält die 
drei Inſchriften: Joi fut tus Turenne. Hier iſt Turennius vertoetet worden. Hie 
Deoidit Turennius Die 27. Julii Anni 1675. Weiter links ſteht noch heute det 


Riegelsberger: Ein Schandmal auf der deutſchen Erde 549 


Strunk des Nußbaumes, unter dem der tote Turenne vom Pferde genommen 
wurde. Ein neuer, efeuumrankter Nußbaum iſt aus der verwitterten Wurzel des 
alten herausgewachſen. Außerhalb der Anlage auf der linken Seite befindet ſich 
das Haus des franzöſiſchen Wächters. Dort findet man nach zeitgenöſſiſchen fran- 
zöſiſchen Quellen das Geſchichtliche über Turennes Tod und die Schlacht bei Sas- 
bach, wodurch die immer wieder aufgewärmte Legende widerlegt wird, eine Kugel 
habe einen Aſt von dem Nußbaum heruntergeriſſen, unter dem Turenne ſich auf- 
hielt, und der herabfallende Aſt habe den Feldherrn getötet. In Wahrheit ſtarb 
Turenne gar nicht unter dem Nußbaum, den man mit aller Sorgfalt und Ehr- 
furcht bis heute zu erhalten ſuchte. Nachdem er unter dem Nußbaum gefrühſtückt 
hatte, ritt er in öſtlicher Richtung gegen die Vorhügel des Schwarzwaldes, da 
man ihm verdächtige Bewegungen der Kaiſerlichen an den Hängen des Schwarz- 
waldes gemeldet hatte. Kaum waren ihm die frohlockenden, ſiegesgewiſſen Worte 
entfahren: „Diesmal ſollen ſie mir nicht entwiſchen“, als eine feindliche Kugel 
feinem Adjutanten den Arm wegriß und ihn in den Magen traf. Ein zeitgenöſſi- 
ſcher Stich im Gaſthaus zum Sternen in Sasbachwalden zeugt für die Richtigkeit 
dieſer Darſtellung. Das Pferd Turennes, die „Elſter“, ſprengte mit dem toten 
Körper zurück zum Nußbaum, wo man den Leichnam vom Pferde nahm. „Die 
„Elſter“ wird uns zum Siege führen!“ riefen die führerloſen franzöſiſchen Offiziere, 
aber des Kaiſers tüchtiger Feldherr Montecuculi wies den Franzoſen den Weg 
über den Rhein zurück. Der Körper Turen ies wurde nach der damaligen Methode 
nach Herausnahme der Eingeweide einbalſamiert und nach Frankreich gebracht. 
Die Eingeweide wurden in der St. Nikolauskapelle in Achern beigeſetzt. 

Da Sasbach im alten Reich zum Bistum Straßburg gehörte, ſo war es für 
die dortigen Biſchöfe, die feilen Französlinge aus dem Hauſe Fürſtenberg und 
die franzöſiſchen Hofbiſchöfe aus der Familie Rohan, ein leichtes, ein Gelände 
zu erwerben und dem gefallenen Franzoſen einen Oenkſtein zu ſetzen. Unbegreiflich 
iſt es aber, daß das heutige prunkvolle Denkmal zur ewigen Schmach Deutſch⸗ 
lands nach den Freiheitskriegen 1829 errichtet werden konnte. Unbegreiflich iſt 
auch, daß ein großes Stück des Geländes, das den Anſchluß an die Landſtraße 
herſtellt, erſt im Fahre 1840 mitten aus dem Sasbacher Pfarrgut herausgeſchnitten 
wurde und durch Kauf in franzöſiſchen Beſitz überging. Etwa fünfzig Schritte 
vor dem Denkmal iſt der Weg durch eine Gittertür abgeſperrt. Dahinter ſteht eine 
Tafel mit der Warnung: „Das Abſingen von Liedern und Aufſpielen von Muſik- 


ſtücken ſowie das Halten von Reden iſt in dieſem eingefriedigten Raume ohne Er- 


laubnis des Wächters verboten. Bürgermeiſteramt.“ Zt es nicht zu verwundern, 
daß ſich eine deutſche Behörde findet, welche unter dieſe freche franzöſiſche An- 
maßung in deutſchem Lande noch ihr Siegel drückt? Wie konnte ſich der badiſche 
Oberamtmann in Achern zu ſo etwas hergeben! Kann man denn die Ruhe des 
Toten ſtören, der ja in Frankreich begraben iſt? Die Warnungstafel erinnert uns 
an die ſchlimmſten Zeiten vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende der Freiheits- 
kriege, in denen ſich der OSeutſche von den übermütigen Franzoſen alles gefallen 
ließ. Wäre in Frankreich ein Denkmal eines auf franzöſiſchem Boden gefallenen 
deutſchen Feldherrn überhaupt möglich? Wir aber dulden heute noch nach den 


550 | Anger: Nächte im Felde 


ſchlimmſten Erfahrungen des Weltkrieges, in dem unſere wehrloſen gefangenen 
Brüder in Frankreich auf das niederträchtigſte behandelt werden, das Denkmal 
eines franzöſiſchen Eroberers, der im Dreißigjährigen Krieg und in den folgenden 
Raubkriegen Ludwigs XIV. Deutſchland aufs unſäglichſte mißhandelte und den 
Krieg mit der unerhörteſten Härte und Grauſamkeit führte. Nachdem 1648 überall 
im deutſchen Lande der Friede verkündigt war, ließ Turenne durch ſeine abziehende 
wilde Soldateska deutſche Städte, die dem Frieden trauten, ausplündern und 
in Aſche legen, unter andern das Benediktinerkloſter Neresheim und die unglüd- 
liche Reichsſtadt Weil. Turenne befahl die unmenſchlichſten Schandtaten oder 
ließ ſie zu. So ließ er den deutſchen Grafen von Solms, der ſich zur Teilnahme 
am franzöſiſchen Nachekrieg gegen Holland 1672—78 nicht zwingen laſſen wollte, 
totprügeln. Kurfürſt Karl Ludwig von der Pfalz ſah in demſelben Kriege von 
ſeinem Schloſſe Friedrichsburg aus ringsum Städte und Dörfer brennen, die 
der Mordbrenner Turenne aus bloßem Mutwillen anzünden ließ. In edlem 
Zorn forderte ihn der Kurfürſt zum Zweikampf, aber Turenne entſchuldigte ſich 
mit ſeiner gewöhnlichen Ausflucht, im Kriege gehe es eben nicht anders her. 
Und dieſer Mordbrenner wird mitten in Deutſchland durch ein Denkmal 
verherrlicht! Wann werden wir Oeutſche uns endlich aufraffen, den franzöſiſchen 
Grundbeſitz in Sasbach zu enteignen, den für jeden echten Deutfchen Stein des 
Anſtoßes, dieſen Schandfleck auf deutſchem Boden, das Denkmal Turennes, ent- 
fernen? Einen armen deutſchen Kriegsbeſchädigten könnte man mit dieſem fran- 
zöſiſchen Grundſtück und Haus in einer der geſündeſten, ſchönſten und fruchtbarſten 
Gegenden Deutſchlands zu einem glücklichen, wohlhabenden Manne machen. 


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Mächte im Felde Von Hellmuth Unger 


Nächte gibt es, da ſind wir euch ſeltſam nah 

Und können träumend hundert Meilen durchfliegen, 

So oft unſern Wünſchen heimliches Wunder geſchah, 
Sternenketten zur Erde hernieder ſich biegen, 

Bilden Brücken und Stege mit flimmerndem Schein, 
Führen aus allen Landen zur Heimat hinein. 

Vom Wolgaufer, vom Dnjeſter, aus Polen, 

Wo in Sümpfen braakige Holzſtämme kohlen, 

Aus Rußland und Welſchland, vom Kreuze des Südens her, 
Alle wandern zur Heimat, die kämpfen zu Lande und Meer. 
Und die nicht träumen dürfen, weil fie fern auf Poſten ſtehn, 
Zu denen Frauenſchritte und Kinderfüße gehn, 

Gleitend und trippelnd. Die Sternenbrücke hält aus, 

Führt vom vorderſten Graben bis zum Vaterhaus. 


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Grotthuß: Unſere „moraliſche Offenfive" 551 


AUnſere „moraliſche Offenfibe⸗ 
Von 9. E. Frhrn. v. Grotthuß 


o iſt es denn auf vielfeitiges Verlangen endlich Ereignis geworden: 
ein deutſcher Minifter iſt in die Schranken getreten, um auf die 
ſyſtematiſchen und nichts weniger als erfolgloſen moraliſchen An- 
würfe unſerer Feinde Rede und Antwort zu ſtehen. Der Kolonial- 
Kantefetvetär (ohne Kolonien) Dr. Solf hat gegen Lord Balfour feinen Mann 
geſtellt und iſt unſererſeits zur „moraliſchen Offenſive“ übergegangen. Wir ſind 
ja nicht verwöhnt, dürfen daher den Mund ſchon etwas vollnehmen und eine 
„Offenſive“ nennen, was im Grunde doch wieder nur eine Defenſive war, wenn 
man die jedem Vorſtoße vorausgegangenen weitgehenden Zugeſtändniſſe und 
Rechtfertigungen in Rechnung ſtellt. Der Wille war gut, die Abſicht lobenswert, — 
ſoweit es ſich um die Abwehr allzu robuſter Lügen handelte, auch geſchickt und 
gelungen. Eines außergewöhnlichen Aufwandes bedurfte es dazu freilich nicht, 
weil die Beweismittel billig wie Brombeeren waren und ſo handgreiflicher Natur, 
wie die Lügen auch. Der Erfolg —? Ihn brauchen wir nicht erſt abzuwarten, 
denn er wird nicht eintreten. Viel eher darf man von einem der Gegenpartei 
in den Schoß geworfenen Erfolge reden, denn ſo ſtarke Bindungen, wie z. B. 
durch die Erklärung über Belgien („Wiederherſtellung“ ohne Umſchweif, 
ohne Vorbehalt), hat ſich unſere Kriegszielpolitik von Amtes wegen bisher noch 
nie, ſelbſt unter Bethmann nicht, auferlegt, und das will viel, wenn nicht alles ſagen. 

Außerhalb der politiſchen Kinderſtube „Deutſchland“ kann und wird die 
„moraliſche Offenſive“ Dr. Solfs bei allen real Dentenden nur einen Eindruck 
hinterlaſſen: es muß den Deutſchen doch heftig auf den Nägeln brennen. Sie 
haben im Weiten militäriſche Schlappen erlitten und wollen ſich nun mit ver- 
mehrter Geſchwindigkeit aus dem Kriege herausziehen. Mit offenen Friedens- 
angeboten dürfen ſie ſich aber aus ſattſam bekannten Gründen nicht mehr und 
gerade jetzt nicht hervorwagen. In ihrer Verlegenheit find fie nun auf den Aus- 
weg verfallen, eine maskierte Friedensoffenſive zu unternehmen, indem ſie ſich 
eine Löwenhaut umwerfen und ſo tun, als wollten ſie dem Gegner grauſam auf 
den Leib rücken. Aber die Löwenhaut hält nicht dicht und ſoll es auch nicht. Denn 
bei allen großen Worten kommen ſie doch in der Sache ihren Feinden ſo weit 
und ſo unverhüllt entgegen, wie dieſe ſelbſt es kaum erwartet haben werden. Was 
kann da anders hinterſtecken, als eben die alte Übung, nur in neuer Aufmachung? 

So werden, von den Feinden gar nicht zu reden, auch die ehrlich Neutralen 
unſere „moraliſche Offenſive“ auffaſſen, wenn es auch nicht immer in ihrem 
Intereſſe liegen wird, das offen auszuſprechen. Denn auch fie haben keinen fehn- 
licheren Wunſch, als daß der Krieg je früher um ſo lieber ein Ende nehme und 
werden alle Anknüpfungspunkte zur Aufnahme neuer Verhandlungen begrüßen. 
Es wird daher von dieſer Seite auch nicht an freundlichen Stimmen fehlen, aber 
die dürfen uns nicht über den wirklichen Eindruck und Erfolg dieſer amtlichen 
deutſchen Kundgebung täuſchen. Selbſttäuſchung wird uns, je länger der Krieg 


552 Grotthuß: Unſere „moraliſche Offenſtve“ 


dauert, zu um ſo größerer Lebensgefahr und ſchließlich zum Selbſtmord. Wer 


die Gefahr erkennt, ihr mit offenen Augen begegnet, der kann ſie überwinden; 
wer die Augen vor ihr verſchließt, iſt rettungslos verloren und hat es nicht beſſer 
verdient, denn er iſt ein Narr oder moraliſcher Feigling. Für beide hat eine Welt, 
in der mit eiſernen Würfeln um das Höchſte und Letzte geſpielt wird, keinen Raum. 

Der ganze Vorgang hat ſich wieder — es war ja auch unter den gegebenen 
„gottgewollten Abhängigkeiten“ kaum anders zu erwarten — in typiſcher deutſcher 
Weiſe abgeſpielt, typiſch ſchon wegen des gewählten Augenblicks. War ausgeſucht 
dieſer Augenblick der „pſychologiſche“ zu einer ſolchen Offenſive — faſt un- 
mittelbar nach den bekannten militäriſchen Ereigniſſen im Weiten? Wohl hätte 
er glücklich, genial gewählt ſein können, wenn die „Offenſive“ ſelbſt eine glückliche, 
geniale geweſen wäre. Dann hätte ſie aber ganz anders ausſehen müſſen. Mo- 
raliſch gebrandmarkt, geſchunden hätten die blutrünſtigen Kriegstreiber aus ihr 
hervorgehen müffen, die ſcham- und gewiſſenlos ihre Völker mit allen teufliſchen 
Künſten zur Schlachtbank peitſchen, jeden natürlichen Aufſchrei der gepeinigten 
Kreatur in ihren eigenen Reihen mit erbarmungsloſer Henkersfauſt erwürgen, des 


Blutſaufens kein Ende finden können, und ginge die ganze Menſchheit darüber 


zugrunde und bevölkerten dieſe in Jahrmillionen erkämpfte und bebaute Erde 
nur noch Tiere, die einander zerfleiſchen, nur weil das andere Tier auch leben 
und ſich ſeines Daſeins erfreuen will. Was waren da auch politiſch noch für 
Rüdfichten zu nehmen? Mit den Balfour, Lloyd George, Clemenceau und Spieß 
geſellen werden wir doch zu keinem auch nur den beſcheidenſten Anſprüchen eines 
freien und unabhängigen, wirtſchaftlich lebensfähigen Volkes gelangen, jedenfalls 
nicht nach den von uns unbelehrbar geſchwungenen Methoden. 

Aus dem gleichen Metall hätte unſere Erklärung zur Friedensfrage ge- 
ſchmiedet werden müſſen: daß es Srrfinn ſei, von uns zu wähnen, wir ließen uns 
durch irgendwelche militäriſchen Rückſchläge, wie fie in jedem Kriege nur felbit- 
verſtändlich und unvermeidlich ſind, auch nur einen Augenblick lang in unſerer 
Zuverſicht beirren oder erſchüttern; daß wir, wie der ganzen Welt kundig, uns 
jederzeit zum Frieden bereit finden ließen und auch fürder würden bereit finden 
laſſen; daß aber die erſte, bedingungsloſe Vorausſetzung dazu ſei: eine feierliche 
und verbürgte Verzichtleiſtung auf allen und jeden Vernichtungswillen. Dann 
erſt könnten wir es mit unferer Ehre, Freiheit und Sicherheit vereinbaren, ernit- 
haften Friedensverhandlungen näher zu treten. Schmach und Schande über 
den Wicht, der ſich mit einem Gegner an einen Ciſch ſetzt, der ihm offen ins Geſicht 
ſchleudert, daß er für ihn ein verächtliches, ſchmutziges Tier ſei, das er bei nächſter 
Gelegenheit zu erdroſſeln und auf den Schindanger zu werfen feſt entſchloſſen 
ſei. Wenn die Feinde ſich das erträumten, dann ſollten ſie ein Wecken erleben, 
daß ihnen zu ſolchen Träumen für lange die Luſt vergehen würde. Man ſpotte 
zwar über deutſche Schwäche und Gutmütigkeit, und wir Deutſchen ließen uns 


das gefallen, aber nur im Bewußtſein unſerer Stärke. Wer uns auf die letzte 


Probe ſtellen will, der ſoll noch in einem fünften oder ſechſten oder ſiebenten Kriegs 
jahre fein blaues Wunder an uns erleben, das Wunder unverwüftlicher deutſcher 
Kraft und Selbſtbehauptung, das unſer Herrgott noch nie ſeinen deutſchen Kindern 


Srottyuß: Unſere „morallſche Offenfive“ 553 


verſagt hat, wenn der Feind ihnen an Leben und Freiheit, an ihr Heiligſtes und 
Teuerſtes wollte! Wohlan denn, wenn ihr's nicht anders wollt, laßt's darauf 
ankommen! Uns werdet ihr bereit finden! Auch ihr ſeid ſterblich, auch eure Hilfs- 
mittel erſchöpfen ſich —: wir werden es abwarten, bis ihr genug habt! Nun wißt 
ihr, woran ihr mit uns fein! Wählt! 

