Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books.google.comldurchsuchen.
|
ö
17 N
Ne,
55
g/
N
HEHE: 1 0 r
l r
. DIR
N =
Britt
s... “€. shi — ”
un rn nn nenne De Zu
7 Ye
—
hs
— —U—1ä—ô en —Eäà—
- 26 ir “ .
nne FIT} Dr ..r # ö N
—— — . 2 —— een — er
NT TI TI ne ite Tor * eee . I
A rl: * I. — I — —
en NT en nn : ee or. f . .
. N 1% ro 1E 11
.
n
.
Ro:
. 7
Eh 0 . 230070337 4
55
ö 053 78 14 V. 20 80. 2 1918 MAIN
M
.
55
5
a
45 4 x S a
BUCHBINDEREI
I. ELEKT. BETRIEB
AUGSBURG
| | 4
THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF TEXAS
Ir
Del
u ee
EN eee, Sk 5
ur 22 er
Der Türmer
Kriegsausgabe
Herausgeber: J. E. Freiherr von Grotthuß
Zwanzigſter Jahrgang Band II
(April bis September 1918)
Stuttgart
Druck und Verlag von Greiner & Pfeiffer
*
‘
Be Grat
“THE LIBRARY
THE UNIVERSITY
OF TEXAS
Inhalts⸗ Verzeichnis
Gedichte
ö Seite Seite
Baͤte: Dorfrühlingsabend . . ... . . 19 Zungnickel: FGrühlingsvefe . . . . . 104
Bauer: Zuverliht - . - .».. 22.0. 258 Koch: Junge Mutter 205
— Beſtärkunn g 485 Koppin: Abend . nine 110
Brauer: Frũhlings tag 64 — Sommerſe ele 458
— Im Gras 397 Krannhals: Oſteen 4
Britting: Der Soldaie 301 Krauß: Friede 209
Bruch: Raſt in der Mittagswieſe 448 Leffler: Einem Toten 443
— An eine Abendwolldte 496 Lermontoff: Das Gebel 255
Doderer: Nachtge fühl 555 Oſtmark: Sommerwolkten 349
Frank: Lebnskitte . . ...... 50 Seidel: Der Mutter Einkehr zu ſich ſelbſt 58
v. Grotthuß: Die Nacht 261 — Gewißheit 249
— Das Sträußlein aus Moos 352 Steinmüller: Nacht- Sonette 162
Hauck: Schickſaal ls. 344 Storck: Noſegge nu 392
— Abend 500 Anger: Nächte im Felde 550
Heidſieck: Die Schladt . . . . . . . 16 Walter: Holde Verlockung 305
— Wenn ich das erft wüßte! . 159 Weiß- v. Ruckteſchell: Paſſion 1
— Grabſchrift auf ein Kriegerdenkmal 211 — Zerſtörte Heimat . . ...... 10
Hein: Abgelöſt in den Frühling! 112 — Ewigkeiten 199
— Sommermorgen 492: A. s 547
Heitmüller: Richthofen 156 Zimmer: Theodor Storn i 295
Novellen und Skizzen
Duenſing: Knaben konzert 210 Rohde: Gedankenſplitter 76. 176
Hein: Marzmärchen 20 Schlaikjer: Der alte voß 484
— Ein halber Tag 296 Schmitt: Wie ih die Wunſchfee inter-
v. Holten: Die Mutter 449 Viedte . 459
Kohne: Konrad Nordmann 250 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland. 554
Dauerwaree 595 Schultheis: Gibralta e 102
Rreis: Wofür? 153 Stoſch: Des Echeneis letzte Fahrt. 59
Lüdtke: Die Mutter auf dem Schlacht- Von dem Zungen, der ſeine Kuh an
zt; e? 2 Een 49 Anſeren lieben Herrn verkaufte. 160
Reifinger: Der Grübler und der Krieg 11 Weer: Feldgrau und kunterbunt. 200
Müller: Das Einjährige ſtirbbtte . 259 Weiß w. Rudtefchell: „Ich hunn aach
Henne. 545 e Glick geſeigůhee g 30⁴
Aufſätze
An die Herren Lloyd George, Painlevé Bender: Clauſewiii z 450
und Wilſoon n 67 — Clauſewitz zur polniſchen und belgi-
Aus dem Briefe eines Kanoniers an ſchen Frage 509
feine Fraùuuu)uuQſͤ 65 Biedenkapp: Braſilianerdank . . 167
IV
Biedenkapp: Der Vater der fäulnisfreien
Wund behandlung
— Bureaukratie und Auslandskunde
Bierbrauer: Die deutſchen Kohlen; und
Eiſenerzlagerſtätten als Macht-
faktoren im Weltkriege
Bley: Deutſchland oder die Angelſachſen
Boettger Seni: Jenſeits von Schützen;
graben und Stacheldraht i
Corbach: Engliſch-deutſche Freundſchaft? 2
— Wilſon und das deutſche Anſehen
Diers: Von der Frauenfrage, wie ſie
heute iſt
— Was die heutige Frauenbewegung
leiſtet, und was ihr fehlt f
Döhler: Irland und England
Donzow: Maze ppa in der Weltliteratur
Duenſing: Knabenkonzert
Eſcherich: Deutſchtum im alten Polen
Froſt: Frauenpflichten
Göhler: Kleinſtadtmuſit
Gr.: Die Balten
— Die Fünfzig jährigen
— Polniſches Theater
— Die Anabhängigkeitserklärung Eft-
lands und Livlands und die ruſſiſche
Gefahr
— Arteilsfähigkeit
Politik
— Großfürft Nikolai Nitolajewitih . .
— Drei Sadverftändige des „Berliner
Tageblattes“
— Die Wolga Deutſchen
ahnungsloſe Deutſchland
— Chamberlain über die rumäniſchen
Juden
— Nervenzuſammenbrüche als Grund-
lagen deutſcher Politik
— Adel
— Mehr Vertrauen
— Der Nord im Dienſte unſerer Feinde
Grotthuß: Deutſchlands größte Gefahr
— UAnſere „moraliſche Offenſive“
Grund: Parteigeiſt und Weltpolitik
Hadina: Weihnacht und Oſtern
— Peter Rofegger
Haefcke: Neuorientierung und Ver-
ſtändigung auf deutſcher Grund-
lage
I „„ 22 00 0.
Ie 8 „„ „ 0 0°
. 2. „„
„„ 08
e282? „„
über auswärtige
und das
2 ı „ „%%; „ 26% — %» %ũ% „
Inhalts -Verzeichnis
Seite
Haefke: Die Berliner Akademie der
Wiſſenſchaften und Bismarck. . 458
— Oer Treppenwitz der Weltgeſchichte 511
Heyck: Die Wiedererſtehung ünjexee
Diplomatie. 51
Hildebrand: Der Mann ohne Vaterland 111
Smendörffer: Politik und Völkerpſycho⸗
Die an EEE REDNER 357
Klein: Goethe als Regierender .. 506
v. Kleiſt: Amerikaniſche Getreidepreiſe 302
Klemm: Viribus uni tis 5
v. Mackay f: Sibirien und das oft-
aſiatiſche Problen 455
Oehlerking: Zeſus aus Nazareth 124
Oeſtreich: Die Kriegsorganiſation der
Konſu menten 157
Pfaff: Ein Kranz auf Auguſt Vilmars
„ a Ba ee 405
Poulimenos: Griechenland im Weltkrieg 355
NR.: Der Einfluß der Seemacht im
Großen Kriege 70
Riegelsberger: Ein Schandnial auf der
deutſchen Erde 548
Seidl: Kriegs verlängerung 17
Sierke: Heil- und Unheiltunft . . . 212
Schäff: Die Wohlweislichen 481
Schlaikjer: Das Deutſchtum in der
deutſchen Hauptſta dee 70
— Die Berliner Bühnen im verfloj-
ſenen Kriegs winter 559
Schmitt: Von der Weltgeltung des
deutſchen Fil nis 256
Schuber: Von Geld und anderen Dingen 195
St : Erinnerungskrän ze 118
— Stilwandlungen und Frrungen 122
— Oeutſcher Kunſtſchutzx )) 460
Storck: Frenſſens Kriegsroman 28
— Frank Wedekind 73
— Das deutſche Buch als Faktor in
Weltwirtſchaft und Weltpolitik. 168
— Elfälfifihes - - - - » >. 20... 215
— „Notre-Dame“ als per 220
— Ferdinand Hodler 265
— Ein Hildebranddraſnaa 312
— Theater und Muſik im preußiſchen
Abgeordnetenhaune 514
— Gedenktage (Boß. — Gebhardt. —
Burkhardt. — Gounod.) . - . - - 565
— Zum Tode Peter Gaſts 558
Inhalts Verzeichnis
Submarinus: Das feindliche Doppel-
geſicht
Thieme: Dermögensabgabe oder Reichs-
ſteuer?
E6%n „% %% W % %» e % oe
99) % „ o 2 6 % o % —*
Selte
Weer: Feldgrau und kunterbunt
385 Wetzel: Volkslied und Kunſtgeſang.
Beſprochene Schriften
Mheißer: Im Oberelſa ß 220 Heuß-Rnapp: Bürgerkunde und Volks-
Bernays: Zuſammenhang von Frauen- wirtſchaftslehre für Frauen 2
fabrikarbeit und Geburtenhäufig- Levy-Rathenau: Die deutſche Frau im
keit in Deutſch land. 399 ( ²ĩð
Bötticher: Die Freyhofffss 219 Lienhard: Jugend jahre
Braunlich: Kurländiſcher Frühling im Lilienfein: Hildebrand.
Weltkr inne 119 Radomski: Die Frau in der öffentlichen
Brentano: Elſäſſer Erinnerungen 217 Armen pflege
vruck: Ich warte 219 Reventlow, Graf E.: Der Einfluß der
Her Treppenwitz der Weltgeſchichte 511 Seemacht im Großen Kriege
Frenſſen: Die Brüden 28 Schirmacher: Die moderne Frauen-
Grube: Bei deutſchen Brüdern im Ar- bewegung - ggg
wald Brafiliens . - .. 2... 119 Strupp: Unſer Recht auf Elſaß-Loth-
Hartmann: Stilwandlungen und r- Ringen
rungen in den angewandten Künſten 122
Türmers Tagebuch
der Krit 31. 77. 127. 177. 225. 270. 522. 569. 411. 462. 515.
Literatur
Das deutſche Buch als Faktor in Welt- genſeits von Schützengraben und
wirtſchaft und Weltpolitik.. 168 Stacheld rail
der Treppenwitz der Weltgeſchichte 511 Noſegger, Peteeeee eee
Ein Hildebrand Drama 312 Stilwandlungen und Frrungen
Ein Kranz auf Auguſt Vilmars Grab 405 Theater und Muſik im preußiſchen Ab-
Elſaſſiſcheeeee 215 geordnetenhauſ eee
Erinnerungskränze (Hanns v. Zobel- Theater-Rundſchau: Das Deutſchtum in
tig 7. Timm Kröger f.) 118 der deutſchen Hauptſtade
Frenſſens Kriegsroman („Die Brüder 28 — Die Berliner Hühnen im verflof-
Cedenktage (Voß. — Gebhardt. — jenen Kriegs winter
Burkhardt. — Gounod.) 3665 Wedekind, Frank
e 506
Goethe als Regierender
Bildende Kunſt
Gedenktage (Voß. — Gebhardt.
Burkhardt. — Gounod.) 565
460 Sodler, Ferdinand
Stilwandlungen und Irrungen
122
VI Anbalts-VBerzeichnis
Mufit
Seite Seite
Gedenktage (Voß. — Gebhardt. — „Notre-Dame“ als oper 220
Burkhardt. — Gounod.j) . » 563 Theater und Muſik im preußiſchen Ab-
geſus aus Nazareth (Bibl. Oratorium geordneten harr 314
von Keußler hh 124 Volkslied und Runftgefng . . . . . 407
Kleinſtadtmuſie 320 Zum Tode Peter Gaſtss 558
Noch ein Jeſus- Oratorium 450
Auf der Warte
Ach, wie ſparſa.¶ 96 „Deutſch und charakterlo . 471
, 585 Oeutſche — „Gutmütigkeit!“ . . 384
„Als Macht zu Macht“?“ 90 Deutſche Kulturpolitik 574
AND a en ar ea 526 Deutfhe Rückſtändig keit 145
Arſchluß Livlands und Eſtlands — keine Die beiden Deutſch land 44
andere Löſunnn g 534 Die beiden Erzberge nu 280
Atelierfeſte und Verwandtes 140 „Die Mehrheit dieſes Hauſess. 9
Auch das noch????“ “ 256 „die Zeit des Bettelns ift vorüber“. 474
Auch die hochgeſchätzten Amerikaner! 381 Diplomaten nach ihrem Herzen . . . 133
Auch du, Brutuoees2822mtn. 381 Ein altes Geſchichtche n 575
Auch ein Erfolg 45 Ein deutſcher Botſchafter — Englands
Aug’ um Auge, Zahn um Zahn 478 gluͤcklicher Sternn?sssssss 88
Ausländiſche Hetze, Die Großzüchtug Ein „deutſcher“ Verlegen 145
DE Ar ae a, Ä 284 Ein engliſcher Wunſch erneuert 236
Baltenlands Selbftbeftimmmgsreht . 190 Ein künftiger Botſchafter des Deut-
Bayern und Tirol 254 ſchen Reiches 52⁵
Belgien als Zugeſtändnis an die Sozial- Ein paar Stichproben 47
Demokratie? ed 421 Eine Glanzleiſtun g 285
Belgiens künftige Bündniſſe 90 Eine „innere Angelegenheit“ Rumäniens 524
„BerichtiguniFnn gg 96 England und Elſaß-Lothringen 255
Blut und Leben fürs Vaterland.. 425 Englands Gen ig 529
Blutsbewußtfein . . - - 2.2... 95 Engliſche Offenherjigkeiten . . .:. . 287
Bodenſchätze im Baltenlande . . . 255 Entwertung der geiſtigen Berufe, Die 141
Bruch mit dem „Syſtem B“, Ein. 382 Ehrendoktor Moſſe in der Erſten badi-
Das Gewiſſen der deutſchen Literatur 576 ſchen Kammer 47
Das junge Deutſch land. 37 Ehrenkreuz für Frontkämpfer, in 42
Das Lob der nationalen Armut.. 575 Erzberger auf Reiſeens 155
Das Rührmichnichtan des Großkapitals 527
Das unglückliche LSangdę 352
Delbrück, Profeſſoo e 472
Der Engländer und der Japaner 427
Der heilige Snob 479
Der Katze die Schelle umgehängt . 331
Der Mann mit der eiſernen Maske 377
Der ſchwebende öſterreichiſche Staats-
Gdanle 45
Der Weltkrieg iſt keine Familien-
angelegenheit 188
Erzberger und die katholiſchen Intereſſen 281
Es wirt 44
Eſtniſche Selbſtbeſtimmung 256
Feindliche Maſſenverbreitung der
Lichnowſkyſchen Denkſchrift . . 189
Folgerichtigkeit der deutſchen Staats-
lunit ge 475
„Frankfurter Zeitung“ und freie Mei-
nungsduße rung 572
Franzöſiſche Gefangene in die 2. Klaſſe
— Deutſche Bürger in die 3. Klaſſe! 526
233
Anbalts-⸗Verzalchnle
Franzõſiſche Patrioten
Franzöſiſche Überfegungstunft . .
Für wen kämpfen wir?
Seſundes Volks urteil...
Glückliches Oſterreich!
Graf Nirbach, der Tod und das „Ber-
iner Tageblatt“
Kling (Straf) als Reichskanzler
5. Hintze, Herr
gohenlohe-Seheimnis, Das
Zdeale Geſinnung, tadelloſer Ruf
Japan und Bethmann ⸗Erzberger-Politit
Japans großer Schlag
Jedem das Seine
Kaiſerbrief und Kamarilla
Käufliche Ehrendoktor, der
Kein Frieden ohne Rohſtoffe!
Kein Mittel iſt zu ſchmutzig!
Keine Märtyrer ſchaffennn
Kerngeſunde Heiratskandidaten :
Kinoſchönheit auf Freiersfüßen, Die
IS o 1 we „ „
Klarſtellung der Kanzlererklärung über
eis 4 . wis
Kleiner Rechenfehler, ein
Rleifts Grab und Franzoſengelder
Kolonialfilm, Ein deutſcher
„Kramarſch ausgewieſen!“
Res und Recht.
Krim und Pafewalt
Kuhlmann
Rühlmannrede, Der Kern der
Kunſt und Politik
Kurzſichtig keit der Hochfinanz
Lichnowſky-Einfluß
Lichnowſky Skandal, Der
Livlands und Eſtlands Selbſtbeſtim-
mungsrecht
Lloyd George oder — „Vorwärts“?
London — Weltbankhaus geweſen!
Metallbe ſchlagnahme, uur
Noskauer „Genoſſe“ gegen den „Vor-
wärts“, Ein
Nach dreieinhalb Kriegsjahren!
Nachrichten diene
Neutralität des Päpſtlichen Stuhles,
Die
Nicht ſachliche Gründe, ſondern „öffent-
liche Meinung
Noch eine Erinnerung an Herrn v. Beth-
mann-Hollweg
„Norddeutſche Allgemeine“ bittet um
Verzeihung, Die
Norweger gegen den „ ſcheinheiligen
Humbug“, Ein
Nur Mangel an Regie?
„Ohne Schuld“
Oſterreichiſche ZenſhhWWW2l’
Politik und Kriegführunng
Politiſcher Beruf und politiſche Zurech-
nungsfähigkeit
Polniſcher Güteraufkau ... .
Prinzen des Hauſes Bourbon-Parma,
Die
Profeſſor Delbrüds Pathologik
Propaganda⸗Miniſterium, Ein .
Reichsſchädling in Litauen, Der
Reichstag im Volksurteil, der
Ruſſiſcher als ruſſiſ - - - - - - -
„Rußland“ als Strafe
Schafft Politiker!
Scheidemanns Zuſammenarbeit
dem Feinde
Scherr, Johannes,
Chauvinismus
. „% „% ꝛaL—»n „„ —e
. 0 08 8 . „
SE % „„ RL 8 „„ 0‘
mit
über deutſchen
Schmock-Geiſt
Schwarze Liſten
Schweiz — unabhängig? Die
Sozialdemokrat über den Anſchluß
Baltenlands, Ein
Sozialdemokrat über die „baltiſchen
Barone“, Ein
Soziale Fuͤrſorge
Starker Tabak
Taſtverſuch des Grafen Czernin, Ein
Tirpitz
Traumwandler und Märtyrer
Trefflicher Merkſpruch, Ein
Um unferer „guten Beziehungen“ willen
Anbegreiflich oder unglaublich?
„Und dieſe Leute dirigieren eine Mil-
lionenpartei!“
„Angehörige Bezeichnung“, Eine
Unnötige Wertvernichtung
Valuta
van de Velde, Herr
„Verantwortung“, Die
DL EL „„ „„ „„ „„ „„
» W » W 0 a 2 0
Ie ˖%—·ů·tſ%m;ʒͤ % ¶ 5 8 e»»„ „ 6
8 W »% „ 0
9 2 W „ „„ „ % » „„
9h83 2 „„ „„ „ „ 69
VIII
Seite
Verg leiaRg hh 48
Verhängnisvoller Fehler, ein. . 421
Verpõdbe lung 479
Verſchleppten Balten in Sibirien, Die 157
Verſchleuderter Schatz, ein 426
Verſchmähte Fügung - g 285
Volksrat für auswärtige Intereſſen 332
Von den Weiner Hoftheatern . . . . 576
Von Northeliffe zu Lammald. . . 92
Wanderflegel und Wandervögel 528
Waruſmnmmnm ie 5 188
Warum England ein Großpolen will. 522
Inhalte -Verzeichnis
5 N Seite
Wie erſcheint unſern Kriegsgefangenen
die Heimand .. 236
Wie Erzberger zu feinem Einfluß ge-
ang!!! 232
Wie ſie es machen 429
Wie werden wir dajtehen? . . . . . 474
Wo bleibt das deutſche Intereſſe? .. 191
Wogegen der Fall Lichnowſky ver-
ſchwindee????ʒ;?;: 154
Woher kommt's s? 4
Wohlverd ien 572
Wozu in die Ferne ſchweifen? 234
Warum greifen die Engländer an?. 572 Zeitgemäße Betrachtung, eine 89
Warum haben wir noch keinen Frieden? 470 Zeitgeſchichtliche Feſtſtellung, Eine . . 138
Wahrzeichen deutſcher Selbſterniedri⸗- Zuckerfabrik Stuttgart, die 238
gung 385 Zum Blutabzei cen 535
Was dem Baltenlande not tut 232 Zur engliſch- nordamerikaniſchen Ver-
Wem folgen ies 334 brüderung . » 222000. 424
Weltwirtſchaftlicher Generaliſſimus, Ein 476 Zur Pinchologie des Parmabriefes 186
Wenn der andere aber nicht will —! 42 Zur Reform der Diplomatie 426
Wer find diefe Leutes 451 Zur Strecke gebrachte 480
Wie es ſein — könnte 380 Zböoeigleiſige Meinungsſchiebung . . 378
Kunſtbeilagen und Illuſtrationen
Heft Heft
Duſchet: Nedarjtädthen . . » 2... 11 König: Am Weiher... 2220. 19
Gärtner: Der Müber . . . 2.2... 21 Sander-Herweg: Interieur 16
Heyne: Kruzifrtrrrrr nnn 15 Strahtmann: Nach dem Regen. 15
Notenbeilage
Faißt: Herr, du meine Stärke. — Frühlingslied. — Herr Walter von der Vogelweide
C/]... ⅛ð⅛ d ⁰ Be 15
Kruzifix Heinrich Seyne
r
S —
Beilage zum Türmer)
. 4H. LIBRAIK
ARE UNIVERSITY
OF TEXAS
— —
2
—
—
>»
|
nn — AZ N Kr
— IR NG DIE, 50 5
. 2 RK /)
EC GERN | 25 |
—
—
ul
|
5
2
ze
|
1
IE
» “
79
S
7 AN. A
* N
* INN
WERE
1
NV. N
er
Rrtegsansgabe 0
Peransarber: J €. Rreiberr bon Grotthnh
ne — — —
ET , ZI IEEER
An a. > nn
* *
> =, ® 5 4
= — . a —
2 — =
A Jabra. Erſtes Aprilhefr 1218 Bet
Beft 15
Paſſion Won Alice Weiß⸗v. Rudtteſchell
3 Nebel, Nebel, ſink auf Weltenbrände!
Blut'ger Regen, ſtröme doch zu Ende!
Tod! erſchöpfe deine Hungersgier!
Keiner kennt ſich — wir ſind nicht mehr wir! —
Keiner kann in dieſen Schreckenstagen
Noch ſein Bild — das Bildnis Gottes — tragen —
In die Stirnen gräbt ſein Mal das Tier! — 5
Jeſus Chriſtus ſteigt vom Himmel nieder,
And ſie ſchlagen ihn ans Kreuze wieder.
Und die Sonne will nicht fürder ſcheinen,
Und die Frauen müſſen bitter weinen.
Durch Marias Seele geht das Schwert,
Nacht wird Tag — und Tag in Nacht verkehrt,
And in Finſternis ſtirbt der Gerechte.
Hocken um das Kreuz die Kriegersknechte,
And ſie würfeln um den Rock des Herrn...
And der Oſtertag iſt nicht mehr fern.
2 2
Der Türmer XX. 15 = - |
2 Habina: Weihnacht und Oſtern
Weihnacht und Oſtern
Von Prof. Dr. Emil Hadina (Wien)
Tannenzweig. Matt und trocken, hatte er doch ſein grünes Gewand
zu retten gewußt, und ein dünnes Engelshaar, das durch feine müden
Nadeln ſchlängelnd hinlief wie ein feiner, ſilberner Märchenbach
durch öden, verwunſchenen Wald, gab ihm noch etwas Glanz und reputierliches
Ausſehen. Reſte einer verſunkenen Welt, einer ſagenhaft verklungenen Zeit voll
Licht und Zauberkraft. Doch zur Dämmerſtunde, zwiſchen Tag und Dunkel, er-
zählte das Zweiglein noch immer ſein verhalltes Märchen. Als der Weihnachts-
baum den Weg des Srdifchen ging und in praſſelnden Feuergluten den Dank fand,
den wir ſo oft für treue Liebe bereit haben, da blieb ein Zweiglein verſchont, damit
den heimatloſen ſeligen Traum hier ein letztes Aſyl erwarte. Und in ſtillen Stunden
ward dieſer Traum der längft verrauſchten Weihnacht mit aller Süße und Wehmut
in dem engelshaargeſchmückten Tannenzweig noch immer lebendig. Während
draußen die Schlittenſchellen klangen, rauſchten bei mir noch immer aus weiter
Ferne die Weihnachtsglocken, alle Liebe jener begnadeten Zeit wandelte chriſt⸗
nachtſtill um meine verträumte Schreibtiſchecke, und die armſelige Tannenreliquie
glühte in ſtolzer Erinnerung zu neuer, duftender Herrlichkeit auf, wenn meine
Lippen, als ſprächen fie ein dankbares Abendlied, halb unbewußt wieder begannen:
„Stille Nacht, heilige Nacht.“
Heute aber fand ich einen neuen Gaſt im Zimmer, das Kind einer ganz
anderen Welt: ein junges, ſilbergraues Weidenkätzchen in ſamtenem Kleid, ein
zartes Frühlingsprinzeßchen mit hellen Oſtergedanken. Voll Sonne und Leben
blühte ſogleich das Zimmer. Der Weihnachtszweig ſah, daß fein Feierabend ruhm-
los endigen müffe, und ließ ſich und feinen Gram in den Flammen erſterben. An
ſeiner Statt fand das lenzliche Palmenfräulein Heimat und Recht hinter dem
Bildrahmen. Wie ein Totenbann fiel es von mir, Weihnacht war ausgeträumt,
Frau Oſtara herrſchte, die junge, ſonnige, mit dem ſieghaften Lachen.
Weihnacht und Oſtern — fie find zwei Rivalinnen, die den Erfolg wechſelnd
ſich abringen, jahraus, jahrein. Und doch innig verwandte Geſpielen, die Zwillings-
ſchweſtern Moll und Dur, ſinnvolle Bilder deutſcher Sehnſucht und deutſcher Kraft.
Wohl waren es urſprünglich rein chriſtliche Feſte und trugen als ſolche ein
graues Kleid ohne nationale Farben. Doch das deutſche Volk ſchloß die blaſſen,
blutarmen Fremdlinge mit Wärme ans Herz und goß ſein rotes, pochendes Leben
in ihre Adern. Und ſpendete hier ſehnendes Träumen, dort tatenfordernden Lebens-
trotz; hier märchenhaft holde Poeſie voll ſinnender Kerzen und Silberfäden, dort
die friſche Herbigkeit jauchzender Morgenverheißung und Sonnenahnung; hier von
ſeinem frommen, gläubigen Kinderherzen und dort vom ſaftigen Mark ſeiner
ſtarken, ſchaffenden Arme. So wurden Weihnacht und Oſtern die heiligen Feier-
zeiten des deutſchen Volkes. —
Weihnacht iſt ein Feſt der Enge, einer trauten, behüteten Heimlichkeit.
Feſte Wände, künſtliches Licht und künſtliche Wärme wollen die Abhängigkeit von
Hadina: Weihnacht und Oſtern 3
dem großen ſtürmenden Leben da draußen bannen. Weihnacht ſchließt ein paar
Menſchen, die ſich gut find, in einem lieben ſtillen Winkel zu einer kleinen eigenen
Velt ab und wölbt aus Chriſtbaumſternen und Flittergold einen freundlichen
Himmel darüber. Alle Liebe zum Vertrauten, Übertommenen, zur Überlieferung
und zu altem Brauch, das fromme Gedenken auch gegen das unſcheinbarſte Ding,
wenn eine liebe Hand nur darüberftrich oder die kleine Gabe unter den Weihnadte-
baum legte, dieſe zarten Saiten der Volksſeele kommen zur Chriſtzeit wie innige
Veihnachtsroſen zur Blüte.
Oſtern aber ruft gebietend hinaus in die große, wirkliche Welt, wo die
Säfte des Lebens kreiſen und nach Geſetzen ewiger Arbeit aus den Mühen des
Heute ein ſtarkes Morgen erſtehen ſoll. Da winkt fo viel Schaffensfülle und Wirk-
möglichkeit, fo viel braches, unbebautes Schollenland, fo viel unerreichte, noch un-
genoſſene Ferne. Und die deutſche Sehnſucht ins Große und Weite, dieſe zweite
Seele in der Bruſt unſeres Volkes, der Wille zur Tat hüllt ſich in Oſtergewandung,
und am Feſte der Auferſtehung ſpricht dieſer Prediger ſeine machtvollſte Sprache.
Über den Feſttagen der Weihnacht ſchwebt ſtill der Engel der Vergangen-
heit. Für uns Erwachſene wenigſtens, denen das Glück unmittelbaren Weihnachts-
genuſſes verloren ging. Auch wenn wir der Gegenwart froh ſind, wenn helle
Kinderaugen blitzen und jubeln, wenn ein freundliches Geſchick es noch gnädig
verlieh, Weihnacht zu halten im Kreiſe all derer, die unſere Kindertage erhellten
und ſonnten, borgt dieſes Freudenfeſt dennoch immer ſeinen ſchönſten Glanz von
der Krone verſunkener Kindheit. Das ſtellt all ſeinen Lichtern ſeltſame Schatten zur
Seite, gibt aller freudigen Oberfläche eine wehe Tiefe. Und der ſchwermütige
Gedanke der Vergänglichkeit flicht feine dunklen Ranken gerne ein in die ſchimmern⸗
den Silberfäden und Chriſtbaumketten. Ver ſah nicht mitten im froheſten Glück
des heiligen Abends einen jähen Augenblick das graue Schattenbild kommender
Weihnachtsfeſte, vielleicht ſchon des nächſten Chriſtabends, wo alle Liebe, alle
Güte und Laune des lebendigen Heute in ewigem Schweigen, in ewiger Kälte
erſtarb! Vergangenheit und Vergänglichkeit heiligen freilich die Weihnacht, da
fie die kleine Stunde froher Gegenwart in den ſtillen, geheimnisvollen Ring ver-
ſunkener und ungeborener Zeiten fügen. Aber mit dunklen Untertönen, zu
Moll gedämpft, klingt darum allen tieferen Naturen das freudigſte RNauſchen der
Weihnachtsglocken, der hellſte Jubel dieſer ſeligen Zeit.
Oſtern läutet mit den frohen und ſtarken Glocken der Zukunft. Hier ift
alles Hoffnung und Lebenskraft, eine ſtolze Erwartung freier, frühlingsheller
Sonnentage. Tod, wo iſt dein Stachel, Hölle, wo iſt dein Sieg?! Es wirkt eine
unbezwingbare Kraft in dieſem alten frommen Oſtertrotz, wie immer man zur
Kirchenlehre ſteht. Jeder Funke von Wehmut, jeder Schatten reſignierender Be-
trachtung fehlt, vor den Strahlen der Oſterſonne bleicht alle rüdblidende Sehn-
ſucht wie ein nächtlicher Traum. Wir alle blicken zu Oſtern in die kommende Zeit,
wir alle glauben an eine Zukunft und recken ihr freudig die Arme entgegen. —
Und Weihnacht iſt endlich ein Feſt der Einbildungskraft und des Mär-
chens. Nicht nur, weil ſie in winterlicher Dunkelheit auf Augenblicke ein Licht
aufleuchten läßt, nicht nur, weil ſie unzählige kleine Welten baut und ihnen goldene
Träume und ſehnſüchtige Kindergedanken ſpinnt, nicht nur, weil ſo raſch wie
4 N Rrannhals: Oſtern
Märchenzauber die Poeſie dieſer Zeit wieder zerbricht. Die ganze Idee dieſes
Feſtes, wie es im deutſchen Volke heimiſch wurde, iſt ein wunderbar ſchöner, tief
ergreifender Märchentraum. Es iſt die Botſchaft der Liebe, die im letzten Grunde
die Welt beherrſcht, zu der die Menſchheit berufen iſt. Mich erſchüttert es immer
aufs neue, wenn ich am Weihnachtstag, während alle wieder einmal ans goldene
Märchen glauben, die einzigartige wehe Pracht der Einleitungsſätze beim Evange⸗
liſten Zohannes leſe: „Das Licht ſcheinet in der Finſternis — und die Finſternis
hat es nicht begriffen. Der Herr kam in ſein Eigentum — und die Seinen nahmen
ihn nicht auf.“ Das iſt die tiefe Tragik alles Menſchentums, daß es nach Licht ruft
und nach Erlöſung — und daß es das Licht nicht begreift und ſeine Erlöſer kreuzigt.
Nur in verſonnenen Märchen findet es eine harmoniſche Welt, und Weihnacht
iſt der ſchönſte und ergreifendſte dieſer ſehnſüchtigen Märchenträume.
Aber Oſtern iſt Wahrheit und Kraft. Klar und hell liegt die Welt, furcht-
los und feſt ſchauen wir ins Auge der Wirklichkeit. Kein Märchen verſchönt ſie,
keine ſüße Lüge ſpinnt über die Nachtſeiten des Lebens einen flitternden Traum.
Wir nehmen es doch mit ihm auf, wir find groß und mündig und ſcheuen auch herbe
Wahrheiten nicht. Denn buntbewegte, ewig ſich verjüngende Kräfte ſprühen in
aller Geſtaltung des Lebens, ſprühen auch in unſeren Armen, in unſerem Hirn.
Dieſe Wahrheit tröſtet und erweckt eine neue, ſtarke, märchenloſe Gläubigkeit. Von
den Hügeln, auf die der freie Schein der Oſterſonne fein goldenes Bad ergießt,
weht friſcher Wind. Es geht Oſtern entgegen, dem Leben und der Kraft
Doch wir brauchen beides: Märchen und Wahrheit, Sinnen und
Schaffen, Enge und Weiten, Vergangenheitsliebe und Zukunftshoff—
nung. Wir brauchen Weihnacht und Oſtern. Aus beiden bauen wir das Haus
unſeres Lebens.
Oſtern Von W. A. Krannhals
Es wölbt die Nacht im Schein der Sterne Aus allem Sterben, aller Gräber Stille
Den Himmelsraum, Blüht neuer Glanz,
In weiter ſonnenheller Ferne Pochender, junger Sonnenwille
Heben ſich kaum Windet den Kranz,
Die Frühlingsblüten mit leiſem Beben. Glüdhafte Stimmen zum Himmel ſteigen,
O du heiliges ſüßes Erdenleben Grünende Zweige ſich zärtlich neigen
Erwady’ vom Traum! Sm Flimmertanz.
Nun hebt auch ihr euch auf aus all dem Bangen
Und zaget nicht!
Die ſchmerzende Feſſel, die euch gefangen,
Zerbricht, zerbricht!
Sehet, die ſtrahlenden Engel ſchreiten
Über die wachende Erde und breiten
Siegendes Licht!
2
*
Rlenun: Viribus unitis 5
Viribus unitis
Von Max Klemm
Vorbemerkung der Schriftleitung: Ohne nach einer Richtung vorgreifen zu wollen,
555 wir dieſe den Nerv unſeres Volkslebens berührenden Vorfchläge zu eindringlicher Erörterung.
ie Finanzminiſter der einzelnen Staaten ſind gegenwärtig nicht zu
beneiden. Die Flut der immer höher anſchwellenden Kriegslaſten
) droht ihr ſorgſam zuſammengezimmertes Gebäude, wenn nicht gar
ne wegzuſchwemmen, ſo doch den Aufenthalt darin ſehr unwohnlich zu
hoben. Bis jetzt find wenig Vorſchläge bekanntgeworden, die imſtande wären,
dem ſchweren Übel gründlich und auf die Dauer abzuhelfen. Und doch iſt es un-
bedingt notwendig, wenn die Lebenskraft des Staates ihre wohltätige Wirkung
auch ferner betätigen und ſich weiter entwickeln ſoll, daß zwei Hauptfragen gelöft -
oder mindeſtens einer Löfung nahegebracht werden ſollen.
Oie erſte Frage iſt: Auf welche Weiſe und mit welchen Mitteln laſſen ſich die
unheimlich anſchwellenden Kriegslaſten am zweckmäßigſten verzinſen und all-
maͤhlich abbauen?
And die andere Frage, die auf den erſten Blick dieſer vollſtändig fern zu liegen
ſcheint, aber doch mit ihr auf das engſte verwandt iſt, lautet: Wie läßt ſich die in
dem Bund der mitteleuropäiſchen Staaten vereinigte Kraft- und Machtfülle am
beſten und ſicherſten, möglichſt ohne Anwendung vertraglicher Zwangsmittel,
für die Zukunft kraftvoll und lebensfähig erhalten und verwerten?
Es iſt kein Zweifel, daß im letzten Grunde der Staatenbund in dieſem Kriege
den Sieg davongetragen haben wird, dem es am erſten gelingt, ſeine Finanzen
wieder auf einen erträglichen Fuß zu bringen. Dieſem Ziel ſtehen die größten
Schwierigkeiten entgegen. Vor allem iſt es zunächſt die ins Rieſenhafte angewachſene
Höhe der Kriegsſchulden, deren Höchſtpunkt noch lange nicht einmal erreicht iſt, die
jedes, ſelbſt das kräftigſte Mittel als unwirkſam erſcheinen läßt. Was bisher geſchehen
iſt, ſelbſt die inzwiſchen durch den Reichstag im vorigen Frühjahr erledigte Steuer-
vorlage trägt den Stempel des Verlegenheitsmittels auf der Stirn. Das Mittel kann
nur vorübergehend wirken, gründlich und ausgiebig wirkt bis jetzt keines der ange;
wandten Mittel. Die Zeit der Steuerchen nach der Art der Streichhölzer, Cham
pagner- und Automobilſteuer iſt vorüber. Es wäre unklug, wollte der Staat wieder
in ſeinen alten Fehler verfallen und die Finanzkrankheit mit einer Menge kleiner
Pillen zu heilen verſuchen, wo nur große durchgreifende Gewaltmaßregeln helfen.
Man hat ſchon, namentlich von ſozialdemokratiſcher Seite, den Vorſchlaͤg
gemacht, den Abbau der Schulden in der Hauptſache auf den Beſitz abzuwälzen
und eine einmalige Vermögensabgabe bis zu 50 „ ſogar befürwortet, ohne dabei
zu bedenken, welche große Gefahren ein ſolcher Vorſchlag in ſich ſchließt, denn
man weiß, daß es die Henne abſchlachten hieße, die die goldenen Eier legt, wollte
man die Vermögen ſo belaſten, daß jede fernere Vermögensanſammlung eine
Gefahr für den Beſitzer in ſich ſchlöſſe und dadurch unmoglich gemacht würde.
6 Rlemm: Viribus unltis
Die Vermögen follen natürlich herangezogen werden, jedoch in vernünftigen Gren-
zen, und innerhalb ſolcher iſt es unmöglich, dieſer ungeheuren Kriegslaſt wirkſam
beizukommen.
Als durchgreifende Mittel fallen einem zunächſt Monopole ins Auge. Allein
auch dieſe bieten beträchtliche, ja faſt unüberwindliche Schwierigkeiten. Ein Tabats-
monopol findet eine ſo umfangreiche und blühende Induſtrie, daß das zur Ab-
löſung notwendige Kapital fo ungeheuer fein müßte, daß der Ertrag ſchon von
vorneherein in Frage geftellt wäre. Mehr Ausſicht böte ein Getreidemonopol, zumal
da man bei der gegenwärtigen Verſtaatlichung des ganzen Getreide- und Mehl-
vertriebs auf ſchon Vorhandenes aufbauen könnte. Allein die deutſche Regierung
ſcheint bis jetzt dieſer Maßregel nicht ſehr geneigt zu ſein. Wenigſtens wurde die
erſte Nachricht von der Einführung eines Getreidemonopols mit auffallendem Eifer
amtlicherſeits beſtritten. Dies iſt wohl erklärlich, denn ein deutſches Getreide-
monopol wäre eines der härteſten Schläge von uns gegen unſere treuen Bundes-
genoſſen von Oſterreich-Ungarn.
Und doch muß ſchließlich ein Weg gefunden werden, der Licht in die ver-
wirrten und dunkeln Finanzverhältniſſe bringt. Und der Gedanke iſt naheliegend,
ob nicht das, was dem einzelnen Staat innerhalb ſeiner beſchränkten Grenzen
aus eigener Kraft zu erreichen nicht möglich iſt, nicht gewonnen werden kann,
wenn die vielen verſtreuten Kräfte geſammelt und zu einem ungeheuren großen
Kräftebund vereinigt werden, ſo daß ſchließlich der Erfolg nicht ausbleiben kann.
Dieſe Gedankenverbindung hat den in weiten Kreiſen als hervorragenden Wirt-
ſchaftspolitiker bekannten Oberbürgermeiſter Dietrich von Konſtanz veranlaßt,
zu einem außerordentlichen Vorſchlag, der nicht nur alle beſtehenden großen
Schwierigkeiten zu beſeitigen imſtande wäre, ſondern der auch die wichtigſten
ſtaatsrechtlichen Weiterungen zur Sicherheit des Deutſchen Reiches und des be-
ſtehenden Bundesverhältniſſes der Mittelmächte zur Folge hätte.
Er ſchlägt vor, ein Getreidemonopol einzuführen, aber es gleichzeitig
auf Oſterreich-Ungarn, und um es vollends ganz wirkſam zu machen, auch auf
Bulgarien und Rumänien auszudehnen. Dieſe tief in die Verhältniſſe der
genannten Staaten eingreifende Maßregel hat als logiſche Folge die Notwendigkeit
nach ſich zu ziehen, daß ſämtliche Staaten, die an dem Getreidemonopol teilnehmen,
auch ihre ſämtlichen Kriegsſchulden zuſammenwerfen und gemeinſam
verwalten müßten. Es ift ohne weiteres einleuchtend, daß eine derartige Gewalt-
maßregel einen verblüffenden Eindruck machen muß, weil ſich alle Einzelfolgerungen
im Augenblick gar nicht überſehen laſſen. Aber bei gründlicherer Prüfung werden
ſich ſo außerordentliche Vorteile zeigen, daß mindeſtens eine eingehende Prüfung
des ganzen Planes ſich ſehr empfehlen dürfte.
Vor allem ließe ſich ein ſolches Getreidemonopol als eine Finanzquelle erſten
Ranges mit einer Ergiebigkeit und einer ſich allen Verhältniſſen anpaſſenden
Gleichmäßigkeit nutzbar machen, wie man ſie bisher noch nicht erſchaut hat. Und
dieſes Ziel würde erreicht, ohne daß irgendwelche Verteuerung des Brotes not-
wendig wäre. Der Znlanderzeuger in ſämtlichen genannten Staaten wäre die
Sorgen, wie und wo er ſein Getreide unterbringen ſoll, für immer los und hätte
Klemm: Viribus unitis 7
mit einem feſtſtehenden Preiſe zu rechnen. Nach Kriegsende muß man ſowieſo
mit aller Sicherheit damit rechnen, daß von einem Sinken der Getreidepreiſe auf
dem Weltmarkt gar keine Rede fein kann wegen der ſchlechten Welternte und an-
geſichts des Tonnagemangels zum überſeeiſchen Transport. Welcher Vorteil wäre
es für den Verbraucher, wenn ihm bei ſolchen Verhältniſſen ein mäßiger Brotpreis
ſichergeſtellt wäre! Wie ließe ſich ferner ein ſolches Rieſenmonopol zur Ausnützung
der Weltmarktkonjunktur in weiteſtem Maße verwerten! Ja der Weltmarktpreis
könnte entſcheidend dadurch beeinflußt werden. Eine politiſche Waffe erſten Ranges
hätten wir in der Hand, indem wir durch Kauf oder Verweigerung der Abnahme
von Getreide auf Staaten, die darauf angewieſen find, viel entſchiedener ein-
wirken könnten, als auf dem Wege des Zollkriegs. Dabei iſt die Wirkung eines
ſolchen Getreidemonopols nur um ſo umfaſſender, je mehr Getreidearten in das
Monopol einbezogen werden. Es iſt eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob es ſich
auf Weizen beſchränken, oder Roggen, Gerſte und Mais mit umfaſſen ſoll. Tritt
man dieſer Maßregel näher, ſo empfiehlt es ſich, ſie gleich ſo umfaſſend als möglich
auszugeſtalten.
Für Oſterreich, Ungarn und Rumänien wären die Vorteile womöglich noch
größer als für Deutſchland. Namentlich ungarn und Rumänien find auf die Aus-
führung ihres überſchüſſigen Getreidevorrates angewieſen. Für fie iſt es Lebens-
frage, daß ihre Landwirtſchaft regelmäßigen und gutbezahlten Abſatz hat. Dieſer
ließe ſich nicht beſſer und ſicherer gewährleiſten, als mit dem Monopol. Die Sorge
der ſchwierigen und teueren Verfrachtung wäre behoben, da das Monopol ſelbſt
dafür ſorgen würde.
Man weiß, daß die wirtſchaftliche Annäherung von Deutſchland und Öfter-
reich- Ungarn ihre Hauptſchwierigkeit in dem wirtſchaftlichen Gegenſatz des Cha-
rakters der beiden Länder hat. Während Oeutſchland neben ſeiner Landwirtſchaft
hauptſächlich feine bedeutende Weltexportinduſtrie zu berückſichtigen hat, wird der
Charakter, je weiter wir nach Oſten kommen, immer mehr landwirtſchaftlich.
Ungarn und Rumänien vollends ſind rein Landwirtſchaft treibende Länder. Unter
dieſen Umſtänden iſt eine wirtſchaftliche Annäherung außerordentlich erſchwert
wegen der Verſchiedenheit der Intereſſen.
Aber mit einem Schlag wären alle dieſe Widerſtände und Schwierigkeiten be-
hoben durch ein gemeinſames Getreidemonopol. Es wären für alle Länder die
landwirtſchaftlichen Intereſſen gleich, und jedes Land wäre in der Lage, da für feine
Land wirtſchaft geſorgt iſt, feinen anderen Aufgaben, fo wie es feine eigenen Vor-
teile verlangen, unbeeinflußt nachzugehen. Man wird Sſterreich- Ungarn und Bul-
garien nicht zu nahe treten, wenn man die Tatſache erwähnt, daß die Schuldenlaſt
dieſer Staaten, die ſchlechte Valuta und die drohende Gefahr einer Papiergeld-
wirtſchaft ein wenig erfreuliches Bild von ihrem Finanzſtand geben. Die Vorteile
eines ſolchen gemeinſamen Monopols zuſammen mit der gemeinſamen Kriegs-
ſchulde nverwaltung wären fo groß, daß man eine Ablehnung etwa aus falſchem
Stolz nicht verſtehen könnte.
Die Verwaltung des zwiſchenſtaatlichen Monopols und der gemeinſamen
Kriegsſchulden müßte in die Hand gemeinſchaftlicher Organe gelegt werden, zu
8 8 | Rlemm: Viribus unitis
denen die fich beteiligenden Staaten je nach der Größe ihres Intereſſes im Ver-
hältnis eine Anzahl teils von den Staatsoberhäuptern zu ernennenden, teils von
den Parlamenten zu wählenden Vertreter ſtellen würden. Der Sitz der een
wäre in Berlin, die Verhandlungsſprache deutſch.
Die Erträgniſſe des Monopols kämen nicht zur Verteilung, ſondern würden
zur Verzinſung und Tilgung der Kriegsſchulden gemeinſchaftlich verwendet.
Da hiezu aber die Einnahmen nicht vollſtändig ausreichen würden, fo ſchlägt
Dietrich als eine weitere Geldquelle eine Kohlenſteuer in Form einer Förde-
rungsgebühr vor. Es darf dabei eingeſchaltet werden, daß Oberbürgermeijter
Dietrich dieſe Kohlenförderſteuer dem deutſchen Reichsſchatzſekretär ſchon im Sep-
tember 1916 mündlich in Vorſchlag gebracht hat. Es liegt nun vor allem die Frage
nahe, ob es ſich empfiehlt, auch dieſe Kohlenförderungsſteuer auf alle Staaten
des Getreidemonopols auszudehnen, und dieſem Gedanken ſteht hindernd im Wege,
daß Oſterreich- Ungarn bedeutend weniger Kohlen ſchürft als Deutfchland, und daß
Rumänien überhaupt keine Kohlen hat. Deutſchland würde alſo bei einer Aus-
dehnung der Kohlenſteuer auf alle genannten Staaten eine ungeheure Summe
frei und ohne Gegenleiſtung an ſeine Bundesgenoſſen aus der Hand geben.
Dennoch aber wäre die Ausdehnung diefer Kohlenſteuer auf alle verbündeten
Staaten warm zu befürworten, denn die unwägbaren Gewinne einer ſolchen
Gemeinſamkeit auf ſtaatsrechtlichem Gebiet in Form einer unabſehbaren Kräftigung
des ganzen Mächtebundes wären fo groß, daß ſich über den Geldverluſt wohl weg-
gehen ließe. Es könnte auch vielleicht in Erwägung gezogen werden, ob nicht Ru-
mänien zu einem gemeinſchaftlichen Petroleummonopol gedrängt werden
könne, wodurch ſich wieder einige 100 Millionen zugunſten der Gemeinſamkeit
gewinnen ließen. Wenn ſchließlich Bulgarien bei dieſer Neuordnung am meiften
begünſtigt wäre, fo hätte es das auch wohl verdient. Bedenkt man, welchen Bienft
es uns durch feinen rechtzeitigen Übertritt auf unſere Seite geleiſtet hat, was es
uns erſpart hat, dadurch, daß es unſere Feinde nicht unterſtützt hat, ſo wird man
auch fein Einverſtändnis geben können, ihm eine beſondere Vergünſtigung zu⸗
kommen zu laſſen.
Eine gemeinſame Verwaltung von Getreidemonopol, Kohlenförderſteuer
mit Ausfuhrgebühren und dem Petroleummonopol würde den Betrieb verein-
fachen und verbilligen, man würde Beamte ſparen und überſichtliche Verhältniſſe
ſchaffen. Es iſt wohl anzunehmen, daß dieſe drei Rieſenmonopole bei richtiger
Verwaltung und Ausnützung, namentlich wenn ſie einmal einige Jahre ungeſtörten
Fortgang hinter ſich haben, imftande find, die Verzinſung und Abbauung der ge-
meinſamen Kriegsſchulden zu bewältigen. Aber damit iſt ihre volle Wirkſamkeit
noch nicht erſchöpft. Vielmehr tragen fie den Keim zu weiterer fruchtbarer Ent-
wicklung in ſich. Es läßt ſich wohl mit der Zeit an das Petroleummonopol und bie
Kohlenfördergebühr ein Elektrizitätsmonopol anſchließen. Welche Ausſichten
öffnen ſich, wenn man mit dieſer Neuordnung der Finanzen zugleich die ganze
Kanalverbindungsfrage unter allen dieſen Ländern zur Löſung bringen
würde! Wenn nur jährlich aus den Rieſenerträgniſſen 100 Millionen Mark ver-
traglich abgezweigt würden, für Ranalbauten, fo wären in abſehbarer Zeit die
Aemm: Viribus unit is N N 0
—
donau-Oderverbindung, die Regulierung des Oberrheins bis zum Boden-
fee, die Donau-Main verbindung, die Donau -Elbe verbindung, die
Donau-Bodenfeeverbindung und die Schiffbarmachung der Donau bis
Ulm, ferner die vielen Ranalbauten Oſterreichs und Ungarns ohne Belaſtung
der angrenzenden Staaten fertigzuſtellen.
Welcher Vorteil wäre es, wenn ſtändig ohne Unterbrechung die Laſtkähne
Kohlen vom Oberrhein auf dem Waſſerwege nach dem fernen Oſten bringen
und auf der Kückfahrt landwirtſchaftliche Erzeugniſſe nach Deutſchland ſchaffen
könnten!
Und dann noch ein Gedanke. In den Kriegsanleihen aller verbündeten
Staaten ſind unermeßliche Summen baren Geldes feſtgelegt. Schon heute
bildet es eine ſchwere Sorge der Finanzleute, woher fie das genügende Bargeld
beiſchaffen ſollen, wenn nach Friedensſchluß namentlich die mittleren und kleinen
Anleihezeichner ihr Geld notwendig brauchen. Die ODarlehenskaſſen reichen bei
weitem nicht aus. Da ließe ſich wohl denken, daß bei dieſen ungeheuren Umſätzen
dieſer gemeinſamen Monopolverwaltung auch ein großer Teil ſich zur Beftie-
digung dieſes Bargeldmangels in Form von Vorſchüſſen oder Darlehen nutzbar
machen ließe.
Wie gewaltig und trotzig iſt doch der Gedanke, daß auf dieſe Weiſe der ganze
mitteleuropäifhe Staatenverband gegen alle Zwiſchenfälle und Gefahren mit
feiner Volksernährung ſichergeſtellt wäre auf alle Zeiten! Und zugleich
wäre eine Grundlage geſchaffen, die die Verbündeten enger und feſter aneinander-
ſchließen würde, als es Verträge je vermöchten. Ein fruchtbarer Boden wäre
geſchaffen, auf dem nicht nur jeder der beteiligten Staaten, weil er mit einem
Schlag feine ſchwerdrückenden Finanzſorgen los wäre, ſich mit unge-
ſchwächter Kraft den eigenen wichtigen Staatsaufgaben zuwenden könnte, ſondern
es wäre auch Raum gegeben zum Ausbau weiterer den Vorteil aller fördernder
Einrichtungen.
Es liegt klar auf der Hand, daß dieſe gewaltige Neuordnung hier nur in den
notdürftigften Umriſſen angedeutet werden konnte. Sie wird auch mit manchem
heftigen Widerſtand rechnen müſſen, denn eine ſo tief eingreifende Maßregel wirkt
auch wieder zerſtörend auf viele Verhältniſſe. Allein der Krieg hat die ganze Welt
jo in ihren Grundfeſten erjchüttert, daß zur Heilung der entſtandenen Schäden
man ſich auch zu großen weitgreifenden Entſchlüſſen aufraffen muß. Auf den aus-
getretenen Geleiſen der ſeitherigen Bahnen kommen wir nicht weiter. Die Not
der Zeit verlangt gebieteriſch große Gedanken. Der gemachte Vorſchlag gibt
einen Fingerzeig, von dem nur zu wünſchen wäre, daß ihn die maßgebenden Stellen
nicht ohne weiteres unter den Tiſch werfen, ſondern daß fie ihn wohlwollend prüfen,
annehmen und in ihrem Sinne ausbauen.
Die Durchführung des großartigen Planes dürfte um fo leichter zu bewerk⸗
ſtelligen ſein, als er nur Vorteile bringt. Und angeſichts der in Ausſicht ſtehenden
großen Lichtpunkte follten einzelne Opfer, die etwa zu bringen wären, keine aus-
ſchlaggebenbe Rolle ſpielen dürfen. Man denke doch an das Jahr 1871. Die Fuͤrſten
der Bundesſtaaten des Deutſchen Reiches brachten damals dem großen Gedanken
10 Weiß -v. Ruckteſchell: Zerſtörte geiniat
der Einheit des Reiches zulieb freudig große Opfer von ihrer Selbſtändigkeit.
And wie ſich dieſe Opfer gelohnt haben, das zeigt die Widerſtandsfähigkeit, die das
Deutſche Reich im gegenwärtigen Kriege ſo glänzend bewährt hat.
Möge ſich dieſer großzügige, auch zu notwendigen Opfern bereite Sinn
wiederum bewähren, wenn es gilt, die ſtaatsrechtlichen und finanziellen Verhältniſſe
der verbündeten Staaten in Mitteleuropa neu zu ordnen!
SSN
n
=. —̃ — —
0
Geritörte Heimat Von Alice Weiß⸗v. Rudtefchell
Sch habe nun ſo lange ſchon
Geträumt den einen Traum
Vom Wiederſehn beim Friedensklang
Zn meiner Heimat Raum,
Dann ging ich durch mein Vaterhaus
gm alten Baltenland
Und bebend grüßte jeden Stein
Das Streicheln meiner Hand.
Nun iſt der Traum wohl ausgeträumt —
Mein Herze glaubt's fo ſchwer —
Die Heimat werd' ich wiederſehn,
Das Vaterhaus nicht mehr.
Nun iſt's in Flamm' und Rauch verdampft,
Wo's ſtand, iſt alles tot,
Mein grüner Garten iſt zerſtampft,
Von Blut mein Boden rot.
And meine Erde nicht mehr mein,
Die grüftegähnend ſtarrt, —
Die Fremde kann nicht fremder ſein,
Als mir die Heimat ward!
Nun iſt im weiten Erdenrund
Mein Herz des Zufalls Spiel,
And meine Sehnſucht ohne Grund,
Mein Wandern ohne Ziel!
Mein Herz — ein frierend Bettelkind
Seht nackt und bloß einher,
Und feine Tränen trinkt der Wind
And führt ſie übers Meer.
2
Meifinger: Der Grübler und der Krieg ll
Der Grübler und der Krieg
Von Karl Meifinger
eit zwei Jahren liegen wir in einem Städtchen am Südrand der
Ardennen, belgiſch mit einer Spur deutſchen Einſchlags. Es war
1916. Ein Sommernachmittag, heiß ohne Schwüle, ein Höhe-
O punkt des Jahres. | |
Mein Kamerad forderte mich zu einem Spaziergang: „Komm mit, aber
tu mir den Gefallen und ſchweige.“ Zch nickte nur, denn ich kannte ihn. Er war
ein ſonderbarer Menſch. Er wußte genau, wie ſehr er vom Durchſchnitt abwich.
aber das bedrückte ihn nicht. Sein Tun entſprang der innerſten Natur ſeines
Veſens, es war wahrhaftig ſo und darum recht. Wer ihn nicht näher kannte,
hieß ihn hochmütig, eingebildet, denn er verzichtete auf Geſellſchaft. Ich hatte
einmal verſucht, ihn mehr mit Menſchen zuſammenzubringen. Er hatte ab-
gewehrt: „Laß mich. Ich weiß das. Der Durchſchnittsmenſch braucht immer
und überall „Geſellſchaft'. Eigne Gedanken, mit denen er ſich beſchäftigen
könnte, hat er nicht. Er fühlt feine Unzulänglichkeit; er merkt, daß trotz feines
Daſeins eine Lücke, ein Defizit vorhanden iſt, daß er — bildlich geſprochen —
den Umkreis, der ſeinem Geiſte vorbehalten iſt, nicht ausfüllt. Daher dann das
Beſtreben, dieſe Leere durch andere ausfüllen zu laſſen. Ich haſſe die Dutzend-
köpfe, die Allediegleichen, die Maſſenartikel.“ Da ließ ich ihn gewähren.
Wir trugen beide denſelben Vornamen und glichen uns äußerlich ſo ſehr,
daß man uns in der Dämmerung oft verwechſelte. Innerlich beſtand ein Unter-
ſchied, doch kein Gegenſatz. Ich fühlte ohne Neid feine Überlegenheit, und er
war dankbar, einen Menſchen zu haben, der bereit war, ihn anzuhören, wenn
er — felten einmal — das Bedürfnis hatte, ſich auszuſprechen. Er war ein Grüb-
ler. Der Krieg, den er nie als Frontſoldat miterlitten, hatte ihn gepackt und das
rubige Gleichmaß feiner Seele erſchüttert. Der Krieg! Mit dieſem Problem
rang er. Der ſchreiende Widerſpruch der ſchreckensvollen Geſchehniſſe unſrer
Zeit zu allen überkommenen Begriffen von Gott und Menſchentum zerſchnitt
ihm die Seele, und er zerbrach an dieſem Zwieſpalt, den er im tiefſten Innern
fühlte, ohne ihn überwinden zu können. Sein Denken ſuchte umſonſt des Rätſels
Löſung, ſein Glaube war ſolcher Erprobung nicht gewachſen.
Zum Walde? Ein Nicken: wir waren einig über den Weg. Der führte —
verboten — quer über den Bahndamm, einen Rain hinauf und in der Acker-
furche zu einem ſchmalen Sträßchen, das genau die höchſte Linie einer langhin-
geſtreckten Hügelkette markiert. Da ſtanden wir einen Augenblick ſtill. Sn langen
flachen Wellen kommen die Ardennen von Norden herab und klingen langſam
aus. Hellſte Sonne über den Bergen. Und doch! Ein Herbes, Verhaltenes,
Gepreßtes des‘ wie ein Schleier über dem Bilde der Landſchaft. Oder find es
unſere Augen, die dieſen Schatten hineinſehen in die ſonnenfrohen Farben?
Unglüdlihes Land!
12 a Melfinger: Der Grübler und der Krieg
Rechts hinunter an einem Ginſterhang leitet ein Weg mit ausgefahrnen
Gleiſen in den Wald. Geheimnisvoller Ardennenforſt, biſt du das Vorbild Böck⸗
lins geweſen zu ſeinem „Schweigen im Walde“? Kaum ſichtbar taſtet der Pfad
durch hohe düſtre Tannen, ein Nadelteppich erſtickt jedes Geräuſch der ſchreiten⸗
den Füße. Zerzauſte Flechtenbärte hängen von rauhen Stämmen, und Pilze
mit gedankenvoll-ſchiefgeneigten Köpfen ſtehen umher wie ein komiſcher Land-
tag von Wichtelmännern. Im Grunde, wo Sonnenlicht ſieghaft die Waldnacht
durchbricht, ein Bach. un darübergeſtürzt ein Baumſtamm als willkommener
Steg. —
Wir ſtehen auf einer Waldblöße. Vergeſſene Einſamkeit. Wo liegt die
Welt, wo iſt Krieg? Die Sonne wirft glühendes Licht vom flimmernden Him-
mel, und ein Summen iſt in der Luft von tauſend Inſektenflügeln. Mannshoher
Adlerfarn verbirgt uns völlig. Unter dem Erlengebüſch brennen die roten Kerzen
des Weiderichs, dazwiſchen gelbſternige Lyſimachia. Drüben am abgeholzten
Hange ein Farbenüberſchwang: meterhohe Weidenröschen zwiſchen Vogelbeeren
und Fingerhut, maßlos üppig, undurchdringlich. Und über allem ein ſüßer Duft,
gemiſcht aus hundert Gerüchen von Gras und Kraut und Blüten.
Jenſeits dieſes lichtfrohen Eilands ſteigt ein junger Kiefernſchlag bergan.
Umſonſt ſpannt der das blaugraugrüne Spitzengewebe feiner Wipfel gegen die
Sonne und wehrt ſich mit ſpitzen Nadelfingern. Sie ſpottet ſeiner, und lachend
ſchwirren ihre Strahlen durch fein Geäſt und finden den Boden und ſtreicheln
ihn und wärmen und locken, bis Grashälmchen daraus ſprießen, langes, ſchönes,
weiches Gras.
„Nicht weiter! Hier bleiben wir.“ Mütze, Rock und Stiefel fliegen auf
einen Haufen. Der andere entkleidet ſich ganz. Wir liegen im Gras und laſſen
uns koſen vom Licht der fernen Sonnenmutter. Die ſcheint ſo warm, Gras-
hälmchen umſchmeicheln Nacken und Füße, ein leiſes Säuſeln und Surren iſt
rings um uns und über uns. Fetzt ſchlafen! Schlafen und Vergeſſen! Kein
Krieg mehr. — Frieden. — — Stille. — — —
„Zum Schlafen hatt’ ich dich eigentlich nicht mitgenommen.“ Ich fuhr
verwirrt in die Höhe. Mein Kamerad ſtand lächelnd vor mir. Dann ernſt wer-
dend: „Du haſt ja recht. Schlafen und träumen iſt beſſer als wachen und
grübeln.“
Zch ſuchte mich zu entſchuldigen: Merkwürdige Gefühle befchleichen mid,
wenn ich im Sonnenſchein im Graſe liege. Ich fühle mich fo geborgen, beruhigt,
erlöft. Ich bin daheim. Se älter ich werde, je mehr empfinde ich dieſe Zufammen-
gehörigkeit mit allem Lebendigen, und ich bin glücklich in dieſem Gefühle des
Angeſchloſſenſeins an die unendliche Natur. Die Erde iſt unſre Mutter. Soll
ich nicht ſchlafen und träumen dürfen, wenn ich bei ihr bin?
Er ſtimmte zu. „Ja. Auch mir iſt oft, als wuͤchſe ich aus der Erde wie eine
Blume. Dann möchte ich Bäume und Büſche und alles Lebendige umarmen als
meine Geſchwiſter. Wie hat ſich der Menſch, indem er ſich über die Erde erhob,
doch ſelbſt ausgeſtoßen aus dem Paradieſe, iſt fremd geworden in n Heimat-
garten.“
ar
Meiflnger: Der Grübler und der Krieg 15
Ich ſchwieg, denn ich wußte, er wollte keine Unterhaltung. Plötzlich zuckte
er lauſchend auf. Seit einiger Zeit war ein Knurren und Murren in der Luft
wie von argwöhniſchen Hunden. Jetzt ſchwoll es an und war wie das gröhlende
Brüllen hungriger Beſtien.
„Die Kanonen von Verdun“, ſagte ich leiſe. Er nickte haſtig und ein ver-
ächtliches Lachen umzuckte feinen Mund.
„Du willſt dich vor Enttäuſchungen bewahren? Zch rate dir, denke gering
von den Menſchen! Unſre Feinde belehren mich. Hörſt du, ſie brüllen uns zu
mit Kanonenmäulern, daß ſie für Kultur und Sitte kämpfen. Sie ſtreiten für
edelſtes Menſchentum, und weil wir's nicht glauben, werfen ſie Eiſenbrocken,
die ſplittern in Scherben wie zerſchlagene Töpfe und freſſen lebendiges Menfchen-
fleiſch. Es iſt grauenhaft!“ Er ſchlug die Hände vor die Augen. „Tiere und
Menſchen hielt ich für Geſchwiſter. Ich Narr! Vo wäre ein Tier, das alle Kräfte
der Natur zuſammenraffte wie ein Teufel, die eigne Gattung zu vernichten?
Das tut kein Tier. Das tut der Menſch, das Übertier.“
Das Entſetzen ſchüttelte ihn. Ich ſuchte zu beruhigen. Er ſah mich ſtarr,
wie abweſend, an, noch immer lauſchend, als ſuche ſein Ohr in dem Gedröhn
einen beſtimmten Ton. Seine Seele bebte unter jenem unheimlichen Grollen,
das im ſonnigen Frieden dieſes ſtillen Waldwinkels dreifach wahnvoll ſchien.
Plötzlich ſagte er ganz unvermittelt: „Wenn dieſer Krieg der letzte wäre, dann
hätte die Menſchheit einen gewaltigen Schritt vorwärts getan dem unbekannten
Ziele ihrer Entwicklung entgegen. Und einmal muß der letzte Krieg kommen!
Man mag immerhin den Weltfrieden eine Utopie ſchelten; darauf hinzuarbeiten
bleibt doch unſre Pflicht! Er iſt ein Ideal. Welches Ideal iſt je erreicht wor-
den? Sind vollkommene Gerechtigkeit und Freiheit, Humanität und alle Tugen-
den nicht ebenſo unerreichbar? Und doch ſind ſie Ziele, Richtungspunkte, und
die Menſchheit drängt ihnen nach mit der lechzenden Begierde erlöfungsbedürf-
tiger Seelen.“ Und nach einer kleinen Pauſe: „Es gibt Vernunftheiraten und
Liebesehen. Die heutigen Völkerbünde ſind Vernunftheiraten. An ihren Früchten
ſollt ihr ſie erkennen! Es muß anders werden, es muß anders werden, ſollen
nicht Blutopfer in alle Ewigkeit zum Himmel rauchen! Wenn Geld erraffen
nicht mehr den Inhalt des Menſchenlebens bildet, wenn jeder einzelne zu einer
höheren Auffaſſung vom Zwecke des Daſeins ſich hinaufgearbeitet haben wird,
dann wird aus dieſer wahren Menſchwerdung des einzelnen die Menſchwerdung
der Völker und Nationen ſich von ſelbſt ergeben, und dann werden Kriege wie
Reſer unmöglich fein. Und daran ſollſt du helfen!“
Es klang wie ein Gebot. Er lag auf den Knien, die gefalteten Hände auf
den Erdboden geſtützt; das Sonnenlicht umfloß feine Geſtalt. So ſah er aus wie
ein Betender.
„Wenn das der Sinn des Krieges iſt,“ ſprach er feierlich, „fo find alle ge-
ſegnet, die dafür kämpfen und darben.“
„Der Sinn des Krieges! Hat der Wahnſinn einen Sinn?“
Er ſah mich forſchend an. „Eine Gegenfrage: Hat die Welt einen Sinn?“
„ga!“ |
14 Meifinger: Der Grübler und der Krieg
„Warum meinſt du das?“
„Weil es ein widerſinniger Gedanke iſt, daß dieſer ungeheure Aufwand
an Kraft, den wir ‚die Welt“ heißen, ganz ſinnlos ſei, weil es mir unerträglich
iſt, das Daſein für zwecklos zu halten.“
„Das iſt kein Beweis. Aber immerhin. Es iſt auch mein Standpunkt.
Dann aber hat auch der Krieg einen Sinn, denn er iſt ein Teil der Welt.“
„Ich geb' es zu. Aber was iſt fein Sinn?“
„Ich weiß es nicht. Warten wir fein Ergebnis ab. Das Ergebnis des Krieges
iſt der Sinn des Krieges; es gibt keinen anderen.“
„Ich weiß wohl, was du unter ‚Ergebnis‘ verſtehſt. Und wenn er kein
ſolches ‚Ergebnis‘ haben wird?“
„Dann — — war er ſinnlos!“ |
Schweigen. Das Brüllen der ſtählernen Raubtiere zitterte in der ſonnigen
Luft. Der gequälte Ausdruck kam wieder in ſein Geſicht.
„Man ſagt, der Krieg ſei Strafe und Mittel zur Beſſerung. Das kann nicht
ſein! Wie kann ein Krieg, der ärgſte Rückfall der Menſchheit in Barbarei, die
Menſchen beſſern? Ein Krieg, der das Roheſte und Tieriſchſte im Menſchen weckt,
der Haß und Vernichtung, Lüge und Mord zum Tagewerk von Millionen macht?
Treibt man den Teufel aus durch Beelzebub?“
| Er ſtand auf. Ich merkte, er wollte noch etwas fagen, aber er zauderte,
ob er ſprechen ſollte. Liebkoſend ſtrichen feine Finger über einen Kiefernzweig,
der wie eine Straußenfeder vor ſeinem Auge ſchwankte. Aber ſeine Gedanken
gingen weit im Grenzenloſen. Er hatte mir halb den Rüden gekehrt. Und plöß-
lich, als fürchtete er, es könne ihn reuen, begann er:
„Ich glaube, die Beſchäftigung mit religiöſen Dingen iſt mehr ein ſpät
zutage tretendes Ergebnis der Erziehung, als eine Frucht eignen Nachdenkens.
Wenigſtens ſcheint mir, daß vielen Menſchen die Beſchäftigung damit nur des-
halb ſo ſchwer fällt, weil ſie in ihrer Kindheit nie darauf hingewieſen worden
ſind. Und fpäter find fie ‚zu klug“ dazu. Aber wenn ſchon Vorurteile die ſchlimmſten
Hinderniſſe auf dem Wege zu klarer Erkenntnis ſind, ſollte nicht Freidenkertum
ſelbſt ein Vorurteil ſein? Wieviel Köpfe ſind erleuchtet genug, ſich ihrer klugen
Unwiſſenheit bewußt zu fein?
Was wiſſen wir von Gott? Gott? Millionen ſprechen dieſes Wort, aber
es ſind nicht zwei, die mit dem gleichen Worte die gleiche Vorſtellung verbinden.
Ein jeder braucht einen anderen Gott für ſeine Bedürfniſſe und Nöte, ein
jeder hat einen anderen Gott, denn jeder ſieht feine Charaktereigenſchaften in
ſeinen Gott hinein. Jeder einzelne, jedes Volk, jedes Zeitalter. Aber die heißeſten
Herzenswünſche einer ganzen Menſchheit reichen nicht hin, um einem Gotte
Eigenſchaften aufzuzwingen, die ihm fremd find.“
Er hatte ein junges Bäumchen geſaßt und umklammerte es mit beiden
Händen, als ob er es zerpreſſen wollte. Und ein Schluchzen war in feiner Stimme,
als er nun fortfuhr: „Wenn ſo ein Menſchenherz vom Peitſchenhieb des Krieges
getroffen ſich aufbäumt in raſendem Schmerze, dann gellt der wilde Schrei der
Anklage: Du Gott der Liebe, wie konnteſt du das geſchehen laſſen! Millionen-
2
Meifinger: Der Grübler und der Neleg 15
fach tönt dieſes Kreiſchen faſſungsloſeſter Verzweiflung, ſeitdem der Krieg die
zitternde Menſchheit geißelt. Zwiſchen brutalſten Tatſachen und liebſtem Wunſch⸗
Raubes taumelt der aufgeſchreckte Menſch, und ratlos bleibt allein als Weisheit
letzter Schluß: Es iſt kein Gott!
Doch dieſe furchtlos-furchtbare Folgerung iſt falſch! Wohl iſt ein Gott!
Der Urgrund alles Seins und aller Entwicklung Ziel, des ganzen Univerſums
letzte, tiefſte Einheit, der Sinn alles Geſchehens, der Zweck des Daſeins, das Un-
geheure der Welt und alles Geheimnis, das ſie durchbebt, und alle Kraft, die in
ihr wühlt und ſchafft und die ſie treibt und trägt, Gedanke und Wille und alle
Sehnſucht des Menſchenherzens und alles Wunder und Rätſelhafte im Leben
und im Sterben: das iſt Gott! Wohl lebt ein Gott! Aber — er iſt nicht fo, wie
wir & wünſchten, daß er ſei! Ich weiß nicht, wie er iſt. Er iſt wie die Welt, gut
und böſe zugleich! Du hoher, unbekannter Gott! Lichtſucher waren die Men-
ſchen, ſeitdem der erſte Gedanke in einem Menſchenhirn aufzuckte. Nun laß ihn
endlich kommen, den Lichtbringer, den Rätſellöſer, der unſer hellſtes neues
Wiſſen mit tiefſt-uraltem Fühlen in Einklang bringe, daß er den Zwieſpalt töte,
der unſre Seelen zerbricht!“
Er hatte es in höchſter Ekſtaſe gerufen. Die Arme emporgeſtreckt, blickte er
ſtarr in die blaue Höhe. Auf einmal ſanken ſeine Arme herab, er ſah ſich ſuchend
um, ſchuͤttelte den Kopf und plötzlich brach er zuſammen. Erſchrocken ſprang ich
hinzu. Sein Körper war nicht ſtark genug geweſen, dieſer äußerſten Erregung
ſeiner nach dem Höchſten greifenden Seele ſtandzuhalten.
* *
*
Mein Freund hat nie mehr über dieſe Dinge geſprochen. Die Natur hatte
mit ſoviel Verſchwendung die geiſtige Seite ſeines Weſens ausgeſtattet, daß ſeine
körperliche Bildung benachteiligt worden war. Seine Kräfte ſchwanden von
Tag zu Tag. Es wäre ein Verbrechen geweſen, eine Unterredung zu ſuchen, die
neue Erſchuͤtterungen bringen konnte.
Eines Herbſtnachmittags gedenke ich noch. Wir gingen zuſammen zu einem
Hügel, der ohne Schroffheit aus der Ebene wächſt. Weißſtämmige Birken mit
goldfarbenem Laube ſtanden wie Körper gewordenes Licht gegen den blauen
Himmel. Herbſtſonne ſchimmerte auf jedem Zitterblättchen, daß es wie von
innen durchleuchtet ſchien. Ergriffen ſtanden wir und betrachteten dieſe ſtumme
Offenbarung ewiger hoher Schönheit. Da ſagte mein Freund: „Dieſe Birken
ſind ein Gleichnis meiner ſelbſt. Heute ſprühen ſie und glänzen wie Licht, das
nie erlöfchen könnte. Komme wieder nach acht Tagen, und du wirſt nichts mehr
finden als totes Geſtrüpp.“
* *
*
Dezember. Mein Kamerad lag ſeit Wochen im Lazarett. Hoffnungslos.
ich hatte ihn beſucht. Sein Lager ſtand am Fenſter, frei ſchweifte der Blick ins
Weite. Ein wundervoller Wintertag. Ein Farbendreiklang beherrſchte die ganze
Natur: braungrau die weitgedehnten Wälder an den Bergen, goldblau der reine
Himmel und weiß die Fläche der Erde. Kühl und weiß. So ruhig, ſo klar die
ganze Natur. Und ſtille. Ein Krankenzimmer iſt ſo ſtill und weiß. Die ganze
Erde ift ein Lazarett. — —
16 8 Heidfled: Die Schlacht
Die ſcheidende Sonne blutet. Ein Feuerſtrom quillt aus geöffnetem Him-
melstor über die weiße Weite; jede Erhebung der Fläche glüht, ein Leuchten
glänzt auf aus dem bleichen Schnee. Die kampfmüde Erde lächelt, ein krankes
Kind, dem zitternde Mutterhände die feuchte Stirne ſtreicheln.
Ich ſpüre den Druck einer heißen Hand. Mein Freund ſitzt aufrecht in feinem
Bette. Die glänzenden Augen, die ſoviel Schönheit der Natur mit nie geſtilltem
Durſte tranken, ſtarren verzückt in jenes lichte Wunder. Verklärend ſchmeichelt
ein Abglanz auf ſeinen blaſſen Wangen. Er atmet tief und ruhig. Dann ſieht
er mich an mit langem feſtem Blicke und legt ſeine beiden Hände in meine. —
Plötzlich — was iſt? Ein fahles Grau huſcht über den weißen Schnee und
würgt das goldene Leuchten, blaue Schatten fallen ein, ſtarr wird das Antlitz
der Erde. — Ein Grauen greift nach meinem Herzen.
Sind wir ein Spiel von jedem Oruck der Luft? — An dieſem Abend
ſtarb mein Freund. ö
9
FRA Y See
r
Die Schlacht Von Hans Heidfied
Einſchneidendes Praſſeln: — Maſchinengewehr. —
Verworrene Stimmen; — Granaten. —
Sprung auf! — Eine Welle am Graben her;
Rauch; Erde und klappernde Spaten.
„Hier! Hier!“ — Lautes Rufen. — Ein Stoß, — ein Schrei! —
Blut. — Orähte, gleich zuckenden Armen. —
Zerſchoſſene Tanks — eine Straße — — vorbei! —
Ein Chriſtusbild. — „Zefus! — Erbarmen!“ — —-
Stumpffinnige Blicke. — „Verrückt!“ — Wer rief? —
Schrapnells. — Ein zerſchmetterter Schädel. —
Ein Sterbender, röchelnd. Ein Liebesbrief,
Zerknittert: — „Mein herziges Mädel!“
Am Ziel! — Tiefe Trichter. — Ein Kolbenſchlag.
Aufatmen. — Ein Sprung in den Graben. — —
Rotſchimmernde Wölkchen. Erwachender Tag. —
Auf einſamen Feldern zwei Raben.
Seidl: Kricgeverlängerung 17
Kriegs verlängerung
Von Dr. Otto Seidl
raf Hertling hat den Wunſch Naumanns erfüllt, noch deutlicher und
ausdrücklicher zu erklären, daß wir „Belgien nicht behalten wollen“.
Er verzichtet aber auf die naheliegende Drohung, daß wir Belgien
doch behalten werden, wenn England und Japan — Frankreich und
Belgien ſelbſt gegenüber haben wir ja Fauſtpfänder — uns unſere überſeeiſchen
Schutzgebiete nicht zurückgeben. Warum wird diefe Drohung nicht ausgeſprochen?
Warum wird ſo getan, als wäre die Rückgabe der Kolonien durch Japan und
England, die keinen Fußbreit ihrer Gebiete verloren haben, während ihre feft-
ländifhen Bundesgenoſſen von uns niedergeworfen oder ſchwer beſchädigt ſind,
eine Selbſtverſtändlichkeit, falls wir nur dieſe „wiederherſtellen“?
Der Grund, daß die naheliegende Drohung nicht ausgeſprochen wird von
unſeren Staatsmännern, liegt darin, daß ihre Wirkung zu unſicher iſt. Würde ſich
Belgien dadurch veranlaßt ſehen, England um Rückgabe der deutſchen Schutz-
gebiete zu erſuchen und im Falle der Ablehnung dieſer Bitte nach einem Sonder-
frieden mit uns zu ſtreben? Wohl nicht. Der deutſchen Regierung aber bliebe,
nachdem die Drohung ſich als wirkungslos erwieſen, nichts übrig, als einzu—
geſtehen, daß ihre ganze Rriegsziel- und Friedenspolitik verkehrt
war, nie darauf berechnet, den Gegner einzuſchüchtern, vom Siege des Deutfch-
tums in Europa zu überzeugen, ſondern immer nur ſo geartet, daß die Sozial-
demokratie, auch ſoweit ſie einem deutſchen Siege abgeneigt iſt, mitmachen
konnte.
Ich ſehe einen Fehler der Vaterlands-Partei, deren Mitglied ich bin, darin,
daß ſie nicht eingeſteht, daß wir außerhalb Europas den Krieg verloren haben und
auf die überſeeiſchen Schutzgebiete verzichten müſſen, wenn wir den Sieg in Europa
behaupten wollen. Zur Rückerwerbung der außereuropäiſchen Gebiete iſt das in
Europa ſiegreiche Heer völlig außerſtande, und es fragt ſich, wie lange es über-
haupt noch Politiker in leitenden Amtern dulden wird, die ihm ſeine Leiſtung, den
Sieg in Europa, verſchandeln und ihm Unmögliches zumuten: durch Kämpfe in
W und Belgien Afrika zurückzuerobern.
Es iſt richtig, daß der Januſchauer nur die Wirkung der Friedensreſolution
und der Verzichtfriedenspolitik auf die Feinde berechnet, nicht ihren ethiſchen
Gehalt und ihre „edlen Motive“. Mit der von Naumann geprägten Formel „Mein
Lund, mein Recht!“ können wir den Engländern aber nichts beweiſen. Uns
könnten damit die Wahehe und die Hottentotten kommen. Die Formel würde ſich
für. die Bulgaren eignen, die von ihrem Siege „nichts weiter“ wollen als die
Vollendung ihrer nationalen Einigung auf Koſten ihrer beſiegten Nachbarn. Würde
der Reichstag das gleiche für das Oeutſchtum fordern und die Zurückſtellung ent-
gegenſtehender dynaſtiſcher Belange verlangen, fo könnte man höchſt einverſtanden
ſein. Aber davon, daß Deutſchböhmen mit dem Hungertode bedroht
wird durch die Tatſache, daß es nicht vom preußiſch-deutſchen Kaiſer, Bus
Der Türmer XX, 13
S
— N, 2
En
7
18. Seidl: KNriegsverlängerung
vom Kaiſer der Tſchechen regiert wird, ift nie die Rede. Das Deutſchtum zeigt
ſich völlig unklar über die Ausſichten, die ſich ihm in Europa auf Grund ſeines
militäriſchen Sieges eröffnen, und erfüllt durch die beſtändig betonte Friedens-
Sehnſucht nur immer wieder die Feinde mit Siegeshoffnung. Wenn England
ſich nicht mit Neuſeeland, Auſtralien und Südafrika auf den Tod verfeinden will,
hat es keine andere Möglichkeit als die, ſeine feſtländiſchen Bundesgenoſſen immer
wieder durch Hinweis auf die Ermattung bei den Mittelmächten zum Feſthalten
an ihren europäiſchen Eroberungszielen zu veranlaſſen.
Bei uns aber fürchtet die Vaterlands-Partei offenbar, die „kolonialen Kreiſe“
in das Lager der Friedensreſolutionäre zu treiben durch das Eingeſtändnis, daß
die Kolonien dauernd verloren ſind. Mit ihrem Streben, die Beſtätigung des
deutſchen Sieges in Europa zu ſichern, lädt ſie bei den breiten Volksmaſſen lieber
den Vorwurf der Kriegsverlängerung auf ſich. Die wirkliche Kriegsverlängerin
iſt natürlich die Sozialdemokratie mit ihren ausgeſprochen reaktionären Kriegs-
zielen: Ein Friede „ohne Annexionen und Entſchädigungen“ iſt ja das ſchlimmſte,
was der Menſchheit blühen könnte! Er bedeutete Wiederherſtellung der Überlebt-
heiten, Angeheuerlichkeiten, Unerträglichkeiten, die den Krieg herbeigeführt haben.
Alle Opfer an Sitte, Menſchenleben, Gütern wären umſonſt gebracht. Die Über-
lebenden würden durch keine Verbeſſerung, keinen Fortſchritt entſchädigt für ihre
Opfer und Leiden!
Vorläufig überläßt das Heer es ja der Bureaukratie ganz nach deren Be-
lieben, die Friedensſehnſucht des Volkes durch eine begütigende Unſchulds- und
Beteuerungspolitik hinzuhalten und durch dieſe fromme Täuſchung dem Heere
wenigſtens das Weiterkämpfen zu ermöglichen. Mehr verlangt ja auch die Sozial-
demokratie nicht, als gelegentliches, möglichſt energiſches Abrücken von den „annexio-
niſtiſchen“ Kriegszielen der „Alldeutſchen“, höfliche Verbeugung vor dem pazifiſtiſchen
Prinzip. Wie aber, wenn Volk und Heer ſich darüber klar und darin einig werden,
daß fie in ihrem gemeinſamen Ziel („baldiger dauernder Friede auf Grund deutſcher
Sicherung als Ausdruck des deutſchen Sieges“) hintergangen werden? Warum
ſollten Heer und Volk nicht bei dem reichen Erfahrungsſtoff allmählich zu der
pſychologiſchen Schulung gelangen, die für dieſe Auffaſſung allerdings Vorbedin-
gung iſt? Oder glaubt und hofft (21) man etwa, das Volk würde dem Heere
die Schuld an der Kriegs verlängerung geben, weil das Heer immer ſiegt und ſiegt
und damit einen Verzichtfrieden verhindert? Naumann hat Äußerungen getan ...!
Aber die ehrlichen Friedensfreunde können ſich leicht rechtfertigen, wenn
ſie nur die Frage der Kolonien richtig behandeln lernen. Nachdem die Schweizer
Pazifiſten (Prof. Broda in Bern) uns für die Abtretung von Oberelſaß und Loth-
ringen ein „blühendes Kolonialreich in Afrika“ verſprechen, ſind alle afrikaniſchen
Pläne belaſtet mit dem Bedenken, daß ihre Hervorhebung durch uns — Frankreichs
Siegeswillen und Streben nach Elſaß-Lothringen ausſichtsreich erſcheinen läßt
und kräftigt. Aber ſelbſt wenn wir zu günſtigeren Bedingungen in Afrika große
Erwerbungen oder Rüderwerbungen machen könnten, iſt zu bedenken, daß dieſe
erſt wieder langwierige, koſtſpielige blutige Kriege erfordern würden, da wir die
Autorität über die Niederraſſen längſt verloren haben. Und ſelbſt wenn eines
L
Yäte: Dorfrüblingsabend 19
gelänge, dieſe ſchließlich wiederherſtellen zu laſſen, wären wir im Verkehr mit
unferen Kolonien immer von dem Wohlwollen des ſeegewaltigen England ab-
hängig, deſſen Seeherrſchaft wir durch den rückſichtsloſen U- Boot-Krieg wohl
ſchädigen, aber keineswegs durch die unſere erſetzen konnten.
Freilich, wenn einmal das Eingeſtändnis gemacht iſt, daß — aus Rückſicht
auf das Heer — der Sieg in Europa reſtlos ausgenützt und rückſichtslos behauptet
werden muß, weil der Krieg außerhalb Europas völlig und hoffnungslos verloren
iſt, dann wird der Regierung nichts anderes mehr möglich fein, als ſich der Vater
lands-Partei in die Arme zu werfen und auf die Zufriedenheit der Sozialdemo-
kratie zu verzichten. Bezüglich Belgiens wäre es wohl noch immer das beſte, nur
die kleinen hochdeutſchen Gebiete zu behalten, Wallonien Frankreich zur Aus-
ſöhnung anzubieten, durch Zuweiſung von Flandern an Holland dieſes mit ſeinen
reichen Kolonien für uns zu gewinnen. Wird aber ein Kanzler, der den wirklich
baldigen Frieden unter Verzicht auf das Verlorne, aber auf Grund des deutſchen
Sieges in Europa durchſetzt, wird dieſer Kanzler noch viel anders ſein können
als der, den ſich v. Oldenburg (Januſchau) erſehnt?
Vorfrühlingsabend Won Ludwig Bäte
Nun ſpinnt das Dorf der ſtille Abend ein,
Die blauen Schatten heben ſich gemach
And breiten ſacht das weiche Schwingenpaar
Um Eichenknorren, Feld und Bauerndach.
And immer ſchluchzt ein ſüßer Droſſellaut
Von eines alten Hauſes ſteilem Firft ...
O daß in ſeiner ſcheuen Melodie
Mein übervolles Herz nicht jäh zerbirſt!
Das Lebenswunder ringt ſich ſtark empor,
Die jungen Halme träumen neues Brot.
Verlöſchend fließt der ſüße Vogellaut
Hinüber in gedämpftes Abendrot. — —
20 | Hein: Märzmäͤrchen
Märzmärchen
Vom Kriegsfreiwilligen Alfred Hein
lieb der Urlauberzug mitten im Walde ſtehen. Einige ſagten zwar,
es ſei wohl der Dampf ausgegangen. Aber ich glaube, der Frühling
A2
kam. Und da erſtaunte der olle Urlauberzug denn doch — — — Za,
ja, ſo war's — oder vielleicht hat gar ein Engelein dem Lokomotiv-
führer leisfilbern zugeflüſtert: Bft! Merkſt du nichts — —?
Hatte ich auch noch eben brennende Eile, nach Haus zu gelangen, der Früh-
ling iſt einer, der ſelbſt dieſen heißen Wunſch vergeſſen macht.
Ich weinte faſt, daß ihn die andern noch gar nicht zu beachten ſchienen. Nicht
etwa trug er ſchon fein hellgrün oder gar buntes ſonnblitzendes Gewand. Nein,
nein, die Erde lag voll ſchwarz zerrinnenden Schnees. Nur der blauen Himmelstiefen
Zartheit, das Beben des Waldes und die Wolken. Da waren aberhundert, und
jede luſtig und jede leicht und die eine roſaleis und die andre gülden angehaucht.
Dieſe Wolken erinnerten an lang lang vergeſſene Kinderzeiten. Und dieſe Kinder-
zeiten ſagten wieder: Glaub’ es nur ruhig! Es find Frühlingsfarben, die die Wölk
chen haben! Glaub' es nur! Und ſiehe, die Wölkchen verſtanden mich wieder wie
als Kind. Iſt der Frühling kommen? fragte ich und faltete die Hände. Würden
wir ſo lächelnd verwehen, wenn nicht in ſeine leuchtende Ewigkeit? ſangen einige,
die ſüßeſten, lichteſten Todes zerfloſſen..
And eine heiter weiße, die wie ein Täſchchen ausſah, das von ganz ſachten
Traumſchleiern umhaucht Elflein trugen, ſank in den Wald hinein. Darin waren
die Schneeglödlein. . .
Hatte mir das der Frühling ſelbſt geſagt? — Voher ſollt' ich's ſonſt wiſſen?
Die Kameraden werden ungeduldig und brummen: Bummelei! Da ſchaue
ich ſie lachend an mit ſicher ganz verträumten Augen.
„Ich gloob gor, der Friiling iſt kimma!“ meinte ein ſchleſiſcher Landwehr
mann. Ich nickte freudig.
Wir machten das Fenſter auf. Weiche, kühle, zitternde Winde trugen uns
Unfagbares ahnenden Abend in den Wagen. Es war ganz ſtill.
Langſam glitt der Zug in die Dämmerung weiter. Ein taumelnder Shwarm
zerfließender Nebelunholde ſchlich von den andächtigen Wieſen.
Bald war die Nacht da. Sie gab Myriaden Sterne in ſattem reinem Dunkel-
blau. Sie dehnte das Land mondüberſilbernd ſo klar, daß man die Elfen im Walde
huſchen ſah und weit, weit her hörte, wie ein Mädchen Sehnſucht ſanng.
Waren die Mienen bei der Abfahrt von der Front noch hart, ja, manche
verbiſſen, — jetzt ſaßen wir alle mit gefalteten Händen, das Herz voll träumender
‚Erinnerungen, die Augen aber ſprachen übergroß und ſanften Glanzes: Noch nie
kan der Frühling fo ſchön.
Lächelnd ſchlief einer nach dem andern ein.
Mir aber floſſen die Hände immer wieder in den lauen feinen Wind
bis ich einträumte, da war's, als hätten ſich die Hände in leichte Blüten verwandelt
und mein Leben ſelbſt wäre das eines ſtill erblühenden Baumes in einer einſamen
frühlingerwartenden Wieſe.
a — —
— —
x
=
1
SI
=
VE 8 14
Die Balten
d Fer hat von den drei baltiſchen Provinzen, Kurland, Livland, Eſtland, dieſer
\ ee deutſchen Kolonie, zu reden ſich getraut, als im Auguſt vor drei Jahren
IS
Kamen? „Die baltiſchen Männer, die zu uns von der großen Sehnſucht ihres Lebens zu ſprechen
anhoben,“ erinnert Dr. Richard Bahr in der „Kölniſchen Zeitung“, — „der ſelben Sehnſucht,
die ſie einſt aus der ſchwärmeriſch geliebten Heimat ins Mutterland zurückgetrieben hatte,
ſah man — die Schlacht an den Maſuriſchen Seen war längſt geſchlagen — wie Schwärmer
und Querköpfe an, die für ihr und der Ihren kümmerliche Einzelſchickſale den deutſchen Staat
zu engagieren ſich erkühnten. Etwas beffer iſt es ſeither geworden, etwas, nicht viel. Hier.
und da im Reich bildeten ſich bald größere, bald kleinere Gemeinden, in der Oberſchicht der
deutſchen Bildung nebenbei mehr als im Mittelftand und in den breiten Maſſen, den Hanfe-
ſtäd ten leichter als im Binnenlande, die ihre Teilnahme und ihre Wünſche bis an die Dina
und die Baltiſche See trugen. Aber ſie glichen dem Prediger in der Wüſte, die große Mehr-
heit der Nation blieb ungerührt. Selbſt die gar nicht geringe Zahl der Politiker und Beamten,
die man zu Beſuchsfahrten erſt nach Kurland und dann nach Riga lud, kam über ein gewiſſes
vornehm-läſſiges Neuigkeitsintereſſe nicht hinaus. Auch jetzt noch konnte es geſchehen, daß
in einem immerhin führenden Blatt des deutſchen Bürgertums die in dieſer Zuſpitzung ſchlecht⸗
hin närriſche Frage geſtellt wurde: Kurland oder Afrika? (Wobei der in Volkswirtſchaft di—
lettierende Verfaſſer, als ob es ſich dabei um unüberbrückbare Gegenſätze handelte, für Afrika
ſich entſchied.) Weil aber die Balten anders find als die Reichsdeutſchen, aus Gründen der
Geſchichte und der Geographie einſtweilen anders fein müſſen, ward auf fie von den feld-
grauen Verwaltern des Landes, alſo von Deutfhen auf Deutſche, das bitter ätzende Wort
dom ‚Edelpanje‘ gemünzt.
Die Stunde der Entſcheidung naht. Was fie bringen wird, vermag niemand zu kün-
den. Nur das eine, daß ſie ſo oder ſo Bleibendes ſchaffen muß. Flutet die deutſche Welle
noch einmal von den baltiſchen Geſtaden zurück, ſo iſt, was bisher immerhin ein
Außenpoſten deutſcher Kultur war, endgültig für ſie verloren. Denn ob dann eine
andere Macht den vöoͤlkerrechtlichen Schutz der ſelbſtändig gewordenen Oſtſeelande übernimmt,
ob nach einem ſchon vor langen Jahren entworfenen Plan, deſſen Ausführung nur der Aus-
bruch des Krieges hintanhielt, der nun, nach dem Erſticken der Stolipinſchen Agrarreform,
doppelt landhungrige großruſſiſche Bauer feine Maſſen bis an das Meer vorſchiebt — für
Deutſchtum und deutſches Weſen wird dort oben kein Raum mehr ſein.
Früher pflegte man, um einen Rechtstitel zu haben für die kühl abweiſende Gebärde,
mit der man ihnen begegnete, den Balten nachzureden, ſie hingen in ihres Herzens Grunde
22 Die Bolten
doch an Rußland. Sie ſtrebten zum Zarenhofe, dem ſie Diplomaten und Militärs in großer
Zahl lieferten, und wären auch anſonſten eifrige und gefügise Diener des Zarismus. Richtig
daran iſt, daß im Ablauf der Generationen, bis in bie Zeiten Alexanders II. verhältnismäßig
häufig, hernach doch recht ſpärlich Balten nach Rußland abgewandert und dort zu Würden,
Amtern und hohen Ehren gediehen find. Manche darunter, die nachher innerlich zu Ruſſen
und gelegentlich wohl auch zu gehäſſigen und fanatiſchen Vorkämpfern der ſlawiſchen Idee
wurden. Dennoch waren das, bei Licht beſehen, nur Ausnahmen. Wer dergeſtalt fortzog,
war nach Rußland‘ gegangen und galt der Heimat, mit der ihn kaum noch ein Band
verknüpfte, als verloren. Aber Hand aufs Herz: wohin hätte der Überſchuß der Talente,
der nach einer Tätigkeit im großen Verlangenden, denn auch ſich wenden ſollen? Offnete
das Mutterland ihnen etwa gaſtlich und bereitwillig die Arme? Mußte nicht viel-
mehr ein jeder von uns, den ein heißes Temperament von der Scholle der Väter vertrieb,
ſich und fein Recht am deutſchen Staate erſt mühſelig durchſetzen? Scholl ihm nicht immer
wieder, was gerade auf die Hochgeſtimmten und Enthuſiaſtiſchen wie ein Peitſchenhieb wirkte,
die hochmütige Rede entgegen: ‚Du biſt ja gar kein Oeutſcher, biſt ein Ruffe‘? Was
Wunder, daß juſt die Feinfühligſten, die am zarteſten Empfindenden, ſich gekränkt, beleidigt,
verbittert nach ein paar in froſtiger Einſamkeit verlebten Semeſtern wieder heimwärts wandten
oder dahin, wo ſie ſich nicht erſt durch ein Gebirge von Eis hindurchzuquälen hatten? Freilich,
auch die im Baltikum Gebliebenen taten ihre ſtaatsbürgerliche Schuldigkeit und hielten den
jeweiligen Zaren die Treue; mitunter mit einer Hingabe, die ſchon in triefende Loyalität
ausartete. Ich habe das früher nicht begriffen und habe mich deshalb als junger Burſch von
meinen Landsleuten, mit denen mich heute die innigſte Arbeits-, Gefühls- und Gefinnungs-
gemeinſchaft vereint, getrennt. Seither habe ich einſehen gelernt, daß anders die Aufgabe,
die ſie ſich geſtellt hatten oder die ihnen vielleicht auch vom Schickſal geſtellt war, kaum ſich
löſen ließ. Nur indem ſie bedingungslos der Obrigkeit, die Gewalt über ſie hatte,
gaben, was der Obrigkeit war, konnten ſie, wennſchon in immer enger werdendem Bereich,
hoffen, ſich ihre deutſche Art zu retten und ſie aufzubewahren für eine beſſere
Zeit. Immer aber blieben dieſe. Balten von dem dunkeln Gefühl getragen, daß, wie wir
altmodiſchen Leute ſagen, die Wege Gottes wunderbar ſind, noch nicht aller Tage Abend
wurde und es Ehrenpflicht ſei, der ungewiſſen Zukunft hier ein deutſches Beſitztum zu
bewahren.
Heute naht man den Balten in Deutfchland mit dem Vorwurf heimlicher Ruſſen-
freundſchaft nicht mehr. Sie haben in den Kriegsſtürmen, in denen ſie ja immer nur die
von hüben und drüben mißhandelten und beargwöhnten Objekte waren, ihre deutſche Ge-
ſinnung vieltaufendfältig bewieſen. Haben unter Gefahren für Leben und Eri-
ſtenz für unſere Gefangenen geſammelt und geopfert, find um deswillen in Scharen
nach Sibirien und in die Kerker des europäiſchen Rußlands gewandert, und ſelbſt
für die am ſtärkſten von Lopalitätsbedenken Angekränkelten hat der Sturz des zweiten Niko⸗
lai, dieſes vielleicht treuloſeſten aller Romanow, das letzte Band zerrifjen. Dafür be-
ſtreitet man ihnen nun auf Grund ihrer Zahl die Legitimation, im Namen des Landes zu
reden. Man heißt fie geringſchätzig ‚die dünne deutſche Oberſchicht“ oder, wenn man ſich den
Applaus der Galerie zu ſichern wünſcht, ‚Die paar baltiſchen Barone“, obgleich ſchon ein flüch-
tiger Blick auf die zahlreichen, über alle Univerſitäten und Redaktionskanzleien Deutſchlands
verſtreuten Balten lehren müßte, daß ſo ganz unbeträchtlich das bürgerliche Element in den
Oſtſeeprovinzen nicht fein könnte, das fo viele Schößlinge noch ins Reich zu entſenden ver-
mochte. Dennoch trifft es zu: zahlenmäßig find die Oeutſchbalten eine Minderheit, find
ſie ſogar ein beſcheidener Bruchteil der Bevölkerung. ... Das Bild ändert ſich indes, wenn
man erwägt, daß die 1070300 Letten ein Völkerſplitter nur, kein Volk ſind, dem An-
ſchluß möglichkeiten an größere ftammesgenöffifhe Siedelungen, ein völkiſches
Mageppa in der Weltliteratur 23
Hinterland überhaupt fehlen. Über das verfügen die 885200 Eſten, die Bewohner Eit-
und Norblivlands, allerdings: die Finnen ſind mit ihnen gleichen Stammes. Aber die haben
je und je zu Deutſch land geneigt, und die nun von ihnen erſtrittene Selbſtändigkeit war
fast durch die ganzen hundert Jahre, die die Verbindung mit Rußland währte, das Ziel ihres
Strebens. Aber die Statiſtik ift nur ein roher Notbehelf, und Zahlen reichen niemals aus,
den Reichtum des Lebens und den vollen Inhalt menſchlicher Verhältniſſe zu erfaſſen. Ar-
alter deutſcher Kolonialbeſitz iſt da oben, wo noch um die Wende des 18. Jahr-
hunderts von Reval bis Mitau die niederſächſiſche Mundart erklang. ODeutſch iſt
die Kultur des Landes und die Art des Wohnens, deutſch Rechtsanſchauungen und Sitte und
der Glaube, der ſeit dem Jahrhundert der Reformation die Baltenmark nächſt Schweden zur
fefteften Heimſtätte der neuen Lehre machte. Und deutſche Pfarrherren ſchufen Letten wie
Eiten ihre Schriftſprache und ſchrieben ihnen die erſten Bücher. Wo ein Volkstum fo tiefe
Spuren in das Antlitz eines Landes grub, wird man ihm als mitbeſtimmendem
Faktor auch bei zahlenmäßiger Minderheit ſchon noch geſtatten müffen, da es
um die größten und letzten Entſcheidungen geht, mitzureden und mitzuraten.
Es iſt ja gar nicht wahr, daß dort an den Geſtaden der Baltiſchen See ein ewiger
Rampf zwiſchen den Deutſchen und der Urbevölkerung, zwiſchen den ‚baltifchen Junkern“
und den lettiſchen und eſtniſchen Bauern geweſen iſt. Fehler find von den baltiſchen Deut-
ſchen gewiß begangen worden. Man braucht da nicht gleich mit den land flüchtigen letti-
ſchen Sozialre volutionären, die neuerdings von Bern und Zürich aus die deutſche Welt
über die Verhältniſſe im Baltikum aufklären und — ein immerhin neckiſches Verfahren —
mit Vorliebe von reichsdeutſchen Politikern als Kronzeugen gegen uns zitiert zu
werden pflegen, mit dem Zeitalter der Hörigkeit und Leibeigenſchaft zu beginnen. In dieſem
deichen haben allerorten im Grunde die nämlichen Zuſtände geherrſcht. Vom Ausgange
des Dreißigjährigen Krieges bis zu den Stein-Hardenbergſchen Reformen hat auch der deutſche
Bauer keinen Anlaß gehabt, im Landedelmann unter allen Umftänden feinen Vohltäter zu
verehren. Dann aber haben dieſe vielgeſchmähten Junker freiwillig und ohne jeden
äußeren Oruck das Befreiungswerk in die Hand genommen und ſo ehrlich haben
ſie's damit gemeint, daß fie ſelber ſich feſſelten und banden, um einem jeden Ver—
ſuch des Baue rnlegens von vornherein den Weg zu verſperren. Der Bauer iſt dar-
über im lettiſchen Teil wie im eſtniſchen emporgekommen und gediehen.
Den Reſpekt, den manchmal vielleicht widerwillig gewährten, hatten die Balten auch
in den Zeiten ſchwerſter Zerwürfniſſe, die zumeiſt doch die Folge ruſſiſcher Verhetzung
waren, nicht verloren. Immer wor, auch gleich nach der Revolution wieder, der Gutsbeſitzer —
und nicht nur in Fragen der ländlichen Wirtſchaft — der Vertraute und Ratspfleger feiner
gmterſaſſen. Inzwiſchen wurden fie dann auch politiſch zu Kampfgenoſſen.“
S
Mazeppa in der Weltliteratur
er Beſiegte hat immer unrecht. Die Richtigkeit dieſer menſch lichen Weisheit haben
viele große Männer der Vergangenheit erfahren müſſen, deren einzige Schuld
vielleicht nur darin lag, daß fie auf ihre Schultern jene Aufgaben aufbürden woll-
vg die erſt den fpäteren Generationen in ihrer ganzen Tragweite zu verftehen und zu löſen
beſchieden war. Zu den intereſſanteſten dieſer vergeſſenen, weil beſiegten Perſönlichkeiten
gehört auch die tragiſche Figur des unglücklichen Widerſachers Peters I. — Zwan Maze ppa,
eines im Jahre 1709 verſtorbenen Hetmans der Ukraine und trotzdem, feinen politiſchen Zielen
nach, eines der modernſten Europäer. Die bekannten Oichter der Weltliteratur, Maler
24 Mazeppa in der Weltliteratur
und Tonkünſtler, die dieſe Figur zu ihrem Schaffen infpirierte, haben das längſt verſtanden.
Aber ihn ſchrieben ihre [hönen Poemen George Byron und Victor Hugo, ihm widmeten
ihre Gedichte und Dramen Freiligrath und Rudolf Sottſchall, der Ruſſe Puſchkin und
der Pole Slowacki, und eine ganze Menge von ukrainiſchen, tſchechiſchen, ſchwed iſchen, ruf-
ſiſchen und polniſchen weniger bedeutenden Dichtern. Er wurde ſogar zum Helden eines Mimo-
dramas, welches in den achtziger Jahren viele entzüdte..
Das jetzige Geſchlecht, für das die großen Streite und Geſtalten des alten Oſteuropas
durch den Nebel der Vergeſſenheit umhüllt ſind, wird freilich mit den Achſeln zucken: Was
fanden dieſe Dichter in der Geſchichte Mazeppas ſo Reizvolles und Intereſſantes, um gerade
ihn der Vergeſſenheit zu entreißen? Der wilde Ritt eines nackten, auf dem Rücken des nie
gezäumten Steppenpferdes angebundenen Pagen (woe ihn uns Byron darſtellt) — der auf
dieſe ſchreckliche Weiſe die fügen Stunden büßen mußte, welche er mit der Frau feines fpäteren
Räders verbrachte —, iſt gewiß ein dankbares Thema für jeden Dichter. War aber das Ver-
brechen des Pagen in dem von abenteuerlicher Poeſie umgebenen Leben der damaligen
Ukraine etwas fo Seltenes? Oder beſaß die Strafe des kühnen Lieblings der ſchönen Gräfin
eine ſolche abſchreckende Wirkung, daß man es der Mühe wert hielt, fie für die Nachwelt zu ver-
ewigen, und zwar nicht nur in der Oichtkunſt, ſondern auch auf der Leinwand eines Bernet
oder in den brauſenden, vorwärtsſtürmenden, gleich dem Stampfen des galoppierenden Pferdes
dröhnenden Akkorden der ſymphoniſchen Dichtung eines Liſzts? Nein, die romantiſche Ge-
ſchichte allein konnte es nicht ſein, die das tiefe Intereſſe mancher Sterne der Weltliteratur
und Kunſt für die Perſönlichkeit Mazeppas erweckte! Um ſo weniger, da weder Byron noch
Hugo, noch Sottſchall und Freiligrath weltfremde Schöngeiſter waren, die nur vor der
Göttin der Schönheit ihre Knie beugten, und deren Herz für die großen Fragen ihres Zeitalters
verſchloſſen war. Etwas ganz anderes feſſelte ihren Geiſt an Mazeppa. Byron gehörte zu
jener jetzt ſelteneren Art der Briten, die für die Freiheit der unterjochten Völker ihr Leben
opfern möchten, Hugo — ein unruhiger und vielleicht für uns unnatürlich pathetiſcher Geiſt —
führte einen erregten Rampf gegen Napoleon le petit, wie er Napoleon III., dieſe unglückliche
Parodie ſeines genialen Onkels, nannte. Die Deutſchen Freiligrath und Gottſchall waren
auch Freiheitsſchwärmer und Freiheitsſänger. Sie alle, für die die Zeit der Poltawaſchlacht
nicht ſo weit entfernt lag, ſahen in Mazeppa nicht ſo ſehr einen abenteuerlichen Höfling, wie
einen Verbündeten Karls XII. Dem Kämpfer für die Freiheit von Hellas und dem Geg-
ner des napoleoniſchen Deſpotismus war der Geiſt Mazeppas verwandt. Mit Intuition — die
die Gabe der Frauen und Dichter iſt — haben fie, trotz aller Fälſchungen der ruſſiſchen Hiſtoriker,
in Mazeppa den Kämpfer für dasſelbe Ideal entdeckt, um deſſenwillen man jetzt Millionenheere
Weſteuropas nach Oſten warf. Mit angſtvollen Vorahnungen von der wachſenden mosto-
witiſchen Macht erfüllt, die weder Leibniz noch dem großen Friedrich fremd waren, er-
blickten ſie in dem aufgebundenen Reiter einen Prometheus, der — die gewaltige Aufgabe des
20. Jahrhunderts vorgreifend — das Steigen der ruſſiſchen Macht allein brechen wollte. Nicht
der Frevel an dem Hausfrieden eines polniſchen Grafen, ſondern an der Zukunft Ruß-
lands als einer Weltmacht, den ſich Mazeppa erlaubte, erweckte für ihn die Sympathien der
Dichter. Und nicht die Strafe, die einen kühnen Ehebrecher erreichte — geſchmackloſes Thema
„ergreifender” Kinodramen! — ließ fie zur Feder greifen, ſondern das tragiſche Schickſal ein es
Helden, der mit dem dumpf unabweisbaren Siegeszug der Mojra, der emporſteigenden
Macht Rußlands, ſein Schwert zu kreuzen wagte.
Gewiß nicht alle Autoren faſſen auf ſolche Weiſe die Figur Mazeppas auf. Byron
iſt dieſe Auffaſſung faſt ganz fremd. Er, der fein Gedicht unter dem blauen Himmel Staliens
ſchrieb, wo er die ganze Tragik einer Liebe zu einer einem anderen angetrauten Frau erlebte,
ſah in Mazeppa nur einen Leidensgenoſſen. Der große Brite nennt die Geliebte Mazeppas
Thereſa, und genau fo hieß Signora Guiccioli, geborene Gräfin Gamba, die das Herz des
.
Mazeppa in der Weltliteratur ö 25
Dichters in Italien entflammte. Die ſchönen Szenerien — die Wälder, die Bäche und Steppen
der Ukraine, die Byron vorbeiziehen läßt, die ſchickſalsſchwere Schlacht und der heldenhafte
Schwedenkönig, all das iſt nur das Milieu, ein bunter Teppich, auf welchem Scheherazade
figt und ein Märchen aus Tauſend und einer Nacht — das ewig neue Märchen von dem be-
trogenen Ehemann und ſeinem glücklichen Nebenbuhler — erzählt. Aber auch Byron war
der tiefe Inhalt von Mazeppas Leben, das, hiſtoriſch betrachtet, an dieſem „dread Poltawa's
day“ beendet wurde, nicht verſchloſſen, und faſt wie eine dunkle Prophezeiung der heutigen
Tage klingen die nachſtehenden Worte, in denen der Dichter ſagt, daß das ee nur
vorübergehend in das Zarenlager überging —
Bis einſt ein ſchreckensreicher Tag,
Ein Jahr der ewiglichen Schmach,
In fürchterlichen Blutgerichten
Viel ſtolzer Namen follt’ vernichten
Zu größtem Schiffbruch, tieferem Falle —
Ein Grab für einen — Schlag für alle.
Für Hugo iſt Mazeppa das Sinnbild eines kämpfenden Geiſtes, der alle ihm angelegten
Feſſeln zerreißt und raſend vorwärtsjagt. Nicht umſonſt hat er als Motto für ſein Gedicht das
Byronſche Away! Away! gewählt. Bezeichnenderweiſe findet man Hugvs Mazeppa in dem
Buche „Les orientales“, das den Freiheitskampf Griechenlands feiert.
Noch deutlicher tritt die Geſtalt des hiſtoriſchen Mazeppa bei A. Puſchkin auf. Der
Ruſſe verſtand ihn gut, und deshalb haßte er ihn auch mit ganzer Kraft feines leidenfchaft-
lichen Talentes. Für ihn (in ſeinem Poem „Poltawa“) war der ukrainiſche Hetman der Mann,
welcher die Stützen des heiligen Rußlands umwerfen wollte: eine hinterliſtige Natur, ein
Blutſchänder und Intrigant, bei dem Puſchkin, hätte er 50 Jahre fpäter gelebt, ſicher die Züge
eines „verbrecheriſchen Typus“ nach Lombroſo entdeckt hätte. Für ihn iſt es ein Dämon in
menſchlicher Geſtalt, der Ormuzd, der gegen den Ariman-Beter feine frevelhafte Hand erhoben
hatte. Aber ſogar Puſchkin konnte dem Leſer die wahre Größe ſeines Helden nicht verdecken,
welchen er zwar als eine böſe, aber doch eine Kraft darſtellt, als einen Mann, der nicht zögerte,
feine 70 Jahre, feine Liebe und die Gnade des Zaren (Peter hat für ihn ſogar den Titel eines
Fürſten des Heiligen Römiſchen Reiches erlangt) auf dem Altar feines unglücklichen Vater
landes — der Ukraine — zu opfern. Mit wahrer Poeſie beſchreibt Puſchkin das allgemeine
Murren in der Ukraine, leiſe und doch gefährlich, wie der herannahende Sturm bei dem Gerücht
von dem Vordringen Karls, den Haß gegen die Moskowiter, der nur eines Funkens bedurfte,
um in hellen Flammen emporzulodern, die tiefe Liebe Motrenas zu ihrem Pagen — Mazeppa.