In dieſem Gedankengange etwa hätte ſich die moraliſche Offenſive bewegen 
ſollen. Aber dazu hätte ja unſere Regierung erſt die Genehmigung einer hohen 
Reichstagsmehrheit einholen müſſen, und die wäre ihr wohl verſagt worden. 
Die Rede Solfs wurde denn auch mit ehrfürchtigen moraliſchen Augenaufſchlägen 
zu den Thronen der herrſchenden Parteien geſprochen, um von den Mienen 
der Gewaltigen abzuleſen: Nicht wahr, ſo iſt's doch richtig? 

Der Knüppel lag wieder einmal beim Hunde, und der Hund an der Kette. 
Wie ſoll eine auswärtige Politik Erfolg haben, die ſich das „Geſetz des Handelns“ 
von den Vertretern innerpolitiſcher Parteiintereſſen vorſchreiben läßt? Neigt 
doch ein großer Teil unſerer Volksvertreter — bewußt oder unbewußt — auch 
heute noch dazu, ihre innerpolitiſchen Parteiintereſſen über die Fragen der aus- 
wärtigen Politik zu ſtellen: jene ſeien doch letzten Endes wichtiger. Der Krieg 
müſſe ſo oder fo einmal ja doch fein Ende finden, und dann käme alles auf die 


Stärke und den Einfluß der lieben Partei an — ein wenig wohl auch auf den des 


Mandatinhabers. Oder nicht? 

War es nötig, die „moraliſche Offenſive“ gegen unſere Feinde mit einer 
ſolchen gegen die eigenen Volksgenoſſen und gerade den Teil zu verquicken, an 
dem doch der völkiſche Sieges und Selbſtbehauptungswille feinen feſteſten Halt 
und ſeine ſtärkſte Stütze findet? Dieſe doch immer als treue und ehrliche Diener 
der deutſchen Sache bewährten Volksgenoſſen den Feinden auszuliefern, ſie als 
Opfer auf dem Altare einer — „Friedensoffenſive“ darzubringen? Muß nicht 
gerade dieſe Abſchüttelung und Auslieferung der „Alldeutſchen“ (ein Wort, das 
nur den Begriff „bewußtes Deutſchtum“ umſchreiben, verſchleiern ſoll) den Ein- 
d ruck verſchärfen, daß in der Tat nur eine Friedensoffenſive, eine Rückzugskanonade 
unternommen wurde? Kann ſich die engliſche Bulldogge ein größeres Feſt er- 
warten, als wenn der deutſche Simſon ſich ſelbſt die Locken abſchneidet, die ihn 
unüberwindlich machten —: „So iſt's recht von euch, ihr braven deutſchen Kind- 
lein! Zerbrecht nur erſt euer eigenes Rückgrat und dann kommt vertrauensvoll 
mit uns verhandeln. Vir werden euch ſo liebevoll in die Arme ſchließen, daß ihr 
aus eurem Vertrauen gar nicht erſt zu erwachen braucht!“ 

Aber die Abſchüttelung und Preisgabe der „Alldeutſchen“, oder, wie Dr. 
Rohrbach ſich ausdrückt, der „große Trennungsſtrich“ zwiſchen dieſen und der 
Regierung, war ja die von gewiſſen bekannten Seiten vorgeſchriebene Bedingung, 
ohne deren gehorſamſte Erfüllung jede „moraliſche Offenſive“ ſcheitern müſſe. Erſt 
die Exponenten des Selbſtbehauptungswillens ſtreichen, dann muß ja die Rechnung 
ſtimmen! Auf wunderliche Pferde wird im „Deutſchland“ des fünften Kriegsjahres 
gewettet, und alle find fie — Steckenpferde. Derweilen geht unter den flammen- 
ſtiebenden Hufſchlägen raſenden Geſchehens eine Welt in Trümmer. O Deutſch- 
land, du große Kinderſtube ... 


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Deutſchtum im alten Polen 


sit nahezu ſiebenhundert Jahren haben die Deutſchen in Polen Siedlungsrecht. 
Nachdem ſchon im 11. Jahrhundert unter Kaſimir J. deutſche, beziehungsweſſ 


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in der Nähe Krakaus belegenen Abtei, zu der hundert Oörfer gehörten, eine umfangreiche 
kulturelle Wirkſamkeit, insbeſondere Bautätigkeit entwickelten, nachdem dann zu Ende des 
11. Jahrhunderts durch Judith, die zweite Frau des Herzogs Ladislaw Hermann, Tochtet 
Heinrichs III. und deren ſchwäbiſchen Hofkaplan und Baumeiſter Otto erneut Same deutſcher 
Kultur geſät wurde, waren es die Oeutſchen, die nach dem fürchterlichen Mongolenſturm von 
1241 das gänzlich vernichtete geiſtige und wirtſchaftliche Leben Polens in Blüte brachten. 
Deutſche Arbeit und deutſches Kapital verwandelten die troſtloſen Brand- und Trümmerftätte 
des Landes wieder in regſame Städte. Polens Adel und Geiſtlichkeit beeilten ſich, überd 
deutſche Kolonien zu gründen. Man war damals der deutſchen Hilfe froh. 

In kurzem entwickelte ſich das allgemeine Leben auf der Grundlage der im römiſchen 
Reich deutſcher Nation ſtatthaften Verhältniſſe. In Krakau und vielen andern Orten galt 


deutſches (Magdeburger) Recht; herrſchte Deutſch als Amtsſprache. Die krakauiſchen 


Stadtbücher, Rechtsurkunden, Zunftordnungen wurden deutſch — nur ein kleiner Teil latei- 
niſch — geſchrieben. Dies währte vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. Eine der erſten wirtſchaft 
lichen Schöpfungen der deutſchen Koloniſten war die Einführung des Bargeld verkehrs, 
der fortan an Stelle des polniſchen Tauſchhandels trat. 

Als Krakau, vordem ein Dorf, 1257 Stadtrecht erhielt, ſtanden ihm drei Vögte vor. 
Zwei davon deutſche: Ditmar Wolk und Zakob, „der einftige Richter von Neiße“. Die auf 
blühende Reſidenzſtadt war vorwiegend von Oeutſchen und zwar in der Mehrzahl von Schle⸗ 
ſiern bevölkert. Unter den Vögten finden ſich fortan nur wenig ſlawiſche Namen. Die Vögte 
ſpielen eine politiſche Rolle. Zweimal, Ende des 15. und Anfang des 14. Jahrhunderts ſetzten 
fie ſich für die Wahl eines deutſchen Kandidaten des polniſchen Throns, Heinrich IV. von Bres 
lau und Boleslaw von Oppeln ein. Trotz blutiger Parteinahme für die ſchleſiſchen Fürſten 
blieb Krakau unter den polniſchen Königen Reſidenzſtadt. Die reichen, deutſchen Ratsherren 
der Stadt wurden die Gläubiger des Hofes. 

Mächtig entwickelte ſich Krakau als Amſchlagsplatz des Welthandels. Hier ftapelte det 
flandriſche wie der ungariſche, der venezianiſche wie der ruſſiſche Kaufmann feine Waren. 
Die krakauiſchen Handelsherren erſchienen zu Lübeck auf den Hanſatagen. An dem weltüber 
ſchattenden Baum der deutſchen Hanſa war Krakau dank deutſchen Anternehmungsgeiſtes 
ein fruchtſchwerer Zweig. Glücklich gelegen an der Kreuzung großer Straßen nach Ptag, 


Deutfhtum im alten Polen | 355 


Breslau, Thorn, über die Rarpathen nach Ungarn, über Rußland nach dem Schwarzen Meer, 
liefen hier von und nach allen Teilen des Kontinents die Warenkarawanen ein und aus. Hier 
brachten die ungarn Vein und Getreide, brachten die Ruſſen Pelze, Honig, Wachs, Metalle, 
brachten die Niederländer ihre berühmten Tuche, brachten die Schleſier Leinwand, brachten die 
Weſtfalen Salz, brachten die Ztaliener Seide und Südfrüchte, brachten die Orientalen ihre 
Gewebe und Waffen. Polen ſelbſt lieferte Holz, Felle, Leder, Blei. 1410 gründet die Kra- 
kauer Kaufmannſchaft eine eigene Gilde. 

Der Niedergang der Hanſa im 15. Jahrhundert hatte auch für den polniſchen Handel 
ſeine Folgen; um ſo mehr als in dieſer Zeit durch die politiſchen Vorgänge im Südoſten, die 
Eroberung Konſtantinopels durch die Türken, die orientaliſchen Handelsverbindungen einen 
Abbruch erfuhren. Doch wußten die deutſchen Kaufleute damals die ſchon ſtets lebhaften 
Beziehungen zu Prag zu ſtärken und nach dem mächtig erblühenden Nürnberg auszudehnen, 
das wiederum Verbindung nach dem Rhein und Flandern erſchloß, ſo daß ſich an Stelle des 
hanſeatiſchen Rundfahrweges um Europa — Weichſel, Oſtſee, Nordſee, Atlantiſcher Ozean, 
Mittelmeer — jetzt eine kontinentale Binnenlinie oſtweſtlicher Richtung öffnete. Und Krakau 
lag hier wiederum an der Straße. 

Im ſtädtiſchen Patriziat häuften ſich bedeutende Vermögen. Ein gewiſſer Seyfried 
Betmann, aus dem Elſaß gebürtig, ſeit 1464 Krakauer Bürger, ſpielte hier eine ähnliche Rolle 
wie die Fugger in Augsburg. Als er 1515 ſtarb, hinterließ er eine Reihe Häuſer, darunter ein 
Badhaus und ein Malzhaus; ferner außer der Stadt mehrere Gutshöfe und in Olkuſch ein 
Hüttenwerk. Andere berühmte Großbürger waren die Schweidnitzer, die Ketzinger, die zu 
Hofämtern gelangenden Boner. Die Töchter aus dieſen großbürgerlichen Familien heirateten 
vielfach in den Landadel ein. 

Neben der Kaufmannſchaft ſpielte auch das Handwerk ſeine nicht geringe Rolle. Auch 
hier begegnen uns durchweg deutſche Namen. Die Bäcker, die Schneider, die Sattler, die 
Glockengießer find faſt lauter Deutſche. In vielen Zünften war den Meiſtern die Aufnahme 
von nichtdeutſchen Lehrlingen nicht geſtattet. Die Verhältniſſe lagen hierin ähnlich wie in den 
Hanfaftädten. Ausnahmen bildeten in Krakau das Goldſchmiede- und das Schuſtergewerbe, 
in dem viele Polen arbeiteten und auch als Meiſter vertreten waren. Das Siegel der Gold- 
ſchmiedezunft jedoch war deutſch, und zwar eine verkleinerte Nachbildung des Siegels der Bres- 
lauer Zunft. Es zeigte den hl. Eligius auf einem Thron ſitzend und an einem Becher arbeitend. 
Am 1500 war die Zunft ſehr anſehnlich. Wir finden an deutſchen Namen: Georg Brenner, 
Chriſtoph Brunsberg, Niklas Conraden, Paul Crauſe (Krauß ?), Hannes Zimmermann, Martin 
Czinke, Menzel Czipſer, Hannes Gloger, Jakob von der Brudergaſſe, Joſt, Mathys Kochen- 
dorff, Hans Koler, Hannes Konig, Merten Konig, Niclas Kugler, Hannes Kurz, Paul Monfthel- 
berg, Gregor Nephoff, Nicolaus, Nozler, Preyß, Jörg Seyddenhaffter, Paul und Hannes 
Selzer, Matis Stoß, Sweysgolt, Weidenholzer, Weynrich, Weyspaul, Paul Wunſchelberg. 
Stoß trug ſich im Zunftbuch folgend ein: „Matis Stoß der Schwab als man mych nent hyr zu 
Lant“. Schwab war im Ausland nicht ſelten ein Sammelbegriff für den Süddeutſchen, wie 
heutzutage etwa Preuße für den Norddeutſchen. Die Stoß, Matis und ſein berühmterer Bruder 
Veit, der Bildſchnitzer, ſtammten aus Nürnberg. Matis kam 1488, Veit bereits 1463 nach 
Krakau, wo ſie reiche Aufträge fanden. Von Veit Stoß iſt der berühmte prächtige Hochaltar 
in der Marienkirche, ein mehrflügeliger Schrein mit einer kribbeligen Fülle von Reliefs und 
Freifiguren, ein echter Typus jener ſpätgotiſchen Altarwerke, die vor dem Beſchauer wie auf- 
geſchlagene Nieſenbilderbücher ſtehen. Von Stoß iſt der Ölberg auf dem Marienplatz; von Stoß 
iſt das Grabmal Kaſimirs IV. in der Kreuzkapelle des Domes, deſſen Ausführung in Marmor 
Jörg Huber aus Paſſau oblag. Die Stoßſche Werkſtatt entwickelt einen ins Große gehenden 
Betrieb. Sie hatte die Führung in der krakauiſchen Kunſtentwicklung. Zahlreiche Werke der 
Plaſtik und des Kunſtgewerbes gehen auf fie zurück. Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahr- 


556 Oeutſchtum im alten Polen 


hunderts vom Weſten herüberflutende Strömung geſchäftlichen Lebens trägt auf ihren Wellen 
Blüten der Kunſt. Voran kommen Künſtler von Nürnberg. Der Nürnberger Stil verdrängt 
den böhmiſchen, in deſſen Bahnen ſich vordem die polnischen Rünftler bewegten. Die Königin 
Eliſabeth, eine Habsburgerin, als eifrige Förderin der Künſtler berühmt, läßt für die Kreuz⸗ 
kapelle des Domes ein großes Altarwerk von Hans Pleydenwurff malen. N 

Im 16. Jahrhundert mehren ſich die Namen deutſcher Künſtler. Albrecht Dürers 
Bruder Hans läßt ſich in Krakau nieder und tritt 1529 in königliche Dienfte. Er und ein 
Maler Blaſius führen im neuen Schloß Wandgemälde aus. Zo ach im Libman aus Dresden 
iſt ebenfalls für den Hof tätig. Hans von Kulmbach, durch die reichen Boner, eine der 
führenden Familien der Stadt, herbeigerufen, malt für die Marienkirche den wundervollen 
Cyklus des Martyriums der hl. Katharina. Für dieſelbe Kirche arbeitet auch Michael Lentz 
aus Kitzingen. Aus Nürnberg kommt Sebald Singer. Zahlreiche Werke der Peter Viſcher⸗ 
ſchen Gießhütte, bronzene Grabplatten, Epitaphien und größere Denkmäler, wandern nach 
Krakau. Zu beſonderem Glanz entfaltet ſich das Kunſtgewerbe, wovon die Schatzſamm- 
lungen der Kirchen und Muſeen einen ungefähren Begriff geben. Auch hier ſteht wiederum 
deutſche Arbeit voran. Da find die köſtlichen Werke der Gold ſchmiedekunſt, die getriebenen 
und emaillierten Kelche, die mit Edelſteinen und Gravüren gezierten Vortragskreuze, die in 
Silber und Gold gefaßten Elfenbeinſchnitzereien, die Pokale von orientaliſchem Glas mit 
figurengeſchmückten Silberfüßen, die überaus herrlichen Reliquiare, an denen alle Techniken 
des Emails, Metalls, der Bronze- und Elfenbeinplaſtik vertreten find. Wir haben oben ge- 
ſehen, wie viele Goldſchmiede um die Wende des 15. Jahrhunderts in Krakau tätig waren. 
Wir finden, wo wir in die Zunftbücher blicken, Scharen von Malern, Schnitzern, Stickern, 
Töpfern, Tiſchlern, Buchbindern, Gürtlern, Medailleuren. Ein Heer, in ſteter Waffenübung 
für den Ruhm einer glänzenden Kultur! In der von Schätzen ſtrahlenden Sigismund kapelle 
im Dom ſteht ein Hauptwerk nürnbergiſcher Kleinkunſt, der von Sigismund I. nach dem 
Siege von 1558 über die Tataren geſtiftete ſilberne Flügelaltar mit den Holzreliefs von Peter 
Flötner nach Oürerſtichen, dem Bronzeſchmuck von Pankraz Labenwolf und der getriebenen 
Silberarbeit von Melchior Bayr. Um dieſe Zeit iſt us ein Bruder Dürers, der Goldſchmied 
Andreas Dürer in Krakau tätig. 