Freilich unterläßt der ruſſiſche Dichter nicht, die Hinrichtung zweier ukrainiſchen Oberſten
-- Iskra und Kotſchubej — zu ſchildern, die den geplanten Verrat ihres Hetmans dem
Zaren aufdeckten, und die als Verleumder von ihm ihrem Gegner ausgeliefert wurden. Aber
was bedeutete das Blut dieſer Renegaten ihrer Nation im Vergleich zu jenem Blutbade, das
Peter in der Hetmanſchen Reſidenz — Baturin — einige Jahre ſpäter anrichtete? Mit einem
geſpalteten Gefühl der Genugtuung, daß das entſtehende Rußland die Schlacht bei Poltawa
gewonnen hat, und der Angſt, daß es doch anders hätte werden können, endet Puſchkin.
Bei Gottſchall verdrängt der Hetman vollkommen den Pagen. Er iſt eine Herrſchernatur
im Stile Wallenſteins (offenbar ſtand der Dichter unter dem Einfluß dieſes Schillerſchen Helden).
Mazeppa ift nach ihm „ein Mann
Von Kopf zu Fuß von eiſenfeſtem Willen
Und einem Streben, das dem Höchſten gilt!
. . . Das Ziel, nach dem fein Leben drängt, das Ende
Des ſtolzen Wachstums ſeiner Größ' und Macht,
Der goldne Kronenreif der Ukraine!“
26 Mazeppa in der Weltilterakur
Der Zar wollte den Rebellengeiſt, der in den Steppen wohnte, tilgen und das ukrainiſche
Volk, ein „flüchtiges Gewölk“, zuſammenballen, „daß es im Strahle ſeiner Sonne glüht“!
Wie den Met, den ihm Mazeppa reicht, will er der Ukraine Freiheit bis zur Hefe trinken. Dieſe
Einigungspläne Peters, der die Ukraine mit ſeinem Reiche verſchmelzen wollte, ſchreckten
Mazeppa ab. Er will nicht in feinem Vaterlande „nur Sporen an den großen Reiterftiefeln,
mit denen Rußland bis zum Nordpol ſpringt“ ſehen. „Den freien Söhnen dieſer weiten Steppen,
vor denen Türken und Tataren flohen, wie Tauben vor dem Habicht“, paſſen die zentraliſtiſchen
Abſichten des moskowitiſchen Zaren nicht, und der gre ſe Hetman rollt die Fahne der Rebellen
auf! Der deutſche Dichter hat die hiſtoriſche Rolle Mazeppas vollkommen richtig eingeſchätzt
und begriffen, und es klingen beinahe wie Klage und Vorwurf den ſpäteren Generationen die
Worte, die Gottſchall dem ſterbenden Mazeppa in den Mund legt, daß niemand da iſt, der
„den Traum des Lebens ihm von ſeiner Stirne küßte“! |
Schwebte vielleicht dieſer blendende Traum auch dem genialen Liſzt vor, als er feine
ſymphoniſche Dichtung „Mazeppa“ ſchuf? Jede Auslegung eines Tonkunſtwerkes iſt freilich
bedingt, und das Verſtändnis eines Muſikſtückes zumindeſt perſönlich, aber wenn auch Liszts
ſymphoniſche Dichtung in unſerer Phantaſie zuerſt das Bild eines ſtampfendes Roſſes hervor-
ruft, das durch Wälder und Felder dahinraſt — ſo dringt meiner Meinung nach auch etwas
anderes hindurch. Die Töne ſind zu ernſt und nicht diejenigen, die in ungariſchen Melod ien
gewöhnlich die perſönlichen Erlebniſſe des einzelnen wiedergeben. Die Schatten der eigenen
Vergangenheit, die ſolche Melodien erwecken, ſtellen ſich nicht vor unſere Augen, und die Erinne-
rungen der eigenen Erlebniffe erfüllen nicht das Herz des Zuhörers mit Schmerz bei den Tönen
des Liſztſchen „Mazeppas“. Nein! In den Gedanken erſcheint ein anderes Bild, welches ich,
ich weiß nicht wo, geſehen habe: Ein weites Feld, der blaue Himmel der Ukraine, Pappeln,
zerbrochene Lafetten, Pferdekadaver, hie und da weggeworfene Gewehre — und im wilden
Ritt jagen durch den krummen Steppenweg zwei Reiter, ein Jüngling und ein Greis, der
Schwedenkönig und Mazeppa. Meines Erachtens hat der große Meiſter den Hetman ver-
ſtanden b
Wer von allen dieſen Verherrlichern Mazeppas hat dieſen eigenartigen Mann am
beſten verſtanden? Was war eigentlich dieſer intereſſante Charakterkopf Europas des achtzehnten
Jahrhunderts? Ein leichtſinniger „Chevalier“ im Stile d'Artagnans von Alexander Dumas?
Ein Freiheitskämpfer? Oder eine verkörperte Undankbarkeit mit der Seele eines Machiavell?
3h glaube alles zufammen. Mazeppa war nicht eine fo einfache Natur, um mit einem
Worte charakter iſiert werden zu können, und es ſcheint, daß jeder von den großen Dichtern,
die ihn beſangen, bloß einige Züge ſeiner mächtigen pſychiſchen Geſtalt erkannt hat. Gewiß
war er auch ein Frevler — wie ihn Byron darſtellt —, für welchen keine Heiligkeit dieſer Welt
ſo hoch ſtand, daß er ſie nicht herunterzureißen verſuchte, wenn es ſein mußte. Gewiß war er
auch jener unruhige Geiſt, wie bei Hugo. Lebte und wirkte er doch in einer, um mit Auguſte
Conte zu ſprechen, „kritiſchen Epoche“, als der beſtehende Status quo in Oſteuropa hin und
her ſchwankte, indem er einem anderen, Kommenden den Platz räumen mußte. Freilich war
er auch, wie ihn uns Sottſchall darſtellt — ein Freiheitskämpfer. Dieſer fließend lateinifch
ſprechende Hetman, der in ſeiner Reſidenz Baturin einen Souverän ſpielte, verachtete das
rohe und plumpe Moskau und wollte alles eher als an dieſes für jeden damaligen Ukrainer
barbariſche Reich gebunden fein. Sein Land, welches bereits im 17. Jahrhundert Ge lehrte und
Buchdrucker nach dem fernen Moskau ſchickte, keine Leibeigenſchaft kannte und von den glor⸗
reichen Traditionen eines gluͤcklich überſtandenen Befreiungskrieges gegen Polen beſeelt war,
war von den Reformen Peters I. wenig entzückt, zumal ſie in erſter Linie zur Zentraliſation der
Staatsgewalt führten. In der Oppoſition dagegen fanden ſich Mazeppa und fein Volk zu-
einander. Es wäre töricht, dem Unternehmen Mazeppas irgendwelche perſönliche Gründe zuzu-
ſchreiben. Er, ein ſiebzigjähriger Greis, ohne Frau und Kinder — welche perſönlichen Motive
*
Mazeppa in der Weltliteratur N 27
konnten ihn zu feinem Verrate verleiten? Wenn ein am Grabe ſtehender Menſch durch per-
fönlihe Motive zu irgend etwas ſich verleiten läßt, fo geſchieht es nicht ut, ſondern höchſtens
quia, z. B. wegen der Racheluſt. Aber dieſer mit Gnaden und Achtungsbeweiſen feines Herr-
ſchers beinahe überſchüttete Regent der Ukraine — wofür perſönlich ſollte er ſich an Peter
rächen? Im Gegenteil, fein perſönlicher Nutzen hätte ihn eher auf die Seite Peters führen
ſollen, bei ſeinen Plänen der Vernichtung der ukrainiſchen Selbſtändigkeit! Daß Mazeppa
einen anderen, gefährlicheren Weg wählte, beweiſt, daß nicht er ſelbſt, ſondern fein Land und
deſſen Wohl für ihn das Höchſte war. Deshalb hat auch der greife Hetman weder ſich ſelbſt noch
die Nachwelt betrogen, als er feine Anhänger unmittelbar vor feinem Anſchluß an Karl ver-
ſicherte: „Angeſichts des allmächtigen Gottes ſchwöre ich, daß ich fo vorgehen will, weder wegen
meines Privatnutzens, noch um höherer Ehren willen, noch zur Bereicherung oder aus irgend-
welchen anderen eigennützigen Wünſchen, ſondern wegen euch aller, wegen eurer Frauen und
Kinder, wegen des gemeinſamen Wohles unſeres armen Vaterlandes, meiner Mutter Ukraine,
und wegen der Bewahrung und Erweiterung der Freiheiten des ſaporogiſchen Heeres, damit
ihr weder von der moskowitiſchen, noch von der ſchwediſchen Seite zugrunde gerichtet werdet.“
Trotzdem hatte auch teilweiſe Puſchkin recht: das Spiel, das Mazeppa mit Peter ein
ganzes Jahr (von Oktober 1708 bis Oktober 1709) ſpielte, indem er ihm vorſpiegelte, ſein
treueſter Diener zu ſein, gleichzeitig aber alle militäriſchen Vorbereitungen zum Empfange
Karls traf, fo daß von feinem Verrat der Zar faſt am Tage feines Übertrittes zu Karl erfuhr, —
hätte der gelehrigſte Schüler Machiavellis nicht beſſer machen können!
So verſchieden auch alle dieſe Dichter Mazeppa ſchildern, jo ift doch einer feiner Cha-
tatterzüge ihnen allen gleich aufgefallen, nämlich feine ungeheure Willenskraft, die Wil-
lenskraft einer geborenen Herrſchernatur, die über alle Hinderniſſe hinweg zur Verwirklichung
ihrer Ziele ſchreitet, wie der Byronſche Page durch Wälder, Flüſſe und Berge. Leute, die
ſolche Willenskraft beſitzen, die man wie Mondſüchtige zu ihren Taten drängt, wurden immer
vom Volke mit irgendeiner myſtiſchen Ehrfurcht umgeben, als Botſchafter und Träger einer
unbekannten, höheren Gewalt.
Alle Dichter haben auch Mazeppa als von einer höheren Gewalt erfaßt dargeſtellt,
als würde er von einer dunklen Kraft, die in ihm wohnte, zu feinem Handeln getrieben. Ma-
zeppa tat, was er tat, weil er anders gar nicht konnte — „was wir ſind, wir ſind es, weil wir
müſſen“, denn „in der Tiefe unſerer Seele wohnt ein dunkles Müffen“ (Sottſchall). War
vielleicht dies „Müſſen“ Mazeppas eine unklare Vorſtellung von der Ewigkeit jener Idee,
für welche er ſein Leben hingegeben hatte: der Idee eines hiſtoriſch notwendigen Kampfes
zwiſchen Weſten und Oſten, deſſen bloß eine — wohl blutige — Epiſode die Schlacht bei Pol-
tawa war? Ahnte Mazeppa vielleicht, daß er ein Spielzeug in der Hand der Weltgeſchichte
war, die durch ihn den ſpäteren Generationen ihren Weg zeigen wollte?
Mazeppa fiel, und fein Wagnis ward vergeſſen. „Hätt’ er geſiegt, es war ein Königs-
flug, gefeiert von der Welt, — ſo aber ſind's nur Pagenſtreiche, über die man lacht“ (Gottſchall).
Und darüber lachte man wirklich! Nicht aber die Künſtler und Dichter, die mit ihrer
Intuition fühlten, daß die Sache ihres Helden mit feinem Sturze noch nicht abgetan iſt.
Und fie hatten recht! Es ſcheint, daß wir wieder in jener großen Zeit leben, der Zeit der Ver-
geltung, welche Byron vorausfagt. In der Zeit, da die wichtigen Fragen des achtzehnten Jahr-
hunderts — das Verdrängen Rußlands vom Baltiſchen und Schwarzen Meer —, die Mazeppa
mit ſeinem königlichen Verbündeten löſen wollte, wieder aufgerollt ſind.
In den weiten, mit dem Blut der Kämpfer für die Freiheit ihres Landes getränkten
Steppen der Ukraine, in denen einſt das Echo der Poltawaſchlacht ertönte, rollt wieder dumpf
der Ranonendonner.
Geht der Geiſt Mazeppas wieder um? Omytro Donzow
ur
2. Frenſſens Kriegesroman
Frenſſens Kriegsroman
C e s iſt das Große und damit folgerichtig auch das Furchtbare dieſes Krieges, daß ſich
BJ ihm keiner körperlich, geſchweige denn geiſtig und ſeeliſch, entziehen kann. Wer es
ES N. kann, ſtellt ſich damit nur das Zeugnis innerer Unlebendigkeit aus. Wilhelm Raabe
hat einmal (31. Dezember 1884) in der bitteren Antwort auf einen offenbar verbitterten Brief
Wilhelm Zenſens geſchrieben: „Wenn mir etwas in meinem Autorenleben eine Genugtuung
gewähren könnte, ſo wäre es dieſes, daß ich damals (1870) unter all dem Augenblickspathos
gelaſſen habe den ‚Dräumling‘ ſchreiben können“. Im jetzigen Kriege hätte ſich Raabe nicht
fo einzukapſeln vermocht; er hätte es ſicher auch nicht gewollt, trotzdem ihn manche Ereigniſſe
in ſeiner bitteren Meinung über den Wert der Deutſchen als Nation hätten beſtärken können.
Das ungeheure Erlebnis des Deutſchtums als Volkstum hätte ihn nicht ruhen laſſen. Jedenfalls
iſt es heute ein Zeichen von Blutleere für den Künſtler, wenn er nicht verſucht, irgendwie in
das ungeheure Werden, in das chaotiſche Gären der Zeit geſtaltend miteinzugreifen. Einen
ſolchen Ewigkeitsdünkel, der ſich gar nicht an die Zeit verpflichtet fühlte, bringt nur ein im
Grunde geift- und gefühlloſes Aſthetentum auf.
Hinzu kommt der Einfluß der äußeren Literaturverhältniſſe. Vor allem kann ſich der
Romanſchriftſteller der Erkenntnis nicht verſchließen, daß ſeine Werke zu einer gewiſſen Kurz-
lebigkeit verurteilt find. Auch dort, wo das Abbild der Welt nur Hintergrund iſt für die Ent-
wicklung eines mehr durch Dauerhaftigkeit des Problems ausgezeichneten Menſchenſchickſals,
bewirkt doch dieſe Zeitgebundenheit des Hintergrundes zum mindeſten eine Erhöhung der
Wirkung, fo lange auch dieſer Hintergrund für die Mitlebenden wichtig iſt. Ich erkläre mir
daraus die raſche Schaffensweiſe auch jener erzählenden Schriftſteller, die vor dem Verdacht
des Ausnutzenwollens einer günftigen äußeren „Kombination“ von vornherein geſichert find.
Es iſt nicht das Haſchen nach den beſſeren Erfolgsmöglichkeiten des Tages, ſondern der innere
Zwang, in deſſen Entwicklung einzugreifen, der ſie antreibt. Das Maß dieſer „Aktualität“
wird bei jeder künſtleriſchen Perſönlichkeit ein anderes ſein. Zwei Grundrichtungen aber bleiben
zu unterſcheiden. Bei der einen liegt die ſchöpferiſche Urzelle in der Idee des Zeitgeſchehens.
Der Oichter wird von ihr erfaßt, ſucht fie zu veranſchaulichen, und die einzelnen Menſchen
und deren Schickſale ſind ihm nur Oarſtellungsmittel. Die kürzlich hier beſprochenen Romane:
Frekſa's „Gottes Wiederkehr“ und Clara Viebigs „Töchter der Hekuba“ ſind dafür Beiſpiele.
Die andere Gruppe behält ihr Schwergewicht in der Menſchendarſtellung. Hier wird es darauf
ankommen, zu zeigen, wie eigenartige Menſchen ſich gegenüber dem in ihr Leben gewaltſam
hereinbrechendes Erlebnis des Krieges verhalten. Peter Dörfflers gleich im erſten Kriegsjahre
erſchienener Roman „Der Krieg im ſchwäbiſchen Himmelreich“ war dafür geradezu ein Schul-
beifpiel, Suftap Frenſſens foeben erſchienener Roman „Die Brüder“ (Berlin, G. Groteſche
Verlags buchhandlung; geb. & 6.50) iſt ein Meiſterwerk dieſer Gattung.
Jawohl, ein Meiſterwerk. Auch ich habe immer zunächſt einen ſtarken Widerſtand zu
überwinden, wenn ich Frenſſen Leſe. Ich habe ihn bei dieſem Buche ſtärker empfunden, als
bei einem früheren. Ich werde in einfache Verhältniſſe zu äußerlich ſehr einfachen Menſchen
geführt; der Dichter betont ihre Verſchloſſenheit and Wortkargheit. Er aber macht ſehr viele
Worte, ſagt alles ſehr breit, und ſagt es nie einfach. Da verehrt die kleine Bauerndirne ihren
verſtändigen Bruder „heiß“; ein andermal hört fie „mit blanken Augen zu, das lange edle
Geſicht voll ſchweren, ſüßen Ernſtes und faſt Feierlichkeit, fo als wenn er ihr eine goldene Krone
auf die Decke legte“. So faſt auf jeder Seite. Aber fei es, daß der Dichter ſelbſt im weiteren
Verlauf „natürlicher“ wird, ſei es, daß er uns in ſeinen Stil hineinzwingt, jedenfalls iſt nach
einem halben Hundert Seiten wenigſtens mein Widerſtand gebrochen und ich ſchwimme be-
haglich und beglückt auf dieſem ruhig fließenden Strome einer ſicheren, nie gehemmten Ex-
Frenſſens Rriegsreman 29
zählungskunſt. Das Fremdartige in ihr wird mir zum Reiz und ſtimmt für ein Gefühl zu der
Stammesart der dargeſtellten Menſchen, die in ihrer frieſiſchen Steilheit meinem Alemannen-
tum auch zunächſt ſehr fernſtehen, bis ich ihnen nach längerem Zuſammenſein vertrauensvoll
die deutſche Bruderhand ſchũtteln möchte. Nun wird mir des Dichters Stil zum Genuß. Seine
gehäufte Bildhaftigkeit bereitet mir die Freude geſteigerter Anſchauung. Er läßt einmal einen
jungen Menſchen, der für ein geſchichtliches Ereignis einen gar nicht ſchulmäßigen Vergleich
wählt, ſich alſo rechtfertigen: „Der Mann, der dieſes Geſchichtsbuch geſchrieben hat, hat dieſes
nicht gefagt, weil er keine Kraft und keine ordentlichen Ausdrücke im Leibe hat. Wenn ich eifrig
werde, kommen mir immer ſolche Worte, und die find gut. Man fieht die Dinge dann ordent-
lich. Wenn andere Menſchen ſolche Worte nicht haben ... ich habe fie; und will und kann ſie
nicht aufgeben. Ich kann mir doch die Zunge nicht abbeißen?“ (S. 100.)
Nein, das ſoll Frenſſen wahrlich nicht tun. Denn wie ſchön iſt es, wenn er für die beim
Kriegsausbruch von allenthalben nach Hauſe Stürmenden die Sorge, nur ja rechtzeitig bei ihrem
Truppenteil zu fein, in folgende Worte kleidet: „Sie hatten alle das Gefühl. . . ſahen alle irgend-
wo im Geiſt ... auf dem Hof einer Kaſerne ... eine Lücke in einer langen Reihe, wo gerade
ſie ſtehen ſollten. Sie ſahen eine blauſchwarze Linie in dem Kaſernenhof ſtehen und ſahen
einen Offizier ſich fragend umſehen, und ſahen ſich und viele andere hinlaufen, um ſich in die
Reihe zu ſtellen, daß ſie voll würde.“ (S. 160.) Oder wenn ein junger Menſch voll reicher
Pläne ſich in die Zerſtörung durch den Krieg findet. Er ſitzt mit ſeiner Freundin oben im Glocken-
turm vor einer Glocke: „Er ſchwieg eine ganze Weile, während fie ſchluchzte. Dann fagte er
unſicher, wie ein Menſch, der ſich im Dunklen vorwärtstaſtet: Daß Gott mir hilft, wie er dem
alten Meifter geholfen hat bei feinem Glockenguß, das glaube ich gewiß... Er wird ſchon helfen,
daß der Guß fertig wird, wie er ihn beſchloſſen hat. Aber das kann ich durchaus nicht wiſſen:
Hilft er mir fo, daß er mich leben läßt, oder daß er mich fallen läßt ... und mich anderswo ver-
wendet .. . Denn er hat ja Arbeit genug.“ (S. 261.) And noch ein drittes Bild, weil dieſe
Stellen ja auch eine Vorſtellung des ganzen Stils vermitteln: „Er erging ſich in unzähligen
großen Gedanken, die wie Vögel im Nebel, die man nicht ſieht ... aber man hört fie ziehen.
vor ihm vorüberflogen.“ (S. 263.)
Allmählich findet man es ganz in der Ordnung, daß Tun und Denken einfacher Menſchen
„gefeiert“ werde. Gewiß liegt der beſondere Wert dieſes Lebens im Vermeiden aller feier-
lichen Geſte, jedes großen Wortes. Aber warum ſoll der Künſtler, dem die Schönheit dieſes
ſchlichten Tuns voll aufgegangen iſt, nicht ſelber darob zum ergriffenen Pathos gelangen?
Man hat bei Frenſſen das Gefühl, als ob er immer wieder ergriffen werde durch dieſe Schönheit
und Größe im äußerlich fo ſchmuckloſen Handeln des Volkes. Und wenn er ſchildert, wie die
Matroſen auf dem Vachſchiff bei der erſchütternden Begegnung zweier Brüder es einzurichten
wiſſen, daß die beiden miteinander allein ſind, ſo wirkt die breite Ausmalung dieſer einfachen
Szene als das verdiente hohe Lied auf ein ſeeliſches Feingefühl in rauheſter Form.
Frenſſens Buch iſt eigentlich eine Familiengeſchichte. Die Otts ſind Hofbauern in der
Marſch. Flensburg liegt in der Nähe, die Nordfee iſt nur eine Stunde fern. Im jungen Ge-
ſchlecht dieſes kinderreichen Hauſes haben ſich die Anlagen des wortkargen, ſchwer bedächtigen
Vaters und der phantaſievollen friſch zugreifenden Mutter verſchieden gemiſcht. Aber eins
bat ſich in allen eher noch verſtärkt. Ein fremder Menſch, der als Knecht auf den Hof gekommen
ift, wird durch dieſe eine Eigenſchaft zu einem dummen Streich getrieben, nur weil es ihn ge-
radezu zwingt, dieſe eigentümlich auf ſich ſelbſt beruhende Familie einmal etwas durcheinander-
zuwirbeln. „Ihr wart euch immer ſelbſt genug, und ich merkte wohl, daß dies Benehmen nicht
allein Scheuheit, ſondern auch eine Art Hochmut war. Ihr wart doch eigentlich alle überzeugt,
daß die Otts die vornehmſten Menſchen wären und weder Rat, noch Hilfe, noch Umgang nötig
hätten,“ (S. 465.) Und Harm, der geruhigſte unter den Söhnen, der ſich über alles Tun und
Lafſen genau Rechenſchaft gibt, kommt auch zur Erkenntnis, daß, wenn all das ſchwere Erleben
30 Frenſſens Nriegsrome
ihm und den Seinigen etwas einbringen ſoll: „fo muß es das fein, daß wir den Menſchen zu
getaner, demütiger, zutraulicher, gütiger werden“. (S. 476.) Bis es dahin kommt, ſchlägt dieſen
Menſchen gerade ihre Gediegenheit, ihre innere Steilheit — das Wort iſt ſehr bezeichnend
ſtört, weil die Urſache ſich nicht feſtſtellen läßt. Am meiſten wird die etwas phantaſtiſch ver- f
anlagte Tochter gepackt, der Schreck macht fie krank, und der ihr in Liebe zugetane Knecht fliehthi N)
von dannen. Nun gerät das Wädchen, in deſſen jungem Gemüte auch die Liebe zum Knecht
Wurzel geſchlagen hat, in religiöfe Uberſpanntheit. Der Vater verdächtigt feinen beſonders ff
ſtolzen Sohn Eggert des Pfeifens; der jagt ergrimmt in die Welt hinaus und die daheim ſind
nun völlig übereinander. In ihrem ſtolzen Weſen verbohren ſich alle. Der vernünftige Harm,
der jugendliche Träumer Reimers, und der ſtill verſonnene Klaus, vermögen allenfalls ſich
ſelber durchzuhelfen. Der Vater gerät in einen gefährlichen Seelenzuſtand. Da kommt der
Krieg. Harm, der nach ſeinem nach Amerika geflohenen Bruder Eggert geſucht hat, kann die
perſönliche Begegnung mit dieſem nicht mehr abwarten und eilt in die Heimat. Er kommt als
erſter auf einen der kleinen Fiſchdampfer, die den aufreibenden, weil eintönigen Wachtdienſt
in der Nordſee zu verſehen haben. Ganz meiſterlich iſt die Schilderung des Kleinlebens in dieſer |
engen Welt, die doch immer mit einzelnen Fäden an die größten Ereigniffe gebunden iſt. Für
ihn perſönlich iſt das Wichtigſte das Zufammentreffen mit feinem Bruder Eggert, der auf einem
neutralen Schiff die Heimreiſe gewagt hat. Sie kommen dann beide auf das Großkampfſchiff
Below. Oer junge Reimers iſt natürlich als begeiſterter Freiwilliger losgezogen, aber auch N
den an feinem Haufe wie eine Rage hängenden Landſtürmer Klaus holt die Not des Vater a
landes aus feinem Winkel heraus. Wie die innere Entwicklung der Brüder in der Linie zur Be 1
freiung vom unbewußten Hochmute, zur Selbſtdemütigung aus Liebe zu den andern mit den
großen Kriegsereigniſſen verbunden iſt, verdient höchſtes Lob. Die Schilderung der Schlacht d
am Skagerrak iſt innerlich gepadter, als das berühmte Schlachtgemälde „Gravelotte“ im „Jörn.
Ahl“. Auch das Leben auf dem U-Boote kommt anſchaulich heraus. Reimers ſtirbt den jungen
Heldentod; der ſtolze Eggert kommt als Einarmiger heim. Der für gewöhnlich beinah feige 5
Klaus gewinnt das Ehrenzeichen, weil ihm das Ausharren einer einmal übernommenen Pflicht
als Selbſtverſtändlichkeit im Blute liegt. Der alte Vater erringt durch Demütigung nicht nur
die Liebe des entfremdeten Sohnes, ſondern den Frieden mit ſich ſelbſt. Das ſind ans Tiefſte
greifende Stellen in dem Buche, das auch ſonſt noch eine lange Reihe eigenartiger Menſchen
an uns vorüberziehen läßt. Der Paſtor Bohlen, den von Zeit zu Zeit die Krankheit der Trunk
ſucht heimſucht, und die äußerlich beſonders ſteile, dabei an innerem Humor reiche Jungfer
göbke Suhl, find unvergeßlich. 0
Soll ich nun noch einige Vorbehalte geltend machen? Ach nein, wir wollen doch einem
Künſtler nicht Widerſtand leiſten, ſondern uns freudig dankbar hingeben. Ich ſtimme Frenſſen
zu: „Der Rünftler iſt der Menſchen Freude und Notwendigkeit; der Kritiker nur ihre bittere
Notwendigkeit.“ Zch fühle nicht den Beruf, der paar Tropfen Bitterkeit in einem reichgefüllten
eudenbecher knurrend zu gedenken. Freuen wir uns des Buches!
Fr | zu g n. & ch garl Store
R
1
>
\)
N
S
, 2
Mee
e
b N
\ )
\
N
SNIS 2
N
SV
N
| En
7 5! N) I"
- Il 14
* *
— — — > Pr 7
Du 20 8
e NN.
W N\ Nee 12
Ourm but
— — S — — nn
Der Krieg.
ir haben den Frieden mit Rußland, und die Bedeutung dieſer
* Tatſache ſoll in nichts gemindert werden. Aber der papierene
N Vertrag von Breſt-Litowſk gibt uns noch keine Bürgſchaft, daß
D unſer Friedenswille in die Tat umgeſetzt und nicht in fein Gegen-
teil verkehrt wird. Das haben uns nicht nur die Verhandlungen mit Trotzki-Braun⸗
ſtein und Genoſſen bewieſen, das beweiſt uns auch das Verhalten der Bolfchewili-
Regierung nach dem Abſchluß des Vertrages. Mit Recht weiſt darum Paul
D. Bernoulli in der „Süddeutſchen Zeitung“ darauf hin, daß wir es auch bei
künftigen Friedensſchlüſſen mit Partnekn zu tun haben werden, die ſelbſt
nach vertraglich feſtgeſetzten Friedensbedingungen dieſe nicht erfüllen wollen:
wer erinnere ſich nicht der Durchbrechung der Algericasakte durch Frankreich
in Marokko, in Friedenszeiten? N |
„Diefes lehrt uns, daß wir zur Durchführung unſerer Friedensnotwendig-
keiten tatſächlich reale Garantien, d. i. Machtmittel in der Hand behalten
bei uns darüber im unklaren ſein, daß nach erfolgter militäriſcher Niederlage
unſerer Gegner in Ermangelung des errungenen Vernichtungsſieges jene bemüht
ſein werden, uns am Verhandlungstiſch und im kommenden Frieden
hereinzulegen. u 8
Dann gute Nacht, gutmütiger Zipfelhauben-Michel! Darüber beſteht jeden-
falls in allen Teilen des deutſchen Volkes die vielgeprieſene Einmütigkeit der Auf-
faſſung, daß die Ententediplomaten den unfrigen bei weitem überlegen find. Wir
glauben, hierüber beſtehen keine Zweifel, und wir haben nicht weiter nötig, Bei-
ſpiele hierfür anzuführen. Denn Bismarck ift ja tot — und fein Geiſt lebt aller
dings nur in einer, heutzutage ſelbſt vom Miniſtertiſch aus geſchmähten, Minder-
‚heit überzeugungskräftig und betätigungsbereit fort. ö
Armes Deutſchland! —
Wir aber wiſſen, daß wir ohnmächtig ſein werden, ſobald wir unſere
überlegenen Machtmittel aus der Hand geben, bevor die internationale
müſſen, wollen und ſollen wir nicht überall übertölpelt werden. Kein Tor wird
32 Zürmers Tagebuch
Friedensmaſchine eine gute Zeit lang zu unſerer Zufriedenheit wieder regelrecht
arbeitet. Und diejenigen, welche dieſe Tatſächlichkeit zu betonen nicht müde wurden,
die „Alldeutſchen“, dürfen im Reichsparlament ungeſtraft und ohne Ordnungsruf
mit dem Ausdruck „Maulhelden“ beſchimpft werden! Geradezu klaſſiſch iſt über-
dies, wie ſich Mehrheitsabgeordnete zugunſten nationaler Minderheiten in außer-
deutſchen Staaten (Polen, Rußland uſw.) ins Zeug legen; indeſſen wird von
ihnen im eigenen Vaterland die auf dem Boden der vaterländiſchen Geſchichte
fußende nationale ‚Minderheit‘ befehdet und ihr das Recht der Meinungsäuße-
rungen und Überzeugungstreue abgeſprochen. Ja man ſcheut ſich nicht, einem
Bund, der ſich zuſammengeſchloſſen hat, um für das Vaterland Partei zu er-
greifen und außer dem keinen Zweck und kein Ziel kennt, ſolange der Krieg tobt —,
Zerſplitterungsſucht der nationalen Geſchloſſenheit vorzuwerfen, während man
nach dem Vorbild mit anderen demokratiſchen Zielen eine Art Gegenreformation
betreibt und eine Liga gründet als „Bund für Freiheit und Vaterland“.
Dieſer neue Bund erhält die Sanktion der ‚Mehrheit‘, ſomit der Regierung,
denn beides iſt jetzt eins: wer hörte ſchon je von Befehdung dieſes Bundes? Aber
die Vaterlandspartei wird als eine Rotte von Annexioniſten, wilden Eroberern,
Kriegsverlängerern und Kriegsgewinnern hingeſtellt, — die allerdings den Krieg
gewinnen wollen und nicht für ein totes Rennen, für ein Hornberger Schießen,
für einen verdammten Peſſimismus Blut und Gut ene und
verſchachern laſſen wollen.
So ſieht die vielgerühmte Toleranz der Mehrheitsapoſtel, ſo die Betätigung
des Burgfriedens und die gepredigte Einmütigkeit aus.
Kein Papſt, kein Wilſon und kein Kanzler braucht dem deutſchen Volke
erſt noch auseinanderzuſetzen, daß wir an die Stelle der Gewalt und der
Macht die Herrſchaft des Rechtes und der Sitte geſetzt ſehen wollen. Gerade das
wollen wir ja, und wir fordern vor allem Gerechtigkeit hinſichtlich der Lebens-
notwendigkeiten unſeres Volkes. Da wir es aber mit Völkerſchaften zu tun haben,
die uns überfallen, geknebelt und bereits im vierten Jahr in dieſen dreimal ver-
fluchten Krieg hineingepreßt haben — da haben wir, weiß Gott, kein Verlangen
danach, uns ſelbſt ohnmächtig zu machen. Wohin ein machtloſes Volk kommt, in
welchem der Geiſt der Revolution blüht, dieſes Muſterbeiſpiel erleben wir jetzt
an dem von den Herren Volkskommiſſaren regierten großruſſiſchen Volke: ohn-
mächtig iſt es dem Einfall fremder Völker preisgegeben. Und dieſen Zuſtand ſehnt
der Abgeordnete Herr Cohn für unſer teures Vaterland herbei, ungeſtraft! Die
Genoſſen ſolcher Geſinnung bezeichnete der Kanzler Michaelis mit dem rechten
Namen — aber dies gefiel der Mehrheit nicht, und der aufrechte deutſche Mann
wurde mundtot gemacht und mußte gehen. — — —
Wir ſollen zu allem ſchweigen und auf das Dogma der Mehrheit
ſchwören??? — — —
Millionenfaches Menſchenleben und Lebensglück hat unfern Volk der Krieg
vernichtet, unwiderbringlich. Namenloſes Leid hat er gehäuft. Geſundheit ver-
ftümmelt und auf Lebensdauer geſchwächt. Am Mark unſeres Volkes hat der
Krieg gezehrt durch Unterernährung, Erbitterung, Opfer. Opfer um Opfer haben
Tuners Tagebuch | 35
wir gebracht an Blut und Gut. Doch ſieghaft blieb uns der Geiſt, der Entbehrungen
nicht achtend, und ſiegend blieb unſer Schwert, wo immer es ſchlug. Es ging ja
für die Ehre, für den Ruhm und die Größe des Vaterlandes. Was kann es Leuch-
tenderes geben im Leben?
Will man uns das alles nehmen? Für was ſollen wir dann noch weiter
Opfer bringen?
Wer darf heute ws von Ruhm ſprechen? — er wird zum Chaupviniften
geſtempelt.
Was gilt der Mehrheit das Wachſen und die Größe des Vaterlandes? Seit
dem großen Kurfürſten hat jeder Hohenzoller ſein Reich vergrößert, zur Macht
und zur Ehre deutſchen Namens, zur Furcht und zum Schrecken der Feinde. Waren
die Hohenzoller alle nicht Preußens und ſchließlich Deutfchlands Stolz und Freude?
Haben die Hohenzollern durch Tatkraft und Energie, durch Mut und Gottvertrauen
nicht aus des alten deutſchen Reiches ‚Streufandbüchfe‘, der Mark Brandenburg,
im Laufe der Jahrhunderte ein mächtiges Preußen geſchaffen, um das ſich das
große Deutſche Reich herumkriſtalliſierte, welches dem ganzen Erdball Wider-
tand leiſtet? Und das, was früher Stolz und Freude und Lohn für Opfer und
Taten brachte, ſoll heute Anrecht und Sünde fein? Es ſei denn eine Entſchädi⸗-
gung im weiten wilden Afrika?
Sind wir jetzt reif fürs Narrenhaus? — Unſere Feinde können nicht anders
denken; rechnen ſie und hoffen doch darauf, daß ihrer immer noch mehr werden,
die hineingehören — leider immer mehr mit größerer Berechtigung. ‚Die Neigung,
ſich für fremde Nationen und nationale Beſtrebungen zu begeiſtern, auch dann,
wenn dieſelben nur auf Koſten des eigenen Vaterlandes verwirklicht werden
können, iſt eine politiſche Krankheitsform, deren geographiſche Verbreitung ſich
auf Oeutſchland leider beſchränkt.“ Dies ſagte allerdings nur Bismarck, der ja
überlebt iſt. — ! —
Oder geht es etwa nicht auf Koſten des eigenen Vaterlandes, das deutſche
Blut, das für Polen gefloſſen iſt? Wo bleibt der Dank?
Geht es etwa nicht auf Koſten des eigenen Vaterlandes, wenn wir fremden
Völkerſchaften, deren Freiheit mit deutſchem Blut erkämpft und mit deutſchen
Milliarden bezahlt wurde, Selbſtbeſtimmung der Staatszugehörigkeit einräumen,
uns ſelbſt dafür aber am Leben verſtümmeln und verkrüppeln, an Hab und Gut
verelenden laſſen?.
O sancta e
Und die Bedingungen? Unſerem Volk wurden inzwiſchen neue Menſchen⸗
opfer an Volkskraft und Vermögen zugemutet. Opfer für den Ruhm, die Größe
und die Ehre des Oeutſchen Reiches?
„Was heißt Ehre? Kann Ehre ein Bein geſund machen?“ fo jagt Shake
ſpeares Falſtaff, und wir Deutſchen? — —
Oer deutſche Soldat kennt noch die alte Ehre.
Im Weiten ſchützt uns die waffenſtarrende Eiſenmauer von deutſchen
Menſchenleibern und ſpeienden Feuerſchlünden, gewärtig des Befehls, fprung-
dereit wie ein Löwe. Neue Opfer, ohne Zahl, ſind wir zu geben bereit, am eigenen
Oer Cürmer XX, 15 5
34 Zürmers Tagebuch
Leib und am Leben und Vermögen. Für was? Für die Selbſtändigkeit
Belgiens, für die Nachbarſtaaten oder für unſere Verbündeten?
Zeder Tropfen Blut und jeder Pfennig, der nach 3½ Kriegsjahren jetzt
noch vom deutſchen Volk verlangt wird, wäre ein Verbrechen, wenn es für
nichtdeutſche Ziele und Zwecke gilt. Eine bloße Verteidigung laßt ſich jetzt
mit weit geringerem Einſatz an Menſchen und Mitteln erreichen..
Die ſogenannte nationale Minderheit, ſchließt der Verfaſſer mit berechtigtem
Ingrimm, iſt kein Tier, mit dem ein Kind Schindluder ſpielen kann, das es be-
ſpucken, ihm die Glieder ausrupfen, das es ſtoßen, quälen und ſchließlich zertreten
kann. Unfer Ende iſt noch nicht da, wird niemals da fein. ö
Nein, die Vaterlands-Partei, und das heißt: alles, was aufrecht deutſch ftebt
und geht, iſt — dieſen Kummer muß ſie ihren Gegnern ſchon bereiten — nichts
weniger als tot. Von Rechts wegen, fo äußert ſich der tapfere, durch keine Rück-
ſichten (ſelbſt die allerheiligſten der Partei!) beſtechliche Warner und Mahner
D. Traub in der „Täglichen Rundſchau“, müßte fie das nach den manchen Reichs-
tagsreden längſt ſein, — mauſetot! „Aber wir leben und wollen leben, nicht aus
Eigenſinn oder Selbſtgerechtigkeit, ſondern aus Liebe zum deutſchen Vaterland.
Man hat uns im Reichstag behandelt wie die unanſtändigſte Geſellſchaft;
man hat uns beinahe auf dieſelbe Linie geftellt, wie die Hetzer der ver-
räteriſchen Streiktage, und jeder, der politiſch nicht ganz mit Blindheit ge—
ſchlagen ift, ficht das Rezept, nach welchem planmäßig gearbeitet wurde: der
unangenehme Eindruck des Streiks ſollte weggewiſcht werden; denn der
Reichstagsblock darf nicht in die Brüche gehen. Alſo ſuche man die Sache abzulenken.
Darum: Los auf die Vaterlands-Partei! Das iſt das beſte Opium, um zu vergeſſen,
vor welchen Abgrund der Streik das Deutſche Reich und ſeine Ver—
bündeten geführt hat. Gottlob, daß Millionen Deutjcher da find, die es trotzdem
nicht vergeſſen. Damals wurden viele hellſehend und ſind es geblieben. Das
merkt ein jeder: auf dieſer Seite der Streikbefürworter hält man nicht unbedingt
zum deutſchen Vaterland! |
Wir richten eine klare Frage an die Führer der Mehrheitsparteien und
an ihren Führer, Herrn v. Payer: „Glauben Sie an den Sieg der deutſchen
Waffen, oder glauben Sie nicht daran?“ Hier entſcheidet fich alles. Das
Getöſe der Verleumdungen von geldlicher Abhängigkeit, von ſchwerinduftriellen
Einflüſſen, von alldeutſchen Phantaſien iſt ja alles äußerlich. Es iſt nur zugeſtutzt,
um Leute bange zu machen, die nicht tiefer ſehen. Nein, hier liegt die Haupt-
entſcheidung: Hat die Führung der Mehrheitsparteien etwas getan,
um den Siegeswillen Hindenburgs zu ſtärken?“ Darauf möchte ich eine
Antwort ‚ohne Hörner und Zähne“. Ich ging zur Vaterlands-Partei, weil ich mit
wachſendem Schrecken merkte: Sozialdemokratie, Freiſinn und Zentrum glauben
jetzt in ihren Führern nicht mehr an den Sieg, gehen nicht mit Hindenburg und
tun ſogar unter der Hand alles, um dem deutſchen Volk dieſen Siegeswillen als
Torheit auszureden. Das Wort: ‚Ein Narr, wer noch an einen deutſchen Sieg
glaubt‘, bleibt die gemeinſame Loſung dieſer führenden Taktiker des Keichstags⸗
blocks. Die Vaterlands-Partei iſt in meinen Augen nichts als der Grund
Zürmers Tagebuch | 55
von Oeutſchen, die entſchloſſen find, zu ſiegen und die Früchte des
Sieges für das Vaterland einzuheimſen. Es wäre überheblich von mir,
dieſe Meinung überhaupt auszuſprechen, wenn ſie die Meinung von mir, dem
einzelnen wäre. Aber ich bin in Deutſchland weit genug herumgekommen, um zu
fagen: Dieſe Loſung eines deutſchen entſchloſſenen Siegesbunds hat die Herzen
der Deutſchen aus allen Parteien der Vaterlands-Partei zugeführt. Das größte
Rätſel bleibt mir, warum gerade die Fortſchrittliche Volkspartei es iſt, welche trotz
ihrer amtlichen Beſchlüſſe die Vaterlands-Partei mit ausgeſuchtem Haß verfolgt.
In den amtlichen Beſchlüſſen der Fortſchrittlichen Volkspartei iſt nämlich die Teil-
nahme an der Vaterlands-Partei nicht verboten; denn in Bremen und in der
Pfalz ſtehen fortſchrittliche große Gruppen auf dem Boden der Vaterlands-Partei,
von Einzelperſonen in den verſchiedenen Landesteilen zu ſchweigen. Trotzdem
wird gerade von der Volkspartei der Kampf gegen uns am leidenſchaftlichſten
geführt. Prof. Götz in Leipzig hat unſerer Erinnerung nach in der „Hilfe“ einmal
ausgeſprochen, daß das deutſche Volk aus der Hand Erzbergers keinen Frieden
wünſche. Aber jetzt verdächtigt er mit den gleichen Vorwürfen von ſchwerindu—
ſtrieller Korruption und Zeitungsankauf die Vaterlands-Partei und ſchüchtert
Gutglãubige ein, die den logiſchen Schluß nicht ziehen, daß das, Berliner Tage-
blatt“ und „Frankfurter Zeitung“ doch ebenſo vom Gelde leben und hier
Geld zu jeder Gründung willkommen iſt, wenn es eine Zeitung ihres Geiſtes be-
trifft. Es tut weh, einen hochgeſchätzten Akademiker ſolche Polemik treiben zu
ſehen. Nein und nochmals Nein! Wir laſſen uns nicht verbittern. Aber wir ar-
beiten in der Vaterlands-Partei, weil wir den Willen zum Sieg ſtärken, weil wir
dem Volk fein Vertrauen auf die U-Boote nicht untergraben, weil wir Hindenburg
glauben, weil uns die ewigen Nörgeleien am Hauptquartier leid ſind und weil
wir wiſſen, daß Deutſchland nicht mit Mißtrauen, ſondern allein mit Glauben
an ſeine Aufgabe ſiegen wird.
Das ,Fpreußiſche Verfahren“ im Oſten hat ſich glänzend geredt-
fertigt: Truppen marſchieren zu laſſen als Antwort auf Trotzkis elendes Ge-
ſchwätz. Die Reichstagsmehrheit hätte das nicht getan. Kaiſer, Kanzler und Haupt-
quartier haben es getan. Ihnen hat das deutſche Volk den Frieden im Oſten zu
verdanken. Herr Erzberger hat zwar nachträglich erklärt, daß die jetzigen Friedens-
bedingungen im Oſten durchaus im Rahmen der Reichstagserklärung vom 19. Juli
liegen. Wir wollen uns nicht über dieſes dialektiſche Meiſterſtück freuen; wir freuen
uns ganz ſachlich. Denn auch die böſen Alldeutſchen wollten nicht weiter, als
Moltke einſt gewollt, nämlich bis zum Peipusſee gelangen. In einem Punkt wird
aber auch Herr Erzberger nicht widerſprechen: Getan hat er nichts dazu, um dieſe
Friedensbedingungen herbeizuführen, vorzubereiten, um ſie dem deutſchen Volk
als die ſegensreichen Markſteine ſeiner Zukunft verſtändlich und begehrlich zu
machen. f ;
Das, preußiſche Verfahren“ im Innern hat ſich glänzend bewährt.
Wäre die Regierung in den Streiktagen nicht feſt und ſichergeſtanden und hätte
die Verhandlungen abgelehnt, dann wäre auch München und Wien nicht ſo ſicher
in die Zukunft hineingegangen. Die ‚Freifinnige Zeitung“ hat damals auch klare
36 | " Zürmers Tagebuch
und eindrucksvolle Töne gefunden, und man merkte etwas von der Solidarität
derer, denen das Vaterland über alles geht. Das war kein vorübergehender Ein-
druck, wie jetzt die Reichstagsverhandlungen glauben machen wollen. Das war eine
geſchichtliche Erfahrung. Wir halten ſie feſt, hoffen und arbeiten, daß die Regierung
in einem Streikwiederholungsfall ebenſo wenig mit ſich ſpaßen läßt im zntereſſe
des ganzen deutſchen Volks.
Unſre Sntereffe liegt nicht beim Reichstagsblock, ſondern beim Sieg des
deutſchen Vaterlands, beſonders England gegenüber. Wir wiſſen, daß Mil-
lionen ebenſo denken trotz dieſer Reichstagsverhandlungen. Wir ſprechen niemand
die Vaterlandsliebe ab, der nicht in unſern Reihen kämpft. Aber wir verbitten uns
mit deutſchem Ernſt, daß man uns unſere Vaterlandsliebe in den Staub herab-
zieht.“
Man braucht ja nur die Tatſachen reden zu laſſen. Schon die eine, nicht aus
der Welt zu ſchwätzende genügt: als unſere Vertreter in Breſt-Litowſk nach den
„Grundſätzen“ und Weiſungen der angeblichen Reichstagsmehrheit verhandelten,
war der Erfolg ein Weltſkandal und ein Weltgelächter, Schlimmeres noch: Herauf-
beſchwörung ernſteſter Gefahren für das Reich, ſchwere innere Erſchütterungen
und Opferung deutſchen Blutes an alle ſeeliſchen und körperlichen Martern und
Todesarten. Als dann unter dem eiſernen Zwange der CTatſachen die unheil-
vollen Wege jenes angeblichen Mehrheitswillens verlaſſen werden mußten, als
nach den einfachen, in den Dingen ſelbſt gegebenen Richtlinien der f „All-
deutſchen“, „Aberannexioniſten“, „ſchwerinduſtriellen Vaterlandsparteiler“ und
wie die Koſenamen ſonſt lauten, gehandelt werden mußte, da wurde die im
Sumpf feſtgefahrene Karre mit eins wieder in ſicheres Gleis und ſchnelle Be-
wegung gebracht, und der Friede wurde von der bewaffneten Hand gemacht,
nicht von den einen Frieden erwinſeln Wollenden.
Wie wurde man doch — es iſt noch gar nicht ſo lange her — als armer Trottel
mitleidig belächelt oder als gemeingefährlicher Apoſtel einer „wüſten Eroberungs-
politit“ angeödet, wenn man dieſelbe Meinung vertrat, die ſchließlich keine andere
war, als die des großen Moltke: daß unſere natürliche und gegebene ſtrategiſche
Grenze am Peipusſee gezogen ſei. Nun iſt dieſe Grenze längſt erreicht worden,
und es iſt unſer freier Entſchluß und die Unterwerfung des großruſſiſchen Kriegs-
willens unter unſeren Siegesfriedenswillen, wenn unſere Truppen nicht in Beters-
burg einmarſchiert ſind. Jetzt haben wir das herrliche Gelöbnis unſeres Kalſers,
daß den baltiſchen Deutſchen für alle Zeiten ihr Oeutſchtum geſichert werden ſoll!
Im vorigen Hefte konnten die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Streſe-
mann über das baltiſche Deutſchtum in feiner großen Reichstagsrede vom 20. Fe-
bruar nur kurz herangezogen werden. Sie ſtehen aber auf einer Höhe der Auf-
faſſung und dringen mit ſo viel Verſtändnis in den Kern der Frage ein, daß den
Leſern eine Wiedergabe im Wortlaute ſicher willkommen ſein wird. Nicht nur
um baltiſche Vergangenheit und Gegenwart handelt es ſich, ſondern mehr noch
um baltiſche Zukunft. Der Redner ſchilderte zunächſt die troſtloſen Zuſtände im
damals noch unerlöſten Livland und Eſtland: wie dort ieder die „Freiheit“ hatte,
einen deutſchen Gutsbeſitzer niederzuſchießen oder niederzuſchlagen wie einen
Türmers Tagebuch 37
tollen Hund, ohne Beſtrafung dafür zu finden, es ſei denn, daß ihm vielleicht noch
eine Belohnung dafür zugeſichert werde. Dann — unter wiederholter ſtürmiſcher
Zuſtimmung: a
„In manchen Kreiſen der deutſchen Offentlichkeit iſt bezweifelt worden,
ob die Dinge derartig lägen. Man hat es jo hingeſtellt, als wenn irgendwie eine
offizlſe Stimmungsmache eingeſetzt hätte. Ich habe zu meinem Bedauern
im ‚dorwärts‘ geleſen, daß man auch ſagte, dieſe eſtländiſchen und livländiſchen
Gutsbeſitzer hätten ſich überhaupt nur aus Angſt vor der Aufteilung ihres Landes
Heulſchland zugewendet. Nun, wenn es wirklich fo wäre, fo gilt für die deutſchen
Etundbeſitzer dieſer Provinzen jedenfalls das ſelbe, was der Herr Kollege Groeber
bezüglich der deutſchen Bauern im Cholmer Gouvernement geſagt hat, d. h. wir
hätten durchaus ein Intereſſe daran, zu verhindern, daß da, wo bisher deutſcher
Grundbeſitz in deutſchen Händen war, alles durch eine Regierung, deren Zeit—
dauer nur ſehr beſchränkt erſcheint, in ein Chaos und in die größte Verwirrung
geſtuͤrzt wird.
Aber es handelt ſich nicht in erſter Linie um den materiellen Schaden, der
dem einzelnen hier zugefügt wird. Ich darf bezüglich dieſer materiellen Frage
daran erinnern, daß lange, ehe die Revolutionäre in Rußland ans Ruder kamen,
noch unter der zariſtiſchen Zeit die Gutsbeſitzer in Kurland ſich bereit erklärten,
für den Fall der Lostrennung von Rußland ein Drittel ihres Landes an
Deutſchland abzutreten, um dadurch die. Möglichkeit einer deutſchen
Rolonifation zu ſchaffen. Es drängt ſich uns die Frage auf, ob wir Tatſachen
zuſehen können, wie diejenigen Deutſchen in den baltiſchen Landen, die allen
Verfolgungen, aller Not und allen Schwierigkeiten zum Trotz durch ſieben Jahr-
hunderte hindurch an der deutſchen Sprache und deutſchen Kultur feſtgehalten
haben, weil fie Deutfche find, hingemordet, hingeſchlachtet werden. Ich muß
ſagen, wir wären kein Volk von Anſehen und Ehre, wenn wir das ruhig mit an-
ſehen würden, ohne hier einzugreifen. Es wäre nicht zu verſtehen, wenn wir, die
für die Freiheit uns volksfremder Nationen eingetreten ſind, nicht unſer Herz in
erſter Linie ſchlagen ließen für die Balten, die mit uns eines Blutes ſind. Es klingt
ſo oft von der äußerſten Linken uns entgegen, wenn man ein Wort für die deutſchen
Balten ſpricht: Dieſe 7 oder 9 % der Bevölkerung des Baltikums! Gewiß, die
Balten ſind keine Mehrheit im Lande, ſie ſind eine Minderheit. Um ſo höher
muß man es ſchätzen, daß ſie trotz dieſer Minderheit gewußt haben, ſich ihr
Veutfchtum derartig zu erhalten, derartig auch kulturell und geiſtig die Führenden
qu bleiben, wie ſie es getan haben. In anderen Ländern, über dem großen Waſſer,
wo Hunderttauſende und Millionen von Oeutſchen ſaßen, die in der Lage waren,
ſich durchzuſetzen, wie find da die ſpäteren Generationen amerikaniſiert, wie haben
ſie ihre ehrlichen deutſchen Namen preisgegeben, wie haben ſie ſehen müſſen, wie
wir dort die Kulturdünger für andere Nationen geweſen find, Wie war dort in
Chicago, Milwaukee, Cincinnati und anderwärts ein fo ſtarker deutſcher Einſchlag,
daß ſie eine deutſche Stadt hätten bleiben können, wenn der Enkel geblieben wäre,
was einſt der Großvater war! Hier in den Oftfecpropinzen waren die Balten viel
mehr bedrängt als je ein Oeutſch-Amerikaniſcher in den Vereinigten Staaten war,
-.
m
38 Zürmers Tagebuch
und durch alle Schwierigkeiten zariſtiſcher Verfolgung hindurch haben ſie ihre
deutſchen Schulen, ihre deutſchen Zeitungen, ihre deutſche Bildung ſich erhalten.
Wenn Sie heute nach Riga, nach Mitau, wenn Sie in das dortige Land kommen,
dann tritt Ihnen ein Deutſchtum entgegen, jo rein, jo unverfälſcht
und jo ideal, daß man manchmal wünſchen möchte, es wäre im Reichs-
deutſchland in derſelben Weiſe zu finden. So muß die Stimmung in
Deutſchland geweſen fein, als noch ein einheitliches Deutſchland erſtrebt und er-
träumt wurde. Denn der Deutfche empfindet vor allem das als Ideal, was er mit
ſeinem Herzen erſehnt. Wenn das Erſehnte dann Tatſache wird, wenn das Grau
des Alltags allmählich über das Erſehnte kommt und Jahr und Jahrzehnte ver-
gehen, kommt über ihn das Vergeſſen über das Alltäglichgewordene. Dort iſt
noch die große Sehnſucht nach der Vereinigung mit Oeutſchland, dort haben die
Balten in ihrem livländifchen Kalender mit vollem Recht — von ihrer eigenen
Grundſtimmung ausgehend — das Goetheſche Wort ſich zum Motto genommen:
„Pfeiler, Säulen kann man brechen, aber nicht ein freies Herz.“ Mit dieſe m
freien, ſich zu Oeutſchland bekennenden Herzen haben fie ſich dort
gegen Rußland durchgeſetzt; kommen ſie in größter Lebensgefahr über
die ruſſiſchen Linien herüber, haben ſie heute, wo über das Geſchick
von Eſtland und Livland noch nichts beſtimmt iſt, ſich in ihrer Ritter-
ſchaft für den Anſchluß an Oeutſchland erklärt, wohlwiſſend, daß fie
ihren Kopf verwirkt haben, wenn das nicht durchgehen würde. Starke
Perſönlichkeiten treten uns dort entgegen, die nicht die Hajt und Unruhe des Er-
werbsſinnes ſo ideallos gemacht hat, wie wir dies manchmal in Oeutſchland finden,
ſondern die in dem Streben nach Allgemeinbildung, in dem Streben nach Schaffung
von Perſönlichkeitswerten uns als Deutſche aus alter guter Zeit erſcheinen. Und
wie die Ritter, fo das Bürgertum in den Städten. Niemals iſt mir mehr die Stim-
mung der Meiſterſinger aus dem alten Nürnberg zum Ausdruck gekommen als
in der Stunde, da ich die Gildenſtube von Riga ſah, als ich ſah, wie dort auch unter
ruſſiſchem Druck bis zum letzten das deutſche Leben ſich entfaltet hat. Und wenn wir
nach Dorpat gelangen, wo eine geiſtige Hochſchule liegt, von der unendlich viel zur
Befruchtung deutſchen Weſens ausgegangen iſt, wenn wir neben Kurland auch
Livland und Eſtland beſetzt haben, dann hoffe ich, daß auch der Tag kommen wird,
„Vo dieſe alte deutſche Erde
im Schutz des großen Reiches liegt.“
Das bedeutet nicht die Annexion dieſer Gebiete, aber es bedeutet ein freies
Baltikum in enger Anlehnung an Ocutſchland unter unferem militäriſchen, poli-
tiſchen, geiſtigen und kulturellen Schutz. Ich glaube, es wäre eines der ſchönſten
Ziele dieſes Weltkrieges, wenn wir dicſes Stück treuen Deutfchtums fo bewahren,
jo einig mit uns verſchmelzen können, wie es von ihnen ſelbſt gewünſcht wird. ..“
es
Ä BER
= TERN 2
x
2 —
——
Nur Mangel an Regie?
ie ſonderbare, höchſt ſonderbare „Regie“,
mit der die Rede des erſten Lords der
engliſchen Admiralität, Sir Erik Geddes, in
Reihsdeutfchland verbreitet wurde, wird in
der „Deutſchen Zeitung“ wie folgt unter
die Lupe genomnien:
Die engliſchen Miniſter kämpfen redne-
riſch einen Zweifrontenkrieg. Nach innen in
der Verteidigung durch geheuchelte Sicher-
heit, durch Verſprechungen, durch tröſtende
Aufmachung der Sachlage. Zum Reichs-
fenſter hinaus, auf uns zu, im Angriff.
Was ſie ihren Leuten zu deren Beruhigung
erzählen, muß zugleich dazu dienen, uns
ause inander zu reden. Die Uhr ſteht auf
fünf Minuten vor Mitternacht. Der ſtärkſte
Zauber muß herhalten! Die Taktik an ſich iſt
richtig und gut. Und die Helfer im feindlichen
Lager ſind auf dem Poſten. Man muß ihnen
bis zum letzten Augenblick in die Hände reden.
Und vor allen Dingen nicht mit der Wimper
zucken dabei; vielleicht wirkt es trotz alledem
noch. So wie der Glücksritter nicht mit der
Wimper zuckt, wenn er den letzten Louis aus
der Taſche holt. Er ſetzt ihn mit kalter Ge-
laſſenheit, läßt ſich beſonders dann nichts an-
merken, wenn dieſer Louis nicht nur der letzte,
jendern noch obendrein falſch iſt.
derart hat Geddes im Unterhaus die
‚fatale Geſchichte von den deutſchen Verluſten
an Unterfeebooten zum beſten gegeben.
Er hat ſchon früher auf dieſe Verluſte hin-
gewieſen, indeſſen verbot ihm bisher das
militäriſche Intereſſe, näher zu verraten,
wie groß ſie ſind. Anſcheinend hat dieſes
Intereſſe nunmehr hinter dem Gebot der
— ——
Stunde, das die Anwendung der ſtärkſten
Beſchwörung erfordert, zurücktreten müſſen.
So hat er ſich denn offenbart: von fünf
Unterjeebooten, die Seebrügge verlaſſen,
kehren immer nur vier wieder zurück.
Die Enthüllung iſt gleich fatal für ihn, wie
für uns. Für ihn, wie das Scho zeigt, weil
offenbar kein Menſch im Vereinigten König-
reich Sir Eric fein Märchen glaubt. Man
erkennt, daß die Münze, die er auf den Tiſch
wirft, nicht koſcher iſt. Für uns, weil es bei
uns Leute genug gibt, die derlei mit
Wonne aufgreifen und es minierend
weiter tragen. Wie fie neulich die Räuber-
geſchichte von den 200000 Amerikanern —
oder war es nicht gleich eine halbe Million? —
an der Front in Frankreich mit Wolluſt auf-
gegriffen und für ihre Zwecke weiter getragen
haben.
Nun muß man ſich über den Mangel an
Regie wundern, mit der die Rede Sir Erics
in Deutfchland verbreitet worden iſt. Fort
und fort wird die Preſſe, insbeſondere die
Berliner Preſſe, und zwar mit gutem Grunde
erſucht, die Reden feindlicher Staats-
männer nicht ohne kritiſche Beleuch—
tung ins Land hinaus zulaſſen. Es ge-
ſchieht dies aus der klaren Erkenntnis heraus,
daß ſolche Reden in erſter Linie auf Wir-
kung im deutſchen Publikum berechnet
ſind. Man kennt eben unſere Schwächen.
Die Preſſe trägt dem gern und ſachgemäß
Rechnung, foweit fie einen glücklichen Aus-
gang des Kriegs will. Auch ſoweit ſie ihn
offen oder heimlich nicht will, kann ſie ſich der
Aufforderung nicht entziehen; allzu ſehr
bloßſtellen möchte man ſich ſchließlich auch
bei ihr nicht. So ſagt auch ſie zu der gegneri-
e —.—
10
ſchen Rede, was dazu geſagt werden muß.
Sie ſagt es vielleicht mit ſüßſaurer Miene
und ohne Begeiſterung, aber ſie ſagt es.
Wenn ſie es nicht zu ſagen braucht, iſt es
ihr natürlich lieber. Und auch die vaterländiſch
geſinnte Preſſe kann die kritiſche Ergänzung
der gegneriſchen Kundgebung nicht liefern,
wenn ihr die Zeit dazu nicht gelaſſen
wird. So war es aber diesmal bei der
Geddes-Rede. Das amtliche Telegraphen-
bureau hat ſie in Berlin am Donnerstag etwa
um 2 Uhr nachmittags ausgegeben. An-
mittelbar vor Abſchluß der Abend-
blätter alſo; von irgend einer Möglich-
keit, ein paar Worte dazu zu ſagen, w ır
nicht mehr die Rede. Sir Eric hat in
Berlin beſſeren Erfolg gehabt, als in Eng-
land; ſeine U-Boot-Hiftorie iſt hier nicht durch
niederträchtige Bemerkungen der Zeitungen
um ihre Wirkung gebracht worden, wie dort.
Ihre Echtheit konnte nicht erſt geprüft werden.
Eine bedauerliche Nachläſſigkeit, ein ſträf-
licher Mangel an Umſicht, — wenn nicht
etwa etwas ganz anderes! Denn man
kann auch an anderes denken. Die Sache
liegt nämlich ſo. Die Leute, die, gleichviel ob
aus innerpolitiſchen Gründen, aus dem Be-
dürfnis, das ihnen drohende Strafgericht für
frühere Sünden zu hintertreiben, aus all-
jüdishen Beſtrebungen oder ganz unmittelbar
als aus unſichtbaren Quellen geſpeiſte Agenten
Englands, einen dem uns aufgedrängten
Rifito und unferen Opfern entſprechenden
Ausgang des Krieges und mit ihm jede Stär-
kung des verhaßten „herrſchenden Regimes“
unter allen Umftänden hintertreiben wollen —
ſie alle haben durch die ſchließliche Geſtaltung
der Dinge im Oſten ſoeben einen ſchweren
Schlag erlitten! Für ſie gilt es jetzt zu retten,
was zu retten iſt. Was deshalb, koſte es,
was es wolle, verhindert werden muß, iſt ein
ahnlicher Ausgang des Krieges im Weſten, wie
er im Oſten bereits eingetreten iſt.
So bald als möglich müſſen auf der Grund-
lage deulſchen Verzichts Feiedensunterhand-
lungen mit den Weſtmächten in Gang ge-
bracht werden. Vor allen Dingen: ke in
neuer deutſcher Sieg! So ſpielen allerlei
Einflüſſe gegen die Ausführung der Abſichten
Auf der Warte
für unſere weitere Kriegführung im Weſten,
die, mit Recht oder Anrecht, unſerer Oberſten
Heeresleitung nachgeſagt werden. Es ſind
Leute genug an dieſen Treibereien beteiligt,
die ſich dort, wo ſie es für wünſchenswert
halten, Eingang und Gehör zu ſchaffen
wiſſen, — vielleicht ſich auch beides nicht erſt
zu ſchaffen brauchen.
And dann gilt es, die endliche Abſtellung
dieſes niederträchtigen U-Boot -Krieges durch-
zuſetzen, der ebenſo alle Pläne derſelben Kreiſe
zuſchanden macht!
Das Vertrauen der Nation in ſeine Durch-
führbarkeit und feinen Erfolg muß fallen!
Sie wiſſen es und — Sir Eric weiß es auch!
Beiden iſt durch den Zeitpunkt der Ver—
öffentlichung der Geddes Rede wieder
einmal ſtark in die Hände gearbeitet
worden. Sit ein auf Wirkung gegen uns
berechnetes Reuter Telegramm ſo wichtig,
daß es unbedingt nach Schema F. des Wolff-
bureau behandelt werden muß? Kam ſeine
Veröffentlichung zwei Stunden ſpäter nichr
noch zurecht? Eine ſonderbare Regie!
Der Keichsſchädling in Litauen
r muß doch in alles feine Finger hinein-
ſtecken! Mit Stolz hat er ſich ſogar
dazu bekannt, daß er den reichsſchädlichen
Beſchluß des litauiſchen Landesrates herbei-
geführt habe, in dem dieſer, im Gegenſatz zu
ſeiner früheren Entſchließung, ſich gegen ein
engeres Verhältnis zum Deutſchen Reiche er-
klärt! „Herr Erzberger,“ ſchreibt die „T. R.“,
„it bekanntlich entgegen den deutſchen
Intereſſen für völlige Unabhängigkeit der
Litauer; ſie, bis zu 86 v. H. Analphabeten
dem Einfluß des Polentums ſchon durch den
ſtarken Grundbeſitz der Polen in Litauen aus-
geliefert, ſollen nicht unter deutfhen.
Einfluß kommen, ſondern ſollen tun und
laſſen können, was ſie wollen, ſollen ſich
zu Polen oder Rußland ſchlagen können,
wodurch wir Kurland verlieren und im Oſten
einen ſtarken polniſchen Block erhalten könn-
ten. Es würden alſo Zuſtände an unſeren Oſt⸗
grenzen Platz greifen, die ſchlimmer wären,
als die vor dem Kriege; unſere Grenzen
Auf der Marte
wären weniger denn je geſichert. Alles das
liegt fo klar zutage, daß nur Unverſtand oder
pollliſche Einſeitigkeit es nicht ſehen will.
Bei Herren Erzberger wird uns das nicht
wundern können, und ebenſowenig wird es
übertaſchen, daß fein Organ, die „Germania“,
wild aufbegehrt angeſichts der Nachricht, daß
det Ranzler anſcheinend nicht auf dem Boden
det Erzbergerſchen litauiſchen Politik ſtehe.
60 ruft fie nach dem Reichstage und fagt,
fie, das Organ des allmächtigen Herrn Erz-
berger, halte es ‚für ausgeſchloſſen“, daß
„nun der Kurs geändert fei‘, d. h. der Re-
gierung wird anheimgegeben, zu erklären,
daß fie den Wünfchen Erzbergers entſprechend
an ihrem Programm feſthalte, nämlich der
loyalen Durchführung! des Selbſtbeſtim-
mungsrechtes der Randvölker. ‚Der Reichs-
tag, der ſich in ſeiner Friedenspolitik mit der
Reichsregierung bisher in jo vollkommener
und erfreulicher Übereinftimmung gefunden
hat, wird ſicherlich danach fragen müſſen,
was nun im Oſten werden ſoll. Um die Ant-
wort der Regierung iſt uns nicht bange.
Sie wird die Übereinſtimmung mit dem
Parlament weder preisgeben können
noch wollen, am allerwenigſten um der Ge-
lüͤſte der Annexioniſten willen.‘
Hier wird alſo deutlich zwiſchen den Zeilen
der Regierung gedroht und es wird ihr noch-
mals verſichert, daß fie ſich nicht des „Rück-
halts der Volksmehrheit“ berauben ſolle, alſo
der Zuſtimmung der Herren Erzberger und
Scheidemann. Um die Erzbergerſchen Be-
ſtrebungen noch von der anderen Seite zu
unterſtützen, verſuchen ſeine Kreiſe bekannt-
lich, ſächſiſch-württembergiſche Prinzenkandi-
daturen zu unterftügen, in der Richtung: ein
wabhängiges Litauen mit einem deutſchen
Prinzen an der Spitze zu ſchaffen, fo daß
die deutſchen Intereſſen ähnlich gewahrt
erſche inen — wie einſt in Bukareſt. Im
Reichstage wird hoffentlich in dieſe Beſtre⸗
bungen gründlich hineingeleuchtet werden.
Dle litauiſche Frage iſt der Kernpunkt der
ganzen Oſtfrage. Werden hier dieſelben
Fehler gemacht, wie am 5. November 1916
in den polniſchen Fragen, dann geben wir
alle Trümpfe aus der Hand, die wir ſeit
41
dem ruſſiſchen Friedensſchluß beſitzen und
ſorgen für eine neue Erſtarkung Rußlands
und für Verwirklichung etwaiger Revanche
pläne der jeweiligen Petersburger Regierung.
„Ohne Schuld“
Dort mit der kindlichen Meinung, als habe
die engliſche Einkreiſungspolitik den
Weltkrieg hervorgerufen, als ſei Deutfchland
ohne Urjache das Opfer einer finſteren Welt-
verſchwörung geworden! Bei einer mehr
ſachlichen Betrachtungsweiſe habe ſich das
ſcheinbar Willkürliche der Rataftrophe mehr
und mehr als unvermeidliches Ergebnis lang-
ſam gewordener Mißverhältniſſe in der Ver-
teilung der Weltkräfte und einer unnatür-
lichen, im weſentlichen aber ohne „Schuld“
entſtandenen Uberſpannung eben dieſer Kräfte
erwieſen. In den Ereigniſſen liege eine
fällige, wenn auch kaum beweisbare Not-
wendigkeit. ==
Mit derartigen Ausführungen ſucht der
Aſthetiker Scheffler in der freiſinnigen „Voſ⸗
ſiſchen Zeitung“ darzulegen, daß der Weltkrieg
eine unabweisliche Notwendigkeit war, nicht
verhütet werden konnte und von keiner Seite
verſchuldet wurde. Der freiſinnige deutſche
Michel lebt wieder auf und wird in England
als Vertreter des guten alten Volkes der
Denker und Träumer freudig begrüßt werden.
Bismarck beſorgte die Möglichkeit eines
Koalitionskrieges gegen Deutſchland, wußte
ihn aber zu verhindern und würde ihn ohne
Zweifel verhütet haben, wäre er bei Leben
und am Ruder geblieben. Kein Staatsmann,
ſagte er, hat das Recht, einen Krieg zu be-
ginnen, nur weil er ihn nach ſeinem Ermeſſen
in gegebener Friſt für unvermeidlich erachtet.
Er hielt jeden Krieg, auch den ſiegreichen,
für ein Unglück. Er erſah das Bedürfnis des
Volkes nach Frieden und war ſich ſeiner
Verantwortlichkeit bewußt. Die engliſche
Einkreiſungspolinik hatte Bündniſſe geſchaffen,
die im Kriegsfall ganz Europa in Mitleiden-
Schaft ziehen mußten. Militäriſch, polliſch
und wirifchaftli waren die Folgen eines
großen Krieges unberechenbar. Von der
Klugheit der verantwortlichen Politiker durfte
42
man daher die Erhaltung des Friedens er-
hoffen. Eine ehrgeizige und gewiſſenloſe
Hofkamarilla in Petersburg veranlaßte den
Ausbruch des Krieges. Verſchuldet haben ihn
indeſſen die leitenden Kreiſe in England mit
ihren Vertretern in Petersburg und Paris
und mit Hilfe einer gehäſſigen oder käuflichen
Preſſe. Der Krieg im Auguſt 1914 war keine
unbedingte Notwendigkeit und hätte vielleicht
noch weit hinausgeſchoben werden können.
Handelte es ſich aber, wie der freiſinnige
Aſthetiker behauptet, bei dem großen Kriege
nicht um Willkür, ſondern erfüllte ſich nur
ein Geſetz der Geſchichte, dann läßt ſich das
freiſinnige Verlangen nach Schiedsgerichten
und Weltfrieden nicht begreifen. Denn das
neue freiſinnige Geſetz der Geſchichte würde
darüber unbekümmert hinweggehen und alle
Weltfriedensabmachungen umſtürzen. Was
iſt nun freiſinnige Wahrbeit? P. D.
Wenn der andere aber nicht
will —!
n der „Oeutſchen Politik“ ereifert ſich ein
Feldgrauer gegen die Vaterlandspartei.
100 Milliarden Kriegsentſchädigung iſt ihm
zuviel für das arme England, deſſen Staats-
männer glatt erklärt haben, daß ihnen 100
Milliarden nicht zuviel wären, um es völlig
zu ruinieren.
Dem Verfaſſer iſt der Krieg mit ſeinem
Morden und Blutvergießen zuviel wie uns
allen. Er will Schluß gemacht ſehen, er
will den Krieg los ſein. „Verehrter Herr,“
wird ihm im „Größeren Deuiſchland“ ge-
antwortet, „wenn Sie Tpyhus haben und
wochenlang im Fieber lagen, ſo begreife
ich Ihre Ungeduld vollkommen, wenn Sie
rufen: ‚gebt Schluß mit dem Typhus, ich
mache nicht mehr mit, ich will ihn los fein.‘
ga lieber Freund, der Typhus läßt Sie
aber nicht los und der Typhus macht
keinen Schluß. Alſo können Sie den Kampf
auch nicht aufgeben, ſondern Sie müſſen
kämpfen und geſund werden wollen, ſonſt
werden Sie es nicht. Das verbiſſene England
läßt nicht locker, läßt nur locker, wenn wir
Flandern aufgeben und die engliſchen Be-
Auf ber Warte
d ing ungen erfüllen, alſo uns zu feinen
Sklaven machen; dann tſt England zu-
frieden, dann können Sie auch Frieden haben.“
; *
Ein Ehrenkreuz für Front-
kämpfer
ls wir zum großen Kampf zogen, war
uns allen das Eiſerne Kreuz in der
Erinnerung an andere gewaltige Zeiten
deutſcher Vergangenheit ein heiliges Zeichen.
Wir betrachteten jeden der alten und neuen
Kreuzträger mit heiliger Ehrfurcht. Freilich
das iſt im Laufe der Kriegsjahre anders ge-
worden. Es hat für uns leider — verloren.
Und keine Beſchönigungen und Verteidi-
gungen werden erreichen, daß uns das Kreuz
von Eiſen wieder das Zeichen heiliger Achtung
und Verehrung werde.
Es iſt zu ſpät, zu verbeſſern, was einmal
verſehen iſt. Aber es iſt nicht zu ſpät, ein
neues Kreuz zu ſchaffen, ähnlich dem, was
an unſrer Väter Großtaten erinnert. Ein
ähnliches ſchlichtes Kreuz, ohne Unterſchied,
für Offizier und Mann. Eines, das nicht ver-
liehen wird nach Gunſt und ſonſtigem Ver-
dienſt, ſondern allein nach einer für jeden
nachweisbaren Tatſache: ein Kämpferkreuz,
ein Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Das nicht
der erlangen kann, der in der Etappe war.
Nicht der, der hinter der Front war, und wenn
er noch ſo große Verdienſte hätte. Sondern
nur eben für die, die „drin“ waren. Und
ohne Unterſchied für Nang und Stand.
Auch nicht als „beſondere“ Auszeichnung.
Sondern nur einfach als Feſtſtellung für eine
Tatſache, eben die, daß er im Furchtbarſten,
in Grauen und Schrecken, in Not und Tod
mit geftanden gegen den Feind. Und keinem
vorenthalten, ſondern eben verliehen an alle,
die dieſe Tatſache einſchließt. Da ſei kein Unter-
ſchied. Denn das müſſen wir ſagen, jeder der
im Kugelregen des Weltkrieges ausgehalten,
verdient eine ſolche beſondere Auszeichnung.
Es wird ja auch eine Feldzugsmünze wie-
der ausgegeben werden an alle, die den Feld-
zug mitgemacht, gleichviel, wo ſie geſtanden.
Warum ſollie nicht ein einfaches ſchlichtes
Kreuz die noch einmal kennzeichnen, die das
Auf der Warte
an der Stelle taten, die ſo manches, die ſo
viele Opfer forderte. Aus Kanonenmetall
etwa eroberter Geſchütze am ſchwarzweißroten
Band würde ein ſolch einfaches Zeichen zu-
gleich ein Stolz werden.
Dies ſtolze Zeichen dürfte einzig und
allein das von ſeinem Träger ſagen: „Ich
babe in des Vaterlandes größter Not
den Fe ind abgewehrt mit meiner Kraft
und meinem Blut, habe mein Dater-
land gedeckt mit meinem Fleiſch und
Bein, habe geſtanden in Not und Tod
und Grauſen und Gefahr und tat fo
meine heilige Pflicht!“
Das würde viele, viele ausſöhnen, die voll
Trauer und Bitternis ſehen, daß der, der in
der Front ſteht, der dem Feinde die Bruſt
bieten mußte, auch nicht den einen Vorzug
genoß, daß ihm eine Auszeichnung einzig
und allein vorbehalten blieb.
Darum für alle Frontkämpfer ein Ehren-
kreuz, das ihnen auch äußerlich die Ehre gibt,
die ihnen gebührt, und ſtolz würde jeder
wohl darauf ſein, weil es nichts kündete,
als das eine, ſchlichte: Wir waren dabei!
Und die Tatſache nimmt keiner. Sie iſt
und bleibt unſer Heiligtum, weil ſie uns ſagt,
daß wir darum auch vor uns ſelber beſtehen
können. Aber warum ſollte fie ein ſolches
Ehrenkreuz nicht haben?
Und zudem würde dieſe Klarſtellung als
eine Tat der Gerechtigkeit auch eine Ver-
ſöhnung ſein. .. Zt die für die, die das
Schwerſte trugen, etwa nicht notwendig?
W. K.
Oſterreichiſche Zenſur
Wi in allen kriegführenden Ländern, ſo
entwickelt auch in Oſterreich die Preß⸗
enfur eine äußerſt umfangreiche und ein-
gteifende Tätigkeit. Das bekunden in den
oͤſterreichiſchen Zeitungen und Zeitſchriften
die zahlreichen leeren Stellen, die das Walten
der Zenſur zum Ausdruck bringen. Trotz.
dieſer ſonſt ſo ſcharfen Zenſur durfte die
ſozialdemokratiſche Wiener „Arbeiterzeitung“
in einem Berliner Briefe von der deutſchen
Vaterlandspartei ſchreiben, an ihrer Spitze
ſtehe „der berüchtigte () Großadmiral
45
Tirpitz, einer der Haupturheber und Haupt-
ſchuldigen des Weltkrieges“... „ „eine neue
Gemeinheit dieſerſkrupelloſen Bande“
uſw. Hatte man in Wien ſchon vergeſſen,
was man den Anterſeebooten des Herrn
von Tirpitz zu danken hat?
%
Auch ein Eifolg
wei Notizen, die die Runde durch die ganze
Tagespreſſe machten:
1) Schmachvolle Behandlung verwun-
deter Kriegsgefangener durch die Eng-
länder.
Aus Mitteilungen der im November 1917
zur Internierung in der Schweiz von England
nach Frankreich verbrachten deulſchen Kriegs-
gefangenen wird erſichtlich, in welch ſcham-
loſer Weiſe ſich die Engländer auch noch bei
dieſem Liebeswerk gegen das Völkerrecht ver-
gehen. Der Transport der ſchwerkranken Ge-
fangenen, die ſich zum Teil nur auf Krücken
fortbewegen konnten, erfolgte in einem Vieh-
dampfer. Über zweiunddreißig Stunden ſetz⸗
ten die Engländer die invaliden Gefangenen
einem Transport unter unwürdigen Verhält-
niſſen aus. Weil dieſe Maßnahmen eine
Roheit und Niedertracht bekunden, die wir
unſeren Kriegern gegenüber nicht dulden, hat
die deutſche Regierung bei der engliſchen Re-
gierung ſofort energiſchen Proteſt eingelegt.
2) Der Kronprinz bei den engliſchen
Austauſchgefangenen
Nach einem Bericht der „Times“ ſtattete der
Kronprinz vor ihrer Abreiſe in die Heimat den
in Aachen untergebrachten engliſchen ſchwer⸗
verwundeten Austauſchgefangenen einen Be-
ſuch ab. Ein Augenzeuge ſchildert den Be-
ſuch folgendermaßen: „Sämtliche Gefangene,
Offiziere, Unteroffiziere und Mannſchaften,
waren in Rote-Kreuz- Baracken untergebracht
und harrten ihrer Abfahrt, als plötzlich jemand
rief: ‚Der Kronprinz iſt hier!“ Natürlich war
man allſeits überraſcht. Jeder Zweifel wurde
aber alsbald durch das Erſcheinen des Rron-
prinzen ſelbſt, der ſich in Begleitung von drei
höheren Offizieren befand, widerlegt. Der
Kronprinz ſchien ſich bewußt zu ſein, daß ſein
Beſuch unter ganz beſonderen Umſtänden
AA
ſtattfand, die den Fluß der Unterhaltung
etwas erſchwerten. Se in Benehmen war
indes in jeder Beziehung taktvoll. Allem
Anſchein nach fand der Kronprinz es indes
leichter, ſich mit den Unteroffizieren und
Mannſchaften zu unterhalten, als mit den
Offizieren, die, mit einer Ausnahme, ſämt-
lich der Fliegertruppe angehörten.“
Alſo immerhin ein Erfolg. Das Blatt
des Lord Northcliffe, zuvor Miſter Harms-
worth, urſprünglich Herrn Stern, geruht dem
Kronprinzen des Deutſchen Reiches buld-
vollſt zu beſcheinigen, daß er ſich ſo weit ganz
taktvoll benommen habe. Wenn wir nun
nur nicht gleich zu ſtolz werden. St.
x
Es wirft
nter der Spitzmarke: „Kein Verkauf
» des Dampfers Brandenburg“ wurde
ſchon im Herbſt vorigen Jahres aus Ber-
lin gemeldet: „Die von einigen Blättern
verbreitete Nachricht, daß der Dampfer
„Brandenburg“ des Norddeutſchen Lloyd an
die norwegiſche Amerikalinie verkauft worden
ſel, iſt unrichtig. Wohl hat die norwegiſche
Amerikalinie für den Dampfer ein An-
gebot gemacht, das jedoch vom Nord-
deuifchen Lloyd nicht angenommen worden
if. Nach den bisher von der Reichs-
leitung befolgten Grundſätzen iſt auch
nicht zu erwarten, daß die zu dem Ver—
kaufe erforderliche Genehmigung er—
teilt werden würde.“ Könnte es wohl
ein beſſeres Zeugnis für die Erfolge des
U Boot-Krieges geben, als daß man ſchon
damals vom „neutralen“ Norwegen An-
gebote auf deutſche Schiffe machte?
Wo der Vater dieſes Gedankens zu ſuchen iſt,
wiſſen wir ja. Die Schiffsraumnot mußte doch
ſchon gewaltig groß geweſen fein, daß man
einen fo ausfichtslofen, wenn nicht geradezu ver-
zweifelten Verſuch unternahm. Und heute —?
Nebenbei ein Streiflicht, wie man im
Auslande den deutſchen Michel noch immer
bewertet! Wir ſollen unſere ſchönen
Schiffe hergeben, damit England nicht
unſerem UBoot-Krieg unterliegt!
0 Schol.
Auf der Warte
Die beiden Deutſchland
wei Oeutſchland findet die „Deutſche
Zeitung“ innerhalb der Reichsgrenzen.
„So unfaßlich das ſcheint, vor allem in einem
Weltkrieg ſcheint. Dieſer Zwieſpalt iſt aber
Tatſache, und Tatſachen muß man klar er-
kennen, nicht um ſich ſchwächlich drein zu
finden, nein, um fie kräftig anzupacken. Tat-
ſache iſt: zwei Deutfchland gibt es innerhalb
der Reichsgrenzen.
Das eine, völkiſche, wurzelt in der großen,
alten Vergangenheit, in deutſcher Ge—
ſchichte und Kultur, es ſteht auf Macht,
es will Sicherung, es erkennt die deutſchen
Notwendigkeiten: Auf uns ruht die Laſt
Europas. (Friedrich der Große.) Es erſtrebt
das Maß von Freiheit, das mit der Sicherheit
des Ganzen irgend vereinbar‘. (Bismarck.)
Es weiß, daß wir das Errungene ſtets wieder
zu verteidigen haben. (Moltke.) Ihm gilt
tatſächlich Peutjchland, das fo ganz eigen-
artige Land und Volk, über alles.
Das andere Oeutſchland hängt an feinem
Volkstum nicht. Es denkt und fühlt über-
völkiſch oder wähnt's zu tun. Die harte
große Vergangenheit iſt ihm „Bedruckung“,
die große reiche Kultur „Rückſtändigkeit'.
Macht? Nein. Verſöhnung. Sicherung?
Nein: Verbrüderung; Pflicht, Hingabe an
die Allgemeinheit? Nein: Freiheit, „Demo-
kratie“, wie jene demokratiſchen Mufterländer
und friedlichen „Demokratien“, die uns ſeit
1914 mit allen Mitteln bekämpfen. Nicht
Deutſchland, nein, Partei und Klaſſe über
alles.
Man hat fie ihr Land und Volk, die
eigene Klaſſe ausgenommen, haſſen ge
lehrt. Der Haß macht ſie blind gegen die
deutſchen Notwendigkeiten. Die Hochgebil-
deten unter ihnen leben in einer Nebelwelt
undeutſcher Schlagworte, find Weltbürger,
während das eigene Haus brennt.
Das völkiſche Deutſchland denkt ſenkrecht
in feſtumriſſenen, wurzelhaften, völtifchen
Eigenarten, die, erdkundlich-geſchichtlich ge-
geben, die Völker voneinander trennen, ihren
Wert, ihre Kultur bedingen und ſie einander
unähnlich machen.
Aut der Warte
Das unvölkiſche Oeutſchland denkt wage-
recht, es durchbricht die völkiſchen Trennungen
für eine Schicht, das Proletariat, ſchafft einen
weltumfpannenden Ring, der alle völkiſche
Ggenart in Freiheit, Gleichheit, Brüderlich-
telt verwiſcht, das völkiſch Wurzelhafte ent-
wurzelt.
Auf dies unvölkiſche Deutſchland
rechnet der Feind.
Oer Kampf geht darum: bleibt Oeutſch-
land eine völkiſche Wirklichkeit? Oder wird
es ein örtlicher Begriff, ein Raum Mittel-
europae, deſſen großes, hochbegabtes Volk
in der roten Internationale unterging?“
*
Der ſchwebende öſterreichiſche
Staatsgedanke
er iſt denn noch, außer den Deut-
15 ſchen, deim alten öſterreichiſchen
Staatsgedanken?“ fragt Emil Ludwig in der
„Voſſ. Ztg.“ (Nr. 643). „Sind es die Tſche⸗
chen, deren Trennungsmanifeſte nur durch
ihre Offenheit ſtärker auffallen als die der
andern Slawen? Sind es die Ungarn, die
nur eben noch den Kaiſer zum Könige wollen?
Sind es die Polen, die, ebenſo verſtändlich
wie ihre preußiſchen Brüder, nach der Ver-
einigung mit den nun befreiten ruſſiſchen jtre-
ben? Oder die Süͤdſlawen, deren Traum von
einem eigenen Staate, durch den Krieg belebt,
zwifchen einer kroatiſchen, einer ſloweniſchen,
einer antiſerbiſchen Löſung ſchwankt und
nur darum vorläufig minder gefährlich ſcheint?
Oder die Ruthenen, die einer Angliederung
ihres öſtlichen Galiziens in die Gemeinſchaft
ihrer polniſchen Todfeinde mit vollem Rechte
viderftreben und, nach Kultur und Religion
dem Oſten zugeneigt, ſich den Millionen ihrer
tuſſiſchen Brüder anzugliedern ſuchen, die,
ebenfalls befreit, die große Ukrainiſche Re-
publik gebildet haben?“
Die Oeutſchen in Lſterreich, aber auch
die im Neiche hätten allen Grund, ſich dieſe
Frage mit ihren naturnotwendigen, nicht zu
umgehenden Folgefragen ſehr, ſehr ernſthaft
zu überlegen. Gr.
*
Keine Märtyrer ſchaffen!
n einer Prima zu Königsberg i. Pr. wird
das Thema geſtellt: Warum bin ich ſtolz,
ein Deutfcher zu fein? Darauf erheben fi
zwei junge Leute nichtgermaniſcher Raffe
und weigern ſich, den Aufſatz zu ſchreiben,
weil fie ſich „nach den jüngſten Vorkomm-
niſſen nicht als Oeutſche fühlten“. Die vor-
geſetzte Behörde, das Provinzialſchulkollegium
zu Königsberg, das in der Sache angerufen
wird, ſieht jedoch vom Einſchreiten ab, da
es „keine Märtyrer ſchaffen wolle“. Dieſe
Nicht-Deutfchen dürfen alſo die deutſche
Schule ruhig weiter in Anſpruch nehmen.
Die Märtyrer aber ſind nun die deutſchen
Lehrer, die ſolchen Geſellen ihre Zeit und
Arbeitskraft zu opfern gezwungen werden.
4 E. K.
Kerngeſunde Heiratskandidaten
wei Heiratsanzeigen aus einer Nummer
der „Frankfurter Zeitung“:
„Akad. geb. Kfm., Sohn eines Maſchinen⸗-
fabrikanten, 26 Ff. alt, ev., vermögend, kern
geſund und lebensluſtig, möchte bald ein
ebenfalls vermögendes, intereſſantes, luſtiges
Mädel heiraten, um ein geſchmackvolles
Eheleben ſchon in der Jugend zu erleben und
einen pſychiſchen Ausgleich zu haben..“
„Vermögender, ſolider Inhaber altange-
ſehener bedeutender Weingroßhandlung in
ſchöner rhein. Badeſtadt, Eigentümer berr-
ſchaftl. Beſitzung, ſowie großer Weingüter,
35, evang., kerngeſund, ſucht paſſende, lebens-
friſche, gut bürgerl. haushälter. erzogene
Lebensgefährtin aus der Weingegend mit
nachweisbar größerem Vermögen.
Wenn man in der Kriegszeit das beſte
Teil ſeiner Geſundheit gelaſſen hat und von
dieſen kerngeſunden Heirarskandidaten lieſt,
dann bedauert man es doch ſehr, daß ſolche
Herren ihre kernige Geſundheit an die Markt-
tafel ſchreiben können, ohne dem feldgrauen
Wams Tribut geleiſtet zu haben, wie alle
andern ſowohl kerngeſunden als auch weniger
kerngeſunden deutſchen Männer.
Das lebensluſtige Söhnchen des vielleicht
Granaten machenden Maſchinenfabrikanten,
40
das „ſchon in der Jugend feinen pſychiſchen
Ausgleich mit einem intereſſanten Mädel“
haben will, iſt offenbar unabkömmlich. Und
eigentlich müßte man dasſelbe von dem
35jährigen kerngeſunden Weingutsbeſitzer an-
nehmen.
Daß es, und wohl namentlich am reich
beſetzten Tiſch des Lebens, noch immer Leute
gibt, die in ihrem Benehmen auf das Emp-
finden des Heeres derjenigen nicht gebührend
Rückſicht zu nehmen wiſſen, die im Kriege
gelitten und geblutet haben!
Ein Spaß, wenn das Bezirkskommando
den beiden kerngeſunden Heiratskandidaten
ein Angebot machte! G.
*
Woher kommt's?
llenthalben macht man jetzt die Wahr-
nehmung, daß ſich die Berufsgruppen
zu einer Art von Konſumvereinen zufemmen-
ſchließen. Und eigenartigerweiſße geſchieht das
nicht nur, um durch Mafſſeneinkauf günſtigere
Preiſe zu erzielen, jondern es iſt dieſen Ver—
einigungen auch möglich, Waren zu erhalten,
die ſonſt der allgemeinen Verbrauchsregelung
unterſtellt ſind. So hat z. B. kürzlich ein
Eiſenbahnarbeiterverband auf den Kopf je
fünf bis neun Pfund Speck, Schinken und
Schmalz kartenfrei verteilen können, und
zwar nicht etwa ein Verband in dem ſchlechter
verſorgten Weſten oder in einer Großſtadt,
ſondern in einem mittelgroßen oſtdeutſchen
Provinzſtädtchen. Woher kommen die Hun-
derte von Zentnern, deren Vorhandenſein
das vorausſetzt? Ohne Mitwirkung irgend-
welcher amtlicher Stellen iſt das doch nicht
denkbar! Es gibt ſogar Familien, die durch
ihre Mitglieder an mehreren Konſumvereinen
beteiligt ſind und von verſchiedenen Seiten
zugleich in der angegebenen Weiſe bedient
werden. Einſpruch zu erheben ift auch da-
gegen, daß ſich nun alierorts die ſtädtiſchen
Beamten, denen zum Teil die Lebensmittel-
verforgung ſelber unterſtellt iſt, zu ſolchen
Vereinigungen zuſammenſchließen, ſoweit ſie
nicht rein wirtſchaftliche Vorteile dabei im
Auge haben, und daß die Stadtverwaltungen
das ihnen vielfach zuſtehende Derfügungs-
Auf der Warte
recht dazu verwenden, ihren Angeſtellten
außergewöhnliche Bewilligungen zu gewäh-
ren. Das ſollte ſchon um des Volksſriedens
willen vermieden werden. E. K.
Soziale Fürſorge
Deo neue Bezugsſcheinregelung für Stoffe
und Kleider bringt Beſtimmungen, die
wieder einmal den Glauben an die ſoziale
Fürſorge des Staates zu erſchüttern im-
ſtande find. Keinerlei Unterſcheidung be-
ſonderer Fälle, kein rückſichtsvolles Eingehen
auf Ausnahmen, ſondern nur grob gezogene
Rich elinien nach unbeugſamem Schema. Ge-
wiß mag ein ſtrenges und tatkräftiges Ein-
greifen nötig ſein, denn es iſt offenkundig, daß
noch immer recht weitgehender Verbrauch an
Kleidern und Kleiderſtoffen ſtattgefunden hat,
fo daß man ſich über die bisherige Weitherzig⸗
keit ſchon hat wundern müſſen. Aber dieſer
unangebrachten Weitherzigkeit entſpricht nun
rückſichtsloſes Draufgehen; ſeit Einrichtung
der Bezugsſcheinpflicht fehlt die vorſicht ig
maßvolle Mittellinie. Zu große Strenge ſoll
den neuen Beſtimmungen auch gar nicht ein-
mal vorgeworfen werden, aber, was ſchlimmer
ift, Unwirtſchaftlichkeit und ſoziale Rüdjihte-
loſigkeit. Es wird neuerdings verlangt, daß
für jedes zugebilligte Kleidungsſtück das ent-
ſprechende, nicht mehr gebrauchsfähige ab-
geliefert wird, um durch die Reichsbekleidungs-
ſtelle anderswie verarbeitet zu werden. Zt es
ganz und gar verwendungsunfähig, ſo iſt die
eidesſtattliche Verſicherung vorgeſehen, daß
das Stück unbrauchbar bzw. nicht mehr vor-
handen iſt. Wie einſchneidend dieſe Bejtim-
mungen für die minderbemittelten Familien,
und zwar für die mit Kindern, ſind, hat man
wohl nicht erkannt. Denn ſonſt hätte man ſich
doch wohl gehütet, die ganze ſogenannte
Familien- oder Hausſchneiderei zu unter-
binden. Selbſt das ſogenannte „Nachtragen“
der Kinder iſt nur noch durch „Schiebung“
möglich, d. h. dadurch, daß man deren Alter
verſchweigt oder falſch angibt. Von Rechts
wegen iſt eine Familie gezwungen, jeden
Mantel, den ein Kind ausgewachſen hat, ab-
zuliefern, um einen neuen dafür einzukaufen,
Auf der Warte
ohne Rüͤckſicht darauf, ob er vielleicht auf ein
jüngeres Kind übertragen werden könnte.
Und die Neuverarbeitung getragener Stücke
iſt gänzlich unterbunden. Wer aber weiß, bis
zu welchem Maße bei den minderbemittelten
Familien gerade in dieſer Zeit die Sparfam-
keit ging, wird begreifen, welche Belaſtung
bei den geradezu unerſchwinglichen Kleider-
und Stoffpreiſen dadurch hervorgerufen wird.
Und was gewinnt der Staat auf dieſe Weiſe
für ſich? Nichts, ſondern er verliert noch dazu
Arbeitskraft. Denn beſſer ausnutzen kann er
die getragenen Sachen auch nicht; außerdein
iſt er aber gezwungen, die Leiſtung der Ver-
arbeitung auf ſich zu nehmen, die ſonſt von
der Familie übernommen wird. Und irgend-
welche Bureauſchwierigkeiten liegen doch
wahrlich nicht vor, um eine größere Rüdjicht-
nahme zu verbieten. Es brauchte nur eine
Amtauſchbuchung erlaubt zu werden; das ab-
zuliefernde Stück verbleibt der Familie, wird
aber in der dafür beabſichtigten Art der Ver-
wertung angerechnet. Die kleine damit ver-
dundene Mühe der Buchung muß man ſich
ſchon gefallen laſſen. E. K.
Ein paar Stichproben
Weich ein Schlag von Männern heute
die Geſchicke des deutſchen Volkes
mehr oder minder maß; und richtunggebend
beeinflußt, davon gibt Prof. Hans Haefke in
der „Oeutſchen Tageszeitung“ ein paar Stich-
proben:
„Es ſei nur an die Rede Scheidemanns
erinnert, mit der er am 28. Juni 1915 im
Reichstage die in zwölfter Stunde ein-
gebrachte Militärvorlage bekämpfte! Nur
einige Perlen! „Wir glauben nicht nur nicht,
ſondern wir wiſſen, daß Frankreich gar
nicht daran denkt, uns an die Kehle zu
ſpringen.“ „Ohne Anlaß, ohne Not, wie
Herr Erzberger feſtgeſtellt hat, hat man
dieſe Vorlage der Welt ins Geſicht geſchleu-
dert.“ Wir brauchen alſo Herrn Erzberger
nicht noch ſelbſt zu zitieren.
Zn Wirklichkeit ſpielen die Führer der
Demotratie und ihre Trabanten als Staats-
Berlin
47
männer einen um ſo komiſcheren Zwickel, als
fie ihre Phantaſtereien mit einem Selbſt-
bewußtjein vortragen, das im geraden Gegen-
ſatz ſteht zu ihrer bodenloſen Unwiſſenheit.
So ſpendete Herr Theodor Wolff in der
„bedeutendſten Zeitung Deutſchlands“ kürzlich
aus dem unermeßlichen Schatz ſeiner hiſtori-
jchen Kenntniſſe die Weisheit, daß es dem
deutſchen Volke nicht zu verargen ſei, wem
es für ſich die demokratiſche Staatsform ver-
lange, die die Athener ſchon vor 2400 Jahren
gehabt hätten. Ganz abgeſehen davon, daß
das deutſche Volk ſich kaum nach der Demo-
kratie ſehnt, weiß alſo Herr Theodor
Wolff anſcheinend nicht, daß die atheniſche
Demokratie eine Herrſchaft von viel-
leicht 50000 Vollbürgern über minde—
ſtens 200 000 Rechtloſe war. Herr Theo-
dor Wolff weiß nicht, daß dieſe ſogenannte
Demokratie ihre größten Leiſtungen voll-
brachte, als nach Thucydides „in Wirklichkeit
die Herrſchaft des erſten Mannes (des Arifto-
traten Perikles) beſtand“. Herr Theodor Wolff
weiß nicht, daß, als die Führung ſpäter auf
die Maſſe der Vollbürger überging, es mit
Athens Herrlichkeit ſchnell und ein für allemal
ein Ende nahm ...“
1.
Ehrendoktor Moſſe in der Erſten
badiſchen Kammer
M ſchreibt uns von beſonderet Seite:
Die Verleihung des juriſtiſchen
Ehrendoktors an Herrn Moſſe hat in der
badiſchen Erſten Kammer ein Nachſpiel ge-
habt. Als Grund der Verleihung der
höchſten Würde, die eine deutſche Univerfität
vergeben kann, war am 4. Dezember in den
doch ſicher von den berufenen Organen der
Univerfität bedienten Heidelberger Zeitungen
folgendes angegeben:
„Herr Rudolf Moſſe hat . .. der jurifti-
ſchen Fakultät unſerer Hochſchule zum daut-
baren Gedächtnis an Theodor Mommſen
die Summe von 100000 & (I) als Stipendien;
ſtiftung zur Verfügung geſtellt, um Heidel-
berger Studenten den Winteraufenthalt in
und Berliner Studierenden den
28
Sommeraufenthalt an füdweftdeutfchen Uni-
verjitäten zu ermöglichen.“
Man weiß, welchen Sturm der Entrüftung
dieſe ſeltſame Ehrung bei den Dozenten und
Studenten an allen deutſchen Hocfchulen
entfacht hat. Nun werden wir durch eine Er-
klärung des Vertreters der Univerfität Heidel-
berg in der Erſten Kammer überraſcht, wo-
nach jene „vielangefochtene Ehrenpromotion“
nicht nach der Stiftung Zug um Zug, fondern
„aus einem inneren Anlaß zuſtande kam, der
von der Stiftung, die eine halbe Million
betrug, ausgelöſt wurde“. Die ganze Be-
wegung wegen dieſer Promotion habe ledig-
lich antiſemitiſche Tendenzen gehabt.
Herr Oncken, der dieſe Orakelſprüche
von ſich gab, wird ſich wohl etwas deutlicher
ausdrücken müſſen. Weiß doch ganz Heidel-
berg, daß die halbe Million nicht Zug um
Zug, ſondern zum größten Teil erſt nach der
Promotion ſpendiert wurde, und wer will
ih wundern, wenn eine von dem Dekan
Heinsheimer betriebene offenkundig ſemitiſche
Ehrung an andern Aniverſitäten anti-
ſemitiſche Gegenwirkungen auslöſte?
Herr van de Velde
der Kunſtgewerbler, verdankt ſeinen Ruhm
nächſt ſich ſelber den deutſchen Kunſtſchrift-
ſtellern. Er war lange Profeſſor und Staats-
beamter in Weimar, und er ſpricht vollkom-
men gut deutſch. Der Geburt nach ſollte er
Vlame ſein, aus Antwerpen, doch Namen
können täuſchen. Am 28. Januar d. g. hielt
er in Zürich einen Vortrag über Ruskin und
van de Velde als den Klügeren von beiden.
Der Vortrag fand ſtatt in der Reihe der
Veranſtaltungen des Gottfried-Keller-Hauſes.
Herr v. d. Velde trug den Züͤtichern in fran-
zöſiſcher Sprache vor.
Wir haben an dieſer Begebenheit, da ſie
Ausländer unter ſich betrifft, keine Kritik zu
üben. Der tote Gottfried Keller vermag es
ja auch nicht mehr. Aber für uns Deutfche
bemerkenswert iſt ſie als der Fußtritt, der
einer übertriebenen Aſtheterei mit ihrem
Auf der Warte
Unterton von Vaterlandsloſigkeit zum nicht
unverdienten Lohn wird. = F.
Ein trefflicher Merkſpruch
gegen die krampfhaften Verſuche, dem deut-
ſchen Volke die Lateinſchrift aufzureden,
findet ſich in Meiſter Roſeggers „Heimgärt-
ners Tagebuch“ (neue Folge, 1917, bei Staad
mann):
„Warum will man im deutſchen Volke
den Lateindruck einführen? — Weil man
den deutſchen Oruck nicht überall leſen kann,
antworten fie. — Nun, dann werden wir
uns auch wohl die deuifhe Sprache abge-
wöhnen müfjen. Die kann man ja auch nicht
überall verſtehen. Und endlich werden wir
auch die deutſche Weſenheit wegwerfen.
Man kann fie ja nicht überall begreifen. Am
wenigſten begreifen ſie die, ſo uns die deutſche
Schrift wegnehmen möchten. Nein, wir leben
zuvörderft für uns ſelbſt und laſſen unſerer
Sprache, unſerem Schrifttum nicht den
deutſchen Rock ausziehen. Wem du heute
den Rod gibſt, der will morgen die Haut.“
*
Vergleich
on dem, was den ſtaatlichen und fitr-
lichen deutſchen Niederbruch um und
nach 1800 eigentlichſt verſchuldet, von der
Zeitgeiſtigkeit oder „Ubergeiſtigkeit“ des enden-
den 18. Jahrhunderts, ſagt Fichte, wie fie „gar
flach, kränklich und armſelig geworden, dar-
bietend als ihr höchſtes Gut eine gewiſſe
Humanität, Liberalität und Popularität,
flehend, daß man nur gut ſein möge und dann
auch alles gut ſein laſſe, überall empfehlend
die goldene Wittelſtraße, d. d. die Ver-
ſchmelzung aller Gegenſätze zu einem
dumpfen Chaos; Feind jedes Ernſtes, jeder
Konſequenz, jedes Enthuſiasmus, jedes
großen Gedankens und Entſchluſſes und
überhaupt jedweder Erſcheinung, welche über
die lange und breite Oberfläche um ein weni-
ges hervorragte, ganz beſonders aber verliebt
in den ewigen Frieden“. H.
Verantwortlicher und Hauptſchtiftleiter: Z. E. Freidere von Grotthuß + Bildende Kunſt und Muflt: Dr. Kerl Store
Alle Zuschriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗ Berlin
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
Digitized by Google
N
2
Heinrich Heyne
( WBellage dum Türmer
r
.
m
1
Bd cr
*
8
* 25
2
ii
%
Gr
—
m
—
—
—
— —
—
——
|
te,
4 *
N
fr
*
— 0
= 12
85
72 — S
. n
Ariegaanagabe
Rorananeher: J. C. Rreiherr von Grotthnk
XX. Jahrg. Zweites Aprilhett 1918 | Beft 14
Die Mütter auf dem Schlachtfeld
Von Franz Lüdtke
a liegen die großen, guten Jungen; trüb und trüber wird ihr Auge,
NW Heißer der Atem, matter die Stimme — — aber mit dem letzten
) bißchen Kraft des Mundes oder des Herzens rufen ſie: Mutter!
a And die Mütter kommen! Sie müſſen doch bei ihren großen,
guten Zungen fein! Die Mütter kommen, alle, alle; die, die noch im Lichte gehen,
und die, die ihren Söhnen ſchon vorangeſchritten iind... Sie kommen alle.
Haben ſie doch einſt in Stunden des Schmerzes ihr Kind aus dem rätfel-
vollen Dunkel eines Argeheimniſſes hineingeführt in die taufriſche Helle des
Lebens, und Liebe hieß der Weg, den ſie gegangen. gebt wallen fie wieder den
Weg der Liebe; aber nun gilt's, das Kind zurückzuleiten, aus den Räumen des
Achts in die Kammern des Ounkels und der Rätſel: und wieder iſt's der Schmerz,
der den Pfad der Mütter heiligt. und jede Mutter heißt Maria
Die großen, guten, tapferen Jungen ſind, da's nun ans Sterben muß, von
neuem wie die Kindlein geworden, gläubige, dankbare Kinder, die ſehnſüchtig
nach ihrer Mutter verlangen. Wie war's doch früher? Wenn's ins Finſtere ging,
in die Rätfel der Nacht und des Schlafes? Mutter, riefen fie da — und die Mütter
kamen. Und falteten den Kindern die Hände, beteten mit ihnen, küßten ihre
Stim und fangen fie zur Ruhe,
Wiegenlieder .. . alte, felige Wiegenlieder . . .
Der Surmer XX, 14 4
50 Frank: Lebenstette
Und heut, auf dem Schlachtfeld?
Die Mütter ſind gekommen, mit Schritten des Schmerzes, auf Wegen der
Liebe, und geleiten ihre Kindlein ins Dunkle, in die Rätſel der Nacht... beten
mit ihnen ... küſſen ihre Stirnen ... und über das Schlachtfeld hallt, endlos,
endlos, das Lied der Mütter, die ihre großen, guten Zungen in den Schlummer
ſingen
— \ N — — — ge
N 9
> 1 N 1
ZU RN Na
Lebenskette Von Karl Frank
Hinter Tod und Untergang
Grünt ein neues Leben,
Wie verſchwiſtert im Geſang
Höh’n und Tiefen ſchweben.
Aber allem Dunkel harrt
Schon ein Stern der Stunde,
Wo die blinde Gegenwart
Aufhorcht ſeiner Kunde.
Durch den froſterſtarrten Baum
Geht ein ahnend Strecken,
Und im letzten Winterflaum
Hört die Erde wie im Traum
Klingen ſchon den Schritt des jungen Reden,
Oer die Tore ſiegend ſprengt
Und des Lebens Banner
Jubelnd in den Lüften ſchwenkt.
Herd: Sie Wiedererſtehung unſerer Diplomatie 851
Die Wiedererſtehung unſerer
Diplomatie
Von * Dr. Ed. Heyck
„Es taget vor dem Walde,
Stand uf, Kätterlin.
Die Haſen laufen balde,
Stand uf, Kätterlin!
Oullöhiholdrioho —
Du biſt min, ſo bin ich din.“
s kommt jetzt beſtändig anders, nachdem die hochdiplomatiſchen
Schriften der Bethmannſchen Politik die Periode der „merklichen“
) Weltveränderungen für ex erklärten, „und weil mein Fäßlein trübe
läuft, geht auch die Welt gleich auf die Neige“. Aus der ungeheuren
Entladung aller natürlichen und chemiſch zugemiſchten Triebkräfte, die als gärende
Segenſätze angeſammelt waren, beginnt es zur Klärung und Auseinanderſetzung zu
kommen. Noch iſt unendliches dafür zu tun, mehr noch, als in den Dingen, in den
Köpfen. Aber doch ſchon jeder Sehende erkannte, wie jetzt die Weltgeſchichte mit
der eignen Hand die Dinge neuſchöpferiſch ordnet, — wie fie aus dem Chaos, das
die Politiker vollends erſt zuwege brachten, den Schlamm der Lüge, die Waſſer des
Quatſches und die auftaucheuden Veſten des Werdenden ſcheidet.
| „In jedem Punkte hat fie es gut für uns Oeutſche, als die Rechtlichen, ge-
führt. Daß auch diesmal, Ende 1917, England oder feine Entente nicht die Geiftes-
gegenwart hatten, ſo lange die dem Herrn Trotzky glatt von uns zugeſtandene
Wartefriſt von Breſt-Litowſk lief, den neuen Pariſer Frieden und Wiener Kongreß
aus dem ſoundſo vielten präſentierten Angebot zu gewinnen. Sodann, daß
die erſte Verhandlung in Breſt noch wieder unfertig ausging, wie anfangs 1814,
die von Chatillon, ſo daß auch von dieſen Gegnern ein neuer Gneiſenau aufatmend
ſagen konnte: „Napoleon hat uns beſſere Dienſte geleiſtet, als das ganze = Der
Diplomatiker.“
Es war unbeſchreiblich gut, daß unſere Diplomatiker in Breſt — und zwar
bei öffentlicher Zuſchauerkorona ſo, daß wir fie mal in natura ſehn konnten und
nicht bloß das feifige Berliner Tageblatt an die Kammertür beſtellt ward — vorder-
hand eine Fuchsmenſur ſchlugen. Gegen die mauernden Advokaten von Rußland,
denen die männliche ehrliche Abſicht fehlte, ihren Klienten zu vertreten und nichts
anderes. Man ſtelle ſich vor, die Herren Zivildiplomaten ohne militär-gefunde
Bonne wären mit dieſer noch immer Bethmänniſchen Zugeſtändnisfreudigkeit,
von der die gefährliche Wartefriſt und die für fie perſönlich gleich unvorſichtige
Welt-Offentlichkeit zwei durch die Stärke unſerer Poſition keineswegs erforderte
Proben waren, mit dieſer „gegenſeitigen freundſchaftlichen Herzlichkeit“, von der
die anfänglichen Berichte ſchwögten, mit dieſer Schiefladung von ungeſchickten
Kenntniſſen zur ernſthaften Pro- patria-Suite mit den in Streichern und Haken-
quarten alt-eingepaukten Gegnern zum Weltkongreß losgeautelt, nach Berlin,
Kopenhagen oder am Ende noch Stockholm. Von den Kenntniſſen waren zweifellos
52 Hey: Die Wiedererſtehung unferer Diplomatie
neuefte Geographie ſeit Hindenburg ſchwach, Formalien und Schimmelreiten gut;
meinten ſie doch ums Haar, ſie ſeien da, um zuvörderſt die Integrität Rußlands
herzuſtellen, da man nur ſo mit ihm korrekt verhandeln könne. Daß man die
auftauchenden Ukrainer zuerſt anſtarrte wie die Hirten von Bethlehem die un-
bekannten drei Könige von Morgenland, kann doch kaum eine fromme Verſtellung
geweſen ſein. Denn Moral und Betragen waren in allem tadellos.
„Welt-Kongreß!“ So hatten durch Jahre die Denker und Dichter erwartet,
die Dereinspazififten geflennt, Beth- und Scheidemann die Hebel ihrer Inter-
nationale, der goldenen und roten, in ſchweizeriſchen und Stockholmer Ron-
ferenzen vorprobiert. Wie der Selbſtvernichtung Schlußſtein hing der allgemeine
Kongreß über uns, wie ſchier nicht abzuwenden. Eine Warnung Nadoslawows
gegen „Kongreß“, die er amtlich im Sobranjeausſchuß tat, ward mittels wolff-
telegraphiſcher Verſtandes- und Grenzſperre aus der reichsdeutſchen Preſſe viel-
bezeichnend ferngehalten. Zedes weiterblickende Familienblatt verſah ſich ſeit
1915 mit ſeinem Feſtbeitrag „Friedenskongreſſe“. (So konnte man wenigſtens
feſte dagegen ſchreiben.) Wozu hat der Deutſche in der Schule Geſchichte „ge-
habt“, wenn er nicht gleich an die großen Kongreſſe dachte? Waren ſie nicht vor
allem der „Präzedenzfall“, der den Diplomaten ziert und woraus ihm der Ver-
ſtand wird? Wo zwar das beſcheidenſte Nachdenken mit Hilfe der Präzedenzfälle
hätte ſagen müſſen, wie das für uns ausgehen werde.
Für alles, was fie uns Gutes im Sinn trägt, bediente ſich unſerer Gegner
die Weltgeſchichte. Dafür daß Rumänien losſchlug, daß Italien gegen Öfterreich
ſelbſtlos weiterkämpft, ſollten fie einen Abguß aus der Siegesallee zum National-
geſchenk erhalten. Und die Oberjakobiner des Sopjet-Konvents verdienten ihn
nicht minder. Schon für die „Offentlichkeit“ jener Verhandlung. Hätten fie bie
Humanität und die Völkerbefreiung, für die ſich der ganze Welt-, Rede und
Kriegsbrand eintrachtsvoll ereifert, letzlich in Livland, Eſtland, Finnland nicht ſo
auf die Spitze getrieben, daß von den beglückten Völkern bald nichts außer ihrer
Selbſtbeſtimmung lebend blieb, ſo wären auch dieſe Vertreter von „Rußland“, das
gar nicht ihr Vaterland iſt, wohl noch zum Weltkongreß gekommen. Ihre zwei
Partituren lagen fertig: in Moll der demokratiſierte Weltkongreß, wo dann die
heilige Staatszerſetzungs-Allianz feierlich beſiegelt werde, in Dur der revolutionäre
Weltkonvent. Der Weltkrieg, worin die ariſchen Nationen ſich matt kämpfen, war
die nie wiederkehrende Hochkonjunktur, zu dieſem Finale zu gelangen.
3b habe im Türmer ſchon viel früher auf das Verhältnis: Trotzky
contra Lenin gedeutet. Seit Beginn der ruſſiſchen Revolution iſt der Vorgang
der gleiche, ward ſchon recht ſichtbar unter Kerensky. Der Ruſſe meint, er mache
ſein Spiel, und die fremden Kibitze nehmen die Karten vom Tiſch und ſtecken ſie
in ihre Hand. Übrigens ſchon innerhalb der letzten zariſchen Regierung ſpielte der
von den ewig gleichen Legenden umhüllte Kampf der Mardochai und Haman,
und mit den Unterliegenden fällt noch ihr guter Name mit. Der Abſcheu gegen
die Antiſemiten ſoll die Welt erfüllen. Nur niemals bekommt ſie die Nennungen,
die nach der andern Seite kompromittierend oder allzu deutlich find. Höllifch
paſſen da die telegraphiſchen Agenturen auf, ſo wie die Wolffſche nun ſchon länger
'
Heyck: Die Wledererſtehung unſerer Diplomatie 53
von dem Brüſſeler Präſidenten des Appellationshofs notgedrungen berichten muß,
mit dem ſich die deutſche Amtsmacht zu befaſſen hatte, und all ihre namenloſen
Umſchreibungen der Perſönlichkeit ſparen könnte, wenn der ſo vlamenfeindlich
fühlende Herr nicht Levy hieße. — Mit dem Sturz des Zarentums rückten die
judiſchen Rechtsanwälte in die wichtigen Ämter und Präſidien ein, und in den
weiter ſich abwandelnden Phaſen breitete ſich die ſelbſttätige Vermehrung ftamm-
verwandter Lenker aus. Selbſt die Nordd. Allg. Zeitung (26. 2. 18) erzählt
davon, daß die Nommiteevorſitzenden in Livland, die die Ermordungen beſtimmten,
„alles junge Menſchen von 21 und 22 Zahren, faſt ausnahmslos Zuden“ waren.
So ringen die zwei Seelen der Revolution um die Bolſchewiki-Herrſchaft, unter
dem Anſchein der Einheit, den ſie beide aufrechthalten müſſen, und verkappt
im Tohuwabohu von Widerſinn und Undeutlichkeit, das überall durch die beteiligte
Machkunſt bewirkt wird. Die Großruſſen jeglicher Parteiſtellung haſſen volklich den
Njemez, er iſt ihnen etwas Ahnliches wie der Zude, und unſer unvermeidliches
reichsdeutſches Heroldsausblaſen kapitaliſtiſch-wirtſchaftlicher Ziele beſtätigt ſie darin.
Andersherum aber auch, um endlich zu ſich ſelbſt zu kommen, mußten ſie mit
Deutſchland kurzweg Frieden wünſchen. Die Trotzky uſw. haſſen uns noch mehr,
aber nicht als volksnationale Ruſſen; ihnen iſt das ruſſiſche Bolſchewikitum die
Maſchine, um die ganze Welt für ihre Ziele platt zu walzen. Nach dem ruſſiſchen
Muſter mit Hilfe des „Volkes“ wollen ſie und ihre mehr oder minder verſchwiegenen
Freunde in den übrigen Ländern die geſchichtlichen Gewalten ausheben. Mit
der Ungeduld und Voreiligkeit, die einmal ihre Eigenſchaft iſt, meinten ſie jüngſt,
Europa ſei ſchon zum Generalſtreik nebſt den davon erhofften Folgen reif. Es
iſt die. für fie tragiſche Kehrſeite davon, daß fie jo überreichlich von jeder Art
dußerem Erfolg verwöhnt find. Die Arbeit in und mit der Oberflächlichkeit iſt
ihr Lebensboden, aber auch immer das, wodurch fie ſchließlich doch nicht an das
Sanze kommen. Ihre Fruchtbäume wachſen üppig heran, aber darunter hört
die Tagesſchicht auf, die ſie als fleißige Regenwürmer gelockert und mit ihrem
Sroßſtadtmüll und Intellektualismus und wie dieſe Kunſtmittel heißen, fo trefflich
durchdüngt haben; die geilen Wurzeln geraten in taube gewachſene Lagerungen,
die ſie nicht mehr annehmen. Und einige ſind immer, die auch ſo klug ſind und
noch etwas klüger. Sie können abwarten, weil die Uneigennützigkeit die nicht ſo
zappeligen Nerven hat, weil fie ihr „Mül törnen“ kann, was zu Pomuchelskopps
Zamnier Häuning nie konnte und was auch in der Advokatenpraxis nicht geſchult
wird. So ſcheint das unvordringliche Durchhalten des reklameloſen Lenin aufzu-
jaſſen zu fein.
Zu was die Verhandlungen von Breſt-Litowſk waren, haben nun Roſenfeld—
Ramenjew (in Ropenhagen) und Trotzky ſelber zum beften gegeben und am weid—
lichſten der in der Schweiz berühnite „ruſſiſche Kurier“ und Abgeſandte Holzmann,
auch einer natürlich, aus Warſchau. Sie legten bloß, wie fie ſich bei der ſchönen
mittelmächtlichen Geduld auf die derweil geſponnenen Fäden verließen: die
Zündſchnur in Dur, das zweiſträhnige Geflecht in Moll, Hoffnung auf die
Ententcländer und auf Wien und unſeren Reichstag. Vom Deutſchen Reichstag
gehen begreifliche auswärtige Vorſtellungen um, die denn doch ſich irren. Immer—
54 Heyd: Die Wiedererſtehung unferer Diplomatie
hin fährt Scheidemann fort, die „Zertrümmerung Rußlands“ nicht gutzuheißen.
Alſo das unſchädliche Zerbröckeln des Koloſſes, der in ſeiner Kompaktheit und in
feinem notwendigen Bedürfnis, ans weſtliche Meer zu rücken, uns einmal begraben
mußte, nach den Balten und Finnländern die Deutſchen und Nordgermanen.
Bis dahin natürlich will der Grundſatzmann nicht denken. Dieſe politiſche Art
zu denken kennt weder Entwicklung, noch Gewordenheit, ſie iſt zeitlos, wie ſie
abſolut und ewig tot iſt. Belgien iſt Belgien, und Rußland iſt Rußland.
Kein Sterblicher weiß, ob ohne den militärischen Mit Bevollmächtigten zur
Breſter Verhandlung — der im Reichstag entſchuldigt werden mußte — die Oiplo-
maten nicht heute noch, Dezember, Januar, Februar, (März) nach Ronferenzen-
brauch mit ihren „Ruſſen“ ſäßen. Daß General Hoffmann dieſe Verhandelei mit
klarem Wort bezeichnete, war der Hieb in das Fadenknäuel, der nicht kommen durfte.
Jetzt war's von höchſter Spannung, aufzupaſſen. Richtig, in Wien die Arbeiter-
zeitung, beſſer zu nennen die Arbeiter-Bearbeitungs-Zeitung, hatte ſchon den
Hieb mit Adler-Auge aufgefangen. Der deutſche General hat mit dem Säbel
geraſſelt! Wenn das Wort nicht zieht, auch mitten im Kriege, was foll dann ziehn?
Richtig, ſie wagten in Berlin gar nicht mehr die Augen aufzuſchlagen. Tagelang
mit dem alten Unbehagen ſah man die Zeitung wieder kommen, ob fie noch nicht
Hoffmanns Kaltſtellung brächte? — Schon aber wieder kam der weitere Verlauf
durch den Gegner. Der um Schutz bittende Ruf der eſtniſch-livländiſchen ver-
faſſungsberechtigten Ritterſchaft war ſchon wochenalt, war von Berlin aus nicht
verlautbart worden, — Balten! Ritter, Junker! Das konnte bei der „Mehrheit“
peinlich werden, „Schutz“ konnte Geſchrei verkappter Annexion erregen. Nun,
die roten Horden mordeten Nichtdeutſche, Letten, Eſten, Finnländer genug, Ver-
nunft und Empörung ertrugen's nicht mehr und am 18. Februar verzunderte der
Waffenſtillſtands-Zwirnsfaden. Ein bündiger Griff ans Schwert, an den — Säbel,
und wir genasführten werbenden „Verſtändiger“ hatten das Jawort des Friedens.
Bereit ſein iſt alles! bleibt immer das Wort der großen Wirklichkeit. Wo aber
die Politik unmännlich, dukig, feig, mundredig wurde, gilt nun: Geſchrei iſt alles!
3m Cholmer Bezirk wohnen viel mehr Ukrainer als Polen, aber ſowie nur das
Polentum ein unberechtigtes Geſchrei erhebt, dreht ſich die Haltung und Selbſt-
achtung derer in Wien, die den Vertrag geſchloſſen, wie eine Windfahne um. Ohne
all den verlogenen Widerſinn, welchen England dem Weltkrieg zum begleitenden Welt-
gefaſel gab, hätte auch Bethmanns Regierung, von ſich allein aus, ſolche ſelbſt-
verneinend Kriegspolitik gar nicht fertig bringen können. So aber hatte fie in jenem
gegen uns erregten Geſchrei die Richtlinien, was fie verſäumte und unterließ, was ſie
vorzeitig als Deutſchland fernliegend erklärte, was fie zur vermeinten Genugtuung
des Auslands auf die deutſche Tagesordnung ſetzte. Während weltgeſchichtliche Tra-
gödien andauernd an fremden Völkern den Unſegen und die Frevel ihrer Eintags-
regierungen vor die Augen aller Zeitgenoſſen ſtellten, ſtieg ſie ſo tief herunter,
die Werte totzuſchweigen und mit eigener Hand zu zerſchnitzeln, die vielleicht nicht
immer in der Perſon des Monarchen, wohl aber in der höheren Verantwortlichkeit
der vererbenden Krone und Oynaſtie und der fie umgebenden herzhaft treuen
Diener liegen. Zur gleichen Zeit, da dieſe ſich auf das Helleuchtendſte und Er-
geyck: Die Wiedererſtehung unſerer Diplomatie 55
greifendſte erwieſen, mäſtete die Regierung den Vorwärts und das Berliner
Tageblatt. |
Die kritiſche Mitarbeit unſerer Publiziſten an den Aufgaben der Staatskunſt
würde mehr ausrichten, fie ſtieße bis zu den Amtern durch, bildeten auch die deutſchen
Schriftſteller und Schriftleiter eine Einheitsfront, wie jo erfolgſtark nicht nur in
unſerem Lande, ſondern in der ganzen Weltverzweigung die der Gegenſeite tun.
Aber auf gut germaniſch iſt jeder — ein paar Ausnahmen — der Neiding des andern,
am naͤchſten desjenigen, der das Gleichgerichtete wie er zu ſagen hat. Es bleibt tonlos,
iſt fruchtloſe Predigt in der Wüſte, daß der ſelbſtändige nationale Publiziſt die
Dinge, wie fie find und wie fie fein follten, in zahlreichen Einzelperſonen deutlicher
als gar ſo oft der Amtsmann ſieht. Denn jener hat allerdings leichter, ſie durch die
Luftlinie zu ſehn; da ſtehn ſie im klaren und richtigen Umriß wie ein halbfernes
Gebirge. Der Amtsmann bieſtert ach in dieſes Tales Gründen mitten im Gebirg
herum. Dante am Anfang der Comedia — er nannte ſie aus anderen Gründen
ſo — gibt eine Beſchreibung davon. Er erwähnt die vielen Bäume, den Wolf,
(einen zwar nur, die nebenamtliche Meinungspolitik telegraphiſcher Agenturen
war noch nicht erfunden); „vor jenem mußte tief mein Mut ſich neigen in Furcht
beklommen“, und fo iſt er voller Anſpielungen. Obendrein aber trägt unſer Di-
plomat als Schutzbrille noch das Aktenbündel, was Dante nicht tat und die italieni-
ſchen Politiker von 1914 bekanntlich auch ſich ſchenkten. Mitunter haben zwar
gewiſſenhafte deutſche Staatsmänner durch den Aktenboden hindurch auch wieder
herausgeſehn und das, was ſchriftlich dazwiſchen enthalten war, im rechten
Augenblick herauszuziehen gewußt, daß es mit Donnerſchlagwirkungen traf, hoͤld-
lüfterne Anträge Napoleons III. u. ä. mehr. Aber durch Bethmann ward feliger,
ins Unrecht ſich ſelbſt zu ſetzen, ftatt rechtzeitig andere, und feit man die Röntgen-
ſtrahlen erfunden hat, iſt das Durch-die-Akten-Hindurchſehen auch zugrunde ge-
gangen, wie alle freien Künſte, wenn ſie der Wiſſenſchaft verfallen.
Die Wiſſenſchaft und die Bureaukratie ſind engſte Schweſtern. Sie ſind Anker
und Pendel der Diplomatie. Das war in dem Weltmannstum einſtmaliger Diplo-
maten die Krönung: „den Teufel im Leibe zu haben“, die in Klugheit und Mut der
Bewegungsfreiheit bewurzelte Vollbringungsluſt. Heute geht der Diplomat dieſer
Art über Bord, vielmehr er kommt gar nicht dazu, es zu werden, und in einem
Geſellſchaftskreiſe, wo eigenes, gar noch nationales Herzblut ſich höchſtens betätigen
kann, wenn man mit dieſem Herzfehler a. D. geworden iſt, da lebt man ſich leicht
ein in die ſchönen Tage von Aranjuez. Alles, was man tun und wollen konnte,
lag umzirkelt in Berliner „Direktiven“. Manche von ihnen zur Jagowzeit hat den
beſcheidenen Hunior in den Geſandtſchaften auswärts erheitert. — Die nationale
Triebkraft unſerer Politik war tot. Schon vor 1914 trat an höheren Stellen das
ablehnende Bedürfnis zutage, ſie mit dem Begriff des Alldeutſchen durcheinander-
zubringen. Deutſchland ſei beſtimmt zur kosmopolitiſchen „Kultur“. Die Gleich-
ſetzung national-alldeutſch vor der öffentlichen Meinung vollendeten dann deren
bevorzugte Generalpächter, als ihr im Auguſt 1914 unnötig beeiltes „großes um-
lernen“ vorüber war und ſie nun den großen Zug durchs rote Meer auf die andere
Seite machten. — Aber auch alle noch ſonſt politiſch-diplomatiſch bezweckte Tätig-
56 Henck: Die Wiebererliching ımferer Diplomatie
keit war erloſchen, die Vorbeugendes auf aktivem Wege gegen die Einkreiſung
hätte zuſtande bringen können, müſſen. Erſatz für Politik blieben die Ober-
direktiven der mehr oder minder internationalen Finanzmächte, die in Deutſch-
lands beſtändig beteuerten „alleinigen wirtſchaftlichen Zielen“ des Pudels Kern
darſtellten. Aus dieſem geliebten Gerede geht uns die unglüdfelige Neigung nach,
Deutſchlands händleriſche und wirtſchaftliche Abſichten, ſtatt fie in engliſch-tatſäch-
licher Weiſe ruhig zu verfolgen, in alle Weltrichtungen, ehe es noch irgend ſo weit
iſt, auszututen. Nachdem man von deutſcher und Weltkultur bis zum Erbrechen
geredet, erwidert man den Finnländern, die ihre Anlehnung an die deutſche Bil-
dung betonen, mit der Betonung der „wirtſchaftlichen Hoffnungen“ Oeutſchlands.
Daß Bulgarien unſer Verbündeter iſt — unſer allerwichtigſter, notwendigſter,
der Türangelpfoſten, woran der ganze Berlin- Bagdad-Kram befeſtigt iſt und vor
allem der große buntfenſtrige Zwiſchen- Windfang am guten Haken hängt —, das
ward kürzlich noch wieder vergeßlich verbummelt über dem reicheren Rumänien;
Radoslawow mußte zum ſoundſo vielten Mal nach Deutfchland fahren, mit feinen
guten Trümpfen im Handkoffer, die er ja nicht für Kartenhäuſerbau und als Fidi-
bus für feurige Pazifiſtenreden vergeudet hat. So las man's mit der Oobrudſcha
auf einmal wieder anders, und Oeutſchland macht ſich Bulgariens Sache zu eigen.
Venn es auch nicht fo freudig klang, wie man in der Friedens Vorfreude von den
zu gewinnenden „künftigen Freunden“ geſprochen. —
Von „gottgewollten Abhängigkeiten“ ſprach 1910, das Wort Bismarcks un-
genau anbringend, der Staatsmann, den ſo oft zu nennen immer von ſelber peinlich
wird. Keiner wie er vermehrte die vom guten Gott der Oeutſchen nicht gewollten.
Zu dem goldenen Pol der Internationale ſetzte er in das amtlich bisher noch nicht
anerkannte Ergänzungsverhältnis den roten Pol und vervollſtändigte jo die Axe
für das, was aus der ſeiner Weltpolitik noch werden konnte. Es war die ſchöne
Zeit des Stockholmer Vor-Kongreſſes, der ſich in der Schweiz begegnenden „feind
lichen“ Finanzleute, wo über elſaß ; lothringiſche Teilabtretungen Palaver gehalten
wurden, die vom telegraphiſchen Wolff als „Entgegenkommen einflußreicher
Kreiſe“ empfohlen wurden, es war die Maienblüte der Bedeutung Scheidemanns.
Bis eines Tages der perſönlichſte Vertrauensmann, Erzberger, ſich auf die unbe-
grenzten Möglichkeiten beſann, politiſcher zu fein, als Beth- und Scheidemann
zuſammen, und die Verſenkung mit dem einen ganz, dem andern halb nach
unten ging. 1
Bethmann war aber ſelber der Großpapa der Mehrheitsreſolution. Un-
ermüdlich hat er an ſolcher Geiſtesverfaſſung gearbeitet, hat er, nachdem Oeutſch-
land im Auguſt 1914 mit Jubel ſich von den Parteien befreit gefühlt hatte und
ihre Steckenreiter abgeworfen, die Parteien wieder aufgebaut, und dieſer Bau
gelang dem Mann der Kartenhäuſer. Den ganzen Aberwitz der Friedens Werbe-
politik ſamt der Refolution, in der fie ſich überſchlug, konnte man in der beft-
draſtiſchen Widerlegung beobachten durch das Beiſpiel — der deutſche Zeitungs-
leſer wurde z. T. daran verhindert —, wie Bulgarien möglichſt deutlich und oft
ducch den leitenden Minifter feine nicht fo ſchüchtern zufaſſenden Kriegsziele
öffentlich kundtat, mit dem doppelten Erfolg: daß nirgends gegen ſie geſchrien
0
Heyd: Ole Wledererſtehung unſerer Diplomatie 57
und gehetzt ward, weil man es als zwecklos einſah, und daß früh zur rechten Zeit
die Sobranje ſie mit freudigem Oank für dieſe Staatskunſt und das Heer begrüßte.
Vom Juli 1917, zuerſt noch wenig merklich, nahm nun doch die Weltgeſchichte
die uns und das künftige Deutſchland angehenden Entwicklungen ſelber in die Hand.
Die ſeit Kriegsbeginn namentlich von München ausgegangenen Aufklärungen und
Deutungen über die Ukraine, die ruſſiſchen Fremdvölker, über die oſteuropäiſche Zu-
kunft find heute keine „alldeutſche Hirnverbranntheit“ mehr. Nachdem in der
Bethmann-Riezlerſchen „Weltpolitik“ vom Frühjahr 1914 — die mit hoffärtigem
Mangel an Scham noch im Herbſt 1916 im unveränderten Geſchwafel des Textes
neuaufgelegt wurde, mit aller Selbſtblamierung drin! — das „ewige Rußland“
als diplomatiſche Gewißheit aufgeſtellt und aus der „Geſchloſſenheit ſeiner
Kaffe“ (7) mitbewiefen worden war.
Aus dieſen Schwefelwolkenkuckucksheimen kehrte wie Elias im feurigen Wagen
dieſes Februars zur Erde nun doch eine Diplomatie des Tatſächlichen zurück.
Sie ſteht oft noch wie ein Neuling im Gelände, Neuorientierung über die Ge-
ſchehniſſe 1914—1917 bis in die Kanzleien hinunter iſt unerläßlich. Und vieles
wird ihr ſonſt nicht leicht gemacht. Am nächſten verbündelt iſt ſie mit einer Politik,
die aus Nationalitätengründen — weil niemand da war, 1914 den Augenblick der
ſtarken Staatsidee an der Stirnlocke zu faſſen — wieder beim Metternich redivivus
anlangte, nur in recht verſchoſſener Couleur. Und in der deutſchen Heimatfront
hinter ihr drohen die Politiker der inneren Entente. Bei alledem iſt es eine Freude
zu ſehen, wie ſie jetzt, wo die fühlbare Hand der lebendigen Geſchichte ſie einfach am
Kragen mitführt, auch im Lernen mit Siebenmeilenſtiefeln weiterkommt. Noch
kuͤrzlich verlautbarte ganz im alten Betbmannſtil, welche „Bedingungen“ Rumd-
nien uns () wohl machen würde, von unſerer Seite finde es das freundlichſte Ent-
gegenkommen, nur wirtſchaftliche uſw. uſw. Auch dieſes Blättlein wandte ſich, ſieht
der vielgeprüfte Leſer ſeiner Zeitung mit Vergnügen, und andere Zeichen und
Wunder geſellen ſich hinzu. Fröhlich will man da in Kauf nehmen, wenn das,
was man heute erkennt und vorausſieht, ſchon wieder auf überwundenen Strecken
liegt, bevor es über Grenzzaun, Zenſuren und was der Gräben und Hürden mehr
ind, endlich in den Druck gelangt.
Nach Jahren und Fahren der kaltnaſſen Nebel klären ſich wieder die Wirklidy-
keiten, ſinken die Dünſte um fie bernicder, die von Bethmanns druckſendem
pythiſchem Oreifußſtuhl aufſtiegen, glänzt auf den Siegeshöhn ein hoffnungs-
frohes Morgenlicht. Ex oriente lux! Daß es nun feine klare Lichtbahn nach Weſten
ziehe! Nach allen den „Angeboten“ hören wir von Hertling wieder „Sicherung“!
Das muß dann und wird dann auch die fein, durch die wir dem Vetter John, was
ich im Doppelſinn ſehr ernſtlich meine, „näher“ kommen. Es führt kein
anderer Weg zu feiner Achtung. Und wenn wir doch immer ſo viel ver-
ſchenken wollten, jo bringen wir Oünkirchen feiner alten Heimat zu und ſchenken's
den Dlamen zur Morgengabe wieder! Wie Riga von Livland zu Kurland kam.
Und Calais iſt auch noch da. Es kommt jetzt beiderſeits die Zeit der diplomatiſchen
beweglichen Konſtellationen, wo es die hübſchen indirekten Billardbälle zu
verfuchen gibt. Man ſtudiere darüber nur das anſchauungsreiche Lehrbuch, be-
%
58 Seidel: Der Mutter Eintehr zu ſich felbft
titelt „Geſchichte der Diplomatie in Koalitionskriegen“, worin wir bisher gar zu
einfeitig die Rolle der ſiegreich Vertrauensvollen und zum Schaden dann auch
noch von der Gemeinſamkeit der übrigen Verſpotteten und Ausgelachten ſpielten.
Alſo, mit Italien mache der innige Vierbund feinen Frieden nur — zuletzt, der
ſtärkt uns nicht ſo ſehr. 28. 2. 18.
Der Mutter Einkehr zu ſich ſelbſt
Von Ina Seidel
Der Liebe, die da beiteln ging,
An Berg und Baum und Strom ſich hing,
Die wundernd ftand im Glanz und Licht
Von fremdem Menſchenangeſicht, —
Der Liebe, die nicht Ruhe fand,
Sich arm und leer gab Herz und Hand, —
Der Liebe wurde Ziel und Glück, —
Glück, — Glück!
Sie ſtrömt von Segen übervoll
Ins Herz zurück, dem fie entquoll,
Ins eigne Herz zurück.
Sie iſt nun ledig aller Flucht,
Sich Blüte ſelbſt und ſelbſt die Frucht.
Sie iſt nun alle Sehnſucht los,
Kreiſt mir vom Herzen durch den Schoß.
Die Welt, die ich durchdrang mit Glut,
Wiegt ruhig ſich in meinem Blut.
So vieler Herzen Süßigkeit,
Daraus ich Wonne trank und Leid,
So Stern und Baum, Tier und Kriſtall,
Die Liebe kehrte heim vom All,
So milder Mond, ſo wilder Wind:
Ihr wurdet eins in meinem Kind. —
Stoſch: Des echenels letzte Fahrt f 59
Des Echeneis letzte Fahrt
Eine Geſchichte aus der Meereswelt
Von Eva Marie Stoſch
ie ein gleißendes Lichtband, in ſich bewegt und zitternd, läuft
58 der Abendſonnenſtrahl über das weite, große, uferloſe Meer.
204 Vom fernen Weſt rinnt er her, wo der goldrote Sonnenball dem
288 Horizont entgegenſinkt.
Und der Himmel wölbt ſich blaufahl bis auf jene gelben, roſigen und violetten
Volkenſtreifen tief im Weſt. Und der weite, gewaltige Atlantik liegt wogend
blaugrau. Alles dunkelt der Nacht entgegen — — alles verdämmert — — —
Die Unendlichkeit des Meeres, und die erhabene Einſamkeit des Meeres
find groß. Durch dieſe große, erhabene Meereseinſamkeit ſchwimmt der Fiſch
Echeneis. Er gleitet dahin, unentwegt durch das bläulich dunkelklare Kriſtall.
Denn er folgt dem großen Menſchenfiſch.
Als er dem großen Menſchenfiſch zum erſtenmal begegnete, da wußte er,
und fühlte er, daß dieſer fein Glück wär'.
Und muß es nicht fo fein? — — Das iſt ein feltfames und geheimnisvolles
Tier. Das iſt rieſengroß, und ſchlank, und waſſerfarben. Zur Tiefe ſinkt es hinab
und kann am Grunde liegen. Dann wieder ſtreicht es wie ein Schiff der Menſchen
droben zwiſchen den Wogenkämmen hin.
Es iſt ein Schiff der Menſchen! Aber weil es ſo eigen iſt, und io ſtark, und
durch die Flut dahinſchießt, und untertaucht wie ein gigantiſcher Fiſchleib, da
wird es dem kleinen Echenels zur lebendigen Kreatur. Zum großen Menſchenfiſch!
Der kleine Echeneis kennt die Schiffe der Menſchen wohl. Er iſt ihnen oft⸗
mals gefolgt — — er, den fie den „Schiffshalter“ nennen. Er hat an ihnen ſich
feftgebaftet, und mit ihnen die Welt e von Nord nach Süd, von Oſt
nach Weſt.
Zetzt aber iſt er ledig und frei.
Durch das dunkelklare Kriſtall gleiten fie beide dahin. Weit voraus der große
Menſchenfiſch, grauſchwärzlich, lang geſtreckt. Hinterdrein — — ſehnſüchtig und
begierig — — der kleine, bräunliche Schuppenträger Echeneis.
Das gleißende Lichtband auf dem Waſſer iſt verblaßt. Der Sonnenball
ſank tiefer, und wurde glutroter, und dann iſt er ertrunken. Nun iſt nur noch ein
letztes Rotgelb und Violett über dem fernen Weſthorizont — — aber auch das
verſchwindet. Das Dunkelfahl der Sommernacht legt ſich über Himmel und Meer
— — die erſten Sterne blinken — — der Mond ſteigt auf.
Wie aber das Licht des Mondes milchhell und machtvoll wird, gewahrt der
Echeneis wieder etwas Neues und Seltſames. Da wirbelt etwas über ihm im
Waſſer, ganz hoch droben, wo das Mondlicht die Flut durchhellt. Es wirbelt und
dreht ſich — — und ſenkt ſich und ſteigt wieder auf — — und iſt türmchenſchlank,
aber doch nur klein, und ſehr zart und fein.
60 Stoſch: Des Echenets letzte Fahrt
Da hält der Fiſch im Schwimmen ein, und ſteigt auch höher, denn das feine,
zarte, wirbelnde Ding zieht ihn ganz merkwürdig an. Nun iſt er nahebei und
ſtaunt mit großen, runden Augen, und ſpricht: „Grüß' dich — — wer biſt du,
wunderbares Weſen?“
Vor ihm dreht ſich das Geſchöpfchen. Das Mondlicht fließt, wie durch das
Kriſtall der Flut, jo durch den feinen, durchſchimmernden Leib, der wie ein Frucht
chen aus matt roſigem Glas iſt.
„Grüß' dich wieder. Ich bin nur Beros, die Melonenqualle, die Tänzerin.“
„Du tanzeſt bezaubernd — — ich muß dir zuſchauen. Du biſt ganz durch-
ſichtig, und bewegteſt du dich nicht im Waſſer, ich glaube, man könnte dich nicht ſehen.“
„Nein, man könnte mich nicht ſehn, und das iſt mein Schutz vor Gefahren
und Verfolgtſein.“ — — Dann wirbelt ſie ganz dicht an ihn heran, und um ihn
herum. „Wer biſt denn du? — Du biſt ein komiſcher Geſelle von einem Fiſch.
Auf dem Kopfe, gleich hinter der Nafe, haft du eine platte Scheibe, einen läng-
lichen, flachen Schild. Was tuſt du damit?“
„Damit fauge ich mich feſt an meinen Gefährten, mit denen ich ſonſt zu
wandern pflege.“
„So biſt du jetzt allein?“
„Ich bin allein — — ja freilich — — aber nur, um einem neuen Genoſſen
mich anzuſchlie ßen, der mein Glück ſein wird. Darum kann ich auch nicht lange
dir zuſchauen, ſchöne Tänzerin.“
„Ach — — bleibe noch. Du biſt ein drolliger Kumpan, aber du gefällſt
mir. Ich glaube ſogar“ — — ſie ſchwenkt ſich vor ihm, und ſinkt, und ſteigt, und
beim Steigen in mondlichthelleres Waſſer erglänzt fie ſelbſt immer lichter — —
„ich glaube ſogar — — ich hab' dich lieb — —“
Der große Menſchenfiſch ſtreift weit voraus. Seht iſt er zur Oberfläche auf-
getaucht. Am Drud der Waſſermaſſen, die fein rieſenhafter, harter Leib verdrängt,
an dieſem Druck, der durch Flut und Wellenſchlag geht, fühlt Echencis fein Ver-
bleiben. And er will ſich fortwenden von der kleinen Melonenqualle, dem anderen
nach — —
„Bleibe, bleibe“, flüſtert ſie, ganz nahe bei ihm. „Siehſt du nicht, wie ich
leuchte und ſchimmere ini Mondenſchein — — bin ich nicht ſchön? Aber noch viel
ſchöner kann ich fein. Wenn es dunkel iſt. Denn dann habe ich mein eigenes Glän-
zen. Ein funkelndes Tanzkleid aus lauter Glanz.“
„Ja — — du biſt ſchön.“
„Bleibe — — bleibe — — ich hab' dich lieb.“ — — —
Was rauſcht das Meer auf, dort drüben, wo der große Menſchenfiſch an der
Oberfläche ſchwimmt? Man ſpürt weithin das ſchnell erregte Drängen ber Dajjer-
maſſen. Wieder taucht das große Tier.
Es taucht ein gutes Stück hinab, und gleitet dann ebenmäßig dahin, dort,
wo kauin noch das Licht des Mondes einzudringen vermag. Dort, wo die Waſſer
ruhiger find, weil kein Wellenſchlag binabwühlt. Nun ift es näher gekommen dem
Echeneis und der Beros — — fie hören fein lautes, ſtöhnendes Atemraffeln. — —
Nun ſenkt er ſich wieder tiefer — — —
Stofh: Des Echenels letzte Fahrt | | 61
„sp muß hinunter, hinunter,“ gurgelt Echeneis haſtvoll, „daß ich ſehe,
wo es bleibt — —“
„Und ich folge dir“, flüſtert die kleine Tänzerin.
So ſteigen auch ſie hinab, immer dem langen, rieſenhaften Schattenleibe nach,
der unter ihnen ſinkt. Um ſie her wird es dunkler und dunkler — — nun ſehen
ſie das ſchattenhafte Ungetüm nicht mehr, denn alles iſt ſchwarz. Sie hören es nur.
Bald ſtecke ich mein eigenes Licht an“, raunt die kleine Beros dem Fiſche zu.
„Venn ich mich erholt habe von des weißen Mondes Beſtrahlen. Das hatte mich
doch angegriffen — — ach! — — Aber jetzt — — jetzt geht es — —“
Wie ſchwaches kleines Lichtzittern in all der großen Finſternis iſt es neben
dem Echeneis. Und feine runden, ſtaunenden Augen erkennen die matten Um-
tiſſe der Beros, erkennen ein Gleiten von Lichtfünkchen längs den feinen Rippen
ihres ſchlanken Leibes. Und allmählich wird heller der zarte Schein.
Nun gibt es von unten her einen ſchweren, dumpfen Ton, und ein Knirſchen.
Aber der dumpfe Ton iſt bald vorbei, und zugleich verſtummte das ſeltſam ftöh-
nende Raſſeln des Riefentiers. Nacht und Todesſchweigen und eine große Waſſer⸗
ſtille iſt umher.
„Dein Freund liegt am Grunde“, jagt leiſe die kleine Melonenqualle. Und
dann ſteigen auch ſie beide völlig hinab.
Nichts würde der Fiſch erkennen können, wäre nicht das lichte Weſen da.
Das ſchwebt vor ihm hin wie eine Leuchte in ſchwarzer Nacht. Es hat einen Schein
um ſich, und in feiner nächſten Nähe ſieht er ein winziges Stück des Meeresbodens.
zn kleinem Kreiſe ſtreicht er umher und fühlt zuweilen Tangbüſche, und einmal
bemerkt er die ſchwachen Umriſſe eines Seeſterns. Er ſtößt ſich an eines Seeigels
ſpitzen Stacheln, und ein anderer Fiſch ſchnellt hart an ihm vorbei. Doch ſtreift er
ruhlos weiter, den großen Menſchenfiſch zu ſuchen. Der aber iſt in der Finſternis
und Stille wie entſchwunden.
„Ich muß warten, bis er ſich wieder regt“, fagt er endlich betrübt zur Beros,
die immer nahe bei ihm iſt.
„Tue das.“
Und die Minuten gehen lautlos hin, und es werden ihrer viele.
„Weißt du, mein Freund, ſonſt bleibe ich droben, bis es Tag wird“, plaudert
die kleine Tänzerin, die Zeit zu kürzen. „Dann erſt komme ich hier herab. Am
ſchönſten kann ich oben meinen Reigen ſchwingen, denn dort iſt alles frei und leicht
um mich her. — — Aber — — wirft du mich nicht lieben können? — — Was
willſt du mit dem großen Menſchenfiſch; er ſtöhnt und raſſelt und iſt nicht ſchön.
3b aber werde dir meine zierlichſten Tänze tanzen, in meinem eigenen Licht-
gewande. Das wird noch ſchöner, noch viel ſchöner fein, als du vorhin es ſaheſt;
aber der Mond darf nicht ſcheinen. Und noch viel gleißender als jetzt wird im Drehen
und Schwingen mein Licht mich umfunkeln.“
„ach glaube es dir“, ſagt der Echenels.
„Rannft du mich nicht lieben?“
„3H habe dich gern und bewundere deine Schönheit und deine Kunſt.
Aber lieben kann ich nur das Große und das Starke. Meine Luſt iſt das weite
62 Stoſch: Des Echenels letzte Fahrt
Schweifen, und ich liebe jene, die mich mit ſich fortzutragen vermögen. Nannſt
du das, kleine Beroß? — — Nein, du kannſt es nicht, aber verſtehe, daß meine
Liebe und meine Wanderluft eins find. Nur eine Wanderliebe kenne ich.“
Oa ſagt die kleine Tanzfee nichts mehr, und es iſt, als werde ihr Lichtchen
ſchwächer. Sie merken es beide nicht, daß dicht neben ihnen aus Tangdickicht der
Vorderleib eines gewaltigen Scherenträgers ſich reckt. Das iſt des Meeres Philo-
ſoph, der Hummer.
Echeneis hebt noch einmal an: „Siehe, kleine Beros, ſolch eine Wanderliebe
für mich, und ſolch ein Großer und Starker iſt der Menſchenfiſch. Und darum
muß ich mit ihm ziehen — — er nur wäre mein Glück. Man fühlt es immer, kleine
Beroëẽ, wenn einem das Glück begegnet.“
„ga — — man fühlt es“, flüſtert fie ganz traurig.
„Ja — — man fühlt es“, ſagt jetzt neben ihnen auch der Philoſoph. Da
ſchauen fie erſtaunt zu ihm hin, von dem fie in Beroés Lichthauch einen dunklen
Schattenriß erkennen. Er aber fährt tiefſinnig fort: „So iſt es, glaubet es mir:
wer feinem Glück begegnet, und es verſäumt — — dem verkehrt es ſich in Unglück
und in Tod.“
Sie ſchweigen beide auf dieſe Worte. Und all die vielen Lichtfünkchen an
dem ſchlanken Leibe der Tänzerin erzittern und erbeben. Sie ſchweigen lange. — —
Dann iſt plötzlich in der Meeresnacht ein heftiger Ton. Ein Rattern und
ein Raſſeln.
Da zuckt Echeneis hoch. „Das iſt der Menſchenfiſch! Er will weiterziehen
— F er will emporſteigen — — und ich muß ihm folgen.“
„Bleibe — — bleibe — —“ fleht die kleine Melonenqualle. Aber der Fiſch
gleitet davon, dem dumpfen, raſſelnden Tone nach. Dem Waſſerbewegen nach,
das wieder anhebt. Da folgt ſie ihm. |
„wWillſt du durchaus hinauf, fo komme ich mit dir. Meinen Tanz mußt
du noch ſehen, meinen allerſchönſten, im eigenen Licht. Vielleicht daß du den
Menſchenfiſch vergißt und bei mir bleibſt.“
Ein großer, fremder Fiſch ſchießt an ihnen vorbei. Sie können ihn nicht
ſehen, ſie ſpüren nur, wie er das Waſſer mit ſeinem Schwanze ſchlägt.
Er hat die Worte der Beroö vernommen und ruft ihr zu: „Steige du nicht
hinauf. Denn droben hat das große, weiße Licht des Himmels ſich verſteckt; das
Meer wogt und toſt — — es iſt Sturm geworden.“
„Ach — — laß mich!“
„Ich warne dich. Du weißt, daß die Sturmwogen dich zerſchellen.“
Aber ſie antwortet nicht mehr.
Mit feinem dumpfen Rattern, das aus des Leibes Tiefe kommt, fteigt der
große Menſchenfiſch empor. Und ihm folgt der Echeneis. Und dem Echendis folgt
die Heine Beros.
Schwarz wölbt der Nachthimmel ſich über dem Ozean. Der Mond iſt fort.
Es mögen finftere Wolken jagen — — man kann fie nicht erkennen. Zuweilen
blitzt ein Stern.
Stoſch: Des Schenels letzte Fahrt 63
Das Meer iſt aufgewühlt. Es rollen die großen Wellen ſchwer daher. Sie
überſchlagen ſich mit lautem Gebrüll, und in der lichtloſen Luft iſt ein Saufen
und ein Pfeifen.
In all der Finſternis und all dem Stürmen tanzt die kleine Beros. Sie
tanzt, nach des Orkanes grauſem Tanzlied, ſo ſchön, ſo wunderſchön wie nie. Von
den Waſſern läßt fie ſich hochtragen und wieder niederwerfen. Faſt iſt es kein
eigenes Reigenſchwingen mehr. Faſt iſt es ein Tanzen mit dem Tod.
Sie denkt nicht, was es ſei. Sie denkt nur, daß es ſicher ſchön iſt. Und daß
die zarten Rippen ihres Leibes funkeln und ſprühen vor lauter Licht. Daß ein
flatterndes Lichtkleid fie umwallt. Und daß ihr zierlicher Leib ſich hebt und ſenkt,
ſich dreht und wendet — — und ganz die Augen deſſen blenden muß, der zuſchaut.
Der Echeneis ſchaut ihr zu. Und feine runden Augen ſtarren fie an — —
wahrlich — — ſie können nicht los! Auch er wird hochgehoben und hin und her
geſchleudert von der Wogengewalt. Aber immer wendet er die Augen ihr zu — —
er muß — —
So ſchoͤn, fo feenſchön iſt der Lichtſchleiertanz der Berod im Sturm.
Indeſſen entgleitet der große NPD:
Und es kommt eine feder 9790 wilde, donnernde Woge. Die erfaßt
die Meine Tänzerin und wirft fie ganz hoch empor — — fo hoch wie bisher noch
nimmer. Dazu brüllt das Meer im Höllenakkord.
Da vergehen dem Echeneis faft die Sinne, und feine Augen quellen hervor
in einem Schrecken und Entſetzen.
Und dann — — dann ſieht er die Waſſermaſſen wieder niederſtürzen, und
in ihr ſpringen und treiben tauſend Lichtfünkchen — — tauſend einzelne, winzig
Heine Feuerperlen — —
Das Au die N Beroe, deren zarter Leib zerriffen ward.
Es iſt ein grauer Morgen, der dieſer Sturimast folgt. Die Site ſteigt
gar nicht auf, fie iſt verhüllt. Kein roter Strahl ift im Oſten des düfter verhangenen
Himmels.
Der Sturm hat ausgetoſt. Aber immer noch rollt das Meer in langen, ſchweren
Wogen, gewaltig und aufgewühlt. In nicht zu großer Tiefe ſchwimmt der Echeneis
dahin. Um ihn her iſt das Kriſtall der Fluten dunkelgrün und kalt, weil kein roter,
warmer Sonnenſtrahl es durchglüͤht.
Stier ſehen feine runden Augen in all das kalte Düfter — — und ſehen
eigentlich nichts. Er denkt, daß die kleine Tanzfee hat ſterben müſſen, nur weil
ſie ihn geliebt. Und daß er ſelbſt darüber ſein eigenes Glück und ſeine eigene Liebe
verlor. Denn den großen Menſchenfiſch, ſo malt ihm die Hoffnungsloſigkeit, den
wird er nun niemals wiederfinden.
Niemals — — und was wird weiter geſchehen? — — Er hört die Worte des
Meeresphiloſophen vom verſäumten Glück, das ſich in Unglück verkehrt und in Tod.
Aber das Glück, das einer halten will, kann ſich nicht auch das in Tod ver-
kehren? — — Auch das — — arme kleine Beros — — auch das.
— — — — — — — — — — —— — — — — — — —
6 Brauer: Frühlingstag
Weiter gleitet der Echeneis dahin. Er hat kein Ziel — — nur eine große,
große Leere iſt in ihm, und um ihn her.
Da zieht ein ſtattliches Schiff ſeine Bahn durch den Ozean. Von Oſten kommt
es, von Englands Küſte. Ganz nahe am Echeneis ſtreicht es hin. Und da er die
Einſamkeit nicht mehr ertragen kann, ſo heftet er ſich an dieſes Schiffes Kiel.
Er tut es ohne Lieb' und Freude. Und ſeufzt tief auf dabei, und fühlt: „Es
wird meine letzte Fahrt ſein.“
— — — n — — m —¾— r— — — — ́ — — — — — — — —
Stunden hernach. Und immer noch iſt alles wie vordem, iſt grau und fonnen-
los und trübe — — Himmel und Meer.
„Ich werde den großen Menſchenfiſch nie wiederſehen“, denkt Ccheneis,
der unten am Schiffskiel haftet und ſo die Flut durchquert.
Dann aber ſieht er ihn dennoch! Unter der Waſſeroberfläche, im dunkel-
grünen Dämmer kommt er herangeglitten. Lang und ſchattenhaft. Schon will
Echenels, im Entzücken, ſich loslaſſen von feinem Ort — — zu jenem ſchwimmen —
Da löſt ſich etwas, ſchattengleich und ſchmal, wie ein neuer kleiner Menſchen
fiſch von dem großen ab — — es ſchießt daher und ſchlägt in die Schiffswand ein.
Ein Krachen wie Oonnerſchlag — — ein Schäumen und Sprühen — — ein
Menſchenſchreien oben auf Deck — —
Dann neigt ſich der ee ee Schiffsleib — — und verſinkt.
— — — — — — — l — — — . — — —
Der Echeneis f ſintt nicht mit zum Grunde. Ihn hat der Bote des großen
Menſchenfiſches in ein Nichts zerriſſen.
Zerriſſen — — wie die kleine Beros, die auch am Glüde ſtarb.
. —— — r - —
DB nz
1 — A r A
Frühlingstag Von Helene Brauer
Es liegen luſtige Heiligenſcheine
Über jedem giebligen Haus,
Die Schornſteine ſehn wie wunderlich kleine
Stillvergnügte Heilige aus.
Der Himmel iſt hoch und amethypſten
Über den Häuſern aufgetan,
Die Fenſter find blank, als ob fie wüßten:
Nun geht das große Freuen an!
Die ganze Nacht durch fauchten die Katzen
Auf allen Dächern und gaben nicht Ruh“
Nun gehn die Schelmenwinde und ſchwatzen
Den Mädchen Früh lingsgehe imniſſe zu
r
Aus dem Briefe eines Ranoniers an feine Frau 65
Aus dem Briefe eines Kanoniers
an ſeine Frau
SIR Im Felde . . . 1918.
( > Es iſt jetzt wieder die Zeit, wo Sehnſucht und Heimweh in verſtärktem
N“ TA Maße das Herz erfüllen. — Wenn ich hier in den Garten ſehe und
9.
das Auge ſich nicht ſatt trinken kann an der Blütenpracht und dem
in verſchiedenen Tönungen leuchtenden Grün, auf dem die Tauperlen
z abheben wie Diamanten, dann ſchlägt die Freude an dem Schönen allemal in
dauer um, weil ich alles dies nicht in der lieben Heimat mit Dir und unſerem
leinen Buben genießen kann und mit Dir Zwieſprache halten über Gottes herr-
ie Schöpfung und unſeren Buben unterweiſen und lehren, um feine Seele zu
weten und empfänglich zu machen für all das Gute, das uns von Gott kommt.
Aber noch immer wird Geduld von uns verlangt; noch immer heißt es ausharren
bs zum Ende. —
Ob uns nun wohl dieſe lange Zeit der Entbehrungen, des Kummers und der
Schmerzen doch Segen bringt? Ob die Qualen dieſes Krieges die Geburtswehen
einer neuen beſſeren Zeit ſind? — Ein großer und auch guter Zweck muß doch dieſer
Leidenszeit zugrunde liegen, und je mehr ſich die Mammonsſucht und die Gemein-
heit hervordrängt, je mehr ſie ſich anſtrengt, die Herrſchaft zu behaupten, deſto klarer
wird es mir, daß uns dieſer Krieg zur Erkenntnis der Schmach dieſer Mammons-
mechtſchaft dienen ſoll, damit wir uns aufraffen und die Sklavenketten ſprengen,
um endlich freie Menſchen zu werden. Außer unſerer Verantwortlichkeit gegenüber
dem Staate nur abhängig von Gott und den Naturkräften, von denen Er unſer Da-
ſein abhängig gemacht hat, inſonderheit von Allmutter Erde. Auf ihr müſſen wir
unſer Haus bauen; in fie müffen wir ſäen und pflanzen, um Nahrung zu erhalten.
Frei können wir allerdings nur durch ſtrenge Selbſtzucht werden; dadurch,
dat wir unſer Ich mit feinen Wünſchen feſt in unſere Gewalt bringen. So werden
wir innerlich frei. Dieſe innerliche Freiheit bewirkt aber auch, daß wir die gott-
gewollten Abhängigkeiten: die Abhängigkeit von der Erde und einem geordneten
Semeinſchaftsweſen, die Verantwortlichkeit gegenüber dem Staate und unſere
ſittliche Pflicht zur Arbeit nicht als Unfreiheiten empfinden. Die Abhängigkeit
von einzelnen beſtimmten Mitmenſchen inſonderheit, wenn dieſe fie in unwürdiger
Veiſe ausnutzen, wie das oft geſchieht, müffen wir aber als Unfreiheiten empfinden;
daher wollen und müſſen wir einen Rückhalt haben, um frei wählen zu können,
wenn wir unſere Arbeit dienſtbar machen wollen. Geld könnte uns wohl einen
ſolchen Rüdhalt bieten; ſein Wert ift aber bedingt. Das zeigt uns der Krieg. Geld
kann man nicht eſſen; außerdem kann es geſtohlen werden. Wir brauchen als
Rüdhalt ein eigenes Stück Erde, das uns Platz bietet für ein Haus und einen Garten,
auf dem wir das nötigſte Gemüſe, vielleicht auch etwas Obſt bauen und etwas
Kleinvieh halten können. Welchen großen volkswirtſchaftlichen Wert eine große
Menge ſolcher Heimftätten darſtellen würde, brauche ich Dir nach dieſem wohl
nicht weite r auseinanderzufegen. |
Der Currner XX, 14 | 5
66 Aus dem Briefe eines Ranoniers an feine Frau
Das müßte der Segen des Krieges fein, daß er uns dieſes Glück, ja dieſes ein-
fache Menſchenrecht brächte. Das müßte der Oank des deutſchen Volkes an feine
Krieger ſein, daß es denen, die den Beſtand des deutſchen Landes unter Einſatz
ihres Lebens verteidigen und den Angehörigen derer, die ihr Leben dafür gelaſſen
haben, ein Recht auf einen Teil dieſes Landes, groß genug für eine vor äußerſter
Not ſchützende Heimſtatt gebe. Möchte doch jeder gute Deutſche die zwingende
Notwendigkeit eines Geſetzes, das uns dies gewährt, erkennen und ſeine ganze
Kraft zur Verwirklichung desſelben einſetzen! — |
Rückſicht auf Kapitalsintereſſen müſſen zurückgeſtellt werden hinter das
allgemeine Recht eines jeden Menſchen auf Verhältniſſe, die ihm die notwendigſten
Lebensbedingungen gewährleiſten. Das find eben eine Wohnung, die er fein
Eigen nennen kann, die ihm geſtattet, eine Familie zu gründen, und die ihm keiner
der Kinder wegen ſtreitig machen kann; die im Gegenteil den Kindern eine Stätte
des körperlichen und ſittlichen Gedeihens bietet, ihnen ein wirkliches Vaterhaus iſt.
Ferner ein Garten, der uns wenigſtens das nötigſte Gemüſe und etwas Obſt trägt
und Platz für Kleinviehhaltung bietet. Venn er auch nicht die Bedürfniffe voll
deckt, ſo bietet er doch eine große Stütze und wird einem guten Menſchen eine
Quelle echter Freude ſein.
Es ift mir einfach unverſtändlich, daß man an den in Frage kommenden
Stellen den tiefen Ernſt dieſer großen Frage nicht erkennen will und auf An-
fragen, die das Kriegerheimſtättengeſetz betreffen, ſo lau mit einigen ſchönen
Worten, die das Intereſſe bekunden ſollen, antwortet, aber gleich mit der Bremfe
kommt und vor übertriebenen Hoffnungen warnt. —
Sind Hoffnungen auf Ur⸗-Menſchenrechte nach dieſen unausſprechlichen
Leiden und Anſtrengungen des ganzen Volkes, nach dieſen unſterblichen Taten un-
zähliger Männer aus dem Volke, von denen die meiſten bisher dieſer Rechte noch
nicht teilhaftig waren, noch übertrieben zu nennen? Leben wir nicht in einem
chriſtlichen Staate, in dem die uralten, aber ewig zeitgemäßen Gottesgeſetze in der
hehren Auslegung des Stifters der chriſtlichen Religion vor allen anderen befolgt
werden müßten? —
Wenn man mit glühender Liebe an ſeinem Vaterlande hängt, iſt es ungemein
ſchmerzlich, daß man faſt bei niemand den Glauben findet, daß wir in abſeh-
barer Zeit zu den geſchilderten rechtlichen Zuſtänden kommen. Trotz allem Optimis-
mus kann man ſich einer gewiſſen Verbitterung nicht erwehren, wenn man mit
den Kameraden von der Kriegerheimſtättenbeſtrebung ſpricht und faſt ausnahmslos
mit bitteren Antworten abgeſpeiſt wird. Keiner will ſo recht an einen wirklich
ſozialen Geiſt unſerer Regierung und Volksvertretung glauben. —
Sch glaube ſicher, die Leiſtungen unſerer Truppen würden, wenn das über-
haupt im Bereiche des Menſchenmöglichen liegt, übertroffen werden, wenn das
Kriegerheimſtättengeſetz dem Entwurfe des Hauptausſchuſſes, dem nun ſchon über
3300 Organiſationen angehören, entſprechend verwirklicht würde und damit jedem
Krieger oder jeder Kriegerwitwe ein Rechtsanſpruch auf einen Teil feines Vater
landes zuteil würde, den er perſönlich zu verteidigen hätte. Es iſt der ſehnlichſte
Wunſch der meiſten Deutſchen. Daß er erfüllt würdet Das wäre der Segen dieſes
grauenvollen Krieges.
*
—
>
*
n 1
An die Herren Lloyd George, Bainleve
und Wilſon
(Zur elſaß-lothringiſchen Frage)
„England wird an der Seite feines Bundesgenoſſen Frankreich kämpfen, bis deſſen unterdrückte
Kinder von dem fremden Joch befreit find.“ Llopd George, Liverpool, 12. Okt. 1917.
„Samstag war ich in London, als Kühlmann ſagte, daß niemals ein Zoll deutſchen Bodens
abgetreten werden würde. Dies war die Fehdeanſage in der elſaß-lothringiſchen Frage. Lloyd
George gab zum erſtenmal eine förmliche Erklarung ab und antwortete Rühlmann mit einer andern
ebelmütigen Fehdeanſage, indem er erklärte: England würbe an der Seite Frankreichs ſtehen, bis
Frankreich Elſaß- Lothringen besannezioniert haben werde. Am nächſten Tage gaben die Vereinigten
Staaten bie gleiche Erklärung ab.“ Painlevé, Kammerrede, 20. Okt. 1917.
1 D. s iſt vermutlich ein liebenswürdiger Zug der menſchlichen Natur, dieſes wohlfeile
| K 2 Mitleid und Zeitungsgejammer um das gefallene und unglückliche Frankreich;
mir aber ſcheint es, auf das von Frankreich an feine deutſchen Bezwinger abzu-
tretende Elſaß - Lothringen bezogen, ein ſehr müßiges, gefährliches und irregeleitetes Gefühl
zu fein, und von engliſcher Seite bezeugt es eine fehr tiefe Unkenntnis der geſchichtlichen Be-
ziehungen zwiſchen den beiden Ländern und der Art und Weiſe, wie die Franzoſen Oeutſch⸗
land viele Jahrhunderte hindurch behandelten. Für die Oeutſchen iſt es in dieſer Kriſe nicht
eine Frage der „Großmut, des heroiſchen Mitgefühls und der Verzeihung einem gefallenen
geinde gegenüber“, ſondern es handelt ſich um gründliche Vorausſicht und praktiſche Aber⸗
legung deſſen, was dieſer gefallene Feind aller Wahrſcheinlichkeit nach tun wird, wenn er
einmal wieder auf den Beinen ſteht.
Was dieſen Punkt anbelangt, fo ſteht im Gedächtniſſe der Oeutſchen, und zwar in
fürchterlich lehrreicher Weiſe, die Erfahrung von vier Zahrhunderten geſchrieben; davon iſt
jetzt in der Erinnerung Englands, wenn es jemals dort verzeichnet war, wenig oder gar keine
Spur mehr vorhanden ... Keine Nation hatte jemals einen fo böfen Nachbarn, wie ihn
Deutfchland während der letzten vierhundert Jahre an Frankreich gehabt hat: bös auf jede
mogliche Weiſe, unverſchämt, raubgierig, unerſättlich, unverſöhnlich, fortwährend zum An-
griffe bereit. a f - * Zu
Nun aber gibt es in der ganzen Geſchichte keinen unverſchämten, ungerechten Nach-
barn, der jemals fo vollſtändig, plötzlich und ſchmachvoll zerſchmettert wurde wie jetzt Frank⸗
reich von Deutſchland. Nach vierhundertjähriger ſchlechter Behandlung von ſeiten dieſes Nach-
barn, dem das Glück im allgemeinen günftig war, hat Oeutſchland endlich die große Genug-
tuung, feinen Feind fo prächtig am Boden zu ſehen, und die Deutſchen wären nach meiner
N
—
»
4
=
68 An die Herren Lloyd George, Valnievs und Wilſon
ehrlichen Überzeugung eine törichte Nation, wenn fie jetzt, wo fie die Gelegenheit Dazu haben,
nicht daran dächten, zwiſchen ſich und einem ſolchen Nachbarn einen feſten Grenzwall aufzu-
richten. | | |
Es gibt kein Naturgeſetz, von dem ich wüßte, keinen Ratſchluß des Himmels, der Frank-
reich allein von allen irdiſchen Weſen der Verpflichtung enthöbe, einen Teil des geraubten
Gutes zurückzugeben, wenn der Beſitzer, dem es entriſſen wurde, gelegentlich wieder die Hand
darauf legt. Niemand, Frankreich natürlich für den Augenblick ausgenommen, vermag an
ein ſolches Naturgeſetz zu glauben. Weder Elſaß noch Lothringen wurben in einer fo gött-
lichen Weiſe gewonnen, um das wahrſcheinlich zu machen. Richelieus Verſchlagenheit
und das großartige Langſchwert Ludwigs XIV., das find die einzigen Titel
Frankreichs auf dieſe deutſchen Gegenden. Richelieu ſchraubte ſie los (und durch einen
glücklichen Zufall war da ein gewiſſer Turenne, ein General, der mit ihnen abgetrennt wurde.
Denn Turenne, glaube ich, war nach Abſtammung und Charakter vor allem ein Deutſcher .. ).
Louis le Grand mit ſeinem Turenne, dem erſten General der neueren Zeit, führte das Werk
zu Ende, nur daß Turenne das planmäßige Niederbrennen der Pfalz, vom Heidelberger
Schloſſe abwärts, in einen rauchgeſchwärzten Trümmerhaufen, nicht genügend beſorgte, wes-
halb es Ludwig einem andern zu übertragen hatte. Expreſſeriſche Geſetzesdeutung, ja wir
können billig von äußerſt kühnen Advokatenkniffen ſprechen, ſpielte dabei eine große Rolle.
Des großen Ludwigs „Chambres de Réunion“, die Metzer Kammer und die Kammer von
Breiſach, ſtanden einſt in äußerſt üblem Rufe, und es wurden gegen fie viele Klagen laut,
hier in England wie auch überall jenſeits des Rheins. Ludwig der Großartige, von ſeiner
Erhabenheit abgeſehen, ſpöttiſch-höflich, gab keine Antwort. Auf ſeinen Münzen nannte er
ſich ſogar „Excelsus super omnes gentes Dominus“, doch waren es zweifellos Advokaten
eniffe der ſchlimmſten Sorte, deren er ſich bei der Erwerbung des Elſaß bediente. Ja, was
Straßburg anbelangt, wurde es nicht einmal durch Advokatenkniffe, noch viel weniger durch
das Langſchwert gewonnen: da arbeitete der große Herrſcher mit der Brechſtange des Ein-
brechers. Straßburg wurde mitten im tiefſten Frieden beſetzt; der Magiſtrat, durch Geld be-
ſtochen, verriet es an Ludwig, deſſen Truppen er eines Nachts in die Stadt einließ. Noch
Metz, das jungfräuliche, noch irgendein anderes der drei Bistümer kam durch Waffengewalt
an Frankreich, ſondern eher kraft eines ſchwindelhaften Pfandgeſchäftes. König Heinrich II.,
an ben ſich dieſe Städte, die proteſtantiſch waren, in ihrer äußerften Not wandten, erwarb fie
im Jahre 1552 ſozuſagen als Pfänder. Mit fliegenden Fahnen, unter Trommelwirbel zog
Heinrich ein, „nur um die deutſche Freiheit zu verteidigen, ſo wahr mir Gott helfe“; doch tat
er nichts für den Proteſtantismus oder die deutſche Freiheit (die ſich bei dieſer Gelegenheit
ſchnell ſelber zu helfen wußte), und als unverſchämter, ungerechter Pfandleiher weigerte er
ſich, die Städte zurückzugeben; hatte er doch alte Rechte darauf, die für ihn ganz und gar un-
zweifelhaft waren, und konnte ſie deshalb nicht zurückgeben. Auch ſeitdem wollte er nie, dem
Drucke wie der Überredung unzugänglich. Der große Karl V., unter dem die Proteſtanten
mündig wurden, verſuchte mit allen Kräften, bis er körperlich zuſammenbrach, ihn zur Heraus-
gebe zu zwingen, doch er konnte nicht. Der jetzige Hohenzollernkönig, im Vergleich ein be-
ſcheidener und friedliebender Mann, hat's gekonnt und durchgeſetzt. Mir ſcheint es ganz und
gar gerecht, vernünftig und weiſe, daß Deutſchland aus ſeinem unvergleichlichen Feldzuge
dieſe Länder wieder mit heimbringt, daß es ſeinen eigenen alten Wasgau („Vosges“), den
Hunsrück, die drei Bistümer und andere ſtrategiſche Plätze ſtark befeſtigt und ſich fo in Zukunft
vor franzöſiſchen Beſuchen ſichert.
Die Franzoſen klagen ſchrecklich über den drohenden „Verluſt an Preſtige“, und jämmer-
liche Zuſchauer rufen allen Ernſtes: „Entehrt nicht Frankreich, laßt die Ehre des armen Frank-
reich unberührt!“ Gereicht es aber Frankreich zur Ehre, wenn es für die Scheiben zu zahlen
ſich weigert, die es abſichtlich in ſeines Nachbarn Fenſter zerſchlagen hat? Der Angriff auf
4
An die Herren Lloyd George, Painlevs und Wilſon 69
die Fenſter, das war ſeine Schmach. Ein Hohn auf jedes Volk war fein letzter Überfall auf
Oeutſchland, nicht minder ſchimpflich war die Art, wie er von Frankreich durchgeführt wurde.
Frankreichs Ehre kann nur durch Frankreichs tiefe Reue erkauft werden und durch ſeinen
feſten Vorſatz, ſolches nie wieder zu tun, ja für alle Zukunft das gerade Gegenteil zu tun. Auf
dieſe Weife mag Frankreichs Ehre mählich wieder in der Fülle ihres alten Glanzes er-
strahlen
Bor hundert Jahren war in England der lebhafte Wunſch und für eine Weile auch
das wirkliche Beſtreben und die Hoffnung, Elſaß-Lothringen von Frankreich loszubekommen.
ch Carteret, ſpäterhin Lord Granville genannt (kein Vorfahr, in irgendwelchem Sinne,
feines jetzigen ehrenwerten Namensträgers), der, wenn wir den einzigen Lord Chatham aus-
nehmen, nach der Meinung vieler der geſcheiteſte Staatsſekretär des Auswärtigen iſt, den wir
jemals hatten, und vor allem der einzige Staatsſekretär, der Deutſch ſprach und ſich überhaupt
in deutſchen Dingen auskannte, hatte ſich gerade dieſes Ziel geſteckt, und ſeine Ausſichten, es
zu verwirklichen, waren prächtig, hätte ihn nicht unſer armer, guter Herzog von Newcaftle
plötzlich durch kleinliche Kniffe daran gehindert und ihn ſogar aus ſeinem Amte hinausgeekelt
in grämlichen Verdruß ... Daß nun Bismarck und mit ihm Oeutſchland bei dieſer günſtigen
Gelegenheit dieſelbe Forderung erheben, iſt für mich keine Aberraſchung. Nach einer ſolchen
Herausforderung und nach einem ſolchen Siege erſcheint der Entſchluß wirklich vernünftig,
gerecht und ſogar beſcheiden. Betrachten wir alles, was feit dem denkwürdigen Zuſammen⸗
bruche bei Sedan geſchehen iſt, ſo zeugt es vorteilhaft von der Weisheit und der Mäßigung
des Grafen Bismarck, wenn er feſt dabei bleibt, wenn er nicht mehr verlangt, entſchloſſen,
nicht weniger anzunehmen, und in aller Gemütsruhe mit den paſſendſten Mitteln auf ſein
Ziel losfteuert ...
Beträchtliches Mißverſtändnis herrſcht noch in England über Herrn von Bismarck.
Die meiften engliſchen Zeitungen ſcheinen mir Bismarck noch nicht richtig erkannt zu haben,
ſie ſind erſt auf dem Wege dazu. Wenn der verrückte Bismarck und ſein ebenſolcher König
por zehn Jahren überall mit Stafford und Karl I. in bezug auf unfer Langes Parlament
verglichen wurden, jo iſt dieſes ſtehende Bild nun von der Erde verſchwunden, man hört nir-
gends mehr ein Wort davon. Dänemark, dieſe pathetiſche Niobe, die ihrer Kinder gewalt-
ſam beraubt wurde (es waren geſtohlene Kinder, und ſie wurden von der Niobe Dänemark
herzlich ſchlecht erzogen), iſt auch faſt vergeſſen und wird es völlig werden, ſobald man die Ver-
hältniſſe ordentlich kennt. Bismarck, ſoweit ich ihn verſtehe, iſt kein Mann von „napoleoni-
ſchen“ Ideen, feine Ideen find denen Napoleons ganz und gar überlegen; er zeigt keine un
bezwingliche „Ländergier“, noch iſt er von „gemeinem Ehrgeiz“ beſeſſen uſw.; nein, er ver-
folgt Ziele, die weit darüber hinausgehen, und ſcheint mir in der Tat mit großem Geſchicke,
mit beharrlichen, gewaltigen und erfolgreichen Mitteln nach einem Zweck zu ſtreben, der den
deutſchen und allen anderen Völkern zum Segen gereicht. Daß endlich dieſes edle, gedul-
dige, tiefe, fromme und tüchtige Deutſchland zu einer Nation zuſammengeſchweißt und an
Stelle des prahleriſchen, aufgeblaſenen, gebärdereichen, ſtreitſüchtigen, unruhigen und über-
empfindlichen Frankreich zur Königin des Feſtlandes werde, erſcheint mir als das hoffnungs-
dollſte Exe ignis, das ich miterlebt habe. T. Carlyle
Was ſagt Herr Lloyd George zu dieſer Erklärung ſeines berühmten Landsmannes?
Sie ſteht in der „Times“ unter dem 18. November 1870, wo er ſie auf engliſch nachleſen mag.
Beſonders lehrreich dürfte fie für Wilſon fein, der feines Zeichens früher Profeſſor der Ge-
ſchichte war und jetzt jo blutige Reden gegen uns hält. Von Painlevé verfpreche ich mir
wenig: als Mathematiker wird er Carlyle kaum kennen und als Franzoſe hat er keinen hiſto⸗
riſchen Sinn. Dr. J. B. Ambach aus Biederthal im Elſaß als Überſetzer
ER
4
70 Her Einfluß der Seemacht im Großen Rriege + Das Oeutſchtum in der deutſchen Hauptſtadt
— en der Seemacht im Großen Kriege
Der nicht glaubt, daß nach dieſem Kriege das Tauſendjährige Reich feinen Anfang
nehmen und es keine Kriege mehr geben werde, muß unausweichlich den Schluß
8 ziehen, daß eben dieſer Krieg Maßſtab und Richtung für ſpätere Seerüftungen
zu 2 habe. Er hat bis jetzt gezeigt und zeigt jeden Tag: 1. daß das Deutſche Reich eine
Seemacht braucht, um ſein Leben im Frieden ſichern, im Kriege verteidigen zu können; 2. daß
das Rückgrat und die Seele der deutſchen Seemacht nach wie vor, ja in ſteigendem Grade,
eine ſtarke, ſtrategiſch bewegungsfreie Hochſeeflotte bleibt, mit dem Hochſeelinienſchiff als
Keimzelle. Die Bedeutung und die Zukunft des Unterſeebootes wird damit nicht beeinträchtigt,
aber die Hochfeeflotte trägt die Wirkungsmöglichkeit des Unterſeebootes und damit auch
deſſen Einfluß, als eines Faktors der Seemacht im Seekriege, auf den Weltkrieg und die künf-
tige Geſtaltung der Weltverhältniſſe.
Zu dieſen Schlüſſen kommt Graf E. Re ventlow in feinem neueſten, nahezu 300
Seiten ſtarken Buche: „Der Einfluß der Seemacht im Großen Kriege“ (Berlin 1918, E. S.
Mittler & Sohn), worin er, obwohl militäriſch und politiſch alles noch im Fluß ift, und un-
geachtet des Ausblicks auf mannigfache fpatere Ergänzungen und Richtigſtellungen, doch auf
der Überzeugung fußt, daß die großen Grundzüge einer ſolchen Unterſuchung nach den bis-
herigen Ereigniſſen der Kriegführung zur See bereits feſtliegen und durch keine noch kommen-
den Ereigniſſe oder Aufſchlüſſe einer ſpäteren Geſchichte abgeändert werden können. Aus
den Taten oder Tatenloſigkeiten der Flotten, aus ihren Erfolgen und Mißerfolgen ſowie aus
ihren Fernwirkungen leitet der Verfaſſer das Beweismaterial für die Beantwortung von
Lebensfragen des Deutſchen Reiches ab: Wie muß das Deutſche Reich nach dem Kriege ũber
die Notwendigkeit der Seemacht für feine Zukunft denken? Zt die Orientierung der aus-
wärtigen Politik Deutfchlands in Zukunft von den Seemachtfragen trennbar oder nicht? Sit
die belgiſche Küſte vom Standpunkt der Seemacht und ihrer Verwendung dem Oeutſchen
Reiche notwendig oder nicht? Die Benutzung des ungeheuren Erfahrungsſtoffes dieſes Krie-
ges, ſagt der Verfaſſer, iſt eine Pflicht, die ſich nicht nur dem Marinefachmann aufdrängt,
ſondern jedem politiſch Wirkſamen, der mittelbar oder unmittelbar Einfluß auf Abſtimmun-
gen des Oeutſchen Reichstages beſitzt oder erlangen kann. Dazu gehört ebenſogut wie der
Abgeordnete auch der Profeſſor der Volkswirtſchaft und der Mann der. Preſſe. Das Buch
faßt nun den reichen Stoff in überſichtlicher Durcharbeitung zuſammen und will auf dieſe
Weiſe dem Seeoffizier neue Anregungen, dem Politiker aber und dem intereſſierten Nicht-
fachmann einen Leitfaden für die Abſchätzung der Wirkung unſerer Seemacht und für die
Beurteilung ihrer Zukunftsbedürfniſſe geben.
A
Das Deutſchtum in der deutſchen Hauptſtadt
(Berliner Theaterwinter)
Y Zan fragt ſich immer wieder: Wie konnte das geſchehen? Wie war es möglich, daß
eine große Berliner Bühne ſich dazu hergab? Aus welchen Sphären kam den
ODirettoren der Entſchluß und woher nahmen fie den Mut zur Ausführung?
Was veranlaßte fie, ſo rückſichtslos mit den Geſetzen des Berliner Theaterlebens zu brechen?
Wußten die Herren Meinhard und Bernauer nicht, was ſie taten, als ſie im Theater an
der Königgrätzer Straße ein deutſches Stück von einem jungen deutſchen Talent zur Auf-
führung brachten? Noch dazu ein deutſches Stück, das nicht nur in unſern Landesgrenzen
Das Deutfhtum in der deutſchen Haupiftabt 11
entftand, ſondern auch die Eigenart unſeres nationalen Weſens zeigt? Daß ein junger deut-
ſcher Schriftſteller für eine anſtändige, noble Arbeit in der deutſchen Hauptſtadt eine große
Bühne findet, iſt ein fo unerhörter Vorgang, daß er auf normale Weiſe überhaupt nicht er-
klärt werden kann. Wenn man nicht annehmen will, daß die löbliche Direktion einer vorüber⸗
gehenden Schwäche erlag, muß man ſchon an ein Wunder oder (was näher liegt) an irgend-
welche heimlichen Schutzmächte glauben. Wir find in Berlin längſt fo weit, daß zehn aus-
ländiſche Stücke, ſeien fie auch fo mißgeſtaltet wie Kamele, leichter das Nadelöhr der direkto⸗
tialen Kritik paſſieren, als daß auch nur e in Deutſcher ins Himmelreich der Premiere gelange.
And die Herren Meinhard und Bernauer N ſchwerlich den Ehrgeiz, dieſen Zuſtand ändern
zu wollen. —
Wie dem nun aber auch ſei: Wilhelm Stücklen ſoll uns mit ſeiner „Straße nach
Stein aych“ nicht weniger willkommen fein, weil er in Berlin mehr Glück fand, als ſonſt
Schriftſtellern deutſchen Stammes zu begegnen pflegt. Ein Hauch von Talent und unberühr-
ter Friſche liegt mit ſympathiſchem Schimmer über ſeinen drei Akten. Wie umfaſſend die
Klaviatur feiner Begabung ſein mag, kann gegenwärtig niemand ſagen. Mit voller Sicher
heit aber darf man annehmen, daß er ein Zugenderlebnis ſelbſtändig geſtaltet hat. Um die
reizvolle Nichte eines Geheimrats bemühen ſich ein energiſcher Fabrikleiter, ein jugendlich
'trãumender Aſſeſſor und ein reicher Geck, der ihr Steinaych als künftigen Herrenſitz anbieten
kann. Die ſchlangenkluge Dame wird zunächſt von den Fünglingsträumen des Aſſeſſors an-
gezogen, gibt ihn dann aber preis und ruft zwiſchen ihm und dem Fabrikleiter ein Duell her-
vor. Am letzten Ende läßt ſie beide laufen und wählt mit praktiſchem Sinn den e Gecken,
der ſie auf bekränzter Straße nach Steinaych führt.
In der gläubigen Reinheit der jung erwachenden Liebe erblicke ich den eigentlichen
Adel der Arbeit. Eine „ernſthafte Komödie“ hat Stücklen nach dem Antertitel ſchreiben wol-
len, aber die Tragik hat die Führung behalten. Die verletzte Empfindung ſpricht fo ſtark, daß
weder er noch wir zu einem Lächeln kommen. Sein Verſtand ſagt: „Es iſt im Grunde eine
Poſſe, daß wertvolle Mannsleute ſich von dieſem weiblichen Nichts tödlich verwunden laſſen
ſollen.“ In dem Stück aber klopft ſein Herz, und der Verſtand ſchweigt. Man ſpürt mehr
die Wunde als die Poſſe. —
Wenn man von Wilhelm Stücklen zu Herrn Ef ſig übergeht, verläßt man das Märchen-
land, in dem junge deutſche Schriftſteller geſpielt werden, um wieder in den Alltag des Ber-
liner Theaterlebens zurũckzukehren. Wer iſt Herr Eſſig? Das wiſſen Sie natürlich nicht, und
wir anderen wußten es bis vor kurzem auch nicht. Keine künſtleriſche Leiſtung war mit dem
Namen verbunden. Dann aber ſetzte plötzlich die theaterliberale Preſſe aller Schattierungen
mit einer planmäßigen Reklame ein. In immer neuen Notizen wurde die ſtaunende Welt
unterrichtet, daß beſagter Herr Eſſig Dramen geſchrieben habe. Die Zenſur wurde angegrif-
fen, weil fie für dieſe Dramen das rechte Verſtändnis vermiſſen ließ. Mit hundert Stimmen
ſprachen die Zeitungen den Namen „Eſſig“ und verwandelten einen völlig unbekannten Men-
ſchen in eine aktuelle Berühmtheit. Daß nunmehr auch die Bühnenleiter eingriffen, verſteht
ih von ſelber. Das König liche Schauſpielhaus, das in bezug auf die literariſchen Stich
worte des Kurfürſtendamms in dieſem Fall merkwürdig hellhörig war, legte vor. Herr Alt-
mann im Kleinen Theater folgte, und im Leſſingtheater bemühte ſich Herr Barnowsli,
eiunprittes Stück von der Zenſur freizukriegen. In einer Zeit, die den deutſchen Dramatiker
ſyſtematiſch aushungert, vermochte Herr Eſſig als der erkorene Liebling der Börſenpreſſe in
einem einzigen Winter drei große Berliner Bühnen für feine Arbeiten zu gewinnen. Und
was kam ſchlie lich dabei heraus? Im Königlichen Schauſpielhaus, wo der „Held vom Wald“
geſpielt wurde, langweilte ſich das Publikum halb tot, und im Kleinen Theater führte die auf-
reizende Talentloſigkeit des „Fuhhandels“ zu einem wilden Theaterſkandal. Herr Bar-
nowski aber wurde plötzlich ein ſtiller Mann und verfandte nicht mehr die kleinen Notizen,
72 Das Oeutſchtum in der deuiſchen Haupiſtabt
durch die die Bühnen das Publikum über ihre tragiſchen Kämpfe mit der Zenſur auf dem
laufenden zu halten pflegen. Die Epiſode Eſſig war ausgeſpielt, nachdem fie in klaſſiſcher Weiſe
entſchleiert hatte, mit welcher Unverfrorenheit man ſelbſt die Weener Kreaturen in den
Vordergrund zu drängen wagt. —
Wer demgegenüber das Schickſal des Oeutſchtums in der deutſchen Hauptſtadt kennen
lernen will, mag ſich an Emil Gött halten. Jahre hindurch mußte für ihn in der nationalen
Preſſe geworben werden, bevor Max Reinhardt ſich herbeiließ, draußen im dunkeln Oſten
am ſchlechteſten Theatertag der Woche eine Arbeit von ihm zu ſpielen. Wir ſehen im „Edel-
wild“ durchaus keine Offenbarung eines dramatiſchen Genies. Wir haben es ganz im Gegen-
teil in der Tagespreſſe ſcharf kritiſiert. Vergleicht man es aber mit Herrn Eſſig oder mit dem
giftigen Zeug, das fortgeſetzt in den Kammerſpielen das Licht der Welt erblickt, wirkt es wie
Sphärenmuſik. Im fünften Akt ſchlägt fogar eine ſtarke künſtleriſche Flamme durch und ent-
läßt das Publikum mit einem nicht alltäglichen Eindruck. Wie zweifelnd man ſich auch zum
Oramatiker Emil Gött ſtellen mag: er überleuchtet weit die traurigen Schmarren des Aus-
lands und des Kurfürſtendamms, für die immer wieder die erſten Bühnen bereitſtehen, und
darum ſtimmte es wehmütig, daß man ihn, den Deutſchen, im dunkeln Oſten und am fchlechte-
ſten Theatertag der Woche aufſuchen mußte. —
In den dunkeln Oſten mußte diesmal auch der Berliner Bürgermeiſter Georg Re ite
hinauswandern. Auch er wurde von Max Reinhardt in das „Volkstheater am Bülow-
platz“ verbannt, wo Emil Gött geſpielt wurde. Man war einen Augenblick erſtaunt. Warum
im Grunde? Der gute Bürgermeiſter iſt im Sinne des Kurfürſtendamms doch fo zahm und
wohlerzogen. Er hat ſo gar nichts von männlichem Widerſtand und ungebrochener Kraft.
Und trotzdem nach dem Oſten hinaus?
Ja, die Sache hat diesmal einen Haken. Der nationale Aufſchwung zu Anfang des
Kriegs war ſo jäh, daß er auch eine wohlgeordnete Bürgermeiſterſeele in Wallung brachte,
und jo geſchah es Herrn Reike, daß er unter dem Namen „Blutopfer“ ein vaterländiſches
Drama ſchrieb. Damals, zu Anfang des Kriegs, war auch Herr Max Reinhardt patriotiſch
ergriffen und hielt es für zweckmäßig, das Stück für die Kammerſpiele zu erwerben. Seit
dem ſind aber vier blutige Kriegsjahre ins Land gegangen und die Vaterlandsliebe iſt in der
Börſenpreſſe von einer zähen Wühlarbeit für einen deutſchen Hungerfrieden abgelöſt worden.
Mußte das unbeſonnen patriotiſche Stück des Herrn Bürgermeiſters alſo auf Grund vertrag
licher Verpflichtungen geſpielt werden, konnte es nur im dunkeln Oſten geſchehen, wo das
ſozialdemokratiſch verhetzte Arbeiterpublikum ſchon für die rechte Aufnahme ſorgen würde.
Aſthetiſch brauchte man ſich darüber nun freilich nicht zu grämen. Wie meiſtens bei Herrn
Reite handelt es ſich um eine anſtändig gewollte, aber ſchwache und dilettantenhafte Arbeit.
Zum Los des Deutfhtums in der deutſchen Hauptſtadt liefert die Angelegenheit aber einen
ſehr bezeichnenden Pinſelſtrich. —
Wird die dramatiſche Geſellſchaft, die ſich unter dem Namen „Das junge Deutſch-
land“ aufgetan hat, an dieſem Los etwas ändern? Wir glauben es nicht. In den Spalten
des „Berliner Tageblatts“ iſt ſie mit einer Begeiſterung begrüßt worden, die darauf ſchließen
läßt, daß ſie von nationaler Rückſtändigkeit in der glücklichſten Weiſe frei iſt. Nachdem fie in
ihrer erſten Aufführung eine Arbeit geboten hatte, der man jugendlich-poetiſche Ergriffenheit
nachrühmen konnte, betrat fie mit ihrer zweiten bereits die Wege einer Schauerdramatik,
der auch ihre Anhänger keine nationalen Impulſe nachrühmen werden. Ein Herr Reinhard
Soering ſperrte in der „Seeſchlacht“ ſechs Matroſen in den Panzerturm und ließ fie dort
unter Wahnſinnsanfällen die vernichtende Granate erwarten. Was bei dieſer Gelegenheit
geredet wurde, war von der traurigſten Talentloſigkeit. Die Nerven des Publikums ſollten
lediglich durch die fieberhafte Erwartung der explodierenden Granate zum Beben gebracht
werden. Erich Schlaikzer
AD
*
Fran Webelind 75
Frank Wedekind
9. März iſt Frank Wedekind an den Folgen einer Operation geſtorben. Der Bericht;
Nerſtatter des „Berliner Tageblatts“ telegraphiert: „Die letzten Stunden am Vor-
mittag war er ohne Bewußtſein. Vorher hatte er einige Gedanken über Religion
geäußert, Er fang dann halblaut die Weiſen feiner alten verwegenen Lieder vor ſich hin, aber
der Unterton dieſer Melodien vibrierte von erſchütterndem Leid.“
Das Ende war alſo zwiejpältig und für den Zuſchauer vieldeutig, wie das vorangehende
Leben. Gedanken über Religion und frivole Lieder, Redheit und inneres Weh, liegen un-
vermittelt nebeneinander und wollen kein Ganzes bilden. In den Dramen des letzten Jahr-
zehnts hat Wedekind immer wieder behauptet, eine ſolch einheitliche Natur zu ſein, die nur
don der Welt mißverſtanden würde. Er betonte ſich dabei als Moraliſten, dem die Kunſt
eigentlich nur ein Mittel für erzieheriſche Zwecke ſei. Wenn er dann, wie in der „Theodizee“
„Die, Zenſur“ bekundet: „Die Wiedervereinigung von Heiligkeit und Schönheit als göttliches
ddol gläubiger Andacht, das iſt das Ziel, dem ich mein Leben opfere, dem ich ſeit früheſter
Kindheit zuſtrebe“ — fo mag man ſich im erſten Augenblick als das Opfer eines mephiſtopheliſch
mit einem ſpielenden Jronikers vorkommen. Aber ich glaube, er hat das doch ehrlich fo gemeint
und meine, die Geſtalt Buridans in dieſem ſogenannten Drama decke ſich mit Wedekind auch
inſofern, als es ihm niemals gelang, das Dafein naiv zu leben, als er die ihm wohl eingeborene
Zwieſpältig keit nicht zu überwinden trachtete, ſondern als Mittel einer eigentümlich wollüſtigen
und ſelbſtquäleriſchen geiſtigen Selbſtbeſpiegelung ausnutzte. Dieſes vollkommene Fehlen
kuͤnſtleriſcher und menſchlicher Naivität bringt ihn zuletzt immer auch um die künſtleriſchen
Wirkungen; denn ſelbſt jene Geſtalten, die wie Lulu rein animaliſch-triebhaft leben und handeln
und deshalb im Weltprogramm Wedekinds die „unſchuldige Schönheit“ vertreten, werden von
ihm zur Verkündung feiner Theorien mißbraucht. Durch jeden fo geſprochenen Satz aber zer;
ſtört ſich in uns der Glaube an das rein Triebhafte in der Sprecherin, damit auch an ihre Un-
ſchuld. Der Schulmeiſter Wedekind bringt immer wieder den Dichter um. Der Schöpfer kommt
eben naturgemäß in ſeinen Geſchöpfen von ſich ſelber nicht los. „Darin bewährt ſich“, ſagt
Buridan⸗Wedekind in dem oben erwähnten Stück, „der untilgbare Fluch, den ich in dieſes
Erdendaſein mitbekommen habe! Was ich mit dem tiefſten Ernſt meiner Überzeugung aus-
ſpreche, halten die Menſchen für Läſterung. Soll ich mich nun deshalb in Widerſpruch mit
meiner Überzeugung ſetzen? Soll ich mit klarſtem Bewußtſein unecht, unaufrichtig, unwahr
werden, damit die Menſchen an meine Aufrichtigkeit glauben?“ Und dann gleich noch einmal:
„Was hilft alle Liebe zum Guten, wenn ſich das Gute nicht lieben laſſen will?“
Es liegt in einem ſolchen Satze doch eigentlich eine furchtbare menſchliche Verzweiflung.
Und doch iſt das Schlimmſte im Falle Wedekind erſt, daß man auch bei einem ſolchen ſeeliſchen
Notſchrei kühl bleibt, vielleicht aus Furcht, zum Narren gehalten zu werden. Oder iſt ſogar das
noch nicht das Schlimmſte ? Sondern offenbart es fich erſt in den folgenden Sätzen: „Ich jam-
merte nie über die ſchimpflichen Lebenslagen, in die mich das allgemeine Mißverſtändnis ge-
taten ließ: ich nutzte vielmehr die ſchimpflichen Lebenslagen nur wieder dazu aus, um die
ewigen SGeſetze klarzulegen, die ſich in ihnen offenbarten. Aber auch darin erſchien ich wieder
als Spötter.“ Und es iſt geradezu unheimlich, wenn Wedekind ſich dann von feinem Wider-
part antworten läßt: „Das haben Sie Ihrem doppelzüngigen Beruf zu danken! Wer traut
einem Menſchen, der aller Welt gegen Eintrittsgeld auftiſcht, was er zu Hauſe mit ſich ſelbſt
auskämpfen ſollte.“
gch habe einmal eine unvergeßliche, mich tief erſchütternde Stunde mit Wedekind erlebt.
Wir hatten beide, ohne uns vorher zu bemerken, einer Probe in der Hellerauer Rhythmitſchule
beigewohnt. Es war ſehr ſpät geworden, und der inzwiſchen auch ſchon verſtorbene
74 Frank Webelind
Dr. Wolf Dohrn packte uns beide mit ſchmunzelnder Schadenfreude in feinen Kraftwagen,
der uns nach Dresden fahren follte. Halbwegs verſagte der Wagen, und wir mußten die Stunde
zu Fuß nach Oresden gehen. Bei dieſem Wandern durch die ſchwarze Mitternacht brach es
plötzlich aus Wedekind heraus. Was er geſehen habe, ſei eine Offenbarung, ſei die Einheit von
Schönheit und Reinheit, und er berief ſich auf Plato, daß gut und ſchön dieſelben Begriffe
ſeien und daß der Rhythmus, der die im menſchlichen Körper liegende Schönheitsſehnſucht
durch die geordnete Schönheitsbewegung dieſes Körpers auszulöſen vermöge, fo auch der Er-
zieher zum Guten und Woraliſchen ſei. Ich kannte damals die nicht auf die Bühne ge-
langten jpäteren Bekenntnisdramen Wedekinds noch nicht und war durch dieſe Ausſprache
nicht nur verblüfft, ſondern ſtand ihr, wie ich offen geſtehen will, auch etwas mißtrauiſch gegen
über. Aber es iſt mir ſpäter doch klar geworden, daß ſich in dieſem Manne die Tragik des Ba-
jazzo in einer ganz eigentümlichen Form abgeſpielt hat.
Ich denke an fein Drama „Muſik“, das mit Muſik nichts anderes zu tun hat, als daß einige
der auftretenden Menſchen ſich mit Muſik beſchäftigen. Da aber Wedekind beobachtet zu haben
glaubt, daß für manche Muſikſchülerinnen die Muſik ein Mittel zur Erotik iſt und er alle Lebens;
erſcheinungen nur mit Erotik in Verbindung zu ſetzen weiß, wird dieſes Geſchlechtliche für ihn zum
Inhalt der Muſik und er betitelt dieſe Liebesgeſchichte zwiſchen Muſikſchülerinnen und Mufit-
lehrer als „Muſik“. Aus einer gleichen Einſeitigkeit heraus könnte man den perſönlichen Fall
Wedekind mit „moderne Literatur“ überſchreiben. Denn was ihn unfähig macht, dieſe perfön-
lichen Dinge „mit ſich ſelbſt zu Haufe allein abzumachen“, was ihn veranlaßt, fie „gegen Eintritts-
geld aller Welt aufzutiſchen“, iſt ſein Losgelöſtſein aus dem Volkstum, aus dem ſozialen
Geſamtempfinden, ſein einſeitiges Eingeſtelltſein aufs Literariſche, ſtatt aufs Menſchliche.
Darin aber iſt er in der Tat ein beſonders ſcharf geprägter Fall unferes allgemeinen Literatur-
jammers, darin beruht andererfeits feine unleugbar ſtarke Wirkung auf das Publikum der Li-
teraturzentren, während die Geſamtheit des Volkes mit feinen Werken als Kunſt nichts anzu-
fangen weiß. Auch dieſe innere Lebensentfremdung hat Wedekind klar gefühlt. In der „Büchſe
der Pandora“ ſagt er: „Das iſt der Fluch, der auf unſerer jungen Literatur laſtet, daß wir viel
zu literariſch ſind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme, als ſolche, die unter
Schriftſtellern und Gelehrten auftauchen. Unſer Geſichtskreis reicht über die Grenzen unſerer
Zunftintereſſen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen, gewaltigen Kunſt zu
gelangen, müßten wir uns möglichſt viel unter Menſchen bewegen, die nie in ihrem Leben
ein Buch geleſen haben, denen die einfachſten animaliſchen Inſtinkte bei ihren Handlungen maß-
gebend ſind.“ Wedekind merkt nicht, daß auch dieſe Anſchauung wieder rein literariſch, ja
literatenhaft iſt. Da, was er unter „animaliſch“ verſteht, ein ganz enger Ausſchnitt aus dem
Geſamtmenſchlichen iſt, muß er, wenn er alle Lebenserſcheinungen unter dieſem einſeitigen Ge-
ſichtswinkel anſieht, nicht nur das Leben ſelber fälſchen, ſondern ſich auch ſelbſt um die Naivität in
der Beobachtung des Lebens und damit um das koſtbarſte Gut des Künſtlers, die Freiheit, betrügen.
Das gilt auch für das erfolgreichſte Werk Wedekinds, für die Kindertragödie „Frühlings-
erwachen“. Es ſpricht kein einziger von dieſen Knaben wie ein Fünfzehnjähriger, fie find alle
Dozenten ihrer Empfindungen, und wenn fie auf der einen Seite ihre Hilfloſigkeit und Ver-
wirrtheit über die unklaren Gefühle bekunden, jo entwickeln ſie auf der nächſten Erziehungs-
grundſätze für die Zukunft, die erſt als Folge der klaren Erkenntnis der Übelftände in der Ge-
ſchlechtserziehung, deren Opfer fie ſelbſt find, eintreten können. Und wie kann ein Dichter, dem
es um fein Volk ernſt iſt, der ein tragiſches Stück Leben vor uns aufrollen will, einem eine der;
artige Reihe von Lehrerkarikaturen zumuten. Bereits in dem Namen „Bierzeitung“. Das heißt
doch ſeine eigene Schöpfung morden. In einem ſolchen Verhalten offenbart ſich nicht nur ein
künſtleriſcher, ſondern auch ein geiſtiger Mangel. Ob nicht überhaupt das ſtete Vordrängen
von Anſchauungen und Lehrmeinungen, von „Gedanken“, letzterdings ein Zeichen dafür iſt,
daß der Verfaſſer an alledem im Grunde arm iſt? Ein Künſtler von wirklich ſtarker Weltan-
Frank Wedekind ö 75
ſchauung, von einer die Welt umfaſſenden Gedankenkraft, erfüllt ſeine Geſchöpfe derartig mit
der Kraft feines Geiſtes und ber Glut ſeines Herzens, daß all ihr Tun und Reden ganz natür-
licher Ausfluß dieſes ſie erfüllenden Gehalts iſt. Sie haben es dann nicht nötig, immer ihre
Lehrmeinung vorzutragen. Und wenn wir nun dieſe ſo anſpruchsvoll auftretenden Gedanken
prüfen, wie klein und dürftig iſt doch im Grunde dieſe Welt, wie wenig geiſtige Arbeit und
Ueſſchürfende Denkkraft ſetzt fie voraus. Am merkwürdigſten berührt bei einem, der den Mora-
liſten fo ſtark betont, die Maſſe der Widerſprüche. Was Wunder, daß bei diefer Fülle von Wider-
ſprüchen viele Leute in Wedekind nur einen pfiffigen Spekulanten auf die niedrigen Inſtinkte
ſehen. Vedekind ſelbſt nennt ſich ja immer wieder „das Opfer einer ganz falſchen Anſchauung
über ihn, als welche ſei, daß er, der die Heiligkeit des Fleiſches lehre, als ein Lehrer der Anfitt-
lichkeit gelte. Er ſteht zwiſchen neun Huren, die Muſen des göttlih-rechten Lebens ſeien, als
Apollo und muß zur Leier klagen, daß man ihn nicht für Apoll, ſondern für Priapus hält. Nun
wird Wedekind zugeben, daß ſich das Publikum weniger für feine Moralität, als für den Va-
ginismus ſeiner Frauengeſtalten intereſſiert“. (Franz Bley über Wedekind, Sternheim und
das Theater. S. 37.) Ih habe abſichtlich hier einen Kritiker zu Worte kommen laſſen, der
ſicher nicht der Überempfindlichkeit in ſexuellen Dingen verdächtig iſt. Denn damit ſollte man
uns doch wenigſtens verſchonen, den Theatererfolg Wedekinds auf irgendeine andere Urſache
zurückzuführen, als auf dieſe Befriedigung einer erotiſch eingeſtellten Phantaſie. Der erotiſche
Dunſt, der ſeit 25 Jahren auf den Literaturzentren Oeutſchlands eine ſchwüle Gewitterluft
angeſammelt hat, hat wie Treibhausluft bas Gedeihen dieſer Pflanzen begünſtigt. Anderer-
ſeits iſt gerade Wedekind einer der Hauptſchuldigen an dieſer erotiſchen Durchſeuchung, die
nichts mit friſcher kräftiger Sinnlichkeit zu tun hat. Auch künſtleriſch nicht. Es gibt nur wenige
Dichter, deren Werke jo ſchwer hintereinander zu leſen find, die fo bald langweilig werden,
wie Wedekind. Es gibt kaum einen namhaften Oichter, deſſen Sprache ſo ganz ohne Reiz, ſo
in jedem Sinne unkünſtleriſch iſt, wie die Wedekinds. Nimmt man dazu, daß er, nach eigenem
Geſtändnis übrigens, ein lehrhafter Moralpauker iſt, jo kann man für die merkwürdige Tat-
ſache, daß auch die Berufskritik dieſe ſchweren Einwände gegen das Künſtlertum Wedekinds
nicht geltend gemacht hat, eigentlich nur die eine Erklärung finden, daß fie ſich durch den brün-
ſtigen Vorſtellungsgehalt der Welt des Dichters hat benebeln laſſen.
Bei Wedekind ſelbſt muß man jedenfalls von einer derartigen Erotomanie ſprechen.
Alle Erſcheinungen der Welt führen bei ihm zum Geſchlechtlichen. Es iſt eigentlich die einzige
Beziehung, die er anerkennt, und es iſt nicht zu verwundern, daß ihm das Wort zugeſchrieben
wurde, der ſozialiſtiſche Zukunftsſtaat müſſe die Wiedervereinigung von Kirche und Freuden
haus bringen. Wedekind lehnt in der „Zenſur“ entrüſtet die Urheberſchaft dieſes Wortes ab;
aber liegt es denn wirklich ſeiner Lehre fern? !
Ich glaube, Wedekind war von feiner Vergangenheit her belaſtet. Es ſtimmt ganz zu
ſeinem Nebenſichſelberſtehen, wenn er auf ſeine Abſtammung ſo großen Wert legt. Sein Vater
war der erſte aus einer alten oſtfrieſiſchen Beamtenfamilie, der nicht heimiſch ſeßhaft war.
Wedekind ſelbſt erzählt: „Er war Arzt und war als ſolcher zehn Jahre lang im Dienſte des
Sultans in der Türkei gereiſt. 1847 kam er nach Oeutſchland zurück und ſaß 1848 als Kon-
deputierter (Erſatzmann) im Frankfurter Parlament. Im folgenden Jahre ging er nach San
Franzisko und lebte dort 15 Jahre. Mit 46 Jahren heiratete er eine junge Schauſpielerin
vom Deutſchen Theater in San Franzisko, die genau halb fo alt war wie er ſelber. Dieſe Tat-
ſache ſcheint mir nicht ohne Bedeutung. Der Vater meiner Mutter war ein Selfmademan. Er
hatte als ungariſcher Mauſefallenhändler angefangen und gründete Ende der zwanziger Jahre
eine chemiſche Fabrik in Ludwigsburg bei Stuttgart. Im Verein mit Ludwig Pfau organiſierte
er eine politiſche Verſchwörung, und beide wurden auf der Feſtung Aſperg eingeſperrt. Dort
erfand mein Großvater die Phosphorſtreichhölzer. Nach ſeiner Freilaſſung errichtete er eine
chemiſche Fabrik in Zürich und ſtarb 1857 im Irrenhaus in Ludwigsburg in vollkommener
hr,
Dive"
76 Frank Wedekind
Geiſtesumnachtung.“ Das Abenteuerliche, das ihm ſo im Blute lag, iſt in Frank Wedekinds
Lebensgang genügend zur Geltung gekommen.
Am 24. Juli 1864 in Hannover geboren, verlebte er feine Zugendjahre auf Schloß Lenz-
burg bei Aargau in der Schweiz. Sein Studium in München brach er vorzeitig ab, wurde 1886
Vorſteher des Reklamebüros der Maggi⸗Geſellſchaft, zog dann mit dem Zirkus Herzog herum,
lebte auf Reiſen mit dem Feuermaler Rudinoff und war dann längere Zeit in Paris. Auch
dort geriet er in nicht gerade ſolide Kreiſe. Zedenfalls ſoll der Marquis von Keith das Abbild
eines auch ihn begönnernden abenteuerlichen Dänen ſein. 1890 ſetzte er ſich in München feſt
und wurde dort Mitglied des bekannten Kabaretts der „Elf Scharfrichter“. „Frühlingserwachen“
bat ihn dann berühmt gemacht.
Man ſieht, es iſt ſchon in beſonderm Sinne aufzufaſſen, wenn er von ſich ſagt: „Sch
habe mein halbes Leben lang ohne Kunſt gelebt. Ohne Religion könnte ich nicht eine Minute
leben.“ Dieſe Religion entbehrt jedenfalls der Reinheit, der inneren Anſchauung und der
wirklich umfaſſenden Liebe. Daß ihm die Kunſt nicht unbedingte Lebensnotwendigkeit war,
ergibt ſich bereits aus ſeiner Lehrhaftigkeit, der er ſeine Kunſtwerke dienſtbar machte.
Karl Storck
D
——
A —
Ein ganzer Irrtum kann glücklich machen, eine halbe Wahrheit nicht.
*
Am Ziele angelangt, erſchlafft die Kraft. Deshalb muß unſere Lebenskunſt dafür
forgen, daß wir ſtets Ziele vor uns haben.
7.
Liebenswürdigteit iſt keine Tugend, ſondern höchſtens eine Fähigkeit.
*
Halbe Entſchlüſſe bringen meiſt ganzes Verſagen.
*
Ein zartes Gemüt iſt wie der Mond: es muß von einer Sonne beſchienen werden, um
zu leuchten.
*
Die meiſten Menſchen, die einem andern Gutes tun, erfüllen damit nicht deſſen
Wünſche, ſondern ihre eigenen.
8
Unſere Seele muß geſpannt ſein, um zu klingen.
N +
Gemeinſames Unglück verbindet, gemeinſames Unrecht trennt.
N —— | 22
8
Pr }
BEI Due. 2 )
ö Ku CU
dir vr 7
ar, 4
e
er -
ee x |
2
N
x
\ *
N
N
N
SS
*
EN
Se
*
1 15892 1gebüh _
der arten
ſcheidungstampf im Welten. Gott hat durch ſeine erleſenen Werk⸗
zeuge den Anfang zu einem herrlichen Siege unſerer unvergleich-
O lichen Truppen geführt, und wir ſind alle des ſtarken, zuverſicht⸗
lichen Glaubens voll, daß der Ausgang das ſo überwältigend begonnene, wenn auch
furchtbare Werk krönen, uns und all den anderen blutenden Völkern endlich die
Pforten zum erſehnten Frieden aufſtoßen wird. Dennoch wäre es vermeſſen,
an dieſer Stelle den letzten Entſcheidungen des göttlichen Waltens vorzugreifen.
Anſere heißen Herzen ſchlagen mit den Kämpfern im Weſten, nicht einen Augen-
blick können wir ihrer vergeſſen, — praktiſche politiſche Aufgaben werden uns
hinter der Front zunächſt dort geſtellt, wo die Entſcheidung nach menſchlichem
Ermeſſen bereits gefallen ift, im Oſten.
Die Regierung, meint Georg Cleinow in den „Grenzboten“, habe inzwiſchen
wohl wieder zahlreiche Warnungen aus den Kreiſen, die vor dem Kriege in irgend-
welchen wirtſchaftlichen oder ideellen Beziehungen zu Rußland ſtanden, zu hören
bekommen, doch ja nicht zu früh dauernde Verhältniſſe im Oſten zu ſchaffen, die
einer ſpäteren Verſtändigung im Wege ſtehen könnten. „Die heute noch ſo denken,
können es ſich nicht vorſtellen, daß Rußland nun einfach beiſeite geſchoben ſein
und nicht doch wieder einen Machtfaktor darſtellen ſollte, nach dem Deutſchlands
Politik ſich einzurichten haben werde. Bei den wirtſchaftlich intereſſierten, ebenſo
wie bei einer gewiſſen Richtung von Kontinentalpolitikern, ſpielen die alten Vor-
ſtellungen ſogar eine fo große Rolle, daß man bei ihnen dem Wunſche begegnet,
Rußland möchte ſich ſo ſchnell als möglich wieder unter einem Zaren ſammeln, zu
Kraft und Anſehen gelangen, damit es uns, nun durch Schaden klug geworden,
wieder wirtſchaftlichen und politiſchen Rückhalt in den Welt- und Kontinental-
geſchäften gewähren könnte; um dieſen Preis wären ſie ſogar bereit, alle Rußland
abgenommenen Gebiete wieder herauszugeben. Dabei iſt ihr Blick ſtarr auf Mos-
kau und Petersburg gerichtet, wo nach ihrer Meinung auch en Rußlands
Macht liegen werde.“ N
78 ö Türmers Tagebuch
Auch Cleinow bekennt ſich zu dem Glauben, daß Rußlands Geſchick durch den
bisherigen Zuſammenbruch nicht endgültig beſiegelt ſei: „Die Völker Rußlands
werden ſich in irgendeiner Form wieder zu Macht und Anſehen zuſammenſchließen,
und Rußlands angeblicher Zerfall wird ſich uns, wenn es ſeine innere Kriſe erft
überſtanden hat, als eine Befreiung ſtarker, bisher gefeſſelter Kräfte enthüllen,
die, auf ein gemeinſames Ziel geeint, Anſpruch auf Beachtung und Berückſichti-
gung in der Weltpolitik heiſchen werden. Wir ſelbſt, unſre Kaufleute und In-
genieure werden ihnen dabei helfen, und unſere Truppen ſind ſchon an der Arbeit,
die dem Wiederaufbau von ganz Rußland dient, indem ſie die Ukraine von den
Banden der Maximaliſten ſäubern und einer national bedingten Staatsgewalt
helfen Wurzel zu ſchlagen; durch Beſetzung des Nordweſtgebietes und des Balti-
kums zwingen wir ferner die Moskowiter, ſich auf ihre eigenen Angelegenheiten
zu konzentrieren, was ſehr erheblich zur Konſolidierung beitragen dürfte.
Eine ſolche Auffaſſung von der Zukunft Rußlands hat indeſſen nicht zur
Konſequenz, daß unſere Regierung die Hände in den Schoß legt und die
Entwicklung der beſetzten Gebiete deren Bewohnern ſelbſt überläßt. Der Gedanken-
gang, der zu dieſer Forderung führt, hatte Berechtigung, ſolange Rußland nicht
militäriſch zu Boden geworfen war und ſolange ſich nicht alle die Gebiete in
unſeren Händen befanden, deren wir zur militäxpolitiſchen Sicherung gegen den
Oſten bedurften. 1916 einen Polenſtaat zum Leben erwecken, ohne ihn feſt an
unſerer Seite zu wiſſen, hieß einen Preis für zweifelhafte diplomatiſche Werte
zahlen, der dieſen nicht entſprach! Die Eroberung Polens bot uns rein militäriſche
Vorteile, die zur politiſchen Umprägung wohl zugunſten der Polen, nicht aber
für uns ausreichten. 1918, nach dem Sonderfrieden mit der Ukraina und dem
Frieden mit den Maximaliſten, liegen die Dinge weſentlich anders: wir haben
damit erſt die Freiheit gewonnen, ſehr weittragende Entſchlüſſe wegen der beſetzten
Gebiete zu faſſen und können nun Verhältniſſe ſchaffen, die geeignet ſind, die
künftige Entwicklung eines neuen Rußland und unſerer Beziehungen zu ihm tief
zu beeinfluſſen. Das iſt der ſpringende Punkt! Wollte die Regierung angeſichts
des nunmehr vorhandenen Tatſachenmaterials die Hände in den Schoß legen, ſo
ſchüfe fie durch ihre Antätigkeit nur Naum für die Gefahr, daß wir die Führung
im Oſten, die unſere Armeen erſtritten haben, wieder verlieren und ſelbſt ins
Schlepptau des politiſchen Willens eines künftigen Rußlands gerieten.
Die neue Lage im Oſten wird durch folgende Tatſachen gekennzeichnet: In
Nordrußland ſprechen alle Anzeichen dafür, daß die Maximaliſten, ſobald ſie aus
der Ukraina verjagt find, einer neuen Regierung Platz machen werden, von der
wir noch nicht mit Beſtimmtheit annehmen können, daß ſie in den Friedensvertrag
eintritt; wir müſſen ſogar darauf gefaßt ſein, daß ſie mit Hilfe oder unter dem
Druck Japans in einem beſtimmten Augenblick uns in irgendeiner Form feindlich
gegenübertritt. Demgegenüber ſteht die Tatſache, daß zwei wichtige Teile des
alten Rußland, nämlich Finnland und die Ukraina, nicht nur Frieden mit uns
geſchloſſen haben, ſondern auch, wenn auch in Beſchränkung auf den Oſten, unſere
Bundesgenoſſen geworden ſind; ihre Intereſſen laufen mit den unſrigen eine,
wie es ſcheint, weite Strecke zuſammen. Von ihm und nicht von den Staats-
mu F mr
vi: 1
2
Ei I
Fr. u . |
Zürmers Tagebuch 79
zielen des alten Rußland haben wir auszugehen bei der Beurteilung, ob unſere
Maßnahmen in Polen und Oünaland der Wiederaufnahme guter Beziehungen
zu den Ruſſen entgegenſtehen werden oder nicht. Das alte Rußland beſteht im
Augenblick nicht mehr; die Hüter der alten Ideale, die zum Kriege führten, find
militäriſch und politiſch ohnmächtig. Durch die Geſtaltung der Verhältniſſe in
den beſetzten Gebieten ſind wir befähigt, die Wiedergeburt des alten Rußland
zu verhindern oder doch zu erſchweren. Alle Faktoren daſelbſt drängen ſich uns
förmlich auf, dem neuen Rußland auch neue politiſche Bahnen zu weiſen. Das
von uns beſetzte Gebiet eignet ſich in militärgeographiſcher, wirtſchaftlicher und
ethnographiſcher Beziehung zur Schaffung von politiſchen Einheiten bis zum
Staat einſchließlich, die ſich wirtſchaftlich und militäriſch ſowohl leicht gegen ein
angreifend auftretendes Rußland verteidigen ließen, wie auch eine Verbindung
zu dem neuorientierten Rußland herſtellen könnten. Die Bevölkerung dieſer
Gebiete ſteht überdies in ihrer überwiegenden Mehrheit der gegenwärtigen Re-
gierung Nordrußlands durchaus ablehnend gegenüber.
Eſten, Letten, Litauer wollen von den Maximaliſten nichts wiſſen, — nur beim
jüdiſchen und polniſchen Proletariat machen ſich ſtärkere Sympathien für fie
bemerkbar. Es iſt zwar damit noch nicht geſagt, daß dieſe Nationalitäten ſich
nun beſonders zu den Oeutſchen hingezogen fühlten... Aber darum geht es ihnen
im Augenblick gar nicht, ſondern darum, wer ihnen ihren Beſitz ſicherzuſtellen und
eine gewiſſe Garantie für friedliche Entwicklung zu geben vermag. Weil zufällig
Deutſchland und nicht Rußland die Macht dazu hat, darum ſtehen fie auch auf
unſerer Seite. Für uns bedeutet ſolche Stimmung vorläufig nur eine politiſche
Chance im Kampf gegen das alte Rußland und die Entente, die ausgenutzt werden
kann und muß zum wohl erwogenen Aufbau im Oſten und damit zur Geſtaltung
unſerer ſpäteren Beziehungen zum neuen Rußland.
Das neue Rußland, das aus dem bebenden Leibe der alten ‚Matuſchka
Roffija‘ gewaltſam ans Licht ftrebt, deſſen Geburtsſtunde die ganze Welt mit
Grauen und Staunen entgegenſieht, wie wird es ausſehen? welche Kraft wird es
darſtellen? welche Ziele wird es verfolgen?
Die ruſſiſche Revolution hat bisher, abgeſehen von den inneren Umwäl-
zungen und von dem Einfluß auf die Lage der Mittelmächte, an poſitiven Er-
gebniſſen nur eines für die große Politik gehabt: fie hat den Schwerpunkt des
Ruffentums, der nach der Auseinanderſetzung zwiſchen den Kijewer und Moskauer
Teilfürſten vor Jahrhunderten nach Norden gerückt war und dort künſtlich, beſonders
nach der Offnung des Petersburger Fenſters nach Europa und zuletzt durch die auf
Frankreichs Milliarden geſtützte Wirtſchaftspolitik feſtgehalten wurde, zurückfallen
laſſen an ſeinen natürlichen Platz im Süden. Wird die Ukraina dieſe
überragende Stellung ſich erhalten können und unter welchen Vorausſetzungen?
Damit nähern wir uns dem Kern unſerer ganzen Oſtpolitik, der Frage,
unter welchen Umſtänden die Wiedervereinigung Rußlands vorauszuſehen ift. ..
Aus den Zuſtänden in Nordrußland folgern zu wollen, daß die Marima-
liſtenherrſchaft das Volk unfähig machen werde, Jahrzehnte hindurch große Politik
zu treiben, hieße die Nuffen unterſchätzen. Auch Nordrußland hat Schätze, mit
80 | | Türmers Tagebuch
denen es ohne weiteres wieder in enge Handelsverbindung zur Ukraina als will-
kommener Kunde treten könnte: Gold, Platin, Edelſteine, Kupfer, Holz, Fiſche
und — menſchliche Arbeitskräfte! Es ſind wahre Völkerwanderungen, die ſich um
die Zeit der Ackerbeſtellung und der Ernte aus Nord- nach Südrußland wälzen,
‚um dort in wenigen Wochen den Lebensunterhalt für den ganzen Winter zu ver-
dienen. Zu Pfingſten aber beten Hunderttauſende von Pilgern aus allen Teilen
Rußlands und Sibiriens in der Lawra zu Kijew um Befreiung von körperlichen
Gebreſten. Gelänge es ſelbſt die großwirtſchaftlichen Beziehungen zwiſchen den
beiden Gebieten durch Zölle, Tarife, Enteignungen und ſonſtige, dem ſozialiſtiſchen
Almanach entnommenen Maßnahmen zu unterbinden, ſofern ſolches überhaupt
im Intereſſe der Ukraina ſelbſt läge, dieſe in den Bedürfniſſen der breiten Maſſen
wurzelnden Beziehungen ſind kaum zu unterbinden. Wehe dem dritten, der es
etwa verſuchen wollte, eine Trennung herbeizuführen. Beide Teile würden ſich
geeint gegen ihn wenden!
Die Scheidung zwiſchen Mos kau und Kije w kann nur eine vorübergehende
fein. Sie iſt alſo keine jener Tatſachen, mit der im Schachſpiel der Großen Politik
als etwas Unerſchütterlichem zu rechnen iſt. Um ſo bedeutſamer wird für uns
ſchon in der nächſten Zukunft die Entſcheidung fein, wer von den beiden Beteiligten
die Kraft haben wird, bei der Wiedervereinigung die Führung zu übernehmen.
Iſt es Moskau, und können deſſen wirtſchaftliche Bedürfniſſe ſich den Vortritt
erkämpfen, jo wird der ganze politiſche Druck, den das alte Rußland auf die Oſt-
ſee, auf das Baltikum, Finnland und die nordiſchen Staaten ausübte, neu und
mit verſtärkter Kraft aufleben und uns in der Oſtmark und an der Weichſel ebenſo
bedrohen, wie Schweden in feinen nördlichſten Bezirken. Zit es aber die Ukraina,
jo wird Neurußlands Beſtreben nach Vorderaſien, Perſien, Zentralaſien gerichtet
ſein, als unſer wirtſchaftlicher Wettbewerber und Verbündeter, nicht als nationaler
Feind. Im erſteren Falle würde ſich ſehr bald eine Verſtändigung des neuen
Rußland mit England und Amerika mit friedlicher Durchdringung des Baltikums
im Gefolge erzielen laſſen; im zweiten wird Rußland eine ernſte Drohung gegen
Indien ſein und mit uns das gleiche Intereſſe an freien Ausgängen aus dem
Mittelmeer zu den Weltmeeren haben. Ein von der UAkraina geführtes Rußland
ist weltwirtſchaftlich in erſter Linie Levanteſtaat, wenn Nordrußland führt,
würde es in erſter Linie ein Oſtſeeſtaat werden.
it ſich die Regierung über dieſe Alternative klar, jo wird fie wiſſen, daß
alle ihre Maßnahmen im Oünaland mit einer Wirtſchaftspolitik in der Ukraina
in Einklang gebracht ſein müſſen, die dieſe befähigen würde, die weltpolitiſche
Führung des geeinten Rußland zu übernehmen. Gelingt dies nicht, ſo wird der
Kampf ums Baltikum von neuem entbrennen und wir werden uns bald einer
ähnlichen Koalition von Mächten gegenüberſehen, wie am Anfange des Weltkrieges.