Neben den Künſten blühen die Wiſſenſchaften. Die von Kaſimir dem Großen begründete 
Hochſchule iſt eine wichtige Filiale deutſcher Gelehrſamkeit. Hier lehrt 1411 Petrus von Landau, 
1489—91 Konrad Celtes. Im 16. Jahrhundert ſammelt ſich ein ſtattlicher Schwarm deut- 
ſcher Humaniſten: Johann von Sommerfeld, Georg Schmid aus Meißen, Laurenz Rabe- 
Corvinus aus Neumarkt, Bartholomäus Stein aus Brieg, Erasmus Beck aus Krakau, Bern- 
hard Feyge aus Breslau, Michael von Sternberg aus Ellguth, Valentin Eck aus Lindau, Se- 
baſtian Steinhofer aus Hall. Thomas Murner, Johann Aventin und Rudolf Agrikola. 
Mit den Gelehrten erſcheinen auch Buchdrucker, die in Krakau ihre Offizinen eröffneten: Mel- 
chior Frank, Schweigold Fiol aus Franken — vielleicht ein Mitglied der gleichnamigen Frank- 
furter Malerfamilie —, Florian Ungler, Kaſpar Hochfelder aus Meb, Hieronymus Victor, 
Mathias Scharffenberg, Johann Beyer, Wolfgang von Pfaffenhofen und vor allem Zo hann 
Haller aus Rothenburg, der in der Nähe Krakaus eine eigene Papiermühle hält. 

Die polniſche Neſidenz iſt im Mittelalter und weit darüber hinaus eine durchaus deutſche 
Stadt. Die Gelehrten, die Künſtler, die Handwerker bilden nicht etwa nur Kolonien. Der 
ganze Charakter der Stadt iſt deutſch. Man braucht nur die alten Gaſſennamen zu leſen. Da 
iſt die Breite Gaſſe, die Burggaſſe, die Brudergaſſe, die Spittelergaſſe, die Sugaſſe (Saugaſſe), 
die Zſchugaſſe (Schuhgaſſe), der Hünermarkt, das Newetor, die Bleiche. Da iſt an öffentlichen 
Gebäuden und Zunfthäuſern: das Rathaus, Dinghaus (Gerichtsgebäude), Zayghaus, Rauff- 
kammer, Gerbhaus, Korſchnerhaus, Melzhaus, Cimmerhoff (Zimmerleuthaus), Vleiſchbank, 
Kutelhoff, Brotbank, Brenngadem (Gold- und Silberſchmelze), Schergadem und Feldkammer 


Her Mord im Dienfte unſerer Feinbe ö 557 


(für Tuchfabrikation), Walkmole (Walkmühle), Eyjenwage, Bleiwage, Wachswage. Für die 
bürgerlichen Anweſen find die Bezeichnungen Hof und Hofſtat allgemein. ** 5 

Erſt Ende des 16. Jahrhunderts tritt in der polniſchen Königsſtadt das Polentum in 
den Vordergrund. Aber wie ſich die Poloniſierung vollzieht, beweiſt die Sprache, die für lange 
hinaus ein poloniſiertes Deutfch bleibt. So nennen fi die Ringmacher noch 1637 in ihrer 
Zunftordnung „ringmacherowie“. Die Steinmetzzunft nennt ſich 1618 „cech ſtamecki“. Hütte 
heißt Huta, Stahl ſtaly, Schloſſer ſluſarz, Riemer rymarz, Maurer murarz, Meifterftüd maiters- 
ſztyk, Wochenlohn wochlon. Manche Zünfte, wie die Kordelmacher, wehrten ſich energiſch 
wider die Einführung des Polniſchen. Erſt im 17. Jahrhundert ſetzte es ſich allgemein durch. 
Dennoch finden ſich bis gegen das 18. Jahrhundert gelegentlich noch deutſch verfaßte Amts- 
erlaſſe, alſo bis zur Einverleibung in den öſterreichiſchen Staat! 

Als Geſamtbild, wenn wir die Entwicklung von Jahrhunderten verfolgen, ergibt ſich 
eine ſtarke und glückliche Befruchtung der polniſchen Kultur durch die deutſche. Polen tritt 
faßbar ins Licht der Geſchichte im 10. Jahrhundert als deutſcher Vaſallenſtaat. Seine große 
Zeit unter dem aus Litauen ſtammenden Geſchlecht der Jagellonen, 1386—1572, iſt durchſetzt 
von deutſcher Kultur. In Kunſt, Wiſſenſchaft, Handel, Gewerbe, in allen Adern des polniſchen 
Staatsorganismus pulſt deutſches Blut. Der moderne polniſche Chauvinismus ſollte nicht 
vergeſſen, was Polen dem Oeutſchtum ſchuldet. Mela Eſcherich 


AB 
Der Mord im Dienſte unjerer Feinde 


u Beginn und im Verlaufe des Weltkrieges hat ſich eine Reihe von Morden und 
Anſchlãgen zugetragen, als deren letztes Opfer wir den Feldmarſchall von Eichhorn, 
O einen unſerer Beſten, beklagen müſſen. Noch heute, ſchreibt die „Oeutſche Tages- 
N fragt man nach den intellektuellen Urhebern aller dieſer Geſchehniſſe und nach dem 
tieferen Zuſammenhang, der ſie alle in die Rubrik des Mordes zu politiſchen Zwecken einreiht. 
Beſteht nicht eine Verbindung zwiſchen der Untat in Seraje wo, die ſich am 27. Juni zum vier- 
ten Male jährte, und der Ermordung des franzöſiſchen Kriegsfeindes Faurés, zwiſchen dem 
Anſchlag auf Sir Roger Caſement und der Ermordung Rasputins u. a.? Am 31. Juli 1914 
wurde Jaurès im Café Croiſſant am Boulevard erſchoſſen, der „Kriegsfeind“, der, wie Au- 
burtin in ſeinem ſehr leſenswerten Buche ausführt, ſo oft „von den Freundſchaften der Völker 
geſprochen hat“. Der Mörder aber iſt nicht zu finden, ſoll nicht gefunden werden, wird der 
Gerechtigkeit entzogen, und die, ach ſo mächtige Sozialiſtenpartei Frankreichs tut, als ſei ihr 
von der ganzen Geſchichte nicht das geringſte bekannt. Dann und wann fliegt einmal eine Ente 
hoch, wird fo getan, als wolle man unterſuchen, aber dieſes Getue iſt derart plump, daß nie- 
mand darauf hineinfallen kann. An einen Prozeß gegen den Mörder Zaures glaubt heute in 
Frankreich niemand mehr und am allerwenigſten der Mörder ſelber. Vielleicht denkt man 
ſogar, daß dieſer plaudern kann, wie Sir Roger Caſement geplaudert hat. Den engliſchen 
Geſandten in Chriſtiania, den ehrbaren Mijter Find lay, hat der erſchoſſene FJrenführer in 
einem offenen Schreiben an die ganze Welt des Anſchlages bezichtigt und feine Urheberſchaft 
an dem Mordverſuch erwieſen. Was tat's? Der Hof in Chriſtiania weiß den Londoner Ge- 
ſandten — an ſeine Abberufung dachte und denkt niemand — offenbar nicht nur über die Ode der 
Stadt, ſondern auch über die Beſchuldigung hinwegzuführen. Es wäre einfach lächerlich, wenn 
man noch an eine Beſtrafung oder auch nur geſellſchaftliche Rüge dieſes Mannes glauben wollte. 

Word und Brandſtiftung gehören zuſammen, auch unter den politiſchen Kampfmitteln 
der Entente. Als der König Konſtantin ſich ſtandhaft weigerte, ſein Land in den Weltkrieg 


558 Zum Tode Peter Gaſts 


reißen zu laſſen, brannte der Wald von Tatoi ab, und es war beinahe ein Wunder, daß das 
königliche Schloß nicht mit ſämtlichen Inſaſſen vernichtet wurde. In Athen wies man mit 
Fingern auf den Täter, und der franzöſiſche hohe Kommandant Jonnart und der ehrbare Ad- 
miral Fourner werden wohl noch heute einigermaßen um dieſe Dinge Beſcheid wiſſen. Aber 
unterſuchen, verurteilen, damit hat es gute Weile, und Herr Venizelos weiß ſich wirklich mit 
der Entente angenehmeren Dingen zu beſchäftigen. 

Vielleicht denkt er daran, den Balkan als Vetterwinkel Europas zu erhalten. Inwie⸗ 
weit er darin vor allem mit der Königin Maria von Rumänien Hand in Hand gehen kann 
und wird, bleibt abzuwarten. Die Königin Maria dürfte da auch in der Lage ſein, Auskunft 
über jenes auf dem Balkan ſehr gebräuchliche Gift zu geben, deſſen Wirkungen den ſehr ge- 
legen kommenden Tod König Karols hervorgerufen haben. In die Reihe der politiſchen 
Morde gehört der Tod dieſes Mannes zweifellos; nur daß ſich die Entente diesmal anderer 
Werkzeuge bediente. 

Inwieweit aber Graf Witte demſelben Gift zum Opfer gefallen iſt, ſteht nicht feſt. 
Schließlich kommt es ja auch weniger auf die Natur, als auf die Wirkung des todbringenden 
Mittels an. Diejenigen, die über das Verſchwinden ſeiner Tagebücher und Briefe etwas wiſſen 
— und die ſind doch wohl noch am Leben —, dürften auch über die Todesurſache dieſes Mannes 
Auskunft geben können. 

Dem Tode Wittes gegenüber bedeutet der andere politiſche Mord auf ruſſiſchem Boden 
nur eine fenfationelle Epiſode, weil man das Opfer doch nicht ganz in der ihm zugelegten Rolle 
zu ſehen vermag. In den erſten Tagen des Januar 1917 wurde Ras put in ermordet, weil er 
den Zaren zum Frieden beſtimmen wollte. Damals wurde ſofort der Fürſt Felix Zuffupow 
als der Mörder bezeichnet; kurz darauf wurde bekannt — und damit war die Eiferſuchtsſzene 
erledigt —, daß auch der damalige Minifter des Innern Choſtow und der Fürſt Llow, der nach- 
malige Vorſitzende der erſten proviſoriſchen Revolutionsregierung, ihre Hand im Spiele hatten. 
Dieſe Namen wieſen auf den engliſchen Botſchafter Sir Buchanan, und in der Tat 
wußte ganz Petersburg, daß der Mord in jeder Weiſe ſein Werk war. Buchanan 
indeſſen blieb und — machte die ruſſiſche Revolution, wie er heute die Gegenrevolution macht. 
Die Herren Kerenski und Kornilow aber jagten noch einen Sommer hindurch ruſſiſche Sol- 
daten für die Entente in den Tod. 

2 


Zum Tode 3 


Leſer irgendwie bekannt vorkommen. Wer ſich eingehender mit Nietzſche 8 
tigt hat, kennt ihn vom Titelblatt einiger Briefbände und vor allem als Empfänger 
einer großen Zahl Briefe Nietzſches. Aber es iſt noch ein anderes um Peter Gaſt; die Namen 
von „Herausgebern“ pflegen ſich den Laien nicht einzuprägen. Dieſes andere iſt etwas ge- 
heimnisvoll. Zuweilen konnte man Andeutungen über ihn hören, als von einem „heimlichen 
König der Muſik“, einem verkannten, boshaft unterdrückten muſikaliſchen Genie. Auch das 
geht auf Nietzſche zurück, der immer erneut auf Gaſt als den Führer in das gelobte Land einer 
neuen deutſchen Muſik hingewieſen hat und ſelber für die Gaſtſche Muſik begeifterungs- 
trunkene Urteile im Übermaß bereit hielt. Wer ſich dann eingehendere Kenntnis zu verſchaffen 
bemühte, machte merkwürdige Erfahrungen. Nur wenige Kompoſitionen waren gedruckt — 
von den Opern nur „Oer Löwe von Venedig“ im Klavierauszug — und dieſe Werke zeigten 
eine einfache, liebenswürdige Muſikernatur von melodiſcher Artung und gebildetem Geſchmack, 
aber ohne jedes Anzeichen beſonderer Eigenart, überragender Größe oder auch packender 


Zum Tode Peter Gaſts 559 


Luſtigkeit. Auch beim freundwilligen Suchen vermochte man nirgends den Funken des Genies 
aufblitzen zu ſehen. So wurde einem aus der Frage nach Peter Gaſt unvermerkt ein Rätfel 
Nietzſche. Dieſem Rätſel jetzt bei Peter Gaſts Tode etwas nachzuſpüren, rechtfertigt nicht nur 
die allgemeine Bedeutung Nietzſches, ſondern mehr noch die Tatſache, daß hier doch einige 
Stimmungen und Ahnungen zugrunde liegen, die ſich bei der weiteren Entwicklung der Mufit 
als bedeutſam erwieſen haben und uns für manche Frage des gegenwärtigen Muſiklebens 
aufklãrend unterſtüͤtzen. 

Zuvor noch einiges über den äußeren Verlauf der Beziehungen zwiſchen Peter Gaſt und 
Nietzſche, womit wir dann gleichzeitig des erſteren Lebenslauf kennenlernen. Als Quelle 
dient uns das „Thematikon“, das ein anderer aus Nietzſches Briefwechſel wohlbekannter Mu- 
ſiker, Karl Fuchs in Danzig, 1890 zu Peter Gaſts Oper „Die heimliche Ehe“ — das der ur- 
ſprüngliche Titel des „Löwen von Venedig“ — herausgegeben hat. Dieſem „Thematikon“ 
gehört eine Sonderſtellung in der „Führer“ Literatur; umfaßt es doch nicht weniger als zwei- 
einhalb hundert Seiten. Die erſten 58 kommen auf eine allgemeine Einleitung, 200 Seiten 
dienen der mit 240 Notenbeiſpielen unterſtützten Analyſe des Werkes. Noch niemals iſt um 
ein harmloſes Kunſtwerk ein folder Wall muſikaliſcher Gelehrſamkeit und philoſophiſch-äſtheti- 
ſchen „Tiefſinns“ aufgetürmt worden. Er bringt es denn auch unbedingt ſicher fertig, daß 
kein Leſer dieſes Führers bis zu dem Werke gelangt, zu dem er führen will. 