Auf die ungünſtigſten Möglichkeiten aber muß die Politik gerüſtet ſein. Darum
werden die von uns an die Vereinigung des Baltikums zu einem großen
Staatsweſen geknüpften Hoffnungen um fo eher in Erfüllung gehen, je ge-
feſtigter dieſer Staat innerlich ausgebaut und je größere Vorteile er allen
ſeinen Bewohnern zu bieten vermag, Vorteile, für die es ſich lohnte, im
Sürmers Tagebuch 81
äußerften Falle auch das Schwert zu ziehn, ſei es gegen die Moskowiter,
ſei es gegen die Polen, oder eine von England vorgeſchobene Macht.“
Abweichend urteilt Paul Rohrbach über die Entſcheidung im Oſten.
Eben dem Einwande, es ſei doch leicht möglich, ja wahrſcheinlich, daß die
jetzt getrennten Teile des geweſenen Rußland, mindeſtens Großrußland und
die Ukraine, ſich wieder zuſammenfinden, daß die Ruſſen ſich wieder erholen und
dann auf Tod und Leben um die Wiedererlangung der ihnen entnommenen Ge-
biete, vor allen der Oſtſeeküſte, kämpfen würden, — hält er entgegen: „Wie ſehr
verkennt doch dieſe Meinung das wirkliche Ruſſentum und den neuen Stand der
Dinge in Oſteuropa! Es hat viele Legenden üben Rußland gegeben, die in aller
Welt, am meiſten in Deutfchland geglaubt wurden. Die eine Legende war die
von der inneren Geſchloſſenheit Rußlands. Eine zweite war die von der vermeint-
lichen Zarentreue und Kirchentreue des ruſſiſchen Bauern. Eine dritte war die von
dem angeblich nicht vorhandenen tiefen Intereſſengegenſatz zwiſchen Rußland und
Deutſchland. Eine vierte war und iſt noch heute die von den unerſchöpflichen natür-
lichen Reichtümern Rußlands. Sie hängt zuſammen mit der Vorſtellung, Rußland,
ja ſelbſt Sroßrußland, bleibe auch nach der jetzt erlittenen Niederlage ein Gebiet, das
ſtark und entwicklungsfähig ſei und bald wieder zu Kräften kommen werde. Wer
das glaubt, der kennt nicht Rußland. Rußland im ganzen genommen war ſchon
vor dem Weltkriege eher ein armes als ein reiches Land, das heißt: auf den ge-
waltigen Flächenraum und die große Einwohnerzahl des Reiches verteilt, ergaben
feine Naturſchätze nur einen mäßigen Wert. Dabei iſt entſcheidend, daß fie keines-
wegs über den ganzen Boden des einſtigen Reichs gleichmäßig verteilt liegen,
ſondern ſich nach Süden hin, auf dem Gebiet der Ukraine, zuſammen—
drängen. Die Ukraine iſt allerdings ein reiches Land. Sie hat das meiſte von
dem fruchtbaren Lößboden, der ſogenannten Schwarzen Erde, ſie hat die meiſten
und beſten Kohlen, die beſten Eiſenerze, ſie hat Mangan und Phosphorit, ſie hat
faſt das ganze ruſſiſche Zucker- und Tabakland, große Ströme und Häfen am
Meere. Auch Polen hat Naturſchätze, Kohle und Eiſen, Wald, Ackerland, und dazu
eine dichte Bevölkerung. Litauen und das baltiſche Gebiet ſind waldreich und
größtenteils fruchtbar, fie find reich an Flachsbaugebieten und können landwirt-
ſchaftlich noch glänzend entwickelt werden. Auch ſteht die Bevölkerung, namentlich
was die baltiſchen Oeutſchen, die Letten und die Eſten angeht, kulturell hoch. Finn-
land iſt von alters her ein ganz weſteuropäiſches Kulturgebiet mit unerſchöpflichen
Holzvorräten, reichen Waſſerkräften, wahrſcheinlich auch reich an Eiſenerzen, ſchönen
Häfen, und einem Volk, das nach feiner Durchſchnittsbildung mit an die Spitze der
europäiſchen Nationen gehört.
Was aber hat denn Großrußland? Ein Volk, das für jede organiſatoriſche
Kulturleiſtung unfähig iſt, das ſeine bisherige Machtpolitik nur mit Hilfe einer
fremden Oynaſtie und fremder Hilfskräfte in der Verwaltung, im Verkehr, im Ge-
ſchäft, in der Wiſſenſchaft, in der Induſtrie und auf jedem anderen Gebiet hat be-
treiben können. Wenn Großrußland die Oeutſchen, die Polen und die Juden los
iſt, dann iſt es überhaupt zu nichts mehr fähig. An der Schwarzen Erde hat Groß
rußland mit Sibirien nur den geringeren Anteil. Seine Ackerfläche liegt zum
Her Türmer XX, 14 6
82 Türmers Tagebuch
größten Teil auf eiszeitlichem Schuttboden und könnte nur durch eine hochentwickelte
und koſtſpielige landwirtſchaftliche Technik ergiebig gemacht werden. Großrußland
hat zu dem bisherigen ruſſiſchen Getreideexport jo gut wie nichts beigetragen,
namentlich nicht mehr, ſeitdem in ſeinen Induſtriegebieten die Volksdichte und der
Brotbedarf zunahmen. Es wird auch in Zukunft kein Getreide zu exportieren
haben. Großrußland hat wenige, kleine und mangelhafte Kohlenvorkommen.
Es hat Eiſenerzlager nur im Ural, aber die leiden darunter, daß es in der Nähe
keine Kohle zum Verhütten gibt. Die Goldlager im Ural ſind in der Erſchöpfung
begriffen, das Platin und die Halbedelſteine ſpielen volkswirtſchaftlich keine Rolle.
Sibirien (falls es bei Großrußland bleibt) hat im Süden ziemlich große Strecken
guten Ackerlandes, auch ſchwarze Erde. Die einſt ſo berühmten Bergwerke des
Altaigebirges ſind ſtark ausgebeutet; die Goldſeifen in der Nähe des Baikal im
oberen Lenagebiet geben noch Erträge, liefern aber doch keinen erheblichen Pro-
zentſatz der Weltausbeute, können auch wegen der Kälte nur einige Monate im
Jahr bearbeitet werden, und außerdem wird Japan ſie vielleicht für ſich nehmen.
Wald gibt es im europäiſchen Rußland und in Sibirien maſſenhaft. In Sibirien
iſt er faſt unverwertbar, wegen der Schwierigkeiten des Holztransportes, und
auch in Nordrußland iſt es aus klimatiſchen und aus anderen Gründen nicht leicht,
das gefällte Holz auf den Markt zu bringen. Immerhin ſtellen die nordruſſiſchen
Wälder einen bedeutenden Wert dar.
Nimmt man alles zuſammen, fo zeigt ſich, daß der zukünftige ruſſiſche Reſt-
ſtaat Großrußland ein wirtſchaftlich ſchwaches Gebilde fein wird. Die Werte, die
beim Ausbruch der Revolution vorhanden waren, find heute radikal verwüftet und
die vorhandenen Überbleibfel werden weiter verwüſtet werden, wenn der ruſſiſche
Bürgerkrieg fortdauert. Er iſt noch lange nicht zu Ende, ſondern ſteht in Groß-
rußland erſt im Beginn. An Exportwerten wird das Hauptaktivum, mit dem das
frühere Geſamtrußland auf dem Weltmarkte auftreten konnte, die Getreideausfuhr,
fait ganz ausfallen. Vielleicht, daß Sibirien noch etwas Getreide wird liefern kön-
nen, aber viel wird es nicht ſein. Die Butter- und Eierausfuhr wird bleiben. Von
der Holzausfuhr wird in Wegfall kommen, was bisher die litauiſchen, polniſchen
und baltiſchen Wälder lieferten; ebenſo ſteht es mit der Flachsausfuhr, die bisher
größtenteils auf das baltiſche Gebiet entfiel. Auch die großruſſiſche Induſtrie wird
zurückgehen. Im Petersburger Bezirk kann ſie ſich mit Hilfe engliſcher Kohle
halten, im Moskauer Bezirk wird ſie von ukrainiſcher Kohle abhängig ſein. Die
Vorſtellung, daß Großrußland zukünftig mit Gewalt werde gegen die
Ukraine vorgehen können, um ſich die dortigen ‚Ergänzungen‘ feines
Wirtſchaftslebens wiederzuholen, iſt darum irrig, weil dazu die groß-
ruſſiſchen Kräfte nicht entfernt ausreichen werden. Großrußland wird
zwar ein bedeutendes Gebiet umfaſſen und mit Sibirien 100 Millionen zählen (ob
der Kaukaſus und Turkeſtan bei ihm bleiben, iſt zweifelhaft), aber es wird ein wirt-
ſchaftlich, politiſch und militäriſch ſchwacher Staat ſein, mit entſprechend ſchwachem
Auslandskredit und unerheblicher Rüſtungskraft, eine ganz und gar ungefährliche
Größe. Wer da meint, daß von dort noch große Anſtrengungen würden
ausgehen können, um die verlorene Stellung, die Oſtſeeküſte, die
— ze we,
a
. — — — — — —— — — —— TE nn
Fa 7 r
Zürmers Tagebuch ö 83
Ukraine, Finnland uſw. wieder zu unterwerfen, verkennt ganz und
gar, daß mit der Abtrennung dieſer Randgebiete die großruſſiſchen
Kräfte wieder auf ihr eigenes beſcheidenes Maß angewieſen find. Dazu
kommt, daß in Großrußland die Auseinanderſetzung zwiſchen den ‚rechtgläubigen‘
Agrarſozialiſten unter Tſchernow und dem privatbeſitzlichen Bauerntum bevor-
seht. Mit dieſem letzten werden ſich vermutlich auch alle anderen Kräfte verbinden,
denen daran gelegen iſt, ſich ſelbſt und das Land foweit wie möglich noch aus dem
erlittenen wirtſchaftlichen und politiſchen Schiffbruch wieder hinauszuretten.
Tchrnow und feine Leute ſind Anhänger der alten primitiven Mir⸗Wirtſchaft, bei
ber das Ackerland Eigentum der Gemeinde iſt, entſprechend bewirtſchaftet und immer
nach einigen Jahren neu umgeteilt wird. In dies Syſtem wollen fie auch den neuen
großen Land fonds hineinziehen, der aus den Ländereien des gewaltſam enteigneten
Eroßgrundbeſitzes, aus den Staats- und den Rirchengütern beſteht oder vielmehr
beſtehen ſoll, denn in Wirklichkeit iſt dieſer Landfonds gar nicht mehr zur Verfügung
der Regierungsgewalt, ſondern die Bauern haben ſich längſt feiner bemächtigt. Sie
haben ihn unter ſich verteilt und ſtehen mit Mehrladern und Maſchinengewehren
bereit, ihn zu verteidigen. Vor allen Singen find das diejenigen Bauern, die durch
die Stolypinſche Landreform bereits Eigenbeſitz haben oder ſich entſchloſſen haben,
unter dem Einfluß der gegenwärtigen Verhältniſſe zum Eigenbeſitz überzugehen.
Die Strömung dahin ſcheint durch den Krieg in Rußland verſtärkt zu fein. Militär-
gewehre ſind in Rußland jetzt zu Hunderttauſenden herrenlos und ohne weiteres zu
erhalten; Maſchinengewehre mit Patronen konnte man zuletzt von den Mafchinen-
gewehr-Abteilungen zu 3 Rubel das Stück kaufen. Feldgeſchütze mit Munition
koſteten 25 Rubel. Die Bauern auf dem flachen Land ſind alſo zum größten Teil
ſchwer bewaffnet und viele von ihnen ſind gediente Leute. Die Eigenbeſitzer denken
nicht daran, ihren Landraub herauszugeben, und mit ihnen können ſich die einſtigen
Kadetten, Oktobriſten und Rechten verbünden unter der gemeinſamen Parole:
Viederherſtellung des Privatbeſitzes! Gegenwärtig ſind alle früheren bürgerlichen
Parteien mit untergeſchlüpft unter der Bezeichnung ,‚Sozial revolutionäre“. Dieſe
bilden jetzt die Rechte; was ſich nicht mindeſtens Sozialrevolutionäre nennt, hat
heute überhaupt keinen Anſpruch, dem Totgeſchlagenwerden zu entgehen. Man
kann ſich denken, welche Ausſichten aus alledem ſich für Großrußland ergeben. . .
Für alle Zukunft bildet die Schwäche des Großruſſentums die ſtärkſte
Garantie des oſteuropäiſchen Friedens. Es iſt ein Irrtum, als ob wir
fortan mit den Schwierigkeiten der Aufgabe belaſtet wären, die neuen oſteuro⸗
paͤſchen Staaten auf dem Boden des einſtigen Rußland gegen großruſſiſche Wieder-
herſtellungsgelüſte zu verteidigen. Die Zeit, wo von Rußland die europäiſche Ge⸗
faht ausging, iſt vorüber. Die Kraft Oeutſchlands hat ihr ein Ende gemacht; fortan
wird Deutfchland nach Oſten hin rückenfrei daſtehen. Das iſt ein weltgeſchicht-
liches Ereignis und eine Wandlung in den tiefſten Grundlagen un-
ſeres nationalen Oaſeins von einer Größe, die man ſich ſtaunend und dant-
bar immer von neuem vor Augen halten muß, und die man gerade darum, weil
ſie ſo unſagbar groß iſt, ſo langſam begreift. Alle auf dem bisher
LKuſſiſchen Boden entſtandenen Staaten find lebensfähig. Die Ukraine iſt es,
8 Zürmers Fagebuch
Finnland iſt es, Litauen iſt es, das baltiſche Gebiet, falls es ſo organiſiert wird,
iſt es auch. Auch Polen iſt es oder kann es werden, wenn ihm die richtigen
Grenzen gezogen werden. All dieſe Gebilde werden aufrecht daſtehen, werden von
Großrußland nichts, gar nichts mehr zu befürchten haben, und ſie werden durch
ihre Lage und durch ihren wirtſchaftlichen Eigencharakter darauf hingewieſen
ſein, nahe und freundſchaftliche Beziehungen zu dem mitteleuropäiſchen Wirt-
ſchafts- und Kulturgebiet zu pflegen.“
So kann, ſo muß es werden, aber nur dann, wenn unſere Politik es ver-
ſteht, das flüſſige Metall, als welches „Rußland“ Eindrücken von unſerer Seite
je tzt noch zugänglich iſt, in eine Form zu lenken, die den Intereſſen der entſcheidend
Beteiligten Rechnung trägt. Die entſcheidend Beteiligten ſind aber das Baltikum
im geographiſchen, wirtſchaftlichen und militäriſchen Sinne und die Ukraine. Und
da bin ich inſoweit der Meinung Cleinows: „Setzt heißt die Frage nicht: was machen
wir mit den Nationalitäten der beſetzten Gebiete, ſondern: wie faſſen wir die
Gebiete wirtſchaftlich zuſammen, um ſie zu leiſtungsfähigen Trägern einer
Brücke unſerer Intereſſen nach dem Oſten zu machen? Das gilt ſowohl im wirt-
ſchaftlichen, wie im politiſchen Sinne. .. Wollen wir den Ruſſen gewinnen, ihm,
wenn nicht Vertrauen, ſo doch Achtung einflößen, ſo dürfen wir uns bei der Neu-
ordnung der Oſtmark nicht krämerhaft um Kleinigkeiten kümmern. Alles, ſelbſt
Orgien der Rache, würde der Ruſſe verſtehen, nur nicht kleinliche Engherzigkeit.
Das würde ihn anwidern. Und wir müſſen die Ruſſen gewinnen, wollen wir auch
nach dem Weltkriege Überfeepolitit und Weltpolitik treiben.
Der Weg zum Herzen der Ruſſen führt nicht durch Nachgiebigkeit.
Daß Deutſchland das fünfundvierzigmal größere Rußland zertrümmerte, das
imponiert. Verſcherzen wir dieſe Stimmung nicht, um ſo weniger, als ſie
vielleicht noch im Unterbewußtſein ruht.
Wir können Rußland auf wirtſchaftlichen Wegen gewinnen durch die Art,
wie wir die neue Oſtmark einrichten. Nicht vom Recht der Nationalitäten
ausgehend, ſondern von wirtſchaftlichen Geſichtspunkten aus ſollten die Gebiete von
der Oſtſee bis zum Pripet organiſiert werden. Fangen wir erſt einmal an, die
eſtniſche, lettiſche, litauiſche, weißruſſiſche, jüdiſche und polniſche
Frage in dieſen Gebieten löſen zu wollen, fo verfallen wir der Zer-
ſplitterung und ertrinken im Kleinkampf durchaus nicht etwa heroiſch,
ſondern abſolut lächerlich. (Das iſt ſo wahr, wie das Einmaleins; das ganze
„Selbſtbeſtimmungsrecht“ kleiner Minderheiten iſt eine engliſch- amerikaniſche
Leimrute nur für deutſche Gimpel. D. T.) Auch die Nationalitätenfragen müffen
ſich über die Wirtſchaft löſen laſſen und zwar nicht durch uns, ſondern durch die
zunächſt beteiligten Nationalitäten ſelbſt. Ein großzügiger Wirtſchaftsplan
könnte alle die kleinen Völkerſchaften am Baltikum mit der Welt ver—
binden, und dazu bedürfen ſie einer Weltſprache. Ruſſiſch oder deutſch, eine
dieſer Sprachen wird der Bewohner der Oſtmark auch in Zukunft ſprechen müſſen.
Wenn auch vor der Hand noch das Ruſſiſche überwiegt, ſo wachſen in dieſem edlen
Wettſtreit die Chancen der deutſchen Sprache in dem Maße, in dem wir den
gandelsverkehr, feine Wege und großen Organe, wie Banken und Preſſe, be-
— P r . 4. Pop a he Er
Zürmers Cagebuch 85
*
herrſchen und — wie wir es fertig bringen, den großpolniſchen Gedanken
aus dem Baltikum fern zu halten. Seine Träger ſind der polniſche Groß—
grundbeſitz in Litauen in erſter Linie und in zweiter die polniſchen Angeſtellten
in Städten und Oörfern und auf Gütern des deutſchen Baltikums.
Große politiſche Aufgaben laſſen ſich nicht nach einer einfachen Formel
(dien; es ſind immer nebeneinanderlaufende und ineinandergreifende Berech-
nungen aufzuſtellen. Die Polen ſind mit ihrem politiſchen Ehrgeiz ein
ſtörendes Element zwiſchen den Deutſchen und Ruſſenz da ſie ſich trotz
dreijährigen Mühens im Kriege von unſrer Seite nicht bereit erklären können,
ohne Vorbehalt auf den Beſitz deutſcher Provinzen zu verzichten, ſo muß ihrem
Ehrgeiz auf andre Weiſe der Nährboden entzogen werden.
Aus dieſen beiden Aufgaben: Verſtändigung mit dem Ruſſentum und Über-
windung des großpolniſchen Gedankens, ergibt ſich der Grundriß zu den Funde-
menten der neuen Oſtmark. Zunächſt im Norden: Zuſammenfaſſung der
Gebiete ohne Rückſicht auf die Nationalitäten zu einer wichtigen Wirt-
ſchaftseinheit, in der der tüchtigſten und kultivierteſten, dabei auch kapital
kräftigſten Nationalität ohne weiteres die führende Rolle zufiele. Ein Blick auf
die Karte lehrt, daß die Achſe dieſer Einheit nur der Dünaftrom, bis herauf
nach Polock, das ſind etwa 400 Kilometer, das Herz aber Riga, an der See
und doch mitten im Lande gelegen, ſein kann. Riga zugleich Haupthafen
für Rußland, die regulierte Düna, feine bedeutendſte Schlagader im
Weltverkehr. Beide zuſammen auch das finanzielle Rückgrat des neuen Staates.
Zhn bilde man aus Eſtland, Livland, Teilen des Gouvernements Witebſk,
Kurland und Litauen, ohne eine hiſtoriſche Anknüpfung als Königreich
in Realunion mit dem Deutſchen Reiche.
Südlich davon folge als preußiſche Provinz Südpreußen, der nicht
zur Ukraine gehörige Teil des Gouvernements Grodno, Lomſha und Plock,
begrenzt im Süden durch Bug und Weichſel. Dies Gebiet ſei deutſches Koloni-
ſationsland, ebenſo wie weſtliche Teile des Gouvernements Warſchau, Kaliſch
und Petrikau. Das Siedelungsland wäre in erſter Linie den Donationsgütern,
dann dem Großgrundbeſitz zu entnehmen. Etwa auszufiedelnde Bevölkerung
wäre nach Weißrußland zu leiten, wo genügend Großgrundbeſitz zur Beſiedlung
durch Bauern vorhanden iſt, und die geringe Bevölkerungsdichte auch ſonſt noch
Yunderttaufenden Raum bietet. Ob es zweckmäßig wäre, dies Gebiet an Rußland
jurüͤckzugeben, mag ſpäterer Erörterung vorbehalten bleiben. Der Reſt von
Polen könnte zu einem vollſtändig ſelbſtändigen Staate gemacht werden, ſchon
aus dem einen Geſichtspunkte, weil auch ein unſelbſtändiges Gebilde nie-
mals aufhören würde, in der ganzen Welt gegen Oeutſchland zu in-
trigieren.
Ich meine, die hier vorgetragene Skizze einer Neuordnung unſerer Verhält-
niſſe im Often kommt dem, was wir uns nur wünſchen können zu erreichen, am
nächſten. Sie verteilt die Laſt des Baues auf viele Pfeiler zu entſprechenden Teilen.
der ſchwächſte Punkt iſt die polniſche Ecke. Dort wird wegen des unfichern
Baugrundes die Gefahr des Zuſammenſturzes beſtehen bleiben, ſolange die
E
86 Türmers Tagebuch
deutſche Reichsregierung ſich zu durchgreifenden Maßnahmen nicht
zu entſchließen vermag. Zu ſolchen Maßnahmen gehört das Recht der Aus-
ſiedlung polniſcher Bevölkerungsteile aus den uns beſonders gefähr—
denden Kreiſen von Ruſſiſch-Polen.
Finden wir jetzt im Anſchluß an den Krieg nicht den Mut, diejenigen Po-
ſitionen auf dem gewonnenen Schlachtfelde zu beziehen, die jedes Anrennen gegen
unſere Geſamtſtellung von vornherein ausſichtslos machen würden, fo müffen
wir darauf gefaßt ſein, daß der Kampf um den Boden auf preußiſchem Gebiet
fortab in für uns nachteiligen Stellungen geführt werden muß.“
Nicht alles, was ich hier wiedergebe, möchte ich wörtlich und ohne weiteres
unterſchreiben. Wenn ich dennoch dieſe Anſichten Cleinows zum Teil ſogar durch
Sperrdruck hervorhebe, ſo geſchieht das, weil ich ſie beſonderer Erwägung
wert erachte, und weil ſie grundſätzlich meinem eigenen Urteile in einer mich
faſt überraſchenden Weiſe begegnen. Denn auch ich glaube nicht an eine endgültige
Ohnmacht Rußlands, glaube vielmehr an ein Rußland, bei dem ſich die Ukraine
und das ſogenannte Großrußland in der einen oder anderen Form wieder die
Hand reichen werden. Gewinnt in dieſem Rußland das Moskowitertum aufs
neue die Oberhand, dann haben wir das alte Rußland auf unſere Koſten zer-
trümmert. Anfere Politik drängt ſich alſo die Aufgabe auf, die Ukraine in ihre
nicht nur geſchichtlich, ſondern auch politiſch und wirtſchaftlich begründete Führer
ſchaft wieder einzuſetzen und ſo lange zu unterſtützen, als fie unſerer Hilfe be;
darf. All unſer Bemühen in dieſer Richtung wäre aber wiederum vergeblich, wenn
wir in den Streitfragen zwiſchen Polen und Ukrainern nicht ganz ſachlich, aber
ebenſo entſchloſſen, ſelbſt auf die Gefahr, öſterreichiſch-polniſche Sentimentalitäten
unſanft zu berühren, die Ukrainer als das Volk behandelten, das ohne Vorbehalt
mit uns Frieden geſchloſſen und für ſeine Befreiung ſelbſt gekämpft hat, ſtatt ſie
als Geſchenk von uns entgegenzunehmen und dann auch nur mit Vorbehalt von
Anſprüchen auf — deutſches Gebiet! Das dürfen unſere Staatsmänner auch
nicht vergeſſen (wenn fie es gewußt haben oder wiſſen), daß die ruſſiſche Politik
ſchon vor 1905 (alſo vor dem ruſſiſch-japaniſchen Kriege) weſentlich von Polen
beeinflußt war. Gute Ruſſen getröſteten ſich noch angeſichts des gegenwärtigen
Zuſammenbruchs: „Wenn ſchon wir Ruſſen nicht fähig ſein ſollten, das große
Slawenreich aufzurichten, dann werden die Polen die Führung übernehmen.“
In der Tat: ohne Deutfche, Polen und Juden war ja das alte große Rußland nicht
denkbar
Es iſt in unſerem politiſch auf einen Formelkram zurechtgeſchuſterten Klein-
deutſchland unendlich ſchwer, vom Schuſterleiſten abweichende Anſichten zu äußern,
ohne befürchten zu müſſen, politiſch nicht „ernſt“ genommen zu werden. Nur die
Meinung des „Profeſſors“ imponiert, will ſagen: das von irgend einer politiſchen,
wiſſenſchaftlichen oder ſonſtigen Zunft Anerkannte. Innerhalb der Zünfte können die
Meinungen ſo weit auseinandergehen, wie ſie wollen; ſie werden dann zwar von
der anderen Zunft bekämpft, leidenſchaftlich bekämpft, aber immerhin „ernſt“
genommen. Oennoch erdreiſte ich mich, zu bekennen: ich glaube nicht, daß irgend
eine unſerer politiſchen Zünfte auf der ganzen Linie recht behalten wird. Nicht
a
Zürmers Tagebuch 87
einmal die mir am nächſten ſtehenden, fo innig ich das wünſchte. Sie könnten,
würden recht behalten, wenn unſere politiſche Führung auf der Höhe unſerer
militäriſchen ſtände, von Anfang des Krieges an geſtanden hätte. Eine politiſche
Führung wie die Bismarcks, die aber nicht denkbar war ohne das Genie des Herzens
Raiſer Wilhelms I. (dem darum der Name des Großen gebührt, weil er Größere
zu finden und neben ſich, wenn's darauf ankam, ſogar über ſich zu dulden ver-
mochte), würde aus dem Erze ſolcher militäriſcher Erfolge einen Frieden ſchmieden,
wenn nicht ſchon geſchmiedet haben — dauernder als Erz.
Nachdem aber unſere Regierung ſich unter die Vormundſchaft einer — in
pelchem ahnungsloſen Friedensjahre gewählten? — „Mehrheit“ geſtellt hat, wird
mjer Friede, damit das Wohl und Wehe unſeres Volkes auf abſehbare Zeiten
mehr oder weniger von den perſönlichen Fähigkeiten, Neigungen, Vorſtellungen
eines Herrn von Kühlmann, Erzberger, Scheidemann uſw. beſtimmt werden.
Da Herr Haaſe wegen blutiger Abfuhr der „unabhängigen“ im Wahlkreiſe Nieder-
barnim vorläufig entſchuldigt iſt, kommt er für dieſen — „Zahlabend“ (übrigens
einmal ein gutes Wort Scheidemanns im Reichstage) zunächſt nicht in Betracht.
Aber Erzberger wird die Sache ſchon machen. Wir wollen uns doch nichts vor-
täufchen: gegen Erzberger iſt auch Scheidemann nur ein Waiſenknabe.
Furchtbar iſt die Vorſtellung, lähmend könnte fie wirken: daß alle gigan-
tiſchen Taten und Opfer im Sande verlaufen könnten, wenn wir uns nicht an die
eine Zuverſicht klammern, daß der Deutſche Kaiſer ſich als den letzten und höchſten
Entſchluß für die Friedensbedingungen vorbehalten hat: die Männer ſollen als
die Vertrauten und Willensvollſtrecker ihres Kaiſers die Bedingungen beſtimmen,
die den Frieden durch das geiſtgetragene Schwert errungen haben.
Der Lihhnowfty-Standal
wächſt ſich von Tag zu Tag immer ungeheuer-
licher aus und hat ſchon heute fo empörende,
ſo gemeingefährliche Tatſachen ans Licht ge⸗
fördert, daß man dreiſt behaupten darf: wenn
hier von der Regierung nicht mit eiſerner Fauſt
durchgegriffen wird, dann wird es um ihr
Anſehen windig beſtellt ſein und wird man die
Leute, die noch Vertrauen zu ihr haben, mit
der Laterne ſuchen müſſen. Es ſoll ja nun,
ſo wird „verlautbart“, ein Verfahren gegen
den internationalen Fürſten und engliſchen
Doktor von Oxford (warum nicht auch Heidel-
berg?) bevorſtehen. Wir wollen alfo vorläufig
noch abwarten, aber nicht vergeſſen!
Zur Verbreitung der Denkſchrift im neu-
tralen Auslande erfährt die „Deutfche Tages-
zeitung“ u. a.: Der Armierungsſoldat Dr.
Breitſcheidt trieb als Heeresangehöriger
bereits im Herbſt 1917 mit der Schreib-
maſchinen-Abſchrift der Oenkſchrift eine leb⸗
hafte Propaganda im Sinne der üblichen,
jedes Nationalgefühl zerwühlenden Politik der
unabhängigen Sozialdemokraten; auch lieh er
die Schrift jedermann uſw.
In der „Kölniſchen Volkszeitung“, dem
Zentrumsblatte, das ſich der Erzbergerei zu
erwehren ſucht, weiſt ein Mitarbeiter auf den
Zuſammenhang der Lichnowſkyſchen Denk-
ſchrift und der Erzbergerſchen Friedens
entſchließung hin:
Im vorigen Sommer ſchon war das
Schriftſtück verbreitet! Frage: Auch ſchon
vor der Zeit vom 6. bis 19. Juli 19172
Wer ein gutes Gedächtnis hat, erinnert ſich
heute mancher Wendungen in Reden und
Zeitungsauffätzen, welche damals in die
Offentlichkeit kamen undemit Sicherheit dar-
auf ſchließen laſſen, daß den Urhebern die
Denkſchrift bereits bekannt war — und noch
mehr: daß ſie von Geiſt und Inhalt dieſer
Denkſchrift beeinflußt waren. Wenn
dieſe Beobachtung zutrifft, käme der Denk-
ſchrift auch ein Anteil, und vielleicht kein klei-
ner, zu an der Stimmung, an der ganzen Ge-
fühls- und Gemütsatmofphäre, welche zu
dem Reichstagsbeſchluß vom 19. Zuli
1917 geführt hat. Auch dieſer Punkt wäre
doch wirklich der Mühe wert, aufgeklärt zu
werden. Nachdem die Oenkſchrift bekannt ge-
worden iſt, ſoll man auch alles Licht ſchaffen
für alle Umftände und Nebenumſtände, welche
mitgewirkt haben. Da müſſen alle Rück-
ſichten ſchweigen.
*
Ein deutſcher Botſchafter —
Englands glücklicher Stern!
Ge 1914 veröffentlichte der britiſch ge-
ſinnte Zre Bernhard Shaw einen
ſchon durch feine Überſchrift bezeichnenden
Aufſatz „Der letzte Sprung des alten
Löwen“. Darin ſchildert (nach einer zu-
ſammenfaſſenden Wiedergabe im „Deutſchen
Kurier“) Shaw an Hand des franzöſiſchen
Gelbbuches die diplomatiſche Vorbereitung
der von England geſuchten Auseinander-
ſetzung mit Deutfchland, die es mit feinem
alten Inſtinkt herbeizuführen trachtet, bevor
der neue Rivale zu ſtark geworden iſt; ſpiegelt
die beſorgte Enttäuſchung Eng lands
über Deutſchlands Zurückweichen ge-
legentlich der franzöſiſchen Marokko-Her⸗
ausforderung, beleuchtet ſeine wachſende
Befürchtung, daß Deutfchland dem von
Auf der Warte
England erſtrebten gewaltſamen Entfchei-
dungstampf überhaupt ausweichen wolle.
„Ja bringt ein glücklicher Stern, der
dem Löwen faſt immer geleuchtet hat, den
Fürſten Lichnowſkp als deutſchen Bot-
ſchaftet nach London“ und ſchafft damit
nach Shaws Zeugnis die Vorausſetzungen,
um Englands zielbewußte Pläne doch noch
techtzeitig durchzuſetzen, indem man „Deutfch-
land einreden könnte, daß der Löwe plötzlich
don Liebe zu ihm entbrannt iſt, daß er
unter die Pazifiſten gegangen iſt und nicht
kãmpfen will“. Mit boshaft behäbigem
gumor entwickelt Shaw, wie der deutſche
Botſchafter in London, „ein ſcharmanter
Mann mit einer ſehr ſcharmanten Frau“,
unter geſchickter Behandlung Greys „täglich
feſter wurde in ſeiner Aberzeugung, daß das
Löwenherz ſich von Grund auf gewandelt hat,
und daß der Löwe allgemach wirklich und
richtig freundlich wurde. Grey hielt Lich-
nowſky vielleicht für einen Toren, war aber
deshalb nicht weniger nett zu ihm.“ Ihm
zur Seite tritt Asquith, „der unter fpiegel-
glatter, leuchtender Oberfläche uralte engliſche
Tiefgründigkeit verbirgt, und in dem etwas
von des Löwen Verſchlagenheit ſtecken könnte,
ohne die ſpiegelglatte Oberflache zu trüben“.
Und ihrer Verſchleierungs- und Zäufchungs-
politik gelingt es, Deutſchlands beim Marokko⸗
handel erwachten Argwohn wieder einzu-
ſchläfern. „Endlich, endlich überzeugten fie
Deutſchland“ von Großbritanniens fo gut ge-
ſpielter Harmloſigkeit. Unterdes aber „kauert
der Löwe zum Sprung. Faſt noch ehe er
ganz fertig iſt, läßt der Teufel von günftigem
Seſchick den Erzherzog von Mörderhand fallen,
ud Öfterreich ſieht Serbien endlich in feiner
gend. Oſterreich ftürzt ſich auf Serbien, Ruß-
land auf Oſterreich, Deutſchland auf Frank-
teich; und nun endlich ſtürzt ſich auch
der Löwe mit mächtigem Gebrüll auf
ſeine Beute und gräbt im Nu ſeine Fänge
und Pranken in den Leib ſeines Rivalen.
Nicht für alle Pazifiſten und Sozialiſten der
Belt läßt er den jetzt wieder los, bis er ſelbſt
entweder tot am Boden liegt oder aber wie;
der auf ſeinem Piedeſtal von Vaterloo.“
*
89
Eine zeitgemäße Erinnerung
friſcht die „Deutſche Zeitung“ auf:
Die Denkſchrift des Fürſten Lichnowfky
und die des gleichgearteten „Pazlfiften“
Lammaſch an Kaiſer Karl wecken die Er-
innerungen an einen Bund, in dem ſich im
November 1914 wahlverwandte Geiſter zu-
ſammenfanden, um im Sinne beſagter Denk-
ſchriften zu wirken. Der Bund nannte ſich
„Neues Vaterland“. Sein Vorſitzender
war Rittmeiſter a. D. Kurt von Tepper-Laski.
Kurz gefaßt lautete das Programm dieſes
Bundes: „Verſtändigungsfriede“. Nach
ſeinen Satzungen beabſichtigte der Bund „die
direkte und indirekte Förderung aller Be-
ſtrebungen, die geeignet ſind, die Politik und
Diplomatie der europäiſchen Staaten mit
dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs
und des überſtaatlichen Zufammen-
ſchluſſes zu erfüllen, um eine politiſche und
wirtſchaftliche Verſtändigung zwiſchen den
Kulturvölkern herbeizuführen“. Oer neue
Bund verfügt über Schweſterorganiſationen
in ganz Europa, ſelbſt in England.
Aus der Reihe der Mitarbeiter, Ge-
ſinnungsgenoſſen, Gönner und Freunde heben
wir nur die folgenden Namen heraus:
Lammaſch, Botſchafter a. D. Graf Anton
von Monts, Geſandter a. D. Wirkl. Geheim-
rat Graf von Leyden, Geheimrat Arnhold-
Dresden, Hans Delbrück, Kurt Eisner,
Helmut von Gerlach, Quidde.
Selbſtverſtändlich bildete einen Haupt-
punkt der Beſtrebungen dieſes Bundes die Be-
kämpfung der Alldeutſchen. Die Berliner
Geſchäftsſtelle hatte ſich zur Sonder-
aufg abe den Vertrieb von Leitartikeln
des Berliner Tageblatts gemacht, die
von Freunden des Bundes wie dem Grafen
von Monts und dem Fürſten Lichnowſky
verfaßt waren. ö
Selbſt der Bethmannſchen Regierung
ſcheinen die internationalen Machenſchaften
des Bundes „Neues Vaterland“ bedenklich
oder gefährlich vorgekommen zu fein. Jeden
falls wurde die Berliner Geſchäftsſtelle in
der Tauentzienſtraße eines Tages geſchloſſen
und ihre jüͤdiſche Vorſteherin verhaftet.
90
Im großen wiedererſtanden iſt das „Neue
Vaterland“ in Geſtalt der Reichstagsmehrheit
von Erzberger bis Scheidemann, die auch ihr
Schlagwort „Verſtändigungsfriede“ dem ge-
nannten Bunde entlehnt und wieder in Be-
trieb geſetzt hat. |
*
„Als Macht zu Macht!“
er Pole Dr. Seyda, hatte im Preußi-
ſchen Abgeordnetenhauſe eine Rede
mit den Worten geſchloſſen: „Wir werden
den mit der Ukraine abgeſchloſſenen
Friedensvertrag niemals als Recht
anerkennen!“ Die großpolniſchen Wünſche,
wie fie im Verein mit der auſtro-polniſchen
Löſung der Frage folange keuſch im Buſen
verborgen geweſen waren, erblickten damit
amtlich das Licht der Welt. Die Polen, ſchrei-
ben die „Alldeutſchen Blätter“, träumen von
einem Großpolen, das Galizien und das
Cholmgebiet umfaßt, das möglichft weit nach
Oſten reicht, zu dem Litauen ebenſo gehört
wie Poſen und Weſtpreußen. Ein ſolcher
Traum könnte Wirklichkeit werden, wenn das
polniſche Volk im Laufe der Geſchichte einiger
Jahrhunderte etliche Schlachten bei Tannen
berg gegen Rußland, gegen Öfterreih und
gegen das Deutſche Reich gewonnen hätte.
Aber fo? Die Herren Polen verlieren den
Boden unter den Füßen und ſchweben in
einer ſeltſamen Welt der Vorſtellung! Dr.
Seydas Rede öffnete nun manchen denn doch
die Augen; der Mann war zu ſehr aus der
Rolle gefallen. Und nun geſchah etwas ganz
Merkwürdiges.
Drei edle Polen kommen unter Führung
des Grafen Ronikier nach Berlin und verhan-
deln über die polniſche Frage nicht etwa mit
der Regierung, nein, mit den Vertretern
des Hauptausſchuſſes des Reichstages,
der verfaſſungsgemäß zu Verhandlungen mit
Vertretern einer auswärtigen Macht — das
iſt das noch nicht ganz geborene „Königreich“
Polen — gar nicht befugt iſt. Die Heim-
leuchtung im Preußiſchen Abgeordnetenhauſe
hat den Herren Polen Angſt gemacht, und
ſie verlegen ſich aufs Verhandeln. Edel und
großmuͤtig, wie Polen nun einmal find, er-
Auf der Warte
klären fie ſich bereit, die bisherige polniſch⸗
preußiſche Grenze anzuerkennen. Man höre
und ſtaune! Die Herren in Varſchau er-
kennen die preußiſche Grenze an. Das iſt
nett von den Leuten, wirklich nett. Aus
Dankbarkeit ſollten wir ihnen das Cholm-
gebiet und Land im Oſten bewilligen. Die
ernſte, bitter ernſte Seite dieſer Angelegen-
heit liegt in der einſeitigen Verſchiebung
der verfaſſungsmäßigen Grundlagen
des Deutſchen Reichs. Die von uns be-
freiten Polen wenden ſich nicht an die deutſche
Regierung, nicht einmal an den Reichstag,
ſondern an die Reichstagsmehrheit, in
Wahrheit an einige Führer der Parteien,
die zufällig die Mehrheit beſitzen, und
verhandeln als Macht zu Macht.
So wie es für uns keine elſaß lothringiſche
Frage“ gibt, fo auch keine polniſche Frage“ in
bezug auf unſere öſtlichen Grenzen, die keiner-
lei, Anerkennung“ von außen her bedürfen, die
vielmehr wir, die Sieger, völlig frei nach unfe-
ren Belangen und ohne irgend jemand dafür
Entgelt“ ſchuldig zu fein, zu geſtalten nicht nur
das Recht, ſondern auch die Pflicht haben.
Sich dieſer Pflicht zu erinnern, ſich endlich
einmal zu entſinnen, daß doch auch das
deutſche Volk ein ‚Selbſtbeſtimmungs-
recht“ habe, in das der großmuͤtige polniſche
Vorſchlag der „Anerkennung“ der bisherigen
Grenze aufs gröblichſte eingreife, wäre übri-
gens Aufgabe der Herren Erzberger,
Scheidemann, Naumann uſw. geweſen,
als ihnen die Polen ihre gnädige Geneigtheit
zu Verhandlungen kundgaben.
Belgiens künftige Bündniſſe
Noc wie vor machen die Engländer kein
Hehl, wie fie ſich ſpäter das Verhält-
nis von Belgien denken. Gewöhnt an den
Erfolg einer pharifäifhen Politik, find fie
durch dieſen auch verwöhnt worden, was ſie
gleichgültiger macht und oft aus der Rolle
fallen läßt. So ereifert ſich, was Reuter vom
6. März zu verbreiten für richtig hält, der
„Daily Chronicle“ über die letztvorliegende
Rede des Grafen Hertling auch noch bei der
Deutung, daß ſie die beabſichtigte Herſtellung
Auf der Warte
der belgiſchen Neutralität enthalte. Wie,
man „will Belgien verhindern, feine gegen-
wärtigen Bündnisbeziehungen weiter zu
pflegen?“ „Das ſchuldige Deutſchland will
ſeinem Opfer neuerdings vorſchreiben, es
dürfe keine Schutzbündniſſe abſchließen!“
Gut alſo, zwiſchen uns ſei Wahrheit!
England hat feine weitgehenden militäri-
ſchen Pläne als belgiſcher Schutzherr längſt
früher verlauten laſſen; hier aber wird die
Wiederkehr jener „Neutralitäts“ Auffaſſung
offen ausgeplaudert, wie ſie vor 1914 für
England beſtand und ihm gegen Deutſchland
dienen ſollte. Es iſt nicht anders, als wie es
der klarblickende, noch mehr klarfühlende
E. M. Arndt, unſer treueſter Volksmann, ſah.
Um dieſen Schlüſſelpunkt der europäiſchen
Schickſale wird von Deutſchland und England
„in ewigen Zeiten geſtritten werden müſſen“,
ſolange nicht eines der beiden das anerkannt
erſtrittene Ergebnis ſichert. Aber die Volks-
weiſen und Friedensanbahner jetziger Tage
wollen ſtets erneut erſt durch Blut und Eiſen
widerlegt — oft auch dann noch nicht be-
lehrt — werden. ed. h.
„Die Mehrheit dieſes Hauſes“
konnte in gewiſſen Fragen gar nicht fchärfer,
dabei fachlicher gekennzeichnet werden, als
durch den einen Satz des Abgeordneten
Dr. Streſemann in der Reichstagsſitzung
vom 19. März:
„Den Grafen Ronikier und den Prin-
zen Radziwill zwar erkennt die Mehrheit
dieſes Hauſes als Vertreter des polniſchen
Volkes an; baltiſche Barone aber follen
unter keinen Umftänden als Vertreter des
Baltentums gelten.“
Iſt es der verehrlichen „Mehrheit“ denn
gar nicht möglich, nur fo viel Selbftüber-
windung aufzubringen, daß ſie ſich nicht
immer wieder durch das naive Bekenntnis
ihrer Unwiſſenheit bloßſtellt? Wenn fie nur
eine Ahnung hätte, wieviel mehr Letten und
Eſten im Verhältnis hinter den „baltiſchen
Baronen“ ſtehen, als polniſches Land volk
hinter ihren polniſchen „Baronen“, dann
würde dieſer „Mehrheit“ wohl ein Schimmer
91
aufgehen, wie unberufen ſie ſich jedem Kenner
der tatſächlichen Zuſtände darſtellt.
Es gibt wohl kaum ein Land, wo ſolche
ſklaviſche Unterwürfigkeit des armen
Volkes vor ſeinen Magnaten herrſcht, wie
gerade in Polen. Das wird ſchon jeder Feld-
graue, der dort nur hineingerochen und etwas
Blick hat, bezeugen können.
Vielleicht der größte Fehler unſerer preußi-
ſchen Polenpolitik war ja der, daß wir die
polniſchen Magnaten auf Koſten des ein-
fachen polniſchen Volkes verhätſchelten, das
von uns Gerechtigkeit und Schutz gegen ſeine
„Erbherren“ erwartete. Der polniſche Land⸗
arbeiter war oft froh, wenn er von ſeinem
polniſchen Herrn loskam und bei einem deut-
ſchen Beſitzer ankommen konnte. Ließ auch
bei dem manches zu wünfchen übrig, fo fühlte
er ſich doch vor der ärgiten Willkür geborgen.
— gest iſt es wahrſcheinlich zu ſpãt!
Damit will ich durchaus nicht den polni-
ſchen Adel als ſolchen angreifen — ich ſelbſt
habe prächtige Menſchen unter ihnen gekannt.
Aber im allgemeinen lagen die Verhältniſſe
doch nun einmal ſo. Darum hat man ſich
früher nicht gekümmert, und daran trägt
natürlich auch die heutige „Mehrheit“ keine
Schuld. Um ſo vorſichtiger ſollte ſie mit der
Verausgabung ihrer ungetrübten, aber apo-
diktiſchen Weistümer umgehen.
Lieſt man dann noch die Ergüſſe gewiſſer
Zeitungen und Redner über die baltiſchen
Provinzen, Litauen, Weißrußland uſw., dann
wundert ſich der Laie und ſtaunt der Fach-
mann. Zſt er romantiſch veranlagt, glaubt
er ſich in ein Märchenland verſetzt; geht ihm
dieſe Gabe ab, feiert ſein Humor Orgien.
War doch ſogar in einem führenden Berliner
Blatte von einem „kuriſchen Volke“ als Be-
völkerung Kurlands die Rede!
Der Reichstag könnte nichts Beſſeres tun,
als den anerkannt verfaffungsgemäßen Ver-
tretern dieſer Länder die Entſcheidung zu
überlaffen, wo fie der Schuh drückt und was
ſie brauchen. Denn leider bilden die Mit-
glieder des Reichstages, die, wie der Ab-
geordnete Streſemann den Kern der Sache
(wie vor allem die Unteilbarkeit Balten-
lands und die Notwendigkeit enger An-
92
gliederung Litauens) erfaßt haben, nicht die
„Mehrheit dieſes Hauſes“. Gr.
Jedem das Seine
Ale Rußland, deſſen Mitſchuld am Welt-
kriege nur allzu gern über der Englands
vergeſſen wird. Man leſe („Kreuzzeitung“
Nr. 149):
Im Oktober 1909 entwickelte der Fürſt
Swjätopolk Mirski in der Petersburger
Wjedomoſti, dem von der Regierung fub-
ventionierten Blatte des Fürſten Uchtomski,
einen Plan zur Zertrümmerung Oeutſch-
lands. Der Artikel beginnt mit der Erllä-
rung, Rußland brauche einen Krieg „zur Er-
friſchung der ſittlichen Atmoſphäre“. Jetzt
fehle es an Mut und Ruhe zur Arbeit, weil
die Lage unſicher ſei. Es fehle aber auch an
Geld zu Agrarreformen. Deutſchlands
Zertrümmerung „iſt für uns notwen-
dig, ſowohl materiell, wie als ſittliche
Forderung, und dabei wird uns Frankreich
helfen“. Betreffs Englands iſt der Fürſt
allerdings nicht ohne Sorge, kennzeichnet da-
bei aber das Wefen der engliſchen Politik ganz
zutreffend. ... Fürſt Swjäãtopolk Mirski rech-
net deshalb nach dem Siege über Deutfchland
mit einem Kriege mit England und Japan.
Aber davor dürfe man nicht zurückſchrecken.
Denn „ein Sieg über Oeutſchland ohne be-
deutenden praktiſchen Gewinn, der nichts als
unbezahlte Schulden einbringt, hat für uns
keinen Wert. Nur die völlige Zertrümme-
rung der deutſchen Macht wird es uns
möglich machen, die Hunderte von Millionen
zum Nutzen des Landes zu verwenden, die
alljährlich für unſere Verteidigung und Be-
waffnung ausgegeben werden.“
At
Tirpitz
ie freiſinnige „Voſſiſche Zeitung“ iſt ge-
recht genug, folgenden Ausfuhrungen
des Geheimen Regierungsrates Flamm Raum
zu geben:
„Der bisherige Staatsſekretär des Reichs
marineamts, v. Tirpitz, hat bei all ſeinen
Bauten, all ſeinen Maßnahmen, all ſeinen
Auf der Warte
Entſcheidungen ſtets den Gedanken verfolgt,
daß ſie gegen England gerichtet ſein müßten
und daß neben der Hochſeeflotte nur
ein Fern-U- Boot in Betracht kommen
könne, und es muß ebenſo klar ausgeſprochen
werden, daß zwar die Entwicklung einer der
artigen Waffe äußerſt ſchwierig war, daß
aber, als der Krieg begann, keine Nation
der Welt über derartig leiftungsfähige
Anterſeeboote verfügte wie unſere
Marine. Daß dann unter dem gewaltigen
Druck des Krieges dieſe Waffe, ſowohl der
Schiffskörper wie die Maſchinenanlage, außer-
ordentlich vervollkommnet wurde, iſt begreif-
lich, und deshalb ſtehen wir heute unmittel-
bar vor dem durchſchlagenden Erfolg Eng land
gegenüber.
Wenn heute unſere Marine, ſowohl durch
die Hochſeeflotte wie durch ihre unerreichten
U-Boote, weſentlich zur Niederkämpfung
unſeres ſchlimmſten Feindes, Englands, bei-
trägt, jo erſcheint es nicht berechtigt, heute
dem Mann Vorwürfe zu machen, dem
wir überhaupt unſere Seemacht ver-
danken; wer die techniſchen Vorgänge kennt,
wer weiß, daß es unſinnig geweſen wäre,
gerade England gegenüber, auf Koſten der
Linienſchiffe und Kreuzer Unterjee-
boote zu bauen, die vor 1914 techniſch
nicht genügend ausgebildet waren und
zu der beabſichtigten Waffe des Fernbootes
entwickelt werden konnten, der wird ſicherlich
unſere Marine und ihre Leitung anerkennen
und ihnen Dank entgegenbringen. Eines aber
ſollen wir niemals vergeſſen: Kein Mann
iſt in England ſo gehaßt und gefürchtet
wie Tirpitz, und deshalb gerade iſt er
für uns der wertvollſten einer!“
Von Northcliffe zu Lammaſch
ie die Tagesblätter mitteilten, iſt Lord
Northcliffe zum Chef der engliſchen
Propagandatätigkeit im feindlichen und neu-
tralen Auslande ernannt worden. Nach allem,
was bisher von dem edlen Lord bekannt ge-
worden iſt, darf man nicht zweifeln, daß er
ſich ſeiner Aufgabe eifrig annehmen und ſie,
ſoweit die Umſtände geſtatten, vortrefflich
Auf der Varte
löfen wird. Daß die Umſtände aber für ihn
günftig find, dafür bietet faſt jeder neue Tag
Beftätigung. Insbeſondere in Oſterreich ſieht
man eine Bewegung am Werke, die nicht
anders arbeiten könnte, wenn fie Northeliffe
ſelbſt in die Wege geleitet hätte. Damit ſoll
nicht geſagt ſein, daß alles, was jetzt ſchon am
Donauſtrande an Verhetzung geleiſtet wird,
mit dem unverhüllten Beſtreben, zwiſchen die
beiden eng verbündeten Mittelmächte einen
Keil zu ſchieben und damit die Geſchäfte der
Gegenſeite zu beſorgen, etwa auf mittelbare
oder unmittelbare engliſche Anſtiftung zurück
geht, jedenfalls aber läuft es parallel mit den
engliſchen Beſtrebungen. Im zweiten März-
hefte des Türmers wurde bereits ein be-
achtenswerter Brief des Nobel preisträgers
A. H. Fried an einen Wiener Großhändler
und Großinduſtriellen (Rommerzialrat Zulius
Meinl) mitgeteilt, der einen Einblick in die
Machenſchaften unſerer Pazifiſten geſtattete.
Noch weit wirkungsvoller geſtaltete ſich das
jüngſte Auftreten des pazifiſtiſch-klerikalen
Mitgliedes des öſterreichiſchen Herrenhauſes
Dr. Heinrich Lammaſch, einftigen Pro-
feſſors der Rechtsfakultät der Wiener Uni-
verſität und k. k. Hofrates. In einer Rede,
mit der er den gut deutſchen Ausführungen
des Geheimen Rates Dr. Pattai entgegen-
trat, behauptete der ſeinerzeitige Vertreter
Öfterreihs bei den Haager Schiedsgerichts
beratungen, Oſterreich- Ungarn fei nicht ver-
pflichtet, dem Oeutſchen Reiche weiterhin
Bundeshilfe zu leiſten, wenn das Reichs land
Elſaß- Lothringen nicht diejenige Verfaſſung
erhalte, die es nach Anſicht der Ententemächte
haben müſſe. Erregte ſchon dieſe ebenſoſehr
der Logik wie der Loyalität entbehrende
Kundgebung des Intimus Friedrich Wilhelm
Foerſters einen Sturm der Entrüftung in
den deutſchgeſinnten Kreiſen Oſterreichs, fo
war es vollends vernichtend für Lammaſch,
als der hochangeſehene öſterreichiſche Hifto-
riker Heinrich Fried jung, zuerſt in der
Berliner „Voſſiſchen Zeitung“, dann, als
Antwort auf die von Lammaſch unternomme-
nen Ableugnungsverſuche, in Wiener Blät-
tern mit vollſter Beſtimmtheit gegen dieſen
die Beſchuldigung ausſprach, daß er eine
95
Denkſchrift ausgearbeitet und an allerhöchſter
Stelle eingereicht habe, in der er den Rat
erteilt, das Bündnis mit dem Deutſchen
Re iche, weil es ein Hindernis des
dauernden Friedens ſei, nach dem
Kriege zu kündigen und dies jetzt ſchon,
alſo während des Krieges, ſowohl der
Regierung des Deutſchen Reiches wie
den Regierungen der gegen die Mittel-
mächte verbündeten Staaten mitzu-
teilen. Beſſer konnte allerdings Herr Hof⸗
rat Lammaſch Lord Northeliffe nicht in
die Hände arbeiten. Daß dieſer ſeinerſeits
auch nicht müßig iſt, erhellt aus der Tatſache,
daß ſeit einiger Zeit in Oſterreich die wildeſten
Gerüchte auftauchen, die handgreiflich made
in England find und alle den Zweck ver
folgen, den weiteren Widerſtand der Mittel-
mächte als ausſichtslos erſcheinen zu laſſen.
So wird z. B. erzählt, die Franzoſen feien
bereits in Bayern (I) eingefallen. Die Albern-
heit dieſer Erfindung ſtimmt nur zu gut über-
ein mit den bekannten geographiſchen Kennt-
niſſen in den Ländern der Entente. Daß der
Ausgangspunkt aller derartigen Tataren-
nachrichten, wie das öſterreichiſche Kriegs-
preſſequartier amtlich feſtſtellt, Prag iſt,
von wo aus offenkundig niemals ab-
geriſſene Fäden nach London und
Paris laufen, ift nicht minder kennzeich⸗
nend für die politiſchen Verhältniſſe Öfter-
reichs, wo Hochverrat faſt ſchon nackt auf
allen Gaſſen läuft. —id—
*
Blutsbewußtſein
Doch die Blätter geht die Mitteilung, daß
am 15. März der Reichskanzler die Vor-
ſtandsmitglieder der neugegründeten „Ver-
einigung jüdifher Organiſationen Deutſch⸗
lands zur Wahrung der Rechte der Juden des
Oſtens“ empfangen habe. Die Abordnung
trug ihm die Wünſche der deutſchen Juden
wegen einer Regelung der rumäniſchen
Zudenftage im Zuſammenhang mit den
Friedens verhandlungen in Bukareſt vor. Die
Kaiſerliche Regierung verſicherte, daß ſie an
einer befriedigenden Regelung der Zuden-
frage Intereſſe nehme und ſie bereits zum
94
Gegenſtande von Beſprechungen im Rahmen
der Friedensverhandlungen gemacht habe.
Ich habe ſeither aufmerkſam unſere ganze
linksſtehende Preſſe, auch die ſogenannte
jüdifche, genau daraufhin verfolgt, ob fie nicht
lebhaften Einſpruch gegen dieſes Vorgehen
der „Vereinigung jüdiſcher Organiſationen
Deutſchlands“ erheben würde. Da die Herr-
ſchaften ja immer von der Gleichberechtigung
aller Deutſchen ſprechen, war ein ſolcher
Einſpruch unbedingt zu erwarten. Zunächſt
ſchon gegen dieſe „Vereinigung jüdiſcher
Organiſationen Deutſchlands zur Wahrung
der Rechte der Juden des Oſtens“ an und für
ſich. Die in dieſen jüdiſchen Organiſationen
ſtehenden Juden behaupten doch, deutſche
Staatsbürger zu ſein. Wie kommen ſie dazu,
ſich um die Rechte der Staatsbürger eines
anderen Staates zu kümmern? D. h. nur
von ihrem ſonſt behaupteten Standpunkte
aus, auf dem ſie, wenn wir andern deutſchen
Staatsbürger nichtjũüdiſchen Blutes uns zu-
ſammentun und um Wahrung der Rechte
von deutſchen Staatsbürgern in anderen
Staaten bei unſerer Regierung vorſtellig
werden, ſofort Zeter und Mordio ſchreien.
Dann heißt es, wir miſchten uns in fremde
Angelegenheiten ein, was auf keinen Fall ge-
ſchehen dürfe. Herr Scheidemann höhnt z. B.,
die Deutſchen in den baltiſchen Provinzen
machten ja bloß 7½ aus, und gar Herr
Cohn, die leuchtende Vertretung Nord-
hauſens, begeifert den verzweifelten Not-
ſchrei dieſer deutſchen Brüder als lügneriſche
Mache. Wo bleibt denn jetzt Herr Scheide
mann, da ja die Juden in Rumänien nur 5 %
der Bevölkerung ausmachen? Wo bleibt gar
Herr Cohn, deſſen oberſter Grundſatz doch iſt,
daß jeder Staat ſeine Angelegenheiten für
ſich abzumachen habe? Und mit welchem
Rechte verlangen die Juden als Juden, daß
Oeutſchland ſich für die Juden in Rumänien
einſetze? Entweder find die Juden in Deutſch⸗
land Deutſche und die Juden in Rumänien
Rumänen, — dann geht Deutſchland die
Frage nichts an. Keinesfalls können fie für
ihre Raſſegenoſſen von Deutſchland mehr ver-
langen, als dieſes für die deutſchen Söhne
außerhalb ſeiner Grenzen tut. Oder aber die
Auf der Warte
Juden in Deutſchland bekennen, wie es hier
eigentlich der Fall iſt, daß ſie ein fremder Teil
in unſerm Volkskörper find, der ſich eins fühlt
mit den ihm bluts verwandten Teilen auch
der uns feindlichen Völker. Dann iſt es erſt
recht ein merkwürdiges Verlangen, daß
Deutſchland da eingreifen ſoll.
Ich möchte nicht mißverſtanden werden.
Von ihrem Standpunkte aus haben die Juden
allemal recht, und ich bewundere ſie, daß ſie
ihr Blut nicht verleugnen und für ihre Bluts-
verwandten mit aller Kraft eintreten, wo
dieſe auch ſind. Eins aber darf ich dringend
wünfchen: daß auch wir Deutſchen endlich ein
derart ſtarkes Blutsbewußtſein betãtigen, und
ein anderes muß man von den Juden und
ihrer Preſſe in Zukunft verlangen: daß ſie
nämlich jenen Deutfchen, die über dieſes Raſſe⸗
bewußtſein verfügen, nicht mehr in die Parade
fahren, wenn ſie es in einer ähnlich kräftigen
Weiſe betätigen, wie es die Juden für ihres
gleichen als ihr ſelbſtverſtändliches Recht in
Anſpruch nehmen. K. St.
*
Glückliches Oſterreich!
er Türmer brachte (Heft 12, S. 698:
„Eine ſonderbare Rechnung“) kritiſche
Mitteilungen über die Verteilung der aus
Rumänien ausgeführten Getreidebeftände
zwiſchen Sſterreich-Angarn und dem Deut-
ſchen Reiche. Als Ergänzung hierzu ſtellt ſich
eine Kritik der Verteilung der aus der Ukraine
auszuführenden Getreidemengen im „Ber-
liner Korſo“ dar: „Der Friedensſchluß mit
der Ukraine belebte in Deutfchland einige
Hoffnungen, daß durch Zufuhren aus dieſem
gelobten Land ſich unſere Ernährungs verhält
niſſe etwas beſſern würden. Kundige wußten
zwar hier von vornherein Beſcheid und krächz-
ten alte Rabenweisheit. Den naiveren Ge-
mütern aber ſchwamm ein Fell nach dem
anderen weg. Sie laſen zuerſt in einer offizis-
fen Verlautbarung am 9. März: „Immer wie
der muß darauf verwieſen werden, daß der
Abtransport ganz außerordentlichen Schwierig-
keiten begegnet, jo daß ſicher noch einige Mo-
nate vergehen werden, bevor die erſten Sen-
dungen in Deutſchland eintreffen können
Auf der Warte
zu berückſichtigen iſt ferner, daß die
Emährungsverhältniffe in Sſterreich
bedingen, daß in erſter Linie Sendungen
dorthin gehen.“ — Am 12. März lauteten
die Mtteilungen ſchon klarer; die „Kölniſche
gätung‘ war es, der aus Berlin (woher
wohl) gemeldet wurde: ‚Die Art der Ver-
tellung der aus der Ukraine zu erwartenden
Gelteerorräte zwiſchen Deutſchland und
Semi- Angarn iſt nunmehr dahin feſt⸗
gegeht, daz bis zum 31. Zuli Deutfchland und
Öenig-Ungaen gleichviel erhalten, und
ddat wird in der erſten Hälfte dieſes Ab-
ſchnits (fo April-⸗Mai) Oſterre ich doppelt
ſo vlel beziehen wie Oeutſchland, wäh-
und danach bis zum 31. Juli die Verteilung
ungekehrt erfolgt, fo daß alſo dann Deutſch⸗
Imd die doppelte Menge erhält.“ — Voraus-
Kung für dieſe Verteilung iſt natürlich, daß
man vor Beginn der Abtransporte die ver-
fibre Ge ſamtexportmenge genau über-
hen kann. Auf alle Fälle kann Öfterreich-
pam Ende Mai nach Empfang von zwei
Niltel des Exports der Ukraine fagen: ‚Hat,
hal, während wir erſt abwarten müf-
ſen vas Zuni-Fuli für Seutſchland de
facto uͤbrigg eblieben iſt. Aber dieſe Hal-
erung der Exportmengen aus der Ukraine
berührt an ſich ſchon peinlich, da hier ein
Llebzigmillionenvolk nur ebenſoviel
hält wie ein Fünfzigmillionenvolk,
wobei man ja kaum behaupten kann, daß
Oſertelch⸗Angarn zur Erreichung des Ukraine;
edens militäriſch mehr geleiftet hätte als
deutschland, fo daß ſich aus dieſen Motiven
85 Bevorzugung ableiten laſſen könnte.
de ö. mit den Getreideanleihen ſteht,
11 ſterreich-Angarn bei Oeutſchland
’ Pig: Halbjahr gemacht hat, ſoll hier un-
5 % bleiben; nicht unweſentlich aber ift
En 5 Deutſchland in Friedenszeiten er-
e auf die Einfuhr von Brotgetreide
8 war, während die verbündete
nien tie lich bekanntlich in dieſen Erzeug-
5 eine Ausfuhr leiſten konnte.
Gene 55 die Ernährungsverhältniſſe in
nie do eoingent, daß Sendungen in erſter
$eteliten = Sehen‘, wenn alſo dort im beſſer
die in d nde größeres Bedürfn s herrſcht,
em ſchlechter geſtellten, fo iſt b ieſe Tat-
95
ſache eben nur dadurch zu erklären, daß man
ſich in Sſterreich- Angarn nicht an-
nähernd ſo nach der Decke ſtreckt wie
in Deutſchland und es ſich erfolgreich
leiſten zu können glaubt, beſſer zu leben als
bei uns. Mit dieſer Anſchauung ſtimmt ja
auch die Tatſache überein, daß man in
Deutſchland wegen Hafermangels den Be-
ginn der Rennzeit von Mitte März auf Mai
hinausſchiebt, während man in Oſterreich
prompt wie in Friedenszeiten die Pferde-
rennen in Alag am 31. März und in Wien
am 14. April beginnen läßt! Nach der mora-
liſchen Backpfeife, die uns die Offenherzig-
keit des Fremdenblattes“ in Sachen Bülow-
Kühlmann Mitte Januar verſetzte, wird jeder
Verſtändige dieſe Deutfchland zugedachte Rolle
des Hungerkünſtlers nur angemeſſen finden.“
Aus den Mitteilungen des Türmers ging
hervor, daß Sſterreich- ungarn aus dem
rumäniſchen Export 126000 Tonnen mehr
anſtatt in Anbetracht und im Verhältnis der
kleineren Bevölkerungszahl 231000 Tonnen
weniger erhalten hat, was alſo ein Plus
von 357000 Tonnen zugunſten von
Öfterreih-Ungarn ergibt. Was dieſe
357000 Tonnen für Deutſchland be-
deuten, mag, wie das „Kleine Journal“
treffend bemerkt, auch daraus hervorgehen,
was der holländ iſche Miniſter des Auße-
ren am 18. März in der Kammer erklärte;
er habe ſich, ſo erklärte er, an Deutſchland
mit der Anfrage gewandt, ob Holland von
Deutſchland innerhalb zweler Monate
100000 Tonnen Getreide erhalten
könne. Deutſchland habe erklärt, dazu nicht
in der Lage zu ſein, weil die Bedürfniſſe
von Oeutſchlands Bundesgenoſſen zuerſt ge-
deckt werden müßten. Deshalb habe Holland
der Forderung der Entente willfahren müſſen.
Alſo ein gutes Viertel von dem, was
Oſterreich- Ang arn aus Rumänien allein
zuviel zugeteilt bekommen hat, hätte
genügt, um die Vergewaltigung Hol-
lands zu verhindern!! Was dies in mili-
täriſcher Hinſicht, aber auch in feiner morali-
ſchen Wirkung in Holland für Deutſchland
bedeutet hätte, braucht nicht weiter aus-
gefponnen zu werden. N
*
96
Ach, wie ſparſam
iſt unſere Königliche Oper! Nicht etwa bei
den Tenorgehältern, in Kleidern und Aus-
ſtattung. Bei alledem könnte man in der
Kriegszeit manche Einſchränkung vertragen.
Aber wer wird an dieſen großen Poſten knau-
jern? Das ſchickt ſich nicht für ein königliches
Theater. Nein, bei den Kleinigkeiten fängt
man an. — Die Königliche Oper hat allen
Muſikfreunden eine große Freude bereitet,
indem ſie Liſzts „Legende von der heiligen
Eliſabeth“ in einer guten Aufführung heraus-
brachte. Nachdem das Befremden über die
eigenartige Erſcheinung überwunden war,
feſtigte ſich die Stellung des Werkes, und wir
waren dabei, den Spielplan um ein edles
Feſtwerk bereichert zu ſehen. Da mit einem
Male verſchwindet die Legende vom Spiel-
plan. Erſt freue ich mich, daß der Erfolg nicht
jo raſch abgehetzt werden ſoll. Aber es ver-
gehen Wochen, und es ſetzt ſich die Erklärung
durch, das Werk ſei abgeſetzt, weil ein Nach-
komme des Dichters Roquette Tantieme-An-
ſprüche erhebe. Da Liſzt dreißig Jahre tot ift,
ſind für die Muſik keine Anſprüche mehr zu-
läſſig; aber vom Dichter her, von einem deut-
ſchen Dichter her wären für jede Aufführung
vielleicht zwei, drei vom Hundert abzugeben.
Das vermag unſer Berliner Königliches
Opernhaus nicht. Za, für des Franzoſen
Thomas „Mignon“ wird freudig bezahlt.
Auch als bei Bizets „Carmen“ derſelbe Fall
eintrat, wie jetzt bei Lifzt-Roquette, erhob
ſich kein Widerſpruch. Aber ein deutſcher
Dichter?! Ja, das iſt was ganz anderes.
4 K. St.
„Berichtigung“
Ss Heft 10 brachten wir unter dem Titel
„Auch ein ‚Ichwerinduftrielles‘ Blatt“
aus dem „Bafler Anzeiger“ eine Kritik der
Verhandlungen von Breſt-Litowſk von über-
legen - ſcharfer Verurteilung der ſchwächlichen
Haltung der Vierbundsdelegierten. Da die
reichsdeutſchen Blätter, die eine ähnliche
Meinung vertraten, von gewiſſer Seite immer
Auf der Warte
als „von der Schwerinduſtrie gekauft“ ver-
läſtert werden, wieſen wir ironiſch darauf
hin, daß alſo offenbar auch das Schweizer
Blatt „gekauft“ ſei. Die Fronie war fo greif-
bar, daß es der Anführungszeichen gar nicht
bedurft hätte, um ſie kenntlich zu machen.
Aber dieſe „“ find obendrein ſorgfältig an-
gebracht, denn — nebenbei bemerkt — wir
glauben natüuͤrlich auch nicht daran, daß die
„alldeutſche“ Preſſe gekauft iſt, erſt recht nicht,
da es die Moſſe-Preſſe alle Tage behauptet.
Aber — wie heißt's doch im „Fauſt“? —
„Du mußt es dreimal ſagen.“ Wir erhalten
vom „Bafler Anzeiger“ einen Brief, dem
wir folgende Stelle entnehmen: „Wir zwei-
feln keinen Augenblick daran, daß dieſe Auße⸗
rungen in ironiſchem Sinne gemeint waren,
indem Sie damit andeuten wollen, daß
andere dies von uns ſagen könnten, wie
dies da oder dort bei Entwicklung ähnlicher
Gebankengänge in Deutſchland geſchehen
fein mag. Trotzdem müſſen wir Sie aber er-
ſuchen, in Ihrer nächſten Nummer deutlich
zu erklären, daß Sie eben fo geſchrieben hät-
ten, weil Sie abſolut ſicher geweſen ſeien,
daß der Bafler Anzeiger ein in jeder Hinſicht
unabhängiges Organ ſei. Wir müſſen dieſe
Mitteilung verlangen, weil die Faſſung Ihres
Artikels zu Mißverftändniſſen immerhin An-
laß geben kann, ſind wir doch auch tatſächlich
aus Leſerkreiſen darauf aufmerkſam gemacht
worden, daß die Nummer 10 des Türmers
einen ſchweren Angriff gegen uns ent-
halte.“
Wir geben dem „Bafler Anzeiger“ die ge-
wünſchte Verſicherung gerne. Nur mit einer
Einſchränkung: „ein in jeder Hinſicht un-
abhängiges Organ“ iſt der Bafler Anzeiger
nicht. Wir übrigene, wie dieſe „Berichtigung“
zeigt, auch nicht. Denn ſie iſt doch nur nötig,
weil der „Bafler Anzeiger“ und auf dem um-
wege über ihn auch wir von der — Begriffs-
ſtutzigkeit einiger Leſer ſo abhängig ſind, daß
wir den knappen Raum für eine „Berichti-
gung“ verbrauchen müſſen, die keine iſt noch
ſein kann, weil eben nichts zu „berichtigen“
war. D. T.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: J. E. Freiherr von Srotthuß Bildende Runſt und Muſik: Dr. Rarl Stord
Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmerd, Zehlendorf ⸗Serlin (Wannſeebahn)
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
STRAIHMANN.
*
*
Karl Strathmann
degen
0
2
lad dem
2
Beilage zum Türmer
| VERY
Ms
. *
< >
* * *
TEEN
Krransarber: J. C. Rreiherr von Grotthu
VI. In. Erften Maibeft 1818 Zen i
_ Snglif-deutfe Freundſchaft? 2
Von Otto Corbach
8 ie Stimmung der engliſchen Gefangenen, hieß es kürzlich in den
2, V P amtlichen Heeresberichten, habe ſich im Vergleich zu früheren Fahren
>) ‚auffallend geändert: „Ihre hochmütige Haltung iſt verſchwunden,
- eine bisher am Engländer ungewohnte Gedrücktheit und Unficher-
beit tritt deutlich hervor. Die moraliſche Wirkung der Niederlage iſt ungeheuer.
Zuſammen mit den ſchweren Verluſten an Blut und Material iſt dieſe Erſcheinung
der größte Erfolg der ſiegreichen deutſchen Offenſive und folgenſchwerer als jeder
engliſche Geländeverluſt.“ Wer mag die Richtigkeit dieſer Auffaſſung in Zweifel
ziehen? Und ein ſolcher Stimmungsumſchwung vollzieht ſich im geſamten Angel-
ſachſentum, auf den britiſchen Inſeln, in allen überſeeiſchen Beſitzungen Groß-
britanniens, auch bei den Anglo-Amerikanern. Das moderne „auserwählte Volk“,
das ſich kraft göttlicher Beſtimmung zur Beherrſchung der ganzen übrigen Welt
berufen fühlte, iſt entehrt, entwürdigt, entheiligt, und zwar durch den entfcheiden-
den Sieg eines Gegners, den man als Feind der Menfchheit, als die Verkörpe-
rung alles Schlechten ſeit Jahren in aller Welt zu brandmarken ſuchte.
Dabei handelt es ſich erſt um die Wirkung des Anfanges unſerer großen
Offenſive; wie niederſchmetternd muß erſt ihr Endergebnis für das engliſche Selbſt⸗
bewußtſein ausfallen! Nichts bliebe zu tun übrig, als daß die Diplomatie das
Werk unſerer großen Heerführer e indem ſie für die kommenden Friedens-
Der Zürmer XX, 16 „
Y
=
.
98 Corbach: Englifch-heutfche Freundſchaft?
unterhandlungen die richtigen Folgerungen aus den kriegeriſchen Tatſachen zöge.
Mit uns wären alle wachſenden, vorwärtsdrängenden Völker vom Alp der eng-
liſchen Weltherrſchaft erlöſt.
Leider muß man befürchten, daß eine der Grundvorausſetzungen für er-
ſprießliche Friedensverhandlungen mit England bei uns vorläufig noch nicht vor⸗
liegt, nämlich die, daß der Geiſt, der unſer Auswärtiges Amt beſeelt, ein weient-
lich anderer wäre als der, der die deutſche Außenpolitik vor dem Kriege beſeelte.
Die Art und Weiſe, wie der frühere Staatsſekretär v. Jagow, offenbar nicht ohne
Wiſſen und Billigung unſerer gegenwärtigen verantwortlichen Staatslenker, die
Denkſchrift des Fürſten Lichnowfky teils „widerlegt“, teils ergänzt, muß in dieſer
Beziehung argwöhniſch ſtimmen. Herr v. Jagow hat in feinen perſönlichen Be⸗
ziehungen zu England durch den Krieg nichts gelernt. Er ſteht ihm noch genau
ſo vertrauensſelig gegenüber wie früher. Damals erſtrebte er eine „freundliche
Haltung Englands zum Dreibunde“ und noch heute iſt er feſt überzeugt, daß ſich
daraus ein „Friedensblock von unangreifbarer Feſtigkeit“ ergeben haben würde,
wenn — die Mörder des öſterreichiſchen Thronfolgers feine Kreiſe nicht geſtört
hätten! „Die ruhige Entwickelung wurde durch die Mordtat von Serajewo durch-
kreuzt, und in der Schickſalsſtunde des Auguſt 1914 zog die engliſche Regierung
— ſtatt den Frieden zu erhalten — es vor, ſich dem Kriege gegen uns anzuſchließen.“
Freilich, bis zu dem Augenblicke des Kriegsausbruches glaubte Herr v. Jagow trotz
des blutigen Zwiſchenfalls an feine „ruhige Entwickelung“. Er ſchrieb an den da-
maligen deutſchen Botſchafter in London, Fürſt Lichnowſky, Petersburg werde
nach einigem Gepolter zurückweichen, und er äußerte zum italieniſchen Botſchafter
Bollati, er glaube nicht, daß Rußland marſchieren werde, ſonſt würde es keinen
Agenten nach Berlin geſchickt haben, der hier über Finanzfragen verhandeln ſollte.
Herr v. Jagow iſt noch heute entzückt über die Möglichkeiten, die er aus ſeinen
Annäherungsbeſtrebungen ableitete: „Die zunehmende Frredenta Staliens, feine
Reibungen mit Sſterreich an der Adria, die ruſſophilen und ebenfalls irredentifti-
ſchen Beſtrebungen Rumäniens hätten ihre Bedeutung verloren. Gegebenen-
falls hätten die Oreibundverträge ſich dann modifizieren laſſen. Die Verbindung
mit England würde auch gegen die Übergriffe Rußlands geſichert haben. Die
Verpflichtungen, die unſer Bündnis auferlegte, wären dadurch gemindert wor-
den.“ Oer Krieg überrafchte den fo träumenden Staatsmann wie den über feinen
„Kreiſen“ ſinnenden Archimedes in Syrakus der feindliche Krieger, der ihn bei
der Einnahme feiner Vaterſtadt erſchlug. „Daß England für die angedeutete
Politik der Annäherung nicht zu haben geweſen wäre“, meint Herr v. Jagow, fei
eine Theſe, die unſere einſtigen Anglophoben mit mehr Lungen- als Beweiskraft
immer wieder verkündeten. „Keine Politik iſt jo anpaſſungs- und wandlungs-
fähig wie die engliſche. Das Intrigenſpiel König Eduards VII. war nicht von
ewiger Geltung, und weiterblidende Staatsmänner als diejenigen, denen die Ge⸗
ſchicke des Inſelreiches 1914 anvertraut waren — man denke an die Pitts, Disraeli,
Salisbury —, haben andere Anſchauungen über die Orientierung Englands Nautſch⸗
land wie Rußland gegenüber vertreten. Auch nach dem Eintritt Deutſchlands in
die Weltpolitik blieb die Welt groß genug, um beiden Reichen und Völkern ihre
corbach: Englith-deufide Freundfhaft? E
Betätigung neben- und miteinander zu geſtatten. Vorhandene Reibungsflächen
ließen ſich durch Ausgleich zu beiderſeitigem Vorteil glätten. Die Abmachungen
über Bagdad und die Kolonien, die bei Kriegsausbruch vor dem Abſchluß ſtanden,
ſind Beweis dafür.“ |
War es für Herrn v. Jagow als verantwortlichen Leiter des deutſchen Aus-
wärtigen Amtes fo völlig einerlei, daß ſich beim Negierungsantritt König Eduards
bie weltpolitiſchen Machtverhältniſſe ſeit den Tagen der Pitts, Disraeli, Salis-
dury gründlich gewandelt hatten? Er ſieht in Englands weltpolitiſcher Neuorien-
tierung nach dem Burenkriege nichts als ein „Intrigenſpiel König Eduards“.
Eine ſonderbare Geſchichtsauffaſſung für einen modernen Staatsmann!
Eine verläßliche engliſch-deutſche Freundſchaft hätte ſich für eine Reihe von
Jahren während des Burenkrieges und der Boxerunruhen begründen laſſen. Da-
mals ging der Verſuch einer Annäherung von England aus. Das Opfer, das wir
bringen ſollten, erſchien uns zu groß: Rußlands „Freundſchaft“. Rußland hatte
während des Burentrieges den britiſchen Einfluß in Aſien überall zurückgedrängt.
Ein Verharren in der einſt „glänzenden“ Iſolierung mußte England am Hindu-
tuſch wie in Perſien und vor allem in China unvermeidlich immer mehr Boden
an Rußland verlieren laſſen. Schon vor dem Kriege hatte Rußland feine Macht-
ſphäre immer weiter ausbreiten können. Vergebens ſuchte England in China
eine kraftvolle Gegenbewegung gegen Rußlands Vordringen hervorzurufen. Im
Kriege mit Japan offenbarte ſich die einſtweilen hoffnungsloſe Schwäche des
Reiches der Mitte. Statt ſich nun auf die Seite des aufſtrebenden, mit ihm gleiche
Ziele verfolgenden Japan zu ſtellen, ließ England die Rückgabe von Liautung zu
und tat nichts, um das Sonnenaufgangsland gegen die Forderungen Rußlands,
Deutſchlands und Frankreichs zu unterſtützen. Was Wunder, daß nach Ausbruch
des Burenkrieges der ganze Norden Chinas ruſſiſcher Willkür faſt widerſtandslos
preisgegeben war! Wäre Oeutſchland damals bereit geweſen, die Rolle zu über-
nehmen, die England dann Zapan übertrug, fo wäre die Grundlage für eine Ver-
ſtändigung gegeben geweſen. Zm Vangtſeabkommen, durch das England und
Deutſchland übereinkamen, den „Status quo“ in China aufrechtzuerhalten, ſchien
Deutſchland Neigung zu einer ſolchen Annäherung zu bekunden. Als jedoch die
Londoner Regierung auf Grund dieſes Abkommens gegen das Vorgehen Rußlands
in der Mandſchurei proteſtierte, erklärte Graf Bülow im Oeutſchen Reichstage, er
wiſſe nicht, was Deutſchland gleichgültiger fein könne als das Schickſal der Man-
dſchurei. Damit war Oeutſchland als Freund für England erledigt; es zögerte
nun nicht mehr, ſich Japan zu nähern.
Eine gegen das Zarenreich gerichtete deutſch-engliſche Politik wäre ſicher
geeignet geweſen, den deutſch-britiſchen Wirtſchaftsgegenſatz, der ſchon damals
die britiſche Handelswelt ſtark beunruhigte, zum mindeſten erheblich abzuſchwächen.
Deutſchland hätte ſich, von England begünſtigt, vorwiegend einer wittfchafts-
politiſchen Durchdringung Oſt- und Südoſteuropas widmen können; ein wohl un-
ausbloiblicher, aber von einer wohlwollenden Neutralität Englands, vielleicht auch
Frankreichs begünſtigter Krieg gegen Rußland, an dem ſich Japan ohne weiteres
beteiligt haben würde, hätte Energien, die Deutſchland im Frieden dem induftriel-
100 Cotbach: Engliſch · deutſche Freunbſchaft?
len Wettbewerb gegen England widmete, gebunden, und nachher würde der Oſten
und Südoſten dem deutſchen Unternehmungsgeift zu vorteilhafte Gelegenheiten
zur Betätigung geboten haben, als daß er die engliſchen Kreiſe auf überſeeiſchen
Märkten allzuſehr zu ſtören brauchte.
Da es anders kam, bereitete ſich England auf eine gewaltſame Auseinander-
ſetzung mit Oeutſchland vor. Man verhehlte ſich in London nicht, daß das Bünd-
nis mit Japan nur von ziemlich beſchränkter Dauer fein könne, ja man ſah klar
voraus, daß die gelbe Großmacht ſich ſpäter zum Todfeinde gerade Englands ent-
wickeln würde. Alſo mußte die Spanne Zeit, bis Japan in feiner Entwickelung
noch weit genug zurück ſein würde, um ihr feſte Schranken ziehen zu können, mit
allen Mitteln ausgenutzt werden, Deutſchland unſchädlich zu machen. Ein fchonungs-
loſer Verleumdungsfeldzug wurde gegen Deutſchland ohne weiteres eröffnet.
„Überall,“ berichtete hierüber Generalkonſul Richard Kiliani in einem im Früh⸗
jahr 1915 gehaltenen Vortrage, „namentlich in Überſee erklangen die uns heute
ſo vertrauten Leitmotive von der aggreſſiven und brutalen deutſchen Militär-
macht, von deutſcher Junkerherrſchaft und mittelalterlicher Staatsauffaſſung, von
Deutſchland als dem Feind der Menſchheitskultur im allgemeinen und der „Pax
Britannica“ im beſonderen, der die Heinen Staaten bedroht und auf Argliſt, Krieg
und Streit ſinnt. Es klang fo etwas durch wie ein Gegenſatz zwiſchen Licht, Frei-
heit, Recht und Dunkel, Sklaverei und Willkür. Aus jedem Reiſebericht eines hol-
ländiſchen Profeſſors z. B. wurden die Sätze herausgeholt, die uns räuberiſche
Abſichten auf den niederländiſchen Inſelbeſitz andichteten, um dann wochenlang in
Leitartikeln breitgetreten zu werden; die Proteſte der deutſchen Vertretung er-
ſchienen in irgendeiner ſchwer auffindbaren Zeitungsecke. Wir waren ſo etwas
wie internationale Strauchdiebe und Wegelagerer, die hinter jedem Buſch dem
friedlichen Kaufmann auf allen Handelsſtraßen der Welt auflauerten; wir waren
immer der Schurke im engliſchen Theaterſtück. Wir waren die tollen Hunde, die
die Nachbarn an die Kette legen und bewachen mußten. Namentlich der preußiſche
Zunker war der Schrecken der politiſchen Straßen Europas, der kleine Nationen,
die ihm über den Weg kommen, blutend und zerquetſcht wegſchleudert. Wir be⸗
kämpften mit den unlauterſten Mitteln der Hungerlöhne und billigen Sträflings-
arbeit und der Staatsſubventionierung von Truſts und Syndikaten das allein eines
geſitteten. Volkes würdige Spiel der Kräfte, das in der britiſchen Welt herrſchte,
und ſuchten überdies noch durch beſtellungswidrige Lieferungen minderwertiger
Waren und Falſchdeklarationen Gewinne zu erzielen und Frachten zu ſchinden.“
Neben dieſer Hetze lief ein planmäßiger geheimer amtlicher Boykott einher. Wir
wurden bei öffentlichen Lieferungen in engliſchen Kolonien, namentlich ſolchen
der Kommunen, ausdrücklich ausgeſchloſſen, und auf der ganzen Welt gab es
keinen Bahnbau, kein elektriſches Projekt und keine Staatsanleihe, vor dem die
engliſche Politik nicht Hinderniſſe für uns aufgeworfen hätte.
Inzwiſchen konnte Japan, auf das Bündnis mit England geſtützt, Rußland
beſiegen, ſchwächen und ſeinen Anſpruch auf Vorherrſchaft in Oſtaſien zunichte
machen. Zwar fiegten die Japaner mehr, als es ihren Bundesgenoſſen lieb ſein
konnte, aber da es England mit amerikaniſcher Hilfe gelang, die gelbe Großmacht
cocbach: Engliſch· deutſche Freundſchaftꝰ ! 101
um die erhoffte Kriegsentſchädigung zu bringen, geriet dieſe in eine ſo drückende
Abhängigkeit vom Londoner Geldmarkt, daß die britiſche Weltmacht für abſeh-
bare Zeit vor ihr geſichert zu ſein ſchien. Gleichwohl ließ Großbritannien durch
die Erneuerung des britifch-japanifchen Bündnisvertrages kurz vor Abſchluß des
Friedens von Portsmouth eine ſolche Ausdehnung des japaniſchen Macht-
ſpielraums zu, daß nur der feſte Entſchluß der engliſchen Staatsmänner, mit der
„deutſchen Gefahr“ fertig zu werden, bevor Japan ſich aus feiner Schuldfnecht-
ſchaft befreit haben könnte, das Wagnis erklären konnte, das für die engliſchen
Lebensintereſſen mit der Begünſtigung japanifher Machtentfaltung verknüpft
war. England überließ ſeine wichtigſten überſeeiſchen Intereſſen dem Schutze
gapans, ſuchte in feinen Kolonien japaniſche Intereſſen zu begünſtigen, ſicherte
ſich, nachdem es durch Einfügung einer befonderen Klauſel in den Bündnisvertrag
mit Japan den Fall eines pe nchen Krieges aus feinen Bündnis-
pflichten ausgeſchaltet hatte, heimlich die wohlwollende Neutralität Amerikas für
die kommende Auseinanderſetzung mit Deutſchland und betrieb währenddeſſen
nach Zuſammenziehung faſt ſämtlicher Seeſtreitkräfte in europälfchen Gewäſſern
mit Hochdruck die Einkreiſung des Deutſchen Reiches. Für den früheren Staats-
ſekretär des deutſchen Auswärtigen Amtes handelte es ſich dabei freilich um nichts
als ein „Intrigenſpiel König Eduards VII.“, das nach deſſen Tode ſeinen Traum
von einer in „ruhiger Entwickelung“ ſich bildenden, England mit dem Dreibunde
feſt zuſammenſchließenden „Friedensblock von unangreifbarer Feſtigkeit“ nicht
hätte zu ſtören brauchen, wenn die „Mordtat von Serajewo“ nicht geſchehen wäre!!
Auch wenn das britiſche Weltreich dank unſerer Siege durchaus morſch aus
dem Kriege hervorgeht, liegt die Gefahr vor, daß es ſeinen Lenkern gelinge, es
durch ein dienſteifriges Oeutſchland nach Friedensſchluß wieder feſti—
gen zu laffen. Alle Ergebniſſe der Friedensſchlüſſe im Oſten wären zu teuer er-
kauft, wenn wir, um des Einverſtändniſſes der Weſtmächte willen, darauf ver-
zichteten, den künftigen Frieden gegenüber den angelſächſiſchen Mächten zu einer
Fortſetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu machen, es ſei denn, die Macht-
haber in London und Waſhington bewieſen uns wirklich ein Entgegenkommen,
an das fie vorläufig auch nicht im Traume zu denken ſcheinen. Zu einer erfolg-
teichen Geltendmachung deutſcher Lebensintereſſen gegenüber der britiſch- ameri-
Imifchen Diplomatie gehören aber Staatsmänner anderen Schlages als
die, die in den letzten Jahren vor dem Kriege, nachdem ſie die geſamten gewaltigen
weltpolitiſchen Machtverſchiebungen ſeit Ausbruch des Burenkrieges verſchlafen
hatten, von einem deutfch-englifchen Friedensblock träumten, während das tückiſche
Abion auf der Lauer lag, über uns herzufallen, ſobald wir uns erſt in einen Krieg
mit den gegen uns planmäßig verhetzten Nachbarn verwickelt haben würden.
102 Schultheis: Gibraltar
Gibraltar
Von L. M. Schultheis
ib“ nannte es der junge engliſche „Sub“, der zum erſtenmal hinaus-
kommandiert wurde — Gib, mit der Inſolenz des Weltreichbeſitzers,
deſſen Epigonenhirn darauf ausging, das Unbegriffene oder Miß
„ verftandene handlich und mundgerecht zu machen und vor allem
es des „Anfinns“, d. h. etwaiger Anklänge an Romantik zu entkleiden, die ihm
anhaften mochten. Er begrub damit den alten Abenteurer Tarik unter den Trüm-
mern der arabiſchen Vokabeln, aber das wußte er nicht, ſcherte ib: aach keinen
Strohhalm oder kein damn. Eines Tages ſtand er, mit tadelloſen Tennishoſen
und Reitbrecches in feinem Kit, auf dem Säumchen Sand, das den Fels berändert,
ſo ſelbſtverſtändlich und mit ſo gutem körperlichem und ſeeliſchem Gleichgewicht
breitbeinig, wie das britiſche Reich auf andern hervorſtechenden Punkten des
Aniverſums. Er ſah den Fels belebt von einer Handvoll Rotröcke, Tommies,
die ein Endchen jener dünnen roten Kordel bildeten, mit der die Welt zu einem
engliſchen Paket verſchnürt wurde; er war ſich der maskierten Batterien, deren
große Rachen die Meerenge beherrſchten, fo ſelbſtverſtändlich bewußt, wie man
etwa der eigenen Schwerkraft bewußt iſt, und da, wo er ſeinen Kit auspackte,
war England. |
Eigentlich aber war er in Spanien. Eigentlich ſtand er auf dem politifd
erſtaunlichſten Fußbreit Geſtein, das die Erde aufweiſt. Die paar Quadratmeter
Land waren, wenn man ſo will, ein Epitome engliſcher Politik, ihrer Tendenz,
Kühnheit, Weitſichtigkeit, ihrer Piraterie und Gewiſſenloſigkeit, ihrer Fähigkeit,
Rechtsbegriffe zu verwirren, das notwendig gewordene Verbrechen gegen das
Recht als Wohltat hinzuſtellen, mit fettgepolſtertem Gewiſſen die Welt ſo zu ſehen,
wie ſie ſie zu ſehen wünſchte.
Darum hat ſich kein junger Sub je gewundert über dieſes Gibraltar, wenn
er zum erſtenmal den Löwenfels aus den Waffern tauchen ſah. Die ungeheure
Tatſache, daß eine lebendige Rippe aus dem ſpaniſchen Leib geriſſen war, um
einem fernen Inſelvolk als Keule zu dienen, erſchien ihm ſelbſtverſtändlich. Ein
einziges Mal habe ich es erlebt, daß ein Engländer der ſeltſamen Situation fünf
Sekunden des Staunens widmete, aber der hatte deutſches Blut.
Die langgeſtreckte Geſtalt der Halbinſel, die mit engem Hals am Feſtland
hängt, ermöglicht es, fie faſt ganz zu umſteuern. Sie zeigt dabei wechſelnde, ver
wirrende Silhouetten; von einem Punkt jedoch hat fie die Geſtalt eines ungeheu⸗
ren liegenden Löwen. Das ruhevolle britiſche Wappentier hat die Meerenge
unter den Pranken, mit ihr zugleich das ganze Mittelmeer. Denn von Zeit zu
Zeit waren dieſe Pranken gefüllt mit Geſchwadern eiſengrauer Ungetüme, kanonen
beſtückt, machtdemonſtrierend. Eines Morgens ſind ſie verſchwunden, und der Fels
liegt harmlos, unbedrohlich in der Sonne. Er ſieht aus, als ob ein Kind ihn ein
nehmen könne, ein Kind, das von maskierten Batterien nichts weiß. Auf dem
verlaffenen Streifen Strand ſtieß ich eines Tages auf einen Mann in einer Art
Schultheis: Gibraltar 103
Uniform, halb militärisch, halb ſeemänniſch. Er ſchulterte ein Gewehr. Zch fragte
ihn, was ſeine Beſchäftigung ſei, und er erwiderte in gebrochenem Engliſch, er
ſei ein Küſtenwächter in engliſchen Dienſten — ein Spanier. Nachdenklich ging
ich davon. Und weiß Gott, ich habe bis heute noch nicht aufgehört, nachzudenken
über den Mann, der da zwiſchen Welle und Fels aufpaßte, daß ſein Heimatboden
in den Händen der Uſurpatoren verblieb.
An der Weſtſeite des Felſens liegt, in bedeutender Höhe, ein altes mauriſches
Raitell. Die engliſche Regierung benutzte es als Gefängnis, und der Eintritt war
Fremden verboten. Der Ausſicht halber und auch ein wenig der Romantik halber,
die aus alten weißen Mauern winkte, kletterte ich eines Tages hinauf durch die
glühend heiße Stadt mit ihren Treppengaſſen und gäßchen auf ſpaniſche Manier.
Droben wehte ein kühler Wind vom Meer herauf, und etliches Grün umgab mich.
Aber der Schritt unter dem weiten Torbogen wurde gehemmt durch das Plakat:
Verboten. Ein paar ſpaniſche Kinder balgten ſich auf den Steinflieſen — die
ſchlichtende Mutter erblickte mich und bat mich mit echt ſpaniſcher Höflichkeit, ein-
zutreten und die Ausſicht zu genießen.
Es war einer jener Blicke, die man nie vergißt. Ein Gärtchen mit einer Art
Felsbalkon, der ſo an der Bergſeite hing, wie der Mirador der Königin an der
Alhambra, und auf ſeine Weiſe ebenſo Wunderbares rahmte wie jener. Nämlich
die lebendige, farbige Landkarte der Meerenge mit den beiden Kontinenten.
Drüben Afrika, ſilbervergoldet, einen Steinwurf weit; unter mir der Abfall des
Felſens und das platte Land, das zum ſpaniſchen Feſtland hinüberleitet. Eine
Straße führte dahin, von zahlreichen winzigen Menſchen belebt, vom engliſchen
Gebiet fort auf den Streifen Neutralland, der es von Spanien ſcheidet. Weit-
wärts über der Bucht tauchten die weißen Häuſer von Algeciras auf, wo man
einft konferierte über das Schickſal der Welt inmitten der Farbenorgien von Bou—
gainvillia und Hibiskus im Hotel „Reina Cristina“. Dahinter dehnte ſich Spa-
nien ins Ungemeſſene, Verdämmernde.
Damals flogen meine Gedanken nordwärts mit dem nordwärts rollenden
ſpaniſchen Land, und ich dachte an unſeren eigenen Felsblock im Meer: Helgo-
land! Von dem war die engliſche Ferſe genommen worden. Wie? Auf gütliche
Art; durch ein Glück im Schlaf, durch ein augenblickliches Nachlaſſen der ſom-
nambulen Sicherheit, mit der England feinen Imperatorweg geht? Gleichviel!
Heute hätten die Waffen erſtreiten müſſen, was die ahnungsloſen Federn nicht
erlangten. Denn die engliſche Ferſe hätte im deutſchen Angeſicht geknirſcht. Das
konnte nicht ſein!
Aber Spanien? Das unerlöfte Spanien? Das den Nacken beugen mußte
vor der fremden Zwingburg, ſooft feine Schiffe von Cadiz nach Malaga fuhren?
Wie ertrug es dieſe Schmach? War das einſt ſtolzeſte Land zu ſolcher Unempfind-
lichkeit herabgeſunken, daß es ſeine Lage ebenſo ſelbſtverſtändlich fand wie der
junge engliſche Sub?
Die erſte Antwort auf dieſe Frage gab mir ein Spanier im Alkazar zu
Sevilla. Es war ein Fremdenführer, ein wortkarger Mann. Er ließ mich auf
meine Art durch die hohen Säle ſtreifen, die herrlichen Azulejos ſtumm bewun-
104 | Zungnickel: Frühlingsverſe
dern, im Garten unter den Dattelpalmen den ſonnenheißen Buchsduft in mich
einſaugen und an Spaniens große Toten und große Zeiten denken. Als ich ihm
ſagte, wie ſchön mir das alles erſchiene, Granada mit feiner Alhambra und hier
wieder Sevilla mit feinem Alkazar, feiner Giralda und dem Grab feines Rolum-
bus, wie ſeltſam die Luft noch erfüllt ſei von den hohen Träumen der Toten, da
riß er ſich aus ſeiner Abgekehrtheit los und hob die Hand ſo hoch, als ſeine Statur
erlaubte: „Damals war Spanien ſo, Señora — jetzt iſt es fo!“ und er ließ die
Rechte mit tiefer Niedergeſchlagenheit ſinken.
Ich ſtand an dem kleinen Springbecken, in dem Maria da Padilla ihre wunder-
ſame Schönheit zu ſpiegeln pflegte — erſchüttert ob eines Völkerſchickſals und mit
dem Stoßgebet für mein eigenes emporblühendes Land: Herr Gott, ſoweit es
an uns liegt, laß uns ſo wirken, daß ſobald keiner aufſtehen und die Hand erheben
kann: Damals. ..!
An jenem Tag iſt noch das Wort „Gibraltar“ gefallen, und da erfuhr ich,
wie tief das Wort einſchneidet in das Herz eines ritterlichen Volkes, ja daß man
jagen möchte, wie die Königin Maria von England ſagte von Calais, das fie ver-
lor: Nehmt mir das Herz heraus und ihr werdet „Gibraltar“ darauf eingegraben
finden. |
Heute weht ein ſeltſamer Wind in Spanien, ein friſcher Wind, ein Auf-
erſtehungswind, der neue Schoſſe am alten Baum hervorbringt. Es ſcheint, als
ob zu altem Stolz neue Tatkraft ſich geſellen wolle, und als ob man neue Ziele
auf die alten Fahnen ſchriebe.
Eines dieſer Ziele wird Gibraltar heißen.
Frühlingsverſe Von Max Jungnickel
Der Himmel fängt ſchon leiſe an zu klingen.
Und hinter Kugelpfeifen will die Lerche fingen.
Der Kirſchbaum, der am Graben ſteht,
Uns weiß von Blüten überweht.
Im Unterſtand, am Fenſter grau,
Da hängt des Himmels ſchönſtes Blau.
In meinem Traum, im Sternenlicht,
Beugt ſich dein treues Angeſicht.
Das bettelt ſüß und liebevoll,
Daß ich nach Hauſe kommen ſoll.
Diers: Von ber Frauenfrage, wie fie heute iſt j | 105
Von der Frauenfrage, wie fie heute iſt
Von Marie Diers
SAL
er vor 12—15 Fahren einige Kenntnis von der Frauenbewegung
genommen hatte, muß heute ſtaunen, was aus ihr geworden iſt.
. Nicht in betreff deſſen, was erreicht iſt. Dieſes lag im Lauf der
—angeſetzten Linie und war im ganzen durchaus zu erwarten,
wenn u natũrlich Einzelzüge keiner Vorberechnung e
Das Erſtaunen ſetzt an einem andern Punkt ein.
Vor einem reichlichen Dutzend Jahren war die ganze Frauenfrage noch ein
ziemlich undurchdringliches Durcheinander. Sie ift eine Frage, die ſich mit keiner
andern vergleichen kann, da ſie zu jeder Einzelperſon eine unmittelbare Beziehung
hat. In ihr iſt ein jeder Sachverſtändiger — und niemand. Jeder betritt das Gebiet
mit ſeinen perſönlichen Erfahrungen, und am Ende haben dieſe Erfahrungen doch
keinen Allgemeinwert. Weil ſich die Frage nicht auf einem abgetrennten Gebiet,
etwa dem der Arbeitsgelegenheit oder dergleichen halten kann, ſondern ſtets auf
die „Natur und Beſtimmung des Weibes“ zurückgreifen muß, iſt die Anlösbarkeit
der Frauenfrage als ſolcher zur Tatſache geworden. Der Dualismus, die Zwei-
teilung, die das Leben der Frau durchſchneidet und in den beiderſeitigen Höhe-
punkten: hie Beruf — hie Mutterſchaft! gipfelt, läßt keine Verfchmelzung der
Gegenſätze und keine Löſung zu.
Es war nun in betreff der Kämpfe hüben und drüben natur- und ordnungs-
gemäß zu erwarten, daß die Frauenbewegung, aus der Not- und Brotfrage ent-
ſpringend, dem geiſtigen Hunger Nahrung ſchaffend und die müßigen Kräfte
einordnend — alſo als notwendige Kulturerſcheinung, an eine Grenze kommen
mußte, an der es hieß, ſich mit der großen Gegenkraft zu verſtändigen, einzurichten
mit den gegebenen Geſetzen der Natur. In möglichſter Ordnung konnten ſich
dann die beiden Reiche, die der Dualismus in der Frau ſchaffen mußte, neben-
einander ausbreiten. Die Grenzplänkeleien würden freilich nie aufhören, Einzel-
fälle mußten immer ſtrittig bleiben. Aber als Zeichen einer vorgeſchrittenen und
vornehmen Kultur war dieſe Verſtändigung, die Errichtung einer klaren Grenz-
ſcheide unerläßlich und ſtand für alle, die damals den Kampf beobachteten, zu er-
warten. Ja, es hätte eine Beleidigung der klugen und tüchtigen Führerinnen
der Frauenbewegung geſchienen, wenn man an dieſem Ausgang hätte zweifeln
wollen.
In dieſem ſicheren Vertrauen auf Überlegenheit und Weisheit der Berufenen
mag der Grund liegen, datz viele Frauen, deren Sinn fonft offen iſt für das all-
gemeine Wohl und Wehe, im Lauf der Jahre, als die Wogen ſich glätteten, die
Frauenbewegung — vergaßen und nun, inmitten des Krieges, durch ſeltſam grelle
Trompetenſtöße aufgeſchreckt, in eine unerwartete Geſtaltung der Dinge hineinſehen.
Die Frauenbewegung hat ſiegend das Land bezogen und ihre Banner über-
all aufgepflanzt. Sie gebietet im weiblichen Berufsweſen, auch im Schulweſen,
das ſchon ſtark in das Leben der Andersgläubigen hinübergreift, überwiegend
106 Diers: Von der Frauenfrage, wie ſie heute ift
auch in der Wohlfahrtspflege. Und das Bemerkenswerteſte iſt: die Gegenſtimmen
ſind verſtummt, faſt alle. Man nimmt ſie und ihre Herrſchaft jetzt in allen Kreiſen
als gegeben hin.
Dieſer anſcheinend ſchöne Zuſtand, der einem Friedensſchluſſe gleicht und
uns erfreuen könnte, iſt aber nicht auf einer klugen, gerechten und überlegenen
Verſtändigung der beiden Gegenkräfte erfolgt, ſondern durch einen Sieg des einen
und ein Unterliegen und Zurückweichen des anderen Teils weit über feine natür-
lichen Grenzen hinaus.
Die Frauenrechtlerinnen ſind (um in der Sprache der Gegenwart zu ſprechen)
als „Annexioniſtinnen“ aufgetreten, die auf dem ihnen weſensfremden Gebiete
Eroberungen machten und weitere planen, und die das „Selbſtbeſtimmungerecht“
ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen verletzen, ſoweit dieſe Frauen und Mütter ſind. Denn
ſie ſprechen in ihren Eingaben uſw. ſtets im Namen aller deutſchen Frauen, und
eines ihrer Hauptorgane, „Die Frau“, führt den Antertitel „Monatsſchrift für
das geſamte Frauenleben unfrer Zeit“.
Wir haben jetzt folgendes Bild:
Die Wege für die gelehrte Bildung der Mädchen ſind nach allen Richtungen
geebnet. Durch Oberlyzeen und Studienanſtalten führen breite Pfade zur Ani-
verſität. Was früher begabte Mädchen ſich in Einzelkurſen und privater Arbeit,
vielfach unter dem Hohn und Zorn von Verwandten und Freunden mühſam er-
ringen mußten, kann jetzt ohne irgendwelche Erſchwerung und mit Zuſtimmung
und Bewunderung der Familie erreicht werden.
Während aber derart für die gelehrte und fachliche Ausbildung der Mädchen
geſorgt wird, konnte die andere Seite, die hausfraulich-mütterliche ſoweit vergeſſen
werden, daß vor etwa 2 Fahren der große Sturmlauf um das weibliche Dienit-
jahr entitand, der deutlicher als alles die Mängel in dieſer einſeitigen Ausbildung
bloßlegte. Betroffen, über dieſen Fehler ertappt zu ſein, griffen auch hier die
Führerinnen mit geſchickten Händen zu und ſuchten durch tätige und leitende Be-
teiligung an der hauswirtſchaftlichen Bildung den Mangel auszugleichen.
Das alles könnte auch noch erfreulich ſein und wirkt auf die Harmloſen ohne
Zweifel in dieſer Richtung. Aber leider reckt ſich hinter allen dieſen guten und
nützlichen, ja ſegenbringenden Beſtrebungen ein gieriger Arm hervor, der höher
und höher greift, deſſen Finger jetzt ſchon unverhüllt nach dem lockenden Apfel
weiſen: Weibliches Stimmrecht.
Auch dieſe Tatſache könnte uns ruhig laſſen, wie ſie die Mehrzahl der Frauen
heute noch unbeſorgt läßt. Was kommt denn darauf an, ob die Frauen auch noch
ihre Stimme abgeben? Dann hat man eben doppelt fo viele als vorher. Außer-
dem iſt es ja nur eine Sache der Gerechtigkeit, daß wenigſtens die feen
Frauen auch mitbeſtimmen dürfen.
Dieſer harmloſen Auffaſſung gegenüber iſt es nötig, einige Feſtſtellungen
zu machen, die ihr wohl für alle nicht abſichtlich Blinden die Harmloſigkeit nehmen
müßten.
In ſtaatlicher Hinſicht bedeutet die Erteilung des Frauenſtimmrechts eine
unmittelbare Gefahr für das Vaterland. Es würde zunächſt die Sozialdemokratie
Olers: Von der grauenfrage, wie ſie heute iſt 107
ihre Frauen, die ſie feſt am Zügel hält, ſammeln und geſchloſſen vorgehen. Die
Zahl der ſozialdemokratiſchen Stimmen würde ſich (lebendes Beiſpiel:
Finnland!) auf das Doppelte erhöhen, ein ganz ſchiefes Verhältnis geſchaffen
werden. — Andrerſeits: nehmen wir an, daß die Frauen aller Parteien ſoweit
aufgeklärt würden, um ſich an der Wahl zu beteiligen, jo würde ihre Zahl die
der Männer überwiegen, wir hätten alſo einen Frauenſtaat.
Dieſes Experiment können ſich vielleicht kleine Staaten leiſten, für eine Groß
macht bedeutet es den Anfang zu einer Zerſetzung der Staatsautorität und Schlag-
ktaft, und unter allen Großmächten kann Deutſchland am wenigſten mit dieſer
Zerſetzungsgefahr ſpielen, denn es braucht wie kein anderes Land eine männliche
Staatsform, ſtraffe Einordnung des einzelnen im Ganzen. Das haben wir jetzt
erlebt, das iſt uns beſtätigt genug und übergenug! Nur ein aufs Einzelkleine ge⸗
tihteter Blick, nur ein hoffnungsloſer Dilettantismus kann dieſe Grundbedin-
gung eines großen geſunden Staatslebens ſo völlig überſehen, daß er um einzelner
Sonderrechte und freuden willen ſich an ihr vergreifen will!
Dem Vaterlande tun wir einen ſchlechten Gefallen, wenn wir ihm das
Frauenſtimmrecht beſcheren. Wir bringen es in die unmittelbare Gefahr, ſeine
ohnehin ſchwer bedrohte Geſchloſſenheit ganz und endgültig zu verlieren. Aber
wir führen es auch mittelbar einem ſchweren Schaden zu, indem wir durch Boliti-
ſierung der Frauen die Familie zerſetzen.
Jene, die uns das weibliche Stimmrecht erkämpfen wollen, denken ſehr
leicht darüber. Die Familie gilt ihnen nicht als ein koſtbarer Beſtandteil der Nation,
als der Kern ihrer Geſundheit, Kraft und Kultur. Die Führerin der Stimmrechts-
bewegung, Marie Strill, ſagt in Beziehung darauf: „Die Frauenbewegung als
ſolche kann eigentlich nur als eine radikale aufgefaßt werden, denn ſie erſtrebt eine
Beſeitigung der Wurzeln, eine Anderung der Grundlagen der heutigen
Geſellſchaftsordnung.“ Und Helene Lange, die erſt Gemäßigte, der unſre
Lehrerinnenſchaft ihren Aufſchwung — aber auch wohl ihre Familienentfremdung —
verdankt, die ſich jetzt ganz zu den Stimmrechtsforderungen bekennt, ſpricht von
„dem großen kulturellen Werdegang, der die Funktionen der Familie mehr und
mehr der Gemeinſchaft überträgt“. „Bleibt darin“, fährt fie fort, „die Kultur
arbeit der Frau auf die Familie beſchränkt, ſo vermag ſie nicht mehr den ſpezifiſchen
weiblichen Einſchlag von geiſtigen Werten der Kultur zuzuführen.“
Es läßt an Deutlichkeit nicht viel zu wünſchen übrig, einen wie unwefent-
lichen Platz in der Bewegung die Frauenrechtlerinnen der Familie einräumen.
Dieſer Faktor ſpricht für ihre Erwägungen kaum mehr mit. Sie ſehen der Auf-
löſung ruhigen Herzens zu und helfen ſelber noch an der „Beſeitigung der Wurzeln“.
Sch habe daher nur noch darauf hinzuweiſen, wie ſchon die Miſchehen ein dunkler
Punkt im Volksleben ſind, wie nichts die Gemüter ſo erhitzt wie Religion und
Politik, und wie es ein törichter Irrtum iſt, zu glauben, eine Frau, die wählen darf,
würde ſich nur in der Wahlſtunde damit beſchäftigen. Grade die Frauen, die an
Radikalismus und perſönlichem Ehrgeiz viel mehr leiden als die Männer, würden
die Politik in ihrer häßlichſten Form, die Kleinpolitik, in . Familien ſchleppen,
zu deren wachſendem Unheil.
108 Diers: Von der Frauenfrage, wie fie heute Ift
Laßt uns dieſe Sache nicht mit einer vornehmen Handbewegung abtun,
uns nicht durch die Ewigſtumpfen, die kein Stimmrecht aufrütteln würde, durch
die Glücklichen und Harmoniſchen, die mit ihren Männern eines Sinnes fein wür-
den, den Blick verdunkeln laſſen vor der heraufſteigenden Verwirrung. Unſer
deutſches Familienleben iſt fo etwas Unerſetzliches, daß ein ganzes Füllhorn von
„Rechten“ uns feinen Verluſt nicht wettmachen würde — aber es iſt nichts Uner-
ſchütterliches. Das moderne Leben hat ſchon genugſam an ihm genagt, von mancher
ehemals ſtolz-ſchönen Burg ſtehen nur noch die Trümmer. Wir dürfen es nicht
unbedenklich und unbeſonnen immer neuen Angriffen ausſetzen. Wir müſſen
Mauern um ſeinen Beſtand ziehen. Ja mehr: wir müſſen arbeiten und denken
und ſorgen mit aller Kraft, daß wir es in ſeiner alten Reinheit und Stärke wieder
aufbauen, neu gründen!
Unſre beiten Söhne da draußen, die nicht mehr find, unfre edelſten und kraft⸗
vollſten Männer, ſie erblühten alle aus einem ſtill umhegten Familienglück. In
Penſionaten, Hotels und Anſtalten wächſt dies Geſchlecht von Helden nicht heran.
Den reinen, ſtolzen Idealismus, der unſer Heldentum ſchafft, der wächſt nicht auf
dem dürren Boden, aus dem die Wurzeln der Familie herausgezogen und zu
Kleinholz zerhackt ſind. |
Das iſt es — da Stehen wir an dem Punkt, an dem die Frauenrechtlerinnen,
die Anvermählten, die Familienfremden und Familienverächterinnen über ihre
Grenzen hinübergegriffen haben. Da ſie über Dinge reden, die ſie nicht verſtehen,
deſſen tiefſter, heiligſter und künſtleriſcher Kern ihnen fremd iſt — oder fremd ge—
worden in der Verarmung eines nur auf Linien und Zahlen gerichteten Lebens.
Gehen wir von der idealen Seite der Frage auf die praktiſche über, ſo ſteigt
durch die Politiſierung der Frau, durch die damit wachſende Erſchließung höherer
Berufe auch für die Maſſe, die Not der Mütter und Hausfrauen vor uns auf,
die ſich nach Hilfskräften umſieht und keine mehr findet. Und mehr: im dichten
Anſchluß daran ſteigt das Geſpenſt unſres Volkes, das uns ſeit 40 Jahren näher
und näher rückt: der Geburten-Rückgang empor!
Deutſchland hat die größte Säuglingsſterblichkeit in Europa — und warum?