Machen wir einen möglichſt kurzen Auszug aus dem Biographiſchen, fo iſt Peter Gaſt der 
Deckname für Heinrich Köſelitz, der am 10. Januar 1854 zu Annaberg im ſächſiſchen Erzgebirge 
geboren iſt. Als Sohn einer wohlhabenden Familie konnte er ſeinen Neigungen nachgehen, 
die ihn 1872 zur Aufgabe der Forſtlaufbahn und zum Übergang zur Muſik beſtimmten. Er 
oblag gründlichen Studien bei dem bekannten Theoretiker und Thomaskantor C. F. Richter. 
Bald aber führte ihn der Weg zu Nietzſche an die Univerfität Baſel. Das war durch Nietzſches 
Wagner verhimmelnde Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiſte der Muſik“ (1872) 
bewirkt worden. Gaſt hat mit Nietzſche die ganze Begeiſterung für Wagner und den Abfall 
von ihm mitgemacht, war 1876 bei den Feſtſpielen in Bayreuth, hat 1878 bis 91 meiſtens 
in Stalien gelebt, hat ſich dann menſchenſcheu in feinem Geburtsort Annaberg vergraben, 
bis er 1900 ans Nietzſche-Archiv in Weimar überfiedelte und dort, wie ſchon erwähnt, an der 
Herausgabe der Werke Nietzſches bedeutſamen Anteil nahm. Als Komponiſt hat er 1879 
die ganz auf Wagners Bahnen ſich haltende Oper „Willram“ geſchrieben, während die zwei 
Jahre ſpäter liegende Vertonung des Goetheſchen Singſpiels „Scherz, Lift und Rache“ be- 
reits die Abkehr von Wagner ankündigt. Von den auf eigene Texte geſchaffenen Opern 
„König Wenzel“ und „Orpheus und Dionyſos“ iſt der Offentlichkeit wohl nichts bekannt ge- 
worden. Nietzſches Briefe beziehen ſich meiſtens auf die 1891 vollendete Oper „Die heim- 
liche Ehe“, deren Klavierauszug zehn Jahre ſpäter unter dem Titel „Der Löwe von Venedig“ 
erſchien. Der Text iſt eine deutſche Bearbeitung von Cimaroſas einſt viel geſpielter „heim- 
licher Ehe“. Dazu kommen noch eine Sinfonie „Helle Nächte“, aus der ein „Nokturno“ zu 
den Lieblingsſtücken Nietzſches gehörte, ein Streichquartett, einige Liederhefte und Chöre, 
und noch vor wenigen Monaten ſind mir vier Heeresmärſche und eine Vertonung des Gedichtes 
der Zfolde Kurz „Oeutſches Schwert 1914“ zugegangen. Öffentlich zu hören war von dieſen 
Werken faſt nichts. Die Oper „Der Löwe von Venedig“ iſt wohl nur in Danzig, dem Wir- 
kungsorte von Karl Fuchs, aufgeführt worden, ganz vereinzelt ſtand einmal eines ſeiner Lieder 
auf einem Konzertprogramm. | 

Das iſt nun zwar kein Wertmaßſtab. Unſere Konzertſänger halten ſich mit Vorliebe 
an eine geringe Zahl dem Publikum vertrauter Lieder, ſo daß viel Wertvolles überhaupt nie 
öffentlich aufgeführt wird. Aber in dieſem Falle beruht das Schweigen doch wohl zu einem 
guten Teile auf der ſtolz-beſcheidenen Zurückhaltung des Komponiſten, der nach allem, was 
wir von ihm hören, ein echtes „Original“ war, dabei ein Mann von ganz ungewöhnlicher 


560 gum Sode Peter Gaſts 


Geiſtesbildung. Doch iſt ihm wohl nichts über ein geruhſam heiteres Leben gegangen, zu 
deſſen Erhaltung er ſich unſerem lärmenden und verzehrenden öffentlichen Muſikbetriebe 
tunlichſt fernhielt. N 

Nietzſche ſelbſt hatte eine gute muſikaliſche Bildung. Wir beſitzen von ihm eine Reihe 
Kompoſitionen, und feine Randgloſſen zu Bizets „Carmen“ beweiſen die Fähig keit der 
muſikaliſchen Analyſe. Daß ſeine Werke in äſthetiſcher Hinſicht eine Fülle feiner Bemerkungen 
über Muſik enthalten, iſt bekannt; bekannt auch, daß er, der in den beiden Schriften „Die Ge⸗ 
burt der Tragödie aus dem Geiſte der Muſik“ (1872) und „Richard Wagner in Bayreuth“ 
(1876) das tiefſt Schürfende über Wagners Kunſt geſagt hat, nachher im „Fall Wagner“ 
(1888) und „Nietzſche contra Wagner“ (1889) mit den ſchärfſten Kampfſchriften über den 
früher ſo hoch Verehrten hergefallen iſt. Dieſe beiden Werke erſchienen unmittelbar bevor er 
der Nacht des Wahnſinns verfiel. Der „Abfall“ von Wagner kündigt ſich aber viel früher an. 
Schon im Winter 1884/85 ſchreibt er an den oben genannten Dr. Karl Fuchs: „Es vergehen 
Jahre, in denen mir niemand Muſik macht, ich ſelbſt eingerechnet. Das letzte, was ich mit 
gründlich angeeignet habe, iſt Bizets Carmen“ und nicht ohne viele zum Teil ganz unerlaubte 
Hintergedanken über alle deutſche Muſik, über welche ich beinah ſo urteile, wie über alle 
deutſche Philoſophie; außerdem die Muſik eines unentdeckten Genies, welches den Süden 
liebt, wie ich ihn liebe und zur Naivität des Südens das Bedürfnis und die Gabe der Melodie 
hat.“ Daß er damit Peter Gaſt meint, erhellt aus einem wenig ſpäteren Brief an Karl von 
Gersdorff (9. April 1885), in dem er ſeine Abreiſe nach Venedig ankündigt: „... iſt der einzige 
Muſiker dort, der jetzt Muſik macht, wie ich ſie liebe, nämlich unſer Freund Peter Gaſt, weißt 
Du wohl, was den goldigen Glanz des Glücks, was echte Naivität, was Meiſterſchaft im Sinne 
alter Meiſter betrifft, fo iſt dieſer Gaſt jetzt unſer erſter Romponift.“ Unſere Zeit ſei durch bie 
„prätenziöſe und übertreibende Theatermuſik“ Richard Wagners arg verdorben. So iſt auch 
das in dieſelbe Zeit gehörige Gedicht „Muſik des Südens“ auf Peter Gaſt gedacht: 


„Nun wird mir alles noch zuteil; 
Der Adler meiner Hoffnung fand 
Ein reines, neues Griechenland, 
Der Ohren und der Sinne Heil — 


Mozart, Roſſini und Chopin — 

Aus dumpfem, deutſchem Tongedräng — 

och ſeh' nach griechiſchen Geländen 

Das Schiff dich, deutſcher Orpheus, wenden.“ 


Die früheſte Stelle aber findet ſich in einem Briefe an Peter Gaſt ſelbſt (17. November 1880): 
„Wahrlich, alles Gute der Muſik muß ſich pfeifen laſſen; aber die Deutſchen haben nie fingen 
gekonnt und ſchleppen ſich mit ihren Klavieren: daher die Brunſt für die Harmonie.“ Ins 
Ende des Jahres 1887 fällt dann die andere Stelle: „Man muß dem bornierten , deutſchen 
Ernſt“ in der Muſik das Genie der Heiterkeit entgegenſetzen... Sie müſſen in rebus musicis 
et musicantibus die ſtrengeren Prinzipien wieder zu Ehren bringen, durch Tat und Wort 
und die Deutſchen zu dem Paradoxon verführen, daß nur heute paradox iſt: daß die ſtrengeren 
Prinzipien und die heitere Muſik zuſammengehören.“ 

Das iſt ſchon ganz die Sprache des „Falles Wagner“, paßt zur Gegenüberſtellung 
von Bizets ſüdlich wilder Oper gegen Wagners Muſikdrama und zu dem Satze: II faut 
mediterraniser la musique. Auf Gaſt aber geht hier die Stelle: „Ich kenne nur einen Muſiker, 
der heute noch imſtande iſt, eine Ouvertüre aus ganzem Holze zu ſchnitzen.“ 

Hören wir noch eine Briefſtelle an Erwin Rohde aus dem Jahre 1887, die uns wohl 
die tiefſte Aufklärung gibt: „Man wird alt, man wird ſehnſüchtig; ſchon jetzt habe ich, wie jener 


Zum Tode Peter Gaſts N 561 


König Saul, Muſik nötig — der Himmel hat mir zum Glück auch eine Art David geſchenkt. 
Ein Menſch, der mir gleichgeartet iſt, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit 
Wagneriſcher Muſik aushalten. Wir haben Süden, Sonne um jeden Preis, helle, harmloſe, 
unſchuldige Mozartſche Glücklichkeit und Zärtlichkeit in Tönen nötig. Eigentlich ſollte ich auch 
Menſchen um mich haben, wie dieſe Muſik iſt, die ic liebe: ſolche, bei denen man etwas von 


ſich ausruht und über ſich lachen kann.“ 


Alſo Erholung ſoll ihm, dem „Tieftraurigen“, die Muſik bringen; der Denker will 
Stunden, in denen er nicht mehr denkt; er will eine Kunſt, die auf „ſtrengeren Prinzipien“ 
(natürlich der Form) aufgebaut iſt, fo daß dieſe Formgeſetze gewiſſermaßen von ſelbſt die Gliede⸗ 
rung des Kunſtwerkes und feinen Aufbau ergeben. Der Hörer braucht dann nicht, wie bei 
Wagners „unendlicher Melodie“, angeſtrengt ſelber erſt das innere Lebensgeſetz dieſer Kunſt 
zu ergründen. Wir haben alſo bei Nietzſche das Seitenſtück zu Goethe und Schopenhauer. 
Goethe, der ſo manche wunderfeine Bemerkung über Muſik gemacht hat, lehnte Schubert ab 
und hielt ſich an Zelter, nachdem er ſchon früher zwar zu Mozart, aber nicht zu Beethoven 
ein Verhältnis gefunden hatte. Schopenhauer, der das Tiefſinnigſte über das Weſen der 
Muſik offenbart hat, die uns nicht gleich den andern Künſten bloß Abbilder der Idee, ſondern 
dieſe Idee ſelbſt vermittle, fand den höchſten muſikaliſchen Genuß bei Roſſini und ſpielte für 
ſich ſelbſt die Flöte. Ein gleiches Erholungsbedürfnis entfernt Nietzſche von Wagner und der 
deutſchen Muſik ſeit Beethoven und führt ihn im Grunde zurück zur altitalieniſchen Oper. 
Ob er Verdi gar nicht gekannt hat? Faſt möchte man es glauben. Unſeres Peter Cornelius' 
„Barbier von Bagdad“ hat er ja nicht hören können. 

Nun werden ſich heute viele finden, die dieſes Verlangen Nietzſches als Vorausſchauung 
unſerer Muſikentwicklung hinſtellen. Die „Entzauberung“ von Wagner iſt von einer gewiſſen 
Seite mit einer in der neueren Kritik ja leider ſchon gewohnten Boshaftigkeit feſtgeſtellt und 
der Ruf „Zurück zu Mozart!“ zu einer Loſung erhoben worden. Die Rückkehr zu den „ſtrenge⸗ 
ren Prinzipien“ ergibt ſich dabei faſt von ſelbſt. Freilich, was bisher an „Mediterraniser de 
la musique“ geleiſtet wurde, iſt wenig erfreulich. Die Mittelmeerdramatik der Mascagni, 
Puccini und bei uns d' Alberts iſt nichts weniger als heiter. 

Zuinnerſt liegt dieſem Verlangen dieſelbe Urſache zugrunde, wie bei Nietzſche. Unſere 
ganze Zeit war eigentlich „profondement triste“, müde, traurig, zu kraftlos für eine wirklich 
ſtarke Kunſt, andererſeits aber auch zu feige, um in ſich ſelbſt die Urfache zu ſuchen. So wird 
dann die Kunſt begeifert, ſtatt daß man ſich ſelbſt an die Bruſt ſchlagen müßte. Aber weil 
gerade dieſe innere Traurigkeit und Müdigkeit am Verdruß und Aberdruß für die große Muſik 
ſchuld iſt, wird auch der Wunſch nach der heilenden, leicht beſchwingten Frühlingskunſt un- 
erfüllt bleiben. Die wird nicht aus Müdigkeit geſchaffen, ſondern in fröhlichem Rraftüber- 
ſchwang oder jugendlicher Unbekümmertheit. Und wie ſich Nietzſche bitterlich täuſchte, als er in 
der Beſchränktheit eines kleinen anmutigen Talents die weite, neue Kunſt erblickte, ſo ſind 
auch jene getäufcht, die in all dieſem abſichtlichen Zurückſchrauben einer im bewußten Gegen⸗ 
ſatz zu Wagner oder auch Beethoven geſchaffenen Kunſt das Heilmittel erblicken. 

Karl Storck 


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E Sum buch 
Der Krieg 


ſchnell, nur zu. ſchnell hat meine Auffaffung von dem Eindrude, den 
die „moraliſche Offenſive“ Dr. Solfs hervorrufen werde (vgl. S. 551), 
ihre betrübende Beſtätigung erfahren. War ſchon die ungemiſchte 
O Freude, ja Begeiſterung des „Vorwärts“ ein klaſſiſches Zeugnis, 
ſo wird die Rede jetzt auch von der Wiener „Arbeiterzeitung“ ſchlankweg eine 
„Friedensrede“ genannt. „Das“, ſtellen die „Berliner Neueſten Nachrichten“ feſt, 
„It ungefähr die ſchlechteſte Zenſur, die ſich in dieſem Falle denken läßt. Aus 
allgemeinen, aber auch aus beſonderen Gründen. Steht es doch hinlänglich feſt, 
daß uns alle unſere Friedensverſuche zum Nachteile ausgeſchlagen ſind. Das haben 
nicht nur unſere führenden Staatsmänner ſelbſt, ſondern auch die meiſten unſerer 
Verſöhnungspolitiker zugegeben, wie ſeinerzeit die Maſſenflucht aus dem Lager der 
Zulirefolutions-Anhänger mit aller wünſchenswerten Deutlichkeit ergeben hat. 
Nach dieſen Erfahrungen hätte man erwarten dürfen, daß ſchon der 
Schein vermieden werden würde, als ob wir noch weiter die Pfade ſchwäch- 
licher Verſöhnungspolitik wandelten. Das war um fo notwendiger, als uns gerade 
jetzt im Hinblick auf die Ereigniſſe an der Weſtfront jedes Entgegenkommen als 
Zeichen der Schwäche ausgelegt werden wird. Wenn wir auch unlängſt auf den 


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franzöſiſchen Schlachtfeldern einen Rückſchlag erlitten haben mögen, fo ift er doch 


nicht derart, daß ſich unſerer irgendein Zweifel an dem glücklichen Ausgang der 
Entſcheidungsſchlacht zu bemächtigen brauchte. Das Gleichgewicht iſt an den 
gefährdeten Stellen längſt wiederhergeſtellt, und die kriegeriſchen Ereigniſſe 
nehmen den von unſerer Oberſten Heeresleitung gewünſchten Verlauf. Es ent- 
ſpricht aber der deutſchen ‚Ehrlichkeit‘, daß die vorübergehenden Mißerfolge 
möglichſt dick unterſtrichen werden. Der geiſtige Hochmut, der uns in 
der Beurteilung unſeres Organiſationstalents und unſerer Volksſtimmung ſchon 
ſo manchen böſen Streich geſpielt hat, iſt uns auch hier in den Kücken gefallen 
und hat uns ſchwer geſchadet. In dieſer Hinſicht könnten wir uns ein Beiſpiel 
an den Franzoſen nehmen, die den Krieg ſeit über vier Jahren im Lande haben 
und ihn mit allen feinen Schreckniſſen bis auf die Hefe auskoſten müſſen. 


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Zürmers Tagebuch 565 


Trotzdem kämpfen ſie mit hoch anerkennenswerter Zähigkeit bis zum Weiß- 
bluten weiter, nehmen die ſchwerſten Schläge mit Faſſung auf und laſſen ſich 
durch den kleinſten Erfolg zu neuen Hoffnungen tragen. Bei uns iſt es gerade 
umgekehrt. Bei uns werden die bedeutendſten Siege als Selbſtverſtänd— 
lichkeit hingenommen, und jeder Wißerfolg ruft.die gedrüdtefte Stim- 
mung hervor. Auf dieſen Rangel an geiſtiger Widerſtandskraft brauchen 
wir uns wahrlich nichts einzubilden. Er könnte ſogar als ein Zeichen dafür aus- 
gelegt werden, daß wir letzten Endes doch nicht das Volk find, mit dem ſich Eng- 
land in die Herrſchaft zu teilen hat. Völker, die ihren Platz an der Sonne ein- 
nehmen ſollen, müſſen aus anderem als fo weichem Holze geſchnitzt fein. Wir 
wollen aber die Flinte nicht ins Korn werfen und nicht an unſerem Volke ver- 
zweifeln, weil jetzt wieder einmal der äußere Schein gegen es ſpricht. Wir müſſen 
bedenken, daß das Konto der Flau- und Miesmacher gerade in der letzten Zeit 
wieder bedenklich angeſchwollen iſt. Die von ausländiſchen Einflüffen ver- 
ſeuchte unmännliche Denkungsart, die immerfort Zllufionen nachjagt und 
unter dem Druck der harten Tagesereigniſſe winſelt, hat unter uns arge Ver- 
heerungen angerichtet. Nur wo der Wille zum Sieg und der Wille zur Aus- 
nützung des Sieges vorhanden iſt, nur da iſt an den Sieg überhaupt zu denken. 
Daß dieſe Anſätze und Keime weltpolitiſchen Strebens in unſerem Volke erſtickt 
worden ſind, iſt zum guten Teil auf die wirkſame Arbeit der feindlichen Propaganda 
zurückzuführen. Gegen fie muß ſich darum die Vortoffenſive unſerer Staats- 
männer richten.“ 


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Nun kann man es ja, wie auch Paul Ernſt in den folgenden trefflichen Dar- 
legungen („Berl. Lok. Anz.“) ohne weiteres einräumt, einem wirklich intelligenten 
Diplomaten und deutſchen Regierungsvertreter auf das tiefſte nachempfinden, 
daß es ihn anwidert, in die Banalitäten engliſcher und amerikaniſcher Ge- 
dankengänge hinabzuſteigen. Aber was hilft's? Die Arbeit muß getan werden: 
„Vaten Sie, meine Herren, ruhig Tag für Tag in Selbſtverſtändlichkeiten; unſere 
Brüder draußen waten täglich in Schlamm und Staub und Blut; das 
iſt viel unbequemer und namentlich gefahrvoller. Und die Gedankengänge der 
Dummheit aufdecken und dieſer Dummheit auf ihren eigenen Wegen mit nieder- 
ſchmetterndem Lichte begegnen: das, meine Herren, iſt auch eine Klugheit, eine 
feinere Klugheit als aller Snobismus, und iſt eine Kunſt, die durchaus Ihres 
Schweißes wert iſt. ‚Wir hämmern uns durch! hat Herr Lloyd George kürzlich 
triumphierend ſeinen Hörern zugerufen. Er dachte dabei an die Weſtfront. Dort 
wird es ihm nicht glücken; aber durch die Schädel der Dummköpfe aller 
Nationen haben er und ſeine Freunde ſich mit glänzendem Erfolge durch- 
gehämmert. Die unabhängige Dummheit iſt bereits feſt davon überzeugt, daß 
jenſeits der deutſchen Grenzen die Menſchen und die Politiker aus anderem Stoff 
gezeugt ſind als diesſeits, daß jenſeits unſerer Grenzpfähle die wahre Liebe 
zum deutſchen Volke, die herzinnige Sorge für unſere Freiheit und unſer Wohl- 
ergehen beginnt. Ich mache die deutſche Regierung darauf aufmerkſam, daß 
die freiwillige und die unfreiwillige Northeliffe- Propaganda in den 


564 Türmere Tagebuch 


geiſtig dunkelſten Schichten unſeres Volkes eine furchtbare Wühlarbeit 
vollführt und Erfolge erzielt. (Kann ich auch aus perſönlicher vielfacher 
Erfahrung beſtätigen! D. T.) Sch bemerke aber nichts von einer politiſchen 
Pädagogik unſerer Regierung. 

Ein deutſcher Reichstagsabgeordneter hat noch vor kurzem fein Miß 
fallen ausgeſprochen über das Wort des deutſchen Kaiſers von dem „‚Götzendienſt 
des Geldes‘ bei unſern Feinden, dieſes Wort habe bei unſern Gegnern ſehr 
unfreundliche Kommentare gefunden. Er hatte erwartet, der Gute, daß Eng- 
land und Amerika ſich angenehm berührt zeigen würden. Oder es ſchmerzte ihn, 
daß man den Hütern der Volksfreiheit, die in den Höhlen von Vhitechapel die 
Menſchen zu Hunderttaufenden erbarmungslos verfaulen laſſen, weh getan hätte. 
Solche Köpfe feiern nicht; ſolche Köpfe reden auf der vornehmſten Tribũne 
unſeres Reiches; ſolche Köpfe machen uns Geſetze. Und auf ſolche und die vielen 


Millionen gleichgebauter Köpfe im In- und Auslande gilt es zu hämmern, meine 


Herren, ohne jeden Anfall von Müdigkeit. Wir haben doch hoch und vielſeitig 
gebildete Männer in der Regierung: ſie ſollen nur jeden Tag dem deutſchen Volke 
eine Stunde lang engliſche Geſchichte erzählen; ſie ſollen die Mammonsdirne 
jenſeits des Kanals Tag für Tag an den Pranger ihrer Vergangenheit ſtellen; 
es wird ſeine Wirkung tun. Sie ſollen vor den Augen der Mörder immer wieder 
und immer wieder die blutigen Häupter Wittes, des öſterreichiſchen 
Thronfolgerpaares, Jaurès, Caſements, Mirbachs, Eichhorns auf 
tauchen laſſen, wie vor Richard Gloſter, auch einem Engländer, im Lager von 
Bosworth die Häupter feiner Opfer erſcheinen. Sie ſollen auch die hübſche Ge- 
ſchichte von der ‚Maine‘ erzählen, die amerikaniſche Schufte, als fie Kuba ſtehlen 
wollten, im Hafen von Havanna in die Luft ſprengten, um dann den Spaniern 
die Schuld zu geben, und einen Anlaß zum Kriege zu haben. Vielleicht iſt ſie 
dent Profeſſor Wilſon ganz neu. Amerikaner haben es ſpäter feſtgeſtellt und zu- 
gegeben, daß die Sache mit der ‚Maine‘ fo verlaufen ſei. Aber Kuba haben fie 
behalten. Ja, meine Freunde, nach Friedensſchluß werden ohne allen Zweifel 
edle, objektive Hiſtoriker in England und Amerika aufſtehen und erklären, daß vieles 
während des Krieges über Deutſchland Geſagte doch wohl nicht wahr geweſen, 
daß Deutſchland doch wohl am Kriege nicht ſchuld geweſen ſei; aber von unſeren 
Kolonien, wenn ſie ſie bekommen haben, werden ſie uns kein Sandkorn, 
jedenfalls kein Goldkorn zurückgeben. 

ich weiß nicht, warum wir verzichten auf das wunderbarſte Verteidigungs- 
material, das ein Volk der Welt beſitzt: auf die Berichte der belgiſchen Ge— 
ſandten in Petersburg, Paris und London an ihre Regierung über die Ein- 
kreiſungs- und Brandſtifterpolitik Englands. Wöchentlich einmal würde England 
ſolche Berichte hervorholen und ausſchlachten. 

Sch weiß nicht, warum wir nicht ſolche glänzend gemachten, in ihrer Kürze 
und Aberredſamkeit meiſterhaften Aufrufe an das ruſſiſche Volk ergehen laſſen 
wie die Entente. 

Sch weiß nicht, warum wir nicht wie unſere Feinde in hunderttauſend Kinos 
kurze, ſchlagende, leuchtende, mitreißende, aufklärende, aufrichtende Worte auf 
den Schirm werfen laſſen. 


Lürnmers Tagebuch 565 


dich weiß nicht, warum wir keinen Generalfeldmarſchall des geiſtigen 
Krieges haben; er braucht ja nicht aus der Region des Herrn Northeliffe herauf- 
geholt zu werden. 

Das deutſche Volk will einen Anwalt haben; es will verteidigt werden; 
aber weit entfernt ſei es von uns, daß wir uns nur verteidigten: wir wollen 
angreifen. 

Die letzte Inſtanz des Rechts iſt noch immer die phyſiſche Gewalt. Wenn 
nicht ſtarke Arme da wären, die mich ins Gefängnis oder aufs Schaffot führen 
können, ſo könnte ich ungehindert ſtehlen und morden; ein Richterſpruch tötet nicht. 
Auch der Spruch eines internationalen Schiedsgerichts tötet nicht; er bedarf dazu 
einer Exekutionsarmee oder eines Hungerboykotts oder ſonſt einer Gewalt- 
maßregel. Der Krieg iſt die Zuflucht der Maſſe zur phyſiſchen Gewalt der Maſſe. 
Er iſt im großen genau dasſelbe, was ein ernſter Ringkampf, ein Kampf auf Tod 
und Leben zwiſchen zweien, die ſich bei der Gurgel packen, im kleinen iſt. Sollte 
es denkbar fein, daß ſolch ein Ringkämpfer offenſiv mit dem Leibe und defenfiv 
im Geiſte, daß er feindlich mit der Fauſt und friedlich im Gemüte wäre? Nicht 
wahr: in demſelben Augenblicke, in dem feine Seele friedlich wird, muß unfehl- 
bar auch die Fauſt friedlich werden? Die Ruhe der Seele wird augenblicklich in 
die Fauſt überſtrömen und fie erſchlaffen. Wenn einer dieſer Ringenden plötzlich 
ſagt: „Ich möchte mich mit dir verſtändigen!“ — was wird der andere ganz 
unfehlbar denken? ‚Er kann nicht mehr!“ Und das wird feinen Mut ganz 
wunderbar beleben, und er wird ſchnell um ſo feſter zupacken. 

Wir wunderlichen Deutſchen haben dieſes ſeeliſche Unding, dieſes Zwitter- 
weſen eines verſöhnlichen Kämpfers auf Tod und Leben für möglich gehalten, 
als wir die monumentale Dummheit der Friedensreſolution aufrichteten. 
Anſer ſchlimmſter Feind hätte uns keinen böſeren Streich ſpielen können. Und 
wir haben hinterher noch unzählige Male unſere Friedensbereitſchaft verſichert 
und haben damit folgerichtig jedesmal den Gegner zu größerer Keckheit ermutigt 
und den Krieg um ein tüchtiges Stück verlängert. Ich habe oben geſagt, daß 
man in dieſen Zeiten den Mut haben müſſe, auch Plattheiten auszuſprechen und 
zu wiederholen. Die platteſte der Plattheiten: daß ein Volk lieber Frieden als 
Krieg hat, die brauchen wir bei Gott nicht auszuſprechen. Es iſt ja ein wahres 
Wunder, daß die deutſche Fauſt noch nicht entnervt iſt durch den Wankelmut 
der deutſchen Seele, daß unſere Helden noch nicht entmutigt ſind durch die Reden 
unſerer Politiker. Aber man begreift die bittere Ungeduld unſerer großen Feld- 
herren, wenn ſie in die Heimat zurückrufen: „Hört auf mit euren Friedensreden!“ 

Ich bin feit meinen Zünglingsjahren Anhänger der Friedensbewegung 
und werde es bleiben trotz meiner tiefwurzelnden Zweifel an der Wirkſamkeit 
aller bisherigen praktiſchen Vorſchläge des Pazifismus. Ich wünſche internationale 
Schiedsgerichte, ſobald ich weiß, wo man unintereſſierte Richter findet, wie ich 
fie als Bürger im Gerichtsſaal finde. Ich würde den Völkerbund mit aufrichtig 
ſter Freude begrüßen, wenn er nicht das ſein würde, was er unfehlbar ſein 
würde: eine Fortſetzung der Entente unter dem Deckmantel des Friedens, 
Es iſt möglich, daß es „Segnungen des Krieges“ gibt; aber der Fluch des Krieges 


566 Zürmers Tagebuch 


iſt mir augenblicklich unvergleichlich gewiſſer. Alſo auch ich erſehne und erſtrebe 
den ewigen Frieden. Aber wenn man einmal an die Gewalt appelliert hat, 
dann iſt es ein heilloſer Anſinn, plötzlich eine andere znſtanz anzurufen, 
bevor die Gewalt entſchieden hat. Man kann nicht gleichzeitig das Recht und die 
Gewalt anrufen. Wenn das Recht entſcheiden ſoll, wenn man hoffen darf, daß 
ſeine Stimme gehört werde — wozu dann noch einen einzigen Schuß abgeben? 
Wenn aber Gewalt entſcheiden muß, wenn das Recht der Gewalt bedarf, um 
ſich durchzuſetzen — wie kann man dann ſo verblendet ſein, die eigene Gewalt in 
ihrem Laufe aufzuhalten? Das und nichts anderes iſt unſer Fall, wenn wir 
den Feind mit der einen Hand ſchlagen und mit der anderen ſtreicheln. 
Es iſt kein körperlicher Krieg denkbar ohne einen ſeeliſchen. Es gibt ein Wort, 
das heißt: „Wenn du den Frieden willſt, bereite den Krieg“; es wird von manchen 
Leuten angezweifelt. Aber nicht anzuzweifeln iſt der Satz: „Wenn du im Kriege 
biſt und den Frieden willſt, ſo führe Krieg, führe ihn in jeder Hinſicht und in 
jedem Augenblick! A la guerre comme à la guerre — unfere Feinde wiſſen's! 
Zeder Schlag mit Arm und Geiſt rückt den Frieden näher; jedes verſöhnliche Wort 
rückt ihn weiter in die Ferne. Darum wollen wir nicht nur abwehren, ſondern 
zuſchlagen; wir wollen nicht nur unſere Feinde mit ihrer Schande brandmarken; 
wir wollen ſie in ihrem Tiefſten treffen, in ihrer Habgier, und wollen fordern. 
Gott weiß es: Deutſchland war zufrieden mit ſeinem Beſitz; aber ich mag mit 
meinem Haus und Hof noch ſo zufrieden ſein; wenn ich mich Tag und Nacht von 
Räubern umlagert ſehe, dann rücke ich den Schutzwall meines Beſitztums 
weiter hinaus. Gewiß führen wir einen Verteidigungskrieg; aber noch immer 
iſt der Hieb die beſte Parade. Darum, wenn die Feinde Elſaß-Lothringen fordern: 
fordern wir das beſetzte Frankreich; wenn ſie unſere Kolonien fordern: fordern 
wir ein reichliches Quantum der ihrigen; wenn ſie uns ihre Häfen ſperren wollen: 
fordern wir Aufgabe aller ihrer ‚ Stützpunkte“ im Fleiſche fremder Staaten; wenn 
ſie Deutſchland von den Hohenzollern befreien wollen: fordern wir Beſeitigung 
ihrer ſämtlichen Oberhäupter und Kabinette vor Beginn der Friedensverhand⸗ 
lungen, wenn fie Abtrennung der polniſchen Oiſtrikte im öſtlichen Deutſchland 
verlangen: fordern wir die vollkommene Loslöſung Irlands, Indiens, Marokkos, 
Tonkins uſw. von ihren Tyrannen; ſtellen wir dieſe Forderungen auf in aller 
Form der Friedensbedingung! Keine dieſer Forderungen geht weiter als 
die frechen ‚Mindeftforderungen‘, die uns die Feinde noch täglich zu ſtellen wagen. 
Was von ſolchen Forderungen durchzuſetzen iſt, ſteht letzten Endes immer bei 
den Tatſachen. Ein Sieger kann auch weiſe Mäßigung üben; er kann es ſich viel- 
leicht ſogar leiſten, großmütig zu fein — nachdem er geſiegt hat. Aber ſchon 
die Aufſtellung dieſer Forderungen würde in London, Paris, Va— 
ſhington einen ausgezeichneten, einen unvergleichlich günſtigeren 
Eindruck machen als jede Friedensgeneigtheit. Der politiſche Rüpel iſt 
nicht anders als der private: eine rückſichtsvolle Behandlung verſteht er nicht, und 
nichts imponiert ihm mehr, als wenn der Mann, dem er auf den Fuß treten will, 
ihm zuvorkomnit. 