Weil ſeine Frauen am ſtärkſten in die Erwerbstätigkeit geriſſen ſind, am wenigſten
ihre Kinder ſelber ſtillen. Noch halten wir durch die große, herrliche Arbeit, die
auf dem Gebiet der Säuglingsfürſorge geleiſtet wird, unſere Zahl. Wenn wir ſie
nicht mehr halten, ſind wir ein ſterbendes Volk — dann gehen alle Güter, alle
Ideale, die nur in Deutfchland ihre Statt haben, mit uns unter.
And dieſen — Fragen gegenüber ſpielt ein kleiner aber ſehr — ſehr einfluß-
reicher Teil unſrer Frauenſchaft mit der Politiſierung.
* *
At
Es ſind hier immer wieder dieſelben Schlagwörter, die man hört, denn
Schlagwörter ſind jetzt an der Mode.
„Die Frauen müſſen das Stimmrecht haben, denn ſie haben im Kriege ſo
vortreffliche Arbeit geleiſtet.“
Die Antwort wäre: erſtens: „Sie, die die meiſte Arbeit leifteten, die Land⸗
frauen, denken gar nicht an das Stimmrecht.“
Siers: Von ber Frauenfrage, wie ſie heute ift 109
Zweitens. „Oieſe gute Arbeit ift ja grade ohne Stimmrecht getan.“
Drittens. „Soll eine Belohnung für Selbſtverſtändliches erteilt werden?“
Viertens. „Für wen iſt die Arbeit getan? Doch nur für das eigenſte Lebens-
intereſſe. Das Vaterland ſind wir.“
Ein andres, oft gebrauchtes Schlagwort. „Ein Knecht, ein ungebildeter
„Portier“ darf ſtimmen, die gebildete Frau muß zu Haufe bleiben.“
Antwort. „Es iſt anzunehmen, daß Hindenburg und Ludendorff wohl etwas
mehr von Politik verſtehen, als die klügſte Frau. Auch ſie dürfen nicht wählen,
und nicht deshalb, weil fie etwa ‚politiſch unmündig“ find, wie man jetzt immer
llagend von der Frau ſagt.“
Veiter: „Für die Rechte der Frauen müſſen Frauen eintreten.“
Antwort. „Die Frauen, die am meiſten Zeit und Geſchick für das öffentliche
Leben haben, ſind grade nicht die mütterlich empfindenden Frauen, ſondern wohl
kluge, aber mehr männlich gerichtete und geſchulte Elemente, die die Intereſſen
der Mutter und Gattin oft weniger vertreten werden, als es einem Familienvater
möglich iſt.“ |
„Wir find aber da, für den Fortſchritt zu arbeiten!“
„Was iſt Fortſchritt? Im Namen des Fortſchrittes arbeiteten auch die Leute,
die in den alten Städten das köſtliche Schnitzwerk an den Häuſern beſeitigten und
die banale Glätte einer billigen Moderniſierung einführten. Wenn lebensvolle
und künſtleriſche Gliederung einer flachen Gleichmacherei wich, glaubte noch jeder
Dilettant, einen „Fortſchritt“ zu erleben.“
„Wie will man den Frauen wegen Unreife das Stimmrecht verweigern,
da doch auch die Männer bis in allerhand Spitzen hinauf uns nicht grade das Bild
großer geiſtiger Überlegenheit und Sicherheit zeigen?“
„Wenn ſoviel Männer im Völkerrat ſchon unreif ſind, wollen wir dann die
Zahl der Unreifen noch verdoppeln? Dieſe ganze Frageſtellung iſt ſchief. Das
Stimmrecht iſt keine Tüte Bonbons, vor der die kleinen Mädchen ſchreien: die
dummen, ungezogenen Jungens haben davon gekriegt, nun wollen wir auch!
Sondern die Frage muß lauten: „Dient das weibliche Stimmrecht dem Vaterlande
zur Erhaltung und Mehrung ſeiner Größe und Kraft? Und womit ließe ſich das
erweiſen?“ |
Zum Schluß von uns aus eine Gegenfrage:
„Warum ſoll das weibliche Stimmrecht grade während des Krieges, da die
Männer draußen ſtehen, errungen werden?“ Wir warten auf Antwort.
* *
1.
Etwa ein Drittel unſrer weiblichen Bevölkerung ſteht im Erwerbsleben.
Freilich iſt grade in den Jahren vom 30. bis 50., der beſten Kraft, / der weib-
lichen Bevölkerung verheiratet und dadurch zumeiſt der Erwerbstätigkeit entzogen.
Aber rechnen wir mit dieſem Drittel, in das die Dienſtboten eingeſchloſſen find.
So ergeben ſich zwei Folgerungen.
Es iſt ein ganzes Orittel unſrer Frauenwelt! Grund genug, für dieſe Mil-
lionen Arbeits- und Ausbildungsgelegenheit, freie, ſichre, beglückende Lebens
110 Roppin: Abend
bedingungen in Menge zu ſchaffen. Dank und Anerkennung einer Frauenbewegung,
die dies in Kampf und Mühe ſchuf und ordnete!
Aber es iſt andrerſeits nur ein Orittel. Zweidrittel unſrer Frauenwelt
ſtehen unter anderen, ganz anderen Lebensbedingungen. Die Gefahr rückt heran,
daß ſie vergewaltigt werden ſollen durch die Geſetze, die der Minderheit zuliebe
errichtet werden.
Laßt uns dafür ſorgen, daß dieſe geſchützt werden, die ſich nicht ſelber ſchützen,
die aber Deutſchlands Blüte find und feine beſte Kraft, die Frauen und Mütter,
an denen des Landes Geſundheit und Hoffnung hängt!
SS NV Y Y Y 554
zur
— IL
Abend Von Richard O. Koppin
Nun ſtille ſein —
Und ganz für dich allein
Den Stimmen lauſchen
Um dich her
Menſchenleer
Dehnt ſich die Halde —
Wipfelharfen rauſchen
Herüber vom Walde,
Träumeſchwer.
Gräſer ſingen ein ſeidenes Lied —
Tief im Ried
Lockt eine Nachtigall —
Weich
Quellen tropfen
Immer gleich —
Klopfen
Mit ſilbernem Fall
Den ſchimmernden Teich.
Irrende Lichter
Tanzen im Moor —
Dicht, immer dichter
Wagen
Lichtblaſſe Sterne
Leiſe taſtend ſich vor.
Aus Nebelferne |
Tönt Turmuhrſchlagen
Tag ſchloß ſein Tor.
ar
|
ö
|
Hiebrandb: Der Mann ohne Vaterland 111
Der Mann ohne Vaterland
Von Karl Hildebrand⸗Leipzig
ger Teufel hole die Vereinigten Staaten! ch wollte, ich brauchte nie
35 10 wieder etwas von ihnen zu hören!“ Diefe Worte, von geballter,
2 auf den Tiſch ſchlagender Fauſt bekräftigt, ſprach 1806 vor einem
2 Militärgerichte der Leutnant Philipp Nolan, der ſich von den locken
den Ausſichten Burrs, des Vizepräſidenten unter Zefferſon, hatte blenden laffen
und an deſſen Empörung und Abenteuer, ein ſüdliches Königreich zu errichten,
teilgenommen hatte. Er wurde mit ſeinem Chef gefangen genommen und vor
ein Kriegsgericht geſtellt. Den Großen ließ man laufen; die kleinen Sündenböcke
wurden verurteilt. Aus dem Gefühle ungerechter Behandlung heraus erfolgte
der vorgemeldete wütende Ausbruch Nolans.
Die Offiziere des Militärgerichtes hatten den Befreiungskrieg mitgemacht
und verurteilten das Niedertreten der Zdee, wofür fie ihr Leben eingeſetzt hatten,
auf eine beſondere Art. „Der Leutnant iſt des Landesverrates ſchuldig“; — ſo
lautete das Urteil — „er ſoll nie wieder etwas von den Vereinigten Staaten hören.“
Nolan lachte. Er lachte auch, als er an Bord eines Kriegsſchiffes als Gefangener
gebracht wurde; er hielt das alles für eine kurze Poſſe, für eine Laune der Urteilen-
den, ſeinem Wunſche ſich anzupaſſen und zeigte großes Vergnügen an der Seereiſe.
Aber das Lachen verging und das Vergnügen ſchwand, als er nach Ablauf der
Kreuzerfahrt des erſten Schiffes auf ein zweites und drittes geſetzt wurde. Die
däammernde Gewißheit, daß es für ihn keine Heimkehr gäbe, hatte ſchon bei der
zweiten Umladung einen anderen Menſchen aus ihm gemacht. Die Strafe, die
anfangs ſo mild erſchien, war die allerhärteſte, trotzdem er unbeſchränkten Verkehr
mit den Offizieren an Bord hatte und trotzdem der Befehl geachtet wurde, mit
Anſtand ſeiner zu begegnen und ihn nie fühlen zu laſſen, daß er ein Gefangener
ſei! 20 Umladungen auf Kreuzerfahrten, 20 ſchwere Enttäuſchungen der immer
wiederkehrenden Hoffnung hat er in den Jahren von 1807 bis 1863 über ſich er-
gehen laſſen. Das Vaterland, das er verleugnet hatte, ſah er nie wieder, und in
ſeiner Gegenwart iſt in all den Jahren nie von dem Lande feiner Sehnſucht ge-
ſprochen worden, wie es das Urteil verlangte.
Ja, das Land ſeiner Sehnſucht! Denn ſein Leben war ein Leben der Reue,
ein Gutmachen und Vergeſſenmachen ſeiner Leichtfertigkeit. Während des Krieges
mit England verdiente er ſich in einem kurzen Kampfe mit einer engliſchen Fregatte
einen Ehrenſäbel und einen lobenden Bericht nach Waſhington. Es iſt ein Nätfel
geblieben, warum auch bei ſpäteren Verſuchen nach Erlöſung des Heimatlofen
nichts erfolgte. Bei einem Brande des RNegierungsgebäudes in Waſhington waren
die Akten des Prozeſſes mitverbrannt. War es dies? Glaubte man nicht an die
kxiſtenz eines ſolchen Mannes? War die Gegenorder verloren gegangen? Nolan
ſtarb, faſt 80 Jahre alt, mit einem Gebete für fein Vaterland, das ihn über Gebühr
geſtraft hatte. In ſeiner zweiten Heimat, im Meere, liegt er begraben.
112 : | Hein: Abgelöft In den Frühling!
Das alles iſt kein Märchen; und doch wieder iſt es eins. Sogar ein deutſches
könnte es ſein! Die Nutzanwendung möge uns der reuevolle Heimatloſe ſelbſt
geben. Bei einer beſonderen Begebenheit hatte er Veranlaſſung und Gelegenheit,
einem jungen Leutnant gegenüber ſeinem gepreßten Herzen Luft zu machen und
den Schmerz ausſtrõömen zu laſſen in feiner ganzen Gewalt, als fie unter der Flagge
des Vaterlandes in einem Boote allein ſaßen. „Ach, das Vaterland, die Heimat,
die alte Flagge da! Zunge, denke an nichts, als ihnen zu dienen, und wenn dieſer
Dienſt dich durch die Hölle jagte! Laß keinen Abend vorübergehen, an dem du
nicht Gott bitteſt, die Flagge zu ſegnen, und was dir auch begegnet, wer dir auch
ſchmeichelt und wer dich lockt, — ſieh keine andre an! Hinter allen, mit denen du
verkehrſt, ſteht dein Vaterland und dem gehörſt du an wie deiner eigenen Mutter.
Schande und Schmach auf den, der ſeine Mutter verläßt, der andere Stimmen
mehr achtet, als die Stimme ſeines Landes! Schande und Schmach auf den, dem
nicht die Ehre ſeines Vaterlandes und ſeine Größe und Stärke ſeine eigene Ehre und
feine Größe und fein Stolz iſt! O Gott, wenn ein Menſch zu mir fo in meiner Jugend
geſprochen hätte!“
Abgelöſt in den Frühling!
Vom Kriegsfreiwilligen Alfred Hein
Als wir im Früͤhlicht aus dem Graben kamen, war der sans da,
Die durch das Trommelfeuer abgeſtorbnen Sinne
Wurden des hellen Leuchtens in den Wolken inne,
Und jeder ſtill verlächelnd in das Blauen ſah!
Da flogen Lieder durch den Marſch! Und froh,
Als kämen wir aus Himmeln, nicht aus Höllen,
Als wär' n wir über Blumen, nicht Geröllen,
Schmutz, Leichen ſchußgehetzt gehaſtet, ſo
Prangten die Geſichter! Worte warfen
Sich übermütig friſch von Mund zu Mund!
Auf unſre Schätzchenbriefe warteten im Grund
Schon Veilchen ... Und wie Friedensharfen
Der Wind in Knoſpenäſten ſelig Hang! — — —
Und als das luſt'ge Marſchlied ſtummte,
Ein kleiner Vogel hier, ein kleiner da ſchon ſummte — — —:
O Ruhe, Frühling, Sehnſucht, Glückrauſch, Sonnaufgang!
W
|
|
\
die deutſchen Kohlen⸗ und Eiſ enerzlagerſtätten
als Machtfaktoren im Weltkriege
e. Krieg hat uns mit erſchütternder Klarheit die geographiſchen Tatſachen vor
A Augen geführt, aus denen die in dem großen Geſchehen um uns wohl unfaß-
llichſte Lage erwuchs, daß das Landgebiet eines Siebzigmillionen-Volkes mit den
von nicht viel weniger Millionen bewohnten Ländern ſeiner Verbündeten zu einer belagerten
Feſtung werden konnte. Dieſe unſere Lage inmitten eines faſt geſchloſſenen Ringes von
ſtarrenden Waffen, die jetzt bewußt gewordene Gefahr, daß der uns umbrandende Haß einer
Welt von Feinden eine gleiche oder noch ſchlimmere Lage, in der auch die ſchmalen, uns jetzt
noch verbliebenen Ausfallpforten verſperrt werden könnten, in Zukunft abermals herbei
führen kann, legen unſerer Staatsleitung für die Friedensverhandlungen eine ungeheure
Verantwortung gegenüber der Zukunft unferes Vaterlandes, gegenüber unferen Kindern
und Kindeskindern auf.
Der Verlauf des Krieges hat uns gezeigt, was unſerem Lande als Ausgleich gegen
die Gefahren feiner geographiſchen Lage nottut. Zn erſter Linie und vor allem brauchen
wir Grenzen, die jo weit gezogen find, daß das in ihnen wohnende Volk auch bei völliger Ein-
ſchließung auf Jahre hinaus ein auskömmliches Daſein findet. Dann aber benötigen wir,
und dieſes Erfordernis iſt nicht minder wichtig, innerhalb unſerer Landesgrenzen alle die
Hilfsmittel, die notwendig ſind, um einem Volksheer, das einer Welt in Vaffen die eiſerne
Stirn bieten ſoll, die Rüſtung zu ſchmieden. Denn wir wiſſen heute, daß nicht nur zu Niefen-
heeren zufammengeballte Menſchenmaſſen den modernen Krieg entſcheiden, ſondern vor
allem auch die in ihren Dienft geſtellten Kampf- und Abwehrmittel einer vollendeten Rüftungs-
technik. Deren erſte Vorausſetzung ift aber das Vorhandenſein einer auf hoher Entwicklungs-
Rufe. ſtehenden Induſtrie, ganz beſonders einer machtvollen Kohlen- und Eiſeninduſtrie. Was
die deutſche Volkswirtſchaft auf dieſem Gebiete in wenig mehr als vier Jahrzehnten geſchaffen
hat, iſt weiteſten Volksſchichten durch den Krieg eindringlich vor Augen geführt worden. Weniger
bekannt iſt es dagegen, wie die Grundlagen beſchaffen find, auf denen ſich die beiden In-
duſtriezweige aufbauen: im weſentlichen die deutſchen Lagerſtätten an Kohle und Eiſenerz.
Die vielfach anzutreffende Unkenntnis dieſer Grundlagen iſt in hohem Maße bedauerlich.
Denn ohne eigene Bodenſchätze wäre das Fortbeſtehen unſerer Eiſeninduſtrie in einem Kriege,
wie wir ihn jetzt zu führen haben, nicht möglich, es wäre alſo auch die Verſtärkung und Unter-
haltung der eiſernen Rüftung unſerer Wehrmacht in dem notwendigen Ausmaß nicht durchzu-
führen, und wir würden damit der Gnade der Feinde ausgeliefert ſein. Aus reichende
Kohlen- und Eiſenerzlagerſtätten find deshalb gerade für uns wegen der geo—
Der Türmer XX, 15 8
W/
114 Die deutſchen Rohlen- und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege
gstaphiſchen Lage unſeres Vaterlandes die entſcheidenden Machtfaktoten des
Weltkrieges und etwaiger zukünftiger Kriege.
Betrachten wir die Verhältniſſe etwas näher und wenden uns zunächſt der Kohle
zu. Die vier großen Steinkohlengebiete Deutſchlands, in Niederrheinland⸗Weſtfalen, an der
Saar ſowie in Ober- und Niederſchleſien und einige weitere, weniger wichtige Bezirke brachten
im letzten vollen Friedensjahre, dem Jahre 1913, eine Steinkohlenförderung von 192 Mil-
lionen Tonnen hervor. Dazu trat, in der Hauptſache aus dem rheiniſchen Braunkohlen-
bezirk und den mitteldeutſchen Fördergebieten, eine Braunkohlenförderung in Höhe von
87 Millionen Tonnen, jo daß Deutſchland insgeſamt über eine jährliche Kohlengewinnung
von faſt 280 Millionen Tonnen verfügte. Dieſer gigantiſchen Förderung ſtand ein Verbrauch
gegenüber, der zwar auch ins Rieſenhafte ging, an die Höhe der Förderung aber bei weitem
nicht heranreichte. Er betrug im Jahre 1915 rechnungsmäßig 250 Millionen Tonnen, fo daß
uns ein Überſchuß der Förderung gegenüber dem Verbrauch in Höhe von annähernd
50 Millionen Tonnen verblieb. Wenn trotz dieſer überaus günſtigen Verſorgungsverhält-
niſſe die Waſſerwege der Nord- und Oſtſee Jahr um Fahr rieſige Schiffsladungen engliſcher
Steinkohle in unſer Vaterland brachten, wenn gleichzeitig die öſterreichiſchen Schienenſtränge
und die Elbe zahlloſe Wagen und Kahnladungen böhmiſcher Braunkohle nach Deutſchland
führten und auch andere Länder uns jährlich Hunderttauſende Tonnen Kohle lieferten, ſo
war das in geographiſchen Verhältniſſen begründet, die einesteils der deutſchen Kohle weite
und teure Bahnwege nach großen deutſchen Verbrauchsgebieten auferlegten, andernteils
der ausländiſchen Kohle in billigen und verhältnismäßig kurzen Waſſerſtraßen günſtige Wett⸗
bewerbsmöglichkeiten boten. Im Wechfel gegen die eingeführten ausländiſchen Kohlenmengen
gingen aber dieſe weit überwiegende Ladungen deutſcher Kohle ins Ausland, beſonders
das benachbarte, das den vornehmlich an den Reichsgrenzen gelagerten deutſchen Stein-
kohlenbezirken geographiſch als natürliches Abſatzgebiet beſtimmt erſcheint. Einer Gefamt-
kohleneinfuhr von noch nicht ganz 19 Millionen Tonnen ſtand ſo eine Ausfuhr deutſcher Kohle
in Höhe von 47 Willionen Tonnen, alſo eine mehrfach größere Menge, gegenüber.
Den großen Förderzahlen des deutſchen Kohlenbergbaues entſpricht die Stärke der
Quellen, aus denen er ſchöpft. Auf Grund genauer tatſächlicher Kenntnis von Mächtigkeit
und Verbreitung der Flöze berechnen unſere Geologen den „ſicheren“, nach den heutigen
Verhältniſſen abbaufähigen Kohlenvorrat in nicht unter 1500 Meter Teufe und den bau⸗
würdigen Vorrat, d. i. der in Flözen von einer beſtimmten Mindeſtmächtigkeit, auf 82 Mil-
liarden Tonnen, wozu noch Braunkohlenvorräte treten, die nach einer veralteten, wahrſchein⸗
lich ſehr erheblich zu niedrigen Berechnung 10 bis 13 Milliarden Tonnen betragen ſollen.
Neben den als ſicher bekannten abbaufähigen und würdigen Vorräten birgt der deutſche
Boden weitere ungeheure Steinkohlenſchätze, die entweder unter der oben genannten Teufen“
grenze liegen, oder von den Geologen als „wahrſcheinlich“ und „möglich“ berechnet worden
ſind. Faßt man dieſe Mengen mit den als ſicher bekannten zuſammen, ſo kommt man allein
für Steinkohle zu einer Vorratszahl von über 400 Milliarden Tonnen, aus denen unſer
Rohlenbedarf für Jahrhunderte gedeckt werden kann.
Hinſichtlich einer der wichtigſten Rohſtoffverſorgungsfragen, der Kohlenbedarfsdeckung,
brauchte uns alſo die engliſche Kriegserklärung vom 4. Auguſt 1914, die den Ring um un 20
Vaterland weiter verengern ſollte, nicht zu erſchüttern. Hier ſtanden wir auf eigenen feſten
Füßen. Wenn trotzdem in der ſpäteren Kriegszeit auch bei uns über zeitweiſe recht empfind
lichen Kohlenmangel geklagt werden mußte, ſo ſind dieſe Verhältniſſe, wie die vorhergehen
den Ausführungen zeigen, nicht eine Frage unſerer Kohlenlagerſtätten oder der techniſchen
Leiſtungsfähigkeit unſeres Bergbaues, ſondern lediglich eine Frage der Arbeiterzahl, nach
dem das Heer auch auf den Arbeiterbeſtand der Kohlengruben in ſteigendem Maße zurück
gegriffen hatte, zeitweiſe auch nur eine Transportfrage.
die deutſchen Kohlen- und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege 115
git das Bild, das uns die Verhältniſſe der Kohlenverſorgung Oeutſchlands jetzt und
für eine weite Zukunft bieten, ſomit überaus befriedigend, ſo ſtellen ſich die Verhältniſſe der
deutſchen Eiſeninduſtrie weſentlich anders dar. Zwar nicht ihre Leiſtungsfähigkeit iſt es,
die irgendwelche Bedenken erwecken müßte, denn Deutfchland ſteht mit ſeiner Eiſeninduſtrie
an zweiter Stelle unter den Eiſen erzeugenden Ländern, nachdem die engliſche Eiſenerzeugung
durch die deutſche ſchon kurz nach Beginn unſeres Jahrhunderts überflügelt worden iſt. Im
letzten vollen Friedensjahre bezifferte ſich die deutſche Noheifenerzeugung auf 19,5 Millionen
und die Stahlerzeugung auf 18,9 Millionen Tonnen, von denen, in unverarbeiteter und ver-
arbeiteter Form, Mengen im Werte von über 2 Williarden Mark jährlich an das Ausland
verkauft werden konnten. Dagegen ift es in der Verſorgung unſerer Eiſeninduſtrie mit Roh-
ſtoffen, beſonders dem wichtigſten Grundſtoff, dem Eiſenerz, nicht ſo beſtellt, wie es ihre
Wichtigkeit für die Volkswirtſchaft und beſonders ihre Bedeutung für die Kriegewirtſchaft,
wenn ausländiſche Bezugsquellen abgeſchnitten find, erfordern. Die Verſorgungsverhält-
niſſe des Jahres 1913 verdeutlichen uns dieſe betrübende Lage.
Legen wir unſerer Betrachtung der Verſorgung Deutichlands mit Eiſenerz im letzten
vollen Friedensjahre die Rechnung Eigenförderung plus Einfuhr minus Ausfuhr zugrunde,
ſo kommen wir zu einer Verſorgungszahl von rund 47,3 Willionen Tonnen, von denen nach
Abzug der nicht ſehr bedeutenden Ausfuhr 33,5 Millionen Tonnen aus dem znlande und
14 Millionen aus dem Auslande ſtammten. Iſt ſchon nach dieſen Zahlen der Anteil des aus-
ländiſchen Eiſenerzes in die Augen ſpringend, fo erweiſt er ſich als noch ſtärker, wenn man
den verſchieden hohen Eiſengehalt des in- und ausländiſchen Erzes in Rechnung ſtellt, da
das einge führte Eiſenerz weit reichhaltiger iſt als das deutſche. Einem durchſchnittlichen Eifen-
gehalt des deutſchen Eiſenerzes von noch nicht ganz 34% ſteht ein ſolcher des ausländiſchen
von etwa 55 % gegenüber. Nach dem Eiſengehalt war auf Grund dieſer Zahlen das deutſche
Erz im Jahre 1915 nach Abzug der Ausfuhr an unſerer Verſorgung mit 9,7 Millionen Tonnen,
das aus ländiſche mit 7,7 Millionen beteiligt, das heißt, daß unſer Eijenerzbedarf des Jahres
1915 zu 44 % aus dem Auslande gedeckt wurde. Unſere Eiſeninduſtrie kann ſich alfo
in normalen Zeiten nur zu wenig mehr als der Hälfte ihres Bedarfs auf die
heimifhe Eiſenerzförderung ſtützen.
Ein Glück iſt es unter dieſen Umſtänden für unſere Kriegswirtſchaft, daß ein erheblicher
Teil der ausländiſchen Erze aus einem Staate ſtammt, der zu den wenigen Ländern gehört,
die uns im Kriege ihre Sympathie bewahrt haben und zu dem uns die Verbindung nicht ab-
geſchnitten werden konnte, nämlich den ſchwediſchen Erzlagerſtätten, aus denen im Jahre
1915 unter Hinzurechnung der Einfuhr aus Norwegen 38 unſerer geſamten Eifenerzein-
fuhr, auf den Eiſengehalt bezogen, herrührten. Ein Glück war es ferner, daß unſere Heere
in ihrem ungeſtümen Siegeslauf der erſten Kriegswochen wichtige Teile der reichen franzö—
ſiſchen Eiſenerzbecen eroberten und unſerer Eiſenerzeugung dienſtbar machten. Hätte auch
in Schweden ein anderer Begriff der Neutralität Platz gegriffen, als er Gott ſei Dank be-
fleht, wäre uns das Kriegsglück in Frankreich weniger hold geweſen, fo hätte es in der Ver-
ſorgung unſerer Eifeninduftrie mit Erzen und damit unſerer Heere mit Waffen und Munition
verhängnisvoll ausgeſehen. Denn unſere eigene Eiſenerzförderung reicht, wie ſchon die vor-
ſtehenden Verſorgungszahlen gezeigt haben, zur Oeckung unſeres Bedarfs bei weitem nicht aus.
Die Urſache der Unfähigkeit unſerer Eijenerzförderung, den Bedarf zu decken, iſt darin
zu ſuchen, daß unſere Lagerſtätten zwar abſolut nicht unbedeutend, verhältnismäßig aber
ganzlich ungenügend find, den gewaltigen Anforderungen unſerer Eiſeninduſtrie zu ent-
ſprechen. Die neueren geologiſchen Berechnungen beziffern unſere Bodenſchätze an Eifen-
erz, die ohne jede Vorausſetzung unter den heute geltenden Bedingungen gewonnen werden
konnten, einſchließlich der luxemburgiſchen auf 2,8 Milliarden Tonnen, neben denen noch
etwas über 1 Milliarde Tonnen vorhanden ſind, deren Gewinnbarkeit „vom Eintritt weniger
116 Die deutſchen Nohlen und Eiſenerzlagerſtätten als Machtfaktoren im Weltkriege
und leicht erfüllbarer Vorausſetzungen“ abhängt. Die außerdem noch vorhandenen Erzvor-
räte find wahrſcheinlich erheblich, aber zahlenmäßig nicht bekannt und erſt unter den ver-
änderten Wirtſchaftsbedingungen einer fernen Zukunft verwertbar; fie müſſen deshalb hier
unberückſichtigt bleiben. Unſere Erdſchätze an Eifenerz, mit deren Gewinnbarkeit heute ge-
rechnet werden kann, betragen alſo annähernd 4 Milliarden Tonnen. Das iſt, abſolut be-
trachtet, eine impoſante Zahl. Sie ſchrumpft aber ſchon ſehr zuſammen, wenn man berück-
ſichtigt, daß von der Geſamtmenge 2,6 Milliarden Tonnen, alſo weit mehr als die Hälfte,
auf das niedrighaltige lothringiſch-luxemburgiſche Eiſenerz, die Minette entfallen, für die
nur mit einem durchſchnittlichen Eiſengehalt von etwa 30 gerechnet werden kann. Noch
beſcheidener, im Hinblick auf die Zukunft ſogar beängſtigend beſcheiden erſcheinen die Vor⸗
räte, wenn man fie zu der Eiſenerzmenge in Beziehung bringt, die wir ihnen jährlich ent-
nehmen. Unſere Jahresförderung an Eiſenerz betrug, wie weiter oben ſchon ausgeführt
wurde, im Jahre 1913 rund 36 Millionen Tonnen. Unter Berückſichtigung der zu erwarten
den ſtarken Steigerung unſerer Eiſenerzfoͤrderung in der Nachkriegszeit und angenommen,
daß unſere heute noch nicht berechneten Eiſenerzvorräte für eine längere Reihe von Zaht-
zehnten noch nicht in Angriff genommen werden können, würden wir auf Grund der ganz
rohen, hier aber genügenden Rechnung Eiſenerzvorräte: Jahresförderung zu dem Ergebnis
kommen, daß unſere heute bekannten und bauwürdigen Eiſenerzvorräte nur
noch für einen Zeitraum von etwa vier bis fünf Jahrzehnten reichen.
Wir haben eingangs unſerer Ausführungen ſchon auf die zur Allerweltsweisheit ge-
wordene Tatſache hingewieſen, daß Feldherrngenie und Maſſenheere allein den modernen
Krieg nicht mehr entſcheiden und daß als mitentſcheidender Machtfaktor des Krieges der Auf-
wand eines Niefenapparates mechaniſcher Kampf- und Abwehrmittel zu ihnen getreten iſt,
deſſen Erſtellung und Unterhaltung eine breite Kohlen- und Eifenerzgrundlage zur Voraus-
ſetzung hat. Die nach vorſtehenden Ausführungen in wenigen Jahrzehnten zu erwartende
Erſchöpfung unſerer Eiſenerzlager eröffnet ſomit einen niederſchmetternden Ausblick für die
Sicherheit unſerer vaterländiſchen Verteidigung in einer nahen Zukunft.
Erfreulicherweiſe bietet uns jedoch die Kriegslage die Möglichkeit, in den geſchilderten
Verhältniſſen eine weſentliche Beſſerung herbeizuführen. Die Gebiete Frankreichs, die von
der eiſernen Fauſt unſerer Heere umſpannt jind, bergen reiche Eiſenerzlager, beſonders an
der deutſch-lothringiſchen Grenze. Der beſetzte Teil des Eiſenerzbeckens von Briey-Longwy
umfaßt ſchätzungsweiſe einen Eiſenerzreichtum von 2,3 Milliarden Tonnen, der dazu berafen
erſcheint, die Minettelager Deutſch-Lothringens zu einem für viele Jahrzehnte vergrößerten
Reſervoir zu geſtalten. Für uns und unfere demnächſtigen Friedensunterhändler erhebt ſich
deshalb die nicht zu umgehende Forderung: Hände auf die Taſchen! Wir müffen einen Teil
deſſen behalten, was unſere Brüder gegen den Überfall des Erbfeindes mit Leben und Blut
errungen haben. Die Sicherung der vaterländiſchen Verteidigung für eine wei-
tere Zukunft fordert gebieteriſch den Beſitz des franzöſiſchen Erzbeckens von
Briey und Longwy, der durch eine Grenzberichtigung von wenigen Quadrat
kilometern Umfang herbeizuführen iſt. K. Bierbrauer
N
Die Fünfzigjäprigen | | 117
Die Fünfzigjährigen
Nu einem amerikaniſchen Geſchäftsmann kommt ein ausgewanderter Oeutſcher:
| „Herr, nehmen Sie mich in Arbeit! Ich bin zwar ſchon über fünfzig Jahre alt,
IN. kann aber noch mindeſtens ebenſoviel wie ein Junger leiſten.“ Der Amerikaner
ſeht erſtaunt den Bittſteller an: „Iſt das in Oeutſchland fo Sitte, daß auf die Arbeit der Fünf⸗
deſahrigen verzichtet wird? Ich verlange eine beſtimmte Arbeit und bezahle fie. Könnt ihr
die Arbeit leiſten, fo geht mich euer Alter nichts an!“
Sn der Tat, meint der „Vorwärts“, es iſt fo, daß man in Deutſchland dem mehr als
Fufzigjährigen, der Arbeit irgendwelcher Art ſucht, nicht mehr viel Leiſtungskraft zutraut
md ihn in neunzig von hundert Fällen abweiſt. Man prüft gar nicht erſt, was er kann, man
weit ihn ab, weil er „zu alt“ iſt. Als der Weltkrieg ſich in die Länge zog, ſchien das anders
werden zu wollen. Mit einem Male erkannte man die Leiſtungsfähigkeit des Fünfzigjährigen,
weil man ihn nötig brauchte. Je mehr jüngere Leute zu den Vaffen gerufen wurden, und je
mehr Lücken dadurch auf allen Arbeitsgebieten entſtanden, deſto lauter wurde der Ruf nach
Ersatz, der nur in den älteren Jahrgängen gefunden werden konnte.
Können die Fünfzigjährigen oder die noch älteren überhaupt Erhebliches leiſten?
gener Amerikaner, frei von dem Vorurteil, das bei uns lange genug und ſehr tief eingeriſſen
war, fagte fih> „Traue ich dir nichts mehr zu, dann darf ich auch mir nichts mehr zutrauen,
ſobald ich dein Alter erreicht habe.“ Der praktiſche Geſchäftsmann weiß insbeſondere zu
ſchätzen, daß ältere Leute auf vielen Arbeitsgebieten erfahrener, zielſicherer, ſorgfältiger und
zuverläſſiger find als jüngere Menſchen. Natürlich wird es Fünfzigjährige geben, die ſo gelebt
haben oder ſo ausgenutzt ſind, daß ſie tatſächlich mit ihrer körperlichen und geiſtigen Kraft
ſchon weit hinter dem Ourchſchnitt ſtehen. Die Mehrzahl der Fünfzigjährigen kann aber ohne
jeden Zweifel auch ſehr hohen Anſprüchen genügen.
Was haben die Fünfzigjährigen während des Weltkrieges geleiſtet? An Mannſchaften
wie an Offiziere wurden ohne Kückſicht auf das Alter die denkbar höchſten Anforderungen
geſtellt. Und dann blicke man auf die vielen Zehntauſende von Alteren hinter der Front, die
Arzte, Krankenpfleger, Eiſenbahner, Poſtbeamten, Induſtriearbeiter, Handwerker und alle
die ungezählten anderen, die an dem Rieſenapparat des vaterländiſchen Hilfswerkes mit-
arbeiteten, die zahlreichen mehr als fünfzig Jahre alten Frauen nicht ausgenommen. Un-
geheures iſt da im einzelnen und in der Geſamtheit geleiſtet worden. Viele, die Arbeit zu
vergeben und bisher gedankenlos das Vorurteil gegen Bejahrtheit mitgemacht hatten, waren
ehrlich erſtaunt, wie tapfer die ehedem „zu alten“ ihre Pflicht erfüllten. Vielleicht regte ſich
hier und da auch das Gewiſſen.
Wird man dieſe Arbeitstüchtigkeit der Fünfzigjährigen auch in Zukunft anerkennen?
Was an ſchönen Worten aufgebracht werden konnte, das haben wir bei uns im Weltkriege
gehört. Nur zu leicht vergißt ſich ſolche erhebende Sprache des Herzens und der — Not. In
einem Staate, der dieſe Erfahrungen geſammelt hat, darf das ſozial brutale „zu alt“ in der
früheren Form keine Berechtigung mehr haben. Wer mit fünfzig und mehr Jahren fähig iſt,
Erhebliches zu leiſten, muß Gelegenheit erhalten, ſein Können zu beweiſen. Vor allem müſſen
die Staats- und Gemeindebetriebe gründlich umlernen, nicht nur von ſich aus, ſondern auch
mit ihrem Einfluß auf die großen Privatunternehmen. Sind die Fünfzigjährigen und noch
Alteren zur Arbeit gut in Zeiten der Not, fo ſoll man fie unter anderen AUmftänden nicht ab-
ſchuͤtteln und die noch Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen aus törichten Vorurteilen oder aus
toher Gewinnſucht dem Elend preisgeben. Im anderen Falle muß folgerichtig das Recht
auf Altersrente — auf 50 Jahre herabgeſetzt werden.
/ 2
118 Erinnerungskranze
Erinn erungskränze |
9 6 1 7 an wagt kaum von denen zu ſprechen, die jetzt daheim ſterben: ihr Schicſal, das
57 9. WN. 0 N fie erſt im früchtereifen Herbſt dahinrafft, ſcheint jo gütig und milde im Ver⸗
gleich zu dem der Unzähligen, die aus der Erntearbeit des Sommers geriffen
werden oder gar im erſt blühenden Frühling. Doch fühlen wir ja gerade jetzt, wie es des
Schaffens aller bedarf zum Gelingen des großen Ganzen, und ſo legen wir dankbar einen
Kranz der Erinnerung auf die Gräber jener, die irgendwie und irgendwo zur Bereicherung
dieſes Daſeins mitgeholfen haben.
Mit Hanns von Zobeltitz iſt einer der liebenswürdigſten Menſchen geſtorben, denen
ich je begegnet bin. Und dieſe Liebenswürdigkeit zählt doppelt, denn er war Redakteur, ein
Beruf, der auch die reichſte Fülle eingeborener Muttermilch friedlicher Denkungsart in gärend
Drachengift zu wandeln imſtande iſt. 27 Jahre lang hat er die Redaktion des „Daheims“
geführt, wohl ſeit ihrer Begründung iſt er in der der Velhagen & Klaſingſchen Monatshefte
tätig geweſen, dazu kam dann feine Mitwirkung bei den zahlreichen Monographien und ande-
ren Unternehmungen des Verlags. Nur wenn ſich mit rieſiger Arbeitskraft der ſichere Ne-
daktionsinſtinkt mit höchſter Gewiſſenhaftigkeit eine doch leichte Hand vereinigt, vermag man,
eine derartige Berufslaſt ſo lange zu tragen, ohne griesgrämiger Menſchenhaſſer zu werden.
Zobeltitz war der Redakteur-Kavalier, wenigſtens bei uns in Oeutſchland ein fehr ſeltenes Ge-
wächs, an deſſen Gedeihen bei ihm der Landedelmann und der Offizier gleichen Anteil hatten.
Die ſtrenge Selbſtzucht des letzteren darf nicht unterſchätzt werden, ſolange die Selbſterziehung
immer die beſte Vorbereitung für den Erzieherberuf an anderen — ein ſolcher aber iſt der
Redakteur — iſt.
Aber Zobeltitz hat neben ſeiner rieſigen Berufstätigkeit nicht nur die Zeit für ein reges
geſellſchaftliches Miterleben behalten, ſondern ſich auch Laune und Friſche für fein ausgezeich-
netes Erzählertalent bewahrt, dem eine treue Leſerſchaft über ein Viertelhundert Bände ver-
dankt. Schon als Offizier hatte er unter dem Decknamen Hanns von Spielberg, der durch
Auslaſſung zweier Buchſtaben aus dem Namen feines heimatlichen Gutes Spiegelberg ge-
bildet war, ſeine erſten Erzählungen veröffentlicht. Das erſte Buch führte den Titel „Gräfin
Langewelle“, und es iſt, als ob er auf der Spitze ſeines Degens das aufgeſpießt habe, was
er zeitlebens am meiſten gehaßt und auch erfolgreich bekämpft hat, eben die Langeweile.
Bücher wie „Auf märkiſcher Erde“, „Marſchall Vorwärts“ und aus der letzten Zeit „Sieg“
und „Prinzeſſin aus Java“ laſſen es doch nicht zu, dieſe Seite ſeines Schaffens mit einer vor-
nehmen Handbewegung abzutun. Fedenfalls find Hunderte der mit höchften Anſprüchen auf
tretenden Romane und Novellen, die in dieſen 30 Jahren der Romanſchriftſtellerei Zobel
tig und der jeweils herrſchenden Mode als literariſche Kundgebungen erſten Ranges geprieſen
worden ſind, längſt völlig im Meere der Vergeſſenheit verſunken, während ſeine Bücher noch
immer gern geleſen werden. Sie ſind vorzügliche Unterhaltungswerke, ausgezeichnet durch
gute Beobachtung, ſichere Charakteriſtik, ausgeſprochenes Erzählertalent und darüber hinaus
durch eine vornehme, echt männliche und echt deutſche Geſinnung. Zobeltitz iſt 65 Jahre alt
geworden, der Tod des hochragenden und kräftigen Mannes iſt auch Naheſtehenden unerwartet
gekommen. Am jetzigen Kriege hat er, der als halbflügger Jüngling den Feldzug von 1870
mitgemacht hatte, leidenſchaftlichen Anteil genommen. —
Faſt um zehn Jahre älter iſt Timm Kröger geworden, von feiner kerndeutſchen Art
abgeſehen in allem ein Gegenſatz des Jüngeren, eine ſtille, von der Welt ſich abſchließende
Natur, langſam ſchaffend, das, was man als Geſellſchaft bezeichnet, auch als Schriftſteller
meidend; ihm kam es ganz auf die Oarſtellung der ſeeliſchen Entwicklung des Einzelmenſchen
an. Mit ſich ſelber fertig werden iſt das Hauptziel ſeiner fein ziſelierten Novellen. Die enge
genſelts von Schützengraben und Stachelbraht 119
Heimat gibt den, Hintergrund. Wir haben das Lebenswerk des Heimgegangenen, der auch
dem Tuͤrmer ein lieber Mitarbeiter war, anläßlich des Erſcheinens der Geſamtausgabe feiner
Werke geſchildert und können uns heute damit begnügen, eindringlich auf dieſe nn gewid-
tigen bei Janſen in Hamburg erſchienenen Bände zu verweiſen. K. St.
2
genfeits von Schützengraben und Stacheldraht
una
95 * 0 enſeits von Schützengraben und Stacheldraht, die in den verfloſſenen vier Jahren
260 unſerem inneren und äußeren Leben und Erleben den Stempel aufdrückten, blühten
dieſe beiden vor mir liegenden Bücher auf — Karl Grubes „Bei deutſchen Brüdern
im n Urwald Braſiliens“ (Verlag Th. Weicher, Dieterichſche Verlagsbuchhandlung) und P. Bräun-
lichs „Kurländiſcher Frühling im Weltkrieg“ (Verlag der Täglichen Rundſchau).
Wohl blühen fie jenſeits der Schützengräben, ferne dem Ringen und Erleben dieſer Tage,
und doch — beide wurzeln ſie tief in dem wundenverſchorften und tränengedüngten deutſchen
Vaterlande. Beide ſtehen fie mahnend und wegweiſend vor uns und, gebe es der Himmel, —
auch in uns. Sagen uns beide, ſei es für das gefährdete Deutſchtum Braſiliens, ſei es für die
geknechteten deutſchen Brüder des Baltenlandes, eindringlich, daß die unermeßlichen Blutopfer
dieſes gigantiſchen Ringens nicht für ein Scheidemannſches —Erzbergerſches enges und be-
engtes Deutſchland gebracht wurden, ſondern für ein ſich aufreckendes, neidbefreites Deutſch-
land, das deutſchen Fleiß und Regſamkeit auch jenſeits unſerer Grenzpfähle zu ſchützen weiß. —
Und nun zu den Büchern ſelbſt. Verfolgen und erreichen fie auch beide das gleiche Ziel, fo
doch mit verſchiedenen Mitteln, in künſtleriſch ungleicher Wertigkeit... Karl Grube ſchildert
in wohl etwas bilderarmer, doch herzerfriſchend klarer Sprache feine Reife in Südbrafilien.
Eine glückliche Beobachtungsgabe und der Umſtand, die beſten unſerer deutſchen Koloniſten
in Suͤdbraſilien kennen zu lernen und ſich in tiefſchürfenden Geſprächen bereichern zu dürfen,
geben uns, die wir mit offenen Augen leſen wollen, beträchtliche Werte in die Hand. Schon
im Vorwort ſteht ſein Programm feſt, nämlich die Beweisführung anzutreten, daß alle Aus-
landsdeutſche ein geiſtiges Band umſchlingt und das, was deutſch iſt, auch deutſch bleiben wird
und muß, wenn wir daheim — und darin liegt die Mahnung beider Bücher — ſie wurzelecht
und wurzelgeſund uns zu erhalten wiſſen. Mit offenem Herzen und offenen Augen hat Grube
Braſilien bereiſt und fein Loblied klingt echt und glaubwürdig, das er auf die deutſchen Siede-
lungen Südbrafiliens anſtimmt zum Unterſchiede von den Bindeſtrich- Amerikanern, die nur
zu oft „Oollarika“ als „Vankee- Guano“ dienen, — wenn er Zoinville und Blumenau als Oaſen
wahrer deutſcher Kultur anſpricht. Unermüdlich hat der Verfaſſer mit den Koloniſten Fühlung
geſucht, deren Denken und Fühlen übereinſtimmen mit dem, was Grubes Urwaldphiloſoph,
ein ehemaliger Leutnant aus dem Feldzuge von 70/71, ſagt: „Oen deutſchen Kaſtengeiſt können
wir bei uns nicht brauchen, denn hier iſt jeder Germane Edelblut, der letzte Arwaldbauer wie
der reiche Handelsherr in Porto Alegre und Rio de Janeiro. Was deutſch iſt in Braſilien, muß
feſt zuſammenſtehen. Wer ſich von der allgemeinen Menſchenverbrüderung ſchnell und gründ-
lich kurieren laſſen will, der ſtudiere in Brafilien die Erfolge der RNaſſenmiſchung. Der Oeutſche
hält ſich hier raſſerein und kommt vorwärts. Aber wir brauchen hier nicht nur derbe deutſche
Fäufte, ſondern auch wirklich feine deutſche Köpfe! Und daran fehlt es noch bedenklich. Na-
mentlich das Großkapital follte nicht fo „bangbüchſig“ fein. Wenn Sie heimreiſen, dann künden
Sie bitte daheim den Horchenden an, daß hier ein reiches herrliches Land den Brautkuß der
germaniſchen Rultur erwartet. Aus Braſilien muß und wird etwas werden, und ehe John
Bull und Onkel Sam hier einhaken, ſollte Michel ſeine Pioniere zu friedlichem Vettbewerb
120 Senfeits von Schützengraben und Stachelbraht
ſenden. Wir brauchen Zäufte und Köpfe, guten Willen und gutes — Geld! Sagen Sie das
bitte daheim ...“ — And an einer anderen Stelle heißt es von dem Wettbewerbe um die
Führung auf handelspolitiſchem Gebiete: „England will die reichen Bodenſchätze ausbeuten,
das Großkapital iſt ſchon mobil gemacht, und Zohn Bull pumpt lächelnd den Negerbaſtarden
Millionen. Engliſches Kapital und Bankeegold ſichern ſich heute die reichſten Minen. Deutfche
Ingenieure entdeckten fie, John Bull und Bruder Jonathan kaufen fie, Trotzdem die Export-
firmen in den beiden Nordſtaaten Para und Amazonas ebenſo wie die an dem Kautſchuk⸗
transport beteiligten Dampfer faſt durchweg deutſcher Nationalität find, geht faſt die ganze
Kautſchukproduktion nach London. Auch hier wieder die alte Sache: der engliſche Zwiſchenhändler
macht den Weltmarktpreis. Die ſmarten Vankees möchten namentlich deshalb Braſilien kapern“,
um den läſtigen Baumwollkonkurrenten unſchädlich zu machen. Und noch etwas anderes. Die
japaniſche Einwanderung nach Braſilien nimmt beſtändig zu. Zwiſchen Tokio und Rio de
Janeiro werden eifrige Verhandlungen gepflogen, um den Bevölkerungsüberſchuß aus dem
Reiche der aufgehenden Sonne nach dem Lande des fühlihen Kreuzes abzulenken. Ja, es
ſoll fogar ein Übereintommen beſtehen, nach welchem beide Staaten die Hälfte der Überfahrts-
koſten für die Auswanderer beſtreiten. Alſo, Michel, halte die Ohren ſteif und behaupte dich
endlich einmal in dieſem reichen Zukunftsland als zielbewußter Mitbewerber und nicht als
Hans der Träumer, der überall zu fpät kommt.“ — Immer wieder klingt es durch Grubes tapferes
und gutes Buch: Unſer Verſagen, wenn es ſich um die leidige Politik handelt. Der Oeutſche
hat es auch hier wieder nicht verſtanden, ſich politiſch zur Geltung zu bringen, ganz im Gegen-
ſatz zu den Italienern und Polen. — Angſt, irgendwen zu provozieren, falſche Beſcheidenheit
find die Beweggründe. Erſteres mag wohl etwas für ſich haben, die Luſobraſilier find Fana⸗
tiker der Politik. Doch deren Stunden ſcheinen gezählt zu ſein. Tuberkuloſe und Lues dezimieren
dieſes wenig bildungsfähige Miſchblut. — Erfreuliches weiß Grube aus dem Staate Rio Grande
do Sul zu berichten, wo Schweizer, Oſterreicher, Holländer und Skandinavier als germaniſches
Blut feſt zuſammenhalten, fo daß ſelbſt die Eingeborenen ſich bequemen müſſen, die deutſche
Sprache zu erlernen. Ein treffendes Beiſpiel von dem Erfolge eines geſtärkten deutſchen Selbſt⸗
bewußtſeins. Im Gegenſatz hierzu das klägliche Verſagen der „Kompromiß und Atilitäts⸗
menſchen“ in Joinville, wo es in dem bekannten Rechtsſtreite des Deutſchen Kullak bei einer
deutſchen Bevölkerung von 80 % geſchehen konnte, daß der Pöbel Kullak zwang, die braſiliſche
Flagge zu küſſen! Und noch von einer weiteren Gefahr für das Deutſchtum in Südbrafilien
ſpricht der Verfaſſer: Die Zeſuiten. — In Porto Alegre erſcheint eine Zeitung „Oeutſches
Volksblatt“, die es ſich angelegen fein läßt, wenn es die Intereſſen der reichsdeutſchen Zentrums;
partei erheiſchen, deutſche und völkiſche Regungen zu verhöhnen. Wie der deutſche Kaiſer, das
Volk, die Proteſtanten und der Reichstag in dieſem Blättchen angepöbelt werden, iſt hier im
Auslande bei ſeiner großen Verbreitung doppelt gefährlich und widerlich. Grube ſchließt ſein
Buch mit den beherzigenden Worten: Was Engländer und Vankees, Franzoſen und Staliener
ſchon lange tun, muß auch der Oeutſche lernen: Rüdfichtslofe Unterftüßung aller Germanen
über See. — —
Um dem Buche P. Bräunlichs, in dem nicht nur auf der Titelſeite vom Frühling ge-
ſchrieben ſteht, ſondern aus deſſen Seiten uns ein feiner, herber Frühlingsatem entgegenweht,
gerecht zu werden, genügt es, das hier wiederzugeben, was ein hervorragender Baltenführer
nach der Lektüre dem Verlage geſchrieben hat: „Das Werk Bräunlichs verklärt ja etwas, abet
es iſt zart und ſinnig und wirbt um Liebe für unfer liebes, deutſches Land. Über Kurland und
feinen deutſchen Bewohnern liegt etwas Urſprüngliches, ja Arwüchſiges. Die einen freuen ſich
daran, die anderen nennen es Rüdftändigkeit. Manche verdrießt es, daß baltiſche Geſchichte
einen baltiſchen Typ erzeugte. Sie finden uns knorrig und wollen uns ſchnell behobeln, damit
wir hübſch in ihren Baukaſten hineinpaſſen. Andere meinen, daß man die zadigen Eichen in
der Halde, die jo wachen, wie die Stürme fie formen, nicht deshalb zu tabeln braucht, weil
Zenfeits von Schützengraben und Stacheldraht N 121
ſie anders wurden als all die Bäume, die ſich in zu dichten Beſtänden muͤhſam zum Lichte durch-
teckten. Bräunlich habe ich liebgewonnen, weil er ſtill finnend durchs Land gewandert iſt und
beobachtet hat, wie Kurland arbeitet, nicht wozu man es verarbeiten könnte. Das danke ich
ihm, daß er hinhörte, was in unſeren ſchlafenden Wäldern rauſcht und raunt und nicht darauf
aus war, zu berechnen, was für Möbel ſich aus ihnen machen ließen in Berliner Tiſchlereien,
an die wir übrigens gern liefern wollen, denn wir wollen nicht nur beobachtet, ſondern auch
gebraucht werden.“
Und wenn wir im Anſchluß an dieſe Zeilen die Klage der Balten leſen:
„er iſt in der Welt ſo arm wie wir,
So rechtlos und verlafjen?
Das eigne Reich zertritt uns ſchier
In feinem blindwütenden Haſſen.
Gott ſei's geklagt, im Kriegesbrand
Wir Balten haben kein Vaterland.“
Dann ſpüren wir die Größe ihres Herzeleides, die ihnen ihre innere Zerriſſenheit, verurſacht
durch den Weltkrieg, gebracht hat: Deutſche Treue, die fie in ihrem dem Zaren geleiſteten
Treueid auf Rußlands Seite riß, lag mit ihrem tiefinnerlichſten und echteſten deutſchen Emp-
finden, das ſie, den Regungen des Herzens folgend, an die Seite ihrer Blutsbrüder drängte,
im harten Widerſtreit. Dann ſpuͤren wir auch, wie blutig fie die Dornenkrone der Achtung drückte:
„Ein Balte hat nie Verrat geübt!“ — Und von dem Martyrium unter der Moskowiter Ne-
gierung künden jene Worte, die ein Baltenführer im Juli 1916 von der Kanzel von St. Marien
zu Oanzig ſprach: „Man wollte uns unter Rußlands Macht anders machen, als wir ſind und
denken. Das haben wir nicht gelitten. Darum haben wir jo viel gelitten. Wir find ein evange-
liſches Volk und ein deutſches Volk. Man hat uns klein machen wollen, aber man hat uns nicht
klein gekriegt. Man hat unſere Söhne ins Feld geſchickt, um gegen unſere deutſchen Brüder
zu kämpfen. Und da riß das Band.“ — Frühlingsduft entſtrömt dieſem Buche, und wie Frühlings-
glocken klingen die Worte, die an die hohen Tage Wittenbergs erinnern: Für feine lutheriſche
Kirche hat ſich der kurländiſche Adel ſeit alters große Opfer auferlegt. Kirche und Schule ſind
den Balten das Höchſte und gaben ihm das Beſte. Und auch der gemeinſame deutſche Glauben
wird es ſein, der einmal Balten und Letten zuſammenführen wird. Schon heute ſind die
Letten kaum mehr als fremdſprachige Deutſche. Ihr geſondertes Sprachgebiet und das ſich
von andern abſchließende Volkstum nach dieſem Kriege ſich zu bewahren, wird ihnen un-
möglich ſein.
Ein Baltenführer ſprach angeſichts des anhaltenden Geburtenrückganges von einem
Ausſterben der Letten. Gerade an dieſer Stelle weiſt der Verfaſſer auf die große Gefahr hin,
die uns vor Kriegsausbruch vom Oſten drohte: „Schon ſtanden 300000 Ruſſen vor der Tür,
das Erbe der Letten anzutreten. Bauern aus dem Innern des Reiches in dieſer gewaltigen
Zahl auf den kurländiſchen Krongütern anzuſiedeln, hatte die ruſſiſche Regierung beſchloſſen.
Sie wären der Vortrupp einer rieſenhaften Völkerwanderung geweſen.“ — Auch ein anderer
Ausſpruch eines Balten ſollte uns zu denken geben: „Kehren die Ruſſen nach Kurland zurück,
dann iſt unſeres Bleibens dort nicht mehr. Mit oder ohne Schuhe laufen wir dem letzten
deutſchen Landwehrmanne nach!“ — Doch darf es dahin kommen? — „Nein, Baltentreue
und Baltenleid hat beſſeren Lohn verdient. In Livland und Eſtland, ſo gut wie in Kurland
ſchreit durch den Kampf von Jahrhunderten geheiligte Erde nach endlicher, voller Befreiung
vom Drucke einer auf Vernichtung ausgehenden Fremdherrſchaft.“ — Und der Weg? — Oer
Verfaſſer weiſt ihn uns: „Jene Länder deutſcher Kultur müffen heraus aus dem ruſſiſchen
Reichs verbande. Die Sicherheit unſeres Vaterlandes erfordert gebieteriſch die Vorſchiebung
feiner Grenzen bis zur alten Völkerſcheide am Peipusſee. Keinesfalls kann das Oeutſche Reich
122 Stilwandlungen und -Zerungen
tatenlos zuſehen, wie zwei Millionen Deutſche in Europa vor feinen Augen abgewürgt werden.
Aus ihrer deutſchen Heimat darf kein weſtliches en en wo Rußland Kerntruppen
heranzieht für den großen Rachezug gegen Deutſchla
Kein Geringerer als Bismarck war es, der in feiner Oſtmarkenpolitit die Bedeutung
der Länder gen Sonnenaufgang neu entdeckte und damals viel Spott und Widerſpruch weckte.
Und heute geht wieder einmal Kreuzfahrerſtimmung durch das deutſche Volk, doch ein frieb-
liches Werk der Beglückung und Befreiung ſoll es werden!
„Nun Oeutſchland gilt's! Nun raff' dich auf!
Setzt rette dein altes Land.
Läßt Aſiens Horden du den Lauf,
Verlierſt du den deutſchen Strand.
Nun packe mit feſtem Griffe, was dein
Und was dir ſtammverwandt.
Nicht ſoll es moskowitiſch ſein —
Nein, deutſch — das Baltenland.“
DI
Stilwandlungen und Irrungen
karl O. Hartmann, der Verfaſſer einer ausgezeichneten „Geſchichte der Baukunſt“
und des weitverbreiteten kleinen Handbüchleins der „Stilkunde“ in der Göſchenſchen
Sammlung, hat unter dem Titel „Stilwandlungen und Frrungen in den an-
gewandten Künſten“ (München, R. Oldenbourg; 2 4) ein Büchlein herausgebracht, das weit
über den reichen Inhalt an tatſächlichem Material hinaus wertvoll iſt durch die klare Erkenntnis
innerlich treibender Kunſtkräfte. Die Tatſache, daß unſerer Kunſt der innere Zuſammenhang
mit unſerm Volkstum verlorengegangen iſt, hat ſich zu Beginn des Krieges mit einer fo elemen-
taren Kraft der allgemeinen Erkenntnis aufgezwungen, daß man ſie ſich jetzt nicht nachträglich
durch irgendwie intereſſierte Kreiſe ſollte wegſchwätzen laſſen. Nachdem die allgemeine Auf-
lehnung ihr zunächſt die Rede verſchlagen oder bei den ganz Geſchwinden ein raſches Umfatteln
bewirkt hatte, hat ſich unſere Kunſtkritik inzwiſchen wieder erholt und plätſchert nun, eigentlich
noch anmaßender als zuvor, im alten Waſſer weiter. Die meiſten Deutſchen haben ja jetzt
Wichtigeres zu tun; fie find von dem Kampf um Sein und Nichtfein ihres Volkstums fo in An-
ſpruch genommen, daß ſie kaum für anderes mehr Zeit und Sinn haben. Das benutzen jene
Kreiſe, die ſich von „nationaliſtiſchen Wallungen unberührt zu halten“ verſtehen, um ſich in
jenen Gebieten die endgültige Herrſchaft anzueignen, die ihrer Natur nach dem Kriegserleben
fernſtehen. Wer nicht abſichtlich blind und taub iſt, kann ſich der Erkenntnis nicht verſchließen,
daß auf dem ganzen Gebiete der Kunſt die wenn nicht anti-, fo doch anationalen Kräfte zurzeit
emſiger und anmaßender am Werke find, als jemals zuvor; fie haben in den erſten Kriegs
O. Boettger - Seni
monaten ihre Herrſchaft wanken fühlen, find dadurch gewarnt und nun dabei, ihre Stellungen /
mit allen Mitteln auszubauen, um den bevorſtehenden Angriffen nach Friedensſchluß ge
wachſen zu ſein.
Es iſt nun außerordentlich ſchwierig, ſich der ſuggeſtiven Gewalt einer mit höchſter Sicher
heit und obendrein mit einer Art fanatiſcher Verzücktheit auftretenden Runfticrifttellee) zu
entziehen. Neben dem Zuckerbrot für die Gläubigen, denen die Zugehörigkeit zur Gemeinde der
Seſchmadbvollen täglich gewährleiſtet wird, hat man auch die Peitſche zur Hand für die Wider⸗
willigen, denen es von Rüdjtändigkeit, Rulturwibrigteit und amuſiſchem Barbarentum nur
Stilwand lungen und -Zerungen 123
fo um die Ohren ſchlägt. Meiftens geben ſie leider klein bei, wenigftens für die Öffentlichkeit,
und die anmaßenden Herrſchaften mit dem großen Worte ſind bald allein unter ſich.
Da kann nun ein Büchlein, wie das vorliegende, wahren Segen ſtiften. Ohne daß es
der Verfaſſer darauf angelegt hat, gibt es eine vernichtende Kritik unſerer ublichen Kunſtſchrift⸗
ftellerei während der letzten zwanzig Jahre. Vor allem das erſte Kapitel „Stilwandlungen“
im Grunde eine Satire, über die man herzlich lachen könnte, wenn man dieſe Entwicklungs-
zeit für wirklich abgeſchloſſen halten dürfte und nicht für die Zukunft die Fortdauer der ge-
geißelten Zuſtände erwarten müßte. Daß der Verfaſſer ſich faſt ganz auf angewandte Kunſt
beſchränkt, ändert nichts an der Allgemeingültigkeit feiner Ausführungen, und ein jeder wird
unſchwer die Erweiterung und Nutzanwendung auf das ganze Kunſtgebiet ziehen können.
gartmann zeigt, wie die umgeſtaltung unferes ſozialen Lebens, die damit verbundene Fülle
neuer Aufgaben für unſere Kunſt den Boden bereitet hatte für die allgemeine Erkenntnis der
Wahrheit des vom weitausſchauenden Semper geprägten Forderung: „Die Löſung der mo-
dernen Aufgabe ſoll aus den Prämiſſen, wie fie die Gegenwart gibt, frei heraus entwickelt
werden. Aber während Semper die Aufgabe löſen wollte, „mit Berückſichtigung jener traditio-
nellen Formen, die ſich Jahrtauſende hindurch als unumſtößlich wahre Ausdrücke und Typen
gewiſſer räumlich und ſtruktiv formeller Begriffe ausgebildet und bewährt haben“, betonte
die neue Bewegung das Herausarbeiten aus den neuen Aufgaben im Grunde weniger be-
jahend für das Neue, als verneinend gegen das Alte. Der Widerſpruch gegen die fernere Ver-
wendung der hiſtoriſchen Stilformen, die Ablehnung jeglicher Verbindung mit der Überliefe-
rung, ſind eigentlich die einzigen Grundſätze, die immer durchhalten, während die bejahenden
Forderungen ſich eigentlich von Fahr zu Fahr ändern. Er iſt aber ganz natürlich, daß aus einem
vorwiegend verneinenden Standpunkt niemals ein neuer Stil aufgebaut werden kann. Denn
alle Stilkraft iſt einem ſolchem Grade Bejahung, daß alles Stilmäßige überhaupt erſt Stil-
geltung erlangt, wenn es ſich zur allgemeinen Anerkennung durchgeſetzt hat. Die Geſchichte
unferer angewandten Kunſt von der Geburt des ſogenannten Zugendſtils in der Darmſtädter
Ausſtellung um 1900 bis zum Kriegsausbruche, lieſt ſich wie eine Geſchichte aus dem Frren-
hauſe, erſt recht, wenn man ſie ſich aus der gleichzeitigen Kunſtkritik zuſammenſchreibt. Wie da
dieſelben Leute alle paar Fahre ein ganz anderes Geſtaltungsprinzip als Offenbarung ver-
künden, alles andere, auch ihren eigenen zurückliegenden Glauben, verdammen und überhaupt
ohne jeglichen Zuſammenhang mit der Vergangenheit oder dem Volkstum der Gegenwart,
womöglich mit dem Kampfrufe der „Freiheit“ lediglich ihre perſönliche Meinung eines ver-
ſtiegenen Kunſthochmutes gelten laſſen wollen — das iſt ein derartig lächerliches Bild, daß
man ruhig dieſe ganze Geſellſchaft und ihr Treiben ſich ſelbſt überlaſſen könnte, wenn es noch
wahr wäre, daß Lächerlichkeit tötet. Da das aber nicht der Fall iſt, da vielmehr in einer dienſt⸗
willigen Preſſe dieſe Gruppe von Kunſtſchriftſtellern dauernd an der wechſelſeitigen Beweih-
räucherung, vor allem aber an der eigenen Verklärung tätig iſt, wird eine rückſichtsloſe Auf-
klärung der Allgemeinheit höchſtes Gebot.
Zn dieſem Sinne bedaure ich die gelegentliche Zurückhaltung in dem vorliegenden
Buche, ſo begreiflich ſie iſt, aber wenn der Verfaſſer ſehr richtig betont, „daß der wichtigſte Faktor
für die Stileinheit in der durch die Abſtammung und die Zugehörigkeit zu einem beſtimmten
Volkstum bedingten geiſtigen und ſchöpferiſchen Veranlagung der Künſtler liegt“, ſo ergibt
ſich doch ganz von ſelbſt, daß der ungeheure Anteil der Juden an unſerer Kunſtſchriftſtellerei
eine geſunde Entwicklung zum Stile einfach unmöglich machen muß. Gerade wenn man ſich
nicht zu einem billigen Antiſemitismus bekennt, muß man hier die größte Schwierigkeit für
die zukünftige Entwicklung unſeres ganzen Kunſtlebens ſehen. Hartmann hat ſicher recht, wenn
er behauptet,, daß die Erfolge des Rünftlers und feine Fähigkeiten für die Mitarbeit an der
Entwicklung des Zeitſtils in der äſthetiſchen Intereſſengemeinſchaft zu feiner Umwelt wurzeln
und Daß dieſe nur dann zu tieferer Wechſelwirkung gelangen kann, wenn fie angeboren iſt, alſo
124 geſus aus Nazareth
auf die Gemeinſamkeit des engeren Volkstums ſich gründet, aus welcher ſowohl der Künſtler
wie auch fein Intereſſentenkreis hervorgegangen iſt. Im Kunſtleben einer Nation ſpielt alſo die
Künftlerindivibualität nur diejenige Rolle, die ihr durch das Weſen ihres Volkstums zugewieſen
iſt“. Auch folgende Sätze ſind unwiderleglich wahr: „Es gibt keinen großen Geiſt, deſſen Art
nicht irgendwie durch ſeine Nationalität, ſeine Abſtammung und den Boden, dem er entwachſen
iſt, beſtimmt wäre. In der ganzen Entwicklungsgeſchichte der Kunſt ſehen wir, wie bis in die
neueſte Zeit hinein die dauernden und epochemachenden Perſönlichkeiten gerade daraus er-
wuchſen, daß ſich in ihnen der Geiſt ihres Volkes und ihrer Zeit potenzlerte. Soweit wir auch
in der Vergangenheit Umſchau halten .. ., zeigt ſich uns, wie deren Erfolge darauf beruhten,
daß fie das Weſen ihres Volkstums am trefflichſten ausſprachen. Von dem Zeitpunkt an, mit
welchem das Volk in ihren Schöpfungen ſein Weſen, den Ausdruck ſeiner eigenen Gedanken
erkannte, jauchzte es ihnen zu, eiferte ihnen nach, verbreitete und vervielfältigte ihre Werke
und ſah in dieſen den Stil ſeiner Art und ſeiner Zeit.“
Machen wir uns dieſe Tatſachen recht klar, ſo müſſen wir die geradezu verzweifelte
Tragik erkennen, in die uns der ungeheure Anteil der Juden an der Kunſtſchriftſtellerei, der
Tages- und Zeitſchriftenpreſſe, bringt. Denn der Jude kann dieſes Verhältnis zum Volkstum
und ſeiner inneren Überlieferung nicht haben; er iſt, ſoweit er nicht ſein eigenes Judentum
verkündet, Gegner jedes Volkstums und aller Überlieferung, daher das ſtändige Gerede von
der Internationalität der Kunſt, daher die ſtete Betonung der Forderungen des neuen Geiſtes,
der „Moderne“. Es iſt eine Ungerechtigkeit, den Juden aus dieſem Verhalten einen Vorwurf
zu machen, denn wenn ſie ehrlich ſind, können ſie zu keinem andern kommen, ſobald ſie ſich
von einem nationalen Judentum befreit haben. Mir ſind dieſe national bewußten Juden, die
Zioniſten ſowohl wie die Kreiſe um Martin Buber nicht nur ſympathiſcher, ſondern auch kulturell
wertvoller, trotz ihrer zuweilen grotesken Selbſtüberhebung, an der gemeſſen der von jener
Seite ſo emſig bekämpfte Germanendünkel derer um Gobineau kindlich beſcheiden iſt. Aber
hier ſteht wenigſtens offen eine Volks- und Weltanſchauung gegen die andere, während die
anderen ſtets dabei find, die Grundmauern und Stützen eines ſtarken deutſchen Volksbewußt⸗
ſeins in der Kunſt zu unterwühlen und zu zernagen. Ich ſehe kein anderes Gegenmittel, als die
Beſtärkung jedes einzelnen Deutſchen in der ihm eingeborenen Fühlweiſe für Kunſt und dem
ihm natürlichen Verlangen nach einer feinem Volkstum entſprechenden Formgeſtaltung. Dafür
kann dieſes Büchlein Karl O. Hartmanns gute Dienſte leiſten, es iſt dazu angetan, den
deutſchen Formwillen zu ſtärken, und wenn dieſer wirklich zu einer Macht heranreift, muß er
auch ſeine Erfüllung finden in einem deutſchen Stil. K. St.
Sp
Jeſus aus Nazareth
Bibliſches Oratorium für Soli, Kinderchor, Chor, Orcheſter und Orgel
von Gerhard von Keußler
Deutſche Uraufführung am 2. und 3. März in Elberfeld
=. eußlers „Sefus aus Nazareth“, der im Sommer 1917 unter Leitung des Kompo-
DS niſten durch den „Deutſchen Singverein“ in Prag erſtmalig aufgeführt wurde,
UN N beanſprucht in der Entwickelungsgeſchichte des Oratoriums eine beſondere Bedeu-
tung, ſowohl was bie Anlage und Faſſung des Textbuches als auch die muſikaliſche Behandlung
des Stoffes anbetrifft. In „Jeſus von Nazareth“ ſehen wir einen hervorragenden, wohl
gelungenen Verſuch, über die bisher gewohnte Art bibliſcher Oratorien hinauszugehen. Keußler
—
*
NN
8 J
geſus aus Nazareth 125
gibt nicht die Evangelienerzählung durch einen Evangeliſten in Form von Rezitativ und Arie
wieder: er folgt dem modernen Zuge der Zeit und Kunſt, indem er den Bericht über Zeſu
Leben und Wirken nur muſikaliſch durch das Orcheſter malt und ihn dadurch dem Verſtändnis
nahezubringen ſucht. Durch dieſes neue Verfahren wird allerdings die Erzählung nicht ohne
weiteres wie früher durch Anwendung muſikaliſcher Kunſtformen (Rezitativ, Arie uſw.) ver-
ſtändlich, aber fie iſt doch dem inneren Sinne nahegebracht. Taktvoll und feinſinnig hat Keußler
den dibliſchen Zeſus behandelt. Geburt und Auferſtehung find als Geheimniſſe geſchaut und
werden von der gläubigen Gemeinde durch Choralgeſang (Gelobet ſeiſt du Zefu Chriſt — Chriſt
it eſtanden — Chriſt fuhr gen Himmel) gefeiert. Mit dieſer Auffaſſung wird ſich jeder ein-
veftanden erklären können, handelt es ſich doch um Dinge, die wohl nach der Bibel gefchicht-
liche Tatſachen find, aber trotzdem Geheimniſſe des Glaubens bleiben. Ein myſtiſcher Hauch
ligt über Keußlers ganzem „Chriſtus aus Nazareth“, was dem geſamten Kunſtwerk nur zum
Lotteil gereicht. In der Auswahl des Stoffes fehlt kein weſentliches Stück. In wenigen,
trefflich gezeichneten Bildern tritt Jeſus vor unfer Auge, wie er dereinſt auf Erden wandelte.
Geſchickt iſt in die neuteſtamentliche Erzählung Weisſagung und Pfalm des Alten Teſtamentes
verwoben. Eine ſinnige Zwiſchenhandlung leitet zum 2. Teile des eine dreiſtündige Auffüh-
tungsdauer beanſpruchenden Stückes über. Die Stimmen des alten Bundes weiſt die Ge-
meinde zuruck, die in das neue Jeruſalem einziehen will. „Die Zeit iſt noch nicht da, daß man
des Herrn Haus baue.“ Zuvor muß den Erlöfer ſelber durch Leiden und Sterben zur Herrlich-
keit eingehen, um die Gläubigen dann zur rechten Zeit nachzuholen. Reich an Feinheiten iſt
der 2. Teil: Einſetzung des heiligen Abendmahles, die Worte Zeſu am Kreuze; der Triumph-
geſang „Chriſt iſt erſtanden“ am Schluſſe des Stückes, womit das himmliſche Königtum Chriſti
herrlich zur Darſtellung kommt. Nur ein Künſtler, der perſönlich in die großen Geheimniſſe
der chriſtlichen Kirche eingedrungen iſt, konnte ein literariſches Kunſtwerk formen, welches,
fußend auf Evangelium, Weisſagung, Pſalm und Choral, einen lebendigen, bibliſchen Gottes“
und Menſchenſohn ergreifend vor das äußere und innere Auge ſtellt.
Im Mittelpunkte der muſikaliſchen Behandlung ſteht der Chor, teils als Gemeinde
Jeſu, teils als realer Betrachter. Der evangeliſche Choral ſpielt wie in den Paſſionsmuſiken
und Kirchenkantaten des Thomaskantors eine führende Rolle; durch ihn werden Gefühl,
Leidenſchaft, Demut, Furcht, Schmerz, Anbetung überzeugend und nachhaltig zum Ausdruck
gebracht; bald ſtellt er einen lyriſchen Ruhepunkt, bald einen dramatiſchen Akzent dar. In
letzterer Hinficht iſt am Schluß des 1. Teiles das alte Kampf- und Trutzlied „Ein' feſte Burg
iſt unſer Gott“ von machtvoller, erhebender Wirkung.
Aus dem Munde eines Kinderchores vernehmen wir im Verlauf der Handlung die
Kunde von Feſu Wundertaten mit der Bitte um feinen: Schutz und Schirm.
„Lieber Herr Zeſu, bleibe bei uns!
Seit daß du auf Erden weileſt
Und die kranken Menſchen heileſt
Und geſegnet haſt das Brot:
Das du mit den Sündern teileft —
Gibt es keine Hungersnot,
Keine Krankheit, keinen Tod; —
Lieber Herr Zeſu, bleibe bei uns!“
Dieſes gläubige Bekenntnis und dieſe rührende Kinderbitte verſah der Künſtler mit einer
ſchlichten, volkstümlichen Vertonung, die ganz beſonders ſtimmungsvoll wirkt
Gegenüber dem Chor, dem die Hauptaufgabe zufällt, treten die beiden Soliſten — Tenor
und Alt —, namentlich der Alt, in den Hintergrund. Der Tondichter läßt fie durchweg nur dann
vor oder nach dem Chor auftreten, wenn es ſich um eine dramatiſche Steigerung oder Wirkung
126 geſus von Nazareth
handelt. Aus Der ihnen dadurch im Rahmen des Geſamtwerkes zugewieſenen Stellung erklärt
es ſich, daß wir im Gegenſatz zum klaſſiſchen Oratorium eines Bach, Händel u. a. aus dem
Munde der beiden Soliſten in „Jeſus aus Nazareth“ kein Rezitativ, keine Arie vernehmen.
Die Tenorſoli charakteriſieren Jeſus in großzügigen Strichen als Menſchen, wie er ſich gab
als Bußprediger in der Bergpredigt, als Kinderfreund, in der Abendmahlsfeier, den Seelen
kämpfen in Gethſemane, dem Tode am Kreuze.
Die den Solo-Altſtimmen zugewieſenen wenigen Textſtellen find lyriſch- betrachten
der Art. ö
Der erzählende Evangeliſt des alten Oratoriums fehlt. An feine Stelle tritt das Orcheſter⸗
zwiſchenſpiel. Verſchiedene, im Textbuche kurz wiedergegebene Geſchichten aus dem Leben
geſu — Zeſu Taufe; Verſuchung; das Bekenntnis der Jünger: „Du biſt Gott, denn du biſt
die Liebe!“ Johannis Botſchaft an Zefus, Einzug in Jeruſalem, Gebetskampf in Gethſemane,
Verurteilung — modern in ſinfoniſcher Form durch Orcheſterſätze illuſtriert, wobei das auf-
gezeichnete Bibelwort dem Hörer die Orcheſterſprache aufſchließt und verſtänd lich macht. Wir
haben in „Sefus aus Nazareth“ alſo zum erſten Male eine Art geiſtliche Programmuſik im
größeren, modernen Stile vor uns; in ihr findet tiefe Symbolik, Rleinmalerei (Zefu Zujammen-
brechen unter der Kreuzeslaſt), Naturalismus (Tempelreinigung) neuartigen, beredten Aus-
druck, worauf näher einzugehen leider der Raum verbietet. Von inniger Gefühlswärme iſt
die Orcheſtermuſik zwiſchen Abendmahlsfeier und Gefangennahme. Andere Glanz- und Höhe⸗
punkte des herrlichen Werkes find: Schluß des 1. Teiles (Ein? feſte Burg !); das zarte, ſinnige
Kinderlied „Bleibe bei uns!“; die myſtiſche Abendmahlsfeier; das in verklärte Farben und
Klänge getauchte „Vater Unfer“; die Worte am Kreuze; die Auferſtehung und Himmelfahrt
mit dem jubilierenden: Chriſt iſt erſtanden! Chriſt fuhr gen Himmel!
Keußlers Tonſprache iſt gekennzeichnet durch großen Ernſt, abgeklärte Tiefe und Ver⸗
innerlichung; ſie nimmt ihren Ausgang von der univerſalen Kunſt eines S. Bach, deſſen Stil
fie moderniſiert. Meiſterhaft inſtrumentiert, verdeckt das Orcheſter niemals die Singſtimmen.
Dank einer vorzüglichen Aufführung durch einen gut geſchulten Chor (Elberfelder Kon
zertgeſellſchaft unter Leitung von Profeſſor Buchs-Düſſeldorf in Vertretung des erkrankten
Profeſſors Dr. Hayn - Elberfeld) hatte das neue Oratorium einen von keiner Seite her beſtrittenen,
durchſchlagenden Erfolg. Keußlers „Zefus aus Nazareth“ bedeutet einen weſentlichen Fort-
ſchritt in der Entwickelungsgeſchichte des Oratoriums; er wird ſich ſeinen Weg in die weitere
Öffentlichkeit von ſelber bahnen. H. Oehlerking
——— n ‚PrEPRrTE?
——— 1) * 7 9
N
—— Mn
———i \
A
N * La
—
7 2
I - > 22 —
97h
NN — — 52
N \ ! 27 > == — — 4
e | J 5 a 7 G
N (N | Ze /
OR Ourme
BEER ee ——— —— mn a a Rn = —
— Der Krieg
N - =
De, flemenceau und Graf Czernin — jeder weiß, worum es ſich handelt.
Y Die Wiener Regierung hat die Behauptung Clemenceaus, Kaiſer
a 2 Karl habe in brieflichen Außerungen „den gerechten Wünſchen
SS) Frankreichs auf eine Rückerwerbung Elſaß-Lothringens zugeſtimmt“,
weiterhin noch betont, ſein Miniſter des Außeren ſei der ſelben Meinung, als „von
Anfang bis zu Ende erlogen“ bezeichnet. Und in dem Telegramm Kaiſer Karls
an Kaiſer Wilhelm heißt es: „Obwohl ich es .. . für überflüſſig halte, auch nur
ein Wort über die erlogene Behauptung Clemenceaus zu verlieren, liegt mir
doch daran, Dich bei dieſer Gelegenheit erneut der vollſtändigen Solidarität
zu verſichern, die zwiſchen Dir und mir, zwiſchen Deinem und meinen Reichen
beſteht. Keine Intrige, keine Verſuche, von wem immer ſie ausgehen mögen,
werden unſere treue Waffenbrüderſchaft gefährden.“
„Die Partie iſt zu Ende geſpielt“, erklärt die „Tägliche Rundſchau“. „Gegen-
über einer ſo entſchiedenen Stellungnahme Wiens gibt es kein Markten mehr.
Herr Clemenceau dachte eine Sprengbombe zu werfen, einen unwiderſtehlichen
Keil zwiſchen uns und unſeren Verbündeten zu treiben. Die Sache aber endet
mit einem Bündnisbekenntnis der entſcheidenden Stellen der Habsburger Mon-
archie, wie wir es in fo ſtarker Betonung kaum jemals vernommen haben. So-
wohl die Drahtung Kaiſer Karls wie die Erklärung des Wiener Auswärtigen
Amtes arbeiten den Bündnisgedanken und den Gedanken des Verbundenſeins
auf Gedeih und Verderb jo entſcheidend heraus, daß daneben ſelbſt die Anprange-
rung Herrn Clemenceaus als des Weltlügenmeiſters nur Nebenſache wird. Die-
jenigen Kreiſe bei uns und in Sſterreich, die Luſt hatten und etwa noch hätten,
Fäden zwiſchen Wien und Paris über die Schweiz zu ſpinnen, werden ſich ſagen
müffen, daß die Ausſichten für einen Erfolg ihrer Mühen ſich durch den Verlauf
dieſes Zwiſchenfalls nicht verbeſſert haben. Mag des Grafen Czernin Herr Rever-
tera ſeinerzeit geflüſtert haben, was er will, ſo wird es doch nach dieſem Tag in
Europa niemanden geben, der bezweifeln könnte, daß jetzt nur das gelten kann,
was heute Kaiſer Kar, und das Wiener Auswärtige Amt laut vor aller Welt be-
128 Zürmers Tageduch
kennen und verkünden. Bawider wiegt uns kein Wort eines Clemenceau, keine
Geſchichtsklitterung eines Painlere. Es war eine falſche Spekulation von Gle-
menceau und feinen Schildhaltern, wenn fie annahmen, in den etwelchen ein-
zelnen Unſtimmigkeiten zwiſchen Berliner Stimmungen und Wiener Strebungen
günftige Gelegenheit zu finden für einen ſolchen politiſchen Brunnenvergiftungs-
verſuch gröbſter Art. Man verkennt jenſeits der Grenzen Mitteleuropas die Natur
unſerer Zuſammengehörigkeit und unſerer Meinungsverſchiedenheiten. Man hat
nun wohl draſtiſch genug erfahren, daß Meinungsverſchiedenheiten mit unſerem
Verbündeten völlig, wie die in einer geſunden Familie, der Einmiſchung und
Einwirkung mißwollender Dritter entzogen find. Wo ein Dritter Miene macht,
ſo wie Herr Clemenceau, vermutete Mißſtimmungen auf ſeine unſaubere Weiſe
ausnutzen zu wollen, da wird er ſtets von beiden Seiten aufs unzweideutigſte ſich
aufgefordert fühlen, feine unſauberen Finger aus dem Spiel zu laſſen. ... Die
Stimmen der öſterreichiſchen Mörſer an unſerer Weſtfront klingen uns wohl
lautender als alle diplomatischen Erklärungen ...“
Soweit, fo gut — iſt etwa die Meinung der „Deutſchen Tageszeitung“,
aber ſo ganz befriedigt iſt ſie durch die Wiener Erklärungen noch nicht: „Es bleibt
ein Erdenreſt, zu tragen peinlich.“ Alſo: |
„Raifer Karl und die Erklärung feiner Regierung heben beide zur Beleud-
tung der Unwahrheit der franzöſiſchen Behauptungen hervor, daß öſterreichiſch⸗
ungariſche Truppen jetzt zuſammen mit deutſchen an der Weſtfront kämpfen.
Wenn man in dieſer Tatſache auch keinen Beweis gegen Behauptungen erblicken
kann, die ſich mit Dingen beſchäftigen, welche ſich vor reichlich Zahresfrift begeben
haben ſollen, ſo begrüßen wir naturgemäß vom bundesgenöſſiſchen Standpunkte
die ſtarke Hervorhebung in der Erklärung des Kaiſers und der Wiener Regierung,
daß man in Wien ſich heute mit ſtarker Ausdrücklichkeit auf den Standpunkt der
Waffenbrüderſchaft ſtellt. Raifer Karl weiß feinerfeits, mit welchem unübertreff⸗
baren Maße an Treue der Oeutſche Kaiſer die Bündnisbeziehung zu Oſterreich⸗
Ungarn feit feinem Regierungsantritt betrachtet und behandelt und wie Großes
er gelegentlich für fie geopfert hat.. |
Die Auslaffung der Wiener Regierung lehnt die Beantwortung der
Clemenceauſchen Behauptungen im einzelnen ab und begründet die Ab-
lehnung damit, daß ſonſt die zwei Haupttatſachen verdunkelt würden: daß Cle-
menceau eine Annäherung an Sſterreich- Ungarn geſucht und dann kundgetan
hat, daß Frankreich ohne Elſaß-Lothringen für einen Frieden nicht zu haben ſei.
Wir halten trotzdem den Standpunkt des Grafen Czernin, nicht auf die Einzel
heiten der Behauptungen Clemenceaus einzugehen, für unzweckmäßig und des
halb für bedauerlich, auch vom Standpunkte des Deutſchen Reiches und
des deutſchen Volkes. Das deutſche Volk im beſonderen würde, ſoweit wir
zu urteilen vermögen, beſonderen Wert darauf legen, wenn Graf Czernin
die Unwahrheit aller jener franzöſiſchen Behauptungen nicht nur
allgemein behauptete, ſondern ganz und im einzelnen bewieſe. Für
den öffentlichen Eindruck in anderen Ländern wäre das ebenfalls wichtig geweſen.
Wir betonen dieſen Punkt um fo mehr, als für uns jene zwei Tatsachen eines
rurmers Kcgebuch | 129
demenceauſchen Angebotes einerſeits, des Anſpruches auf Elſaß- Lothringen
andererſeits wirklich nicht von ſolcher Bedeutung ſind, wie Graf Czernin
ſie ihnen zumißt, wobei wir keineswegs in Abrede ſtellen wollen, daß Graf
Gemin ſelbſt Gründe habe, die für ihn als zureichend erſcheinen, jene beiden
Punkte als beſonders wichtig zu behandeln und auf fie die öffentliche Aufmerk⸗
ſamteit in erſter Linie zu lenken.
Der anderen ja für den Grafen Czernin programmatiſchen und deshalb
ſo oft von ihm wiederholten Behauptung, welche er auch Herrn v. Kühlmann
als Richtlinie gegeben hat, müſſen wir auch heute ausdrücklich widerſprechen:
daß „der Krieg an der Weſtfront andauert, weil Frankreich Elſaß- Lothringen er-
obern will“. Wir betonen noch einmal, daß dieſe Behauptung den Tatſachen
nicht entſpricht. Der Krieg iſt nicht entſtanden, weil Frankreich Elſaß-Loth-
ringen haben wollte und haben will, und der Krieg dauert auch nicht aus die-
ſem Grunde fort, ſondern weil die beiden angelſächſiſchen Mächte dem
Deutſchen Reiche die Lebensfähigkeit rauben wollen. Wäre das nicht
der Fall, ſo würde der Wunſch Frankreichs nach Elſaß-Lothringen kein Hindernis
für den Friedensſchluß ſein, ſondern die angelſächſiſchen Mächte würden
Frankreich mit feinen Wünſchen ſchon längſt ſich ſelbſt überlaſſen
baben
Sd in der Abendausgabe, nach den amtlichen Veröffentlichungen. In der
Morgenausgabe des ſelben Tages (11. April) ſchrieb die „O. T.“ noch deutlicher:
„Die bisherigen Beröffentlichungen des Grafen Czernin und Clemenceaus haben,
ohne daß in jeder Einzelheit ſchon unbedingte Klarheit vorhanden wäre, doch ge-
zeigt, daß Graf Czernin ſeit Fahr und Tag ſeinen Vertreter in der
Schweiz ſitzen hatte, und dieſer verſuchte mit dem Vertreter der fran—
zöſiſchen Regierung zu einem Ergebniſſe auf Koſten der Zukunft des
Deutſchen Reiches zu gelangen. Wenn tatſächlich die damalige deutſche
Regierung über dieſe Anfangsſchritte und das Weitere immer unterrichtet ge-
weſen iſt, ſo kann man allerdings wohl begreifen, daß unſere Feinde an die mora-
liſche Durchhaltekraft und an den Siegeswillen des deutſchen Volkes und feiner
Regierenden nicht glauben wollten. Es iſt ein beſchämendes Bild, aber wir be-
grüßen mit Genugtuung, daß dieſes Bild immer genauer und immer öffentlicher
ſichtbar wird. Graf Hertling mußte hier zunächſt eine ſchlimme Erbſchaft über-
nehmen.
Jetzt fällt auch ein neues Licht auf die Verzichtreſolution vom Fuli
1917 und auf die geheimnisvollen Andeutungen ihrer Väter, man dürfe nicht
vergeffen, daß auf die Bundesgenoſſen Rüdjiht genommen werden müſſe, ge-
rade in Beziehung auf das „Kriegsziel“. Die Nolle Herrn Erzbergers wird in
dieſer Verbindung von einer freilich auch ſchon bisher beachteten Seite beleuchtet,
denn Erzberger war nicht nur einer der Haupturheber, wenn nicht
der Haupturheber der Verzichtreſolution, ſondern auch Vertrauter
am Wiener Hofe, und jeden Augenblick in der Schweiz. Herr Scheide-
mann aber tat auf der Reife nach Stockholm in Kopenhagen feine bekannte Auße⸗
rung, über Elſaß- Lothringen werde ſich reden laſſen. ... Ganz abgeſehen aber
Der Timer XX, 15 9
130 | Zürmers Tagebuch
von dieſer Frage [insbefondere auch der, wie weit die Wiener Politik an ihr be-
teiligt war. D. T.], wird es Herrn v. Bethmann Hollweg und feinen Pala-
dinen und ebenſo der Reichstagsmehrheit ‚nor Gott und der Seſchichte“
ewig anhängen, in welche Niederung ſie damals die Stimmung des
Volkes und die Politik des Reiches haben gelangen laſſen. Erſt nach
dem Kanzlerwechſel ſetzte die Hebung ein. |
Nichts iſt charakteriſtiſcher als jene vielbeſprochene Rede Herrn v. Kühl-
manns: man werde Elſaß-Lothringen wirklich nicht herausgeben, was freilich
Blätter der Mehrheit und auch der Regierung nicht abhielt, lange Artikel über
die elſaß-lothringiſche „Frage“ zu ſchreiben und ausführlich zu be—
weiſen, daß und weshalb das Land deutſch bleiben müſſe. Wir haben
damals ſofort auf das Erſtaunliche und Beſchämende der Tatſache hingewieſen,
daß man als Gipfel des Wagemuts und des Siegeswillens, ja überhaupt als
‚„Kriegsziel“ des Deutſchen Reiches die Weigerung hinſtellte: Elſaß Lothringen
nicht herauszugeben. Der theatraliſch-redneriſche Aufwand Herrn v. Kühlmanns
wirkte dabei nicht nur verletzend für das nationale Gefühl, ſondern deutete in-
direkt an, daß über Rückgabe Elſaß-Lothringens irgendwie und irgend—
wo innerhalb der Zentralmächte ‚Erwägungen‘ geſchwebt hätten.
Wenn die Behauptungen des franzöſiſchen Miniſteriums auch nur zu einem
Teile auf Tatſachen beruhen, ſo würden damit die dunklen und unerfreulichen
Vorgänge des vergangenen Jahres noch nicht klar, aber wefentlich erhellt, und
die Linie von Wien (über Rom?) nach der deutſchen Verzichtsreſolu—
tion uſw. ziemlich ſichtbar ſein. So würde ſich auch erklären, weshalb man
in Frankreich und Großbritannien, in Stalien und vor allem in den Vereinigten
Staaten auf jene Kühlmannſche theatraliſche Rede kühl und ſicher ant-
wortete: das werde ſchwerlich das letzte Wort ſein. Im Auguſt 1917 ver-
öffentlichte das ‚Journal de Genève“ einen langen Artikel über den neuen Staats-
ſekretär Herrn v. Kühlmann aus London, in dem u. a. ausgeführt wurde, Herr
v. Kühlmann ſei fo praktiſch, daß man nicht überraſcht werden könnte,
wenn er im Vertrauen auf die wirtſchaftliche Tüchtigkeit des deutſchen Volkes
Elſaß-Lothringen preisgäbe, um ſchnell den Frieden zu haben. Überhaupt
war ſeit dem Frühjahr 1917 auf einmal Elſaß-Lothringen als „Frage“
und „Kriegsziel“ zum öffentlichen Geſpräch in Europa geworden. Es
bleibt noch aufzuklären, ob das von Wien ausgegangen iſt, und ob und inwic-
weit die durch den Namen Bethmann Hollweg charakteriſierten Mächte und Stim-
mungen beteiligt geweſen find ...“
Auch die amtliche Wiener Antwort auf die Clemenceauſchen Behauptungen
und den angeblichen Text des Briefes Kaiſer Karls genügt der „O. T.“ (15. April
nicht, „die Dinge fo klarzuſtellen, wie es wünſchenswert und zweckmäßig wäre.
Wir erfahren mit einigem Befremden aus der Wiener Feſtſtellung, daß Prinz
Sixtus von Bourbon, der Bruder der Kaiſerin Zita, ‚mit der Herbei-
führung einer Annäherung der kriegführenden Staaten befaßt war‘.
War der Prinz Sixtus hierzu beauftragt oder war er ermächtigt, und wenn, von
wem und in welchem Umfange und warum? War es aber, was ſchon wegen des
dus Eh | | 131
Briefwechſels mit dem Kaiſer als se cleſen erſcheinen muß, ein Privat-
vergnügen des Prinzen, ſo wirft ſich ohne weiteres die Frage auf, weswegen er
nicht ſofort desavouiert worden iſt. Wir können uns wenigſtens noch nicht zu der,
wie es ſcheint, Mode werdenden Auffaſſung aufſchwingen, daß jeder beliebige
Privatmann, wenn er gerade nichts anderes zu tun hat, ſich, mit der Herbeiführung
einer Annäherung der kriegführenden Staaten befaßt“. Wir vermögen anderer-
ſeits der Czerninſchen Auslegung nicht zu folgen, wenn er ſagt, daß Clemenceau
mit der ‚Im Range weit über dem Minifter des Außeren ſtehenden Perſönlichkeit“
nicht den Kaiſer, ſondern den Prinzen von Bourbon gemeint habe. Zu einer
ſolchen Auffaſſung liegt in der Tat nicht der mindeſte Anlaß und Grund vor, im
Segenteil!
Die Stelle hinſichtlich Elſaß- Lothringens lautet dem von Clemenceau an-
gegebenen Wortlaute entgegengeſetzt. Wir hätten für richtiger gehalten, wenn
die öſterreichiſche Regierung den ganzen Brief im Wortlaut veröffentlicht hätte,
was um ſo näher läge, als ja aus der angeführten Stelle erſichtlich iſt, daß der
ganze Brief oder aber eine Abſchrift von ihm in Wien vorhanden oder
ſonſt erreichbar iſt. Läge der ganze Wortlaut vor, ſo würde man auch ohne weiteres
erſehen können, welchen Zweck jene Bemerkung Kaiſer Karls hinſichtlich Elfaß-
Lothringens verfolgte, Die Angabe der Wiener Regierung, es ſei ein ‚rein perſön-
licher Privatbrief“ geweſen, der keinen Auftrag an den Prinzen enthielt uſw., ge⸗
nũgt hier wirklich nicht. Vor allem ſcheint uns auch die Frage wichtig und deshalb
nicht zurüͤckſtellbar, aus welchem Grunde und auf welche Anregung der Prinz
Sixtus von Bourbon Dinge an ſeinen Schwager ſchrieb, welche derartige Ant-
worten hervorriefen bzw. hervorrufen ſollten. Mit welcher feindlichen Regierung
oder Perſönlichkeit ſtand Prinz Sixtus in Verbindung? Mit der belgiſchen, mit
der franzöſiſchen oder vielleicht, was aus manchen Gründen gar nicht unwahr—
ſcheinlich wäre, mit britiſchen Staatsmännern oder Fürſtlichkeiten?“
Das Blatt geht dann nochmals auf die Zuſammenhänge der Wiener
Politik mit der deutſchen Verzichtreſolution vom Juli 1917 ein, insbefon-
dere auf die Rolle Herrn Erzbergers, der auch Vertrauter am Wiener Hof
geweſen ſei: „Für die Einbringung der Verzichtreſolution und für ihre Annahme
iſt ein Brief ſchlechthin maßgebend geweſen, welchen Graf Czernin an
Raifer Karl gerichtet hat. Graf Czernin erklärte in dieſem Briefe, Sſter—
reich wolle und müſſe unter allen Umftänden bis zum Winter 1917 Frie-
den haben. Der Abgeordnete Erzberger hat dieſen Brief in der Fraktion und
im Reichsausſchuſſe der Zentrumspartei zur Verleſung gebracht mit dem Be-
merken, er ſei dazu von autoritativer Seite ausdrücklich ermächtigt wor-
den. Daß dieſe ‚autoritative Seite“ nicht in Berlin zu ſuchen war, braucht nicht
betont zu werden. Der Abgeordnete Erzberger hat durch die Verleſung dieſes
Briefes damals die maßgebenden Organiſationen des Zentrums für die Refolu-
tion gewonnen und die überaus lebhafte Gegnerſchaft innerhalb der Partei mit
zeitweiligem Erfolge bekämpft. Daß der Czerninſche Brief auch dem Grafen
Hertling und dem Juſtizminiſter Dr. Spahn bekannt iſt, iſt ſelbſtverſtändlich.
Jener Brief des Grafen Czernin an den Kaiſer von Sſterreich iſt den treuen
132 Zürmers Tagebuch
Händen des Abgeordneten Erzberger übergeben worden, damit diefer betriebſame
und damals ſehr mächtige Mann die Politik des Grafen Czernin im Deut-
ſchen Reiche durchſetze. Graf Czernin wünſchte zum Herbſt 1917 Frieden,
nachdem die ruſſiſche Gefahr für Sſterreich- Ungarn durch das Seutſche
Reich und deſſen aufopfernde Hilfe gebrochen worden war. Graf Czer-
nin verkündete feine ‚neue Weltordnung“, deren Verwirklichung das Seutſche
Reich zu Verkümmerung und Ruin verurteilt hätte. Graf Czernin bzw. Wien
ſuchte ſich den Abgeordneten Erzberger mit genialer Intuition aus, um
das Wiener Kriegsziel in Berlin durchzuſetzen.“ |
Diefe (und noch manche andere) Betrachtungen über die in jedem Falle
tief bedauerliche und höchſt peinliche Angelegenheit find in mehr als einer Rich-
tung ſo berechtigt wie unabweisbar. Es hat noch niemand geholfen, den Kopf in
den Sand zu ſtecken, Tatſachen, die ihn höchſt perſönlich angehen, nicht ſehen zu
wollen. Indeſſen müſſen wir uns mit der Sache abfinden, und jo hat die „T. R.“
— zwar nicht ohne gewiſſe Vorbehalte — recht, wenn ſie meint, daß nach dem
Briefe des Kaiſers Karl an den Deutſchen Kaiſer und den amtlichen Wiener Ex-
tlärungen der Fall für uns erledigt ſein müſſe: „Man mag es in Wien ſelbſt heute
bedauerlich finden, daß man im Jahre 1917, dem Jahre der Entmutigung, Friedens-
ideen nachjagte, die zu keinem anderen Ergebniſſe als dem der Beſtärkung des
Größenwahns der Entente und zu Verſtimmungen und Wirrniſſen im eigenen
Lager führen mußten. Damals war Wien der Vergaſungsherd für den
Willen zum Durchhalten auch in Oeutſchland, und die berüchtigte
Friedensentſchließung des Reichstags vom 19. Zuli iſt Wiener Ar-
ſprungs. Die Vermittlung übernahm Herr Erzberger, auf deſſen Wiener Reiſen
und Berichte wir damals eingehend hinwieſen, natürlich nur, um die übliche Ab-
leugnung in der „Germania“ und das Schweigen oder Angeifern der Mehrheits-
preſſe zu ernten. Ein beſonders gut unterrichtetes Blatt, die ‚Straßburger Poſt',
ſprach damals von ‚privatem Klatſch“, der die Öffentlichkeit nichts angehe, und
das „B. T.“ hielt feinen Schild über Herrn Erzberger. Vielleicht iſt man heute
klarer darüber, was privat, was öffentlich iſt, und auch darüber, wie notwendig
es war, die trübe Quelle des Erzbergerſchen Entmutigungsfeldzuges aufzudecken.
Doch das ſind vergangene Zeiten, über die uns der ruſſiſche Zuſammenbruch, der
Oſtfrieden und die Siege Hindenburgs in Oft und Weſt, vor allem aber die ziel-
ſichere feſte Haltung unſerer Heeresleitung hinweghalfen. Heute känkpfen
öſterreichiſche und deutſche Truppen vereint im Weſten, und Kaiſer
Karl hat ſeine Bündnistreue öffentlich und einwandfrei in herzlichen
Worten vor aller Welt von neuem bekundet. Er wird auch wohl die Brüder
ſeiner Gemahlin, die als belgiſche Offiziere des Roten Kreuzes in dieſem Kampf
um Öfterreihs und Oeutſchlands Exiſtenz auf ſeiten der Feinde ſtehen, in
Zukunft weniger mit ſeinem Vertrauen beſchenken als bisher, Clemenceau aber
wird auch der Kaiſerbrief, nachdem er in ſeiner entſcheidenden Stelle als Fälſchung
abgetan iſt, nicht helfen, ſeine wankend gewordene Stelle zu befeſtigen.“
2
’„,9
E
2
Anbegreiflich oder unglaublich?
M* dieſem Stichwort verſieht die
„ HOeutſche Zeitung“ (Nr. 188), einen
Brief ihres Wiener Mitarbeiters, in dem es
(nach ein: paar, einleitenden Sätzen) heißt:
Die. Kundgebung der öſterreichiſch-unga⸗
riſchen Regierung und das Telegramm Kaiſer
Karls haben uns die Beruhigung gegeben,
daß auch. der Träger der Krone die Unmöglich-
keit. erkannt hat, daß an dem Bündnisverhält-
nis der beiden Reiche ſich irgend etwas ändere,
Was aber leider nicht aus der Welt ge- '
ſchafft werden konnte, das iſt das tief-
begründete und nunmehr aufs neue
genährte Mißtrauen gegen gewiſſe
Kreiſe und Perſönlichkeiten, die es
offenbar als ihre Hauptaufgabe be—
trachten, das Verhältnis unſerer Mon-
archie zu‘ Deutſchland zu trüben, ja
ſyſtematiſch zu vergiften. Der Verdacht,
daß dieſe Beſtrebungen auch von Faktoren ge-
fördert werden, die ihren Platz und Einfluß
in nächſter Nähe des Monarchen haben, hat
durch die Vorgänge der letzten Tage ſeine
Rechtfertigung gefunden. Es iſt nicht zu
leugnen, daß die Familie, der die Reife:
tin Zita entſtammt, mit ihren Neig un-
gen nicht auf der Seite des deutſch—
öſterreichiſchen Bündniſſes ſteht, ſon—
dern daß fie durch ihre verwandtſchaft—
lichen Beziehungen mit den Entente
Staaten dieſen aüch politiſch ſehr nahe
ſteht. Dieſer Umſtand hat ſich in dem Falle,
um den es ſich hier handelt, als geradezu ver-
häng nis voll erwieſen. Die Familie Parma
dürfte wohl auf dem Standpunkt ſtehen, dc$
die Anſprüche Frankreichs auf Elſaß-Loth-
ä
ringen nicht unbegründet ſeien, und ſie wird
vielleicht auch ein Intereſſe haben, dieſer An-
ſicht Ausdruck zu geben und zu wünſchen, daß.
Oſterreich-Ungarn ſich dieſen Standpunkt zu
eigen mache. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß
die Aſpirationen der ropaliſtiſchen
Thronanwärter in Frankreich an Aus-
ſichten ſtark gewinnen würden, wenn es.
ihnen gelänge, Oſterreich- ungarn zu beſtim-
men, ſeinen Einfluß auf Deutſchland im
Sinne eines Verzichts auf Elſaß-Loth-
ringen geltend zu machen. Das Verdienſt,
das ſich die bourboniſchen Thronanwärter in
dieſem Falle um Frankreich erwerben wür-
den, wäre ſo groß und würde dem nationalen
Chauvinismus der Franzoſen jo weit entgegen-
kommen, daß man ſich dazu entſchließen
würde, wieder einmal die Republik mit dem
Königtum zu vertauſchen.“
3 N
Diplomaten nach ihrem Herzen
Di „Kölniſche Volkszeitung“ hatte an-
gedeutet, daß die „Lichnowſkyſche Dent-
ſchrift“ bei der Entſchließung der Reichstags-
mehrheit vom 19. Zuli eine Rolle gefpielt
haben dürfte. Tatſache iſt, jo wird im „Größe⸗
ren Deutschland“ ausgeführt, daß Lihnowftys
Anſchauungen mit denen der führenden Zei-
tungen der Reichstagsmehrheit ganz wefent-
lich übereinſtimmen, wie denn zwiſchen Lich-
nowfty und dem „Berliner Tageblatt“ auch
ein unmittelbarer Zuſammenhang beſteht.
Gerade in dieſen Kreiſen hat er feine Ge-
finnungsverwundten, Es nimmt ſich deshalb
komiſch aus, wenn jetzt jene Zeitungen an-
geſichts des Lichnowſiyſkaͤndals wieder einmal
den lauten Ruf nach Anderung des Kreiſes
134
erheben, aus dem die Diplomaten genommen
werden. Wir find natürlich durchaus der
Meinung, daß für die diplomatiſche Lauf-
bahn nicht irgendwelche äußerlichen Eigen;
ſchaften ausſchlaggebend fein dürfen; Her⸗
kunft muß zuruͤcktreten gegenüber der perſön-
lichen Eignung. Zwei Dinge möchten wir
hier aber beſonders hervorheben.
Diejenigen Diplomaten, deren mangel-
hafte Eignung ſich jetzt wiederholt höchſt
greifbar offenbart hat, haben die Politik
getrieben, die ganz nach dem Herzen der
Verzichtler der Reichstagsmehrheit war. Die
„Frankfurter Zeitung“ war ja ſchon lange,
ſchon vor dem Krieg offiziöſes Organ des
Auswärtigen Amtes, und Lichnowſky iſt nicht
der einzige diplomatiſche Freund des „Ber-
liner Tageblatt“ (es ſei nur an Graf Monts
erinnert). Lichnowſkys Denkſchrift lieſt ſich
wie ein Abklatſch aus dem „Berliner Tage-
blatt“ oder umgekehrt. Abgetakelte Salon
helden ſind gerade die geeigneten Diplomaten,
wenn unſere Vertretung nach außen auf dem
Gedanken des Verzichtlertums beruhen ſoll.
Der müde, alte Lebemann und der eitle Geck,
denen jede Entfaltung von Energie unſym-
pathiſch iſt, ſtellen ja praktiſch in der Diploma-
tie das Verzicht lertum dar. Und immer wieder
haben wir geſehen, daß ſolche Herren die
Politik treiben, die nach dem Herzen der
Führer der Reichstagsmehrheit iſt. Im
Privatleben wiſſen die Kreiſe der „Frank-
furter Zeitung“ und des „Berliner Tageblatts“
ſich durchaus praktiſch und erfolgreich zu be-
tätigen. Aber unſympathiſch iſt ihnen nun
einmal der nationale Aufſchwung, die Geltend⸗
machung der ſtaatlichen und nationalen Kraft.
In den zwiſchenſtaatlichen Beziehungen wün-
ſchen fie ftets nur die Nachgiebigkeit, die An-
paſſung, das Friedensangebot, wobei ſie dann
mit den Wünſchen der matten Salonhelden
der Diplomatie ganz übereinkommen.
Zetzt wird die perſönliche „Neuorientie-
rung“ in der Diplomatie verlangt. Wir ſind,
wie bemerkt, grundſätzlich damit vollkommen
einverſtanden. Aber man hüte ſich, daß man
dabei nicht aus dem Regen in die Traufe
kommt! Die „Neuorientierung“ vollzieht
üb unter dem Zeichen der Porlamentariſie-
Auf der Warte
rung unſerer Verhältniſſe. Vermag man
ſich etwas Schrecklicheres zu denken als eine
Auswahl der Diplomaten nach den Wünfchen
der Reichstagsmehrheit, eine Aufteilung der
diplomatiſchen Stellen auf die Parteien der
Mehrheit, von Erzberger bis Gothein und
Scheidemann und gaaſe? Ein Proͤbchen
von dem drohenden Einfluß der Reichstags
mehrheit haben wir bei der letzten Beſetzung
der Stelle des Staatsſekretärs des Aus-
wärtigen Amts gehabt. Es fehlte damals
keineswegs an ſehr fähigen Perſönlichkeiten
für dieſen Poſten. Aber es genügte ihre Ab-
ſtempelung als „Alldeutſche“ oder „Macht-
politiker“, und ſofort wurden ſie beiſeite ge-
ſchoben. Man male ſich weiter das Bild aus:
Erzberger mit der von ihm in Stalien und
Rumänien fo glänzend bewährten Plumpheit
als Geſandter in London, wo er virtuos „über
den Löffel barbiert“ werden würde, SGothein,
der Kurland und Litauen dem Königreich
Polen einverleiben wollte, in Warſchau uſw.
Wogegen der Fall Lichnowſky
verſchwindet?
inter dem Fall Erzberger, erklärt die
„Deutſche Tageszeitung“: „Man be⸗
denke, was es bedeutet, wenn der Abg.
Erzberger mit einem Briefe des Grafen Czer⸗
nin an den Kaiſer von Sſterreich und vom
Grafen Czernin ‚autorifiert‘ dieſen Brief im
Deutſchen Reichstage bekanntmacht, um die
Verzichtreſolution durchzudrücken, damit Wohl-
gefallen in Wien zu erregen und in weiterer
Folge eine Woge von Kleinmut, Mißvergnü⸗
gen und Zweifel am Siege, ein ſteigendes Miß
trauen gegen die Oberſte Heeresleitung, kurz
eine Stimmung zu verbreiten, welche
noch immer, wenn dauernd, der Vorbote des
Zuſammenbruchs und der Niederlage
geweſen iſt. Der Abg. Erzberger und ſeine
politiſchen Geſinnungsgenoſſen, wie gert
Scheidemann u. a. m. und damals auch Herr
von Payer, aber machten nicht halbe Arbeit,
ſondern erklärten friſchweg weiter, man
mũſſe jeden irgendwie gearteten Frieden - der
offizielle Euphemismus dafür war die Der
ftändigung‘ — annehmen und erſtreben: ber
Auf der Warte \
U Boot- Krieg ſei ein Fehler, die Kriegführung
verfüge nicht mehr über die nötigen Rohſtoffe,
der Hinzutritt Amerikas zu unſeren Feinden
bedeute den Zuſammenbruch uſw. Nachher
dat der Abg. Erzberger verſchiedentlich erklärt:
die Reſolution habe ‚gut gewirkt“. Es wäre
dankens wert, wenn er gerade in dieſem Augen-
blick ſich darüber äußern möchte, wie er dieſe
gute Wirkung verſtanden wiſſen will. Oder
meinte er nur, daß die Reſolution in Wien
gut gewirkt habe? Das könnte, in ſeinem und
Cernins Sinne verſtanden, gewiß richtig fein,
denn — um das bekannte Bismarckſche Wort
zu variieren —: der Appell an die Furcht
im Deutſchen Reichstage hatte lebhaften
Widerhall im deutſchen Herzen ge—
funden, und das war der Triumph des Abg.
Erzberger. Betrachtet man die Erzbergerſche
Aktion an ſich aber, ihre Technik, ihre Abſicht
und ihre Wirkung, ſo kann man den Abg.
Erzberger nur beglückwünſchen, daß
erſich nicht im Militärverhältnis befand
noch befindet. Beiläufig bemerkt, ver-
ſchwindet das Vergehen des Fürſten
Lichnowſky völlig hinter dieſer wohl-
überlegten Aktion des Abg. Erzberger.“
Erzberger auf Reiſen
us einem längeren Aufſatze von Dr.
Otto Helmut Hopfen in der „Deut-
ſchen Zeitung“:
Da wandelt er als Mönch nach Rom —
man denkt unwillkürlich an die Geſtalt des
Abtes von Sankt Gallen (ſ. ©. A. Bürger:
„Wie Vollmond glänzte fein feiſtes Geſicht“.
Und leug nete nicht, daß er in Rom einen
erſchütternden Typ des Oeutſchtums ſpazieren
gefahren, leugnet nicht, daß er ſich auf den
Weg nach Paris und London begeben
hat. (Zum Glück ſcheint er nicht hingekommen
zu ſein.) Er leugnete nicht, daß er Stockholm
und Bukareſt diplomatiſch unſicher gemacht
habe und ſeine diplomatiſchen Künſte am
liebſten auch in Konſtantinopel hätte ſpielen
laſſen. Re ine Spur von Leugnen, ſondern
nur Lachen und beneidenswert kalte
Stirn, daß er ſein Händchen in die
Diebesgeſchichte des Flottenvereins
| 135
geſteckt hatte, leugnete nicht, daß er fein
Nãschen in der Schweiz zur Aufbeſſerung des
Auswärtigen Amtes mit dem „Aroma“ eng-
liſcher, franzöſiſcher und „curialer Atmo-
ſphäre“ gefüllt hat. Ebenſo wenig hat er es
geleugnet, daß er als ſimpler Abgeordneter
ein Arbeitszimmer im Auswärtigen
Amt hat, obwohl ihn ſeit Kriegsbeginn
die Marine beherbergen mußte; er
leugnete nicht den Mißbrauch von ftaat-
lichen Automobilen und Sonderzüg en;
leugnete nicht, daß ſein ehemaliger Fraktions-
genoſſe Wetterle ihn öffentlich der Ver-
quickung von Staats- und Privatgeſchäften
ſonderlich in Rom beſchuldigt hat, und noch
weniger leugnete er ſeine Vertretung der
göttlichen Vorherſehung für die Polen, für
die Getreide verteilung aus der Ukraine,
für die Schauder erregende Verteilung der
ihm von Bethmann Hollweg zur Aus-
füllung überlaſſenen Schecks in Sta—
lien. Ein Tauſendkünſtler, der nach eigenen
Worten „ſtets drei Dinge zu gleicher
»Zeit machen kann“, alſo ſo, wie man ſich
in Buttenhauſen Napoleon I. vorftellt, und
der ſtolz ausrufen konnte: „So viel Geld
wie ich hat niemand zur Verfügung“. —
„Wie kommt der Glanz in meine niedere
Hütte“, möchte man fragen. Er leugnet all
das nicht. Heißt es doch: „Lache Bajazzo“,
und wenn du die Lacher auf deiner Seite
haft, jo merkt niemand, was du verbergen
willſt. So leugnete er auch nicht, ziemlich
gleichzeitig zur Erhöhung ſeines Anſehens
und zur Stärkung ſeiner zarten Behäutung
von Thyſſen und der iriſch-deutſchen Gefell-
ſchaft aus dem Aufſichtsrat hinausgebeten
und trotz aller Verſuche vom jungen Kaiſer
von Oſterreich kein zweites Mal — nach
bekanntgewordenem Mißbrauch — emp-
fangen worden zu ſein. „Flutenreicher Ebro,
blühendes Ufer! Wann wird auf deinen
Matten der Geliebte wandeln?!“ Auch dort
wird er es nicht leugnen, den Holländern
unfere „wahren“ Mißerfolge im U-
Boot-Kriege zur Erzeugung des deut—
ſchen Bruderzwiftes abgefragt und den
Litauern das Rezept gegen Oeutſch—
land verſchrieben zu haben, an dem Verſuche
156
feſtzuhalten, die Mehrheit des Deutſchen
Reichstags immer wieder auf die Zulient-
gleiſung zum Orkus der Lächerlichkeit zu
ſenden, vor allem aber für Oeutſchland als
neuen rocher de bronce die Papſtnote
ſehr zum Schaden des deutſchen Ka—
tholizismus aufzurichten.
Nur zweierlei leugnet er mit der
von Bethmann übernommenen „erhobenen
Stimme“. Erſtens leugnet er, eines Sinnes
mit General Ludendorff zu ſein. Wie wird
alſo dieſer Militärſoldat es vor der Geſchichte
verantworten, nicht täglich dreimal drei
Allheilmittel von Herrn Erzberger erbeten
und drum den Heilgehilfen erzürnt und zum
Fadenzieher an den Gliederpuppen der
Ludendorffhetze gemacht zu haben?! Und
zum zweiten leugnet er es, irgend welcher
Wohlgerüche Arabiens, Meſopotamiens,
Agyptens (alles mögen die Engländer be-
halten) zu bedürfen, um ſeine kleine Hand
weiß zu waſchen; er benutze vielmehr — wie
Pontius Pilatus — die Unſchuld, und ſehet:
ſeine Hand iſt rein. Er lachte, und das
Haus feiner Mehrheit lachte mit ihm.
Stolz konnte der auf Reichs koſten von
ihm eingerichtete Draht, an dem er zieht, der
Welt verkünden: „Erzberger hatte im Reichs-
tag einen guten Tag und die Lacher auf ſeiner
Seite.“ (Siehe „M. N. N.“).
Freilich auch der Abt von Sankt-Gallen
(. G. A. Bürger —: „Wie Vollmond glänzte
ſein feiſtes Geſicht“) blieb ja in Amt und
Würden und Reichtum. Um ſeine Gunſt,
nicht um Hans Bendix', des Schäfers, be-
warben ſich viele und Hohe. Wer kann's
wiſſen — ſo überlegen die leider heute
noch bei uns, viele und Hohe —, ob das
Schickſal nicht in ähnlicher Faſtnachtslaune
den Reichstagsabgeordneten zum Reichs-
kanzler wandelt. Für dieſen Fall wär's
erſt recht unangebracht, ſich ſeine Feind-
ſchaft zuziehen und unter ihm zu leiden.
Man ſieht an Ludendorff, was es koſtet, ein
Charakter zu ſein, ſein reines Händchen nicht
drücken zu wollen.
*
Auf der Warte
Lügenhaft, aber wahr!
n der Sitzung des Preußiſchen Herren-
hauſes vom 10. April ſagte Fürſt Salm-
gorſtmar: „Leider merkt man noch immer
die Hand des Vaters der Reichstagsreſolution,
dieſes Mannes, der politifch, fo viel
auf dem Kerbholz hat, der an einem
Diebſtahl beteiligt geweſen iſt, der.
jo wenig vertrauenswürdig iſt, aber
trotzdem leider heute noch immer von
dem Minifterium für Auswärtige An-
gelegenheiten zu wichtigen politifhen.
Miſſionen im In- und Auslande benutzt
wird.“ >
Lügenhaft, aber Tatſache: heute noch!
Wie lange wird ſich das deutſche Volk auch
das noch gefallen laſſen? Opfert es darum
fein beſtes Blut und Gut, ſchlagen Hinden-
burg und Ludendorff darum die Entſchei-
dungsſchlachten, um für die Strebſamkeiten
„dieſes Mannes“ und feiner Vorder- oder
Hintermänner zu „ſiegen“? Wie lange wer-
den unſere katholiſchen Deutſchen ſich noch
dazu hergeben, mit ihrem blanken Schilde
eine ſolche Führerſchaft („Wirtſchaft, Horatio,
Wirtſchaft!“) zu decken? Gr.
Am unſerer guten Beziehun-
gen“ willen
hat unſere Politik zugewartet, bis es Eng-
land glücklich gelungen iſt, mehrere hun—
derttauſend Tonnen Schiffsraum von
Holland zu erpreſſen und in feinen
Dienſt zu ſtellen. Die müſſen alſo unſere
U-Boote zu all den anderen neutralen Schif—
fen, die denſelben Kurs geſteuert worden
ſind, auch noch „ſchaffen“! Und dann wird
mit dreiſter Stirn behauptet, die Rechnung
auf den U Boot-Krieg ſei falſch geweſen!
„Schon vor Zahr und Tag,“ ſchreibt die
„D. T.“, „als die engliſche Erpreſſungs-
arbeit Holland gegenüber einge ſetzt hatte und
immer ſtärker wurde und man ſich hier und
da in der Welt dachte, fo etwas ſei doch „un-
erhört“, könne nicht geduldet werden und
müſſe die ſtärkſten Reaktionen hervorrufen,
erklärten hervorragende holländiſche Kauf-
Auf der Warte
leute deutſchen Ausfragern, daß das be⸗
ſtändige Nachgeben Hollands gegenüber dem
angelſächſiſchen Drucke nicht zum wenigſten
darauf zurückzuführen ſei, daß von der
deutſchen Seite nicht einmal kräftige
Vertretung der deutſchen Intereſſen
erfolge, geſchweige denn ein Verſuch,
auf die. holländiſche Regierung zu
bruͤken. Die Niederlande ſeien, wie ja jeder
Nederländer wiſſe, derart auf Deutſch-
land ange wieſen, daß man ſich die deutſche
Nachgiebigkeit und Energie loſigkeit des Auf
tretens nur durch Mangel an Selbſt-
vertrauen und durch Fehlen der Zu-
verſicht. auf Erfolg der deutſchen Waf-
fen erklären könne. Wenn man derartige
Anſichten im Laufe der vergangenen Jahre
laut werden ließ, fo erklärte die heutige ſo⸗
genannte Mehrheitspreſſe mit allem was
dazu gehört, das ſeien wieder einmal die
brutalen Rodomontaden alldeutſcher Groß
ſprecher, welche nichts erreichten als die Neu-
tralen vor den Kopf zu ſtoßen. Da ſei das
kluge Einlenken der Regierung zu begrüßen,
denn es bilde die einzige vernünftige und
praktiſch denkbare Politik. Dieſe Weiſe hat
man oft genug gehört, und heute zeigt ſich
als Ergebnis in erſter Linie, daß es unſern
Feinden gelungen iſt, mehrere hunderttauſend
Tonnen Frachtraum in nicht holländiſchen
Häfen feſtzulegen und über ſie zu verfügen.
Dieſe Schiffe ſind nicht von ungefähr in
die feindlichen Häfen gelangt, ſondern ſy⸗
ſtematiſch aus ihnen herausgezogen
worden. Auch dieſer Prozeß hat nicht un-
bemerkt ſtattgefunden, ſondern iſt auch in
Deutfchland bemerkt und vielfach verfolgt
worden. Die deutſche Regierung hätte
es in der Hand gehabt, durch ein ent-
ſprechendes Vorgehen Holland gegen-
über dieſes Manöver der Verpflanzung
der Tonnage in feindliche Häfen zu
verhindern. Die deutſche Regierung hatte
alle Mittel dazu in der Hand, und ſeit
vielen Monaten war eben dieſes Manöver
vollkommen durchſichtig. Trotzdem iſt, um
der „guten Beziehungen“ willen und weil es
unbe quem war, nichts geſchehen.“
Unſer Vertreter in Holland war Herr
137
von Kühlmann. Damals deutſcher Ge⸗
ſandter im Haag — heute Staatsſekretär des
Auswärtigen.
N *
Die verſchleppten Balten in
Sibirien
(seen allen Verſprechungen und den
im Friedensvertrag vereinbarten
Beſtimmungen ſind die aus Livland und
Eſtland verſchleppten Balten in mehr als drei
Wochen langer Reife nach Kraßnojarsk in
Sibirien geſchafft worden. Die Rigaiſche
Zeitung teilt nunmehr mit, daß es einem
der Unglüͤcklichen, Baron Roman Eiefen-
hauſen Alt-Fennern gelungen, iſt, aus dem
Zuge zu entfliehen. Er hat über ſeine 350
Leidensgefährten endlich die zuverläſſigſte
Kunde gebracht.
Die in Dorpat gefangen gehaltenen
Herren wurden am 20. Februar auf den
Bahnhof gebracht, nur zum Teil waren ſie
mit wärmeren Sachen und Lebensmitteln
ausgeſtattet. Am 22. Februar langte der un-
heizbare Zug in Gatſchina an. In den erſten
zweimal 24 Stunden wurde den frierenden
Verſchleppten keinerlei Speiſe oder Trank
gereicht. In Gatſchina fanden ſich dankens⸗
werterweiſe Vertreter der ſchwediſchen Ge-
ſandtſchaft mit Lebensmitteln und warmen
Sachen ein, die jedoch leider den roten Gar-
diſten und noch röteren Revaler Soldaten in
Verwahrung gegeben werden mußten; dieſe
behielten dann auch das meiſte einfach für ſich.
Bis Wjatka ging dann die Fahrt in den un-
heizbaren Wagen weiter, von da ab in heiz-
baren. Bis zu 80 Herren waren in je einem
Wagen eingepfercht. Nur den alten und
kranken Herren konnten Schlafplätze einge-
räumt werden; die jüngeren richteten unter ſich
eine Wache ein. Die mitreiſenden Begleiter
der ſchwediſchen Geſandtſchaft hatten ke inen
Zutritt zu den Gefangenen; ſie ſaßen in
einem Abteit des Konvoiwaggons, nur die
Krankenſchweſter Lia von Stryr durfte aus
ihrem kleinen Vorrat der gangbarſten Arzneien
die Erkrankten und Schwachen ſtärken. Nur
zweimal auf. der ganzen Sirecke von Peters
burg bis hinter Omsk, d. h. in der Zeit von
138
zwei Wochen, wurde den Herren Gelegenheit
gegeben, ſich zu waſchen, d. h. ſich mit Schnee
Seſicht und Hände abzureiben. Trotz aller
Drangſalierung war die Stimmung der ge-
meinſam ihr Leid Tragenden eine auf-
rechte. Nach etwa drei Wochen Fahrt auf
der Station Bolotnaja fand eine plan-
mäßige Beraubung der Verſchleppten
ſtatt. Alles Geld und alle Wertſachen, ſogar
Trauringe wurden den Wehrloſen abge-
nommen; den Ausgeplünderten wurde nur
die Brotration gelaſſen. Den Anſtyengungen
der Reife erlagen die Herren v. Baran ow,
v. Naſackin und Baron Hoyningen-
Huene-Jerwakant. Der Geſundheitszuſtand
der übrigen Herren war verhältnismäßig gut.
Zn Kraßnojarsk find die Verſchleppten in
einem neu eingerichteten Gefängnis einiger-
maßen befriedigend untergebracht worden.
Außer Baron Tieſenhauſen iſt auch ein
Herr Thomſon aus dem Zuge geflüchtet
und in der Heimat eingetroffen. Von einer
Rückſendung der Verſchleppten ver-
lautet jedoch nichts.
Es geht nicht länger an, ſich durch Ver-
ſprechungen der Bolſchewiki an der
Naſe herumführen zu laſſen. Auf Grund
des Friedens vertrages dürfen wir erwarten,
daß deutſcherſeits geeignete Druck—
mittel angewendet werden, um die ſtrikte
Einhaltung der Vereinbarungen zu erzwingen
und damit den Verſchleppten, die zum
Wiederaufbau der Heimat unbedingt
notwendig ſind, die ſofortige ſichere
Rückkehr zu gewährleiſten. St. d. O.
Eine zeitgeſchichtliche Feſtſtel⸗
lung
Seren genug, verbucht die „T. R.“,
haben in den jüngſten Reichstags-
verhandlungen gerade die Redner, die
mit dem größten Pathos für das Selbit-
beſtimmungsrecht der neuentſtandenen
Randitaaten eintraten, und zwar ausgeſpro⸗
chenermaßen, um eine gute Note von
unſeren Gegnern zu bekommen, in
chren langen Ausführungen nicht ein ein-
ziges Wort dafür übrig gehabt, daß die-
Auf der Warte
ſelben Gegner Holland das Selbſtbeſt im-
mungsrecht nicht einmal über ſeinen
Schiffs raum gelaſſen haben. Dieſe Tat-
ſache muß als gewichtiger Beitrag zur Zeit
geſchichte hier mit regiſtriert werden; denn
das abſichtliche oder unabſichtliche Aberſehen
der ſeeräuberiſchen Druckweiſe und Hand-
lungen unferer Gegner kann unter Umftänden
einen zehnmal ſchädlicheren Einfluß auf
die kommenden Friedens verhandlungen und
unſere zukünftige Stellung als Seemacht
haben, als ſelbſt eine ſchwere Niederlage
zur See.
*
Nicht ſachliche Gründe, ſondern
„öffentliche Meinung“
N einer Rede in Benneckenſtein hat der
frühere Reichskanzler Dr. Michaelis
nach unwiderſprochenen Zeitungsberichten in
einer Betrachtung über feine Tätigkeit an der
Spitze der Reichsgetreideſtelle gejagt:
„Vas beim Getreide gut gelang, ſollte auf
alles andere übertragen werden, und ſo ſind
wir in die Zwangswirtſchaft hineingekommen.
Daß wir es ſo gemacht haben, iſt geſchehen,
weil die öffentliche Meinung es gefor-
dert hat.“ Ä
Dieſer Ausſpruch, bemerkt die „D. T.“,
verdient feſtgehalten zu werden. Einmal zeigt
er, was man heute unterder öffentlichen
Meinung verſteht: der große landwirt-
ſchaftliche Berufsſtand gilt dabei, obwohl er in
dieſer Frage nicht nur als doppelt intereſſiert,
ſondern vor allem auch als beſonders urteils-
fähig in Betracht kommen mußte, überhaupt
nicht mit; vielmehr iſt die Meinung, beſſer
geſagt, die Stimmung großſtädtiſcher
Kreiſe, vor allem der Sozialdemokratie,
eben einfach die öffentliche Meinung!
Zugleich enthält dieſe Außerung des Herrn
Dr. Michaelis aber das klare Zugeſtändnis,
daß die Ausdehnung der Zwangswirtſchaft
nicht auf Grund ſach licher Notwendigkeiten
und Erwägungen, ſondern deshalb erfolgt iſt,
weil die „öffentliche Meinung“, richtig ge-
leſen: die Sozialdemokratie und ihr Anhang,
es gefordert haben.
*
Auf der Warte
Polniſcher Güteraufkauf
nzeige im „Berliner Tageblatt“:
„Wir kaufen ſofort Güter be-
liebiger Größe in den Provinzen Poſen,
Veſtpreußen und Schleſien und bitten
um genaue Anſchläge mit Rentabilitäts-
berechnung. Agenten verbeten. Bank Parce-
laeyjn v-Poſen, St. Martinftr. 39.“
„Die Anzeige“, bemerkt die „D. T.-Z.“
dazu, „beweiſt, wie planmäßig die Polen
die Stärkung an Kapital, die ſie durch ihre
beſondere Haltung in der Kriegszeit gewonnen
haben, dazu benutzen, den durch den Krieg
vielfach geſchwächten deutſchen Grund-
beſitz in der Oſtmark in ihre Hände zu
bringen. Es wird nicht nur beſonders auf-
mertſamer Handhabung der neuen Bundes-
rats verordnung, ſondern auch verſtärkter
Maßnahmen des preußiſchen Staates be-
dürfen, um der vermehrten Gefahr zu be-
gegnen, die dem deutſchen Grund und Boden
in der Oſtmark von polniſcher Seite droht.“
git aber die Hilfloſigkeit, mit der
Preußen und Oeutſches Reich der eigenen
Enteignung gegenüberſtehen, nicht auch
einzig in ihrer Art? Man wird wohl nicht
fehlgehen, wenn man die verlegene Hilf-
loſigkeit der Regierungen Preußens und des
Deutſchen Reiches auf ein ſtrenges Verbot
Erzbergers gegen irgendwelche Gegen-
maßnahmen zurückführt. Daß Erzberger für
die von ihm und feinen Auftraggebern be-
liebte Politik auch über unſer Auswärtiges
Amt verfügi, hat ſich ja erſt kürzlich wieder
bei der Aufwiegelung der Litauer gegen einen
engeden Anſchluß an das Deutſche Reich ge-
zeigt. Gr.
*
Unnötige Wertvernichtung
ährend man in Berlin und in anderen
Großſtädten darauf bedacht iſt, einer
drohenden Wohnungsnot vorzubeugen, hört
man, daß einige Großſpekulanten des Klein-
handels in der Nähe des Berliner Zoologiſchen
Gartens ganze Reihen neuer Zinshäuſer an-
gekauft haben, um ſie niederreißen zu laſſen
und an ihrer Stelle große Warenhäuser zu
159
bauen. Ein derartiges Vorhaben kann in einer
Zeit, da allerſeits Sparſamkeit mit dem
Volks vermögen empfohlen wird und geboten
iſt, unmöglich geduldet werden, denn es hat
eine unnütze Wertvernichtung durch das Ab-
reißen neuer Häuſer und zugleich eine Ver-
minderung der Wohnungen zur Folge. Kann
auf Grund der beſtehenden Geſetzgebung
eine ſolche unnütze Wertvernichtung nicht
verhütet werden, fo mag das Oberkommando
in den Marken kraft feiner Befugniſſe ein-
greifen, und der geſunde Menſchenverſtand
wird ihm beipflichten. Wenn man den Bau
von Warenhäuſern, die den geſchäftlichen
Mittelftand nachhaltig ſchwächen, nicht ver-
bieten mag, ſo darf man ihn nur da geſtatten,
wo unbebauter Grund zur Verfügung ſteht
oder alte baufällige Häufer in Frage kommen.
Das Niederreißen neuer wertvoller Gebäude
iſt mindeſtens während des Krieges und in
der Nachkriegszeit mit einer vernünftigen
Wirtſchafts- und Sozialpolitik unvereinbar.
* b P. D.
Ein deutſcher Kolonialfilm
ls wirkſames Werbemittel für allerlei
Zwecke, ſelbſt bei politiſchen Wahlen,
werden Filmvorführungen in England und
Nordamerika ſchon feit langer Zeit ver-
wendet, nach Kriegsausbruch auch unter
Heranziehung geſtellter Bilder deutſcher
Kriegsgreuel, Niederlagen uſw., um Haß
und Verachtung gegen die Oeutſchen zu er-
wecken und die Kriegsſtimmung zu ſchüren.
Dagegen begnügte man ſich in Deutſchland
mit der Vorführung einzelner Bilder aus
dem Kriege zu Lande und zur See, darunter
Bilder aus dem Möwezuge. Eigentliche
Werbefilme wurden bisher in Deutſchland
ſoweit erſichtlich nur im Intereſſe der Volks-
geſundheit zur Veranſchaulichung der Ge-
fahren anſteckender Krankheiten und mit
Anterſtützung des deutſchen Flottenvereins
durch Vorführung deutſcher Seeſchiffahrts-
bilder hergeſtellt. Eine eigene deutſche Ko-
lonialfilmgeſellſchaft m. b. H. hat ſich die
Aufgabe geſetzt, durch geeignete Filmvor-
führungen weitere Kreiſe für die deutſche
koloniale Sache zu erwärmen und im März
140
einen Film dieſer Art unter dem Titel:
„Farmer Borchardt“ (weshalb nicht An-
ſiedler Borchardt?) in Berlin herausgebracht.
Leider war der Film ein Fehlgriff, denn er
arbeitete hauptſächlich mit verbrauchten Mit-
teln der landläufigen Unterhaltungsfilme,
mit platoniſchem Ehebruch, Selbſtmord ver-
ſuch und Reue, und erſchien durchaus un-
geeignet, ſoweit er in Deutſch-Südweſt⸗
Afrika ſpielte, erfolgreich für die Kolonien
zu werden. Zm Gegenteil mußten Bilder
wie die Überfälle der aufſtändiſchen Hereros
auf das Landhaus geradezu abſchreckend
wirken. Und doch bietet das deutſche Ko-
lonialleben reichen Stoff für Filmbilder.
Da gegenwärtig die deutſchen Kolonien nicht
zu erreichen ſind, ſollten die Unternehmer
bis nach dem Frieden warten, bis ſie die
deutſche koloniale Umwelt mit ihren Reizen,
die deutſchen Anſiedler mit ihrer Tätigkeit
und die Eingeborenen mit ihrem Treiben un-
mittelbar aufnehmen und den Deutſchen da-
heim vorführen können. P. D.
Atelierfeſte und Verwandtes
n Schwabing, dem gelobten Lande aller
Abarten des Kunſtwahnſinns, haben ge-
wiſſe Kreiſe Münchens einen Tag nach Be-
ginn der großen Offenſive das Bedürfnis ge-
fühlt, ein Atelierfeſt mit all feinem Drum
und Dran abzuhalten. Die Entrüſtung der
Münchner Bevölkerung hat die Polizei-
behörde zu eingehenden Unterſuchungen ver-
anlaßt, als deren Ergebnis ſie folgendes
veröffentlicht hat.
„Das Atelierfeſt, das in der Öffentlichkeit
mit Recht fo unliebſames Aufſehen und all-
gemeinen Unwillen erregte, fand, wie die
Polizeidirektion leider erſt nachträglich erfuhr,
tatſächlich letzten Sonnabend abend im
Atelierbau des Geheimrats Prof. Dr. Fr. von
Thierſch, München, Georgenſtraßze 16, als
Maskenball ftatt. Veranſtalter des Feſtes
waren der ledige Regiſſeur Karl Auguſt
Kroih, geb. 1895, zum Militärdienjt un-
tauglich. 2. die amerikaniſchen Staats-
angehörigen Hermann und Lucie Schäffer,
Kunſtmalerseheleute und 3. Frau Romenis
Veranſtaliungen.
Auf der Warte
Wagenſeil geb. Taylor, früher amerikaniſche,
jetzt deutſche Staatsangehörige, deren Ehe-
mann, Schriftſteller Hans Wagenſeil, wegen
Verweigerung der Militärdienſtpflicht ſich in
Haft befindet. An dem Feſt nahmen etwa
140 Perſonen teil, zumeiſt Schriftſteller,
Künftler und Offiziere mit ihren Damen.
Gegen die Veranſtalter des Feſtes wurde
Strafanzeige wegen Abhaltung einer Tanz-
unterhaltung zu verbotener Zeit, groben
Unfugs und wegen Zuwiderhandlung gegen
die Vorſchriften über den Verkehr mit
Lebensmitteln erftattet. . . Es bleibt noch
die Frage offen, aus welchen Gründen Ge-
heimrat Thierſch, der Erbauer zahlreicher
Münchener Monumentalbauten, ſich veran-
latzt geſehen hat, fein Atelier in jetziger Zeit
für einen Maskenball herzugeben.“
Nach unſerer Meinung bleiben noch einige
weitere Fragen übrig, vor allem die, wie es
möglich iſt, daß amerikaniſche Staatsbürger
bzw. eine geborene Amerikanerin, deren
unheilvolle Einwirkung ſich im Verhalten
ihres Mannes genügend betätigt hat, bei uns
eine ſolche Freiheit der Bewegung haben
können, daß ihnen die Veranſtaltung der-
artiger Feſte möglich iſt. Das hat mit deut-
ſcher Gutmütigkeit nichts mehr zu tun, ſondern
ift nicht nur hanebüchen dumm und würdelos,
ſondern auch im höchſten Grade. vaterlands-
feindlich. Denn man muß ſchon abſichtlich
blind und taub ſein, um zu verkennen, daß
derartige Konventikel Brutſtätten für jene
Ourchſeuchung unſerer öffentlichen Stim-
mung ſind, die wir als ſchwerſte Gefährdung
unſerer Widerſtandskraft anſehen müſſen.
Das Feſt in Schwabing iſt nicht vereinzelt.
Die Münichner Polizeibehörde erwähnt in
ihrem Berichte noch ſieben weitere ähnliche
Sn Berlin herrſcht ein
ganz ähnliches Treiben. In Alt-Glienicke
3. B. hat die Gemeindevertretung beſchloſſen,
die dort üblichen, von Ortsfremden ſtark ber
ſuchten Tanzluſtbarkeiten durch eine beſonders
kräftige Beſteuerung zu erfeſſen. Der Münch
ner Bericht kündigt nun an, daß in Zutunft
die Veranſtalter von Tanzunterh. lungen mit
Geld bzw. Gefängnisſtrafen bis zu einem
Zahre belangt werden ſollen. Nach dem
Auf der Warte
obigen Bericht iſt für dies ſkandalöſe Atelier-
feſt zunächſt eine lange Gerichtsverhandlung
voraus zuſehen. Wir find überzeugt, daß das
ganze deutſche Volk — ausgenommen natür-
lich dieſe erlauchten Kunſtgeiſter — es be-
grüßen würde, wenn in ſolchen Fällen mili-
täriſch kurz eingegriffen würde.
Das Betrüblichſte am Ganzen iſt für
jeden Kunſtfreund die Tatſache, daß hinter
allen derartigen Erſcheinungen Künſtlerkreiſe
ſtehen, und zwar, wie man ſieht, nicht bloß
die mit lebenslänglicher Unreife behafteten
Schwabinger Snobs, ſondern auch in hoher
Achtung ſtehende Männer, wie Thierſch. Die
in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege
entwickelte Volksentfremdung eines er-
ſchreckend großen Teiles unſerer Künſtler-
ſchaft enthüllt ſich hier in ihren erſchütternden
Folgen. Der wahnwitzige Kunſthochmut,
dem wir in den meiſten Kunſtzeitſchriften,
in zahlreichen Beſchluſſen und Kundgebungen
zur Theaterzenſur und ähnlichem begegnen,
hat dieſe Kreiſe dem Gemeinſamkeitsgefühl
jo entfremdet, ihnen ihre Sonderbelänge
derartig als einzigen wichtigen Lebensinhalt
vorgegaukelt, daß dieſe ſich als patentierte
Inhaber differenzierter Gefühle auffpielen-
den Nunſtmacher immer wieder eine Gefühls-
roheit bekunden, deren ſich minderbegnadete
Volksangehöoͤrige wenigſtens ſchämen würden.
Sie aber bilden ſich noch beſonders viel darauf
ein. Es wäre höchſte Zeit, daß die ihres
Volkstums und ihrer Volksverpflichtung be-
wußten Künſtlerkreiſe ſich zuſammentäten
und einmal ſehr deutlich von dieſen das große
Wort führenden Kreiſen abrückten. Sonſt
wird unſer Volk, das ein beträchtliches
Maß einer vom Allgemeingültigen abweichen;
den Künſtlerlebensart gutmütig hinnimmt,
zu einer Verachtung des Künſtlertums über-
daupt gelangen. K. St.
*
Die Entwertung der geiſtigen
Berufe
eute, ſchreibt Dr. Spier (München) im
Frankfurter „Freien Wort“, gilt nur
noch auf dem Markte die mechaniſche und
rohe Handarbeit. Die geſuchte und gutbezahlte
141
iſt die der Finger und Muskeln. Die geiſtige
iſt enorm im Kurſe geſunken, ebenſo ihre Ent-
lohnung
Auch nach dem Kriege wird es noch lange
dauern, bis wieder das alte Leben ſich zurück-
findet. Und niemals werden wir wohl die
niedrigen Lebenshaltungspreiſe wieder be-
kommen, die wir früher gehabt haben.
Es wird alſo gut ſein, wenn die geiſtigen
Berufe ſich jetzt ſchon um ihren Platz an der
Sonne kümmern. Und dafür gibt es nur eins:
die Solidarität. Der Zuſammenſchluß der
geiſtigen Berufe zu gemeinſamer ökonomi-
ſcher Arbeit, zur Verbeſſerung ihrer Aus-
ſichten im Daſeinskampfe, im Erkämpfen
beſſerer Stellungen und beſſerer Arbeits-
bewertungen. Denn das darf nie mehr vor-
kommen, daß ein Schloſſerlehrling oder
Schloſſergeſelle ein beſſeres Einkommen hat
als ein Arzt, den er in der Sprechſtunde auf-
ſucht und den er ſelbſt gar nicht mal bezahlt,
ſondern deſſen Leiſtung er von der Kaſſe er-
legen läßt. Es kann kein Zuſtand fein, der
wirklich geſund und empfehlenswert genannt
werden darf, wenn ein Akademiker nach
zehn Studenten- und Aſſiſtentenjahren
weniger verdient als ein ſiebzehn-
jähriger Bube, der überhaupt keine
Vorbildung beſitzt und ſofort nach dem
Verlaſſen der Schule ſchon verdiente.
Dies iſt nur ein Beiſpiel aus der un-
geheuerlichen Umwertung aller Werte und
der materiellen Beurteilung der heutigen
Menſchenleiſtungen. Dieſe Betrachtungsweiſe
würde eine Verrohung und Umftürzung aller
Grundbegriffe bedeuten. Jedes Menſchen
Arbeit ſei geachtet und auch entſprechend be-
zahlt. Aber Qualitätsunterſchiede find in allen
Dingen und Erzeugniſſen menſchlicher Kraft.
Es wird den geiſtigen Berufen nichts
übrigbleiben, als das Beiſpiel der Arbei-
ter nachzuahmen, nämlich ſich zu organi-
ſieren, ſich zuſammenzuſchließen und ſich als
eine geſchloſſene Macht hinzuſtellen.
Dann können ſie auch diktieren, Forderungen
auf einmal zuſammen vorbringen. Der
Streikgeiſtiger Berufe iſt abſolut keine
Utopie. Es find ſchon Arzteſtreiks bei
Kaſſen vorgekommen. In dem Sinne
142
natürlich, daß jedem Arbeiter ärztliche Hilfe
gewährt wurde, aber privat, die er ſelbſt be-
zahlen mußte. Die Kaſſen hatten in ſolchen
Fällen derart ſchlecht die ärztliche Leiſtung
honoriert, daß die Arzte einfach keinen andren
Weg wußten oder gehen konnten.
Es gibt jetzt ein geiſtiges Proletariat, das
viel ſchlimmer dran iſt als das arbei—
tende, das im Kriege faſt verſchwunden iſt.
Kunſt und Politik
iener Schriftſteller haben gegen das
Zenſurverbot an René Schickelss
„Hans im Schnakenloch“ und Claudels „Ver-
kündigung“ in Wien folgenden Proteſt ver-
öffentlicht: „Wir unterzeichneten Schriftſteller
fühlen uns zu einem Proteſt gegen das amt-
liche Verbot veranlaßt, mit dem man die Auf-
führungen der Werke von Schickels und Clau-
del belegt hat. Wir finden es eines Kultur-
volkes unwürdig, wenn Angelegenheiten der
Kunſt vom politiſchen Standpunkt aus be-
urteilt werden. Es wird durch ſolche Ver-
mengung der Kunft mit der Politik der
Kunſt geſchadet und der Politik nicht genützt.
Die Erfüllung unſerer ſtaatsbürgerlichen
Pflichten wird in keiner Weiſe davon be-
hindert, daß wir dem menſchlichen Genius
huldigen, in welcher Nation immer er Ge-
ſtalt annimmt. Hermann Bahr, Franz Blei,
Theodor Däubler, Paris v. Gütersloh, Alfred
Polgar, Dr. Artur Schnitzler, Jakob Waſſer-
mann, Franz Werfel u. a.“
Die Wiener Schriftſteller haben in ihrem
Eifer völlig überſehen, daß wenigſtens im
Falle Claudel das Verbot mit „Politik“
gar nichts zu tun hat. Herr Claudel hat, trotz-
dem er lange Jahre in Deutſchland gelebt
und für ſein dramatiſches Schaffen eine
Förderung erfahren hat, um die ihn mancher
deutſche Oichter beneiden dürfte, und die ihm
von feinem franzöſiſchen Vaterlande nicht zu-
teil wurde, ſich zu Beginn des Krieges nicht
verkneifen können, gegen Deutſchland und
Deutſchtum loszuſchimpfen. Wer das ver-
gißt, handelt nicht überlegen, ſondern cha-
rakterlos. Obendrein iſt Claudels „Ver-
kündigung“ kein Werk, durch deſſen zeit-
Auf ber Warte
weilige Vorenthaltung der geiſtige und künft-
leriſche Beſitz unſeres Volkes irgendwie be⸗
einträchtigt werden könnte.
Schickeles Drama „Hans im Schnaken-
loch“ aber behandelt ein außerordentlich
politiſches Problem (die elſäſſiſche Frage).
Es iſt blutleere Aſthetiſiererei oder bewußte
Irreführung, zu verlangen, daß gegenüber
einem ſolchen Werke politiſche Erwägımgen zu
ſchweigen haben. Wir wollen doch die Nunſt
nicht ſyſtematiſch als außerhalb des wirklichen
Lebens ſtehend hinſtellen. K. Et.
*
Der käufliche Ehrendoktor
Dosch die Preſſe macht ein Artikel die
Runde, in dem der bekannte Geheimrat
Prof. Schwalbe in der „Oeutſchen medizi-
niſchen Wochenſchrift“ zu der Ehrenpromotion
des Berliner Annoncenpaſchas Rudolf Moſſe
durch die Heidelberger Univerfität Stellung
nimmt. Er kommt natürlich zu einer Ver-
urteilung und hebt die ſchweren ideellen und
ſozialen Gefahren hervor, die in der Möglid-
keit, dieſe höchſte Ehrung unſerer Univerſitäten
durch Geld erwerben zu können, liegen. „Es
liegt z. B. ſehr nahe, daß die Kriegsgewinner
ſich veranlaßt ſehen können, einen Teil ihres
Verdienſtes ſtatt in Olgemälden und Zu-
welen auch in einem Ehrendoktor anzulegen.
Hat der Grundſatz non olet“ aber auf dieſem
Gebiete Platz gegriffen, dann iſt die Grenze
ſchwer zu finden.“
Seltſamerweiſe zieht der Herr Geheimrat
aus dieſer Erkenntnis nicht die einzig richtige
Folgerung, daß der Ehrendoktortitel unter
keinen Umftänden auf Grund einer Geld-
leiſtung verliehen werden dürfe, fondern
macht eine Ausnahme für Stiftungen, die
„eine ganz beſondere Höhe“ erreichen. Bo
findet er nun da die Grenze? — Hier iſt die
einzige Frage: Käuflich oder nicht. Für einen
beſonders dick gefüllten Seldſack bedeutet auch
eine Stiftung „von ganz beſonderer Hohe
keine ſchwere Leiſtung, und es iſt gar nicht
einzuſehen, weshalb ein Kaufpreis zu ſtinken
aufhören ſoll, wenn das Stapel der er
wucherten Tauſendmarkſcheine um einige
Zentimeter höher geworden fi, K. St.
Auf der Warte
Ein „deutſcher Verleger
er deutſche Verlag führt bewegliche
Klage über den Papiermangel. Die
deutſche Schriftſtellerwelt leidet ſchwer unter
ihm. Zahlreiche neue Bücher können des-
halb nicht herausgegeben, bewährte ältere
Werke nicht neu aufgelegt werden. In
dieſer Lage bringt der Verlag von Kurt
Wolff in Leipzig in neuer deutſcher
Ausgabe drei Werke des Franzoſen Ana-
tole France heraus: „Die Götter dürſten“,
„Komödiantengeſchichte“ und „Aufruhr der
Engel“. Man wird ſich nicht darüber wınt-
dern, daß der Verleger, der ſich nicht ent-
bloͤdet hat, im Kriege den von Guſtave FZlau-
bert aus ſittlichen Bedenken oder vornehmem
Geſchmack nicht veröffentlichten Jugend-
toman „November“ mit großem Tamtam
herauszubringen, nun auch die kaltſchnäuzi-
gen Bücher des alten Fronikers Anatole
France für eine geeignete Lektüre in dieſer
Kampfzeit des deutſchen Volkes hält. Auch
iſt bei einem ſolchen Verleger natürlich nicht
das ODeutſchbewußtſein zu erwarten, das ihn
davor bewahren müßte, eines Mannes Bücher
während bes Krieges zu veröffentlichen, den
zu Beginn des Feldzuges weder ſeine ſiebzig
Jahre noch fein vielberufener Skeptizismus
von der Beſchimpfung der „deutſchen Bar-
baren“ zurückzuhalten vermochte. — Aber
ſo viel ſoziales Empfinden und Mitgefühl mit
den ſchwer leidenden deutſchen Schrift-
ſtellern müßte man bei einem deutſchen Ver-
leger als Anſtandsgeſinnung vorausſetzen
können, daß er in dieſer Zeit der Knappheit
nicht deutſchen Beſitz und deutſche Arbeits-
kraft im Dienſte eines Angehörigen des feind-
lichen Volkes verwendet! R. St.
Deutſche Rückſtändigkeit
ie Melba war unbeſtritten der Stern
der diesjährigen Opernſaiſon in Neu-
jork. Wenn ſie ſich in der Art weiter entwickelt
hat, wie ich fie vor einem Outzend von Jahren
„bewundern“ durfte, muß fie jetzt planeten
haft rundlich und polarkalt ſein. Eine ſolche
Freiheit von Gefühl iſt felbft bei Roloratur-
ſchütterte.
145
ſängerinnen jelten. Aber trotz dieſer Puppen-
haftigkeit verſteht fie ſich aufs Geſchäft. Man
entſtammt ſchließlich nicht umſonſt dem Lande
der großen Hammelherden; da verſteht man
ſich auf die Schafinſtinkte. Und ſo erzählt ſie
den gierigen Vankees Wunderdinge, auch wie
ſie zum erſten Male nach Amerika kam:
„Ich weigerte mich ſtets, die Reife zu
machen, aber der Manager Hammerſtein
wollte mich durchaus dazu veranlaſſen. Als
ich wieder einmal abgelehnt hatte, zog er
ſchweigend eine ungeheure Brieftaſche her-
vor (er trug immer einen Patentreiſekoffer
voller Banknoten in der linken Bruſttaſche)
und begann alle Einrihtungsjtüde in meinem
Zimmer, Tiſch, Stühle, Klavier uſw., voll-
kommen mit Banknoten zu bedecken. Darm
nahm er feinen Hut und ging. Ich zählte die
Banknoten, es waren 100000 Franken. Ich
übergab fie meinem Bankier und ſchiffte mich
nun endlich nach Neuyork ein.“
3h freue mich dieſer holden Märchen, mit
denen ſchon die Patti kindliche Gemüter er-
Denn wie werden ſich unſere
„deutſchen“ „königlichen“ Rammerfängerin-
nen ärgern, die edlen Damen Matzenauer
und Hempel, die allwöchentlich einem Aus-
frager verſichern, daß ihre ganze Lebens-
ſehnſucht Dollarika gilt, daß ſie keine Gefahr
ſcheuten, um auch im Kriege hinüberzutom-
men, daß fie ihr Vaterland haſſen und ver-
achten und nicht einſchlafen könnten, wenn
fie nicht zuvor wenigſtens einmal das er-
greifend ſchöne Lied vom „Sternenbanner“
geſungen hätten. Und trotzdem (trotzdem 7
iſt ihr Sternenglanz geringer und — ®
Schmerz! — der Dollar rollt ihnen jpär-
licher zu. Nach unſerer Sprache zu ſchließen,
kann man vor Neid platzen. O wenn das doch
nicht bloß bildlich geſchähe! St.
*
Schmock⸗Geiſt
De Berliner Illuſtrierte Zeitung brachte
vor kurzem ein Bild mit der Unter-
ſchrift: „Der Schweizer Romanfcriftiteller
Paul Zlg mit feiner Braut, der Schweſter des
gefallenen deutſchen Kampffliegers Jmmel-
mann.“ sch unterdrüde alle Bemerkungen,
14
die ſich mir angeſichts des Bildes über dieſes
ſelbſt aufdrängen. Aber die Tatſache, daß
dieſe verbreitete Bilderzeitſchrift die Ver-
lobung dieſes Schriftſtellers für wichtig genug
hält, um ihr ein beträchtlich großes Bild zu
widmen, legt den Gedanken nahe, Herr Paul
Ilg müſſe ſich wohl um die deutſche Sache
beſondere Verdienſte erworben haben. Denn
was geht ſonſt ſchließlich das deutſche Volk
jetzt im Kriege ſeine Verlobung an? Es iſt
nun allerdings von Herrn Paul Ilg kurze
Zeit etwas mehr geredet worden, als es
feine Werke in rein literariſcher Hinſicht be-
dingt hätten, und zwar wegen feines Ro-
manes „Der ſtarke Mann“. Herr Ilg hat,
wie das Verhalten der Berliner Illuſtrierten
Zeitung zeigt, gute Verbindungen in Oeutſch⸗
land, und jo wird es ihm auch nicht ſchwer
fallen, zu gegebener Zeit das Urteil über
dieſen Roman zu lenken, wie es ihm paßt.
Da für uns in Zukunft die richtige Beurteilung
derartiger Herren aus dem neutralen Aus-
lande ſehr wichtig iſt, halten wir es für unfere
Pflicht, einen Artikel der „Gazette de Lau-
sanne“ vom 3. März 1918 hier feſtzuhalten,
um ſo mehr, als er auch nach anderer Richtung,
zumal für die politiſche Wühlarbeit in der
welſchen Schweiz, recht bezeichnend iſt. Es
heißt da: „Man hat in der Schweiz, in der
deutſchen wie in der franzöſiſchen, viel über
den „ſtarken Mann“ von Paul Zig geſprochen.
Bekanntlich geißelt der Verfaſſer in dieſem
Buche die fremde Art und den fremden Geiſt,
den einige in unſere Armee einzubuͤrgern
ſtreben, und zeigt, wie beide unſerm Volke zu-
wider ſind und ſeine wertvollſten Geſinnungen
verletzen. Offenſichtlich zielte der Verfaſſer,
der übrigens daraus gar kein Geheimnis
machte, auf die Deutſchtümelei unſerer Heer;
führer, die ja durch alles hypnotiſiert ſind,
was von jenſeits des Rheines kommt. Er
rechnete alſo mit dem Verbot ſeines Buches
in Deutſchland und war durchaus nicht über-
raſcht über die gegen dasſelbe ergriffenen
Maßnahmen. Dafür rechnete er ſehr natür-
lich um ſo mehr darauf, in Frankreich geleſen
zu werden und hatte dafür geſorgt, daß eine
Auf der Warte
franzöſiſche Aberſetzung alsbald nach der
deutſchen Originalausgabe erſchien. Frank-
reich verſchloß nun, wie anerkannt werden
muß, dem Buch feine Grenzen nicht. Immer⸗
hin wurde das Buch wenig gekauft, und die
Preſſe brachte keinerlei Notizen darüber.
Von dieſer Gleichgültigkeit überraſcht, forſchte
Herr Paul Ilg nach ihrem Grunde bei Pierre
Mille, dem hervorragenden Mitarbeiter des
„Temps“, der ſich damit entſchuldigte, daß
ein von ihm für „Exzelſior“ geſchriebener Ar-
tikel von der franzöſiſchen Zenſur verboten
worden ſei mit der Begründung, daß eine
Kritik des ſchweizeriſchen Militarismus der
ſchweizeriſchen Regierung unangenehm ſein
könne. Die Begründung der franzöſiſchen
Regierung iſt ja gewiß gut gemeint und dazu
angetan, allen jenen den Mund zu ſchließen,
die die Entente als eine ſtändige Bedrohung
unſerer Unabhängigkeit hinſtellen. Wir ge-
ſtatten uns aber unſererſeits, dieſes Zart
gefühl als über alles Maß hinausgehend zu
bezeichnen. Unſere Schriftſteller ſtellen der
Fremde gegenüber einen bedeutſamen Aus-
ſchnitt unſeres Landes dar; fie zu übergehen,
wenn fie ihr Werk dem öffentlichen Arteil
unterbreiten, heißt ſie in ungerechtfertigter
Weiſe benachteiligen, ohne ihnen die Ge-
legenheit zu geben, ſich Gehör zu verſchaffen.
Findet ſich in dem Buche Paul Ilgs auch
nur das Geringſte, wodurch ſich die franzö⸗
ſiſche Regierung beleidigt fühlen könnte? Nein.
Warum zeigt ſie ſich dann königlicher, als der
König und entwickelt ſolchen Eifer für unſeren
Bundesrat oder unferen Generalſtab?“
Damit genug. Wir erinnern uns, an der
einen und anderen Stelle in Oeutſchland
geleſen zu haben, daß Herr Ilg natürlich nicht
den deutſchen Militarismus, ſondern den
Militarismus überhaupt im Auge gehabt
habe. Nach Frankreich ſcheint er offen“
herziger geweſen zu fein, d. h. für den Fran-
zoſen genügt eben die Beteuerung der
„Objektivität“ nicht. Ein Berliner illuſtriertes
Blatt glaubt inzwiſchen dem deutſchen Volke
das Bildnis dieſes ehrlichen Freundes nicht
vorenthalten zu dürfen. K. St.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: Z. E. Freiherr von Grotthuß + Bilbende Runft und Mufit: Dr. Karl en
«le Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf-Berlin ( Sannſee bahn)
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
3 5 ehe — —
0 = en
2 8 * . *
28 * =
r ‘ hy
* * “ ae
8 5 *
.
r .
. 5 „ 2
* Ph - 8 8
” 4 8 -
pr 2 115 „
# -
. 1 5
* .
. Ä ” 9 ;
+
‘
Er 1 Pe “- a
1 * A N - * *
, 7 8 8
x * 8 =
= & * „
. 3 *
7 .
. 3
; Y . 5 2
.
„
a . 1 1
. , 4
er
* 0 *
. n 8
9
8 . „ 2 - . . ‘ 5
— = & + B
2 5 = er v 5 .
8 * - „ 3
85 ei er B
. 5 8 * :
— „ * f 8 5
8 . .
. B 5 „
. .
2 . „ 2 8
5
-. —— — —y[— 2 — , le -
ee „ * 1 8 8 ee ...
5 ws . = en 3 8 + e
RR Br . „ —
— . * * 2 2 si
1 -- FOR PR. „
= 8 — 8 - 1, 9
. 5
5 x 5 . ‘ z 0
’ 2 5 er = - .
vo. er x .
- a - „
hy . FR N 55
8 ! . “ =
D . Yan *
„ > a
2 5 8 8 5 x — *
0 5 . 8 „ f en
8 55 A DE v
& - „ 5 - *
Dr * >
D # — 54 N
8 - 855 . 2
B x u =
5 u € . Fan Fi ..
” . By . . 5 .
2 „ E 2 .. S
oo. 2 2 5 — 2
se 3 . on * a En
i- .. i - . —
. — 7 85 * 5 0
2 2 2 2 1
. RE . „ -
* 5 Da:
0 . ae RE = x
. 1 2.2 . .
4 n 5 — 4
. . * .
8 5 0 * “ 25 ws . N „
* . “ : 5 .. x
. . BE - 8 *
84 . 4 4 = .
5 - 5 £ ‘ . : 5
8 » u? £ ER ..
” Bu . 25 v
+ 9 DR . 25
— Pr [4
— * 5 * „ 5
0 „ e 2 .
u „ — .
. — * * he
ge - “ ‘ — l
* u 1 „
— . 4 5 —
Br . 0 —
* .. „
8 N 5 5 5 .. 0
B we 2 8 5 x
f
. oo. — 8 Bu b
*
* — — — — — er a 5 5
E * . 5
8 ‘ x * >
5 . 2
' „ 5
3 — —
- *
! B =
1 5 —
0 1 2. . N
. .
. B . Be,
* 5 *
„„ — - „
= u 2 .
ar:
— . ..
8 R
EN 1
—
1 A i
5 2 —
Aue er — *
en ee W ee .
ee ee E E Se *
9 % .
Fe
2 *
Ber
oo
.
5
— * 9
’
eg N
— 8 7 8
„ 8
5 5 3
— 5 —
— * ac kr *
. — 5 E
1 Pi
so 2 *
— „ 7
e
. 8 2
„
. 8 0
* * Fi .
8 .
i *
’
2 .
Ö “ 5 .
x
. 5
1 f
— **
. — „
„ 1 .
. 5
15 5
* .
5
1 =
+
f 5
1
4
*
I;
*
*
0
|
7
7
*
4
Sander-Herweg
Beilage zum Türmer
155 | . BR 45 8
\ „ N EA GL VATER DE 2 Ye ZEN.
ar 2 N h ONCE
EIER
/ R | 5 40
77 175
N
XV
0 i (>
— 4
1775 CE
/ 1 6 12
1 * >
N ‘
0 15
N 7 — 15 > De“ N
= — —
— — % 2
5 G !
* — — < 7 N 9
8 * TE p
a . ————
17 1 BO —— .
5 9% 75 = 2 2 2 x
ar
U 44 u “u
Rrieysaunanab &
Herausgeber: J. C. Breiherr von Grotthuß
Zweites Maiheft 1918
Parteigeiſt und Weltpolitik
. Von Otto Grund (Oſtſeebad Zoppot)
2
—— 0 N
* 7 N 17
e.
=
mer 5
Beft 18
Deutihe können nur durch Deutſche bekämpft werden.
ö Llopb George.
ir machen uns öfter über die geographiſchen Unkenntniſſe der
4 Durchſchnitts-Engländer und Franzoſen luſtig, und mit Recht.
Nenn es wirkt nicht nur komiſch, ſondern auch beſchämend für
s jene Herrſchaften, wenn ſelbſt Leute in führenden Stellungen
in London oder Paris nicht wiſſen, ob eine Stadt in Oeutſchland oder in Sſter-
reich liegt, und ähnliches mehr. In geographiſchen, naturwiſſenſchaftlichen und
geſchichtlichen Kenntniſſen ſind die Deutſchen den andern Völkern zweifellos be-
deutend überlegen, obwohl viele Deutſche in bezug auf die richtige Anwendung
und Ausnutzung gerade ihrer geſchichtlichen Kenntniſſe oft bedenkliche
Schwächen zeigen. Aber eins ſteht feſt, und der innerdeutſche Streit um die Kriegs-
ziele bewies es jeden Tag: im weltpolitiſchen Verſtändnis iſt der angel-
ſächſiſche dem deutſchen „Vetter“ himmelweit überlegen. (Daß er ſich in der Mög-
lichkeit, Deutfchland überwinden zu können, ſchließlich doch verrechnet hat, ſpricht
nicht dagegen, das ſpricht lediglich für die ungeheure deutſche Kraft, die wir in
ihrer ganzen Größe ja ſelber nicht geahnt haben.) Man ſpricht ſo viel vom Kriege
als Lehrmeiſter, ohne gerade allzuviel nach den ſchönen Worten zu handeln. Mehr
als in irgendeiner andern Hinſicht tut uns aber eine gehörige Anzahl Lehrſtunden
in der Weltpolitit not. Denn entweder verzichten wir auf eine nennenswerte
Der Türmer XE, 16 | 10
146 Grund: Parteigeiſt und Weltpolitik
Beteiligung am Welthandel — um deſſentwillen wir, äußerlich wenigſtens, in
erſter Linie Weltpolitik treiben —, und dann brauchen wir uns ja nicht weiter
zu bemühen, dann können wir ruhig Englands frommen Wunſch erfüllen und
von „Potsdam“ nach „Weimar“ zurückkehren; oder wir bekehren uns einmütig
und entſchloſſen zu der Anſicht, daß das neue Oeutſchland Welthandel und Welt-
politik treiben muß, will es nicht verkümmern, und dann haben wir die Folge-
rungen daraus zu ziehen. Nun gibt es aber von rechts bis links unter uns kaum
jemand, der die Notwendigkeit unſerer Teilnahme am Welthandel beſtreitet, nur
die Folgerungen werden von vielen nicht gezogen oder gehen doch ſehr ausein-
ander. Und das iſt nur in Oeutſchland der Fall. England denkt infolge feiner
jahrhundertelangen Schulung außenpolitiſch einheitlicher; man denkt dort höd-
ſtens über die Methoden verſchieden, über Wunſch und Ziel: die wirtſchaftliche
Niederringung und Ausſchaltung Deutſchlands, iſt man dagegen bis auf ver-
ſchwindende Ausnahmen einig. Wo ſich andere Strömungen, in geringem Um-
fange, gezeigt haben, beruhen ſie nur darauf, daß dem Fuchs die Trauben nach
und nach immer ſaurer erſcheinen, keineswegs darauf, daß er ſie überhaupt nicht
haben möchte, daß er aus Überzeugung und moraliſchen Gründen von vornherein
Verzicht leiſtet. Darin liegt m. E. auch der grundſätzliche Irrtum meines politi-
ſchen Freundes Dr. Schepp, wenn er in einem Artikel des „Tag“ (Nr. 269, 1917)
bekennt, daß er gegenüber der Friedensentſchließung des Reichstages deshalb
gewiſſermaßen aus einem Saulus zu einem Paulus geworden ſei, weil er durch
maßgebende und eingeweihte Perſönlichkeiten von ihrer „direkten Lebensnotwen⸗
digkeit für unſer Volk und Vaterland in jener Zeit“ überzeugt worden wäre und
weil er in dem von ihm angenommenen Wachſen der Friedensſtimmung in
den Ländern der Entente einen Erfolg der Entſchließung vom 19. Juli erblicke.
ich meine: wenn überhaupt die Friedens- und „Verſöhnungs“ Neigung in
England wächſt und in Zukunft wachſen wird, dann haben wir das nicht den
Worten der Reichstagsentſchließung, ſondern den Torpedoſchüſſen unſerer U-
Boote und der „Überredungstunft“ des deutſchen Schwertes zu verdanken. Auch
Dr. Schepp ſcheint dieſer realen und deutlichen Sprache die größere Überzeugungs-
kraft beizumeſſen, denn er hielt den Reichstagsbeſchluß nur „in jener Zeit“ (ſeiner
Faſſung) für nützlich, hält es jetzt aber für angebracht, daß der Reichstag erklärt:
„Die wohlgemeinten Friedensangebote der deutſchen Regierung und der Volks-
vertretung find von unſeren Feinden mit Hohn und Frevelmut abgewieſen wor-
den. Aus dieſem Grunde halten wir uns an unſere Erklärung vom 19. Juli v. 3.
nicht mehr gebunden. Der Krieg muß fortgehen bis zum ſiegreichen Ende.
Die Verantwortung hierfür tragen die regierenden Männer der Ententeländer. “.
Wenn die Reichstagsmehrheit das tatſächlich erklären würde, dann könnten wir
allen Streit um die Kriegsziele begraben und uns vollkommen einigen, denn das
übrige würde ſich von ſelbſt ergeben. Aber ich fürchte, es wird kaum zu einer
ſo klaren und entſchiedenen Stellungnahme kommen.
Und warum? Meiner Anſicht nach: weil man ſich in die nach und nach immer
hohler und abſtrakter gewordene Idee eines „Verſtändigungs⸗“ und „annexions⸗
loſen“ Friedens parteiamtlich fo verbiſſen hat, daß das zu einer Art Fetiſch ge
Stund: Partelgeift und Weltpofitit 147
worden iſt, dem gegenüber der blinde Glaube jede vorurteilsloſe Forſchung ein-
fach verbannt. Kurz geſagt: weil man nicht in erſter Linie weltpolitiſch, ſondern
inner- und parteipolitiſch denkt. Das iſt es, was man in England weiß und wor-
auf man bei der ſonſt nutzloſen Kriegsverlängerung baut. Das iſt es, was der
Ober- Engländer Lloyd George ſo „ſchön“ und „treffend“ ausdrückt: „Deutſche
können nur durch Deutſche bekämpft werden!“ Der gute Mann kennt
uns. Möchten wir doch den Spiegel, den er uns vorhält, mit beiden Händen er-
greifen und jeden Tag hineinſehen! Der Satz Lloyd Georges ſollte überall ſtehen,
wohin wir unſere Augen richten. Und vielleicht ſollten wir dabei immer auch an
den Ausſpruch eines deutſchen Dichters denken, der ſein Volk nicht weniger gut
gekannt hat. Hebbel ſchrieb ſchon 1860 in ſein Tagebuch: „Es iſt möglich, daß
der Deutſche noch einmal von der Weltbühne verſchwindet, denn er hat alle
Eigenſchaften, ſich den Himmel zu erwerben, aber keine einzige, ſich
auf der Erde zu behaupten, und alle Nationen haſſen ihn, wie die Böſen den
Suten. Wenn es ihnen aber wirklich einmal gelingt, ihn zu verdrängen, wird ein
Zuſtand entſtehen, in dem ſie ihn wieder mit den Nägeln aus dem Grabe kratzen
möchten.“ Die Friedensentſchließung iſt eine von den urdeutſchen Eigenſchaften,
„ſich den Himmel zu erwerben“. Wir werden von Räubern überfallen, deren.
notoriſche Räubernatur bekannt iſt und Zug um Zug weiter unwiderleglich be-
wieſen wird; unſere Volksvertretung aber will den Räubern ihre gefährlichſten
Waffen, die das deutſche Volk ihnen im erſten flammenden Zorn aus der Hand
ſchlug, ſämtlich wieder überreichen; unſere Volksvertretung lüftet vor den Räubern
höflich den Hut und ſpricht mit großer Verſöhnungsgebärde: Entſchuldigt, daß
wir uns gewehrt und euch dabei leider weh getan haben, aber ſeid beruhigt, ihr
bekommt alles zurück! Oder beſagt die Friedensentſchließung im Kern etwas
anderes? Vielleicht iſt das beſte Wort, das über fie geſprochen worden iſt, doch
das vom Reichskanzler Michaelis: „Wie ich ſie auffaſſe“! Denn die Auffaſſungen
ſelbſt unter den Anhängern der Reichstagsmehrheit ſchillern in allen Farben.
Der eine Zentrumsmann faßt ſie ſo auf, der andre anders; desgleichen geſchieht
bei den Fortſchrittlern; ganz zu ſchweigen von den Nationalliberalen. Und ſelbſt
von ſozialdemokratiſcher Seite iſt betont worden, man dürfe das Friedensprogramm
nicht ſo auffaſſen, daß kein Grenzſtein verrückt werden dürfe. Ja, was heißt denn
nun eigentlich „ohne Annexionen“? Haben Worte noch einen Sinn, oder kann
man ſie ganz beliebig auffaſſen? Vollkommen klar iſt nur dies: das feindliche
Ausland hat ſie einheitlich nach ihrem buchſtäblichen Wortlaut als ein Zeichen
deutſcher Schwäche aufgefaßt, einmal weil es ihm — und beſonders dem Haupt-
gegner England — ausgezeichnet in den Kram paßt, und ferner weil ihm von
den „guten“ Deutfchen ſelbſt immer wieder die trefflichſten Waffen gegen Deutſch-
land in die Hände gedrücktzwerden. Die Leutchen unter uns, die über ihre inner-
politiſche Naſe hinaus keinen Zentimeter weit ſehen können, ſterben nicht aus.
Da bekam es Profeſſor Hugo Preuß — man beachte: ein Profeſſor, der berufs-
mäßig wenigſtens zu einem gewiſſen Grade von Weisheit verpflichtet iſt! —
fertig, im „Berliner Tageblatt“ (Nr. 605, 1917) zu ſchreiben: „Daß die Einführung
ſelbſt des neuen Reichstagswahlrechts in Preußen jetzt noch einen durchſchlagen;
148 Grund: Parteigeiſt und Weltpolltit
den Eindruck im Auslande machen würde, iſt kaum anzunehmen ... Überall
in der Welt wird es geſagt und geglaubt werden: dieſe Regierung hat ſelbſt
in dieſer Zeit ihrem Volke nicht Wort gehalten; wer darf ihren Verheißungen
von einem ‚neuen Geiſt“ in den internationalen Beziehungen, ihren fried ferti-
gen Verſprechungen trauen? Und wie können die kriegsfeindlichen Richtungen
bei den andern Völkern Zutrauen zu einem Volke faſſen, das auch jetzt noch ſolches
geduldig hinnimmt?“ — Daß du die Naſe ins Geſicht behältſt! würde Onkel Bräfig
ſagen. Iſt ein ſolcher weltpolitiſcher Dilettantismus (im jetzigen Augenblick!)
nicht geradezu unheimlich? Selbſt die ſozialdemokratiſche „Internationale Kor-
reſpondenz“ gerät darüber in heftigen Zorn und ſchreibt: „Wir ſehen ganz von der
Beurteilung der Wahlrechtsvorlage ab, aber die grenzenloſe Unverſchämtheit,
den andern Völkern das Recht auf ein ſolches Urteil über Oeutſchland und
das deutſche Volk zuzuſprechen, iſt durchaus geeignet, allen Menſchen mit deutſchem
Ehrgefühl Vorurteile gegen die Demokratie einzuflößen, die dem Wahlrechts-
kampf unmöglich dienen können. Dergleichen Ausſchreitungen verdienen die
ſchärfſte Zurückweiſung.“ Die ernſthaften deutſchen Demokraten haben in der Tat
alle Urſache zur Furcht vor ſolchen Elefantenritten durch das demokratiſche Por-
zellangeſchäft. O Lloyd George, was biſt du dieſem deutſchen Profeſſor gegenüber
für ein Weisheitslicht mit deinem einfachen und klaren Ausſpruch: „Deutſche kön-
nen nur durch Oeutſche bekämpft werden“! Deine deutſchen Helfer drücken dir
die Geißel in die Hand, um die letzten Neutralen gegen Deutfchland aufzupeitſchen,
fie ſchreien dir das Mittel in die Ohren, wie Deutſchland von der Erde weg in N
Himmel gedrängt werden kann.
Nicht ſo elefantenhaft, aber doch in einer für geſchickte Demagogen nicht
weniger ausbeutungsfähigen Art wurden den Entente Führern in der deutſchen
Re ichstagsſitzung vom 10. Oktober 1917 Waffen hingeworfen. Wie jedes Jahr
unterhielt man ſich da über die auswärtige Politik. Gewiß eine Gelegenheit,
jetzt im Kriege wenigſtens weltpolitiſch und klug zu fein. Aber der deutſchen Gründ-
lichkeit und „Objektivität“ hätte es das Herz gebrochen, wenn ſie nicht auch hier
den Feinden die Berechtigung zum Kriege gegen das böſe Oeutſchland zugeſtehen
konnte. Oer fortſchrittliche Redner Haußmann, der in ſchlagender Weiſe noch
einmal die allerdings ſchon öfter unwiderleglich bewieſene feindliche Schuld
am Kriege und an ſeiner Fortſetzung feſtſtellte, mußte durchaus auch „ein Wort
über die deutſche Schuld“ ſprechen (wie er fie auffaßt). Neu war es allerdings
nicht, was er fagte: „Ohne unſere Mitwirkung wäre die Entente nicht gegrün-
det oder nicht ſo feſt geworden ... Dadurch ldurch die Politik der Alldeutſchen]
war es den Gruppen in den feindlichen Ländern, die den Krieg wollten, möglich,
vor ihren Völkern eine deutſche Gefahr an die Wand zu malen, die tatſächlich
nicht beſtand. Ohne dieſe Dinge hätte man in den feindlichen Ländern die Not-
wendigkeit eines Defenſiwbündniſſes gegen die deutſche Regierung nicht glaubhaft
machen können.“ Wirklich nicht, Herr Haußmann? Ohne die alldeutſche Tätigkeit
wäre die Entente nicht entſtanden? Verzeihen Sie die vielleicht unhöflich klingende,
aber nicht ſo gemeinte Frage: Glauben Sie das im Ernſt? Dann leſen Sie, bitte,
einmal die Worte des Präſidenten Wilſon in einer Arbeiterverſammlung über die
Stund: Paxteigeiſt und Weltpolitik 149
Bagdadbahn, in der er u. a. ſagte: „In imperialiſtiſchen Kreiſen Amerikas (man
höre!) ſpielt der Kampf um den chineſiſchen Markt und die Ausbeutung Aſiens
eine ungeheure Rolle. Belgien, Nordfrankreich, Elſaß- Lothringen, oder wie dieſe
kleinen Länder alle heißen — alles das kann ja ſehr intereſſant ſein, aber ſollen
wir außer den Japanern, die ſchon behaupten, daß ſie vor allen anderen Rechte
in China beſitzen, uns auch einer deutſchen Eiſenbahnanlage ausſetzen, die
China mit Europa verbindet, oder ſollen wir nicht jetzt, da die Gelegenheit da
iſt, dieſen Konkurrenten nioderſchlagen?“ Und das däniſche Blatt „Sozial-
demokraten“ fügte dem Bericht darüber hinzu: „Alſo damit die freie Ausbeutung
Indiens durch England und die freie Ausbeutung Chinas und des übrigen Aſiens
durch Amerika nicht bedroht werde, für dieſes Ziel verblutet Europa.“
Sie werden, Herr Haußmann, inzwiſchen auch von der ruſſiſchen Veröffentlichung
der Geheimverträge der Entente Kenntnis erhalten haben, die die brutale Raub-
gier des vereinigten Angelſachſentums in ihrer ganzen Nacktheit als wahren und
einzigen Kriegsgrund enthüllte. Beides iſt zwar nach Ihrer Reichstagsrede vom
10. Oktober geſchehen, aber es hat doch lediglich beſtätigt, was wir längſt wußten,
was für uns keiner Beſtätigung mehr bedurfte. Was wollen demgegenüber die
Aufgeregtheiten einiger Alldeutſcher beſagen? Dieſe Stimmungsmomente, die das
kalt rechnende Angelſachſentum höchſtens als ſolche benutzen konnte, zur Urſache
oder auch nur Miturſache des Krieges zu ſtempeln, heißt doch aus einer Mücke
einen Elefanten machen. Der Krieg iſt gekommen, einfach weil Deutſchland da
iſt, weil es groß geworden iſt und dies den Welträubern nicht paßte. Lohnte
es ſich da wirklich und war es nötig, belangloſe Kleinigkeiten zu einer „deutſchen
Schuld“ zu ſtempeln? Das nenne ich: nicht weltpolitiſch, ſondern politiſch kräh⸗
winkleriſch denken — halten zu Gnaden, Herr Haußmann!
Auf den Reichstag und ſeine Verſöhnungsideen bauten und hofften unſere
Feinde allein noch. Sagte doch der Erſte Lord der britiſchen Admiralität auf einem
Ermunterungsfeſteſſen, es lägen „günſtige Nachrichten über die Schwierigkeiten
in Deutfchland“ vor, „und endlich, was nicht das Unwichtigfte iſt — denn es iſt
höchſt bezeichnend —, die beſtändigen Verſuche auf deutſcher Seite, Friedensgerede
anzuregen.“ Das ewige Schwenken mit dem Ölzweig mußte notwendigerweiſe
Englands ſinkende Hoffnung immer wieder aufpeitſchen (und den Krieg ver-
längern), ſeine Machthaber handeln von ihrem Standpunkt aus ſtreng folgerichtig,
wenn ſie ihrem Volke ſagen: Deutſchland ruft immer wieder nach dem Frieden,
alſo kann es nicht mehr lange aushalten. Hindenburg und Ludendorff wiſſen es
freilich beſſer, und fie verſichern: „Der Krieg wird nicht als Remispartie ab-
gebrochen werden, er wird für uns günſtig entſchieden enden.“ Und während
die Feinde auf den Reichstag hoffen, fürchten ſie unſere Oberſte Heeresleitung.
„Natürlich mußte es wieder ein Deutfcher fein, der das Gewicht ihrer Taten mit Ge-
ringſchätzung alſo charakteriſierte: „Die Arbeiterorganiſationen find heute in der
Lage, in vierzehn Tagen die hohen ſtrategiſchen Talente Hindenburgs und Luden-
dorffs lahmzulegen.“ Daß es ein Reichstagsabgeordneter (Prof. v. Schulze
Sävernitz) war, werden die Engländer doppelt ausnutzen. Nur Oeutſche find fo
„weltpolitiſch“, ihre eigenen Erfolge immer wieder totzuſchlagen, den Feinden
immer wieder ins Ohr zu ſchreien: Seht, hier iſt die Stelle, wo wir ſterblich ſind!
150 Gtund: Parteigeiſt und Weltpolitit
Der Reichstag hat ſich auch in feiner Tagung vom 29. November bis zum
1. Dezember, in der ſich der neue Reichskanzler Graf Hertling vorſtellte, nicht
dazu aufraffen können, einen energiſchen Strich durch feine weltpolitiſch bedauer-
liche Entſchließung vom 19. Juli zu machen. Denn Graf Hertlings ſanfte Mah-
nung, die Feinde mögen es ſich geſagt ſein laſſen, daß die verſöhnliche deutſche
Antwort an den Papſt keinen Freibrief für die freventliche Verlängerung des
Krieges bedeute, beſagte jo gut wie nichts für die rückſichtsloſen engliſchen Macht-
politiker. Hindenburgs Schläge haben Rußland zur Friedensbereitſchaft gezwun-
gen; wieviel mehr erſt wird England ſich allein und ausſchließlich der deutſchen
Macht beugen! Wenn es wahr iſt — und Landtagsabgeordneter Frhr. v. Los-
Bergerhauſen zitiert es im „Tag“ (Nr. 275, 1917) —, daß ſelbſt Scheidemann
in Frankfurt geäußert hat, „die Gegner der Friedensentſchließung des
Reichstages hätten recht behalten“, dann iſt es noch unverſtändlicher, warum
der innerpolitiſch fo entſchlußfrohe Reichstag außenpolitiſch jo ſchwächlich bleibt
und das verfehlte Ergebnis einer falſchen Vorausſetzung nicht einfach in den Orkus
wirft. England und Frankreich vom Edelmut Oeutſchlands durch Gründe über-
zeugen wollen, heißt Waſſer in ein Faß ohne Boden ſchöpfen. Wer im Ausland
ſehen will und durch verſtändige Gründe überhaupt zu überzeugen iſt, der wußte
längſt vor dem 19. Juli Beſcheid und bedurfte einer feierlichen Entſchließung nicht
mehr; für die andern aber — und das find die Machthaber — iſt jedes Wort ver-
ſchwendet, denn ſie wollen nicht überzeugt ſein, erſt das Schwert kann ſie zur
„Einſicht“ bringen. Je ſchärfer wir es anwenden, deſto ſchneller wird die Einſicht
kommen. Auch bei England, dem gegenüber ſelbſt die leiſeſte von Verſöhnlichkeit
und internationaler Schwärmerei diktierte Rückſicht ein weltpolitiſcher Fehler
erſten Ranges iſt. Dem rückſichtsloſeſten Volke kann nur noch größere Rüdfichts-
loſigkeit Achtung abgewinnen. Wenn der einflußreiche engliſche Lord Lands-
downe neuerdings zur Einſicht gekommen iſt (oder wenigſtens ſo ſchreibt), daß
einige der territorialen Wünſche Großbritanniens wahrſcheinlich unerreichbar ge-
worden ſeien, und wenn er einer gewiſſen Verſtändigung das Wort redet, dann
ſteht es felſenfeſt, daß ihn nicht der Verſtändigungswunſch des Reichstages, fon-
dern die deutſche Fauſt zu dieſer Erkenntnis gebracht hat. Und nur ſie allein kann
die britiſche Götterdämmerung ſo beſchleunigen, daß der über die Welt geſpannte
Bau aus Lug und Trug, aus Raubgier und Brandſtiftung endlich zuſammenſtüͤrzt.
Erſt dann, wenn es die Macht hat, kann das Deutſchtum die auch von uns er-
ſehnte Weltmiſſion der wahren Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker aus-
üben. Vorher nicht. Und die Macht muß feſt verankert ſein, im Weſten wie im
Oſten; „Verträge“ hat England nie geachtet. Ein heutiger Verſtändigungspolitiker
mit bekanntem Namen, Friedrich Naumann, hat es in ſeinem „Blauen Buch für
Vaterland und Freiheit“ einſt klar ausgeſprochen: „Man muß etwas, irgend etwas
in der Welt erobern wollen, um ſelbſt etwas zu fein.“ Und noch im dritten Kriegs ·
jahr 1916 ſchrieb er in ſeiner „Hilfe“ erläuternd: „Worin zwar die Verteidigung
beſteht, iſt dem weniger geſchichtlich und geographiſch gebildeten Ourchſchnitts⸗
bürger immer etwas ſchwer zu. verdeutlichen geweſen. Er nimmt die einmal vor-
handenen Landesgrenzen als ein ewiges Geſetz und verſteift ſich, auch wenn er
Grund: Parteigeiſt und Weltpolitit 151
ſehr radikal fein will, auf fonfervativfte Erhaltung dieſer Zufallsgrenzen. Daß es
irgendwo diesſeits oder jynſeits dieſer geſchichtlichen Grenzen etwas gibt, was
man als natürliche Grenze bezeichnen kann oder als militäriſche Grenze,
dafür fehlt die Anſchauung.“
Naumann hat natürlich, als er den „weniger geſchichtlich und geographiſch
gebildeten Durchſchnittsbürger“ ſo plaſtiſch ſchilderte, noch nicht gewußt, daß im
Jahre darauf eine Reichstagsmehrheit eine Entſchließung faſſen würde, auf die
feine Gloſſe geradezu verblüffend paßt. Noch viel weniger wird er damals ge-
wußt oder geglaubt haben, daß er felber dieſer Mehrheit angehören könnte! Sch
ſage das nicht in boshaftem Sinne, fondern mit tiefem Bedauern, daß ſich ein
Kopf wie Naumann heute den früher von ihm gegeißelten Durchſchnittsbürgern
anſchlie t, die, obwohl ſie ſehr radikal fein wollen (ſiehe Scheidemann ), doch in
konſervatipſter Starrheit nur die einfache Formel herbeten können: Was deutſch
iſt, ſoll deutſch bleiben, was belgiſch iſt, ſoll belgiſch bleiben! Viele in Oeutſch-
land werden erſtaunt ſein, ihn in einer politiſchen Geſellſchaft zu finden, die wie
hypnotiſiert durch die Parteibrille auf innere Reformen ſtarrt, während draußen
um die Weltverteilung für Jahrhunderte gerungen wird. Früher weltpolitiſch
mit klarem Blick für Tatſachen, heute in nebelhaften „Verſtändigungs“ Wahn-
gebilden befangen — wenn das der Segen des Parteigeiſtes iſt, dann möchte
man dieſen Geiſt verwünſchen. Los von ihm in der Schickſalsſtunde des Deutich-
tums! Was iſt jetzt Parteipolitik? Sie trennt, ſie teilt. Es werde ihr ſpäter ihr
Recht, wenn deutſche Weltpolitik ihre Aufgabe erfüllt hat. Die aber mahnt:
Hart fein gegen die Räuber der Welt und gegen die Henker der Völker!
Die Menſchheit ſoll einſt unſre Stärke ſegnen, nicht unſrer Schwäche fluchen
. %
*
Nachſchrift
Der vorſtehende Aufſatz iſt ſchon vor einigen Monaten, alſo vor Beginn
der großen Frühjahrsſchlacht mit ihren erfreulichen politiſchen Folgen, gefchrie-
ben, ſeine Veröffentlichung jedoch aus äußeren Gründen mehrfach verſchoben
worden; da aber das Grundſätzliche der Ausführungen beſtehen bleibt, habe ich
ſie im weſentlichen unverändert gelaſſen. Nur einige Nachbemerkungen ſind heute
notwendig geworden.
Wie aus einem ſchweren Traum erwachend fragt ſich heute das ganze deutſche
Volk: Wozu der Lärm? Weshalb haben wir uns eigentlich ſo lange um die blaſſe
Theorie „Verſtändigungs“ oder „Gewalt“ Frieden geſtritten? Hindenburg hat
den Nebelvorhang mit dem Zauberſtabe des deutſchen Schwertes zerteilt, und
plötzlich ſehen wir: Wir wollten alle dasſelbe! Dr. Müller-Meiningen, der unter
den fortſchrittlichen Abgeordneten ſchon lange gegen den Verzichtgedanken des
Reſolutionsſtachels gelöckt hat, ruft aus: „An Abrüſtung, Völkerbund und ob-
ligatoriſchen Schiedsgerichten verzweifle ich!“ Und in einer neuen Schrift „Der
Reichstag und der Friedensſchluß“ (Verlag Duncker & Humblot, München-Leipzig)
ſchreibt er, daß durch die Haltung der feindlichen Regierungen an die Stelle des
Verſtändig ungs-Gedankens der Sicherungs-Gedanke treten müſſe, „nicht
— —
152 | Grund: Parteigeift und Weltpolitzt
bloß in wirtſchaftlicher, ſondern auch in militärischer und politiſcher Rich-
tung“. Ferner: Als „finanzielle Vergewaltigung“ könnten nicht gelten verein
barte Kriegsentſchädigungen in Rohſtoffen oder in Geld. „Wer ſich gegen
einen Räuber oder gegen einen Angreifer zur Wehr ſetzt, wie dies das Deutſche
Reich gegen vielfache Abermacht tut, begeht keine politiſche, wirtſchaftliche oder
finanzielle Vergewaltigung, wenn er einen völkerrechtlich beſtehenden Anſpruch
auf Erſatz des ihm verurſachten Schadens und Sicherſtellung gegen eine
Wiederholung beanſprucht.“ — Ausgezeichnet! Jeder Vaterlandsparteiler
wird das unterſchreiben. Die mit viel Aufwand von Entrüſtung, aber immer itr-
tümlich eines „wüſten Annexionismus“ beſchuldigten Kreiſe um die Vaterlands-
partei haben im Kernpunkt nie etwas anderes als dieſen Sicherungsgedanken
für Deutſchlands Zukunft vertreten; was ihnen darüber hinaus vorgeworfen
wurde, lief auf einen Streit um Worte hinaus, betraf eine reine Zweckmäßigkeits-
frage. Wenn dieſer einzig richtige Sicherungs- und Entſchädigungsgedanke zu
allen Zeiten — auch in den Tagen des Zweifels — von der Reichstagsmehrheit
unverrückbar hochgehalten worden wäre, dann hätten wir uns manche bittere
Stunde und den Feinden manche Hoffnung erſparen können; dann wäre ver-
mutlich die vielgeſchmähte Vaterlandspartei und am Ende gar die berühmte Re-
ſolution vom 19. Juli überhaupt nicht entſtanden! Zedenfalls: Tatſachen find
nicht zu ändern. Schauen wir nicht rückwärts, ſondern vorwärts, und freuen wir
uns der offenbar ſchnell wachſenden rechten Erkenntnis, daß dieſer Krieg nie durch
nachgiebige Verſtändigung, daß er nur durch einen Sieg über unſern Hauptfeind
England zu Ende kommt. Eine gewichtige Stimme aus der verſtändigungsſeligen
Reichstagsmehrheit nach der andern bekennt ſich zum Sieg-Gedanken; aus man-
cher klingt es ſogar wie beleidigt heraus, daß jemals von etwas anderem als von
Sieg die Nede geweſen fein könnte! Selbſt Erzberger, dieſer ſchlimmſte Unglüds-
rabe und unheilvollſte politiſche Schädling, „legt aus“ und ſattelt um, damit er
den Anſchluß nicht verliert. Und der „Vorwärts“, der noch vor kurzem die deut-
ſchen Siege als das einzige Friedenshindernis bezeichnet hatte, und deſſen Freund
Scheidemann die noch an den Sieg Glaubenden für Narren erklärte, iſt jetzt mit
uns „närriſch“ geworden und ſchreibt, nur der baldige völlige Sieg biete
den Weg zum Frieden.
Alſo ſind wir einig, iſt der böſe Traumſpuk endlich vorbei? Dann aber auch
keine Anwandlung von Mäßigung oder Verſtändigungsſucht mehr, die das ver-
einigte Angelſachſentum für abſehbare Zeit niemals begreifen, ſondern immer für
Schwäche oder Blödſinn halten wird! Das amtliche England hat gegenüber dem
ſchamloſen Schiffsraub an Holland den famoſen Ausdruck „rechtmäßige Gewalt“
erfunden. Greifen wir das Wort auf und kehren es gegen England; auf unſerer
Seite hat es eine tauſendmal größere Berechtigung, das ſieht jeder ein, von der
Rechten bis zur Linken. So ſtehen wir da, ein geſchloſſener Kreis, am Ende wie
beim herrlichen Anfang des Krieges; einig in dem Ziel, den verbrecheriſchen Räu-
ber gründlich zu ſtrafen und uns vor einer Wiederholung feiner Gelüfte nahdrüd-
lich zu ſichern; endlich weltpolitiſch geworden!
I
Kreie: Wofuͤr? 155
Wofür?
Von Julius Kreis
inen feiner letzten Urlaubstage verbrachte der Unteroffizier Hans
J Mühlbauer in der großen Stadt. Er war vor dem Krieg Lehrer
in einem kleinen Neſt geweſen, hatte dort jahrelang als ſtiller Menſch
5 O gelebt, gern ein ſchönes Buch geleſen, ein wenig muſiziert und dann
im Krieg mit Hunderttauſenden ſeine Pflicht getan. — Nun ſaß er in einem
lichten hohen Raum an einem feſtlich weißgedeckten Tiſch, fremde Menſchen
um ihn kamen und gingen und plauderten gedämpften Tons. Bisweilen kürrte
leife ein Geſchirr, oder jemand lachte laut aus dem gleichmäßig ebenen Stimmen-
gemenge heraus. |
Es war nicht eines der allererſten Gaſthäuſer, in dem Mühlbauer ſaß, aber
es hatte einen guten Ruf und war, wie man ſo ſagt, ein Treffpunkt der Leute
von Bildung und Beſitz. Ein wenig überwog vielleicht an ſtillen Werktagen die
Bildung.
Es ſaßen da Beamte, Offiziere, wohlhabende Kaufleute, Gelehrte; hin und
wieder trank ein Künſtler vom nahen Hoftheater nach der Abendvorſtellung hier
noch ein Glas Helles; an Sonntagen aber war das „Publikum“ ein ganz klein
wenig gemiſcht. Es ſaßen Leute darunter, die man nirgends einreihen konnte,
trotzdem ſie gut angezogen waren, bisweilen auch einige Damen, Töchter hoher
Beamter oder reicher Kaufleute, die ſich wie Kokotten kleideten, und dann und
wann eine Kokotte, die ſich trug, als wäre ſie die Tochter eines hohen Beamten. —
Der Unteroffizier Hans Mühlbauer fühlte ſich nicht recht behaglich an dieſer
Gaſtſtätte. Er wäre gern in einem kleinen, ſtillen, ſauberen Raum geweſen und
hätte nach dem Eſſen einige Zeitungen geleſen. Aber das ſchien hier nicht üblich.
And ſo betrachtete er ſich die Leute.
Zuerſt den Gaſt, der mit an ſeinem Tiſche ſaß.
Es war ein kleiner, fetter Herr. Auf dem dicken Hals ſaß ein unverhältnis-
mäßig großer Kopf mit hoher, zurückfliehender Stirne. Das Haar war in ſchöne,
kunſtvolle Wellen gelegt, und manchmal glättete fie eine weiße, fleiſchige, kraft-
loſe Hand mit weibiſcher Gebärde. Am kleinen Finger blitzte ein nußkerngroßer
Brillant. Die grünen Augen ſahen hochmütig auf die Gäſte. Sie bekamen manch-
mal einen lüſternen Glimmer, wenn ſich die dralle, gutgewachſene Kellnerin
vorbeizwängte. Aus dem Geſicht ſprang eine große, unſchöne Naſe und beſchattete
wulſtige, gierige Lippen. Das Kinn war ſehr klein und verſchwand faſt zwiſchen
den bläulichen Hängebaden. 5
Die ſchöngeknotete Halsbinde zierte ein goldener Violinſchlüſſel als Nadel.
Mühlbauer ſchloß: Ein Sänger, ein geweſener Sänger, jetzt Geſangslehrer, Kri-
tiker vielleicht. |
Ein eitles Tier. — Er ließ feine Fratze im Krugdeckel ſpiegeln und betrachtete
ſich. — Pfui Teufel!
Dann kam die Suppe. Wie er ſie hinunterſchlürfte und ſchmatzte!
154 Areis: Wofür?
Am Fiſch roch er zuerſt mit feiner widerlichen Naſe wie ein Hund und mäkelte
dann darüber mit der Kellnerin. Er hatte eine unſympathiſche Kaſtratenſtimme
und klagte wie eine verzogene alte Jungfer.
Als der Kerl geſättigt war, tätſchelte er dem Biermädchen die pralle Hüfte
und flüſterte ihr eine Schweinerei zu. Dabei ſah man ein Maul voll Gold, als
er grinſte.
Mühlbauer hätte den Menſchen anſpeien können.
Er wandte ſich weg.
Ihm gegenüber ſaß eine Dame am nächſten Tiſch. Sie war nicht ſchoͤn.
Abgelebt, gedunſen für ihr Alter, mit frechen, hervorquellenden Augen. Ihr
Galan ſetzte ihre Zigarette in Brand. Sie ſaß da wie eine faule Kröte. Ihre Ziga-
rette ſteckte in einer Spitze, und fie gefiel ſich darin, möglichſt ungraziös und heraus-
fordernd das Mundſtück von einem Mundwinkel in den andern zu ſchieben. Ringe
zu paffen und über Vorübergehende hämiſche Bemerkungen zu machen.
Weiter!
Nebenan waren drei junge Herren in tadelloſen, eleganten Anzügen in
heftigem Streit. Einer von ihnen trug eine große Hornbrille.
Sie ereiferten ſich über die Vorzüge — eines Tänzers, der vor einigen
Wochen im Odeon aufgetreten war.
Der Wirt legte ihnen den gelben Tagesbericht über die Kriegsſchauplätze
auf den Tiſch. Der mit der Brille ſchob ihn ärgerlich und gelangweilt beiſeite.
Nach einer halben Stunde ſprachen ſie noch immer von dem Tänzer.
An einem andern Tiſch ſaß eine Gruppe Winterſportler. Sie machten viel
Lärm und wollten überlaut Zugendfriſche, Temperament und Schneid zeigen.
Zwei Jünglinge in weißem „Dreß“. — Krumme, engbrüſtige Burſchen,
denen man die Stubenluft und das Kaffeehaus, die Lyrik und verſchiedenes
andere auf den erſten Blick anſah.
Leider war jetzt dieſer verdammte Sport einmal Mode. Alſo ſchleppte man
halt dieſe blöden Hölzer hinaus. Es ſieht übrigens ſchneidig aus!
Die Mädchen um ſie herum in bunter Wolle und Seide mit viel nach-
gemachtem Norwegertum lachten überlaut, und wenn ſie ſagten: „Bitte, reich'
mir das Salz“, ſo war es, als ſprächen ſie es vor einem Parkett von aufmerk-
ſamen Zuhörern. Alles galt den andern Tiſchen, alles an ihnen ſchrie: Seht her,
ſeht her!
Und wenn einer von den beiden Skijünglingen „hinaus“ ging, dann war
es, als ob ſich ein ſelbſtgefälliger Seiltänzer zur Schau ſtellte.
Nebenan thronte mit „Frau Gemahlin“ er, der von Kellnerinnen ob ſeiner
ſplendiden Trinkgelder vielumworbene Herr Kommiſſionär. Er ſah aus wie Leute
ſeines Schlages. Ein gänzlich unorigineller Protz. Sogar das Brillanthufeiſen
in der Krawatte fehlte nicht.
Über feine „Frau Gemahlin“ iſt dasſelbe zu ſagen. Nur trug fie ſtatt des
Hufeiſens ein Herz als Broſche.
Sie fraßen drei viertel Stunden lang mit Meſſer und Gabel und waren
darin vertieft wie in eine gottesdienſtliche Handlung.
Rreis: Wofür? 155
Nachdem fie ſatt waren, klappte der Dicke eine große Zigarrentaſche auf,
wählte lange, prüfte und drückte mit ſeinen Wurſtfingern jede einzelne der
Importen und ſetzte dann eine davon genießeriſch in Brand.
Dem Zigarrenverkäufer, der mit einer Liebesgabenkiſte im Saal ſammeln
ging, gab er gelangweilt einen Nickel. Die Importen waren ihm fürs Feld doch
zu wertvoll.
- Der Unteroffizier Mühlbauer rief der Kellnerin und zahlte ſeine Zeche. Er
war noch an die Verhältniſſe in ſeinem Neſt gewöhnt, und das Trinkgeld war für
dieſes Gaſtlokal ſehr klein.
Als er in den Mantel ſchlüpfte, war niemand da, der ihm half, und die
Kellnerin ließ ſich in ihrem Geſpräch mit dem geweſenen Sänger nicht ſtören. Ja,
ſie ſagte nicht einmal einen Abſchiedsgruß, wie bei andern Gäſten, ſondern ſchaute
dem Notnickel nur verächtlich und höhniſch nach.
Der Unteroffizier Mühlbauer ſtand draußen auf der kalten, dunklen Straße,
aus dem Café nebenan quietſchte ein kleines Orcheſter altbadene Operetten-
melodien, ein Pärchen ging eng untergefaßt vorbei, und das Mädchen lachte un-
angenehm, überlaut. — An der Straßenecke ſtand ein Betrunkener vor dem
Tagesbericht und lallte vor ſich hin: „Der Hundskriag, Hundskriag ...!“
Da erfaßte Hans Mühlbauer eine große Bitterkeit. Der ganze Abend und
ſeine Menſchen ging blitzſchnell nochmal an ihm vorüber, und als er daran und
an die zwei Jahre Tod und Grauen draußen dachte, da Fan vor ihm die zornige
Frage: Wofür?
* *
*
Er war wieder in feinem kleinen, ftillen Flachlandsneſt. Sein Urlaub war
zu Ende, und er ging zum Bahnhof. Ein blauer Vorfrühlingstag lag fein und
ſeidig über dem Land, alles ſtand in einem zärtlichen, klaren Licht, und aus den
Ackern und Gärten drang ein herber Ruch. Die kahlen ſchwarzen Aſte wiegten ſich
wohlig im lauen Wind, von ganz weit her klapperte ein Fuhrwerk auf der Landſtraße.
Der Lehrer ging an den Häuſern und Höfen vorbei. Er ſah wenig Menſchen.
Die Männer waren alle im Feld, Frauen und Kinder auf dem Acker und im Stall.
Dann und wann ſtand ein barfüßiges, flachshaariges Kind am Weg und
ſah mit großen, fremden Augen auf den Lehrer.
An der Schmiede ſtand das Tor weit offen.
Die Schmiedin werkte am Amboß mit dem Lehrbuben.
Hell klang der Hammerſchlag.
Der Schmied war fort.
Der Lehrer blieb ſtehen. Sein breiter Schatten fiel in den Raum.
Die Schiniedin legte den Hammer beifeite und wiſchte gewohnheitsmäßig
die ſchwarze Hand an der Schürze. Dann trat ſie auf den Lehrer zu.
„Jätt“ Eahna bald net kennt, Herr Lehrer! Geht's ſcho' wieder dahin?“
Der Lehrer ſagte: „Vas macht denn der Schmied? Wo ſteht er jetzt? —
Könnt's do fortmachen, Schmiedin, fo alloa mit dem Buam?“
„Muaß ſcho geh'“, ſagte die ſtarke, geſunde Frau, und in ihrem Lächeln
lag ein wenig Stolz und ein wenig Wehmut.
156 Heitmüller: Richtpofen
Sie gab dem Lehrer die Hand: „Pfüat' Eahfia Gott, und kemma S' guat
wieder hoͤam!“
Ein rotbackiger Bub' lief dem Lehrer nach. Er kam aus einem der letzten
Gütlerhäuſer. In der Hand hielt er einen Winterapfel und reichte ihn verlegen
dem Soldaten:
„Pfüa' Gott, Herr Lehra!“
Der Pauli war in der Schule keiner von den „Leinenen“ geweſen. Fetzt
freute es den Lehrer, daß der Junge noch an ihn dachte.
Vom Acker her rief ihn ein halbwüchſiges Knechtlein, das den Pflug führte,
an: „Herr Lehra, pfüa' Gott, und viel Glück!“
Die Bachmoſerin, ein altes, ausgearbeitetes Weiblein, breitete im Garten
Dung.
Sie gab dem Lehrer über den Zaun her die zittrige Hand und verſprach
zu beten.
Am Bahnhof wandte ſich der Lehrer nochmal um.
Er ſah das Land vor ſich im heiteren, ſtillen Licht der Märzſonne und ſah
die wenigen, guten Menſchen darauf, Kinder dieſes Bodens, Bewahrer dieſer
Scholle. Er ſpürte den Apfel noch in ſeiner Hand. Er ſteckte ihn in die Taſche
ſeines Waffenrocks. Er wußte jetzt wieder: Wofür.
. — —
2 N
fe
KAIRO
Richthofen
Von Franz Ferdinand Heitmüller
Ein Held blich, ſonnenſchimmernd, Die ihm kein Feind vergällte ..
Stoßadler im roten Kleid, Unſterblich ſchien er ſchon,
Hochkönig, im Ather verflimmernd — Bis blöde Tücke ihn fällte
Dem Feinde Schrecken und Neid. Wie Siegfried, den Heldenſohn.
Die Luft war ſein Geſpiele, Es weben die wachſenden Tage
Der Wind fein liebſter Kumpan. Der Helden ſchimmerndes Kleid.
Sie trugen, wie nicht viele, Es blühen im Dunkel der Sage
Ihn liebend ſeine Bahn, Noch Leben und Ewigkeit.
Er wird durch alle Zeiten —
Lebendig, nun er ſchied —
In goldener Brünne fchreiten:
Sein Nam' ein Heldenlied.
W
Oeſtreich: Hie Rriegsorgantfation der Konſumenten 157
Die Kriegsorganiſation der
3 - Bon Paul Oeſtreich
Br m Zeitalter der Arbeitsteilung, der Maſchine, der induftriellen Maffen-
& güterherſtellung, in dem die haus- und kundenwirtſchaftliche Güter-
| gewinnung ſogar auf dem Lande in weitem Umfange aufhörte,
— O zerfiel jedes Volk immer deutlicher in „Herſteller“ (Produzenten) und
„Verbraucher“ (Ronfumenten) von Sachgütern. Zwar „verbraucht“, ſtreng ge-
nommen, jeder, aber ein Teil des Volkes, deſſen Wirken für das Volksganze ebenſo
wichtig, ja unentbehrlich wie das der „Herſteller“, iſt ganz von der unmittelbaren
Teilnehmerſchaft am Unternehmergewinn ausgeſchloſſen: Beamte, Penſionäre,
Sparrentner, Angeſtellte, Arbeiter. Dieſe alle trifft jede Warenpreiserhöhung,
wenn auch, je nach ihrer Fähigkeit ſich Einkommenserhöhungen zu erkämpfen,
mit verſchiedener Schärfe. In ihnen allen iſt in ſteigendem Grade ein „Verbraucher-
bewußtſein“ erwacht. Auch in den Zwiſchenſchichten zwiſchen reinſten „Herſtellern“
(Fabrikanten, Großhändlern) und reinſten „Verbrauchern“ (Beamten), unter Ar-
beitern und Angeſtellten, die oft einen Gewinnanteil am Anternehmerverdienſt
erlangen konnten, wuchs bereits vor dem Kriege die Einſicht, daß die reine Lohn
politit nicht ausreiche, um das für den Einzelhaushalt wie für den Staat gleich
grundlegende Gleichgewicht zwiſchen Einkommen und ausreichender Lebenshaltung
zu verbürgen. Nicht auf den „Nominallohn“, fondern auf den „NReallohn“, die
Menge der für einen Geldbetrag eintauſchbaren Güter, ſei Wert zu legen. Aus
dieſer Erkenntnis heraus erwuchs das Intereſſe an Baugenoſſenſchaften, Konſum-
vereinen und von letzteren geſchaffenen Produktionsgenoſſenſchaften. Dieſe Be-
ſtrebungen umfaßten aber nur einen geringen Bruchteil der „Verbraucherſchaft“.
Die Kriegszeit mit der nun faſt unbeſchränkten Herrſchaft der „Herſteller“
machte es endlich breiten Verbrauchermaſſen klar, daß das Gewinnintereſſe bei
einem beträchtlichen Teil der „Herſteller“ viel ſtärker iſt als ihr Gemeingefühl.
Die Ausbeutung des Volkes auf dem Gebiet der Verſorgung mit Bedarfsgütern
wurde fo allgemein, daß das Wort geprägt werden konnte: „Der Wucher iſt all-
gemeine Verkehrsſitte geworden.“ Dieſer Zuſtand weckte die Kräfte der Gegen-
wehr. Im Dezember 1914 gründeten Arbeiter, Privatangeſtellte, öffentliche Be-
amte, Konſumgenoſſenſchaften, Frauen und ſozialpolitiſche Vereine den „Kriegs-
ausſchuß für Konſumentenintereſſen“, über deſſen nunmehr dreijährige Wirk-
ſamkeit in einem Doppelheft der „Genoſſenſchaftlichen Kultur“ (Langguth, Eß-
lingen) dipl. merc. Robert Schloeſſer Bericht erſtattet.
Der Kriegsausſchuß umfaßt jetzt 70 Verbände mit etwa 7 Millionen Mit-
gliedern und vertritt alſo, wenn man die Angehörigen berückſichtigt, mehr als
20 Millionen Oeutſche, alſo faſt ein Drittel des Volkes. Nach der Entſtehung des
„Zentralausſchuſſes“ (Vorſitzende: M. d. R. Robert Schmidt und Univerſitäts-
profeſſor Waldemar Zimmermann. Geſchäftsſtelle: Kriegsausſchuß für Kon-
ſumentenintereſſen, Berlin W. 55, Potsdamerſtr. 56. Fernruf: Nollendorf 205)
158 Oeſtrelch: Die Kriegsorganiſation der Ronſumenten
wurden nach ſeinem Muſter in allen Gegenden Deutſchlands Bezirks- und Orts-
ausſchüſſe gegründet, erſtere meiſt, des Zuſammenwirkens halber, mit dem Sitz
an den Orten der Stellv. Generalkommandos. Zurzeit beſtehen 30 Bezirks und
162 Ortsausſchüſſe. Die Ausſchüſſe haben oft eine Verteilung der Arbeitsrollen
nach Stoffgebieten vorgenommen, ſo daß die Sonderkommiſſionen auf die Dauer
eine Reihe von Fachleuten für beſtimmte Bedarfsgüter heranbilden. Die Ge-
ſchäftsführung iſt noch faſt durchweg eine neben- und meiſt ehrenamtliche. Die
angeſchloſſenen Verbände bringen die Koſten auf durch eine Selbſtbeſteuerung
nach der Mitgliederzahl. Die Zentrale verſorgt die einzelnen Ausſchüſſe mit
Nachrichten und Anregungen und verarbeitet deren Einſendungen. Sie gibt vier-
zehntägig die „RNundſchau der deutſchen Verbraucherbewegung und Mitteilung für
Preisprüfer“, wöchentlich zweimal die Preſſekorreſpondenz „Verbrauchswirtſchaft
im Kriege“ heraus. Die Erfahrungen auf den verſchiedenen Arbeitsgebieten wer-
den allerorts geſammelt, von der Zentrale geſichtet und die Feſtſtellungen in
Eingaben an Parlamente und Behörden, in Preſſe- und Verſammlungsaufklärung
und »einwirkung verwertet.
Die Aufgabe der Kriegsausſchüſſe kann etwa jo umſchrieben werden: „Sicher-
ſtellung und tunlichſt Vermehrung aller verfügbaren Bedarfsgüter, ihre ſparſamſte
und zweckdienlichſte Verwendung, ihre gerechte und verſtändige Verteilung in
gutem und unverfälſchtem Zuſtande zu angemeſſenen Preiſen unter Berückſichtigung
der phyſiologiſchen Sonderbedürfniſſe und der wirtſchaftlichen Sonderverhältniſſe
gewiſſer Konſumentengruppen und :ſchichten, einſchließlich der wirtſchaftlichen
Hebung ihrer Kaufkraft.“ Leider beſtand bei Kriegsbeginn noch kein ſtarkes Ver-
braucherkartell, das den Produzentenkartellen das Gleichgewicht hätte halten
können; ſonſt wäre die deutſche Ernährungs- und Preispolitik von Anfang an in
andere Bahnen gelenkt worden. Nun, nachdem die Entwicklungslinien feſtgelegt
waren, ſtellten ſich den Kriegsausſchüſſen bei der Snangriffnahme ihrer gewaltigen
Aufgabe die größten Schwierigkeiten in den Weg. Es galt überhaupt erſt ein
neues volkswirtſchaftliches Prinzip bei der Regierung und einem Teil des Volkes
durchzuſetzen. Trotzdem haben die Kriegsausſchüſſe zahlreiche ihrer Forderungen,
die Schloeſſer auf vier Oruckſeiten aufzählt, durchſetzen können. Sie erſtickten z. B.
die geplante Lebensmittelſparpolitik mittels beabſichtigter Preiserhöhungen
durch ihre Agitation im Keime. Sie wirkten für die Regelung der Brotgetreide-
frage auf dem Wege der Beſchlagnahme und Rationierung, ſie legten z. B. auch
den erſten Entwurf einer Brotkarte vor. Sie wieſen immer wieder auf Preis-
zuſammenhänge hin, verlangten Höchſtpreiſe für alle Stufen der Warenbehand-
lung vom Rohſtoff bis zum letzten Verkauf der Ware im Kleinhandel, während
die an irgend einer Stelle im Varenverkehr einſetzenden Höchſtpreiſe natürlich
ihren Zweck nicht erreichten. Die von den Ausſchüſſen vorgeſchlagenen Waren-
verteilungsſyſteme (Dresden) fanden weite Verbreitung. All die Einzelvorgänge
gehören nicht hierher. Überall verlangten die Kriegsausſchüſſe für die Löſung
der Ernährungsfragen „großzügiges, bis ins kleinſte ineinandergreifendes und
weit vorausſchauendes“ Verfahren. Allmählich wurde durchgeſetzt, daß die Kriegs-
ausſchüſſe vor Erlaß ernährungspolitiſcher Beſtimmungen gehört werden.
Heidfied: Wenn ich das erſt wüßte! 159
Die Kriegsausſchüſſe beteiligten ſich auch an der Durchführung der Auf-
gaben, am Überwachungsdienſt in Geſchäften und auf Märkten, an der Aufklärung
und Erziehung der Verbraucher, an der Arbeit in den Preisprüfungsſtellen, Lebens-
mittelkommiſſionen, Schiedsgerichten uſw. Die Vertreter der Ausſchüſſe werden
immer mehr durch die Behörden anerkannt und herangezogen. Die Geſtaltung
der Wirklichkeit hat die Dafeinsberechtigung der Kriegsausſchüſſe erwieſen. Natür-
lich nicht in den Augen jenes Teils der Herſteller, der es nicht einſieht oder nicht ein-
ſehen will, daß eine Macht ohne Gegengewicht Monopolcharakter hat, zu Über-
griff und Ausbeutung geradezu verlockt. e
Die Erfahrungen in der Arbeit haben zahlreiche Kriegsausſchüſſe und auch
bereits manche der angeſchloſſenen Geſamtverbände zu dem Wunſche veranlaßt,
die „Kriegs“ ausſchüſſe möchten ihre Tätigkeit als Verbrauchervertretung in die
Friedenszeit hinein fortſetzen und der Staat möge bald ſtatt ihrer vollver-
pflichtete und — »berechtete „Verbraucherkammern“ ſchaffen, die, aus den
Vertretern der oben aufgezählten „Verbraucherverbände“ zuſammengeſetzt, gleich
den „Produzentenkammern“ der Landwirte, Kaufleute, Handwerker die Aufgaben
der „Intereſſenvertretung, Förderung von Technik, Wirtſchaft und Fachbildung,
Erziehung der vertretenen Intereſſenten, Beratung der Behörden, Ausübung
von Verwaltungsaufgaben“ von der Verbraucherſeite hätten und im gleichberedh-
tigten Zuſammenwirken mit den Produzentenkammern für den zntereſſenaus-
gleich ſorgten. In der Tat: Soll nach Kriegsende die Lebenshaltung wieder um
eine Gleichgewichtslage ſchwingen, wovon z. B. weſentlich die Erfolge des Kampfes
gegen den Geburtenrückgang abhängen, ſo werden die Verbraucherintereſſen
weit ſtärker betont werden müſſen als bisher.
2
VIER
un VG N . 28
— 2
Se
Wenn ich das erſt wüßte! Von Hans Heidſieck
Wenn ich das erſt wüßte,
Daß wir Frieden hätten, —
An die Erde müßte
3h mein Antlitz betten.
Tief in Schmerz verſunken
Müßt' ich bei ihr weinen: —
Hat ſie doch getrunken
All das Blut der Meinen.
Mußte all' die weichen
Stimmen wieder hören — —
Und von dannen ſchleichen,
Um ſie nicht zu ſtören.
2
160 Von dem Zungen, der feine Kuh an Unferen lieben Herrn verkaufte
Von dem Jungen, der ſeine Kuh an
Anſeren lieben Herrn verkaufte
Ein vlamiſches Märchen
> iesten war der einzige Sohn einer armen Witwe, und er war ſo dumm,
daß er nicht einmal bis drei zählen konnte. Das Bürfchlein war
zu ſpät gekommen, als Unſer Lieber Herr den Verſtand austeilte.
22 Venn er die eine oder die andere Torheit beging, fagte feine Mutter
öfters zu ihm: „Zunge, du haft den Verſtand mit Schöpflöffeln gegeſſen und da-
bei das Beſte verſchüttet“, oder ſie bewirtete ihn mit einem „dumm geboren und
einfältig gewiegt“.
Die Frau hatte viel Mißgeſchic zu erleiden, ſo daß ſie ſchließlich nur noch
eine einzige Kuh beſaß, und fie ſah ſich genötigt, auch dieſen letzten Schatz zu ver-
kaufen. „Siesken,“ ſagte ſie eines Tages, „geh mit unſerer Kuh zum Jahrmarkt,“
ſagte fie, „aber gib gut acht,“ fagte fie, „daß du fie an keinen Schwätzer verkaufſt“,
ſagte ſie.
„Gut“, ſprach der Junge und zog ab.
Unterwegs begegnete ihm ein Mann, der ihn frug: „Burſche, wo gehſt du
mit der Kuh hin?“
„Zum Fahrmarkt“, war die Antwort.
„Willſt du mir nicht deine Kuh verkaufen?“
„Nein,“ erwiderte der Burſche, „du biſt mir ein zu großer Schwätzer.“ And
er ſetzte ſeinen Weg fort.
Etwas weiter kam ihm wieder ein Mann entgegen, der ihn frug:
„Burſche, wo gehſt du mit der Kuh hin?“
„Zum Jahrmarkt.“
„Willſt du mir nicht deine Kuh verkaufen?“ ö
„Nein,“ ſagte der Burſche, „du biſt mir auch ein zu großer Schwätzer.“
Hierauf kam er an einen Kreuzweg und ſah dort ein großes Kruzifix
ſtehen. Der Junge betrachtete es und wunderte ſich, daß der Mann am Kreuze
zein Wort ſprach. Er kam näher heran und ſagte zu Unſerem Lieben Herrn:
„Holla, Mann, kauft mir meine Kuh ab.“ Aber der gekreuzigte Heiland ant-
wortete nicht. Der Burſche fragte von neuem: „Wollt Ihr mir nicht meine
Kuh abkaufen? Ihr ſeid kein Schwätzer. Und einem ſolchen Manne ſollte ich
ſie verkaufen, ſo hat es mir meine Mutter geſagt.“ Aber der liebe Herr ſprach
noch immer nicht. Oa verſetzte Siesken: „Holla, ſo redet doch! Schweigen heißt
einverſtanden fein! Jh werde Euch die Kuh dalaſſen und fpäter nach meinem
Gelde kommen.“ Er band feine Kuh am Kreuze feſt und zog leichten Herzens
nach Hauſe.
Unterwegs fand Siesken eine lederne Geldkatze, die mit Goldſtücken voll“
geſpickt war. „Ha, das iſt das Geld für meine Kuh“, dachte der Burſche. „Mir
Von dem Zungen, der ſeine Kuh an Unſeren lieben Herrn verkaufte 161
ſo bald das Geld nachzuſenden, das heiße ich rechtſchaffen ſein. Ein trefflicher
Käufer, der Schweiger! Mutter ſagt ja immer, Schweigen iſt eine Tugend, und
ſie hat recht.“
Als er nach Hauſe kam, frug die Mutter ihn: „Nun, Siesken, wie iſt es dir
ergangen?“ — „Sch habe deinen Rat befolgt, Mutter,“ ſagte der Junge, „ich habe
die Kuh an keinen Schwätzer verkauft, ſondern an einen Mann, der kein einziges
Wort ſprach. Der Mann ſah brav und rechtſchaffen aus, und hielt mit ſeinen Armen
ein hölzernes Kreuz feſt, drüben an den vier Wegen. Als ich ihn anſprach, ſah er
mich fortwährend an, er wollte aber nicht reden.“
„Und wo iſt das Geld?“ frug die Mutter.
„Hier“, ſagte Siesken und er warf den Beutel auf den Tiſch. „Oer Käufer
hat mich nicht ſofort bezahlt, ſondern beim Nachhauſegehen fand ich es auf dem
Wege liegen: der brave Mann hat es mir nachgeſandt.“
Die Mutter öffnete haſtig den Beutel und fand darin ſo viel Geld, daß es gut
für zwanzig Kühe gereicht hätte. Sie begriff ſogleich, was ihrem einfältigen Siesken
begegnet war. „Der dumme Zunge wird es ausplaudern,“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt,
„und das ſchöne Geld iſt dann verloren.“ Sie überlegte ſich, was zu tun ſei und hatte
bald einen Ausweg gefunden.
„Siesken, mein Junge,“ ſagte ſie, „es iſt ärgerlich,“ ſagte ſie, „Geld haben
wir nun, aber morgen geht die Welt unter, und dann iſt es um uns geſchehen“,
ſagte ſie.
„O, da verdrießt es mich, den ſchweren Beutel ſo weit geſchleppt zu haben“,
erwiderte Siesken. „Gibt es denn kein Mittel, Mutter, daß ich am Leben bleiben
könnte?“
„Ja,“ antwortete die Mutter, nachdem fie eine Weile hin und her über-
legt hatte, „iß und trink nur erſt. Und morgen in aller Frühe kriech in dies
alte Butterfaß, ich werde dich immer dorthin rollen, wo das Feuer ſchon aus-
gelöſcht iſt.“
ö Siesken füllte alſo des Abends ſein Bäuchlein, und am anderen Tage kroch
er beim erſten Morgengrauen in das Faß, das die Mutter ſogleich verſchloß. Sie
raffte draußen einige weggeworfene Schüſſeln und Scherben, Töpfe und Pfannen
zuſammen, fügte noch zwei oder drei zerbrochene Gläſer hinzu, und warf es alles
an dem Butterfaß in Stücken, worauf ſie dasſelbe in der Küche ein paarmal hin
und her rollte. Nachdem ſie dieſes Spiel noch zwei- bis dreimal wiederholt hatte,
blieb ſie ein Weilchen mäuschenſtill ſitzen und ließ dann Siesken aus dem Faße
heraus.
„Nun iſt alle Gefahr vorüber“, fagte fie. „Es hat mich aber Mühe genug ge-
koſtet, dich am Leben zu erhalten.“
Siesken ſprang vor Freude ein Loch in die Luft und lief mit ausgeſtreckten
Armen zur Tür hinaus. Es geſchah aber, daß in dieſem Augenblick der Kaufmann
vorüberkam, der den Geldbeutel verloren hatte. „Haſt du nicht vielleicht einen
Lederbeutel mit Geld gefunden, Burſche?“ frug er.
„Ja, Mann, ich habe ihn gefunden,“ ſagte Siesken, „gerade am Tage, vor dem
die Welt umterging.“
Der Zürmer XX, 16 11
Aa
162
Steinmüller: Nacht Sonette
Als der Kaufmann hörte, daß er es mit einem Toren zu tun hatte, ſetzte
er ſeinen Weg weiter fort. So behielt die ſchlaue Mutter das Geld und war darob
nicht wenig zufrieden.
Da kam eine Maus
And meine Geſchichte iſt aus.
Aus der Sammlung von Pol de Mont und Alfons de Cock entnommen
und ins Oeutſche übertragen von Erika Goetz.
Nacht⸗Sonette Bon Paul Steinmüller
J.
In roten Roſen ging der Tag zur Ruh’,
An deinem Bilde hing ihr letztes Glänzen.
Es war, als winkteſt du aus Strahlenkränzen
Mir lächelnd einen Gutenachtgruß zu.
Des Feindes Feuer ſchweigen an den Grenzen.
Nun, Sehnſucht, langgebändigte, nun tu
Den Sprung zur Freiheit und erfrage du
Von Wind und Sternen, ob es bald mag lenzen.
Stürm' über Flüſſe und Gebirge fort,
Erklimm des Abgrunds ſteiles Felsgeſchiebe
Und ſteig als Traum, als Nachtgeſicht hernieder,
Poch' an die Pforte, ſprich das Loſungswort,
Schütt’ aus die bunten Schätze meiner Liebe
Und kehr' geſättigt, grußbeladen wieder.
2.
Der Abend kam und brachte Heimweh mit.
Ich fühlte, wie ſich's zitternd in mir regte,
Da er den veilchenfarbnen Mantel legte
Um Berge, die fein leiſer Fuß beſchritt.
Der alte Schmerz, an dem die Wenſchheit litt,
Seit Mann und Weib zärtlicher Zwiefprach’ pflegte,
Ein Haus erbaute, einen Garten hegte! — —
Stets kam die Trennung, die das Glück zerſchnitt.
Sei ſtill! Es ging, eh' ich ihm nachgedacht.
Man ſah es mir nicht an. Von drüben fpielte
Des Todes Grußruf wieder durch die Nacht.
Doch du, auf die mein ganzes Denken zielte,
Du ſollſt es wiſſen, daß ich dein gedacht
So ſtark, als ob ich dich im Arme hielte.
D.
Komm, ſüße Nacht, und decke weiche Hände
Aber der Welt geſchändetes Geſicht,
Spann’ deiner Kuppel blaue Sternenwände
Wider des Tages grelles Sonnenlicht.
Reich’ allen Wunden deine güt’ge Spende,
Den Schlaf, der Mohn um Fieberſtirnen flicht,
And wo die Sorge ängſtlich flattert, ſende
Den holden Wahn, das ſchönſte Traumgeſicht.
Seit aller Völker Tritte eiſern klirren,
Entwich in deines Keides ſtille Pracht
Die Schönheit aus des lauten Tages Wirren.
Gib fie uns wieder! Laß die Wünſche ſacht
Als ſtarke Roſſe an den Wagen ſchirren
And führ' ſie uns herauf. Komm, ſüße Nacht!
4.
Des Mondes Schale ſog ſich bis zum Rande
Voll Licht, als ſeien Sterne drein gepflückt,
Ihr Strahlenbündel, lanzengleich gezuͤckt,
Stand ſilbern auf dem braunen Wüftenfande.
Des Berges Kuppe glänzte im Gewande
Des Schnees, mit eiſ'gen Zacken reich beſtückt,
Wie eine Gralsburg, die der Welt entrückt,
Als Hüterin des Friedens durch die Lande.