Als wir noch keinen Krieg mit Amerika hatten, ſchrieb mir ein Yantee: Es 


Zürmers Tagebuch 567 


ift die Tragik Deutfchlands, daß es ſtumm iſt.“ Möge der Allmächtige ihm 
die Zunge löſen, wie er die Zunge des Zacharias löſte. Dazu gehört allerdings, 
daß die deutſchen Minifter ſich, wie die engliſchen, in jedem Augenblick als freie 
Bürger fühlen, die von der Leber weg reden dürfen, nicht nur als Beamte, 
als Untergebene, die etwas jagen könnten, was ins Reſſort des Kollegen über- 
greift, was dem Vorgeſetzten nicht gefällt, oder was der Reichstag tadeln könnte, 
weil es die Höflichkeit gegen England verletzt. Dazu gehört alſo, daß die ſchöne 
deutſche Freiheit, die ja vorhanden iſt, nicht im bureaukratiſchen Schleim erſtickt, 
und daß die Regierung die Kriegsrüſtung anziehe gegen die Feinde 
draußen und drinnen, gegen die böswilligen wie gegen die wohl- 
meinenden. | 

Ich mag nicht zweifeln, daß unſere Regierung „k. v.“ ift. Aber es wird die 
höchſte Zeit, daß ſie's beweiſt.“ 

N x * 

N 1 

Es ift traurig, das ausſprechen zu müſſen, und es koſtet mich einige Über- 
windung, aber ich fürchte: die Offenſive, zu der ſich die Regierung Herrn Dr. Solfs 
als Sprachrohr bediente, wird der deutſchen Sache eher Wunden ſchlagen, als 
unſeren Feinden, die ſie überhaupt nicht ernſt nehmen werden, und wenn ſchon 
einige „ſo tun“ ſollten, dann eben nur zum Schein, aus taktiſchen Gründen, um 
uns in dem Irrtum, auf der richtigen Fährte zu ſein, zu beſtärken und noch weiter 
herauszulocken. Da war einmal der Huſarenritt gegen die „Alldeutſchen“, denn 
nur die konnten bei der bewußten Abſchüttelung gemeint ſein, und es muß immer 
wieder die Tatſache unterſtrichen werden, daß die Anwendung dieſes Wortes 
ſich keineswegs mehr auf den „Alldeutſchen Verband“ beſchränkt, ſondern auf 
alle Deutjchen ausgedehnt wird, die ſich bewußt als Deutſche fühlen und be- 
kennen und den Zielen der — andersgeſinnten deutſchen Staatsbürger im Mege 
ſtehen. Ja, noch darüber hinaus: der eine „internationale“ deutſche Genoſſe 
nennt den andern heute ſchon einen „Alldeutſchen“, wenn dieſer andere ſich „nicht 
entblödet“, ſchwache Lebenszeichen deutſchen Gemeinſchaftsgefühls von ſich zu 
geben und zu beantragen, daß die Deutſchen doch ſozuſagen auch ein Volk, eine 
Nation ſeien, und was der einen Nation recht ſei, der anderen billig ſein müſſe. 
Dann aber die Kundgebung über Belgien —: wie muß die wohl auf die Vla- 
men gewirkt haben und weiter wirken, wenn nicht bald — es könnte gar nicht 
ſchleunig genug geſchehen! — von ſichtbarſter Stelle und mit weiteſter Hör- 
wirkung eine ergänzende, das Ausgerenkte wieder einrenkende Erklärung folgt. 
Iſt es ſchon kläglich genug, daß dem Bruderſtamme der Vlamen — Niederſachſen 
des ſelben Blutes, wie die Weſtfalen auch, mit deren Platt fie ſich ebenſo leicht ver- 
ſtändigen, wie die Weſtfalen mit dem lippiſchen oder mecklenburgiſchen Platt — 
ſo ſtierhaft ſtumpfe Gleichgültigkeit und Verſtändnisloſigkeit entgegengeſetzt wird, 
ſo kommt dieſes völlige Verſagen in einer ſolchen Frage, dieſes Ignorieren eines 
ganzen Brudervolkes allerdings einer „Offenſive“ gleich: nicht nur gegen die 
Vlamen, ſondern auch gegen wichtigſte deutſche Lebensintereſſen, die es 
darum nicht minder ſind und bleiben, weil ſie als ſolche nicht begriffen werden. 
Es ſind noch wichtigere Lebensintereſſen auch von ſehr maßgebenden Stellen 


568 Türmers Tagebuch 


nicht begriffen worden! — So aber werden Saaten, die fröhlich zu ſprießen und 
zu grünen beginnen, reiche Ernte, wenn auch nicht von heute zu morgen, ver- 
ſprechen, vom Säemann ſelbſt wieder untergepflügt. Warum? — Vielleicht weil 
der Säemann nicht gewußt hat, was er ausgefäet, weil er nicht aus eigener für- 
ſorglicher Abſicht freudig geſäet hatte, ſondern durch die Umftände geſchoben und 
geſtoßen, vermeintlicher Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Ein ganzes 
Buch ließe ſich über dieſes Thema allein aus den letzten Jahrzehnten, nein, ſchon 
aus den vier Kriegsjahren anfüllen! Wer ohne Liebe einen Garten beſtellen will, 
dem verdorrt die Pflanze unter der Hand, der taugt nicht zum Gärtner. 

„Noch immer“, klagt bitter Profeſſor G. v. Below in den „Berl. N. Nachr.“, 
„gibt es viele deutſche und darunter wohllöbliche Neichstagsabgeordnete, die 
ſich wohl rege für die Befreiung und Stärkung des Polentums und ſonſtiger 
fremder Stämme intereſſieren, die es aber für den Gipfel politiſcher Klugheit 
halten, den germaniſchen Stamm der Vlamen links liegen zu laſſen oder gar unfe- 
ren Feinden auszuliefern und damit zugleich dieſe als unſere unmittel- 
baren Grenznachbarn heranzuziehen. 

n einer geradezu abſtoßenden Art hat ſich kürzlich wieder Prof. Hans Del 
brüd (einem Wiener Journaliſten gegenüber) über die vlamiſche Frage nach jener 
Richtung hin geäußert; man müßte ihm danach jede Spur von nationalem Ge- 
fühl abſprechen, wenn dieſe ſeine neuen Außerungen nicht von neuem den Beweis 
lieferten, daß ſeine Gedanken durch eine nahezu pazifiſtiſche Verzichtformel ganz 
und gar gebannt ſind. 

Eine ſolche Gleichgültigkeit gegenüber der vlamiſchen Frage aber müſſen 
wir in dem ſelben Augenblick erleben, in dem es — wie mir ein mitten in den belgi- 
ſchen Dingen ſtehender Kollege dieſer Tage ſchrieb — ‚in Flandern lichterloh 
brennt‘. Wenn man ſich doch endlich davon überzeugen laſſen wollte, daß es 
ſich bei der vlamiſchen Bewegung um eine durchaus geſunde, kräftige und für 
Reichsdeutfche und Vlamen in gleicher Weiſe unendlich wichtige Angelegenheit 
handelt! Anſere Reichsleitung hat wahrlich nichts getan, um fie zu fördern. Daß 
Bethmann nur mit größter Mühe dazu zu bringen war, die Verwaltungs- 
trennung in Belgien nicht abzulehnen, daß fie ihm erſt förmlich abgerun- 
gen werden mußte, darüber klagen ſogar volksparteiliche Politiker. Nicht er- 
muntert, ſondern eher von ſich geſtoßen hat man die Blamen. Wie oft 
find fie durch offizielle Erklärungen (nicht bloß durch ſolche von Kühlmann) ent- 
täuſcht und abgeſtoßen worden! Und dennoch hat ſich die deutſchfreundliche 
vlamiſche Bewegung entwickelt und zunehmend gekräftigt. Darin liegt ein 
höchſt greifbarer Beweis für ihre Kraft. Es iſt endlich an der Zeit, daß das deutſche 
Publikum ſich über den wahren Stand der vlamiſchen Angelegenheiten gründ- 
lich unterrichtet, daß man die Gleichgültigkeit fallen läßt und dafür eintritt, daß 
den Vlamen ihr Recht werde. Einer der beſten Kenner der gegenwärtigen Zu- 
ſtände Belgiens hat ſoeben in der Wochenſchrift ‚Die deutſche Wacht“ (Nr. 31) 
einen bemerkenswerten Aufſatz über die Forderungen der Vlamen veröffentlicht. 
Er teilt darin einen bisher in Oeutſchland noch nicht bekannten flandri- 
ſchen Aufruf mit, aus dem hier einige bezeichnende Sätze mitgeteilt ſeien: 


Türmers Tagebuch 569 


„Wir wenden“ — heißt es dort — ‚uns an das deutſche Volk und an feine 
Vertreter mit der Frage, ob das deutſche Volk bereit iſt, für unſere uralten ge- 
ſchichtlichen Rechte einzutreten im Bewußtſein, damit einem Brudervolk die 
Hand zu reichen. Wir betonen, daß mit einer Rückkehr des früheren Zu- 
ſtandes, auch dann, wenn die walloniſchen Länder von Flandern ge- 
trennt bleiben, durch neue Neutralitätsverträge und internationale Abmachun- 
gen wir das Beſte des Erlangten einbüßen würden. Nicht viele Bürgen, 
ſondern einen brauchen wir, und dieſer eine kann nur das Deutſche Reich fein. 
. . . Vir verlangen nicht, deutſche Staatsbürger zu werden, ſondern wollen als 
freie Vlamen unter eigener Regierung leben; aber wir find bereit, alle jene 
Zugeſtändniſſe zu machen, die, ohne der Selbſtändigkeit Flanderns zu ſchaden, 
es dem Deutſchen Reich ermöglichen ſollen, uns zu ſchützen in enger Gemein- 
ſchaft der Außenpolitik und Handelspolitik und uns unſere gemeinfchaft- 
lichen Belange in der Zukunft zu verbürgen. Wir bitten das deutſche Volk, 
uns eine klare Antwort zuteil werden zu laſſen, in der Hoffnung, daß unſere 
Wünſche ſich erfüllen mögen. Denn wir würden ... um eine bittere Enttäu- 
ſchung reicher ſein, wenn das deutſche Volk uns ohne zwingende Not von ſich 
ſtie ße ... Wir vertrauen zu Gott, daß dieſes Mal die Entſcheidung des Kriegs 
ſowie der Friedensunterhandlungen dem ſo lange geknechteten vlamiſchen 
Volksſt amm die völlige Befreiung bringen wird.“ 

Es handelt ſich um eine gewaltige nationale Angelegenheit, bedeutungs- 
voll ebenſo für die Vlamen wie für uns. Wird jetzt die Gelegenheit ver- 
ſäumt, fo kehrt fie nie wieder. Wenn die Blamen ſelbſt die Wiederherſtellung 
des früheren Zuſtands für verhängnisvoll erklären, wenn ſie ſelbſt dringend 
den Anſchluß eines freien Flanderns an das Oeutſche Reich fordern, 
ſo ſollte man doch in Deutſchland nicht die Augen gegenüber der großen Sache 
verſchließen, ſondern die Regierung nötigen, das zu tun, was der Augen- 
blick fordert.“ 

Kein Wort iſt hier zu viel geſagt. Man lege ſich einmal Rechenſchaft darüber 
ab, wie die Dinge liegen und um was es ſich handelt. Das wird mit gutem Ge- 
wiſſen wohl niemand beſtreiten, daß, wenn Belgien, alſo der Zuſtand Belgiens 
vor dem Kriege, „wiederhergeſtellt“ wird, daß dann dieſer Zuſtand nicht mehr 
der Zuſtand vor dem Kriege ſein wird und ſein kann, daß dann auch die letzte 
dürftige Spur von Belgiens „Neutralität“ verſchwindet und dieſer Staat nichts 
anderes wird als ein franzöſiſch-engliſches Einfallstor, einfacher und ge— 
nauer ausgedrückt: ein engliſcher Vaſallenſtaat nicht einmal mit dem kleinen 
Reit unſchädlicher Selbſtändigkeit, den England den Buren in Südafrika aus 
klugen Rückſichten noch gönnt. Nach einer „Wiederherſtellung“ Belgiens wird 
aber bei der belgiſchen Regierung „des Schickſals Stimme“ auch „der Zug des 
Herzens“ fein. Auch darüber wird alſo kein Zweifel obwalten, daß die äußere 
und innere Politik Belgiens blind ergeben im franzöſiſchen Kielwaſſer ſchwimmen 
wird. Da aber Frankreich ſeinerſeits gehorſam im engliſchen Kielwaſſer ſchwim- 
men wird, ſchon weil es gegen den angelſächſiſchen Bund (England und Amerika) 
ohnmächtig iſt, bliebe Belgien darum doch politiſch und militäriſch engliſcher Be- 


570 Türmers Tagebuch 


ſitz. Damit wäre England unmittelbar an unſere Grenzen vorgerüdt. 
Auch militäriſch unterlegen, hätte es glänzend geſiegt! Anſere Stellung als 
Großmacht wäre dann eine ruhmreiche Erinnerung von geſtern abend, für die 
kein Holländer oder überhaupt irgendein Staat noch eine Pfeife Tabak geben 
würde. Die engliſche Fauſt ſchwebte dann dauernd über uns; dieſer Drohung 
würden wir nach einem ſolchen politiſchen Zuſammenbruch nicht lange wider- 
ſtehen, und es könnte ſchon dahin kommen, daß England feine allgemeine Wehr- 
pflicht wieder abſchaffte, weil es ja über genügend zahlreiche und tüchtige — 
deutſche Söldner verfügte; die deutſchen Arbeiter aber hätten die nächſte 
Anwartſchaft auf dieſen engliſchen Kanonenfutterdienſt. Oder ſollten fie 
wirklich wähnen, daß die engliſchen Genoſſen ihnen hilfreich zur Seite ſpringen 
würden? Freuen würden ſich die, von ganzem Herzen freuen, daß ſie nun ſelbſt 
nicht mehr ihre Haut zu Markte tragen müſſen und außerdem noch die verhaßte 
„deutſche Konkurrenz“ losgeworden find. Phantaſien —? Dann müßte die Welt- 
geſchichte die größte Phantaſtin ſein. Iſt es denn nicht ſchon ſo geweſen? Was 
aber einmal war, kann wiederkommen. 