Sieh, unſre Seele trägt das Wundenmal
Der Friedensſucher, laß den Pfad uns finden,
Der aufwärts führt aus kreuzbeſtecktem Tal.
Wir möchten Kränze um die Schwerter winden,
Die Glocken läuten und entfühnt von Sünden
Der Welt dich wiederbringen, heil ger Gral. N
N
N Sa 5 —
I
ZUM 0 —
2 2 8 — A N
Irland und England
x; ie ganze iriſche Geſchichte bildet ſeit Jahrhunderten eine lange, lange Reihe verzweifcl-
ter Verſuche der Fren, ſich von Englands Herrſchaft zu befreien. Seit der engliſche
Konig Zeinrich II. um 1167 die grüne Inſel unterwarf, bis zum heutigen Tage
bat Irland ſich noch nicht in ſeine Unterdrückung ergeben, obwohl ungeheure Blutopfer und
die Vertreibung von Hunderttauſenden von Einwohnern noch immer jeden Aufſtand unterdrüd-
ten. Infolge der Parteiungen der iriſchen Häuptlinge kam es in der nächſten Zeit zu keinem
geſchloſſenen Widerſtand, und erſt 1515 verſuchte Eduard Bruce in offenem Kampfe die Eng-
länder zu vertreiben. 1595 wiederholte der Graf von Tyrone dieſen Verſuch. Wie ſtark ſeine
Unterjtügung durch die Bevölkerung war, geht daraus hervor, daß erſt 1601 die Niederwerfung
dieſes Aufſtandes gelang. Schon 1641 flammte die Empörung wieder auf, und die Unter-
drückten konnten große Erfolge erzielen, jo daß nur 1649 durch Cromwell die engliſche Heyrſchaft
wiederhergeſtellt wurde. Im Blute erftidte dieſer Gewaltmenſch die Bewegung, indem er
nicht nur die Bevölkerung der zwei zuerſt eroberten Städte bis auf den Letzten niedermetzeln
ließ, ſondern auch noch auf die zerſtreuten Flüchtlinge im Lande eine wahre Menſchenjagd ver-
anſtaltete. Trotzdem fand ſchon 1689 der vertriebene König Fakob wieder in Frland Kampf-
genoſſen gegen England. Aber auch dieſer Krieg wurde verloren. Mehr und mehr entvölkerte
ſich die Inſel.
Für mehr als 100 Jahre tonnte kein offener Aufſtand mehr aufkommen.
In Geheimbünden aber, die gegen England wühlten und nicht ſelten zu Gewalttaten
und Mord führten, trieb der Haß gegen die Unterdrücker weiter. Ein wichtiger Grund dazu
war die ſchmähliche Behandlung, die die engliſche Regierung und Kirche dem katholiſchen iriſchen
Volke angedeihen ließen. In jeder und ganz unnötigen Weiſe wurden die Katholiken in ihren
Gefühlen verletzt. Sie mußten jeden Sonntag in die proteſtantiſche Kirche gehen, ſie konnten
kein Amt bekleiden, fie durften keine Ehen mit Proteſtanten eingehen. Die Kirchenguͤter wurden
für die engliſche Staatskirche eingezogen, die Steuern mußten den engliſchen Geiſtlichen ge-
zahlt werden. Alle dieſe Laſten, zu denen noch manche andre kam, drückten natürlich, von einem
fremden Volke auferlegt, viel härter, als es ſchon die Religionsverfolgungen in andern Ländern
taten, die von den eigenen Volksgenoſſen ausgingen. Wütender Haß wurde auf das tiefſte
eingepflanzt und führte 1799 zu einem neuen Aufruhr, der zunächſt einer großen Menge Eng-
ländern das Leben koſtete. Wieder wurde aber dann unter den Fren ein Blutbad angerichtet,
das die engliſche Macht aufrechterhielt. Die Furcht vor den Fren war aber doch jo groß, daß
man 1800 ſich dazu entſchloß, den Katholiken die drückendſten Bindungen abzunehmen, in der
Hoffnung, mit dem Ausſcheiden des Religiöſen eine große Menge der Bevölkerung der iriſchen
164 N Stiand und England
Selbſtändigkeitsbewegung zu entfremden. Durch eine gewaltige Beſtechung — es wurden mehr
als 30 Millionen Mark dazu verwendet — gewann man dann einen Teil der leitenden Kreiſe
Irlands und konnte ſo den offiziellen Anſchluß an England durchführen. ö
Aber das iriſche Volk gab, trotz dieſes Verrates eines Teiles ſeiner Oberen, ſeinen Haß
und ſeine Hoffnung nicht auf. Das Verſammlungsrecht wurde ihm deshalb beſchränkt. Das
hatte aber nur zur Folge, daß das Geheimbundweſen um fo ſtärker wieder auflebte. Banden
weſen und Mord breiteten ſich um 1840 in ganz bedenklicher Weiſe aus, und 1848 konnte nur
durch rechtzeitiges energiſches Eingreifen ein neuer Aufſtand verhütet werden. Eine Reihe
von Todesurteilen wurde an den Führern vollſtreckt. In ungeheuren Maſſen wanderte die
enttäuſchte und weitere Vergeltung fürchtende Bevölkerung nach Amerika aus.
Trotzdem brach im Jahre 1867 nochmals die Flamme der Empörung hervor. Aber nur
neue Blutopfer waren der Erfolg. Schon 1871 gärte es wieder auf das bedenklichſte, doch
verhinderten außerordentliche Maßnahmen der Regierung einen Ausbruch. Die Überwachung
wurde äußerſt ſcharf gehandhabt.
Im geheimen lebte aber die iriſche Freiheitsbewegung unzerſtörbar weiter. In den
80er Jahren waren es wieder die Mitglieder der Geheimgeſellſchaften, die mit Schrecken und
Mord den engliſchen Pächtern, welche das Land ausſaugten, den Aufenthalt in Irland zu
verekeln ſuchten, wobei fie von den amerikaniſchen Fren, die im Fenierbund vereinigt waren,
unterjtüßt wurden. Politiſche Morde und Opnamitattentate in England ſelbſt zeigten immer
wieder, bis zu welchem Grade der alte Haß weiter gewuchert war.
Damals fing die engliſche Regierung an, um die gemäßigteren Iren von der Bewegung
abzulenken, ſich mit dem Gedanken der Homerule, der Eigenverwaltung Irlands unter engliſcher
Oberregierung, zu beſchäftigen, doch war die Partei, welche hoffte, ſo Irland zu beruhigen,
zu klein, und das Geſetz fiel 1886. Eine erregte Gegenbewegung der Zren, die ſich wieder ent-
täuſcht ſahen, wurde nach einigen Zuſammenſtößen durch Verhängung des Ausnahmezuſtandes
unterdrückt. 1895 ſcheiterte abermals ein Verſuch, die Homerule durchzubringen, und auch ſpãter
konnte ſich England nicht dazu entſchließen.
Welche Erregungen und Unruhen ſchon in den letzten Jahren vor dem Kriege und be-
ſonders auch während des Feldzuges dadurch verurſacht worden ſind, wird noch in allgemeiner
Erinnerung fein. Die Hinrichtung Sir Caſements, nachdem der Mardverſuch an ihm miß-
lungen war, und die grauſame, blutige Niederwerfung der Sinn-Feiner in Dublin und anderen
iriſchen Städten ſind Markſteine der letzten Entwicklung.
Wenn man ſo dieſe Geſchichte an ſich vorüberziehen läßt, ſo begreift man allerdings,
daß England im Zntereſſe feiner Oberherrſchaft ſich nie entſchließen konnte, Irland die Selbſt-
verwaltung zu geben, wenn auch eine Hoffnung, auf dieſe Weiſe doch die iriſchen Patrioten
durch Teilung in zwei Lager ohnmächtig zu machen, den Gedanken nicht ausſterben läßt. Die
Furcht, ein iriſches Volk möchte ohne die ſtrenge engliſche Verwaltungskontrolle zu ſehr die
Möglichkeit haben, ſich gegen ſeine alten Unterdrücker zu organiſieren und ſich, ſeinem alten
Haſſe folgend, ganz befreien, iſt doch zu groß. |
Der gleiche Grund hat ja auch England bewogen, die Dienſtpflicht nicht auf Irland
auszudehnen, um nicht ausgebildete Soldaten ſtatt der irregulären Aufſtändiſchen gegen ſich
zu haben; wozu allerdings noch die Angſt vor einem ſofortigen Aufſtand kommt, da die Zren
in ihrer großen Maſſe ſich haßerfüllt entſchieden weigern, auch nur dem Gedanken näherzutreten,
für England Kriegsdienſte zu leiſten. Hofft doch ein jeder gute Fre auf den Zuſammenbruch
Englands durch eine Niederlage im Weltkriege, die dann ſeinem geknechteten Lande die Freiheit
bringen ſoll.
Ein Zweites begreift man danach auch: Wie groß die engliſche Verzweiflung infolge
der deutſchen Streiche ſein muß, wenn man jetzt Bereitſchaft zeigt, Homerule zuzugeſtehen
und die Dienſtpflicht trotz der erwähnten Befürchtungen einzuführen. Man hofft natürlich
Polniſches Theater 165
mit der erſten Zuſage, die ja nicht von heute auf morgen durchgeführt zu werden braucht, und
die man nötigenfalls noch mit mancher Einſchränkung verſehen kann, die Sren fo weit zu beruhi⸗
gen, daß ſie die Dienſtpflicht annehmend für England kämpfen. Damit wäre dann wenigſtens
für die nächſtliegende Not ein Hoffnungsſtrahl gegeben. Zt dann der Krieg vorbei, jo wird
man ja weiter ſehen. Wenn man die iriſchen Truppen, nach bewährtem engliſchen Muſter,
immer gut an die kritiſchſten Punkte ſtellt, kann man ja den Mannſchaftsbeſtand möglicherweiſe
ſo ſchwächen, daß die Gefahr für England nicht mehr allzu groß iſt.
Freilich ſind doch auch unter den Engländern ſelbſt noch ſehr ſtarke Bedenken gegen das
Geſetz vorhanden, denn man iſt mit Recht in Unruhe, ob der iriſche Zwangsſoldat, ſelbſt wenn
eine Mehrheit für das Geſetz gefunden iſt, wirklich für England eintreten wird. Man könnte
wohl der Gefahr, ſchon während, vielleicht gegen Ende der Ausbildungszeit eine Rebellion zu
haben, dadurch entgehen, daß man die iriſchen Rekruten unter andre Beſtände verteilt, aber es
bleibt doch immer noch die Befürchtung, daß der Fre, der eben auch im unteren Volk einen tiefen
gaß gegen alles Engliſche hat, im Gefechte, dieſem Triebe folgend, verſagt, daß er überläuft,
die Waffen ſtreckt. Ein alter Volkshaß kann erfahrungsgemäß durch Halbheiten niemals beſeitigt
werden und führt immer leicht zu den ſchwerſten Ausſchreitungen. Man könnte alſo gegebenen-
falls mehr Schaden als Nutzen von ſolchen Truppen haben.
Und auch die Zeit nach dem Kriege mag manchem drohend erſcheinen. Eine iriſche
Selbſtverwaltung, ſei fie auch noch beſchränkt, die ſich auf Tauſende und aber Tauſende militäriſch
ausgebildete Iren ſtützt, könnte doch wohl eine ganz andre Sachlage ſchaffen als die ſtändig
von England überwachten, unausgebildeten Sinn-Feiner es heute zu tun vermögen. Hält
man aber die Verſprechung der Homerule nicht, fo bleibt die erbitterte Menge nach der Soldaten
zeit ſicher eine größere Gefahr als vorher.
Die Lostrennung von England, von dieſem ſo ſehr gefürchtet, von den Iren fo ſehr ge-
wünſcht, wäre dann vielleicht doch zu erreichen, ſelbſt wenn die Briten im Kriege ſiegreich ge-
blieben wären. |
So ſehen wir ein fonderbares Bild. Wir, die Völkerunterdrücker der Ententepreſſe,
haben keine Angſt gehabt, unſre Elſäſſer und Polen unter die Waffen zu rufen, und wahrlich
die wenigen Verräter, die ſich herausſtellten, können den Ruhm nicht verdunkeln, den ſich auch
dieſe Völker im Kampfe um Deutſchlands Beſtehen erworben haben. England aber, das demo-
kratiſche völkerbefreiende Albion, wird erſt durch die Verzweiflung getrieben, ſeine iriſchen
Untertanen zu bewaffnen, immer in der Furcht, eine Kraft zu wecken, die vielleicht dazu bei-
tragen könnte, feine Weltgewaltherrſchaft aus den Angeln zu heben.
Einzelne iriſche Truppenteile, die im Kriege ſchon aufgetreten ſind, ſagen nichts gegen
dieſe Ausführungen, denn in Frland ſitzen viele auch als Fren zählende Engländer, wie ja
z. B. die Alſterleute kaum als Iren gelten können. Otto Döhler
Ne
Polniſches Theater
ser Friede von Breſt-Litowſk hat bei den Polen großen Lärm gemacht. Die Ab-
a grenzung zwiſchen Polen und der Ukraine, infonderheit die Übergabe des Cholmer
Landes an die Ukraine, ſei ein ungeheures nationales Unglück, ein Anſchlag gegen
das nationale Beſitztum, ja — man höre! — nichts Geringeres als die „vierte Teilung“ Polens!
Dieſen pathetiſchen Entrüftungsgebärden und Klagerufen gegenüber ſtellt ein Brief der „Ber-
liner Neueſten Nachrichten“ aus Galizien die Tatſache feſt, daß die vom hiſtoriſchen Polen
zurüdgebliebenen Überlieferungen des Herrſchens und Unterjochens im polniſchen
Volke noch weiter ſehr tief ſtecken:
166 Bolnifhes Theater
„Ver in der polniſchen Geſchichte bewandert ift, wer den nationalen Charakter dieſes
Volkes genauer kennt, bei dem vermögen all die gegen den jungen Staat und deſſen Verbündete
gerichteten Ermahnungen und Drohungen weder Verwunderung noch Furcht zu erregen,
zumal er ſofort eingeſehen haben wird, daß dieſes Gebaren eine Verleugnung jedes inneren
Anſtands und ferner nichts anderes als eine auf theatraliſche Wirkungen berechnete
Geſte iſt, die man in der polniſchen Geſchichte neuerer Zeit nur allzuoft wahrnehmen konnte.
Andererſeits kann bei einem Nutznießer, der bislang von der fremden Gunſt gelebt hat und noch
immer von ihr lebt, — von einem eigenen Willen nicht die Rede fein, um fo weniger von dem
Ernſt feiner Drohungen. Denn für einen Günftling iſt im übrigen — wenigſtens hier in Öfter-
reich — eine einträgliche Realpolitik bedeutend beſſer, als die Jagd nach unerreichbaren natio-
nalen Idealen, zu deren Erreichung man ausſchließlich die eigenen nationalen Kräfte bean-
ſpruchen müßte.
Es dürfte im allgemeinen nicht unbekannt fein, daß die Seele des unter den ungemein
günſtigen politiſchen Umftänden aufgewachſenen und durch das hiſtoriſche Schickſal verwöhnten
polniſchen Volkes — unempfindlich gegen alle Erſcheinungen im Völkerleben war, daß fie jeder
ſozialpolitiſchen Anderung und Entwicklung im übrigen Europa eine völlige Gleich-
gültigkeit entgegenbrachte: während in MWeft- und Mitteleuropa der Kampf gegen Abfolutis-
mus und Reaktion tobte — waren die Polen die einzigen, die ſich indeſſen auch weiterhin
der Hypnoſe der hiſtoriſchen großpolniſchen Traditionen und der ZIlluſion über
ihre Ausnahmeſtellung in der Völkerfamilie hingaben. Sie glaubten und glauben unab-
läſſig das Nad der Weltgeſchichte auf ſeinem Wege aufhalten oder gar ſeine Umkehr erzwingen
zu können. Von dem Konſervativen bis zum Sozialdemokraten bereiten die Polen fortwährend
den Nährboden für den Kultus eines nationalen Schlachtzitzentums, des Herrſchens
über Nachbarvölker und pflegen weitaus den Paraſitismus, der dieſes Volk mit der
Pflanze gleichſtellt, die allein ohne fremde Säfte nicht gedeihen kann. Jene ſuggerierte Aus-
nahmeſtellung hat das Volk in die Sphäre des Hochmuts, in die Gemeinde jener Menſchenart
gebracht, die das Leben als ein Vergnügen auf anderer Leute Koſten auffaßt.
Das allgemeine Mitleid mit ihnen anläßlich der Teilung ihres Staates bis zum Über-
drug ausnutzend, haben ſich die Polen mit dem Strahlenkranz eines Märtyrertums
umgeben und kokettierten ein ganzes Jahrhundert mit dieſem erdichteten Märtyrer-
tum und nutzen es aus, indem fie ihre Anſprüche ſteigern, in die ärgſten Gewohnheiten der
Vergangenheit zurückfallen und ſich in die uferloſeſten Träume des Größen wahns verlieren.
Und fie finden ſich in der Rolle von Märtyrern immer intereſſant: daher verlangen fie von
Europa, daß man ſich ihrer Befreiung mit einer übermenſchlichen Großmut annimmt. Anſtatt
dieſem Volke den Weg der Ernüchterung, einer gewiſſenhaften Selbſtzucht, einer gerechten Ab-
rechnung mit den Nachbarn und der hiſtoriſchen Beichte vor ſich ſelbſt zu weiſen, — hat die wohl
feile Protektion mancher Staaten und Völker im Laufe von anderthalb Jahrhunderten dieſe
Schmetterlinge des Lebens zu den trag iſchen Schauſpielern erzogen, die ihre Protektoren
und die Zuſchauer nun zu betören und zu bezaubern wiſſen. Die Regie hat ihnen allerdings
nicht immer eine und dieſelbe Rolle zugewieſen! Den Vorfällen und politiſchen Ereigniſſen
entſprechend verſtellen ſie ſich vor den Mächtigen dieſer Welt als krüppelhafte Bettler, die durch
Bloßlegung ihrer Gebrechen um ſo reichlichere Almoſen von den Vorbeigehenden erhoffen, oder
mit dem Pathos eines Redners den Mantel der Unzufriedenheit umwerfen, die Stirn in zornige
Falten legen und Drohungen nach allen Seiten hinſchleudern. Ein anderes Mal ſtellen ſie
jene unſchuldig Verfolgten dar, die in bitterſter Pein ihr Gewand zerreißen. Und all dies mit
ausgefuchten Phraſen von dem dieſem ‚edlen‘ Volke angetanen fürchterlichen Unrecht. Wenn
fie aber in dieſen Rollen zufällig keine Erfolge haben, dann verſchmähen fie auch die Akrobaten
kunſtſtücke nicht; mit der Geſchicklichkeit eines Zongleurs ſchwingen fie wie Kugeln Loſungsworte
der Revolution, der Demokratie und des Selbſtbeſtimmungsrechtes, im Bedarfsfalle aber auch
Braſllianerdant 167
die der allerſchwärzeſten Reaktion und des Annexionismus. Verſagt auch dies, dann rühren
fie mit gewaltigem Lärm die Reklametrommel.
Allein das Gebrüll der Moral und der blütenreinen Unſchuld würde ohne ein ſchonungs-
loſes Verfahren gegen die politiſch ſchwächeren Nationen in die ärgſte Feſuiterei nicht ausarten.
Diefe innere Verderbnis ließ ſchon in der Vergangenheit keine Rückſichtnahme auf die Verträge
und Abkommen mit den Nachbarvölkern zu. Heute werden noch immer all die Grundſätze der
politiſchen Ethik von dieſem ritterlichen“ Volke mit Füßen getreten, ja es ſpielt ſich noch immer
als Lehrer und Vormund der anderen auf, wie jener ſich anmaßende Dichter, der ſeine Helden
nicht reden läßt und nur ſelber für ſie ſpricht; inſonderheit in bezug auf die Ukrainer hat es
jahrzehntelang die Welt mit einem Lügengeſpinſt überzogen, viele Vorurteile gegen die
Ukrainer hier und im Ausland geweckt und ſomit die öffentliche Meinung Europas vergiftet.
Und daheim wird in der Schule und der Kirche ganzen Generationen das Gebot einer myſteriöſen
„Rulturmiſſion“ im Oſten eingeimpft.
Daher dieſes Zähneknirſchen und die Kündigung der Wohnung an Oſterreich von feiten
der Polen gelegentlich der Cholmer Frage. Chronologiſch genommen, ift es keine ‚vierte Teilung
Polens“, wohl aber die fünfte, die ſchon 1910 vom Petersburger Polenklub ratifiziert.
wurde, da dieſer damals in die Ausſcheidung dieſes Gebietes aus Kongreßpolen gegen
die von Stolypin verſprochene Erweiterung der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung
und gegen einige Zugeſtändniſſe der polniſchen Sprache im Königreiche reſtlos ein willigte.
Dieſer Stellungnahme hat ſich damals auch der öſterreichiſche Polenklub angeſchloſſen,
um die ſchon ohnehin geſpannten Beziehungen der Monarchie zu Rußland durch Einmengung
in eine innere Angelegenheit eines auswärtigen Staates nicht zu verſchärfen — richtiger geſagt:
um Rußland nicht zu reizen. Die unbeſtrittene Tatſache von 1910 ſchlägt den Polen jede Waffe
aus der Hand, mit der ſie ihre ungerechtfertigten Anfprüche auf das Cholmland zu verteidigen
ſich anſchicken wollten.“
Braſilianerdank
(& SEN 0 m Jahre 1833 verlieh das Parlament des Staates Braſilien einſtimmig dem Deut-
6) ſchen F. J. Sturz, der aus einer bayrischen Familie ſtammte, das Bürgerrecht.
Dies geſchah in Anerkennung der hervorragenden Verdienſte, die Sturz dem Land
geleiſtet. Er hatte die erſten Dampferlinien eingerichtet, Poſt und Polizei erheblich verbeſſert,
mit ſeiner Kenntnis des Maſchinen- und Bergweſens dem braſilianiſchen Bergbau genützt
und ſich durch ſeinen großartigen, hilfsbereiten, feurigen Charakter unter den Beſten des Landes
viele Freunde gewonnen. Nur eine Partei war ihm feindlich: die der Sklaven haltenden Groß-
grundbeſitzer, denn Sturz trat für Hebung des Sklavenloſes und für unterdrückung des Stlaven-
handels mit der ganzen ihm eignen Tatkraft in die Schranken. Jedenfalls aber hatten die
gebildetſten Braſilianer geſehen, was ein tüchtiger Deutfcher zu leiſten vermag. Sie machten
davon ſehr bald eine merkwürdige, für ihre Dankbarkeit höchſt bezeichnende Nutzanwendung.
Sturz war ein Mann ganz vom Schlag des großen Friedrich Liſt. Als zweiter Direktor
der größten braſilianiſchen Goldmine hatte er 600 Neger unter ſich. Deren Los verbeſſerte
er erheblich und bahnte ihre allmähliche völlige Freilaſſung an. Darüber entzweite er ſich jedoch
mit dem erſten Direktor, einem rohen Engländer, und dies zwang ihn, in England ſelbſt die
Abſetzung dieſes Unmenſchen zu betreiben. Dies gelang; Sturz benüßte aber feinen Aufenthalt in
England, um dort Lord Brougham derart zu beeinfluffen, daß dieſer Staatsmann mit Nachdruck
für die gänzliche Hintertreibung des Sklavenhandels eintrat. Im Jahre 1852 wurde Braſilien durch
engliſche Kanonen gezwungen, geſetzlich für die Unterdrückung des Sklavenhandels zu ſorgen.
442
108 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit
Dies war ein Schlag für die Großg rundbeſitzerpartei, die, wie wir ſahen, dem Sturz feind war.
Sturz war damals feit zehn Jahren zur Belohnung feiner den Braſilianern geleiſteten Dienſte
mit dem Preußiſchen Generalkonſulat für Braſilien betraut worden. Er bezog ein glänzendes
Gehalt. Nun fetten aber die Braſilianer unter der Führung der Großgrundbeſitzer ihr Augen-
merk auf weiße Einwandrer, wie es ihnen Sturz immer empfohlen hatte. Nur wollte Sturz
freie Siedler, die Großgrundbeſitzer aber wünſchten einen Erſatz für ihre Sklaven. Als Erſatz
waren ihnen die Oeutſchen gerade am liebſten; an Sturz ſelber hatten fie ja geſehen, wie tüchtig
Oeutſche feien. Und als Generalkonſul ſollte Sturz deutſche Landsleute zur Auswanderung nach
dem exoliſchen Lande animieren. Das hätte er auch getan, hätte er ihnen freies Land verbürgen
lönnen. Aber die Verträge, die er unterbreiten follte, waren auf Betrug angelegt. Unter glän-
zenden Bedingungen lockte man die Auswandrer; waren fie aber an Ort und Stelle, dann ſahen
ſie ſich in mörderiſchem Klima an die Scholle der Großgrundbeſitzer gefeſſelt und rettungslos
dem Untergang, der Ausſaugung verfallen. Viele Tauſende tüchtiger Oeutſcher rückten fo in
die Stelle ſchwarzer Sklaven ein. Dies war aber nicht die Schuld des 3. J. Sturz. Der tat
alles, um den ſchmählichen Handel zu hintertreiben, warnte in den Zeitungen, bei den Behörden,
ſetzte Flugſchriften in Umlauf, gab mehr Geld aus, als er einnahm, mußte aber zu feinem größten
Schmerze ſehen, daß die deutſchen Behörden weniger gegen die frechen Verlockungen der
braſilianiſchen Werber und Agenten taten als die Behörden der andren Hauptkulturländer.
Sturz kämpfte ganz allein gegen dieſe Schmach, ja, er mußte ſich ſogar noch der Angriffe be-
ſtochener Zeitungen und brafilianifcher Agenten erwehren. Und ſchließlich ſetzten ſeine Feinde
in Braſilien feine Abſetzung als Generalkonſul durch. Das war der Dank Braſiliens für die
großen Verdienſte des Mannes: die Deutſchen waren den portugieſiſchen Herrſchaften da
drüben, die das Heft in Händen hielten, gerade gut genug, um in die Stelle ſchwarzer Sklaven
zu rücken. Daß Sturz trotzdem durch feinen Kampf dagegen viele Tauſende Deutſcher vor
dem Elend bewahrt hat, geht aus zwei Umftänden hervor: erſtens erbrachte eine Geldſammlung
für ihn 12000 Taler, die er zum größten Teile wieder für die Sache verwandte, die ihm ſelbſt
bereits Stellung und Vermögen gekoſtet. Und zweitens erhielt Sturz ſeitens des Norddeutſchen
Bundes und ſpäter des Reiches eine jährliche Penſion von 400 Talern für ſeine Verdienſte um
die deutſche Auswanderung. Er nämlich war es auch, der lange vor Beſetzung Oſtafrikas auf
dies „neue Indien“ hinwies und in feinen vielen Schriften über den Handel mit Sklaven und
Kulis und über die deutſche Auswanderung die Deutfchen anſpornte, in Südamerika und im
oſtafrikaniſchen Seengebiet durch Siedlung neue deutſche Brudervölker heranzuziehen.
Sturz war, wie Liſt, einer der größten Vorkämpfer deutſcher Volkswirtſchaft, mit großen ftaats-
männiſchen Gedanken. Dr. Georg Biedenkapp
A
Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft
und Weltpolitik
nter dieſem Titel bringt das „Literariſche Echo“ vom 1. April einen ſehr beachtens-
® werten Aufſatz von Richard Müller Freienfels. Die Ausführungen begegnen
g fich mit vielem, was ich gelegentlich im „Türmer“ geſagt habe und bieten eine
8 Gelegenheit, den in manchem Betracht wichtigen Stoff nach verſchiedenen Richtungen
hin zu unterſuchen. Die wirtſchaftliche Bedeutung des Buchhandels dürfte wohl den meiſten
Deutſchen, die überhaupt über dieſe Fragen nachzudenken gewohnt ſind, ohne weiteres ein-
leuchten, und wenn gleich beim Ausbruch des Krieges, zumal in Frankreich und gtalien, eine
ſtarke Bewegung gegen den deutſchen Mufitverlag und unſere Schulausgaben lateiniſcher und
Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit | 169
griechiſcher Klaſſiker einſetzte, ſo geſchah das natürlich weniger aus ſittlicher Entrüſtung gegen uns
blutrünftige Barbaren, als aus kluger geſchäftlicher Ausnutzung der leidenſchaftlichen Erregt-
heit und der vorteilhaften Grenzabſperrung. Dieſe zwei Beiſpiele liegen ſo offen zutage, daß
auch bei allen Behörden der Ernſt dieſer Seite der Frage ſicher genügend gewürdigt und darum
auf Gegenmaßregeln Bedacht genommen wird. |
Anders iſt es mit der Erkenntnis der Bedeutung des Buches für die Weltpolitik. Hier ift
man in weiteſten Kreiſen blind geweſen und heute noch ſehr kurzſichtig, erſt recht für die feineren
Werte, die nicht geradezu auf dem politiſchen Gebiete liegen, ſondern unwägbar und unbe-
rechenbar, gerade darum aber beſonders wirkſam ſich einſtellen. Richard Müller ſagt: „Worauf
beruht letzten Endes die Beliebtheit der Franzoſen überall zwiſchen Petersburg und Rio de
ganeiro? Sicherlich weit weniger auf perſönlicher Bekanntſchaft (da die Meſſieurs im all-
gemeinen ſehr wenig zu reifen pflegen) — als vielmehr auf der Lektüre franzöſiſcher Bücher,
von denen beſonders die mindere Gattung ungeheure, wenn auch gewiß nicht immer recht-
mätzige Auflagen erlebt, und daneben auf der franzöſiſchen Komödie, die ſo herrlich geſchaffen
iſt, um leere Abende zu füllen. Keine Kulturgeſchichte rechnet aus, wieviel Herzen der, Hütten-
beſitzer“, wieviel die ‚Cameliendame‘, wieviel Cyrano de Bergerac“ für Frankreich gewonnen
haben! Und das haben ſie getan! Nach ſolchen etwas talmihaften, aber bequem eingehenden
und fo ſympathiſchen“ Geſtalten beurteilt man im Ausland die Franzoſen weit mehr als nach
den problematiſchen Helden Balzacs, Flauberts oder Zolas. Frankreich — das bedeutet in
der weiten Welt überall eine Atmoſphäre eleganter Salons, charmanten Umgangstons, einer
guten Doſis Erotik, und all dieſe ſchönen Dinge kennt man meiſt allein aus Büchern und vom
Theater (wo man ſie ſogar — nebenbei bemerkt — viel ſicherer findet als im Paris der dritten
Republik oder gar in der franzöſiſchen Provinz). — Mit uns iſt das anders: Weder unſre gute,
noch unſre mittelmäßige Dichtung arbeitet für uns im Ausland in ähnlicher Weiſe. Höchſtens
unſre wiſſenſchaftliche Literatur ſtrömt in größeren Mengen über die Grenzen. Aber die Dich-
tung und damit das feinſte Deftillat unſeres geiſtigen und geſellſchaftlichen Lebens iſt jenfeits
der ſchwarzweißroten Grenzpfähle jo gut wie gar nicht gekannt. Wie wären ſonſt ſolche Urteile
möglich, wie folgende zwei, die ich gerade aufleſe: daß A. Fouillée, einer der bedeutendſten
Philoſophen Frankreichs, in feinem Buch über die, Pſychologie der europäiſchen Völker ſchreibt,
in den zwanzig Jahren nach dem Kriege hätten bei uns Literatur und Kunſt geſchwiegen, und
daß ein andrer Autor, Guillaud, in feinem Buche ‚L’Allemagne nouvelle“ urteilt, die einzige
Literatur, die es in Deutfchland zur Blüte gebracht habe, ſei die militäriſche geweſen!“
In möchte im folgenden der Unterſuchung Müllers folgen, wenn ich auch keineswegs
überall feine Meinung teile, wenigſtens nicht hinſichtlich der Urſachen der von ihm richtig ge-
ſehenen Erſcheinungen. Ich gebe aber meine Auffaſſung, ohne jeweils dieſe Gegenſätzlichkeiten
ſcharf zu betonen. ö N
Natürlich liegt die geringe Verbreitung unſerer Literatur im Auslande nicht an der
Schwierigkeit der deutſchen Sprache, wie umgekehrt die in den letzten Jahrzehnten zumal in
Frankreich und England gewachſene Kenntnis des Deutſchen nichts zur Verbreitung unſerer
Literatur beigetragen hat. Wer kann bei uns in Deutſchland RNuſſiſch? Wie bekannt ſind trotz-
dem bei uns eine ganze Reihe ruſſiſcher Schriftſteller. Für dieſe tiefdringende und auch ins
Breite gehende politiſche Wirkung der Literatur fällt die Kenntnis der Originalwerke gar nicht
ins Gewicht, ſondern nur die überſetzte Literatur. Wenn Müller auf das romantiſche Deutſch-
land, auf die Zeit der Staöl und Carlyles zum Beweis dafür verweiſt, daß einſt auch das lite-
rariſche Seutſchland im Ausland gewertet worden iſt, fo läßt ſich dem mancherlei entgegenhalten.
Es find auch ſeit 1871 und erſt recht in den letzten 20 Jahren in England und zumal in Frank-
teich eine ganz beträchtliche Zahl guter Abhandlungen über deutſche Literatur erſchienen.
Es kommt aber natürlich gan: "uf den Geiſt an, in dem fie geſchrieben find. Frau von GStadl
war gewiß keine glänzende Keunerin der deutſchen Literatur, aber fie hatte eine gewiſſe Liebe
5
170 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik
zu Deutichland bzw. die Auffaſſung, daß der deutſche Geiſt wertvolle Befruchtungskräfte für
Frankreich in ſich berge. Und wie vor zwei Zahrtaufenden Tacitus, der als echter Römer die
Germanen vernichten wollte, aus ſolchen Beſſerungsbeſtrebungen für fein Vaterland ſeine Lob-
rede auf Oeutſchland geſchrieben hat, jo wurde in den letzten Jahrzehnten umgekehrt in Frank-
reich jede freundliche Behandlung eines deutſchen Dichters benutzt, um ihn als Gegenſatz gegen
das moderne oder offizielle Deutfchland auszuſpielen. Erſcheinungen wie Frau Staöl und
Carlyle ſind im Ausland ganz vereinzelt, nicht nur hinſichtlich ihrer Bedeutung, ſondern auch
in ihrem ganzen Verhältnis zu einem Fremd volke. Während wir Deutfche eigentlich durchweg
dazu neigen, alles Fremde durch die roſige Brille zu ſehen, ſind die Ausländer vom höheren
Werte ihrer heimiſchen Art jo feſt überzeugt, daß fie auf jenen Gebieten, die fie im Ausland
als beſſer anerkennen müſſen, zum Polemiker werden. Ein ſehr lehrreiches Beiſpiel dafür gibt
ein großer Ausſchnitt der politiſchen Literatur der Katholiken Frankreichs. Ihnen mußte die
Machlſtellung, zu der es das Zentrum im „evangeliſchen“ Oeutſchland gebracht hat, im Ver-
gleich zur Ohnmacht des ſtrengen Katholizismus im politiſchen Leben des „katholiſchen“ Frank-
reich einen ſehr ſtarken Eindruck machen. Wer davon aber tiefergehende Freundſchaft bei den
franzöſiſchen Katholiken für ihre Glaubensgenoſſen erwartete, konnte ſich ſchon an der Vor⸗
kriegsliteratur gründlich ernüchtern; im Kriege vollends hat der Ärger oder die Eiferſucht über
die erfolgreichere Arbeit der deutſchen Glaubensgenoſſen die franzöſiſchen Katholiken zu den
giftigſten Haßausbrüchen getrieben, die wir überhaupt von drüben vernommen haben. Es
geht darum auch nicht an, die Bücher des Franzoſen Huret einfach als Gegenſtücke gegen das
ältere Werk der Staöl aufzuſtellen. Die Tendenz der Huretſchen Bücher ſtand feſt, bevor er
nach Deutfchland kam. Das iſt planmäßige Arbeit, genau wie auf der anderen Seite eine ganze
Reihe verherrlichender franzöſiſcher Schriften über England. Man geht ſicher nicht zu weit,
wenn man von Huret behauptet, daß er im weiteſten Sinne im franzöſiſchen diplomatiſchen
Dienſt geſtanden habe, und da iſt freilich ein himmelweiter Anterſchied zwiſchen den deutſchen
Regierungsvertretern im Auslande und denen der anderen Völker. Die fremden Länder haben
die Bedeutung der Einwirkung der Literatur in freundlichem wie in gegneriſchem Sinne immer
ſehr hoch eingeſchãtzt und darum in allen Mitteln genutzt; ſie haben aber gerade darum auch immer
eingeſehen, daß nur eine bewußt nationale — nicht politiſch, ſondern der Weſensart und der
inneren Geſinnung nach — Literatur und Kunſt im Ausland wirken könne, und ich kenne gar
kein Beiſpiel dafür, daß ausländiſche Künſtler jemals in Deutfchland gezeigt hätten, daß fie
künſtleriſch auch nur international empfänden, geſchweige denn daß ſie ſich um deutſche Kunſt
bemühten. Wir machen das ganz anders. Die Deutichen glauben den Ausländern immer da-
durch Eindruck zu machen, daß fie ihnen zeigen: „Seht doch, wir Oeutſche find gar nicht jo
national beſchränkt. Seht doch einmal, wie wir eure Dichter und Komponiſten aufführen, wie
wir eure Bilder bezahlen!“ Auch Müller meint, neuerliche Ausſtellungen in der Schweiz
ſeien „unblutige, aber glänzende Siege der deutſchen Kultur“ geweſen. Er brauchte nur die
Zeitungen der franzöſiſchen Schweiz geleſen zu haben, um ſich vom Gegenteil zu überzeugen.
Es iſt ja auch ganz ſelbſtverſtändlich. Wie hätten Reinhardts vielgerühmte Gaſtſpiele in der
Schweiz für deutſche Literatur wirken ſollen, da er doch faſt ausſchließlich nichtdeutſche Dichter
aufführte ?! Er hätte alſo höchſtens für deutſche Schauſpielkunſt Anerkennung gewinnen können.
Da aber bringt man es immer nur zu einem gönnerhaften Lob. Denn es iſt ganz felbftverftänd-
lich, daß Oeutſche dem auf feinen Stil verpichten Franzoſen als Dariteller immer minderwertig
erſcheinen.
Dann heißt es bei Müller: „Die Bilanz im Austauſch geiſtiger Werte mit fremden Län
dern iſt heute negativ. Gewiß ſind einzelne deutſche Schriftſteller, beſonders Sudermann,
Hauptmann, Schnitzler, auch im Ausland geleſen und aufgeführt worden. Aber man täufche
fich nicht! Derartige Erfolge find immer nur vereinzelt geblieben.. So, wie fie über die Grenzen
drangen, vermochten ſie dem Ausland keinen Begriff zu geben von der geſchloſſenen Bewegung
9
Dos deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit 171
in der Literatur, die feit mehreren Jahrzehnten bereits, in immer neuen Richtungen ſich be-
tãtigend, die Geiſter wach hält. Man hat im Ausland in weiteren Kreiſen keinen Begriff davon,
mit welcher Energie und wieviel echter Begeiſterung und Leidenſchaft von unſrer Zugend
um echte künſtleriſche Wirkung gerungen wird. Man empfindet die einzelnen Werke, die man
kennen lernt, im Ausland als vereinzelte Schwalben, die keinen Sommer machen. Es ſoll
an dieſer Stelle nicht damit abgerechnet werden, ob wir in der jüngſten Zeit einen beſonders
guten poetiſchen Sommer hatten; es will uns jedoch ſcheinen, daß ſich jedenfalls die deutſche
Literatur nicht zu verſtecken braucht. Es iſt vielleicht richtig, daß die ganz hervorragenden
Gipfel ſelten ſind; aber dieſe allein machen ja den Erfolg nicht aus. Nicht bloß die Generäle,
auch niedere Chargen und Soldaten gehören dazu, um einen Krieg zu gewinnen. Und das nun
bedünkt uns außer Zweifel, daß wir eine große Anzahl ſehr anſehnlicher Dichter und Unter-
haltungsſchriftſteller haben, die — wenn ſie vom Ausland mehr beachtet würden — dort ſehr
wohl einen andern Begriff vom deutſchen geiſtigen und auch geſellſchaftlichen Leben vermitteln
konnten, als er heute dort herrſcht. Daß fie aber nicht zur Wirkung gelangt find, liegt nur zum
Teil an ihnen, zum Teil an den tatſächlichen Schwierigkeiten, denen gerade der Deutſche im
Ausland begegnet. Täuſchen wir uns auch darin nicht: nach dem Kriege werden dieſe noch viel
größer fein, man wird ſehr ungern geneigt fein, das Bild vom deutſchen Barbaren, das fo be-
quem zu verlachen war, zu korrigieren.“
Ich finde auch hier die Tatſachen nicht feſt genug herausgearbeitet und vor allem nicht
genügend unterſchieden. Es iſt ja nicht an dem, daß in einem fremden Lande politiſche Wirkun-
gen von einer genauen Kenntnis unſerer Literaturſtrömungen und der geiſtigen Bewegung
ausgehen könnten. Darüber werden immer nur einzelne Beſcheid wiſſen. Auch bei uns wiſſen
nur ganz wenige über das eigentliche Literaturleben Frankreichs Beſcheid; ſonſt wäre auch bei
uns Frankreich anders eingeſchätzt worden, als es vor dem Kriege der Fall war, und wir wären
über ſeine Widerſtandskraft nicht fo überraſcht. Im allgemeinen kann man fagen, daß es nicht
die große Literatur iſt, die im Auslande Stimmung macht, ſelbſt dann nicht, wenn dieſe großen
Künftler ſich auch im Roman betätigt haben. Müller ſelbſt hat zu Anfang richtig hervorgehoben,
daß der Franzoſe im Ausland mehr nach den Geſtalten der Ohnet und Genoſſen, als nach den
problematiſchen Helden Balzacs, Flauberts oder Zolas beurteilt werde. Maupaſſant ift in
dieſem Zuſammenhange nicht genannt; ſein Beiſpiel zeigt, wie gerade auf dieſem Gebiete eine
feingeſchliffene Kunſt wirken kann. Aber im allgemeinen iſt es die modiſche Unterhaltungs-
literatur, die in dieſer Richtung am meiſten ſchafft. And da fit das Verhängnis. Halten wir
uns doch zunächſt an die literariſchen Verhältniſſe bei uns ſelbſt. Zm Zeitungsroman und in
der billigen Bücherware nehmen die Aberſetzungen einen ungeheuren Raum ein. In den
letzten Jahren treten die Franzoſen da etwas zurück, aber es iſt immer noch eine ganze Maſſe
neben den Engländern, Amerikanern und Slawen. Auch italieniſche Schriftſteller, ſo wenig
ſie an ſich bedeuten wollen, haben bei uns Eingang gefunden. Noch im Kriege iſt ein amerikani-
ſches Uberſetzungsbureau gegründet worden. So wie die literariſchen Verhältniſſe liegen, be-
deutet jeder dieſer Anterhaltungsromane ein Werbemittel für fein Urſprungsland, d. h. ſoweit
es ih um fremde Literatur in Deutfchland handelt. Denn gerade dieſe Unterhaltungsliteratur
it in allen anderen Ländern durchaus national. Selbſt in Rußland, wo höchſtens auf einzelne
Typen aus politiſcher Gegenſätzlichkeit losgehauen wird. Lebensdarſtellung, Geſinnung der
auftretenden Perſonen und dazu die Freudigkeit an heimiſchen Lebensformen, ſind Gemeingut
der geſamten außerdeutſchen Weltliteratur. Dagegen halte man nun, daß gerade in unſerm
Unterhaltungsroman das Fremde vielfach verherrlicht wird. Jede deutſche Schriftſtellerin
bringt in ihren Werken ihre Auslandsreiſen an, und fie ſchildert Menſchen, Sitten und Gegenden
der Fremde mit der verklärenden Liebe des Ferienreiſenden. Nirgendwo in fremder Literatur
findet man die läppiſche Spielerei mit fremdſprachlichen Brocken, überhaupt dieſes dumme
Sich-Großtun mit der Kenntnis der Fremde. Auch wenn wir gute Vertriebseinrichtungen für
172 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik
dieſe Literatur hätten, würden wir uns damit das „Feuilleton“ der ausländiſchen Blätter kaum
erobern können, denn die Ausländer lachen natürlich über dieſe dilettantenhaften Behandlungen
ihrer Verhältniſſe. Aber ſelbſt wenn dieſe deutſche literariſche Unterhaltungsware ſich den aus-
länd iſchen Markt gewänne, wäre fie nicht dazu angetan, für Deutfchland Sympathien zu erwerben.
Kann man das von der Literatur behaupten, die bei uns von der „maßgebenden“ Preſſe
als unſere wertvolle Literatur geprieſen wird? Da muß man ſchlankweg mit Nein antworten.
In weitaus dem größten Teile jener Belletriſtik, die von den Verkündern des Snternationalis-
mus in Oeutſchland geprieſen wird, iſt das Deutſche ſehr ſchwach ausgebildet. Aber ſo gewiß
der franzöſiſche Bilderliebhaber, ich meine den echten Kunſtkenner, zu allen Zeiten bei Schwind,
Spitzweg, ja ſogar noch bei einem Oefregger Werte fand, die ihn als ein Deutſch Sympathiſches
berührten, gerade weil ſie ihm die franzöſiſche Kunſt nicht bot, wie er dagegen von unſeren
Impreſſioniſten nichts wiſſen will, da er in Frankreich das alles viel beſſer hat, iſt es auch mit
der Literatur. Nachdem ich mich lange dagegen gewehrt hatte, bin ich doch in den letzten Jahren
vor dem Krieg im Verkehr mit meinen franzöſiſchen Bekannten zur Überzeugung gelangt, daß fie
ganz ehrlich meinten, wir. hätten in Deutſchland gar keine eigene Kunſt mehr. Allenfalls wehrten
wir uns noch in der Muſik, wo aber auch ſchon die Fungfranzoſen und Slawen ſtets an Einfluß
wüchſen; in der bildenden Kunſt und Literatur dagegen zeigten wir ja ſelbſt durch unſer ganzes
Verhalten, daß wir das Fremdländiſche viel höher einſchätzten und alſo offenbar nichts Eigenes
hätten. Ich hatte Jahre hindurch, ſolange Tobler fo viele franzöſiſche Studenten an die Ber-
liner Univerſität anzog, viel Verkehr mit literariſch ſehr angeregten jungen Franzoſen, zumeiſt
künftigen Lehrern. Sie waren zum Teil ehrlich beſtrebt, Deutſches anzuerkennen, häufig über-
raſcht, wenn ich fie mit dem einen und andern Buche bekanntmachte, das bei uns ſelbſt kaum ge-
nannt wurde. Sie gaben dann zu, daß es wohl auch eine eigene „deutſche Linie“ noch heute in
Literatur und Kunſt gäbe; aber ich konnte ihnen nichts entgegenhalten, wenn ſie mich darauf
verwieſen, daß in Deutſchland, wenigſtens in Berlin, dieſe deutſche Linie kaum beachtet werde,
kaum bekannt ſei. |
So iſt es kaum möglich, den Gutwilligen oder doch wenigſtens nicht Widerwilligen im
Auslande den Glauben an eine wirklich deutſche künſtleriſche Betätigung in der Gegenwart
beizubringen. Unfere Feinde beſtreiten ja ſelbſt jetzt im Kriege nicht, daß wir maſſenhaft Kunſt
hervorbringen; ſie behaupten nur, das alles ſei Nachahmung, ſei Gabe aus zweiter Hand.
Der deutſche Geiſt habe nichts Eigenes in der Kunſt zu geben. Das iſt ja natürlich Unſinn, aber
unſere öffentlichen Kunſt- und Literaturzuſtände machen es den Gegnern leicht, ihre Behaup-
tung durch Tatſachen zu beweiſen.
Nun aber ſind die Gutwilligen bei unſern Gegnern nur in ſehr geringer Zahl vorhanden.
Man kann ſagen, daß ſämtliche Ausländer in allem, was Kunſt- und Lebenskultur betrifft,
von ihrem eigenen Werte ſo überzeugt ſind, daß ſie dem Fremden nur widerwillig die Tore
öffnen. Sie tun es tatſächlich nur dann, wenn ſie ſich vor dieſem fremden Werte beugen und
anerkennen müſſen, daß ſie ſich mit der Nichtannahme dieſes Fremdgutes ſelber ſchaden. Der
Fall Wagner in Frankreich iſt in dieſer Hinſicht ſehr beredt. Aus dieſer durchaus berechtigten
und von wahrhafter Kultur zeugenden Art, zumal für Kunſt und alle Lebensbetätigungen ſich
zunächſt ins Heimiſche einzuſtellen, ergibt ſich dann auch das Verhalten der ausländiſchen Preſſe
gegen uns. Wer viel im Auslande gelebt hat, wird mir beſtätigen, daß man auch in den großen
Zeitungen Frankreichs, Italiens und Englands wochenlang über geiſtiges Leben in Deutſchland
nichts zu leſen bekam. Dagegen halte man, daß bei uns ſelbſt die kleinen Provinzblättchen darauf
hielten, bei irgendeiner Korreſpondenz auf Pariſer Briefe abonniert zu ſein. Selbſt jetzt im
Kriege halten es unfer größeren Zeitungen für ihre Pflicht, über die in Feindesland verſtorbenen
Gelehrten und Künſtler eingehende Nachrufe zu bringen. Das mag ſehr ſchön ſein, jedenfalls
darf man ſich aber dann bei uns nicht wundern, wenn dieſe Leute bei uns wenigſtens ebenſo
bekannt ſind, wie unſere deutſchen Künſtler, die in der Regel viel kürzer abgefertigt werden.
Das beutfhe Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitik 175
Und ebenſo iſt es ſichere Tatſache, daß ſich in der ausländiſchen Preſſe die Parallelerſcheinung
nicht findet. Das Verhältnis war vor dem Krieg noch hundertmal grotesker. Unſere großen
Tageszeitungen, allen voran die demokratiſch gerichtete Preſſe, brachten in ihrem Feuilleton
faſt mehr Ausländiſches, als Einheimiſches. Jedenfalls war dieſes Ausländiſche weniger kritiſch
geſehen; vor allem war Paris dauernd ein Eldorado. Wir machten uns manchmal luſtig über
die Oberflächlichkeit der Ausländer in ihrer Beurteilung Deutſchlands. Es ſind da in der Tat
tolle Stüdchen geleiſtet worden. Aber die für unſer Gefühl ſchiefen Beruteilungen Deutfch-
lands kamen, wo ſie nicht böſer Abſicht entſprangen, daher, daß die betreffenden Beurteiler
ganz mit ihren heimiſchen Augen ſahen. So war ihr Urteil für ihre Landsleute zu Haufe, wenig-
ſtens in politiſchem und wirtſchaftlichem Sinne, von Nutzen. Die Fremde hat uns nicht über-
ſchäͤtzt, wenigſtens nicht im Guten, und hat unfere Erzeugniſſe nicht begehrt. An Oberflächlichkeit
des Urteils über das Ausland ſtanden aber unſere Berichterſtatter keinesfalls hinter den aus-
landiſchen zuruck. Aber während der Engländer bei uns Stockengländer, der Franzoſe Stock-
ftanzoſe blieb, gebärdeten ſich die Pariſer Korreſpondenten unſerer deutſchen Blätter, als ob
ſie auf dem Montmartre geboren wären. Dieſer Tage hat einer dieſer Herren, Viktor Auburtin,
ein bezeichnendes Geſtändnis abgelegt (Berliner Tageblatt, 16. April, Abendausgabe): „Aller-
dings und offen geſtanden bin ich der Meinung, daß wir auch ſchon vor dem Kriege das fran-
zöͤſiſche Volk nicht richtig gekannt und nicht richtig eingeſchätzt haben; in der guten Zeit, da es
noch bequeme Eiſenbahn verbindungen über Köln nach Metz gab und als wir jedes Jahr einmal
nach Paris fuhren, um im Louvremuſeum und bei Tabarin mit der Seele dieſes intereſſanten
Volkes in Berührung zu treten. Ich habe drei Jahre bei den Franzoſen gelebt, mit Schrift-
ſtellern, Kaufleuten, Kokotten, Abbés und Oberkellnern Verkehr gepflegt und daraufhin ge-
glaubt, die Art dieſer Leute begriffen zu haben, dieſes verſtändige, höfliche, nüchterne und des-
halb im tiefſten Kern anſtändige Weſen, das ſich dem flüchtigen Beſucher nicht enthüllen kann.
Und bildete mir etwas ein auf meine feine und beſondere Durchdringung. Und da kam der Krieg
und änderte alles; unbekannte Mächte tauchten aus der Tiefe auf, vernünftige Geſichter ver-
zerrten ſich und die höflichen Leute gebärdeten ſich wie Beſeſſene. Und zu fpät erkannte ich, daß
meine Quellen vielleicht doch nicht ganz einwandfrei geweſen waren: die Schriftſteller hatten
mir nicht die Wahrheit gefagt, was ja auch gar nicht ihr Beruf iſt, die Abbss hatten die Welt nicht
gekannt, und mein Oberkellner war aus Wiener -Neuſtadt gebürtig geweſen.“
Wenn dieſe Herren Auburtin und Genoſſen mit deutſchen Herzen und deutſchen Augen
durch Frankreich gegangen wären, hätten ſie die Franzoſen viel beſſer kennengelernt, hätten
uns nicht dauernd über Frankreich getäuſcht und hätten vor allem nicht ſo viel Reklame für
Frankreich, ſeine Kunſt und Kultur gemacht. Es iſt in der Preſſe jetzt ſo im Schwange, immer
das Verſagen unferer Diplomatie im Auslande zu betonen. Unfere Preſſe hat nicht minder ver-
ſagt. Daß ein Mann, wie Maximilian Nordau, noch in den erſten Monaten des Krieges in
großen deutſchen Zeitungen (3. B. in der Voſſiſchen) feine die Gunſt der Pariſer erwinſelnden
Berichte veröffentlichen durfte, iſt ein viel tolleres Stück, als der Fall Lichnowſky. Daß auch
ſonſt während des Krieges, zumal aus Neutralien, derartige Stimmungsmacherei immer im
Dienſte des Franzoſentums und immer von Literaten gemacht worden ift bis in die jüngſte
Gegenwart hinein, kann niemand entgangen ſein, der jene Blätter lieſt, die ſich ſelber dauernd
als maßgebende Kulturpreſſe bezeichnen. Die Gegenleiſtung auf der anderen Seite beruht
höchſtens darin, daß einzelnen dieſer Leute beſtätigt wird, fie ſeien „charmante Leute“, „trotz
dem“ fie aus Deutſchland ſtammten. Als „Oeutſche“ werden fie auch von den Ausländern nur
dann bezeichnet, wenn ſie als Kronzeugen gegen uns verwendet werden können.
Bleiben wir uns der Notwendigkeit dieſes innerlichen Wandels bewußt, ſo können wir
Richard Müllers Beſſerungsvorſchläge um ſo freundlicher bewerten. Vielleicht ſieht er doch zu
ſchwarz, wenn er als Phantaſt verlacht zu werden fürchtet „für den Vorſchlag, im Auswärtigen
Amt eine Abteilung für Propaganda zugunſten unſerer Literatur im Auslande zu ſchaffen“.
174 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolltit
Denn eigentlich ſollte allgemein eingeſehen werden, wie ſehr wir uns durch die Vernachläſſigung
aller dieſer Mittel geſchadet haben. Sicher wäre es „kein weggeworfenes Geld. Wir hätten
vermutlich Milliarden erſpart, wenn man der bewußt im Ausland betriebenen Verhetzung
gegen uns entgegengearbeitet hãtte, auch nur betreffs der politiſchen und ſozialen Vorurteile“.
Die geiſtige Kultur iſt dazu eines der beſten Mittel. „Man wird mit einer konſequenten, wenn
auch möglichſt unauffälligen Propaganda beginnen müſſen, die das Ausland, zunächſt das
neutrale, dann aber auch das feindliche Ausland aufklärt darüber, daß wir nicht nur Romane
wie „Jena oder Sedan“ und ‚Aus einer kleinen Garniſon“ produzieren, ſondern daß bei uns
ernſt und heiß um edle Kunſt gerungen und viel Wertvolles geſchaffen wird. Man muß dartun,
daß unfre neuere Literatur nicht bloß Nachahmung fremder Moden iſt, daß fie auch dort, wo
fie internationale Beſtrebungen willig aufnimmt, durchaus eigene Wege geht. Wenn der Berg
nicht zu Mohammed kommt, gut, ſo muß Mohammed zum Berge gehen! Wir brauchen unſer
Licht nicht unter den Scheffel zu ſtellen. Gewiß ſoll keine Renommage getrieben werden; wir
ſollen vermeiden, die anderen dabei irgendwie zu kränken oder herabzuſetzen, aber das iſt durch-
aus zu machen, ohne unſern berechtigten Anſpruch auf Gleichberechtigung zu unterdrücken.
Wir wollen dem Ausland ja kein falſches und übertriebenes Bild von unſern Zuſtänden geben,
wir ſollten nur das tatſächlich beſtehende falſche Bild berichtigen und die Verzerrungen unſchäd⸗
lich machen. Und dazu iſt niemand mehr berufen als wir ſelber!“
Die Titel der beiden oben genannten Romane ſind aber auch nach anderer Richtung hin
beredt. Beide Bücher haben im Ausland einen ſehr großen Erfolg gehabt. Warum? Weil
fie von Deutfchen geſchrieben, doch gegen ausgeſprochen deutſche Einrichtungen, deren Wert das
Ausland durch feinen Haß bezeugt, gerichtet waren. Auch der „Simpliziſſimus“ war im Aus-
land ſehr verbreitet. Alle Länder haben ihre ſatiriſche Literatur, ja man wird die ſatiriſchen
Fähigkeiten des deutſchen Schrifttums im Vergleich mit anderen Literaturen nicht allzu hoch
bewerten. Aber bei keinem andern Volke war die Satire ſo gegen Einrichtungen gerichtet,
auf denen der eigene Staat und das eigene Volkstum ſteht, wie in Oeutſchland. Keine andere
Literatur beſchmutzt in gleichem Maße das eigene Neſt. Solange das nicht beſſer wird, wird
es das Ausland immer leicht haben, aus unſerm eigenen Schrifttum die giftigſten Waffen gegen
uns zu ſchmieden. —
„Aber bloß mit der ideellen Aufklärung allein iſt wenig geſchafft: es muß auch Sorge
getragen werden, daß die äußeren Möglichkeiten, die deutſche Dichtung und Oeutſchland in
feiner Dichtung kennenzulernen, ſich beſſer geſtalten.“ Richard Müller erkennt als das Haupt-
übel die zu teueren Bücherpreife unſerer neueren Literatur. Daran liegt es vor allem, daß
die neuere deutſche Literatur in Deutfchland ſelbſt zu wenig bekannt iſt. Ich habe im Tuͤrmer
ſchon oft darauf hingewieſen, daß unſer Verlagsſyſtem, an den teuren Erſtpreiſen feſtzuhalten,
bis die Schutzfriſt der Werke abgelaufen iſt, ein ſchweres Verhängnis iſt und nicht nur der
Maſſen verbreitung der Bücher entgegenſteht, ſondern auch die weitaus meiſten Literaturwerke
um die volle Wirkung ihrer Gegenwartswerte bringt. Denn es gibt nur wenige Werke, die
dreißig Jahre nach dem Tode ihres Verfaſſers noch in voller Wirkung ſtehen. Für den vor
liegenden Zweck iſt dann noch beſonders zu bedenken, „daß faſt keins unferer Nachbarvölker ſo
konſervativ iſt, wie das deutſche, daß alle, beſonders Franzoſen und Ruſſen, auch Staliener
und Skandinavier, eine beſondere Vorliebe für alles Aktuelle, Zeitgemäße, Neuartige haben.“
Wir müſſen alſo entweder das franzöſiſche Syſtem übernehmen und die Bücher gleich mit
einem billigen Einheitspreis (in Frankreich 3,50 Fr., mit dem üblichen Rabatt 3 Franken)
herausbringen, oder gleich den Engländern den teuren Erſtausgaben möglichft raſch billige
Maſſenausgaben folgen laſſen. Es iſt ganz ſicher, daß auf dieſe Weiſe die Kenntnis der zeit
genöſſiſchen deutſchen Literatur zunächſt in Deutſchland ſelbſt außerordentlich zunehmen und
dadurch der Verbreitung der ausländiſchen bei uns entgegengearbeitet würde. Beides würde
nicht ohne Folgen auf das Ausland bleiben.
Das beutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitit 175
Da indeſſen die Wirkung im Auslande weniger von den Originalausgaben, als von
Überſetzungen ausgeht, iſt vor allem die Verbreitung von Überſetzungen ins Auge zu faffen.
gch glaube nun nicht, daß Müller im Rechte iſt, wenn er in dem zu guten Schutz unſerer Literatur-
werke einen Hemmſchuh für ihre Verbreitung im Auslande ſieht. Im allgemeinen ſind die für
Überſetzungen verlangten Honorare doch nicht fo groß, daß fie die Ausgabe in der fremden
Sprache wirklich belaſten. Jedenfalls könnten fie kein Hindernis bilden, wenn im Ausland
wirklich Verlangen nach unſerer Literatur vorhanden wäre. Ich bin nun auch der Meinung,
daß dieſes nicht abgewartet werden ſoll, ſondern durch Angebot geweckt werden müßte. Und ſo
iſt es in der Tat verlockend, ſich einmal auszumalen, was geſchehen könnte, wenn wir eine
mit anſehnlichen Mitteln ausgeſtattete Propagandaſtelle für deutſche Dichtung im Ausland
beſäßen. Einerlei, ob dieſe dem Auswärtigen Amte angegliedert wäre, oder ob ſie von einer
privaten Vereinigung, etwa einem Konſortium deutſcher Verleger und Autoren, mit Mitteln
geſpeiſt würde, ſie könnte mancherlei leiſten. Sie müßte zunächſt in der ausländiſchen Preſſe
das Intereſſe für deutſche Dichtung wecken, was bei einigem guten Willen, viel Takt und den
nötigen Barmitteln gar nicht fo ſchwer wäre. Sie müßte aber dann dieſer Vorarbeit billige
und hübfche Überſetzungen folgen laſſen, wobei es ſogar nicht ſehr ſchwer wäre, in bezug auf
die Ausſtattung die fremdländiſche Konkurrenz zu ſchlagen. An ſchönem Material würde es
nichs fehlen. Es brauchte nicht einmal immer künſtleriſch ganz Wertvolles zu ſein, und es
dürfte, gerade wenn es in der Abſicht nationaler Wirkung geſchähe, nicht etwa bewußt na-
tionaliſierende Literatur fein. Nichts hat den deutſchen Gedanken draußen jo verdächtig ge-
macht, wie die allzu große Abſichtlichkeit, mit der er ausgeſprochen wurde. „Ich ſtimme auch
bier zu, ſobald das Wort aufdringlich“ und ‚abfichtlich‘ betont wird. Ich finde aber, daß in
unſerer Literatur dieſer Fall ſehr ſelten iſt, jedenfalls weit ſeltener, als in der der anderen Völker.
Dem Franzoſen zumal iſt die Verherrlichung Frankreichs und alles Franzöſiſchen ganz zur
Natur geworden. Ich habe eher gefunden, daß uns der Mangel an freudigem Bekenntnis
zum Oeutſchen auch im Auslande ſehr hinderlich iſt. Bei keinem andern Volke erſcheint dieſe
Freude an der eigenen Art ſo gehemmt und unterdrückt, wie bei uns. Freilich tritt ſie gerade
darum bei andern Deutſchen auch unterſtrichen auf und wirkt dann wie alles Unterſtrichene
unkünſtleriſch. Wenn bei uns ſich erſt die nationale Geſinnung ſo von ſelbſt verſtehen wird,
wie bei den anderen europäiſchen Kulturvölkern, fo wird ſich da der richtige Ton von ſelbſt ein-
ſtellen. Jetzt aber leidet auch für alle Propagandazwecke im Ausland unſere ſchöne Literatur
entſchieden am Mangel der Oeutſchfreudigkeit. Wiederholt iſt z. B. die Schönheit einzelner
deutſcher Städte (3. B. Bambergs) oder Landſchaften von Ausländern früher künſtleriſch ver-
wertet worden, als von Oeutſchen. Br
Andererſeits ftelle ich es mir recht ſchwierig vor, „in der ausländiſchen Preſſe das In-
tereſſe für deutſche Dichtung zu wecken“. Denn wir dürfen nicht mit der gleichen Geneigtheit
rechnen, wie wir ſie allen fremden Literaturen entgegenbringen. Das „Literariſche Echo“,
in dem Richard Müllers Aufſatz erſcheint, hat z. B. vom 1. April 1913 bis 1. Auguſt 1914, alſo
in der Zeit unmittelbar vor Kriegsausbruch, zehn ſelbſtändige Aufſätze über ausländiſche Dichter
gebracht. Das kann ich mir auf der Gegenſeite gar nicht vorſtellen. Allerdings, wenn erſt die
Überſetzungen erſchienen fein werden, iſt es für die Aberſetzer und die Verleger von Belang,
für das Bekanntwerden dieſer Dichter zu ſorgen. Und fo erſcheint mir als der wichtigſte Vor-
ſchlag Richard Müllers, „in den ausländifchen Hauptſtädten einen oder mehrere einheimiſche
Verleger für den Plan zu gewinnen, die ſich in unauffälliger, aber zielbewußter Weiſe in den
Dienſt dieſer Idee ſtellten. Zu finden würde der ſchon fein — meint Richard Müller — und
feine Arbeit könnte ja leicht von Deutſchland aus materiell und ideell unterſtützt werden“.
Man wird vor allem an die materielle Unterſtützung denken müſſen. Hoffentlich verlernt
man endlich auf dieſem Gebiete bei uns das Knauſern und ſieht ein, daß ſich die hier angelegten
Summen irgendwie immer bezahlt machen.
176 Das deutſche Buch als Faktor in Weltwirtſchaft und Weltpolitlt
And ſo begrüße ich dieſen Aufſatz Richard Müllers, wenn ich auch im einzelnen da und
dort habe widerſprechen müſſen. Wichtig iſt, daß die Arbeit nicht verzettelt, ſondern für alle
dieſe Bewegungen eine Sammelſtelle geſchaffen wird. Verſagt der Staat, ſo müßten ſich die ·
Verleger- und Schriftſteller- Verbände zuſammentun. Vielleicht wäre der Leipziger Verein
für Buchweſen und Schrifttum, auf den im „Literariſchen Echo“ hingewieſen wird, in der Tat
die geeignete Stelle. „Denn, um das nochmals in aller Schärfe hervorzuheben, ideelle Er-
oberungen ſetzen ſich leicht auch in materiellen Gewinn um. Man hat in Ländern niederer
Kultur oft beobachtet, daß die Miffionare die Schrittmacher des Kaufmanns waren. Man
laſſe die deutſchen Dichter ähnlich wirken, laſſe ſie die Herzen gewinnen für deutſchen Geiſt
und deutſche Art und tue alles, um ihren Werken den Weg in die Fremde zu ebnen! Nicht nur
der deutſche Buchhandel, unſre Geſamtwirtſchaft und unſere ganze politiſche Stellung werden
viel mehr dadurch gewinnen, als es diejenigen ahnen, die in allem Dichten nur weltfernes
Träumen, nicht den innerſten, tiefſten und notwendigen Ausdruck des Volkstums ſehen!“
Aus dem Schlußſatz geht hervor, daß, wie ich wiederholt betont habe, für dieſe Werbearbeit
die an deutſchem Volkstum gehaltreiche Literatur, nicht aber die internationaliſtiſche geeignet
iſt. Wir müffen es in dieſem Kriege gelernt haben, daß nur der in der Welt Geltung bat, der
ſich vor allem ſelber achtet und ſich niemals und nirgends wegwirft.
Karl Stoa
8 3
D 2
Gedankenſplitter Von Hugo Rohde
Die Hauptkunſt jeder Anterhaltung beſteht darin, den andern reden zu laſſen.
1. b
Weiſe und Wegweiſer zeigen den Weg, ohne ihn ſelbſt zu gehn.
ö *
Vor dem Alter iſt jeder bange,
Doch leben möcht' er trotzdem recht lange.
%
Gedanken, die dir leicht zufliegen,
Die wollen meiſtens dich betrügen,
Die du dir mühſam haſt erdacht,
Die haben dich redlich vorwärts gebracht.
*
Wir ſollen nur ſolche Wünſche haben, deren Erfüllbarkeit in uns, nicht außer uns, liegt.
*
Meiſt iſt es leichter, andern die Wahrheit zu ſagen, als ſich ſelber.
ö Nu 2
INN
„Der Krieg
N
NA
N55 | 0
W 1 RN ZN IND <
N N / Nee | N N — ==
— - ;
N 8 — — | in
4
5
Lach den Erklärungen, die der Reichskanzler dem Vereinigten Landes-
rat von Livland, Eſtland, Riga und Oeſel namens des Deutſchen
Kaiſers abgegeben hat, darf an dem ernſten und feſten Willen, das
e Baltenland dem Oeutſchen Reiche anzugliedern, füglich nicht mehr
gezweifelt werden: die Reichsregierung hat die Hand ergriffen, die das Baltenland
ihm entgegengeſtreckt. Für Kurland ſteht die Angliederung ſchon ſo gut wie feſt,
5 N
für Livland und Eſtland liegen die Dinge, wie der Landtagsabgeokdnete
W. Bacmeifter in einem vortrefflichen Aufſatze des „Größeren Oeutſchland“ hervor-
hebt, etwas weniger einfach, weil eben einer der vielen traurigen Erfolge der
Kühlmannſchen Politik die Tatſache iſt, daß Livland und Eſtland noch formell
der Oberherrſchaft Rußlands unterſtehen. Der Friedensvertrag ſieht allerdings
vor, daß dieſe beiden Länder ſpäter über ihr Schickſal ſelber beſtimmen ſollten.
Aber es bleibt die Frage, ob die ruſſiſche Regierung die Beſchlüſſe des Vereinigten
Landesrats als eine Selbſtbeſtimmung anerkennen wird, und damit bleibt die andere
Frage, was zu tun iſt, wenn die Bolſchewiki eine ſolche Anerkennung zu geben
ſich weigern. Wenn Rußland einen ablehnenden Standpunkt einnimmt, ſteht
alſo doch wieder Gewalt gegen Gewalt, und die überragende militäriſche Stel-
lung Oeutſchlands muß letzten Endes über das Schickfal Livlands und Eſtlands
entſcheiden. Dieſe nicht übermäßig angenehme Lage hätte ſich unſchwer ver-
meiden laſſen, wenn man unſeren Vormarſch nach dem Peipusſee nicht un-
nötigerweiſe vorher mit allerlei Erklärungen belaſtet und wenn man die Rußland
von Weſteuropa trennende „‚Demarkationslinie“ nicht quer durch die baltiſchen
Provinzen, ſondern von Dünaburg zum Peipusſee gezogen hätte, was vermutlich
den Abſchluß des Friedens mit Rußland nicht um einen Tag verzögert
haben würde. Es iſt ja kein Geheimnis mehr, daß dieſe jetzt auf unſere Entſchließun-
gen peinlich drückenden Maßnahmen auf den Einfluß Kühlmanns zurückzuführen
find, der ganz unter dem Banne der Reichstagsmehrheit ſtand und ſogar dem
Vormarſch durch Livland und Eſtland heftig widerſtrebte, alſo einer
Maßnahme, die ſchneller als alle Verhandlungen in Litauiſch-Breſt den Frieden mit
Rußland hergeſtellt hat. Es iſt ſonderbar genug, daß es trotzdem noch nationale Poli-
tiker in Deutfchland gibt, die die Kühlmannſche Politik glauben decken zu follen. . .
Her Türmer XX, 16 5 12 N
178 Zürmees Tagebuch
Es könnte auch vom reichsdeutſchen Standpunkt keine beſſere Löſung ge-
funden werden, als eine Angliederung des im übrigen ſelbſtändigen baltiſchen
Staates auf dem Wege über eine Perſonalunion mit der Krone Preußens
in feſter und ewiger Form. Denn fo bleibt das alte deutſche Baltikum ‚up ewig
ungedeelt‘; ein Land, das den Stempel der deutſchen Kultur feit Jahrhunderten
trägt, in dem eine Viertelmillion Deutfcher den Sinn für den Wert des deutſchen
Volkstums ſich erhalten hat, wie ſonſt nirgends auf der Welt, ſelbſt Oeutſch—
land nicht ausgenommen, ſchließt ſich dem großen deutſchen Volkskörper an
und führt ihm ein höchſt bedeutſames Maß völkiſcher Kraft hinzu, was nach den
ſchweren Verluſten an deutſchem Blut während dieſes Krieges gar nicht froh genug
begrüßt werden kann. Die Anfügung erfolgt nicht in der bedenklichen Form der
Schaffung einer neuen ſelbſtändigen Monarchie und eines Bündniſſes mit Oeutſch-
land, was nach den Erfahrungen des Krieges ſelbſt dann bedenklich geweſen wäre,
wenn ein deutſcher Fürſt den neuen Thron beſtiegen hätte. Nein, die Angliede-
rung iſt viel inniger und ſichert die völlige Gemeinſamkeit des baltiſchen
und des preußzſch-deutſchen Schickſals für alle abſehbaren Zeiten.
Gewaltiges, das den gigantiſchen Leiſtungen des deutſchen Volkes in Waffen
und der Armee in der Heimat entſpricht, ſteht damit vor der Vollendung. Aller-
dings darf nicht verſchwiegen werden, daß es vollendet werden wird trotz der
Widerſtände, die im deutſchen Volke ſchon ſeit langem gegen eine Vergrößerung
des Vaterlandes ſich geltend gemacht haben, jener Widerſtände, die in der deutſchen
auswärtigen Politik und beſonders in Bethmann Hollweg leider Bundesgenoſſen
fanden. Noch können nicht alle Karten, mit denen in der deutſchen Politik ge-
ſpielt worden iſt, aufgedeckt werden. Aber das läßt ſich doch heute ſchon ſagen:
Wer da meint, das jetzt bevorſtehende Ergebnis zeige ja, daß alle ſorgenvollen Er-
örterungen und Mahnrufe aus den national bewußten Kreiſen Deutſchlands
überflüſſig geweſen ſeien, der gibt ſich einem ſchweren Irrtum hin. Richtig
iſt, daß die Macht der von den Waffen geſchaffenen Tatſachen allmählich über alle
Reden und Phraſen zur Tagesordnung übergegangen iſt. Aber ebenſo richtig
iſt, daß dieſe Macht der Tatſachen doch auch mit einer Fülle von perſönlicher
Energie hat in den Vordergrund gerückt werden müſſen, um jene Widerſtände zu
überwinden und die auswärtige Politik des Reiches günſtig zu beeinfluſſen. Daß
große Teile des Volkes ſich deutlich hinter die ſtarke militäriſche Führung ge⸗
ſtellt haben, hat ſicherlich mit dazu beigetragen, den getreuen Ekkeharden unſeres
Volkes den manchmal ſehr kritiſchen Kampf für die deutſchen Lebensnot-
wendigkeiten im Oſten zu erleichtern. Die Geſchichte iſt wahrheitsliebend.
Die Wahrheit kann in Zeiten wie dieſen wohl eine geraume Weile verdunkelt
werden; ſpäter aber wird ſie nicht dulden, daß der Lorbeer an unrichtigen Stirnen
hängt. Oann wird ſie uns zeigen, daß Hindenburg und Ludendorff nicht
nur deshalb unſeren heißen Dank verdienen, weil ſie unſer Volk zum Sieg auf
den Schlachtfeldern geführt haben.
Was das deutſche Volk jetzt zu gewinnen im Begriff ſteht, wird vielen erſt
allmählich klar ins Bewußtſein treten. Wenn früher in Oeutſchland weitſchauende
Männer die Peipusgrenze als die gegebene Sicherung gegen Nußland bezeich⸗
neten, ſo ſah man ſie vielfach mitleidig lächelnd an. Heute — und vermutlich
7
Türmers Tagebuch ö 179
dauernd — reicht die deutſche Macht bis zum Peipus. Gewiß, die deutſchen
Schlachterfolge haben dies Wunder vollbracht. Aber hat je ein Vernünftiger
die Peipusgrenze auch für den Fall gefordert, daß die militäriſche Lage ihre Ge-
winnung nicht geſtattete? Nun erſt zeigt ſich, wie bedenklich ein Bethmann—
ſcher Kleinmut war, der es für notwendig hielt, das deutſche Volk den größten
aller Kriege ohne Ziele durchkämpfen zu laſſen. Nie ſind dem deutſchen Volk
von irgendeinem Alldeutſchen weitere Ziele geſteckt worden, als die ſind, die der
Hindenburgfhe Glaube an den Sieg nun als erreicht vor uns hingeſtellt hat.
Woraus die Kleingläubigen und Schwachmütigen die Lehre ziehen mögen, daß
nicht Skeptizismus und Peſſimismus es ſind, die zur Leiſtung führen, ſondern
Wille und Glaube an die eigene Kraft. Sie erſt machen unmöglich Scheinendes
möglich; denn ſie ſichern die reſtloſe Auslöſung der Kraft. —
Durch Erfüllung der baltiſchen Wünſche werden die politiſche Macht—
ſtellung und die wirtſchaftliche Kraft des Oeutſchen Reiches eine höchſt
bedeutſame Erweiterung erfahren, während unter Bethmann Hollweg die amt-
liche „Norddeutſche Allgemeine Zeitung“ ſchreiben konnte, daß Deutſchland weder
eine politiſche noch eine wirtſchaftliche Machterweiterung anſtrebe. Die Zeiten
einer ſolchen elenden Bankerotterklärung ſind alſo nun wohl endgültig
vorüber. Die Geſchichte hat es mit dem deutſchen Volke beſſer gemeint und ſeine
Lebensbedürfniſſe richtiger erkannt, als ſeine eigenen Staatsmänner.
Was die politiſche Machterweiterung angeht, ſo liegt ſie zunächſt einmal
in der Herſtellung einer ſicheren, militäriſch leicht zu verteidigenden Grenze
nach Rußland hin; zum großen Teil wird es ſich um eine Waſſergrenze handeln.
Des weiteren liegt ein ſtarker Machtzuwachs in der militäriſchen Eingliederung
der Bevölkerung des Baltikums in das Deutſche Reich. Auf dem Boden der bal-
tiſchen Provinzen ſaßen vor dem Krieg etwa 2½ Millionen Einwohner; es laſſen
ſich ohne Schwierigkeit weitere 2 Millionen anſiedeln, ſo daß bei einer Aushebung
von 10 % der Bevölkerung im Kriegsfall eine Heeresſtärke von 450000 Mann
zur Verfügung ſtehen kann. Bedeutſamer jedoch als das iſt die Stellung, die
Deutſchland in Zukunft in der Oſtſee zufallen wird. Mit Finnland im
Schutz- und Trutzbündnis, auf das Finnland angewieſen iſt, und im Beſitz des
Rigaiſchen Meerbuſens ſowie der vorgelagerten Fnſeln, beherrſcht die deutſche
Flotte die geſamte Oſtſee ſo vollkommen, daß eine Durchbrechung dieſer Herrſchaft
ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt. Sede weſt-öſtliche Verbindung zwiſchen Eng-
land und Rußland über Skandinavien, wie ſie uns diesmal ſchweren Schaden
zugefügt hat, iſt für zukünftige Kriege ummöglich gemacht. Statt deſſen wird
Schweden auf die Dauer gar nicht anders können, als eine Politik zu treiben,
die Hand in Hand mit derjenigen Deutfchlands geht. Eine Stellungnahme der
ſchwediſchen Politik, wie ſie die vergangenen Kriegsjahre brachten, dürfte in Zu—
kunft zu den Unmöglichkeiten gehören. |
Was die wirtſchaftliche Machterweiterung angeht, die aus dem Baltikum
dem Oeutſchen Reich zufließen wird, fo liegt ein großer Teil davon offen zutage
als Folge der Herſtellung einer überragenden deutſchen Machtſtellung
in der Oſtſee überhaupt. Damit wird die Oſtſee ein deutſches Handelsgebiet
von ausſichtsreichſter Zukunft. .. Der Hinweis ſei noch gejtattet, was es
180 Zürmers Tagebuch
für die ganze deutſche Oſtſeeküſte und für ihre Häfen bedeuten würde,
wenn einmal ein aufblühendes Baltikum und ein ſich wirtſchaftlich entwickelndes
Finnland in engfter politiſcher Gemeinſchaft mit dem Oeutſchen Reiche ihre rieſigen
Maſſen von Rohſtoffen und ſonſtigen Erzeugniſſen auf den Schiffahrtsmarkt
der Oſtſee werfen und wenn fie andererfeits bedeutende Mengen induftrieller
Erzeugniſſe aus Deutſchland für ihren Bedarf heranziehen werden. —
Ein hervorragender Sachverſtändiger, Profeſſor Warmbold in Stuttgart-
Hohenheim, hat den Verſuch gemacht, die Erzeugungswerte des Baltikums
zu errechnen. Im Deutſchen Reich ernährt ein Quadratkilometer landwirtſchaft-
licher Nutzfläche durchſchnittlich 166 Menſchen, nach Warmbold in den baltiſchen
Provinzen nur 30—35. Nach dieſer Berechnung würden Kurland einen landwirt-
ſchaftlichen Aberſchuß für 1496000, Livland und Eſtland einen ſolchen für 3080000
Menſchen erzeugen können. Würde nun gar noch Litauen in das deutſche Wirt-
ſchaftsgebiet eingegliedert werden, fo würde ein weiterer Überfhuß für 3360000
—
Menſchen erzeugt werden können; vier Fünftel des vor dem Krieg fo ge .
waltigen deutſchen Einfuhrbedarfs an landwirtſchaftlichen Erzeug—
niſſen wären damit gedeckt. An eine Aushungerung Deutſchlands
wäre für abſehbare Zeit nicht mehr zu denken.
Es liegt auf der Hand, welche Hinweiſe auf Siedlungsmöglichkeiten
in den oben genannten Ziffern liegen. Man ſchätzt niedrig, wenn man mit der
Möglichkeit rechnet, im Baltikum 2½ Millionen Menſchen landwirtſchaftlich anzu-
ſiedeln. Dann erſt wäre die Bevölkerungsdichtigkeit auf den Stand der Provinz
Oſtpreußen gebracht. Hocherfreuliche Ausſichten nicht nur für ſiedlungsluſtige
heimkehrende Feldgraue, ſondern auch für die Rückwanderung von Deutſch—
Ruſſen eröffnen ſich da dem Blick. Eine ſolche Anſiedlung in großem Maßſtab
bedeutet eine gewaltige Kraftvermehrung des deutſchen Volkes; fie be-
deutet eine militäriſche Stärkung, eine neue Grundlage wirtſchaftlicher Kraft, und
endlich bringt fie die Ausſicht auf eine allmähliche (freiwillige! D. T.) Eindeutſchung
der Letten und Eſten. Viele von ihnen neigen ohnehin zu der Anſicht, daß ſich die
Volksſplitter der Eſten und Letten nicht auf die Dauer erhalten können; viele ſehen
im Anſchluß an das Oeutſchtum ihren wirtſchaftlichen Vorteil, und es gibt der Bei-
ſpiele genug, wo die Anſiedlung eines deutſch-ruſſiſchen Rückwanderers einen ſtark
germaniſierenden Einfluß auf die benachbarten Lettenhöfe ausgeübt hat zuzeiten, da
die ruſſiſche Regierung noch jeder Eindeutſchung ſchärfſten Widerſtand entgegenſetzte.
Wer da weiß, welche wirtſchaftliche Kraft ein einziges der in Poſen von der
Anſiedlungskommiſſion geſchaffenen deutſchen Bauerndörfer darſtellt, der iſt ſich klar
darüber, daß eine deutſche Anſiedlung in großem Stil auf baltiſchem Boden für das
ganze Oeutſche Reich weitere äußerſt bedeutſame Vorteile mit ſich bringt..
Dem ganzen deutſchen Volke erwachſen alſo auf wirtſchaftlichem, por
litiſchem und militäriſchem Gebiete aus einer Bewilligung der Bitte, die die Ver⸗
einigten Landesräte an den Oeutſchen Raifer gerichtet haben, Vorteile, die jedem
Einſichtigen als groß und wertvoll erſcheinen müſſen. Trotzdem finden wir ſchon
jetzt Anſätze zu einem Widerſtand aus Oeutſchland ſelbſt, die charakteriſtiſch find für
die theoretiſche Art, mit der man bei uns vielfach politiſche Probleme anſieht.
Da ſchreibt z. B. der „Vorwärts“:
Zürmers Tagebuch ö 181
„Da der Friede mit Rußland bereits geſchloſſen iſt, und in dem Vertrag die
Grenzlinie der von Rußland abgetrennten Gebiete endgültig feſtgelegt worden iſt,
eine Grenzlinie, die Eſtland und Livland bei Rußland beläßt, ſo fehlt jede rechtliche
Grundlage, den Wunſch der vereinigten Landesräte durchzuführen, ſelbſt wenn
man deren Legitimation, um im Namen der Mehrheit der baltiſchen Völker zu
ſprechen, anerkennen wollte. Bei der geſchilderten Zuſammenſetzung des Landes-
rates muß aber die Legitimation überdies bezweifelt werden. Was die Landesräte
von Deutichland verlangen, bedeutet einen feindlichen Angriff auf Rußland und
einen Bruch des eben geſchloſſenen Friedensvertrages. Im übrigen ſind wir der
Anſicht, daß die Entſcheidung über dieſes Geſuch nicht nur beim Deutſchen Kaiſer,
ſondern beim deutſchen Volk liegt, deſſen Lebensintereſſe hierdurch berührt wird.“
Auch die „Frankfurter Zeitung“ läuft natürlich mäkelnd hinter der für Deutfch-
land ſo günſtigen geſchichtlichen Entwicklung einher. Sie fragt ſich, ob der Vereinigte
Landesrat als eine wirkliche Landes- und Volksvertretung angeſehen werden kann.
Sie hält es weiter für recht bedenklich, wenn ſich die deutſche Politik allein und
vorwiegend auf eine Bevölkerungsſchicht ſtützen wollte, die zwar in der Geſchichte
ihre Bedeutung gehabt habe, die aber heute nicht mehr beanſpruchen könne, als
die Vertretung des geſamten Volkes angeſehen zu werden. Der Reichskanzler
Graf Hertling habe erſt vor einigen Wochen im Reichstage ausgeſprochen, Deutich-
land denke gar nicht daran, ſich in Livland und Eſtland feſtzuſetzen, und Staats-
ſekretär v. d. Busſche habe einige Wochen ſpäter nochmals ausdrücklich feſtgeſtellt,
daß Eitland und Livland für das Deutfche Reich zunächſt als ruſſiſche Gebietsteile
gelten. Es ſei alſo gar nicht abzuſehen, wie überhaupt der Wunſch des Vereinigten
Landesrats von Livland und Eſtland ſolle erfüllt werden können, wenn der Friede
von Breſt-Litowſk in Kraft bleibt. Am wenigſten ſcheine ihr der Beſchluß einer
Körperſchaft wie des Vereinigten Landesrats von Riga eine Tatſache zu ſein, die
ihr eine Politik im Sinne dieſer Körperſchaft für weniger eee und gefähr-
lich halten ließe, als es bisher der Fall geweſen iſt.
Wann endlich wird das deutſche Volk merken, daß Blätter dieſes Schlages
nächſt unſeren Gegnern da draußen die ſchärfſten Feinde von Deutſchlands
Macht und Größe ſind?“.
In deutſchen demokratiſchen Kreiſen hört man die Oſtſeeprovinzen als aus-
geſprochen „agrariſch-ariſtokratiſches“ Gebiet oft das „Land der Barone“ nennen,
in dem das Bürgertum nichts zu ſagen habe und anders orientiert ſei als der Adel.
Diefe die Tatſachen auf den Kopf ſtellende Mär weiſt Dr. H. Freiherr von Rofen
in der Monatsſchrift „Deutſchlands Erneuerung“ als eine — bewußte oder
unbewußte — Frreführung der reichsdeutſchen Öffentlichkeit mit
Gründen, denen kein Ehrlicher ſich verſchließen kann, als durchaus unrichtig
zurück: „Zunächſt ſind die folgenden ſtatiſtiſchen Zahlen zu beachten. Das baltiſche
Deutſchtum beſteht aus: Bürgern 76 , Adligen 12 %, deutſchen Bauern 11 %
(ſeit 1908 eingewandert) und Arbeitern etwa 1 %. Das deutſche Bürgertum nimmt
hier aber nicht nur zahlenmäßig eine hervorragende Stellung ein, es iſt vor allem
im Großhandel und der Induftrie faſt ausſchließlich vertreten, bildet in allen
Städten die ſoziale Oberſchicht und hat in Riga und Reval für das baltiſche Gebiet
eine noch weit größere Bedeutung gehabt als das Bürgertum der norddeutſchen
182 Türmers Tagebuch
Hanſeſtädte für Oeutſchland. Auch als eigentlicher Kulturfaktor hat das ſelbſt—
bewußte, ſtolze und vornehme Bürgertum eine mindeſtens ebenſo maßgebende
Rolle geſpielt wie der Adel und fein deutſches Volkstum ebenſo zähe und erfolg-
reich verteidigt wie dieſer. Die kürzlich erfolgten Kundgebungen der Rigaer und
Revaler Kaufmannſchaft nach ihrer Befreiung durch die deutſchen Waffen reden
in diefer Beziehung eine genügend deutliche Sprache. Auch in den ſeit 1905 ge-
gründeten ‚deutſchen Vereinen“, durch welche die Balten die Fahne des Oeutſch—
tums auf allen Lebensgebieten hochzuhalten ſuchten, war das baltiſche Bürger-
tum in erſter Linie vertreten.
Was den baltiſchen Adel betrifft, ſo iſt er durchaus unverdient in den Ruf
eines ‚ſtockreaktionären Funkertums“ gekommen, als welches er von den deutſchen
Demokraten mit einer durch keinerlei Sachkenntnis getrübten Beharrlichkeit immer
noch bezeichnet wird. Er hat im Gegenteil im 19. Jahrhundert eine fozial-
politiſche Arbeit geleiſtet, die als durchaus muſtergültig bezeichnet wer—
den muß: Die Leibeigenſchaft wurde wenige Fahre nach der Bauernbefreiung
in Preußen, in dem Zeitraum von 1816 bis 1819 ohne jedes Zutun der Re—
gierung aufgehoben. Ihren vollen Inhalt bekam die Emanzipation des Bauern-
ſtandes erſt durch ſpätere Agrarreformen, die, in Livland beginnend, von 1849
bis 1876 in allen drei Provinzen durchgeführt wurden. Den Kern dieſer Reformen
bildete die Scheidung der Rittergüter in Hofesland und Bauernland, wobei der
Beſitzer über das letztere nur das Eigentumsrecht, nicht aber das Verfügungsrecht
behielt, indem er es nur an Bauern verpachten oder verkaufen durfte.
Durch dieſe Agrarreform, die beſſer iſt als die Stein-Hardenbergſche Agrargeſetz—
gebung in Preußen, weil fie weniger kapitaliſtiſch iſt und das wirtſchaftliche Oaſein
des Bauernſtandes dauernd erfolgreicher ſicherſtellt, wurde nicht allein ein tüchtiger
und wohlhabender Bauernſtand, ſondern tatſächlich ein Fideikommiß der geſamten
Bauernſchaft begründet. So wurde in Livland ſchon 1849 das erreicht, was
die liberale Partei in England auch nach der Annahme der Expropriations-
bill von 1907 immer noch vergeblich erſtrebt. Gegenwärtig gibt es in den
drei Provinzen 62771 Höfe von Großbauern von einer Durchſchnittsgröße von
50 Hektar, außerdem noch viele grundbeſitzende Kleinbauern auf den Domänen.
Auf die Entwicklung der lettiſchen und eſtniſchen Volksſchulen hat der
Adel im Verein mit der Geiſtlichkeit viel Zeit, Mühe und Geldopfer verwandt.
Bis zur zerſtörenden Einwirkung der Ruſſifizierung ſtand denn auch das baltiſche
Volksſchulweſen, in dem der Schulzwang ſchon 1819 eingeführt war, auf einer
recht hohen Stufe, ſo daß noch 1881 die Zahl der ſchulpflichtigen Kinder, die keine
Schule beſuchten, nur 2 % betrug. Erſt durch das brutal-täppiſche Eingreifen der
ruſſiſchen Regierung hat ſpäter die Zahl der Analphabeten beträchtlich zugenommen
(ſchon 1899 waren es 20 % )). — Die von 1885 bis 1907 fortgeſetzten Ver—
ſuche des baltiſchen Adels, eine liberale Verfaſſungsreform durch—
zuführen, find von der Regierung ſämtlich als ‚allzu demokratiſch'
zurückgewieſen worden. Es iſt noch beſonders zu beachten, daß alle eben kurz
erwähnten ſozialen Errungenſchaften, die von der Regierung teils gehemmt, teils —
wie auf dem Gebiet des Schulweſens — ganz zerſtört wurden, einzig und allein
der ehrenamtlichen, unbeſoldeten Arbeit des Adels zu verdanken ſind.
Tuͤrmers Tagebuch 185
So ſehen die von der ruſſiſchen und deutſchen Demokratie ſo vielgeſchmähten
„Junker“ in Wahrheit aus! |
Eine kulturpolitiſch bewußte Stellung zum deutſchen Gedanken haben die
Balten allgemein erſt ſeit 1870 eingenommen, ſeit die erſten Verſuche der Ruffi-
fizierung einſetzten, die ja mit der Gründung des Deutſchen Reiches in einem ganz
unmittelbaren pſychologiſchen Zuſammenhang ſtand. Die deutſchvölkiſche Ge—
ſinnung der Balten, die Profeſſor Ludwig Schwabe aus Tübingen übrigens ſchon
1864 als eine wahrhaft großzügige bezeichnete, nahm nach der Revolution von
1905 noch einen mächtigen Aufſchwung, um 1914 nach den glänzenden deutſchen
Siegen in hellen Flammen der Begeiſterung emporzulodern. Die Stellungnahme
der Balten nach dem Kriegsbeginn war eine vollkommen klar vorgezeichnete,
nachdem im Auguſt 1914 Goremykin den baltischen Vertretern erklärt hatte, Ruß-
land führe nicht allein gegen Oeutſchland Krieg, ſondern gegen das Deutſchtum
überhaupt, und nach dem ſchönen Bekenntnis des kurländiſchen Abgeordneten
Fölkerſahm in der Duma: „Gott hat uns als Oeutſche geſchaffen und Deutſche
werden wir immer bleiben!“ Dieſe im Moment der größten Gefahr
und des ſchwerſten inneren Konfliktes abgegebene, mannhafte Erklärung darf
als maßgebend für die Haltung der Balten überhaupt angeſehen werden. Die
Zahl der Balten, die während des ganzen Krieges in den deutſchen
Reihen gekämpft und geblutet haben, iſt eine ſehr viel größere, als
man in Deutfhland annimmt. Von der Liebestätigkeit an deutſchen
Kriegsgefangenen, denen die Balten oft ihr Letztes hingaben, iſt in
der deutſchen Preſſe auch nur recht wenig die Rede geweſen. Bekanntlich wurden
deswegen ſchon im Herbſt 1914 Hunderte von Balten nach Sibirien verſchleppt.
Einer dieſer Balten, der aus Sibirien über Norwegen nach Berlin kam, ſagte mir:
„Es war ſchön, daß man uns nach Sibirien brachte, denn dort konnten wir uns
viel ungezwungener den deutſchen Kriegsgefangenen widmen!“ Sch glaube,
daß die Art und Weiſe, wie ein gewiſſer, international orientierter
Teil des deutſchen Volkes den Balten dieſe Liebestätigkeit gedankt
hat, jedem anſtändig empfindenden Deutſchen die Schamröte ins Ge—
ſicht treiben muß. Den Gipfel der Schamloſigkeit aber erreichte der Reichs-
tagsabgeordnete Haaſe, als er am 20. Mätz in öffentlicher Sitzung erklärte: „Die
Balten haben ihr deutſches Herz erſt entdeckt, als ihr Geldſack in Gefahr kam!“
Wie die eben erwähnten Tatſachen zeigen, haben die Balten ihr wahrhaft deutſches
Herz jedenfalls viel früher „entdeckt“ als Herr Haaſe fein Bolſchewikiherz. Der
Kaiſer aber, und mit ihm die Edelſten des deutſchen Volkes, haben dieſe Haltung
der Balten nicht vergeſſen und handeln danach.“
Und die Letten und Eſten? „Auch unter ihnen hat ſich der ruſſiſche Bol-
ſchewismus als die Macht erwieſen, die zwar das Böſe will, aber das Gute ſchafft,
und damit lediglich der deutſchen Politik in die Hände gearbeitet. Denn heute gibt
es ſicher keinen auch nur halbwegs verſtändigen Letten oder Eſten mehr,
der nicht im Anſchluß an das Deutſche Reich die einzige Rettung für
ſeine Heimat erblickt. Die phantaſtiſchen Träume einzelner Parteien von freien
und unabhängigen lettiſchen oder eſtniſchen Republiken ſind vor den entſetzlichen
Greueln der Bolſchewiki in ein Nichts zerflattert. Auf die verſchiedenen politiſchen
184 Türmers Tagebuch
Strömungen, die während des Krieges unter Letten und Eſten zutage traten,
brauchen wir deshalb nicht mehr näher einzugehen. Nur das eine fei hier noch hervor-
gehoben, daß der maßgebende Teil des eſtniſchen Volkes ſchon im Beginn des
Krieges an dem endgültigen Siege der deutſchen Waffen nicht gezweifelt hat
und in beſtändiger Fühlung mit den Finnländern und dem eſtländiſchen Adel
feine ganze Politik danach richtete. Als die Eſten im Januar ſich durch die Friedens-
verhandlungen in Litauiſch-Breſt enttäuſcht fühlten und auf die Hilfe Oeutſchlands
nicht mehr rechneten, kamen fie wieder auf die ſchon im vorigen Sommer be-
gonnenen Unterhandlungen mit England zurück, um auf jeden Fall von der
ruſſiſchen Fäulnis erlöſt zu werden. Auch in Kurland hat der maßgebende Teil
des lettiſchen Volkes in der Landesverſammlung vom 19. September und im Landes-
rat bekanntlich für Deutſchland optiert; es iſt das ganz natürlich, da die Letten,
ebenſo wie die Eſten, nur beim Anſchluß an ODeutſchland und unter möglichitem
Ausſchluß des billigen agrariſchen Wettbewerbs Rußlands auf eine erſprießliche
wirtſchaftliche Zukunft rechnen können. Was die von Herrn von Kühlmann in
Litauiſch-Breſt zugeſicherte „Volksabſtimmung auf breitefter Grundlage“ betrifft,
ſo wollen wir hier die Frage nicht näher unterſuchen, ob die deutſche Diplomatie
den unverſchämten Forderungen der doktrinären Wirrköpfe aus Petersburg nicht
viel zu weit entgegengekommen iſt. Wenn damit eine einfache Maſſenabſtimmung
nach der Kopfzahl gemeint iſt, ſo würde eine ſolche von den lettiſchen und eſtniſchen
Bauern ſchroff abgelehnt werden. Nicht Majoritäten, ſondern Autoritäten
genießen das ausſchließliche Vertrauen, namentlich der nüchtern und praktiſch
angelegten Eſten. Als Autoritäten gelten ihnen aber nicht politiſche Schwätzer,
ſondern die aus ihrer Mitte gewählten, ſehr tüchtigen Gemeindebeamten,
die vielfach ſchon ſeit langen Fahren ihres Amtes walten. Eine Volksabſtimmung
könnte in dieſen agrariſchen Gebieten deshalb nur in derſelben Weiſe zugelaſſen
werden, wie in Kurland und auf den eſtniſchen Inſeln, wo ſie nach den einzelnen
Gemeinden durch die Gemeindevertreter vollzogen wurde. Sie haben ſich bekannt-
lich ausnahmslos für Deutſchland entſchieden. Bei einer Pöbelabſtimmung nach
der Kopfzahl würde dagegen vorausſichtlich engliſches Geld den Ausſchlag
geben. Letten, Eſten und Deutſchbalten ſtimmen aber darin vollkommen überein,
daß die im Präliminarfrieden vorläufig feſtgeſetzte Grenzlinie, die alle drei Stämme
in zwei Stücke zerreißt, die unglücklichſte und unmöglichſte iſt, die man ſich
überhaupt hätte ausdenken können. Einzig und allein die ſtrategiſche Linie
Moltkes an der Narowa und dem Peipus entſpricht den Intereſſen der baltiſchen
Geſamtbevölkerung und gleichzeitig der militäriſchen Sicherung des Deutſchen
Reiches nach Nordoſten. Auch die Entſchließung des kurländiſchen Landtages
betonte ja die Unteilbarkeit des ganzen baltischen Gebietes, deſſen Provinzen
jahrhundertelang Freud und Leid miteinander geteilt haben. Die übereinſtimmende
Bitte der drei Landesvertretungen in Mitau, Riga und Reval um einen engen
Anſchluß an Deutſchland entſpricht deshalb im weſentlichen durchaus den Wünſchen
der Geſamtbevölkerung, ſoweit fie überhaupt für Ordnung, Recht und Geſetz ein-
tritt. Und Oeutſchland muß dieſen Wünſchen im vollen Maße Rechnung tragen,
nicht allein aus Gründen der politiſchen Moral, ſondern vor allem im eigenen
realpolitiſchen und wirtſchaftlichen Intereſſe.“
x
(IN
I
2 —
2
Craf Hertling als Reichskanzler
6" Herr in hohen Jahren, der das Amt
nicht leicht übernommen hat. Der aber
doch in der kurzen Zeit ſeiner Kanzlerſchaft
Beſſeres geleiftet hat, als Bethmann Hollweg
in der viel zu langen, die ihm — Gott ſei's ge-
llagt! — zur Betätigung feiner an das Aben-
teuerliche grenzenden Unfähigkeit mit ſchwer⸗
ſter Schädigung des deutſchen Volkes und der
mitblutenden Menſchheit vergönnt war. Graf
Hertling hat das Neich nicht geſchädigt. Das
will — nach Bethmann Hollweg — auch und
viel ſchon bedeuten.
Graf Hertling hat den von gewiſſenloſen,
Vielfach von unſeren Feinden bezahlten Hetzern
um alle Vernunft gebrachten Rüſtungs-
ſtreltern zwar ſpät, aber noch nicht zu fpät
eine feſte Hand gezeigt.
Er hat Herrn Erzbergers überannerio-
ſiſtiſche perjönliche Gelüfte immerhin etwas
gedampft, es wird ſogar — ohne Einſprache —
behauptet, daß er beſagten Herrn nicht mehr
empfängt.
Er hat die Angliederung Balten-
lands an das Deutfche Reich namens Seiner
Rojeftät des Raifers begrüßt und mit Wärme
begrüßt. Das hätte Graf Hertling nicht getan,
wenn er nicht ſelbſt von der Gerechtigkeit die-
ſer Lſung auch und zuallererſt für die Wohl-
fahrt des Deutſchen Reiches überzeugt wäre.
Es bleibt ihm freilich noch manches zu tun
übrig. Das nächſte wäre, — für einen feiner
Aufgabe gewachſenen Nachfolger Herrn
don Kühlmanns zu forgen. Denn daß dieſer
gere mit feiner Leporelloliſte politiſcher Ver⸗
ſagungen (man denke nur an Breſt-Litowſk
und die Friedens verhandlungen mit Rumä-
IT,
MIT
r ( 2 2
nien, überhaupt feine Rolle als „Junger
Mann“ des Grafen Czernin) eine politiſche
Unmöglichkeit, ein ärgerlicher Druck auf
den Siegeswillen unferes Volkes iſt, unter-
liegt doch wohl keinem Zweifel mehr. Eine
der letzten Säulen, an die ſich die Hoffnung
unſerer Feinde klammert, was aber nichts Ge⸗
ringeres bedeutet und tatſächlich ſchon be-
deutet hat, als Kriegs verlängerung.
Keine Krokodilstränen werden ihm nur nach-
weinen Herr Erzberger, der dann u. a. nicht
mehr in der Lage wäre, einzelne Eſten und
Litauer gegen einen Anſchluß an das Deutſche
Reich auszuſpielen; das „Berliner Tageblatt“,
der „Vorwärts“ und die „Frankfurter Zei-
tung“.
Kein aufrechter Deutſcher, außer dieſen
Kreiſen, nimmt ja Herrn von Kühlmann
politiſch noch ernſt. Unjere Feinde zwar ſetzen
allerhand Hoffnungen auf ihn, aber ernſt
nehmen ſie ihn noch weniger als wir.
Wenn der Reichskanzler Graf. Hertling aus
dieſer tatſächlichen Lage die Folgerungen
zöge, würde er fi nicht nur um das Deutſche
Reich, ſondern auch um das deutſche Katho⸗
likentum und damit den Bekenntnis
frieden hohes Verdienſt erwerben. Dann
würde auch jeder evangeliſche Deutſche freu-
dig bekennen dürfen: Ein katholiſcher
deutſcher Reichskanzler war es, der uns
von der unnatürlichen Aufdringlichkeit und
Zwangsläufigkeit einer Erzberger-Rühlmann-
„Politik“ befreit hat. Aber — was recht iſt:
wenn ſchon das Wort „Politik“ unvorſichtig
gebraucht werden ſoll, dann langt Herr von
Kühlmann an Herrn Erzberger noch lange
nicht heran. Es ſoll keine Zronie ſein: an
ſicherem Selbſtbewußtſein überragt Herr Erz-
186
berger ohne Zweifel Herrn von Kühlmann.
Danach fragt aber Herr Paaſche, der jtell-
vertretende Vorſitzende des Reichstages, nicht:
Arm in Arm mit beiden fordert er fein Jahr-
hundert in die Schranken und — ein Ver-
trauensvotum nicht nur für Herrn von Kühl-
mann, ſondern auch für Herrn Erzberger.
Herr Paaſche „ſtabiliert“ demnach eine
Solidarität der beiden Herren, und er
wird dabei von einem geſunden politiſchen
Inſtinkt geleitet. Denn — ohne Erzberger
kein Kühlmann. Ohne „Berliner Tageblatt“,
„Frankfurter Zeitung“, „Vorwärts“ weder
Erzberger noch Kühlmann. Denn die „Ger-
mania“ allein ſchafft's nicht mehr.
Sollten ſich unſere katholiſchen Deutſchen
nicht darauf beſinnen, in welche Abhängig-
keit fie geraten und wie fie es mit ihrem reli-
giöſen Bekenntnis noch vereinbaren können,
wenn ihre Führung, ja ihre Mitbeſtimmung
über alle Kultur- und Weltanſchauungsfragen
von Gunſten und Gnaden der Bekenner zum
„Berliner Tageblatt“, der „Frankfurter Zei-
tung“, dem „Vorwärts“ bedingt und be-
friſtet wird? Lehren die Beiſpiele in Frank-
reich und Italien mit ihrer „Freimaurerei“
noch nicht genug?
Ich bin evangeliſch. Aber aufs tiefſte be-
klagen würde ich einen Zerfall des deutſchen
katholiſchen Chriſtentums. Denn das würde
einen Zerfall des Chriſtentums überhaupt
nach ſich ziehen, — nicht für die Ewigkeit,
aber doch zu unermeßlichem zeitlichem Scha-
den. Wenn das katholiſche deutſche Chriſten-
tum zerſetzt würde, was bliebe dann noch
vom evangeliſchen übrig? Die beiden Aſte,
einem Stamme entſprungen, können nur
miteinander leben und ſterben. Oder — ab-
geſtorben — ein phosphoreſzierendes Schein
leben vorflimmern, wie in Welſchland, wo die
atheiſtiſche, international-kapitaliſtiſche „Frei⸗
maurerei“ die Völker unterhöhlt hat und, wie
aus dieſem Weltkriege hervortritt, für ſich
verbluten läßt.
Unfere deutſchen Katholiken müſſen ja
wiſſen, ob eine Nützlichkeitspolitik für den
Tag und den perſönlichen Erfolg, wie ſie
von Herrn Erzberger in bekannter merkantil-
politiſcher Hauſiererweiſe betrieben wird, die
Auf der Warte
Werte an Anſehen und Unabhängigkeit auf-
wiegt, die dabei aufs Spiel geſetzt, um nicht
zu ſagen: an die Meiſtbietenden verſteigert
werden.
Aber bei unſerem brüderlichen Zufammen-
leben und kämpfen, deſſen Innigkeit ſich nie
ſo herrlich offenbart hat, wie in dieſem Kriege,
iſt das nicht nur eine katholiſche, ſondern eine
allgemein deutſche Frage, für den Weiter-
ſichtigen eine deutſche Lebens frage. Drau-
Ben, bei unſeren Helden in Flandern und
Frankreich, da gibt es ſolche Frage nicht.
Müſſen wir uns nicht ſchämen, daß wir der-
gleichen Ballaſt nicht von uns abwälzen
können? Als könnte, ohne daran zu erſticken,
irgendein Urwaldsaffe, der ſich zu uns ver-
loren hat, das deutſche Volk mit dem „Wahl“
geſchrei äffen: „Hie Erzberger, Theodor
Wolff, Kühl- und Scheidemann — hie
Hindenburg und Ludendorff!“ Weil dem
Affen die geliebten Gelegenheiten zum —
Klettern entzogen worden ſind.
Es iſt heute nicht die Zeit zum Spaßen
und nicht die Zeit zu ſolchen Unterhaltungen.
Und — fo glaube ich, ihn richtig zu ver-
ſtehen —: Graf Hertling weiß, was er will.
3. E. Frhr. v. Grotthuß
*
Zur Pſychologie des Barma-
briefes
bemerkt die „Deutſche Zeitung“:
„Die moraliſche Wertung des Barma-
briefs in der feindlichen wie in der neutralen
Preſſe läßt fortgeſetzt an Deutlichkeit gegen-
über ſeinem Verfaſſer nichts vermiſſen. Der
deutſche Beurteiler wird dem gegenüber gut
tun, nicht zu vergeſſen, daß es keineswegs
reine ſittliche Entrüftung iſt, die den Kritikern
des Kaiſers Karl die Feder führt, daß viel-
mehr die Hoffnung, Berlin und Wien bei
dieſer Gelegenheit unheilbar zu verletzen, die
Feder im Uhrwerk iſt.
Demgemäß wird bei dieſen Urteilen ſo gut
wie durchweg eine Seite des Vorgangs
totgeſchwiegen, die gerade im Hinblick
auf die moraliſche Bedeutung des Vorgangs
doch recht beträchtlich mit ins Gewicht fällt.
Auf der Warte
Auch anderwärts find unter dem erſten
Eindruck der Entthronung der Roma-
noffs um den bekannten Termin des 1. April
herum im vergangenen Jahre Entſchlüſſe
gefaßt worden und Dinge geſchehen, die als
verfehlt und töricht heute längſt erkannt ſind.
Nãheres hierüber iſt nicht nur in Paris und
London, ſondern vor allen Dingen auch in
Berlin zu erfahren. Einigermaßen richtig
beurteilte man die Lage wohl allein in Wa-
ſhington, wo man im Hinblick auf die mut-
maßliche Gemütsverfaſſung gerade auch
in der Wiener Hofburg den richtigen Augenblick
für den Rieſenbluff der Kriegserklärung an
Deutſchland als gekommen erkannte. Eine
gleichzeitige Kriegserklärung an Oſterreich-
Ungarn erfolgte nicht, worüber ſich die
ſogenannte politiſche Welt nicht genug wun-
dern konnte: man zog es vor, den amerikani-
ſchen Botſchafter einſtweilen in Wien zu be-
laſſen und dort das Eiſen zu ſchmieden, fo-
lange es heiß war. An einflußreichen Ver-
bündeten fehlte es dabei nicht; auch laſteten
die Ernährungsſchwierigkeiten auf dem Reich,
und Erzberger tuſchelte, daß es mit der Wider-
ſtandskraft Deutſchlands nun auch ſo gut wie
Matthäi am letzten ſei .. Zum Glück war
die Monarchie als ſolche geſünder, als die
ſeeliſche Verfaſſung dieſes oder jenes hohen
Vetters des verunglückten Nikolai... .“
Kaiſerbrief und Kamarilla
(EGesmartise Streiflichter auf die welt-
bekannte „Affäre“ wirft ein Wiener
Brief der „Deutſchen Tageszeitung“:
„Es kann heute wohl offen zugeſtanden
werden, daß die Abſendung des Kaiſerbriefes
ohne Vorwiſſen und hinter dem Rücken des
Miniſters des Auswärtigen erfolgt iſt, der
auch nachträglich keine Kenntnis von dieſem
Briefe erhalten hat, bis durch die Enthüllungen
Clemenceaus die ganze Angelegenheit ans
Licht gezogen wurde. Der Verfaſſer des
Kaiſerbriefes ſoll der damalige Chef der
Kaiſerlichen Kanzlei Graf Polzer ge—
weſen ſein, der auch ſonſt der Urheber vieler
verhängnisvoller Ratfchläge an den Kaiſer
geweſen iſt. So war Graf Polzer einer der
187
Hauptinſpiratoren der Amneſtierung der:
tſchechiſchen Hochverräter. Er war eine
jener geheimen Triebkräfte, die in der Um-
gebung des Kaiſers gegen das Bündnis
mit dem Oeutſchen Reiche intriglerten.
Graf Polzer hat auch die famoſe Denk-
ſchrift des Hofrats Lammaſch hinter dem
Rücken des Grafen Czernin dem Kaiſer in
die Hände geſpielt. Graf Czernin erhielt
davon damals durch den Kaiſer ſelbſt Kennt-
nis und auf ſein energiſches Auftreten gegen
die Kamarilla iſt damals der Sturz des Gra-
fen Polzer zurückzuführen. Aber insgeheim
dauerte der Einfluß Polzers fort, der auch
ſeine Wohnung im Kaiſerlichen Schloſſe be-
hielt. Offenbar auf die weiteren Intrigen
Polzers und ſeiner Hintermänner ſind die
Anſtimmigkeiten zurückzuführen, die in letzter
Zeit zwiſchen dem Monarchen und ſeinem
erſten Miniſter immer häufiger in die Er-
ſcheinung traten, und die eingeſtandener-
maßen ſchließlich den Rücktritt Czernins un-
vermeidlich gemacht haben. So hatten es
nach dem Breſt-Litowſker Frieden mit der
Ukraine die Polen verſtanden, ſich hinter den
Grafen Polzer zu ſtecken, und als Kaiſer Karl
vor der Abſtimmung im öſterreichiſchen Ab-
geordnetenhauſe über das Budgetproviſorium
den Vorſtand des Polenklubs empfing,
machte er den Polen Zuſagen bezüglich
der Wiederherſtellung der Cholmer
Grenzen, die faſt auf eine Desavouierung
des Grafen Czernin hinausliefen. Auch die
ſcharfe Erklärung des Grafen Czernin ſcheint
unter dem Eindruck der Natſchläge des Grafen
Polzer bei Hofe verſtimmt zu haben, und
merkwürdigerweiſe waren die Tſchechen ſo-
fort in Kenntnis dieſer Auffaſſung bei
Hofe, ſo daß ſie ſich in ihrem Sturmlauf gegen
den Grafen Czernin keinen Zwang aufzu-
erlegen brauchten. Schon damals, alfo noch
vor der Kaiſerbriefaffäre, brachten die
tſchechiſchen Blätter triumphierend die Nach-
richt, daß die Tage des Grafen Czernin ge-
zählt ſeien und daß feine Rede an die Ab-
ordnung der Stadt Wien gewiſſermaßen als
der Schwanengeſang des Miniſters zu be-
trachten ſei.“
EN
188
Warum?
arum ſind unſere Feinde nicht auf
Kaiſer Karls Friedensangebot, das
ſie für echt gehalten haben und halten mußten,
eingegangen? Nur eine Antwort gibt es,
meint die „Deutſche Politik“: „Es bot den
„Befreiern“ Belgiens, Elſaß-Lothringens und
der ‚unerlöjten Gebiete‘ zu wenig. Trotz oder
vielmehr gerade wegen der ruſſiſchen Re-
volution hofften ſie auf mehr, auf die volle
Erreichung ihrer Kriegsziele. Die friedens-
verdächtige ruſſiſche Hofpartei war beſeitigt.