Nun dürfen und wollen wir nicht den letzten Entſcheidungen vorgreifen. 
Die volle Zuverſicht, daß ſie zu unſeren Gunſten ausfallen, haben wir und müſſen 
wir haben, — wiſſen können wir es nicht. So müſſen wir mit den bereits in 
unſere Hände gegebenen Mitteln uns und unſere Zukunft als Volk ſo weit ſichern, 
wie fie für dieſen Sicherungszweck ausreichen. Dafür aber reichten fie ſchon lange 
aus: durch Aufrichtung eines freien Flanderns mit gegenſeitigen Bin- 
dungen uns einen Grenz- und Schutzwall zu ſchaffen, der eine ſolche 
„Viederherſtellung“ Belgiens, wie fie England ſich nicht idealer wünſcht und 
wünſchen kann, und wie ſie auch von ſeiten der deutſchen Regierung auf keinen 
ernſtlichen Widerſtand mehr zu ſtoßen ſcheint, unter allen Umftänden und 
ohne eine Spur von „Annexionsgelüſten“ zu verhindern. — Man erwäge 
nur, daß bis 80 der „belgiſchen“ Armee Vlamen find! Wir brauchten ja nur 
den von feindlicher Seite ausgeſpielten Trumpf vom „Selbſtbeſtimmungsrecht 
der Völker“ in die eigene Hand zu nehmen und in aller Unbefangenheit und 
Selbſtverſtändlichkeit die vollendete Tatſache zu ſchaffen. Der Champagner 
ſtand da, — doch du trankſt ihn nicht!“ — 

Bitter not tut uns eine entſchloſſene, rückſichtsloſe moraliſche Offenſive 
gegen den äußeren Feind, und ſoweit ſie dieſer Forderung gerecht werden, ſind 
auch Kundgebungen wie die durch den Mund des Herrn Dr. Solf, grundſätzlich 
zu begrüßen und zu unterftüßen. Aber noch bitterer not tut uns eine moraliſche 
Offenfive gegen den inneren Feind, und den glaube ich auch ohne weitere Er- 
läuterungen im Zuſammenhange dieſer Ausführungen deutlich genug gekenn- 
zeichnet zu haben. Des Übels Kern ſitzt aber weniger im Nicht-ſehen- können, als 
im Nicht-ſehen- wollen. Es iſt weniger eine Schwäche des Intellekts als des Cha- 
rakters. Das macht den Kampf ſo ſchwer, ſo bitter! Nur klare, entſchloſſene 
Führung kann hier helfen. Wir harren ihrer, — und es iſt das fünfte Kriegsjahr! 


W 


g De V., 


Politiſcher Beruf und politifche 


Zurechnungsfähigkeit 


s iſt ein häßlicher Auswuchs deutſchen 
DPWeſens, über niemand lieber herzu- 
fallen, als über den eigenen Bruder, den 
Volksgenoſſen; mit Argusaugen auszuſpähen, 
ob und was ſich ihm etwa anhängen ließe; 
bei ihm, dem Bruder, als ſchweres Ver- 
ſchulden zu verurteilen, was den Fremden 
zu hohem Ruhme gerechnet wird. Neuer- 
dings melden ſich Stimmen, die den deutſchen 
Balten den Beruf zu ihrer geſchichtlichen 
Stellung in ihrem Heimatlande abſprechen, 
in göttlicher Anbekümmertheit darum, daß 
dieſer Beruf ſich in ſieben Jahrhunderten 
bewährt hat, daß ohne ihn von Deutſch- 
tum und deutſchen Balten in Baltenland 
heute keine Rede wäre, wir aber in dieſem 
Kriege auf eine geſchloſſene ruſſiſche Be- 


völkerung dort geſtoßen hätten. Die Letten 


und Eſten, die man doch „verſöhnen“ wolle, 
— ſo läuft der Tiefſinn — würden es übel- 
nehmen, wenn ihre deutſchen Heimatgenoſſen 
in nennenswerter Anzahl und an beftimmen- 
der Stelle an der Verwaltung des Landes 
beteiligt würden, darüber hinaus erkennt 
ein Berliner Profeſſor den deulſchen Balten 
Weitblick und Begabung für die politiſchen 
Geſchäfte überhaupt ab — Beweis dafür, 
daß auch deutſches Profeſſorentum nicht 
immer vor Unkenntnis oder zweifelhaftem 
Urteilsvermögen ſchützt. 


„Verſchieden nach Zeit und Amſtänden“, 


belehrt Dr. Richard Bahr in einer — un- 
verdientermaßen — längeren Auseinander- 
ſetzung ſolche „fröhliche Wiſſenſchaft“, „ſind 
die Aufgaben, die dem Politiker geſtellt ſind. 


Die Aufgabe der Oeutſchbalten war un- 
endlich groß, die Mittel, die ihnen zur 
Verfügung ſtanden, im Grunde lächerlich 
klein. Sie waren ein Sandkorn im Meer 
der Völkerfamilien des Zarenreiches, ein 
machtloſes Häuflein angeſichts der inappellabel 
und unkontrollierbar mit Galgen und Nad, 
mit Einkerkerung und ſibiriſcher Verſchickung 
arbeitenden ruſſiſchen Despotie. Alle lauten 
Formen der Oppoſition kanten, als ſchlechthin 
ausſichtslos, nicht in Betracht. Den Balten 
blieb nur eines: fie mußten lavieren. Auf 
dieſem, durch den unerbittlichen Zwang der 
Umftände, nicht durch eigenes Zutun 
beſchränkten Felde, haben fie ein nicht all- 
tägliches Geſchick und eine reife Kunſt der 
Menſchenbehandlung erwieſen, von der mir 
einſtweilen noch zweifelhaft iſt, ob ſie allen 
deutſchen Stämmen in gleicher Weiſe eignen. 
Die Deutſch-Balten argwöhniſch von dem 
Aufbau und der Verwaltung ihres Landes 
auszuſchlie ßen, würde, wie ich glaube, darauf 
hinauslaufen, das deutſche Volk, das an 
politiſchen Talenten ja nicht übermäßig reich 
iſt, künſtlich ärmer zu machen. Dabei ſehe 
ich von allen ſentimentalen Erwägungen wie 
Dank für geleiſtete Dienſte, Treue um Treue 
und dergl. mehr grundſätzlich ab. Nur um 
die ganz nüchterne, ſachliche Frage handelt 
es ſich hier: wäre es zu verantworten, einen 
Volksſtamm, der in 700, ähriger nicht immer 
leichter Arbeit gezeigt hat, daß er zu bauen 
und zu verwalten verſteht, der in dieſer 
langen Friſt gerade auf ſeinem ſpeziellen 
Gebiet eine Unfumme von Erfahrungen ge- 
ſammelt hat, die auch dem geſchickteſten 
von auswärts bezogenen Verwaltungstech- 
niker nicht ſofort anfliegen, wie den bekannten 


572 


Mohr beiſeite zu ſchieben? Die Frage ift — 
fie iſt auch jo geſtellt — vom Reichsintereſſe 
aus und dem des Geſamt-Deutſchtums zu 
beantworten.“ 

Sich dafür ins Zeug zu legen —, daß das 
deutſche Element aus der Verwaltung und 
Führung eines an Deutſchland anzu- 
gliedernden Landes, das dieſem und nur 
dieſem Element ſeine deutſche Kultur und 
jein äußerſtes und verlaſſenes Bollwerk 
nach Oſten durch ſieben Jahrhunderte ver- 
dankt, — ausgeſchloſſen werde, das iſt 
eine Leiſtung, die uns kein Volk der Erde 
nachmacht, kein Volk bei Zurechnungs- 
fähigen auch nur begreift. Eine Nation, 
die dergleichen Früchte anzuſetzen ſich er- 
lauben darf, mußte ja einmal von der 
ganzen Meute überfallen werden! Gr. 

* 


Wohlverdient 


iner unſerer Diplomaten ward gelobt. 
In ſeiner blindwütigen Rede gegen die 
abgedankten Minifter Czernin und Seidler 
erkannte der Tſcheche Dr. Stranſky an, daß 
der Wiener deutſche Botſchafter ſich zur Na- 
tionalitätenfrage viel „loyaler“ als jene 
beiden geftellt habe. Einer bei dem Botfchaf- 
ter erſchienenen deutſchböhmiſchen Abordnung 
— aber ſind die Leute dort naiv! — habe 
dieſer erklärt: „Ihr müßt euch mit den 
Tſchechen verſtänd igen!“ 

Neu iſt uns dieſes Männerwort der Hoch- 
beamteten ja nicht. Originell würde es nur 
noch, wenn nächſtens auch die Schutzleute 
den Überfallenen anheimgäben, ſich mit den 
Mördern und Einbrechern zu verſtändigen. 

h. 


% 


Warum greifen die Engländer 
an? 
TDaäglich, ſchreibt Profeſſor Krückmann 
I (Müniter i. W.), erzählen die engliſchen 
Staatsmänner dem engliſchen Volk, aber 
nicht zuletzt auch den deutſchen Angſtmeiern, 
daß ſie wegen des unermeßlichen amerikani- 
ſchen Heeres den ſicheren Sieg in der Hand 
hätten. „Es kann uns gar nicht fehlen“, 
ſo tönt es in tauſend Melodien an das Ohr 


Auf der Warte 


der verängſtigten Deutſchen, damit nur ja 
die blaſſe Furcht in deutſchen Landen um- 
gehe, Herr Angſtmeier und Herr Haſenfuß, 
die alles, aber auch alles beſſer wiſſen als 
Hindenburg und Ludendorff, Scheer und 
Tirpitz, die Oberhand bekommen. Die enge 
kleine Haſenſeele des deutſchen Philiſters 
wird bearbeitet mit Worten, denen aber 
die Taten der Engländer ſchnurſtracks 
widerſprechen. Warum greifen die Eng- 
länder an? Sie haben es ja „gar nicht 
nötig“! Aber fie tun es merkwürdiger 
weiſe doch! Täglich erzählen ſie uns, daß 
ſie eigentlich im Grunde nur die Daumen 
umeinander zu drehen brauchten, um die 
große amerikaniſche Völkerwoge ab zuwar⸗- 
ten und uns dann einfach zu erdrücken, 
— derweilen aber greifen ſie haſtig ein 
über das andere Mal an. Bisher haben. 
ſie derartiges nicht zum Vergnügen getan. 
England zumal ſpart bekanntlich ſeit jeher 
mit Blut und verſteht die Kunſt ausgezeichnet, 
mit fremden Truppen Krieg zu führen. Aber 
plötzlich iſt es ſo ganz anders. England greift 
an! Warum wohl greift der Engländer an, 
ohne auf den Amerikaner zu warten? 
Sollte er es doch eilig haben, eiliger, als 
gewiſſe Leute in Oeutſchland in ihrer kindiſchen 
Angſt ſich dachten und denken? Es wäre ja 


gar nicht auszudenken. 
* 


Frankfurter Zeitung“ und freie 
Meinungsäußerung 

Der frühere Marineattachö in den Ver- 

einigten Staaten, Kapitän zur See 
v. Boy -Ed, hatte kürzlich geäußert, die 
Amerikaner würden auch ohne Erklärung 
des uneingeſchränkten U-Boot-Rrieges unter 
allen Umftänden in den Krieg eingegriffen 
haben. Dieſe freie Meinungsäußerung eines 
Mannes, der es wiſſen kann, hat die frei- 
geſinnte „Frankfurter Zeitung“ mächtig in 
Harniſch gebracht —: wie kommt der Mann 
dazu, eine Überzeugung auszuſprechen, die 
der „Frankfurter Zeitung“ nicht genehm iſt; 
um ſo weniger genehm, als ſie ſich auf eigene 
Kenntnis und praktiſche Beobachtung gründet 
und alſo ernſter genommen werden muß und 


8 K Tri 2 3 "vn — 1 — A 28 


Auf der Warte 


wohl auch wird, als die unter einem be- 
ſtimmten Geſichtswinkel vorgefaßten „Urteile“ 
des Frankfurter Blattes? Der ſchlimmſte 
Vorwurf gegen den offenherzigen Seemann, 
der die Aufgabe und genügend Gelegenheit 
hatte, auch den Kurs der politiſchen Ent- 
wicklung in den Vereinigten Staaten aus 
nächſter Nähe zu ſichten, liegt aber darin: 
„Soll es in der Tat Herrn Re ventlow 
nach den Erfahrungen von vier ſchweren 
gahren erlaubt fein, mit ſeiner Richtung 
dadurch zu brillieren, daß er ſich vor das 
Volk hinſtellt und den Irrſinn (1) verbreitet: 
es war eben zu ſpät, — im Frühjahr 1916 
wäre der richtige Augenblick geweſen.“ Alſo: 
weil der Meinung des Grafen Reventlow, die 
nicht die Meinung der „Frankfurter Zeitung“ 
ist, in dem früheren Marineattachö in den 
Vereinigten Staaten ein berufener und 
glaubwürdiger Zeuge erſteht, ſoll dieſer 
Zeuge ſich einen Maulkorb umbinden oder 
etwa ihm ein ſolcher umgebunden werden? 
Aber es iſt ja nicht das erſte und ſicher 
auch nicht letzte Mal, wo die „Frankfurter 
Zeitung“ eine Anfehlbarkeit und jelbftherr- 
liche Autorität für ſich in Anſpruch nimmt, 
der gegenũber jede abweichende Meinung 
(weil „Irrſinn“) zu ſchweigen habe. Das 
hat denn doch ſchon, ganz abgeſehen von der 
Anziehungskraft dieſer Reliquie eines an- 
betungswürdigen „Liberalismus“, einen hef⸗ 
tigen Stich ins Lächerliche, oder, wenn die 
„Frankfurter Zeitung“ das lieber hört, ins 
Groteske. Gr. 


« 


Zur Metallbeſchlagnahme 


s mehren ji die Fälle, daß die Bürger- 

ſchaft einzelner Städte gegen die Be- 
ſchlagnahme von Denkmälern Einſpruch er- 
hebt. Der gute Wille, dem Vaterlande zu 
geben, was es in der Stunde der Not braucht, 
darf in dieſen Fällen nicht bezweifelt werden. 
Wie ich aber aus mehrfachen Zuſchriften 
entnehme, fehlt vielfach das Vertrauen, daß 
bei der Auswahl der Denkmäler die rechten 
Geſichtspunkte gewahrt werden. Zu den 
beiden Grundſätzen des Geſchichtlichen und 
des Kunſtwertes muß auch der des Gemüts- 


575 


wertes hinzugenommen werden. Für den 
letzteren laſſen ſich keine feſtſtehenden Geſetze 
aufſtellen. Für eine kleine Stadt kann ihr 
Denkmal einen großen Lebenswert bedeuten, 
das Anbeteiligte hinſichtlich feines gefchicht- 
lichen und künſtleriſchen Wertes einer Rang- 
ſtufe einordnen, die in größeren, mit Denk- 
mälern nur allzureich geſegneten Städten 
ohne weiteres preisgegeben werden kann. 
Dasſelbe gilt auch von den Glocken. Im 
Lärm der Großſtadt hat das Glockengeläute 
kaum mehr einen Wert, für ein Dorf kann es 
geradezu die Seele ſein. 

Für den geſchichtlichen Wert der Denk- 
mäler ſollte die Perſon des Dargeſtellten 
nicht ausſchlaggebend fein. Ich hege Liebe 
und Bewunderung für unſern alten Kaiſer, 
aber unter den ihm allzu betriebsmäßig er- 
richteten Denkmälern iſt eine beträchtliche 
Zahl künſtleriſch wertlos, und für das ge- 
ſchichtliche Andenken bliebe durch die wenigen 
wertvollen immer noch genügend geſorgt, 
auch wenn er ſich nicht im Herzen des deut- 
ſchen Volkes ein Denkmal „aere perennius“ 
errichtet hätte. Der Künſtlerausſchuß, der zur 
künſtleriſchen Bewertung eingeſetzt worden 
iſt, ſcheint mir etwas ſchwach beſetzt und da- 
durch von der Gefahr der künſtleriſchen 
Parteilichkeit nicht frei. 

In jedem Falle ſollten die Beſchlüſſe der 
eingeſetzten Ausſchüſſe ſo früh veröffentlicht 
werden, daß die Offentlichkeit dazu noch 
rechtzeitig Stellung nehmen und auch ihrer; 
ſeits mit Vorſchlägen hervortreten kann. Es 
wird ſich dabei zeigen, daß manches Denkmal, 
das vom Kunſtausſchuß vielleicht hoch ein- 
geſtellt wird, dem Volke ganz gleichgültig 
geblieben iſt, und da die Geſamtheit hier das 
Opfer bringt, muß fie auch mitreden dürfen. 

Endlich wollen die Stimmen nicht ver- 
ſtummen, die behaupten, daß im beſetzten 
feindlichen Gebiete noch eine Maſſe von un- 
genutztem Metall vorhanden ſei. Man ſollte 
eigentlich nicht erſt betonen müſſen, daß, 
ſolange im beſetzten Feindesland noch eine 
Glocke und eine Meſſingklinke iſt, in der 
Heimat keine genommen werden dürfte. Aber 
bei uns muß man ja das Selbſtverſtãndliche 
immer erſt recht laut ſagen. K. St. 


574 
Valuta 


us einer ſchweizeriſchen Zuſchrift an 

die Neue Zürcher Zeitung: „Der 
Staat, der die Preiſe für alle Gebrauchs- 
artikel normiert, könnte ſchließlich auch den 
Baiſſiers an der Börſe Vorſchriften machen 
und ihrem Vernichtungsd rang nützliche 
Schranken ſetzen. Es bedarf heutzutage 
keiner ſehr großen Transaktionen mehr, um 
auf die Börſe Eindruck zu machen. Die 
ſprunghaften Kursſchwankungen, die in die- 
ſem Kriege ſo häufig ſind, kommen ſtets nur 
einzelnen zuſtatten. Eine Annäherung von 
hüben und drüben wäre unſerm ganzen 
Erwerbsleben förderlich, weil die unſicheren 
Geldverhältniffe, wie wir fie ſchon lange 
haben, allerorts lähmend auf die Kaufluſt 
wirken und ſo ihr Teil beitragen zur Teuerung 
und Verdienſtloſig keit.“ 

Kundige wiſſen, daß die erwähnten 
keineswegs großen Transaktionen gutenteils 
auf die Zürcher Bahnhofſtraße reichen. Durch 
jene fremdartigen, geſtikulierend ganz ins 
Agentengeſchäft verlorenen Geſtalten, die 
tatſächlich auf die Valutaverſchlechterung den 
regſten Einfluß üben und mit einem Tages- 
gewinn im Durchſchnitt von 50 Fr. in ihre 
Herbergen verſchwinden. F. 


Deutſche Kulturpolitik 


ein Zweifel, ſchreibt Dr. Sch., in der 

Tägl. Rund ſchau“, man hat ſich große 
Mühe gegeben, unſere militärpolitiſchen 
Freundſchaften kulturell zu befeſtigen. Zn 
Sofia veranſtalten deutſche Profeſſoren mit 
klingendem Namen Vorträge, eine türkiſche 
juriſtiſche Studienkommiſſion kommt nach 
Berlin. Täglich faſt dringen Nachrichten dieſer 
Art an unſer Ohr, aber ſie tönen nur von 
ferne, Wirkungen bis in die breitern Schichten 
der Gebildeten gehen von dieſen Dingen 
nicht aus. Und das liegt daran, daß ſolchen 
Veranſtaltungen faſt immer eine zeremonielle 
Abgeſchloſſenheit anhaftet. Von den Vor- 
trägen in Sofia etwa konnte man leſen, daß 
daran die Hofkreiſe, das hohe Offizierkorps, 
die Diplomaten und Parlamentarier teil- 


Auf der Warte 


nahmen. Alſo eine geſellſchaftliche An- 
gelegenheit, eine Formſache. Es gehört 
nicht viel Scharfſinn dazu, um ſich zu ſagen, 
daß ſolche Kulturbündniſſe vom erſten 
Gegenſturm umgeblaſen werden. Kommt 
ein türkiſcher Dichter oder ein vlamiſcher Ge- 
lehrter nach Berlin, fo ſpricht er vor den ge- 
ladenen Herrſchaften der erſten Geſellſchaft, 
und hinterher findet ein Eſſen bei Adlon ſtatt. 
Erfolgreiche Kulturpropaganda müßte ſich 
alſo auf der Mitwirkung einer weit- 
geſchichteten Maſſe unſerer bürger- 
lichen Intelligenz aufbauen. 

Man unterſchätze indeſſen nicht die Tat- 
ſache, daß die Kulturkreiſe unſerer Ver- 
bündeten uns bis zum Kriege recht fern 
ſtanden. Wir hatten mit Frankreich und 
Italien viel mehr geiſtige Berührungspunkte 
als mit den Türken, den Bulgaren, den Un- 


garn. Daraus ergeben ſich für ein Kultur- 


bündnis des Vierbundes Schwierigkeiten, 
ohne deren Kenntnis der kulturelle Bund 
auf ein ganz falſches Gleis geſetzt werden 
könnte. Mit einem Verbrüderungs- 
hymnus im Stile Naum anns wird 
man nichts erreichen., 

Wir Deutſchen haben ja die verhängnis- 
volle Neigung, uns mit den Fernerſtehen⸗- 
den geiſtig eher anzubiedern als mit 
den Volksverwandten. Der Engländer 
wird natürlich ſtets und überall für den un- 
bedingten Kulturtriumph der angelſächſiſchen 
Raſſe eintreten, der Deutſche ſorgt ängft- 
lich dafür, daß er ſich doch gegenüber 
den Bildungsbedürfniſſen der Frem— 
den ja recht loyal verhalte. Es wäre doch 
bei uns vielen Leuten höchſt pe in lich, wenn 
etwa jetzt in der Warſchauer Aniverfität 
ein deutſches Wort geſprochen würde. 
Wir geben den Polen das Beſte, was wir 
an geiſtigem Inhalt und geiſtiger Or- 
ganiſationsform beſitzen, ohne Kück⸗ 
verſicherung, werden es aber wohl bald 
erleben, daß dieſe von uns geſchulte 
Generation der polniſchen Gebildeten 
unſere Kultur mit Füßen treten wird. 

Saß ſich die Hauptkraft unſexer Kultur 
propaganda vor allen Dingen auf die Oeut⸗ 
ſchen außerhalb der Reichsg renzen er- 


Auf der Warte 


ſtrecken muß, ſollte ſich eigentlich von ſelbſt 
verſtehen. Zn bezug auf die Oeutſchen Oſter- 
reichs hat man das aber während des Krieges 
ſehr vernachläſſigt. So beſtanden beifpiels- 
weiſe vor 1914 zwiſchen der reichsdeutſchen 
und deutſchöſterreichiſchen Akademikerſchaft 
herzliche Beziehungen, die während dieſer 
vier Jahre ſehr gelitten haben. Das iſt an 
ſich zu begreifen, mißzubilligen iſt nur, daß 
keine offizielle Stelle in Deutſchland zur 
Neuanknüpfung dieſer alten Bande ermuntert 
hat. Es iſt vorgekommen, daß deutſchen Stu- 
denten, die in öſterreichiſchen Bibliotheken 
für ihre Diſſertation arbeiten wollten, der 
Paß verweigert wurde! Mit ſolcher Kultur- 
politik kommen wir natürlich nicht weiter. 


Ein altes Geſchichtchen 


& war vor dem Krieg, da wollte einmal 
auf Veranlaſſung deutſcher Muſikfreunde 
in Rom Zoachim mit feinem Quartett einige 
Konzerte in Rom geben. Um einen guten 
Saal zu bekommen, wandte man ſich an die 
deutſche Botſchaft und bat um Überlaſſung, 
natürlich gegen eine entſprechende Miete, 
des dazu ſehr geeigneten Saales des Bot- 
ſchafter⸗-Palaſtes auf dem Kapitol. Lange 
kam keine Nachricht, endlich kam ein amtlicher 
Beſcheid, daß nach einer Kabinettsordre aus 
dem Jahre X (ich glaube, es war 1852) die 
Benützung des Saales für Nichtmitglieder 
der Botſchaft nicht geſtattet ſei. Inzwiſchen 
hatte der franzöſiſche Boſchafter Barrere, 
der ein großer Feind der Deutſchen im all- 
gemeinen, aber ein großer Freund der deut- 
ſchen Muſik im beſonderen war, gehört, daß 
Joachim einen Saal ſuchte und ſtellte ihm 
für ſein Konzert ſofort koſtenlos einen ſolchen 
in ſeiner Botſchaft zur Verfügung, und ſo 
kam es, daß einer unſerer größten Muſiker 
Beethovenſtücke im Palazzo Farneſe dem 
internationalen Rom-⸗Publikum vorſpielen 
und Propaganda für deutſche Muſik machen 
konnte. Vielleicht hat der Krieg nun doch 
wenigſtens das Gute gehabt, daß derartige 
alte Kabinettsordres ſo verſchwinden, daß 
ſie bei paſſender Gelegenheit nicht wieder 
hervorgeholt werden können. 


575 
Das Lob der nationalen Armut 


hat der Dr. Michaelis in einer Anſprache am 
Harz geſungen, Ahnliches Paul Ernſt in der 
„Nordd. Allg. Ztg.“ ausgeſprochen. Beide 
Aberzeugungen ſind uns unantaſtbar, um ſo 
mehr, als ſich perſönliche, geſchichtlich ge- 
wonnene Darlegungen längſt auf ähnlicher 
Linie bewegten. Aber die Lehre iſt nicht an- 
wendbar im Machtſtaat der Plutokratie. Mit 
dem verarmenden Zurückbleiben der ſtamm- 
haften Römer begann das Verderben Noms, 
in geſetzgeberiſcher und ſittlicher und jeder 
anderen Beziehung. Keine der bei gleicher 
Verteilung oft günſtigen Folgen kommt 
dort zur Erſcheinung. Fehlt dieſe, ſo werden 
derartige Hinweiſe auf das ſittliche Gluck der 
Begnügſamkeit leicht zur mißbräuchlichen Be⸗ 
quemlichkeit für ſchlechte Diplomatie oder für 
eine einſeitige Politik, die die Laſten der 
Kriegsabfchlüffe dem Volke aufbürdet und die 
erreichbaren Vorteile beſtimmten Kreiſen zu- 
ſchanzt. | 

Da liegt denn doch eine beſſere Nachdenk⸗ 
lichkeit in dem, was Napoleon im Jahre 1810 
den ihn begrifflos anſtarrenden Hamburger 
Senatoren fagte: das Glüd Geſamteuropas 
würde ſein, wenn dieſes auf die Stufe der 
Völkerwanderung — d. h. zur Naturalwirt- 
ſchaft — zurückkehren könnte. ed. h. 


. * 
Ideale Geſinnung, tadelloſer 

Ruf 

n der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. Zuli 
J 1918 (Morgenblatt) ſtand folgendes: 

„Heiratsgeſuch. 

Großkaufmann, 27 Zahre, ev.-luth., 
Akademiker, ehemaliger Couleurſtudent, aus 
erſter Familie, große, imponierende Erſchei- 
ſcheinung, weltgewandt, von tadelloſem Ruf, 
vielſeitig künſtleriſch begabt und von idealer 
Geſinnung, vollkommen geſund, Mitinhaber 
und Chef eines bedeutenden, altangeſehenen 
Großhandelshauſes in deutſcher Reſidenz- 
großſtadt, mit einem in raſchem Steigen be- 
griffenen Einkommen von jetzt zirka Mark 
40000.— jährlich, ſucht, ungeachtet ſeiner 
ausgedehnten Beziehungen zu allererſten 


576 - 
Geſellſchaftskreiſen, auf dieſem Wege die 
Bekanntſchaft einer vornehmen, muſiklieben- 
den, jungen Dame von ſchöner Erſcheinung 
mit einer Mitgift von mindeſtens Mark 
500000. Anknüpfung der Beziehungen durch 
Eltern oder Verwandte erwünſcht. Strengſte 
Verſchwiegenheit wird zugeſichert...“ 

Es iſt alſo möglich, daß ein 27jähriger 
junger Mann, obwohl „vollkommen ge- 
ſund“ und von „großer, imponierender Er⸗ 
ſcheinung“ nach 4 Jahren Weltkrieg noch zu 
Haufe ſitzt, während feine oft viel weniger 
geſunden Altersgenoſſen in den Schüßengrä- 
ben verbluten. Wäre der junge Mann im 
Felde, ſo könnte er nicht „jetzt“ ein jährliches 
Einkommen von 40000 Mark haben. Es iſt 


möglich, daß dieſer vollkommen geſunde, alſo 


kriegstaugliche Mann in der Heimat Kriegs- 
gewinne einſchiebt, die für die meiſten gleich- 
altrigen Feldgrauen ein Vermögen bedeuten 
würden. Denn: an welchem andern Unter- 
nehmen als am Krieg könnte man jetzt 40000 
Mark jährlich verdienen? Vor allem aber iſt 
es möglich, daß dieſer vollkommen geſunde, 
junge Kriegsgewinnler „aus erſter Familie“ 
ſich nicht bloß feiner Dienſtpflicht entziehen, 
ſondern noch Anſpruch auf eine „ideale Ge— 


finnung“ machen und einen „tadelloſen 


Ruf“ beſitzen und fin „alle rerſten Geſell— 
ſchaftskreiſen“ verkehren kann. 


Ja, das iſt's eben: Daß das möglich iſt! 


* H. O. R. 


Das Gewiſſen der deutſchen 


Literatur — 

o iſt es? Wer iſt es? Ein „Führer“ 

der Nation, Gerhart Hauptmann, 
gibt uns Antwort. Er, der ſelten in Tages- 
blättern ſchreibt, tut ſeinen Mund auf und 
nennt in der „Voſſ. Ztg.“ — Moritz Hei- 
mann das „Gewiſſen der deutſchen Li- 
teratur“ ! 

Es iſt nicht anders. So ſteht's da. Die 
Aberſchrift lautet: „Moritz Heimanns 50. Ge- 
burtstag“. Und er beginnt: „Moritz Heimann 
feiert ſeinen 50. Geburtstag. Als einer 


Auf der Warte 


ſeiner älteſten Freunde 0 ich ihn von 


Herzen, den gleichen Gruß empfängt er 


heute von ſehr vielen. Wenn ein Fran- 
zoſe die Oeutſchen das Gewiſſen der 
Welt genannt hat, kann man Heimann, 
mit demſelben Recht, das Gewiſſen 
der deutſchen Literatur nennen. In 
dieſem Sinne hat er mit vollem Verantwort- 
lichkeitsgefühl vornehmlich gewirkt.“ 
Iſt das nicht ein unerhörtes Geſchwätz ! 


Fehlt da nicht vollkommen der optiſche Ab- 


ſtand? Der Artikel geht in einen Hymnus 
über, worin Heimann, der Berater der Firma 
S. Fiſcher, ein „Schutzheiliger“ genannt 


wird, „deſſen allgegenwärtiges Auge 


zur letzten Gewiſſenhaftigkeit und 
Lauterkeit verpflichtet“. Man unter: 
ſchlage dieſen Artikel nicht, wenn man einmal 
Hauptmanns geiſtige Fähigkeiten zu beur- 
teilen hat! Hier bekundet ſich, wie dieſer 


Mann durch Berlin W vollſtändig den Blick 


verdunkelt und die Urteilskraft verblödet be- 
kam, ſo daß er wagen durfte, öffentlich zu 
ſolchen Bildern und ee zu greifen. 


— 1 — 


Von den Wiener Hoftheatern 


n einem Fachblatte leſe ich über den 

Generalintendanten der Wiener Hof- 
bühnen Freiherrn von Andrian Warburg, 
daß er ſich literariſch bislang nur ſeit zwanzig 
Fahren durch eine empfindſame Novelle 
„Garten der Erkenntnis“ bekannt gemacht, 
im übrigen feine Vorbereitung im diplomati- 
ſchen Dienſt gewonnen habe. Da der letztere 
ſonſt nicht gerade die hohe Schule für einen 
künſtleriſch ſo bedeutſamen Poſten iſt, könnte 
man über die freundliche Aufnahme des 


neuen Herrn erſtaunt fein, wüßte die Mit⸗ 


teilung nicht gleichzeitig zu berichten, daß er 
ein Sohn der Tochter Meyerbeers iſt. Er iſt 
alſo muſikaliſch vielleicht etwas erblich belaſtet, 
ganz ſicher aber frei von dem Verdachte einer 
chriſtlich-germaniſchen Weltanſchauung, deren 
offenes Bekenntnis Herrn von Willenkovich 
ſo übel bekommen iſt. St. 


Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Kunſt und Mut: Dr. Karl Stotd 
a Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmerd, Zehlendorf-Berlin (WBannjeebahn) 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart 


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