Die Öfterreicher, innerlich zermürbt, militä-
riſch an zwei Fronten gefeſſelt, ſchienen eine
leichte Beute der Italiener und Ruſſen. Meſo-
potamien, Arabien und Kleinaſien lagen
offen zu ihren Füßen; die Armee Sarrails,
verſtärkt durch die Griechen, ſollte Rache an
Bulgarien nehmen. Im Weſten fühlten ſich
Briten und Franzoſen im Bund mit Amerika
uns ſtrategiſch und taktiſch überlegen. So
ſahen fie in dem Brief des Kaiſers Karl
das langerſehnte Zeichen der Ver-
zweiflung, die Erkenntnis völliger
Hoffnungsloſigkeit. Deshalb erſchien
ihnen ein Frieden, der ihnen beim erſten
Angebot bereits die Wiederherſtellung und
Entſchädigung Belgiens, die ‚gerechte Rege-
lung“ Elſaß-Lothringens, d. h. die Abtretung
in diplomatiſch verhüllter Form, die Wieder-
aufrichtung Serbiens an Hand gab, als ein
„Verzichtfrieden“, und deshalb e ſie
die Antwort den Kanonen.“
**
Der Weltkrieg iſt keine Fami⸗
lienangelegenheit
n der „Glocke“ (Nr. 3) ſchreibt der Reichs-
J tagsabgeordnete Dr. Paul Leuſch:
„Es iſt gewiß etwas Rũhrendes, wenn man
zärtliche Verwandte zu betrachten Gelegen-
heit hat. Allein der Brief, den der junge Karl
an den jungen Sixtus hinter dem Rüden feines
Auswärtigen Miniſters gerichtet, war nicht,
wie die k. u. k. Depeſche uns einreden will,
ein ganz privater und zärtlicher Verwandten-
brief, ſondern ein hochpolitiſcher Akt erſten
Auf der Warte
Grades. Niemand wird dem öſterreichiſchen
Kaiſer verdenken, man wird ihm vielmehr da-
für Dank wiſſen, daß er ſich an feinem Teile
bemüht, dem Kriege ein Ende zu machen, und
wenn er glaubte, die ausgedehnte Verwandt
ſchaft ſeiner Frau zu dieſem Zwecke benutzen
zu können, ſo ſoll uns auch das recht ſein.
Allein daß der Kaiſer ſelber mit einem eigen
händigen Schreiben an eine im feindlichen
Lager ſtehende Perſönlichkeit dieſe Verhand-
lungen anzuknüpfen ſucht und von ſeinem
Schritt weder feinen Verbündeten noch fei-
nem Minifter vorher Mitteilung macht und
ihren Rat einholt, iſt eine Ungeheuerlichkeit,
die wir uns aufs entſchiedenſte verbitten müf-
ſen. Der Weltkrieg iſt keine Zamilienangelegen-
heit der Familie Habsburg, und gerade well
der Kaiſer noch jung iſt und Verhältniſſen ent-
ſtammt, die ihn nicht. von Haus aus zum
Thronerben beſtimmten, war es doppelt ſeine
Pflicht, jeden Schritt auf weltpolitiſchem Ge-
biet mit äußerjter Vorſicht zu tun, da cr feine
mangelnde Vertrautheit mit dieſen Dingen
in Erwägung ziehen mußte. Graf Czernin
hat aus der Anterlaſſung des Kaiſers die
allein möglichen Konſequenzen gezogen und
hat darauf verzichtet, noch länger die Politik
eines Reiches zu leiten, das ſo augenſcheinlich
dem Stadium der Kabinetts- oder vielmehr
Verwandtenpolitik noch nicht entwachſen iſt.“
*
Die Prinzen des Hauſes Bour-
bon⸗Parma
er verſtorbene Herzog von Parma, aus
dem Haufe Bourbon, der auf dem
Schloſſe Schwarzau in Niederöſterreich lebte,
hat 18 Kinder hinterlaſſen. Durch die Ver-
mählung feiner Tochter Zita mit dem da-
maligen Thronfolger von Öfterreih und Un-
garn trat das ſchon mehrfach mit dem Erz-
hauſe verſchwägerte franzöſiſche Prätendenten-
geſchlecht in allerengſte Beziehung zur Habs
burg-Lothringiſchen Oynaſtie. Es iſt begreif-
lich, daß ſich unter dieſen Umftänden das
öffentliche Intereſſe unter dem Eindrucke der
bekannten Briefgeſchichte, die den Rücktritt
des Grafen Czernin bewirkt hat, den derzeit
Auf der Warte
in Frankreich weilenden beiden Prinzen von
Bourbon-Parma, — fie nannten ſich bei-
läufig bemerkt bis zum Weltkriege Barma-
Bourbon — ganz beſonders zuwendet. So
machte kürzlich durch alle öſterreichiſchen und
ungariſchen Blätter folgende Nachricht die
Runde: „Von den wehrfähigen Prinzen des
Hauſes Parma find bloß zwei in der öfter-
reichiſch ungariſchen Armee geblieben, be-
ziehungsweiſe während des Krieges in die-
ſelbe eingetreten, während die zwei anderen,
darunter der Prinz Sixtus von Parma, an
welchen der Kaiſer den bekannten Brief ge-
richtet hat, nach der Kriegserklärung Frank-
reichs an die Mittelmächte das Schloß
Schwarzau in Niederöſterreich verließen und
ſich der franzöſiſchen Regierung, wenn auch
nicht als Rombattanten, wie dies Prinz Vaime
de Bourbon, der Sohn des verſtorbenen
Prinzen Don Carlos (von Spanien) in Ruß-
land getan, ſo doch für die Sanitätspflege der
franzöſiſchen Armee zur Verfügung ſtellten.
Die franzöſiſche Regierung hielt ſich jedoch
genau an das Prätendentengeſetz, welches im
Jahre 1875 vom franzöſiſchen Parlamente
angenommen wurde. Dieſes Geſetz verlangt,
daß die in Frankreich lebenden männlichen
Familienmitglieder des Hauſes Bourbon das
Land verlaſſen, ferner daß die Mitglieder
jener fürſtlichen Familien, welche einmal in
Frankreich regiert haben, in die franzöſiſche
Armee nicht aufgenommen werden dürfen.
Es ſind dies die Familien Bonaparte, Or-
leans und Bourbon. Zur letzteren gehört
auch das Haus Parma. Die franzöſiſche Ne-
gierung lehnte daher das Anerbieten der
beiden Brüder von Parma ab, worauf Prinz
Sixtus von Parma und ſein Bruder Prinz
Kaver ihre Dienſte als Sanitätsoffiziere der
belgiſchen Regierung angeboten haben, welche
ihre Dienſte annahm. Von Anfang an
ſuchten die beiden Prinzen in den
hohen Pariſer Kreiſen, in denen ſie
verkehrten, eine für Öfterreich freund-
liche Stimmung zu wecken, und Prinz
Sixtus gelang es tatſächlich nach und
nach, das Vertrauen der maßgeben—
den franzöſiſchen Kreiſe zu gewin-
nen.“ ;
189
Soweit die mit Genehmigung der Militär-
zenſur durch alle Blätter der Monarchie ge-
gangene Meldung. Nimmt man hiezu, daß
die beiden genannten Prinzen, ſeit Kriegs-
beginn trotz ihrer Angehörigkeit zur Armee
eines mit der Monarchie im Kriegszuſtand
befindlichen Staates wiederholt auf öſter⸗
reichiſchem Boden, ja in der Neichshauptſtadt
weilten, ſo erſt kürzlich anläßlich der Geburt
des jüngſten Kindes des kaiſerlichen Paares,
daß es dabei, wie man ſpricht, einer gewiſſen
Überredung bedurfte, fie davon abzuhalten,
in belgiſcher Uniform aufzutreten, fo erhält
man ein Bild, das ficherlich des eigentüm-
lichen Reizes nicht entbehrt. Ob es freilich
geeignet iſt, im verbündeten Deutſchen Reiche
ſehr erbaulich zu wirken, iſt eine andere Frage,
zumal wenn man bedenkt, daß es die Stellung
eines franzöſiſchen Prätendenten allerdings
weſentlich verbeſſern müßte, wenn er in der
Lage wäre, ſeinem „Vaterlande“ das Elſaß
und Lothringen anbieten zu können. -id-
*
Feindliche Maſſenverbreitung
der Lichnowſkyſchen Denk⸗
ſchrift
er durfte es anders erwarten? Konn-
ten ſich unſere Feinde ſtärkere und
willkommenere Trümpfe auch nur wünſchen,
als die ihnen von einem früheren Botſchafter
des Deutſchen Reiches, noch dazu des Lon-
doner, in die Hand geſpielten? So werden
denn jetzt die Aufzeichnungen des Fürſten
Lichnowſky in Maſſenauflagen zur Propa-
ganda gegen uns verbreitet. In England
ſind gleich zwei Ausgaben erſchienen. Die
„Luxusausgabe“ wird von der Firma Caſſell
herausgegeben und koſtet 6 Pence (50 Pfen-
nig). Sie iſt mit einem Vorwort von Pro-
feſſor Gilbert Murray verſehen. Dieſe Aus-
gabe war in kurzer Zeit vergriffen. Die
zweite Ausgabe von zwei Millionen Stück
enthält auf 12 Blattſeiten die vom engliſchen
Standpunkt wichtigen Teile der Aufzeich-
nungen Lichnowſkys und wird unentgelt-
lich verteilt. Der Titel iſt — „Schuldig“!
*
190
Baltenlands Selbſtbeſtim⸗
mungsrecht
m 12. April ds. Js. hat der Vereinigte
Landrat von Livland, Eſtland, Oſel
und Riga jene Entſchließung gefaßt, der nun-
mehr vom Oeutſchen Reichskanzler im Auf-
trage des Deutſchen Kaiſers in der bekannten
hocherfreulichen Weiſe grundſätzlich zugeſtimmt
worden iſt. Alle Parteien des Deutſchen
Reichstages mit Ausſchluß lediglich der So-
zialiſten werden dem kaum Widerſtand ent-
gegenſetzen und ebenſowenig bezweifeln, daß
die Entſchließung durchaus unanfechtbar
iſt. um aber in dieſer Hinſicht auch den
gegenteiligen Einwürfen der Sozialdemo-
kratie beider Richtungen, wie auch der Boliche-
wiki und der feindlichen Staatsmänner und
Preſſe von vornherein die Spitze abzubrechen,
weiſt der „Oeutſche Kurier“ u. a. aus der
Zuſammenſetzung des Landrates nach, daß
er die denkbar beſte Form der Vertretung
des Landes darſtellt:
Sn den Städten wählten die Stadt-
verordnetenverſammlungen die Vertreter in
den Landesrat, wobei noch eine berufs-
ſtändiſche Vertretung von Handel und In-
duſtrie und Hochſchulen vorgeſehen waren,
auf dem Lande wählten von den Landguͤtern
die Gutsbeſitzer (Adel und Bürger), von den
Landgemeinden die von den Gemeindeaus-
ſchüſſen gewählten Gemeindeälteſten. Die
Gemeindeausſchüſſe, die ſchon vor der Revo-
lution beſtanden, ſetzen ſich paritätiſch zu-
ſammen aus Kleingrundbeſitzern und land-
loſen Landarbeitern; da hier alſo der Groß-
grundbeſitz ganz fehlte, fo iſt jeder Gemeinde-
älteſte direkter Vertreter des Kleingrund-
beſitzes und der landloſen Arbeiter. Als
Grundprinzip bei der Wahl war volle Bari-
tät aufgeſtellt worden: Parität zwiſchen
Klein- und Großgrundbeſitz, zwiſchen Stadt
und Land, zwiſchen Deutſchen und Letten,
Deutfhen und Eſten und ebenſo Parität
unter den Vertretern der Geiſtlichkeit.
So bot der aus 24 Vertretern Livlands,
15 Eſtlands, 14 Rigas und 5 Öfels zufammen-
geſetzte Landesrat die beſte Gewähr, daß ſein
ſo ungemein weittragender Beſchluß vom
Auf der Varte
12. April der Stimmung und dem Willen
aller Stämme der baltiſchen Provinzen in
jeder Hinſicht entſprach.
.
Die Neutralität des Päpſtlichen
Stuhles
o vollkommen unparteiiſch, wie von
klerikaler Seite behauptet wird, iſt die
Neutralität des Päpſtlichen Stuhles gegen-
über den Kriegführenden in Wirklichkeit nicht
geweſen. Das zeigte ſich u. a. bei der Ver-
teilung von Unterſtützungsgeldern. Für das
von den Ruſſen heimgeſuchte Oſtpreußen be-
willigte der Papſt 10000 Mark zur Verfügung
des Biſchofs von Frauenberg, dagegen für
die durch den Krieg verwüſteten Gegenden
Frankreichs 48000 Mark, für Belgien gegen
140000, für Litauen 1,3, für Polen mehr als
3 Millionen Mark und zwar nicht zur Der-
fügung der polniſchen Biſchöfe, ſondern für
Großpolen zu Händen des polniſchen Hilfs-
ausſchuſſes in Vevey. Das päpſtliche Tage-
blatt „Osservatore Romano“ in Rom brachte
alle die üblen Erfindungen von deutſchen
Greueln und Untaten, wie fie der „Agenzia
Stefani“ aus London übermittelt wurden,
ohne ſie richtigzuſtellen. Offen deutſchfeindlich
zeigte ſich oft genug das andere halbamtliche
Organ des Päpſtlichen Stuhles, die von den
Zefuiten geleitete „Unita Cattolica“.
Nähere Angaben über die zweifelhafte
Neutralität des Päpſtlichen Stuhls enthält
die beachtenswerte Schrift „Papſt, Kurie und
Weltkrieg“. Hiſtoriſch-kritiſche Studie von
einem Deutſchen (Berlin 1918, Säemanns
Verlag). Hinzuzufügen wäre den begründe
ten Angaben dieſer Schrift noch der Brief des
Kardinalſtaatsſekretärs Gaſparri von Ende
Oktober 1917 an den Erzbiſchof von Sens,
worin namens des Papſtes die Aufhebung
der allgemeinen Wehrpflicht in allen Staaten
gefordert wurde. Wer ſich widerſetze, ſoll
vor ein Schiedsgericht geſtellt werden. Eng”
land und Nordamerika hätten nur gezwungen
die Wehrpflicht eingeführt. Seit mehr als
einem Jahrhundert habe die Wehrpflicht die
menſchliche Geſellſchaft mit ſchweren Leiden
Auf der Warte
bedruckt. Die Beſeitigung der Wehrpflicht
würde den allgemeinen Frieden ſichern uſw.
Mit feinen Vorwürfen zielte der Rardinal-
ſtaatsſekretär unverkennbar auf Oeutſchland,
wo die Wehrpflicht zuerſt eingeführt wurde,
uͤberſah aber dabei, daß gerade Staaten ohne
allgemeine Wehrpflicht wie England mit
feinem Söldnerheer, Rußland, die nord-
amerikaniſche Union und andere amerikaniſche
Republiken am häufigſten Kriege führten
und felbft Eroberungskriege vom Zaun bra-
chen. Die allgemeine Wehrpflicht iſt nicht
eine Kriegsurſache, ſondern eine Friedens!
bürgſchaft, weil fie jedem Staatsbürger die
Teilnahme und zugleich die Verantwortlich
keit für den Krieg auferlegt.
Genug, der Päpſtliche Stuhl beobachtete
gegenüber dem Vielverband eine ausnehmend
wohlwollende Neutralität, nicht aber auch
gegenüber den Mittelmächten, obwohl im
Vielverband das proteſtantiſche England den
Ton angibt, die franzöſiſche Republik mit der
Kirche zerfallen iſt, Stalien als ihr Bedrücker
und Rußland als ihr Feind erſcheint, während
man in Wien dem Papſt ſtets ehrerbietige
Ergebenheit zeigte und in Deutſchland Zen-
trumsmänner wie der Abg. Erzberger zu
Einfluß gelangten und Graf Hertling Reichs-
kanzler wurde. Wie war es möglich, daß es
trotz alledem der deutſchen und öſterreichiſchen
Diplomatie nicht glückte, die wohlwollende
Neutralität des Päpſtlichen Stuhls zu er-
langen? P. D.
*
Wo bleibt das deutſche Inter⸗
eſſe ?
Wi im „Berliner Tageblatt“ von
Dr. Paul Nathan unzweifelhaft rich-
tig verſichert wird, hat die deutſche Regie-
rung beſondere Beſtimmungen in den
Friedensvertrag mit Rumänien auf—
nehmen laſſen, durch welche die Eman-
zipation der rumäniſchen Juden ſicher-
geſtellt werden ſoll. Demgegenüber wirft die
„Oeutſche Tageszeitung“ die Frage auf:
„Velchen tatſächlich zureichenden Grund
konnte gerade das Oeutſche Reich haben,
191
dem rumäniſchen Volke gegenüber auch noch
dieſes Odium auf ſich zu nehmen? Es iſt uns
wohlbekannt, daß man hier dem Ergebniſſe
der Arbeit der Alliance israélite universelle
in Berlin gegenüberſteht, der Kauſal-
zuſammenhang iſt klar genug. Vielleicht iſt
aber doch die beſcheidene Frage geſtattet,
wie denn das deutſche Intereſſe in Rumä-
nien dabei fortkommt. Die Antwort iſt für
jeden, der die tatſächlichen Verhältniſſe kennt,
klar: Die Erbitterung der Rumänen wird fich
gegen das Oeutſche Reich richten, dieſes kann
nur Nachteile davon haben, zugunſten anderer
Einflüſſe. Wie ſich dieſes Verfahren und dieſe
oberflächliche Behandlung wichtiger Fragen
mit einer gewiſſenhaft und gründlich durch-
geführten Politik vereinigen läßt, beſonders
wo gerade für das Deutſche Reich keinerlei
Notwendigkeit beſtand, ſich vorzudräng en,
vermögen wir nicht zu ſehen. Aber wahr-
ſcheinlich war es der unnachahmliche Griff
des geborenen Staatsmannes.“
Rumänien iſt bekanntlich am Werk, ſich
Beßarabien anzugliedern. Hat die
deutſche Regierung den im Süden Beß—
arabiens ſiedelnden deutſchen Koloniſten
einen Schutz ausbedungen? Ja oder nein?
Wenn ja — welchen?
11
Kurzſichtigkeit der Hochfinanz
& war in der Sitzung des Herrenhauſes
vom 7. April 1911, als Herr Artur von
Gwinner, Direktor der Deutſchen Bank, bei
der Beratung des Staatshaushaltes die Mög-
lichkeit von Anleihen in Kriegszeiten erörterte.
Wie er damals behauptete, werde man in
Kriegszeiten wahrſcheinlich gar nicht borgen
können. Der nächſte Krieg werde mit Papier-
geld geführt werden und mit Zwangsanleihen
bei den Steuerzahlern etwa durch gewaltige
Erhöhung der Ergänzungsſteuer. Herrn von
Gwinner war es durchaus unklar, wie man
die vielen Anleihen aufnehmen wolle, die für
die Bedürfniſſe eines neuzeitlichen Krieges
erforderlich ſeien. Denn die Militärfachver-
ſtändigen hätten, wie er binzufüͤgte, von vielen
192
Milliarden geſprochen. Schließlich ſagte Herr
von Gwinner: „Ich bin mir ſehr gewiß dar-
über, daß man dieſe Anleihen eben nicht auf-
nehmen kann.“
Inzwiſchen haben die deutſchen Kriegs-
anleihen, die mit der letzten und achten ins-
geſamt 87½ Milliarden Mark erbrachten, ge-
zeigt, daß dieſer Sachverſtändige in einem er-
ſtaunlichen Irrtum begriffen war. Da Herr
von Gwinner als Vertreter der Berliner Hoch-
finanz ins Herrenhaus berufen worden war
und bei feinen Berufsgenoſſen nicht den ge-
ringſten Widerſpruch hervorrief, fo iſt anzu-
nehmen, daß damals die ganze Berliner Hoch-
finanz den erſtaunlichen Irrtum ihres Ver-
treters über die Kreditfähigkeit des Deutſchen
Reiches und über die geldliche Leiftungsfähig-
keit des deutſchen Volkes teilte.
Schon vordem hatte ſich ein anderes Mit-
glied der gochfinanz ähnliche bedenkliche
Außerungen erlaubt. Auf dem Deutſchen
Bankiertag von Anfang September 1907
klagte Herr Warburg aus Hamburg über die
angebliche „Zerſtörung der Börſe durch das
Börſengeſetz“. Nach feiner Meinung habe das
Börſengeſetz die Gefahr heraufbeſchworen,
daß es im Kriegsfall dem Deutſchen Reich an
den erforderlichen flüſſigen Mitteln fehlen
werde. |
Derartige Auslaſſungen mußten im feind-
lichen Auslande die Meinung erwecken,
Deutſchland ſei aus finanziellen Gründen
außerſtande, einen großen Krieg zu führen.
Ein Krieg gegen Deutſchland werde nur kurze
Wochen dauern und müſſe mit einem Siege
enden, da Oeutſchland finanziell bald zu-
ſammenbrechen werde. Zum Überfluß hatte
damals der Abgeordnete Gothein in der
„Frankfurter Zeitung“ verkündet, daß Oeutſch⸗
land einen Land krieg in abſehbarer Zeit nicht
zu befürchten hätte und deshalb zu Lande
abruͤſten könne.
Die Kurzſichtigkeit der Vertreter der Hoch;
finanz war geeignet, die Rriegsluft der feind-
lichen Mächte zu ermutigen, und iſt daher den
Urſachen des großen Krieges einzureihen.
Auf der Warte
In Zukunft wird man hoffentlich beſſer unter
richtete und weiterblickende Sachverſtändig e
zu Rate ziehen. Herr v. Bethmann Hollweg
freilich hatte noch Mitte 1916 Herrn Warburg
als Geheimdiplomaten nach Stockholm ent-
|
ſendet. Die ruſſiſchen Vertreter waren bag
erſtaunt, mit einem Nicht- Germanen verhan-
deln zu müſſen, ließen Herrn Warburg ab-
fallen und die geniale Bethmannſche Miſſion
ſcheitern. P. D.
Der Reichstag im Volksurteil
at ſich der Reichstag ſchon durch ſeinen
jammervollen Zuſammenbruch im Juli
1917 als Quelle aller Flaumacherei erwiefen,
ſo liefert jetzt der militäriſche Mitarbeiter der
(freifinnigen!) „Voſſiſchen Zeitung“ noch |
eine „padende“ Beſtätigung dafür: ‚
„Nun war es glücklich wieder einmal fo
weit. Es iſt merkwürdig in dieſem Kriege,
wie oft die Nervenſpannung einem großen
Teil des deutſchen Publikums Halluzinationen
aufnötigt. In Berlin ſagten es ſich die Men-
ſchen ganz offen überall. „Im Reichstage
ſagt man,, unſere Verluſte wären ungeheuer.
„Irn Reichstage jagt man“, die Offenſive im
Weſten ſei feſtgefahren. „Zm Reichstage ſagt
man‘, der Feind fei viel ſtärker, als die Oberſte
Heeresleitung bei Beginn der Offenſive an-
genommen habe. „Im Reichstage ſagt man‘,
wir hätten überhaupt keine Pferde mehr und
könnten daher die Offenſive nicht fortſetzen.
„Im Reichstage ſagt man!, das ganze Gelände
vor Bpern fei ein großer See und darum un-
paſſierbar. „Im Reichstage ſagt man“, alles
Gebiet zwiſchen unſerer Amiens-Front und
Paris ſei unterminiert und würde in die Luft
fliegen. Es geht noch viel weiter, was man
alles ‚im Reichstage“ geſagt haben ſoll, und
was geglaubt wird.“
Lätzt ſich ein ſchärferes Urteil über dieſe
Volksvertretung denken, als daß man ſich
im Volke bei jeder Bangemacherei auf den
Reichstag beruft?!
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bilbende Runft und Muſik: Dr. Rarl Storck
Alle Zuschriften, Einſendungen uſw. nur au die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Serlin (Wannſeebahn)
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
RR 2
8
— — ms
wu
De
1 — ran
eee
* -
— =
„> * . *
r
. ne 52
TE END Zu
ET ir a war
21 „
— A 5
erg
1 1
— nn
r
— ä ů — me
n r
7
3
hr
2
2
2 1
.
„u
*
Wi
in
**
er
1
e
—
. en
er
—
N re
2
1
N ee ade)
3
*
5 —
— 5 .
var a Kom K
> 7
Neckarſtädtchen
N. 2
Beilage zum Türmer N. Duſchek
! 1759 EY =, | = = SS er 07
| 0 hi; . VE TE af NE ur er
Ar ER IR / 1 | ER
I, a | 5
ER
a
i ee 2
_Berausgeber: 2 E. 8 nan ee
„V 2
i 2 |
5 * + y
- N *
S NN |
' ‘ /
= 2
— — N]
—— \
7
W 754
v 5
} 5 N 5 fi 5
‘ h 77
N 5
\ 7
— f 1 %
5 a 4 h |
757
1 f
1
IX. Jahrg. ertrs W 1918 5 —— 17
Von Geld und anderen Dingen
Von Kurt Schuder
S INN ir ſtehen in der Erinnerungszeit an die größte Geiſtestat der neueren
W » Menjchheitgefchichte, die ſich bezeichnenderweiſe in Deutſchland
2 (9 . ereignet hat.
1 8 WVirr ſtehen im Entſcheidungsjahr des Weltkrieges mit ſeinen
tiefen, were Nöten und feiner düſteren und feierlichen Größe. — Weltkrieg nennen
wir ihn, aber es iſt der deutſche Krieg. Wiederum iſt Oeutſchland der Brennpunkt
eines weltgeſchichtlichen Geſchehens. Schon hierin liegt bei allem Andersgeartetſein
dieſer beiden geſchichtlichen Höhenpunkte das, worin ſie zuſammentreffen. Alles
menſchlich Anerhörte, mag es ein Geſicht haben, wie es will, iſt ſich ähnlich in irgend
einer Weiſe, wenn auch ſonſt n ähnlich in feinem Urſprung, ver-
ſchieden in ſeiner Wirkung.
Die Reformation war die Tat der inneren Not, die Tat der menſchlichen
Seele. Der Weltkrieg iſt die Tat der äußeren Not, der ſtaatlichen Seele. Aber
was hat im Kriege der innere Menſch zu beanſpruchen, wo es nur gilt, mit der
Fauſt dreinzuſchlagen? Der innere Menſch hat zu ſchweigen. Wenigſtens iſt es ſo
angeordnet, ſoweit ſich das anordnen läßt.
Dieſes immerhin bedeutende Erzeugnis der Natur hat die nicht unangenehme
Eigenſchaft, allen Zwangseingriffen das nötige Verſtändnis entgegenzubringen,
anders wie andere lebende Objekte, die aus völlig kurzſichtigen Gründen gegen jeden
Der Türmer XX, 17 15
%
194 Schuder: Von Gelb und anderen Bingen
Eingriff zur Hebung ihrer Lebenshaltung Proteſt einlegen. (Alſo z. B. die Schwie-
rigkeit, aus einem freien Tiere ein Haustier zu züchten, es ſozuſagen zu einem
ſolchen zu veredeln, trotz der ſo überaus bequemen Stallkoſt gegenüber der nicht
ungefährlichen Lebensführung in der Freiheit.)
Alſo der höhere Menſch fügt ſich auch hier und ſcheint einſtweilen außer
Betrieb geſetzt zu fein; vom äußerlichen Können wird jetzt alles verlangt. — Damit
ſoll nichts Untergeordnetes gemeint ſein. Das rein Geiſtige allein iſt nicht der
Gipfelpunkt der menſchlichen Tätigkeit. Die Geſchichte gab ſchon des öfteren zu
erkennen, daß ein zu ſtark betontes Hinwenden zu der geiſtigen Seite nicht Höhen-
erſcheinung, ſondern Verfallserſcheinung iſt, und daß eine zu hoch entwickelte Seelen
pflege in einem Volke auf Mängel und Gebrechen in anderen Lebensabteilungen
hinweiſt, abgeſehen davon, daß die beſte Seelenpflege nicht die Ruhe, ſondern der
Kampf iſt.
Das Haupterfordernis jetzt iſt, nicht daß die Seele lebt und daß für fie unge-
wöhnliche Mittel bereitgeſtellt werden. Es iſt überhaupt verkehrt, ſo ängſtlich mit
der Seele zu tun. — Die Seele iſt der zäheſte Gegenſtand, den es gibt, der die
Zeiten der bedenklichſten Dürre mit einer ſtaunenswerten Leiſtungskraft über-
ſteht, die größte Macht, die es ſchlechthin gibt. Alle Leute, die ſo jammern, daß
ihr jetzt fo wenig geboten wird, haben keine Ahnung von ihrem wahrhaftigen
Können.
Das Haupterfordernis jetzt iſt, daß der Leib lebt und Kraft hat. Der Magen
hat es für nötig erachtet, einmal daran zu erinnern, daß er der eigentliche Gewalt-
inhaber und Allerhalter der etwas überheblich gewordenen Menſchlein iſt, und daß
der Geiſt ſich gar nicht ſo aufzuſpielen braucht, als wäre er alles.
Die innere Not hat nun aber bei ihren tiefen Bitterniſſen den einen unleug-
baren Vorteil, daß fie meiſt ohne erhebliche Unkoſten verläuft. Die Not des Magens,
die ſchon dadurch ihren Gegenſatz zu der anderen erweiſt, iſt eine teuere Sache; fie
wird um ſo koſtſpieliger, je größer ſie iſt; ſie iſt letzthin nur durch Zahlungen zu
befeitigen.
Damit kommen wir zu dem Gelde. Dieſem von unberufener Seite fo oft
und hart getadelten und fo nützlichen Gegenſtande wird alſo eine hohe Stelle an-
gewieſen: es wird der Erretter der Menſchheit aus der Not. Das iſt ſicher eine ſehr
ſchätzenswerte Eigenſchaft des Geldes, wegen der man ihm ee Ungezogen-
heiten gern nachſehen wird.
Nun gibt es jedoch Leute, die der Anſicht ſind, daß eine derartige Leiſtung
wohl etwas ſehr Erfreuliches iſt; ſie ſind aber fernerhin der Anſicht, daß nicht die
Leiſtung, alſo der Gegenwert, das Erſtrebenswerteſte und die Hauptſache iſt,
ſondern ſie finden Wohlgefallen an dem Gelde als abſoluten Wert betrachtet,
ohne Rückſicht auf das, was es kann; kurz, das Geld als ſolches wird wertvoller
als der Gegenwert.
In dieſer beklagenswerten Geiſtesverfaſſung entſteht die einſeitige Freude
am Gewinn. Sowie der Geldwert nicht mehr parallel dem geleiſteten Wert geht,
ſondern ſich ſprungweiſe von ihm entfernt, iſt nicht mehr die Freude an der Leiſtung,
ſondern die Freude am Gelde das Ziel.
Schuber: U Geld und anderen Bingen | 195
Und fo erleben wir das merkwürdige Schaufpiel: nicht mehr die Not des
Magens ſteht im Mittelpunkt; das Geld hat ſeine übermenſchliche Kraft bewieſen
und führt feine ſinnbetörenden, berauſchenden Zauberweiſen mit einer Eindring-
lichkeit aus, die an vorweltliche, rieſenſtarke Gewalten mahnt.
Die materiellen Güter in ihrer Geſamtheit find der Erretter des gegen-
wärtigen Deutſchlands in einer Beziehung. Dieſe Tatſache darf zartgeſtimmte
Afthetengemüter, die das Heil von ihren zahlreichen Kulturbünden und neuen
Denkformen erwarten, nicht aus der Faſſung bringen. — Wenn wir von dem
militäriſchen Genie — Führer und Heer — als der anderen Beziehung ahſehen,
das nämlich dorthin zu ſtellen iſt, wo wir die Tat Luthers ſehen, — denn alles
Geniale wurzelt in einem Grunde; nur die Wirkung nach außen iſt je nach dem be-
ſonderen Fachgebiet eine andere —, ſo nimmt heute, in der Vorausſetzung, daß
der innere Menſch Nebenſache iſt, die Landwirtſchaft, die Induſtrie, die Technik
die Stelle Luthers ein. Noch einmal bitte ich um die Nachſicht der Freunde der
Geiſteskultur wegen dieſer frivolen Äußerung.
Und ſomit bekommen dieſe Gebiete einen ungeheuer erweiterten Sinn. Sie
ſind aus ihrer ſonſt grundſätzlich privaten Grundlage herausgehoben, ſozuſagen
emporgehoben und handeln im Auftrage und Zntereſſe der Allgemeinheit. Die
Allgemeinheit, durch die alle dieſe Güter ja erſt ihren Sinn und Wert erhalten,
erringt ein abſolutes Recht auf den Genuß an ihnen, — und dieſes Gemeinſchafts-
recht ſteht jetzt an allererſter Stelle; alles andere tritt dahinter zurück. — Hebbel
verzeichnet einmal folgende Überlegung: „Rothſchild müßte den Gedanken haben,
all ſein Geld in Landbeſitz zu ſtecken und das Land unbebaut liegen zu laſſen. Nach
dem in der Welt geltenden Eigentumsrecht könnte er es tun, wenn auch Millionen
darüber verhungerten.“ — Wir empfehlen Herrn Rothſchild, dieſes nicht uninter-
eſſante Experiment einmal zu riskieren, oder empfehlen es vielmehr nicht; er
würde dann vielleicht nach einigen ſehr handgreiflichen Belehrungen recht ſeltſame
Dinge erleben.
Es muß jedoch leider geſagt werden, daß dieſe Gebiete den Sinn ihrer neuen
erweiterten Aufgabe nicht reſtlos erfaßt haben. Die beſtehenden außerordentlichen
Verhältniſſe verlangten ein teilweiſe reſtloſes In-den-Dienſt- Treten für das Ganze;
fie wurden aber in einem noch ganz anderen Sinne aufgefaßt; als Konjunktur. —
Die Liebe zum Beſitz erwies ſich als ſtärker denn der Gemeinſchaftsgedanke.
Wie hört ſich das an, wenn Luther gejagt hätte: „Ich liefere den Deutſchen
eine prima Reformation; dafür zahlt ihr bar 100 Millionen Mark an die Refor-
mationsbank, Reichsbankgirokonto.“ Oder Hindenburg: „Erſt zahlen, dann ſiege ich.“
Das hört ſich ſicher gut an. — Es gibt aber gewiſſe Dinge, die ſich überhaupt
nicht bezahlen laſſen, wenigſtens nicht in bar. Gemeinhin rechnet man die Groß-
leiſtungen des Geiſtes dazu. — Vermutlich würden alle Barmittel der Erde nicht
ausreichen, um Hindenburg einen entſprechenden Wert für feine Leiſtungen zu
erſtatten, ſelbſt wenn man „nur“ die erzielten Erfolge ins Auge faßt; an das un-
erhörte geiſtige Können als die Grundlage dieſer Erfolge darf man dabei überhaupt
nicht denken. — Ebenſo wie wir für alle Zeiten die Schuldner Luthers und der
anderen bleiben werden. — Aber es gibt noch andere Zahlungsmittel, um im Bilde
196 | Schuder: Von Geld und anderen Dingen
zu bleiben. — Das Volk errichtet einen Heldenhain und ernennt die Männer,
denen gegenüber es ſeine Zahlungsunfähigkeit eingeſtehen muß, zu ſeinen Großen.
And dann bezahlt es ihnen doch, aber mit einer ganz ſeltenen Münze: Unſterblich-
keit, Ruhm, Liebe, Dankbarkeit, Verehrung und anderem. Das iſt der gebotene
Gegenwert. Ä
Aber, höre ich den erſtaunten Einwand, wie kann der unklare Verfaſſer da
ſo durcheinanderwerfen und Landwirtſchaft und Reformation in einem Atem
nennen! — Gemach; wir haben uns überzeugt, daß das Große nur geleiſtet werden
kann in einem völligen Aufgeben der privaten Intereſſen und in einem reſtloſen
Dienen für die Sache. — Za, das iſt aber doch nur auf den höheren Gebieten möglich,
niemals in der doch immerhin tieriſchen Ernährungsfrage. — So! Zft die Sicher-
ſtellung der Ernährung nicht die zweite größte Aufgabe neben der anderen erſten?
Und find das wirklich nur fo äußerliche Dinge? Treffen fie uns nicht vielmehr
bis ins Innerſte? Und iſt dabei eine ideale Auffaſſung ausgeſchaltet?
Mas heißt in dieſen Dingen ideale Auffaſſung? Wie in allen anderen: dienen.
— Nicht verdienen. — Aber dieſe Betonung des idealen Zweckes iſt jetzt in den
Hintergrund getreten; jetzt wird leider ſo häufig gefragt: was verdiene ich dabei,
oder, um es etwas zu umkleiden: iſt es ein wirtſchaftlich geſundes Unternehmen;
ſtatt daß die erſte Frage ſein ſollte: wird durch mein Unternehmen der höchſtmög⸗
liche ideale Zweck erreicht? Jedenfalls ſollte das Hauptintereſſe ſein die Leiſtung
des Unternehmens, nicht die Preisfrage, der objektive Wert für die Allgemeinheit,
nicht der ſubjektive Wert für den Unternehmer.
Ein Beiſpiel. — Es iſt die allgemeine Überzeugung, daß die Zuckermenge
unbedingt erhöht werden müſſe. Die alleinige Pflicht der Beteiligten wäre es,
dies zu ermöglichen (da es ja möglich iſt), ihre durchaus berechtigten privaten
Wünſche aufgehen zu laſſen, ſozuſagen in der allgemeinen Zuckeridee. — Statt
deſſen wird der Kartoffelſack des Nachbarn und die Futterrunkel des Runkelbauern
vergleichsweiſe herangezogen. — Im Grunde genommen iſt es der Allgemeinheit
völlig gleichgültig, was der Kartoffelbauer und was der Kübenbauer verdient
(theoretiſch betrachtet, wenn man die praktiſchen Nöte des Geldbeutels einmal
künſtlich wegdenkt). Keineswegs iſt es aber der Allgemeinheit gleich, ob der Zucker
in Kürze ein ſagenhaftes Gebilde wird, weil er nicht genug für ſeinen Erzeuger
abwirft. N
ich meine ſo: auch auf dieſe nur ſcheinbar äußeren Gebiete kann die Steige
rung ins Ideale angewendet werden; auch ſie können geadelt werden; alles Große
iſt adlig; und es iſt doch eine große Aufgabe. Wir leſen es jeden Tag, wie Großes
in der Heimat geleiſtet wird und glauben es gern; könnte dieſes Große nicht einmal
dem inneren Sinne nach angewendet werden: nicht bloß, daß eine ungeheuer ange;
ſpannte Arbeitsleiſtung verlangt und erfüllt wird, ſondern daß die Zdee dieſer
Arbeitsleiſtung mehr betont wird: im Dienſte der Sache ſtehen? — Und daß die
Verdienſtmöglichkeiten nicht ſo ausführlich erörtert werden? Wäre das nicht viel
gewaltiger als das kümmerliche Zuſammenraffen noch ſo großer Reichtümer?
Kein Menſch wird mich natürlich fo mißverſtehen, als ſollte die Gewinnfrage
ausſcheiden oder etwa eine nebenſächliche Rolle ſpielen; das wäre natürlich heller
Schuber: Von Geld und anderen Bingen 197
Anſinn. Die ehrliche Freude am ehrlichen Gewinne iſt einer der ſtärkſten und
wertvollſten Anreize. — Nur müßte in der Gewinnfrage, wie fie gegenwärtig
gehandhabt wird, auch die viel erwähnte Neuorientierung ſchon jetzt eintreten.
Überlegen wir kurz den Sinn des Gewinnes! Der Gewinn iſt in erſter Linie
und beinahe ausſchließlich eine Perſönlichkeitsfrage. Eine bedeutende, groß um-
riſſene Perſönlichkeit zwingt auch dem ſprödeſten Unternehmen Gewinn ab; hinter
jedem großen Erfolg ſteht eine große Perſönlichkeit. — Man darf dieſes „groß“
freilich nicht moraliſch eng faſſen und nun an einen ausſchließlich vorzüglichen
Menſchen denken; das Große iſt bedeutend umfaſſender; es geht vom ſittlich Hoch-
wertigſten bis zu den Fällen, die bereits das Bedenkliche ſtreifen, und man kann
je nach feiner Auffaſſung noch weiter „herunter“ gehen.
Wenn ich durch meine Tüchtigkeit, Umſicht, vielleicht auch Strupelloſigteit
die äußere Lage derart bearbeitet habe, daß fie mir zu Willen iſt, pflegt ſich meiſt
der Erfolg zu melden; dann habe ich den Gewinn durch mein Können erzwungen.
Ein ſolcher Gewinn iſt unbedenklich als ein ſittlich berechtigter anzuſprechen. Wie
iſt es nun mit dem Kriege, der äußeren Veranlaſſung der gegenwärtigen Gewinne?
Kein Menſch wird ſagen, daß der Krieg eine Geſchäftslage iſt und wenn doch ſchon,
daß er dieſe Geſchäftslage durch ſeine Tüchtigkeit geſchaffen hat. — Trotzdem ſind
ungeheure, früher für undenkbar gehaltene Gewinne gemacht. Den Grund dafür
ſahen wir ſchon: die betreffenden Gebiete erkannten nicht den ſittlichen Kern ihrer
Aufgabe, daß ſie jetzt in erſter Linie der Idee zu dienen hatten und wie ſie geadelt
waren. Um ſo bedeutender waren ihre Leiſtungen im Erkennen der Gewinn-
möglichkeiten. Die Folge iſt: die Gewinne find „Kriegs“ gewinne geworden,
nicht mehr „Geſchäfts“ gewinne; der Gewinn hat feine ſittliche Berechtigung
verloren und iſt in ſeinen kraſſeſten Auswüchſen das Eitergeſchwür der ſonſt alles
überragenden Zeit geworden.
Ich will dieſe Erſcheinung, die geradezu als Verfallserſcheinung anzuſprechen
iſt, nicht kritiſieren; die Kritik wird von der zuſtändigſten Stelle erfolgen, vom Volke
her. — Der Dank, mit dem unſer allezeit williges Volk freigebig gegen alles Große
it, wird ausbleiben. —
Wir ſahen, wie das materielle Gebiet zu einer wirklich großen, ſittlichen Tat
berufen war; aber es hat den Sinn dieſer weltgeſchichtlichen Sendung nicht erfaßt.
— Denn im Weltkriege iſt die Ware nicht mehr Handelsangelegenheit, ſondern
Welt-, Menſchheitangelegenheit.
Vor dieſer Bedeutung verſchließt ſich der entartete Handel, dem unter den
echten Handelsherren ſicher die ſchärfſten Gegner erwachſen, ſcheinbar ſyſtematiſch.
Dieſer Handel hat nicht das geringſte Intereſſe für die Leiſtung der Ware, ſondern
hat ſein ganzes, in dieſem Punkte nicht kleines Können darin erſchöpft, die Preis-
bildung zu einem raffinierten und beinahe wiſſenſchaftlichen Syſtem auszuge-
ſtalten.
Aber abgeſehen von dieſen Auswüchſen iſt die Preisfrage im allgemeinen
zu einer Machtfrage allererſten Ranges geworden. Ich will nicht den unbefugten
und nicht zuſtändigen Kritiker ſpielen, ſondern auch hier den Stoff zu einer mehr
überlegenden Darftellung „adeln“. — Genau betrachtet, hat der Preis mit dem
198 Schuder: Von Geld unb anderen Oingen
eigentlichen Weſen der Ware, d. h. ihrem Nutzen für den Menſchen nichts zu tun,
wie es etwa der Kuh gleichgültig iſt, wer die von ihr gewonnene Milch verzehrt,
außer, wenn es ihr eigenes Kälbchen iſt. — Es beeinflußt den Wert einer Ware
nicht im geringſten, ob ſie eine Mark oder zehn Mark koſtet; die Hauptſache iſt,
daß fie da iſt, daß fie verbraucht werden kann, daß fie gut iſt. Daß die Zufammen-
gehörigkeit von Preis und Ware nur eine willkürliche und keineswegs innere,
alſo notwendige, dem Weſen der Ware entſprechende iſt, ſieht man etwa daran,
daß man z. B. für eine Ware, die nicht zu beſchaffen iſt, auch nicht im Schleich⸗
handel, bieten kann, was man will; man erhält ſie doch nicht. — Der Preis iſt die
perſönliche Angelegenheit des Handels, die Ware iſt öffentliche Angelegenheit;
und beides ſteht im uralten, unverſöhnlichen Gegenſatz, der ſich praktiſch in den
oft ſehr ſcharfen Widerſprüchen zwiſchen Verkäufer und Käufer äußert.
Die angebliche Lebensfrage des Handels, nach der ein Handel und der Handels-
gewinn überhaupt erſt möglich iſt und demzufolge das Vorhandenſein von Ware,
— nach dem Standpunkt des Handels —: das Verhältnis zwiſchen Angebot und
Nachfrage iſt eigentlich ein ungeheuer dürftiger und troſtloſer Standpunkt. Denn
dadurch wird die Ware an die zweite Stelle gedrückt, der Preis, die perſönliche
Angelegenheit, an die erſte. Nicht mehr die Ware beherrſcht den Markt, ſondern
der Preis. — Die Weltbedeutung der Warengüter liegt jedoch allein in den Gütern;
jetzt aber iſt die Preisfrage zu der Weltbedeutung geworden; und das find um-
gekehrte Verhältniſſe. .
Gegenüber dieſer zurzeit überragenden Bedeutung der Güter ſpielt der Menſch
der Gegenwart eine recht beſcheidene Rolle. Noch niemals iſt klarer hervorgetreten,
ein welch trauriges Schmarotzerdaſein dieſes hochgezüchtete Naturprodukt führt,
wie er an allem ſchmarotzt, an der Pflanze, an der Sonne, an den Schätzen im
Schoße der Erde und an allen herrlichen Koſtbarkeiten, die es gibt oder vielmehr
jetzt nicht gibt. Dieſe Erkenntnis iſt ja nicht neu. Es iſt, als wollten ſich die Dinge
rächen, daß der Menſch ſie manchmal böswillig verkleinert hat, und vergeſſen hat,
daß letzten Endes ſie es ſind, die die ganze Herrlichkeit ermöglichen, und als wollten
fie eine abſolute Güterherrſchaft begründen und die Herrſchaft des Geiſtigen
ſtürzen.
And es ergäbe ſich ſomit der troſtloſe Ausblick: die Güter dienen nicht meht
dem Menfchen, ſondern der Menſch iſt ihr Sklave, iſt das willenloſe Produkt feiner
Umgebung, eine Auffaſſung, die dem fo unendlich liebevoll gepflegten „Milieu“
zu einer ſolchen Achtung verhalf und ſoviel Verwirrung anrichtete.
Demgegenüber iſt feſtzuſtellen, daß alle dieſe Überlegungen — auch dieſer
Verſuch — nur menſchliche Betrachtungsweiſen, Denkformen find, die ſich nie-
mals mit dem Weſen der Dinge außer uns decken. Eine den Dingen kongruente
Anſchauung gibt es nicht (iſt auch nicht nötig); es bleibt immer Anſchauung, dem
jeweiligen Bildungsſtand der Menſchen und der Zeit entſprechend.
Wohl aber gibt es etwas, was alle Dinge in den Bereich feiner Betrachtungs;
weiſe zieht, was ihnen feine Formen aufzwingen will, auch wenn dieſe den Dingen
nicht gerecht werden: den menſchlichen Geiſt, der demnach „nichts Genaues“ weiß,
-
Weiß · v. Ruckteſchell: Ewigkeiten 199
dem aber auch nichts fremd iſt. — Und ſomit tun wir doch die Herrſchaft der Güter
ab und kommen zu einer Herrſchaft des Geiſtes.
Im Handumdrehen iſt ſomit die große, äußere Not abgetan? Nein, durchaus
nicht, vor allem nicht durch Überlegungen.
Wohl aber hat ſich gezeigt, daß ein Emporheben ins Ideale — es geht nun
einmal nicht ohne Ideale — auf allen Gebieten möglich , und daß es der Sinn
iſt, der . adelt.
Es find furchtbare Mächte, die jetzt gegen die menſchliche Seele, dieſes un-
begreifliche Heiligtum, kämpfen und auf der Lauer liegen, ob ſie es verſchlingen
können. — Aber da ſtehen die draußen vor uns, mit deren Leiſtungen nichts ver-
glichen werden kann. Und dieſe Leiſtungen ſind unter allem Großen das ſchlechthin
Größte; und ſie werden getan, obwohl wir ſie nicht bezahlen können, nicht einmal
mit der höchſten Münze: Ruhm und Anſterblichkeit. Denn auch das iſt zu gering.
Wenn wir etwas von deren Sinn und Geiſt haben, das will ſagen, daß wir
etwas mehr den Gütervorteil vergäßen und etwas mehr daran dächten, daß das
Dienen das Größte iſt, dann „könnte man den Glauben haben, daß die Menſchheit
geadelt werden kann“.
Ewigkeiten Von Alice Weiß- v. Ruckteſchell
Wieviel Leben müſſen wir noch leben,
Bis wir alle Herrlichkeit ergründen;
Zu den tauſend Rätſeln, die hier weben,
Tauſend goldne Herrgottsſchlüſſel finden.
Wieviel Tode müſſen wir noch ſterben,
Bis wir alle Erde von uns ſtreifen,
Bis uns Leid und Not nicht mehr verderben
Und wir unſrer Träume Sinn begreifen.
Bis uns unſres Sterbens goldne Pforten
Keine dunklen Tore mehr ins Grauen,
Bis wir hier und dort und allerorten
Eines Lebens Wunderkräfte ſchauen?
Wieviel Sphären müſſen wir durchkreiſen,
Wieviel tauſend neue Weltenerden,
Bis wir endlich ſtill nach Hauſe reiſen,
Um mit unſrer Heimat eins zu werden?
A
200 Weer: Felbgrau und kunterbunt
eldgrau und kunterbunt
Von Reinhard Weer
N s gibt Soldaten, vor denen man als Vorgeſetzter eine heilige Hoch-
N achtung haben muß. Schlicht, militäriſch korrekt bis aufs äußerſte,
5 immer guter Dinge, durch keine Arbeit und Mühe zu verdrießen,
N können alles, leiſten alles und ſtrömen aus feftverantertem Innen-
leben eine Herzensbildung aus, um die fie mancher Offizier beneiden könnte.
Ich hatte ſolch ein paar Leute in der Batterie, zum größeren Teil unter denen,
die, ſchon verwundet, zum zweiten- und drittenmal in der Front ſtanden. Beſſere
Soldaten gibt's nicht auf der Welt; höchſtens gleich gute. Da fühlte man manch—
mal ſo etwas wie den brennenden Wunſch, dem oder jenem mehr zu ſein als ein
Vorgeſetzter: ein Freund. (Und zwar Freund nicht bloß in dem allgemeinen,
|
|
blaffen Sinn, wonach jeder anſtändige Vorgeſetzte Freund jedes anftändigen Sol-
daten iſt.) Aber es bleibt bei dem Wunſch; denn es ergibt ſich die Merkwürdig—
keit: die Leute wollen's nicht! Macht man den Verſuch, jo ziehen ſich die rechten
Antergebenen mit ihrem militäriſchen Diſtanzgefühl in allen Knochen ganz in
ſich ſelbſt zurück, werden einſilbig und verſchloſſen. Sie betrachten das als einen
unangebrachten Einbruch in ihre Sphäre. Sie ſind zu gute Soldaten.
Daneben finden ſich freilich auch Angſtmeier, Schwätzer und Schlappiers.
Von denen erzähle ich lieber nicht.
ü K **
*.
Viele meinen, aufrichtig oder nicht: Der Krieg rafft die Beſten dahin.
Ein trauriges Wort, ein gedankenloſes Wort — und voll bitterſter Härte für die
Aberlebenden, die doch auch, zum Teil wenigſtens, ihre Schuldigkeit tun. Gewiß,
es fallen viele der Beſten, denn nicht die Schlechteſten pflegen in vorderſter Reihe
und an der gefährdetſten Stelle zu fechten. Der dies ſchreibt, hat durch feind-
9 J
liches Geſchoß den Mann verloren, der unter unſren Millionen von Kämpfern
ſeinem Herzen am nächſten ſtand und der ihm geliebteſtes, heiligſtes Vorbild war:
‘
|
den eigenen Vater. „Die Beſten fallen“ — hundertmal wohl mußte er das
Wort hören, als berge es einen Troſt. Aber er verwirft dieſen billigen Troſt
und hält ſich mit klammernder Inbrunſt an den Glauben, daß uns auch viele
der Beſten erhalten bleiben. Wir wollen uns nicht die ganze Zukunft dunkel ver-
hängen laſſen, ſondern getroſt dieſes Glaubens leben. Das andere wäre, vom
nationalen und menſchlichen Standpunkt, zu entſetzlich, als daß es ausgedacht
werden könnte. Wenn der heilige Funke ſtürbe — dann lieber Nacht und Tod
über uns alle als ein tieriſches Weiterleben.
*
%*
Eine nächtliche Kontrolle der Poſten in der Feuerſtellung meiner alten
Batterie in einer unruhigen Zeit im Weſten. Es iſt ſtockdunkel, und die paar
Leute, die an dem einen Geſchütz im Freien beiſammen ſitzen, bemerken mein
Kommen nicht. Schon von weitem höre ich ihre Stimmen. „Anſer Batterieführer,
das iſt einer! Immer gut zu den Leuten, aber wenn man was verbockt, hat er ſo
Meer: Felbgrau und kunterbunt ö 201
feine Art, einen anzuſehen ... Der weiß nicht, was Angſt iſt. Deshalb trifft's
ihn auch nicht. Und wie er ſchießt, das iſt ſchon beinahe berühmt. Der hat“ —
und dann folgen zwei ganz unſinnige vierſtellige Zahlen, die wiederzugeben ich
mich weigere —, „der hat mit ſeiner Batterie ſoundſo viel Engländer und ſoundſo
viel Franzoſen auf dem Gewiſſen.“ Das Wort „auf dem Gewiſſen“ fuhr mir
wie ein kalter Strahl den Rüden hinunter.
Es iſt vielleicht nicht klug, das zu erzählen, denn es klingt häßlich und ruhm-
redig. Aber die Abſicht, mich jo einfältig zu brüſten, liegt mir fern. Ich will da-
mit nur zeigen, wie unſere braven deutſchen Soldaten von den Vorgeſetzten
denken und reden, die nichts weiter als nach beſten Kräften ihre Schuldigkeit
tun. Wie ruht ſich's ſo gut und ſicher in dem Vertrauen treuer Untergebener!
Übrigens muß ich die Leute berichtigen: das mit dem „nicht wiſſen, was
Angſt iſt“ ſtimmt nicht, leider (und das mit dem Unverwundbarſein erſt recht nicht,
wie ſich bald danach mehrfach erwieſen); das ewige Schießen hämmert doch auf
die Nerven und ſchwächt ſie. Immerhin, es ſchadet nichts, wenn die Leute ſo
denken. Merkt der Soldat, daß der führende Offizier feige oder nervös iſt, fo !
it ſogleich die ganze Truppe nicht mehr zu gebrauchen. Die Nervenſtränge der
Mannſchaft find in feine Hand gegeben. Darin liegt das Geheimnis aller Er-
folge der unteren Führung. R
*
Anſere heutigen Geſchütze, wiewohl „ultima ratio regis“, find keine Prä-
ziſionswaffen wie Gewehr und Piſtole, immerhin ſchießen fie erheblich genaue
als die Kanonen und Mörſer unferer Vorfahren. Es gibt — ſeltſam genug —
Artilleriſten, die das bedauern. Die erklären die Geſchütze früherer Tage für viel
gefährlicher als die heutigen (und zwar gefährlicher nicht nur für die eigene Be-
dienung, was ohne weiteres einleuchtet, ſondern auch für den Feind), weil man
beim Schießen nie gewußt habe, wohin der nächſte Schuß aus demſelben Rohr
gehen werde, und infolgedeſſen im Umkreis von Meilen feines Lebens nicht ſicher
geweſen ſei. Der Meinung muß eine gewiſſe Berechtigung zugeſprochen werden.
— —
Dennoch trifft auch heute noch einigermaßen jener franzöſiſche Artillerie-
kapitän das Richtige, der als wirkſamſten Schutz vor einſchlagenden Artillerie-
geſchoſſen empfahl, immer in das letzte Schußloch und nach jedem Schuß von
drüben in das neu entſtandene Einſchlagsloch zu ſpringen. Denn der nächſte Schuß
aus demſelben Rohr trifft mit allergrößter Wahrſcheinlichkeit nicht genau die-
ſelbe Stelle. Ja, wenn es nur ein Geſchütz wäre, das von drüben ſchießt! Aber
im Trommelfeuer von heute, Herr Kapitän, dürfte Ihr Rezept nur von geringem
Nutzen ſein! Ai 5
*˙
An dem Tage, an dem vor drei Jahren die franzöſiſche Herbſtoffenſive
einſetzte, kam bei uns im Armeeverordnungsblatt die neue Uniformvorſchrift
heraus. Es iſt nicht ſchwer, darüber zu ſpötteln, viel ſchwerer, die guten Seiten
—
an der Sache zu ſehen: wie die deutſche Militärmafchine, die an der Front ſo
zermalmendes Werk tut, hinter den Fronten ihre Kleinarbeit zielſicher fortſetzt, f
unbeirrt von den weltenwandelnden Erſchütterungen dieſes Krieges.
>
*
202 | Meer: Felbgrau und kunterbunt
Vergleicht man die Unterſtände aus den erſten Feldzugsmonaten mit den
heutigen: welch eine Wandlung! Damals kroch man, wenn's dunkelte oder zu
regnen anfing, in ſein naſſes, niederes Erdloch wie ein Tier, war froh, nur einen
dünnen Wetterſchutz überm Kopf und ein Strohbündel als Lager zu haben; der
Offizier ſchlief zuſammen mit ſeinen Leuten, man liebte die Primitivität um
ihrer ſelbſt willen. Heute iſt alles bombenſicher gebaut, tiefe Stollen oder ftarte
Deckungen aus Holz, Eiſenſchienen, Mauerwerk, Erde bilden einen faſt voll-
kommenen Schutz gegen die leichteren Geſchoſſe. Zm Innern wird Bequemlich⸗
keit, ja ſogar ein beſcheidener Luxus angeſtrebt. Und der Offizier wohnt getrennt
run
von den Leuten, was feine Vorteile hat, im Intereſſe der Kameradſchaft und des
gegenſeitigen Verſtehens aber eigentlich zu bedauern iſt.
ö * *
Man ſtreitet, ob man die herankommenden Artilleriegeſchoſſe rechtzeitig höre
oder nicht. Einer bejaht, der andere verneint; mag ſein auf Grund von Sach-
kenntnis, oft aber auch mit einer durch keinerlei Erfahrung oder Sachkenntnis
getrübten friſchfrommen Entſcheidungsfreudigkeit. Ja und nein: beides iſt eben-
ſowohl richtig wie falſch. Denn da ſind ſo viele Verſchiedenheiten und Kom-
pliziertheiten: Art des Geſchützes, Flachbahn- und Bogenſchuß, Auffchlag- und
Zeitzünder, Geſchoßart, Stärke der Treibladung und Zuſammenſetzung des Bul-
vers, Höhe des Sprengpunktes, größere oder geringere Entfernung des feuern
den Geſchützes, Geräuſch des Abſchuſſes, des Flugs und des Zerſpringens, Wind-
ſtärke und Windrichtung. Für all das ergeben ſich Kategorien, Unterſchiede, Ab-
ſtufungen. Man ſieht, die Sache iſt nicht ſo einfach und nicht mit einem glatten
Ja oder Nein zu erledigen.
*
2
Wir hatten eine franzöſiſche Batterie mit Hilfe der Meßtrupps zufammen-
geſchoſſen, dreihundertundzwanzig Schuß. Am nächſten Nachmittag beſpreche ich
mit den Kanonieren das Schießen, ſage zum Schluß, mit einer auf alte und ſehr
ernſthafte Feldzugserfahrungen gegründeten ſcherzenden Wendung: „Eben wird
von drüben telephoniert, daß gerade der franzöſiſche Korpskommandeur mit feinem
Stab die zerſtörte Feuerſtellung beſichtigt, alſo wollen wir ſchnell eine Gruppe von
Granatbrennzündern dorthin abgeben.“ Die Gruppe ſauſt hinaus; Kommando
„Feuerpauſe“. Da kommen zwei Unteroffiziere heran, bitten namens der Geſchütz⸗
bedienungen, noch eine Gruppe um fünfzig Meter weiter abgeben zu dürfen; denn
bei der erſten könne der Korpskommandeur doch vielleicht entwiſcht ſein!
; *
**
Die Infanterie hatte einen toten Franzoſen aus dem Drahtverhau herein-
gebracht, einen hübſchen, ſchlanken Burſchen von ſüdländiſchem Typ, und der
Oberſt ſah mit mir die Papiere des Mannes durch. Es ergab ſich allerlei Inter-
eſſantes. Zunächſt, daß der Tote Armenier war; es ſcheinen recht viele Armenier
als Freiwillige in den „Régiments de marche“ der Fremdenlegion (wir hatten
ein ſolches uns gegenüber) eingetreten zu fein. Die welſche Schweiz hat es über-
nommen, dieſe Leute, da fie in Frankreich keine Verwandten haben, mit Liebes-
gaben zu beſchenken; einzelne Spender nehmen, um gleichſam als Verwandte
Roh: Zunge Mutter 203
dazuſtehen, Patenſtelle bei den armeniſchen Legionären ein und werden dem-
entſprechend in der Korreſpondenz als „parrain“ oder „marraine“ angeredet. Der
hereingebrachte Tote hatte Liebesgaben von einer „Patentante“ aus Lauſanne
empfangen. In Dijon hatte er, wie ſich weiter herausſtellte, bei Gelegenheit
eines Erholungsurlaubs im Haufe einer gebildeten franzöſiſchen Bürgerfamilie
Aufnahme gefunden. Briefe plauderten aus, daß er Muſik getrieben, daß die
Tochter des Hauſes ſein Violinſpiel und ſeinen Geſang begleitet hatte. Dann
auf einmal zwiſchen den von einem Granatſplitter durchlochten Blättern eine
Photographie: jene Familie aus Dijon hinterm Hauſe im Garten um den Kaffee-
tiſch verſammelt, ein älterer Herr, zwei Frauen, ein Kind — und dann, im Garten-
ſtuhl leicht zurückgelehnt und das Antlitz dem Beſchauer zugewandt, die Tochter,
ein feines, dunkles Mädchen von fo rührender, ernſter Schönheit, daß der Ge—
danke an die Zuſammenhänge einem das Herz mit Weh umſchnürte. „Ces heures
inoubliables“ — „j'aime tant la musique“ — „vos airs arméniens si melan-
coliques et si harmonieux“ — „je ne vous oublierai jamais, vous et votre vio-
lon“, klang es leife und traurig aus ihren Briefen.
2 ET Y —.— — —
DN NN N dJ
EMI RR ER,
—
Junge Mutter Von Julius Koch
Du biſt gegangen langen Weg
In märchenferner Einſamkeit.
Ins Land der Wunder führt’ ein Steg
Dich ſtillgeweiht!
Dein Herz war Freuden aufgetan,
Die nicht von dieſer Erde ſind;
Du wandelteſt auf ſel'ger Bahn
Mit deinem Kind.
Das unter deinem Herzen lag,
Dein Kind und meines auch,
Das trug in deinen trübſten Tag
Dir Himmelshauch!
Nun lenkſt du in die Menſchenwelt
Aufs neue deinen Fuß,
And deine Seele iſt erhellt
Vom Gottesgruß.
So aus der Liebe reinem Land
Geheiligt ſchreiteſt du!
Nun laß uns wandern Hand in Hand
Dem Leben zu! —
2
— — —
204 Haefde: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grund lage
Neuorientierung und Verſtändigung
auf deutſcher Grundlage
Von Profeſſor Hans Haeſcke
n der Kriegführung iſt man bei uns ſtets deſſen eingedenk geblieben,
daß man, ſelbſt Menſch, gegen Menſchen kämpft — bis zu dem Grade,
daß die Humanität auch hier zur Humanitätsduſelei ausartete und
fo tatſächlich widermenſchlich, weil kriegsverlängernd, wirkte. Den-
ſelben Erfolg muß letzten Endes die Art haben, wie man ſich bei uns anſchickt, der
Am- und Neugeftaltung der inneren Verhältniſſe und unferer auswärtigen Be—
ziehungen durch den Krieg Rechnung zu tragen. Anſere viel gerühmte „An-
paſſungsfähigkeit“ iſt da auf dem Wege, uns einen recht üblen Streich zu ſpielen,
| 4d. h. uns und die Menſchheit um den eigentlichen Segen des Krieges zu betrügen.
Fin erblicken wir in einer Erneuerung des deutſchen Geiftes, deren unfer Volk
um ſeiner ſelbſt und ſeiner Sendung willen bedarf.
Aber Bureaukratius hat kein Verſtändnis für Imponderabilien. Und jo be-
dürfen auch Monarchismus und Patriotismus, um brauchbar zu ſein, für ihn
der amtlichen Eichung. Und in dem Philiſter, dem nichts widerwärtiger iſt als
Aufbrauſen oder gar Überbraufen, fand Bureaukratius eben deshalb einen will—
kommenen Bundesgenoſſen. Der Philiſter war in dieſem Falle der heimgekehrte
verlorene Sohn. Das ihm vorgeſetzte gemäſtete Kalb behagte ihm bald nicht mehr.
And fo breitete er wohlgefällig als unübertrefflihen Lederbiffen die aus der Fremde
mitgebrachten Treber auf der väterlichen Tafel aus. Ein für Bureaukratius über-
wältigender Anblick! Denn ſein „philoſophiſcher“ Blick geht ins Weite. Man
treibt ja Weltpolitik! Hinaus alſo mit dem Urväter- Hausrat, an dem man doch
draußen Anſtoß nimmt! Und her mit der fremden Ware! Damit man
„Beim Feind Vertrauen zu erwecken ſucht,
Das doch der einz'ge Weg zum Frieden iſt.
Denn hört der Krieg im Kriege nicht ſchon auf,
Voher ſoll Friede kommen?“
Auch tröſtete man den am heimiſchen Weſen hängenden älteren Sohn mit
dem Hinweis, daß auch ſchon frühere Veränderungen nicht die Folgen gehabt
hätten, die beſorgte Zeitgenoſſen befürchteten. Denn was hat es Preußen geſchadet,
daß es ſich im Fahre 1850 einen fremden Rock anzog? — Wie iſt es aber in Wirk-
lichkeit geweſen? Kein Mann hat beſorgter um die Zukunft vom alten Preußen
Abſchied genommen als Bismarck. Aufquellende Tränen ließen den Mann, an
dem wahrlich nichts Weichliches war, nicht zu Ende reden, als er ſeinem Kummer
über das Verſinken Altpreußens Ausdruck verlieh. Und 15 Jahre ſpäter hat nur er,
er allein verhindert, daß ſeine Befürchtungen nicht Wirklichkeit wurden. Ob jene
das Zeug dazu gehabt hätten, die vormals leichten Herzens in die neue Zeit hinein-
getänzelt waren?
N
gaeſcke: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage 205
Neueſten Datums ift nun freilich die Invaſion, deren Zeugen wir heute
ſind und die unheilvoller iſt als die eines feindlichen Heeres, keineswegs. Vir
erleben vielmehr nur den Abſchluß einer Entwickelung, die mit der Einführung
des römiſchen Rechts begonnen hat.
In dieſe Zuſammenhänge führt Ed. Heyck hinein in ſeinen ſich gegenſeitig
ergänzenden Büchern „Das Deutſchland von morgen“ und „Parlament oder Volks-
vertretung?“ (Verlag Richard Mühlmann in Halle a. S.) Beide Bücher erheben
ſich dadurch über die übrigen Schriften der einſchlägigen Literatur, daß „ihre Er-
örterungen nicht münden und enden in die Verſchleuſungen einer ſogenannten
Tagesfrage. Sie ſpannen über heute und morgen hinüber. Die demnächſtige
Entbindung von neuen Trugformen aufzuhalten, bilden ſie ſich nicht ein. Aber
ſie geben die Zuverſicht nicht auf, daß die Zahl derer zunehmen wird, die über deren;
Mißbeſchaffenheit nachdenken und Schlüſſe daraus finden werden, die e
kommen mit etwas, das geſund, aber ungeſehen in der Lebenswirklichkeit heran-
wächſt.“ Solche Bücher kann nur ſchreiben, wer mit einer ebenſo umfaſſenden
wie gründlichen Kenntnis der Vergangenheit eine ſozuſagen Riehlſche Vertrautheit
mit den zwar nicht laut ſchreiend ſich vordrängenden, darum aber nicht weniger!
lebendigen Kräften der Gegenwart, wie ſie ſich in unſerm Volke erhalten und
gebildet haben, verbindet.
Heycks Optimismus — nein, mehr! — unbedingtes und unerſchütterliches
Vertrauen in die Zukunft des deutſchen Volkes iſt bekannt und weht auch aus
dieſen Blättern den Leſern erfriſchend und nervenſtählend entgegen. Aus dieſer
Sicherheit find auch die Sätze geboren: „In Preußen wird vielleicht das Gegenteil
vorerſt ſeinen widerwilligen Verlauf nehmen. Der Wille der Krone muß unter
allen Umſtänden durchgeſetzt werden, hat jüngſt erſt der ‚Vorwärts‘ betont. Nur
zu! fo wird die Gärung kräftig.“ Aber warum traut Heyck ſeinen überzeugungs-
kräftigen Ausführungen nicht eine ſchnellere Wirkung ſchon für die Gegenwart zu?
Es will doch gewiß etwas ſagen, wenn ein Fünfundvierzigjähriger ſchon durch
einmaliges Leſen dieſer Bücher ſich mit ſeinem zwanzigjährigen Bekenntnis zum
Pluralwahlrecht aus dem Sattel gehoben ſieht — wie es mir ergangen iſt —, um
nach abermaligem Leſen ein Anhänger von Heycks Anſchauungen zu werden.
Vielleicht wirkt Heyck gerade dadurch ſo überzeugend, daß er nicht mit agitatoriſcher
Beredtſamkeit über- und überredet, ſondern aus dem reichlich zuſammengetragenen
Material feine eigenen Gedanken im Leſer gewiſſermaßen von ſelbſt erwachſen
zu laſſen weiß. Zweifellos würde er in einem ſehr viel größeren Kreiſe die ge—
wünſchten Wirkungen erzielen und ſchon für die Gegenwart nutzbar machen, wenn
ſeine Ausdrucksweiſe nicht vielfach ſo „unkörperlich“ wäre, um dieſes von Schiller
für Klopſtocks Oden geprägte Wort zu gebrauchen. Er ſtellt ſo an die Aufmerk-
ſamkeit und das Nachdenken Anforderungen, die von dem haſtig lebenden Geſchlecht
der Gegenwart nur widerwillig oder gar nicht erfüllt werden, ein Umſtand, der
den Kreis ſeiner Leſer in unerwünſchter Weiſe verengern wird.
Der unbevogtete Deutſche der Frühzeit wurde, wie Heyck darlegt, durch die
Einführung des römiſchen Rechts entmündigt zum Klienten und Untertan. Aber
auch nach oben wirkte dieſe Verwelſchung ſchließlich machtentkleidend, inſofern als
2
206 Harfe: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage
ſelbſt der Kaiſer und die Fürſten durch die juriſtiſche Bureaukratie der germaniſchen
Unmittelbarkeit ihres Wirkens beraubt wurden. An ihre Stelle ſchob ſich der Regens-
burger Reichstag. Und als feine Selbſtherrlichkeit zuſammenbricht, wird die Ent-
mündigung des Volkes durch das Oangergeſchenk einer Freiheit nach franzöſiſchem
Muſter aufrechterhalten. Denn die durch dieſe Begnadigung geſchaffenen Parla-
mente haben weder die volkliche Selbſtregierung noch die Verbindung der Volks-
ſchichten untereinander gebracht, noch haben ſie ſich als eine Verkörperung des
öffentlichen Verſtandes und Willens bewährt, ſo wenig wie in ihrem Heimatlande
—
Frankreich. Der politiſchen Teilnahmloſigkeit, die der Parlamentarismus hier
erzeugt hat, entſpricht bei uns die Partei der Nichtwähler, der neben Bequemen
und Oenkfaulen doch auch ſolche angehören, die dafür danken, Hörige eines politi-
ſchen Condottiere zu ſein. Jeder Leſer der „Gedanken und Erinnerungen“ weiß
ja, daß die Parteien ſich weniger durch ihre Programme als durch die Perſonen
unterſcheiden, die an ihrer Spitze ſtehen, und für fich eine möglichſt große Gefolg-
ſchaft von Abgeordneten und publiziſtiſchen Strebern anzuwerben ſuchen.
Wenn Heyd ſeinerſeits das Verhältnis zwiſchen den Parteihäuptlingen und
den Zeitungen ſowie anderen geſchäftlichen Unternehmungen dahin einſchätzt,
daß er jene von dieſen abhängig ſieht, ſo ändert das an der Hauptſache nichts.
Dieſe aber ift, daß der Parlamentarier in Wahrheit nichts weniger iſt als ein Ver-
treter des ganzen Volkes. Wie in Frankreich bringt er vielmehr dank feiner Ver-
flechtung in geſchäftliche Beteiligungen nur die Intereſſen eines Kreiſes zur Geltung.
Nichts bezeugt unwiderleglicher das Fehlen pflihtmäßiger Erwägungen über die
Schädlichkeit oder den Nutzen einer Regierungsvorlage für das Volksganze als
der ſattſam bekannte Kuhhandel. Denn die für die Bewilligung eingetauſchten
Zugeſtändniſſe ſind, weil mit der Sache ſelbſt meiſt gar nicht zuſammenhängend,
nicht geeignet, die etwa befürchteten ſchlimmen Wirkungen eines von der Re-
gierung befürworteten Geſetzes auszugleichen.
So iſt — eine grauſame Zronie der Weltgeſchichte — unſer Volk gerade in
der Zeit, wo ſein blankes Schwert die lang erſehnte Einheit ſchuf, durch die Einfuhr
der fremden Ware aus eben dem Lande, gegen das kämpfend es ſeine Einheit
erringen mußte, mit einem neuen Element der Zerſplitterung belaſtet worden.
And wenn jetzt während des Krieges, der den Bau unſers Reiches beim natürlichen
Lauf der Dinge noch feſter fügen müßte, jene unheilvolle Entwickelung durch die
parlamentariſche Regierungsform gekrönt werden ſoll, ſo wird damit nicht nur
die Verwelſchung unſeres Staatsweſens vollendet — trotz alles Geredes, daß man
nicht nach dem weſtlichen Vorbilde parlamentarifieren wolle —, ſondern auch die
Regierung ſelbſt, bisher die ſichtbare Trägerin, die feſteſte Stütze des Einheits
gedankens, wird dadurch zur Vertreterin und Vollſtreckerin partikulariſtiſcher Be⸗
ſtrebungen erniedrigt, wie die Rede des Vizekanzlers v. Payer am 25. Februar 1918
zur Genüge beweiſt.
Das Recht, vielmehr die Pflicht, nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen für heilſam
gehaltene Überzeugungen zu vertreten, wird da in einer Weiſe beſtritten, die freilich
nur den überraſchen kann, der mit der Geſchichte des „Freiſinns“ nicht vertraut ft.
Wie ſehr man ſich hier für berechtigt hält, über entgegengeſetzte Meinungen des
gaefcke: Neuorientierung und Verſtänbigung auf deutſcher Grundlage 207
Volkes, das man zu vertreten vorgibt, zur Tagesordnung überzugehen, hat vor
„ nicht langer Zeit noch Naumann verraten. Er ſchreibt am 27. September 1917 in
der „Hilfe“ von der herben Kritik, die Offiziere wie Mannſchaften an der Reichstags-
ö reſolution vom 19. Zuli vor feinen und feiner Kollegen Ohren geübt haben. „Das
4 ſchadet gar nichts“, fügt er hinzu, „der Soldat braucht kein Politiker zu ſein, er iſt
Soldat.“ Als ob nicht unſer Heer ein Teil des Volkes wäre — und gewiß nicht der
ſſchlechteſte! Natürlich hört man an ſolchen Außerungen vorbei, nicht weil fie aus
dem Munde und dem Herzen von Männern kommen, die zufällig gerade Soldaten
ı find, ſondern weil fie einem nicht angenehm ſind. Und fo etwas nennt ſich „Volks-
vertreter“! „Volkszertreter“ wäre richtiger.
Aber nicht nur das Volk wird beifeite geſchoben. Vielmehr auch die Grenz-
linie zwiſchen Monarchie und Republik iſt bereits überſchritten. Wenigſtens für
den, der die Anſchauungen teilt, die Bismarck in einer ſeiner vielen heute leider
vergeſſenen Reden vertreten hat. Bismarck ſagte am 26. November 1884 im Reichs-
tage: „Ich unterſcheide zwiſchen Monarchie und Republik auf der Linie, wo der
| Rönig durch das Parlament gezwungen werden kann ad faciendum, irgend etwas
zu tun, was er aus freiem Antrieb nicht tut... Die monarchiſche Einrichtung hört
auf, dieſen Namen zu führen, wenn der Monarch gezwungen werden kann durch
die Majo rität des Parlaments, fein Miniſterium zu entlaſſen, wenn ihm Einrich-
tungen aufgezwungen werden können durch die Majorität des Parlaments, die er
freiwillig nicht unterſchreiben würde.“
Nichts wohl kennzeichnet die Lage, in die uns die Parlamentariſierung ver-
ſetzt hat, deutlicher als jener Vergleich des Kaiſers mit einem Kaufmann, der ſein
Geſchäft in eine Aktiengeſellſchaft verwandelt. Denn nicht nur die Schwächung der
Macht wird dadurch klar gemacht, ſondern auch die höchſt fragwürdigen Wirkungen
dieſer Wandelung für die „breiten Maſſen“, zu deren Gunſten fie angeblich voll-
zogen worden iſt, treten da zutage. Denn eine Aktiengeſellſchaft hat im allgemeinen
viel weniger Neigung, auch Fähigkeit, Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter
5 und die Angeſtellten zu treffen als der ſouveräne Geſchäftsinhaber. So zeigt denn
ja auch die Geſchichte, daß das Wirken der Regierung eines monarchiſchen Staates
viel pflichtbewußter auf das Wohl des Volkes abzielt als in einer Republik.
ESbo muß alſo das Verdammungsurteil, das Heyck über die moderne „Volks-
vertretung“ und die Parlamentariſierung fällt, von jedem, der Selbſterlebtes ſich
vergegenwärtigt und offenen Blicks in die Geſchichte ſchaut, unterſchrieben werden.
Und wie im Innern aus der Parlamentariſierung kein Segen erwachſen
kann, ſo wird man aus ihr vergeblich einen Nutzen für unſere auswärtigen Be-
ziehungen erhoffen. Als der Kronprinz im Auguſt 1910 in Königsberg für die Er-
haltung unſerer geſunden völkiſchen Eigenſchaften eintrat, griffen ihn deshalb
einige in deutſcher Sprache erſcheinende Zeitungen in der ihrer Stammesart
eigenen hämiſchen Weiſe an: Da war es ein engliſches Blatt deutſchfeindlicher und
demokratiſcher Richtung (Newcastle Daily Chronicle), das ihnen einen Nafen-
ſtüber erteilte. Es bemerkte zu den Witzeleien des Herrn Theodor Wolff: „Alles
dies iſt Außerft bezeichnend für die plumpen Verſuche gewiſſer deutſcher (7) Journa-
liſten, witzig“ zu fein. Der Kronprinz gibt einfach den Deutichen den Rat, Deutſche
208 Haefcke: Neuorientierung und Verſtändigung auf deutſcher Grundlage
zu fein und nicht die Eigentümlichkeiten anderer Nationen nachzuäffen. Und
darin muß man ihm recht geben. Nichts wirkt fo lächerlich wie derartige Zmita-
tionen.“
Seit Ausbruch des Krieges und namentlich ſeit dem Auftreten Wilſons als
Apoſtel der Demokratie wollen uns ja nun freilich gerade unſere Feinde ſolche
Imitationen aufzwingen. Dennoch aber kann nur ein Gemüt von der Harmloſigkeit
des Widders Bellyn von dem Eingehen auf ſolche Wünſche unſerer Feinde ſich
moraliſche Eroberungen in Feindesland und in Neutralien verſprechen. Gleich-
wohl aber geht man bei uns bereits fo weit, eine Annäherung unſerer Zuftände -
an die da draußen durch Abrüſtung nach dem Kriege zu empfehlen, wie das „Ex—
zellenz“ Dernburg getan hat. Mit der Verſchüttung der Quellen unſerer Kraft,
als welche der Krieg unſer ſtarkes Königtum und unſern Militarismus offenbart |
hat, glaubt man alſo die Feindſchaft der anderen in Freundſchaft verwandeln zu
können. |
Die Geſchichte lehrt uns: im Anfang war die Kraft, und die Kraft zieht an.
Louis Botha iſt uns gewiß nicht ſympathiſch. Aber was denn ſonſt hat ihn in
Englands Feſſeln geſchlagen als die Erkenntnis von Englands Stärke? Selbſt-
ſicher und unbekümmert um das Geſchrei der anderen iſt England ſtets ſeinen
Meg gegangen. Und die von ihm dabei Niedergetretenen erhoben ſich, um — ihm
zu folgen. Uns dagegen hat die ſeit 1890 eingeſchlagene Händlerpolitik fo an das
Blinzeln nach aller Welt Mienen gewöhnt, daß wir meinen, mit der völligen Ent-
fremdung vom eigenen Weſen ſelbſt jetzt mitten im Kriege noch Geſchäfte machen
zu können. And doch lehrt uns die Geſchichte auch unſeres Volkes, daß einſt auch
unſere mit Selbſtbewußtſein gepaarte Stärke die Fremden magnetiſch an uns zog,
als „der Eiſenſtolz der Stauferzeit Deutſchland bis nach England, deſſen Richard
Löwenherz ſich zum Lehensmann des Staufers erklären mußte, bis nach Apulien,
Byzanz, Armenien, Agypten Reſpeh und freiwillig ſuchende, werbende Be—
wunderungen der Fremden ſchuf“. (Heyck: Das Deutfchland von morgen. S. 74.)
Selbſt ſlawiſche Fürſten wurden damals Förderer des ehrlich bewunderten
Deutſchtums. f
Auch heute können wir die „Menſchheitsaufgaben“, die unſer Volk ſo gut
hat wie jede große Nation, nicht durch Wedeln vor dem, der von uns nichts wiſſen
will, erfüllen, ſondern nur eingedenk des Wortes Novalis' „Deutſchheit iſt Kosmo⸗
politismus mit der kräftigſten Individualität gemiſcht“. Pflegen wir
darum unſere Eigenheiten — zum Nutzen der Menſchheit! So haben ihr einſt
ſchon Friedrich Wilhelm I. und ſein noch größerer Sohn gedient, als ſie den durch
die verlodderten Bourbons entweihten monarchiſchen Gedanken wieder zu Ehren
brachten, wie dann wieder Wilhelm I. „Damals ſtiegen im Zeichen der monardi-
ſchen Führung die jungen und neu ſich formenden Nationen auf, begannen ſich
andere zu erholen, die von der Parteiung menſchenalterlang zerrüttet waren.“
(Heyck a. a. O.) Auch in dieſem Kriege hatten ſchon viele bewundernd auf uns
geblickt. Die unergründliche Weisheit des BSyſtems freilich ſah über ſolche Kund⸗
gebungen hinweg und trachtete, hinter den Feinden herlaufend, nach Verſtändi⸗
gung mit ihnen durch Beſeitigung unſerer Eigenart.
U
N
|
Rrauß: Friede 209
Gerade mit dem männlich ſtolzen England können wir uns nur verſtändigen,
wenn wir unſere Eigenart betonen und durch Machterweiterung uns Achtung
verſchaffen. a
| So bedarf es denn im Innern einer gründlichen Aufräumung, um an der-
ſelben Stelle wie einſt der Freiherr vom Stein wieder anzuknüpfen. Angeknüpft
aber hat er an die germaniſche Demokratie, wo von der Sippe bis zu dem Staate
ſelbſt alles Selbſtverwaltung bleibt. Hier gibt es keine Vermittlerſtände. Alles
it Gemeinſchaft, Verband. Für alle Angelegenheiten beſteht die Verbandsgemeinde,
die eigenfüßig zuſammentritt. Dies germaniſche Verfahren hat der Freiherr vom
Stein wieder aufgenommen. Und feine Geſetzgebung wies den Weg: von der Selbit-
verwaltung im kleineren zur umfaſſenden Selbſtregierung. Dann hat Bismarck
wieder daran gedacht, unſer Volk aus dem Elend des Parlamentarismus durch eine
Vertretung der Berufe herauszuführen. Und von anderen Erwägungen gelangten
andere Männer zu ähnlichen Vorſchlägen. Es ſei nur an den im 2. Oktoberheft
des „Türmers“ (1917) vom Freiherrn v. Grotthuß empfohlenen deutſchen Volksrat
erinnert. Und hat ſich nicht in den Sondergerichten des Wirtſchaftslebens eine
ſolche wahre Volksvertretung ſchon vorbereitet? Za, ſelbſt in unſeren Parlamenten
hat ſich dieſer Gedanke bereits Bahn gebrochen, jo daß entgegen dem Wortlaut
}
der Verfaſſung die ſozialdemokratiſchen Abgeordneten ſelbſt von der Regierung
als Vertreter der Arbeiter behandelt werden.
Zurzeit iſt unſere Volksvertretung der Schauplatz „phariſäiſch verdeckter
| Intereſſen“. Von der „offenen Intereſſenvertretung“ iſt eher gutſinnige Ver-
ſtändigung und Gemeinſinn und darum ſegensreiches Wirken für unſer Volk zu
erwarten.
Nach außen aber? „Deutſchland bedarf einer ſichtbaren, von ihm aus-
ſtrahlenden Geſchichtsidee. Wir hatten ſie unter Bismarck in der hochſichtbaren
—
= — —
„een
—
=
*
Verdienſtlichkeit der volkswurzelnden Monarchie. Und wir erneuern, verjüngen
ſie, indem wir damit die Aufrichtung der wahren Volksvertretung verbinden.“
Geyck: Parlament oder Volksvertretung? S. 10.)
Friede - Von Ernſt Krauß
Die Sonne iſt verſunken,
Das Meer liegt farbentrunken,
Die Dünen ruhn in zartem Sauch.
Der Abend will ſich neigen,
Und tiefer wird das Schweigen —
Nun, liebe Seele, ruhe auch.
ze
Der Türmer XX, 17 & 14
210 Duenfing: KNnabenkonzert
Knabenkonzert
Von B. Duenſing
„Nun ſo laßt uns tapfer ſtreiten,
Und ſoll ich den Tod erleiden“ — —
alle Eine, a fih dem guten Eindruck hingeben, 1 die der Kin-
der, die erſt ſchüchtern an den warmleuchtenden Wänden zu der Licht und Hoheit
ſtrahlenden Dede hinaufſehen und dann herab auf die eigne dürftige Kleidung;
daß ſie ſich wohltuend berührt finden. Daß ſie daſitzen, wie träumend in all der
Behaglichkeit. Still vertraulich, wie das jugendliche Alter gerne ſich mit Ver⸗
trauen anſchmiegt an die übergeordnete Kraft der Alteren, die die Beſtimmung
trifft über das große, weite, reiche, offne Leben, das für ſie die Zukunft iſt; über
fie ſelbſt. — —
And ſie fühlen ſich gehoben und geehrt! Denn ihretwegen kommt ein
jeder der reichgeſchmückten Leute, die zu der Türe hereindrängen und ſich geräufch-
voll unter gegenfeitigen Begrüßungen — denn fie ſcheinen ſich hier alle zu ten-
nen — in die ſamtenen Stühle niederlaſſen, nur ihretwegen. — —
Vorne vor dem Podium, auf dem ſonſt Künſtler von Ruf ſitzen, find eine
Reihe von Plätzen zurückbehalten, dort ſitzen nur Frauen. Zarte, bleiche und derbe,
robuſte Frauen, alle gleich darin, daß ſie äußerlich nicht in ihre Umgebung zu
paſſen ſcheinen: wie ein Mißton in einer vollendeten Harmonie der Farben wirken
ſie, wie eine Diſſonanz, die da ſein muß, weil ſie nach des Künſtlers Anordnung
ihre Berechtigung hat, und die man mit in den Kauf nimmt. Einige von ihnen
ſind beinah ärmlich gekleidet, andre fallen auf durch den nicht eben gejchmad-
vollen Putz: billig und leicht. Die meiſten ſind in kümmerliches Schwarz gekleidet.
Sieht man dieſen Frauen in die Augen, die ſuchend an den vor ihnen ſitzenden
Kindern hängen, ſo gewahrt man ein andres Zeichen ihrer Gleichheit. Sie alle
ſind Mütter. — —
Und dann beginnt das Konzert.
Viele hundert Kinder, Knaben, ſingen im Chor. Sie ſingen ein Lied von
tröſtlicher Zuverſicht zu dem, der die Lilien auf dem Felde kleidet und den Vögeln
unter dem Himmel ein Berater iſt.
Sie ſelbſt ſind junge, aus dem Neſt gefallene Vögel: Waiſen, denen der
Vater fehlt. Und darum ließ man ſie hier ſingen: ſchlecht und recht, wie es ihnen
eingeübt wurde. Ihr Schickſal iſt die Hauptſache. Und wenn ſie hier ſingen,
ſo iſt es für ihre eigene Zukunft, der der Berater fehlt, der Führer, der Freund,
an deſſen Leben ihr eignes anknüpfen ſollte in der Geſchlechter Reihe, bevor der
Faden riß und ſie hinausſchleuderte ins Meer der ungewiſſen Zukunft; obſchon
ihnen die ganze Grauſamkeit dieſer Tatſache nicht bekannt iſt.
4
Heibſieck: Grabfchrift auf ein Nriegerdenkmal 211 .
Sie ſingen — — voller Zuverſicht, leichten Sinnes, in den lichten, hellen
Raum hinein, unter den gerührten, freundlichen Mienen all der Hochgeſtellten,
Reichen und Mächtigen: es kann ihnen nicht fehlen! Fhnen und ihrer Zukunft.
Es iſt ja ein Band, das ſie alle umſchlingt, wie man ihnen geſagt hat, das
Band heißt: Vaterland, und dem gilt ihr zweites Lied, gläubig und fromm.
Viele hundert Knaben geloben dieſem Lande ihre Kindertreue — und ſie
glauben, was ſie ſingen. Wie könnte es anders ſein in dieſer Welt?
Sie geloben, zu ſterben, wie ihre Väter ſtarben für dieſes Vaterland — als
Helden.
Sie denken ihrer Väter, der Geweſenen. Oerer, die jung, in der Blüte ihrer
Jahre gefallen ſind; deren Andenken unter ihrem Sang vor uns aufwächſt groß
und erhaben. Und das Wachſen wird immer größer und erhabener werden mit
den Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtauſenden. Ihr Ruhm iſt unverwelllich.
Sie find geborgen vor Niedergang und Not ... Aber nicht ihre Nachkommen. —
Viele hundert kleine Abkömmlinge ſingen den Ruhm ihrer Vorgänger,
deren Fußſtapfen beſtimmt waren zu ihrer, der Kinder, Leitſpur; die nun die
Zeit verwehen wird. Die grauſame Zeit; die nichts davon laſſen wird als loſen
Sand, Steine und Geröll, die nichts übrig hat für die Abkömmlinge der Helden.
Die ſchnelle Zeit, die fo bald vergißt auch das heiligſte Vermächtnis von Toten. —
Hundert Knaben fingen den Abſchied ihrer Väter an das Leben. Das weiter-
geht mit uns, den Weggenoſſen derer, die ſie ſchutzlos laſſen mußten, als ſie
für alle ſtarben.
Sie laſſen die Seelen der Gefallenen vor uns aufſteigen im Liede, bevor
der Ruf verrauſcht, verklingt.
Verklingt wie der letzte Ton, das letzte Lied aus dem Chorgeſang der Un-
mündigen in dem reichen, vornehmen Saale, den die Hörer verlaſſen wie de Träu-
menden. — — —
Wer wird dieſen hundert Knaben Vater ſein?
n auf ein Kriegerdenkmal
Von Hans Heidſieck
Wandrer! wenn du hier verweilſt,
Falte ſtill die Hände;
Denke, eh' du weiter eilſt,
Einmal an dein Ende!
Suchſt du eigenen Gewinn,
Wirſt du raſtlos wandern. —
Dieſe gaben alles hin
Für das Wohl der andern.
DI
0
N
2
s
2
} a
2
. U
ed
\
\\
*
N 0 2
8 \
JAN U 5
N N
Heil⸗ und Anheilkunſt
Kulturgeſchichtliche Skizze
7
N icchwitzes, beſonders im 18. Jahrhundert, als der Rationalismus die ſeichte Kritik
aufkommen ließ. Die amtliche Feſtſtellung, daß heute von 100 Verwundeten nicht
weniger als 91 wieder dienſtfähig und einige achtzig für die Front verwendbar werden, muß
auch den giftigſten Witzbold verſtummen laſſen. Wer vollends hört, daß manche Lazarette
ganz ohne Verband, nur mittelſt einer bis ins kleinſte peinlich durchgeführten Aſepſis arbeiten
und die glänzendſten Refultate erzielen, fühlt ſich getrieben, vor der heutigen ärztlichen Kunſt
eine Verbeugung zu machen und ehrerbietig den Hut zu ziehen. Unfere Arzte — junge wie
alte — haben in dieſem heilloſen Weltwürgen Großes, Erhabenes geleiſtet und Beiſpiele von
aufopfernder Selbſtloſigkeit und Pflichttreue hingeſtellt, ſowohl vor Freunden wie vor Fein;
den, über die erſt die ſpätere Zeit das verdiente Lob ausgießen wird. Wenn mancher mitten
im gräßlichen Tumult der Grabenſchlacht 48 oder wohl gar 72 Stunden keinen Schlaf in die
Augen treten ließ, weil er ununterbrochen zu operieren und zu bandagieren hatte, ſo iſt das
noch keineswegs das Höͤchſte der ärztlichen Leiſtungen geweſen. Und wier vielen hat der Granat
regen das Schickſal bereitet, vor dem ihre raſche, heilbringende Fürſorge Hunderte ihrer Rame-
raden behütete! Auch ein Heldentum, das noch keinen würdigen Sänger gefunden hat. Es
iſt nicht zuviel gejagt, wenn man behauptet, daß wir dieſen Krieg nicht würden haben durch;
halten können, wenn nicht die moderne ärztliche Wiſſenſchaft die allermeiſten wieder
kampffähig hätte werden laſſen, welche die feindlichen Geſchoſſe hinſtreckten.
Das iſt die Frucht deutſchen Forſchergeiſtes, der auch in der Technik und chemiſchen
Technologie ſo vieles Groß geſchaffen hat und wohl auch ferner noch ſchaffen wird, die Frucht
jahrhundertelanger treuer Arbeit. Was im beſonderen die Chirurgie in dieſem Kriege geleiſtet
hat und jeden Tag ferner noch leiſtet, erfährt man am zuverläſſigſten aus einem Vortrage,
den der Breslauer Chirurg Geh. Rat Prof. Küttner über die Fortſchritte der Kriegschirurgie
gehalten hat, und der jetzt durch den Oruck allgemein zugänglich geworden iſt: man kann da-
bei wirklich von Wundern ſprechen.
Vor einem halben Zahrtaufend freilich Jah es in der deutſchen Medizin ſehr böſe aus,
noch ſchlimmer aber in den Zeiten des früheren Mittelalters, in denen ſich die italieniſchen,
franzöſiſchen und ſpaniſchen Hochſchulen bereits zu hoher Vollkommenheit entwickelt hatten.
Während hier die ärztliche Wiſſenſchaft auf den Lehren der römiſchen, mehr aber noch der
großen griechiſchen Heilkünſtler fortbaute, die ſpäter leider von den arabiſchen Empirikern
verdrängt wurden, trieben Scharlatane, Quackſalber und alchimiſtiſche Wundermänner ihr
Hell. und unhelltuntt | 213
unheilvolles Handwerk gemeinſam mit Zahnbrechern und Varktſchreiern, herumziehend auf
den Wochenmärkten der Städte und Flecken, und lockten durch plumpe Anreißer in buntem
poſſenhaften Aufputz die argloſen Toren mit Latwergen und Wundertränkchen ins Garn.
Wer die mittelalterliche Literatur ein wenig durchſtöbert, ſtößt überall auf die lächerlichſten Bei-
ſpiele von abergläubifchen und unſinnigen Hausrezepten und Sympathie -Ratſchlägen in Ralen-
dern und Flugblättern, in Arzeneibüchern und Geſundheitskatechismen, die neben den ſo⸗
genannten „Planeten“ und Geburtstagsdeutungen auf den Märkten einen ſehr gewinnbringen-
den Handelsgegenſtand bildeten. Eines der merkwürdigſten Produkte dieſer Gattung iſt das
aus dem Ende des 17. Jahrhunderts ſtammende „Flagellum salutis“ oder Heilung durch
Schläge in allerhand ſchweren Krankheiten von K. F. Paullini, einem ehemaligen Theologen,
der dann zur Heilkunde überging und Leibarzt des Biſchofs von Münſter wurde. Er verfaßte
auch die Schrift: „Heilſame Oreck- Apotheke“, wie nämlich durch Kot und Urin die meiſten
Krankheiten und Schäden glücklich geheilt werden, zwei Bände, die auf mittelalterlichen Prak-
tiken fußen und typiſche Beiſpiele der beſonders im 13. und 14. Jahrhundert im Schwange
geweſenen Schmutzquackſalberei darſtellen. Wer das Weſen jener Zeiten auf dieſe Bejonder-
heit hin in unterhaltender Art kennen lernen will, dem gibt wohl keine Schrift ein le
Bild von ihm als Baumbachs anmutige Erzählung „Truggold“.
Während die Medizin in Oeutſchland noch in tiefſter Finſternis ſtak, erblühte ihr in
gtalien ein prangender Frühling. Am Buſen von Päſtum, in der maleriſchen Stadt Salerno,
dem Hauptort des gleichnamigen, unter ſizilianiſcher Oberhoheit ſtehenden Fürſtentums,
entſtand um die Wende des erſten Zahrtauſends eine ſpäter, im Jahre 1213 zur Univerſität
ethobene, vorwiegend mit griechiſchen Gelehrten beſetzte Hochſchule, welche ſich alsbald im
ganzen Abendlande des größten Anſehens erfreute und aus allen Teilen Europas Studierende
herbeizog. Ganz im Gegenſatz zu der arabiſchen Medizin, der durch den Koran das anatomiſche
Studium des menſchlichen Organismus an der Leiche ſtrengſtens unterſagt war, und die da-
her mit ihren Lehren meiſt im Nebel tappte, wurde hier ſchon frühe der Anatomie die größte
Wichtigkeit zuerkannt und damit die Chirurgie auf eine bis dahin ungeahnte Höhe gebracht.
Diele Fürſten und Große begaben ſich dorthin, um für ſchwere Übel Heilung zu ſuchen. Ein
Biſchof Adalbert von Verdun hat ſchon im Jahre 984 die Hilfe der ſalernitaniſchen Arzte in
Anſpruch genommen, ebenſo der ſpätere Papſt Viktor II., der feinen Körper durch über-
mäßiges Nachtwachen und Zaften aufs äußerſte erjhöpft hatte. Wilhelm der Eroberer, der
nachherige Rönig von England, der im Kampfe eine hartnäckige Wunde davongetragen hatte,
zählte ebenfalls zu den Patienten der berühmten Pflanzſtätte der Heilkunſt. Am bekannteſten
don ihnen allen iſt jedoch der Ritter, deſſen tragiſches Geſchick der Minneſänger Hartmann
von der Aue und neuerdings Gerhart Hauptmann dichteriſch behandelt haben: der „arme
Heinrich“, ein Ausſätziger, dem Heilung verheißen war, wenn er das Herzblut einer reinen
Jungfrau, die ſich freiwillig für ihn opferte, tränke. Er pilgert mit der Tochter des Bauers,
bei dem er Zuflucht und Pflege gefunden, nach Salerno, um das Blutopfer vollziehen zu laſſen,
verbietet aber, daß der Arzt, als er das Meſſer anzuſetzen im Begriff ſteht, die tödliche Opera
tion ausführt, und geneſt dann ohne fie, weil er ſich vor Gott gedemütigt hat, worauf er das
Mägdlein zum Weibe nimmt. — Die Heilung der im Mittelalter außerordentlich häufigen
Seuche durch Trinken von Menſchenblut ſcheint ein weitverbreiteter Glaube geweſen zu ſein.
Einem ſagenhaften König Richard von England, der ebenfalls vom Ausſatz befallen war, ſoll
nach der Legende ein Jude als Arzt empfohlen haben, das Blut eines neugeborenen Knaben
zu einem Bade zu verwenden und das Herz des Opfers zu verzehren: auch ein Beiſpiel für
den entſetzlichen Wahn, deſſen Pflege man beſonders im Mittelalter den grauſam verfolgten
djraeliten böswillig andichtete.
Höchſt auffällig und erſtaunlich iſt die Tatſache, die Haeſer in feiner großartigen ©e-
ſchichte der Medizin bezeugt, daß nicht nur Männer als Profeſſoren an dem mediziniſchen
214 Heil- und Unheiltunſt
Kollegium von Salerno wirkten, ſondern auch Frauen, und zwar für das intereſſante Gebiet
der Heilkunde. Sie dozierten und praktizierten nicht bloß auf dem Felde der Geburtshilfe,
ſondern auch in der Chirurgie, und behandelten die ſexuellen Leiden ohne Unterſchied des Ge-
ſchlechts der Patienten, ein höchſt bezeichnender Beweis für die Unabhängigkeit der damali-
gen ſittlichen Anſchauungen von dem weiblichen Schamgefühl, das im ganzen Mittelalter
weit weniger als in der modernen Zeit entwickelt war. Unterhielt man ſich doch ſelbſt noch
zu Luthers Zeiten und auch fpäter noch in den ritterlichen Kreiſen mit den weiblichen An-
weſenden ganz offen und ohne jede Scheu über die damals neu aufgetauchte und entſetzliche
Verheerungen in allen Schichten der Bevölkerung anrichtende Lues, einer Folge der Ent-
deckung von Amerika, zu deren Opfern auch Ulrich von HYutten zählte.
Von Salerno aus verbreitete ſich die ärztliche, Wiſſenſchaft in alle Länder Europas,
zumal die Studierenden dort Stipendien empfingen und daher auch vom Auslande her in
anſehnlicher Zahl hinzuſtrömten. — Vielfach finden ſich ſogar hohe Geiſtliche unter den letzte;
ren, fo daß es nicht verwundern kann, wenn Biſchöfe und Abte unter der Zahl der Leibärzte
von Fürſten und Königen genannt werden; war doch auch fogar ein Biſchof von Salerno
der oberſte Leiter des mediziniſchen Kollegiums, das keineswegs eine geiſtliche, ſondern eine
weltliche Anſtalt darſtellte. Aber nicht allzulange währte die Glanzperiode der italieniſchen
Metropole der Medizin. Schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts war ihr Stern erblichen,
nachdem die arabiſche Pſeudomedizin ſich dort eingeniſtet hatte und andere Hochfchulen ent-
ſtanden waren, die gewaltige Anziehung übten. So vor allem Bologna, Padua, Piſa, Neapel
und zumal Montpellier, das an Stelle von Salerno der ſtarke Anziehungspunkt für auslän-
diſche Jünger der ärztlichen Wiſſenſchaft geworden war, namentlich für iſraelitiſche, die ſich
im Mittelalter mit beſonderer Vorliebe und rühmlichem Forſcherdrange auf die Heilkunde
warfen. Weder Paris noch die Fakultät von Lyon, noch weniger Wien konnten mit dieſer
Bildungsſtätte rivalifieren, deren Ruhm fo ſchnell wuchs, daß ſelbſt aus Deutſchland dort zahl-
reiche Hörer ſich einfanden, um den Doktorhut zu erwerben, denn von den deutſchen Uni-
verſitäten, unter denen am meiſten Prag (gegründet 1348) auf naturwiſſenſchaftlichem Ge⸗
biete bedeutete und das Zentrum des geſamten geiſtigen Lebens in Deutſchland wurde, er-
litt die Medizin eine jo arge Vernachläſſigung, daß felbft die größten Hochſchulen, wie Wien
(gegründet 1565), nicht mehr als drei, die meiſten ſogar nur zwei Profeſſoren beſaßen und
die Chirurgie gänzlich verwaiſt blieb. Heidelberg (gegr. 1386), Leipzig (1409) und
Tübingen (1477) zählten zu den letzteren, Greifswald (1456) mußte ſich ſogar mit nur einem
einzigen Lehrer begnügen! Kein Wunder, wenn die wiſſenſchaftlich gebildeten Arzte in Oeutſch⸗
land äußerſt ſelten waren, beſonders bis in das 15. Jahrhundert hinein, und die Bfufcher und
Latwergendoktoren, die aus dem Stande der Barbiere emporgekommenen Wundärzte, die
keine Spur von wiſſenſchaftlicher Erkenntnis der Funktionen der einzelnen Organe beſaßen,
ſondern all ihr Können aus der Erfahrung geſchöpft hatten, die übergroße Mehrheit bildeten,
welcher der Kranke als Verſuchskaninchen dienen mußte. Und doch waren die ſchweren Krank-
heiten, beſonders die Pocken, die Typhen, der „Schwarze Tod“ (Peſt), die Lues (zu Ende
des 15. Jahrhunderts) und außerdem zahlreiche innere Leiden, die man heute als bakterielle
Verſeuchungen anſieht, bei den ungünſtigen hygieniſchen Verhältniſſen des öffentlichen Lebens
ſo gefährliche Feinde, daß ſie zu ihrer Bewältigung eines kundigen, genügend vorgebildeten
Arztes unbedingt bedurften. Wie treffend hat Goethe es im „Fauſt“ mit wenigen Verſen
gekennzeichnet, was die Kulturgeſchichtſchreiber nur auf vielen Seiten könnten, indem er den
Univerſalmenſchen ſagen läßt:
f Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil' gen Kreiſe
In Redlichkeit, jedoch auf ſeine Weiſe,
Mit grillenhafter Mühe ſann;
Eſãſſiſches 215
Der in Geſellſchaft von Adepten
Sich in die ſchwarze Küche ſchloß
Und nach unendlichen Rezepten
Das Widrige zufammengoß ...
Hier war die Arzenei, die Patienten ſtarben,
Und niemand fragte, wer genas.
So haben wir mit hölliſchen Latwergen
In dieſen Tälern, dieſen Bergen
Weit ſchlimmer als die Peſt getobt.
So war es in der Tat. Aber wen kümmerte das? Eine Aufſicht und ſtrafrechtliche
verantwortung gab es für die Arzte nicht, nur die wenigen, von den Näten der Stadt in großen
Gemeinden angeſtellten, welchen die Armenpraxis oblag, und die oft auch nicht klüger als
die anderen waren, unterſtanden der Kontrolle der Stadtbehörde, die anderen konnten tun,
was ihnen beliebte. Junge Arzte und Totengräber werden daher auf den Spottbildern oft
Arm in Arm dargeſtellt. „Ein junger Arzt und ein hockeriger Kirchhof“ oder „ein junger Arzt
muß drei Rirhhöf’ haben“, waren mittelalterliche, weitverbreitete Spottſentenzen. Die Hono-
rare waren für jene Zeit nicht gering. Friedrich II. hatte eine Taxe aufſtellen laſſen, nach
welcher der Arzt bei mehrmaligem täglichen Krankenbeſuch 60 Pfennige erhalten ſollte; man
gewinnt einen Maßſtab für die Wertung dieſes Betrages durch die Angabe, daß im Jahre
1488 in der Stadt Schweinfurt eine Gans 8 Pfennig, ein Pfund Nindfleifh 3 Pfennig, ein
ganzer Ochſe 4 Gulden (6,50 &) koſtete, und daß der Tagelohn eines Handwerkers 6 Pfennig
und Verpflegung betrug! Zweihundert Jahre früher aber waren die Preiſe der Lebensmittel
noch weſentlich niedriger. Über die Heilmittel und die Art ihrer Verwendung vielleicht ſpäter
einmal einige höchſt intereſſante Einzelheiten.
A
Elſäſſiſches
1 N lie ſchon jo manches Mal in vergangenen Zeiten iſt die elſäſſiſch-lothringiſche Frage
65 in den Mittelpunkt auch dieſes ungeheuren Weltgeſchehens gerückt und zum
ſpringenden Punkt der Friedensfrage geworden.“ Dabei gibt es in der Tat
heute in Oeutſchland keinen wirklichen Deutſchen, der, aufs Gewiſſen befragt, anders antwor-
ten könnte, als: „Die elſäſſiſche Frage iſt nur noch eine innere deutſche Frage.“ Und von aller
ſittlichen und geiſtigen Überzeugung abgeſehen, muß auch die politiſche Vernunft einſehen,
daß „nur auf des Reiches Trümmern wieder ein franzöſiſches Elſaß- Lothringen zu erlangen
wäre. Aber wie einſt Preußens Zerſtückelung in Tilſit die große Wiedergeburt des am Boden
liegenden Staates und den Sturz des machtgewaltigen Kaiſers bewirkt hat, fo würde auch heute
eine Niederwerfung Oeutſchlands den Oauerfrieden nicht bringen, den die Entente als ihr an-
gebliches Kriegsziel proklamiert ... Eine Verſtändigung iſt dann und erſt dann und nur dann
möglich, wenn Frankreichs Volk einſieht, daß es auf falſchem Pfade ſich befindet, daß Deutfch-
land aus geſchichtlichen, aus militäriſchen, aus wirtſchaftlichen Gründen Elſaß-Lothringen nicht
mehr laſſen kann.“ Gerade in dieſer Erkenntnis aber darf der Oeutſche ſich dem eindringlichen
Studium der elſaß-lothringiſchen Frage nicht entziehen. Soviel feit 1871 in Deutſchland über
Elſaß-Lothringen geredet und geſchrieben worden iſt, einer tieferdringenden Auffaſſung des
Problems, einer eindringlicheren Kenntnis der geſamten geſchichtlichen, volkswirtſchaftlichen
Dr. Eugen Sierke-Braunſchweig
216 Eijäfifgee
und ſprachlichen Verhältniſſe ift man nur ganz ausnahmsweiſe begegnet, ganz zu ſchweigen
von den tiefer liegenden, nur ſchwer feſtzulegenden unwägbaren, aber gerade darum ſehr ſchwer
wiegenden pſychologiſchen Vorausſetzungen. Das muß anders werden. So klar wir uns dar-
über find, daß Elſaß-Lothringen keine internationale Angelegenheit mehr fein kann, fo ent-
ſchieden müffen wir uns dazu bekennen, daß es eine der wichtigſten innerdeutſchen Fragen iſt,
deren gute Löſung erreicht werden muß zum Heile dieſes wertvollen Beſtandteiles unſeres
Landes, zum Heile aber auch unſeres ganzen Vaterlandes.
Aus dieſer Überzeugung faſſe ich hier einige Bücher zuſammen, die auf ganz verſchiede⸗
nem Wege zu dieſem gleichen Ziele hinführen können. An erſter Stelle nenne ich das Buch,
dem die obigen Sätze entnommen find: „Anſer Recht auf Elſaß-Lothringen. Ein Sammel-
werk, herausgegeben von Dr. Karl Strupp“ (München und Leipzig, Duncker & Humblot;
6 4). Die Bezeichnung als Sammelwerk führt dabei etwas irre. Weder die Einleitung des
Bonner Rechtsgelehrten Philipp Zorn, noch das Schlußwort des Herausgebers haben viel
zu bedeuten. Wertvoller, wenn auch keineswegs erſchöpfend, iſt Ferdinand Wredes Abhand-
lung über die Sprachenfrage. Ganz ausgezeichnet aber und der weiteſten Verbreitung würdig
iſt die „Politiſche und kulturelle Geſchichte Elſaß- Lothringens“ aus der Feder des Straßburger
Profeſſors Dr. Karl Stählin — ein elſäſſiſcher Name —, der übrigens von den 230 Seiten
des Bandes beinahe 200 eingeräumt ſind. „Wie in einem Spiegel reflektiert das wechſelſeitige
Machtverhältnis des deutſchen und des franzöſiſchen Reiches in den Geſchicken unſeres Grenz
landes. Dieſe Beobachtung gilt von den Anfängen bis auf den heutigen Tag. Die Geſchichte
Elſaß-Lothringens iſt ſomit keine Provinzialgeſchichte im gewöhnlichen Sinn, ſondern fie ſteht
in den großen europälfhen Zuſammenhängen.“ Stählin weiß dice Zuſammenhänge glän-
zend herauszuarbeiten, und ſo dreht ſich um uns, während wir im Angelpunkte Elſaß-Lothringen
ſtehen, mehr als ein Jahrtauſend der bedeutſamſten europälſchen Staatengeſchichte. Die Fülle
der Bilder wird um ſo packender und wechſelvoller, weil für Elſaß und Lothringen, abgeſehen
vom gemeinſamen Schickſal paſſiver Art, beinah jedes Ereignis der inneren Verſchiedenheit
wegen auch eine verſchiedenartige Bedeutung gewinnt.
Die falſche oder unzureichende Beurteilung der elſäſſiſchen Frage auch bei den geſchicht
lich Geſchulten in Oeutſchland beruht auf der Verkennung der Bedeutung des franzöſiſchen
Revolutionszeitalters für die innere Wandlung im Elſaß. Ich habe darauf ſchon 1897 in mei-
nen in der „Täglichen Rundſchau“ veröffentlichten „Briefen eines Elſäſſers“ mit allem Nach-
druck hingewieſen und glaube nach meinen Erfahrungen der Beurteilung der Vergangenheit,
aber auch der Erkenntnis unſerer Zukunftsaufgaben einen guten Dienft zu erweifen, wenn ich
die hierher gehörigen Ausführungen Stählins abdrude: „Das Fahr 1789 iſt das Geburtsjahr
des modernen Elſaß. 1792, im Augenblick der Kriegserklärung an Sſterreich, erſchollen im
Straßburger Salon der Madame Dietrich zum erſtenmal die Klänge des Sturmliedes der Re⸗
volution, der Marſeillaiſe. Und das letzte kriegeriſche Ereignis des Jahres 1815 war die Über-
gabe der elſäſſiſchen Feſte Hüningen, die wie alles zur napoleoniſchen Epoche Gehörige von
der Legende umrankt wurde. So erſcheint das Elſaß von Anfang bis zum Ende wieder mit
dem ganzen Zeitraum verbunden. ... Die 26 Revolutions- und Kriegsjahre hatten zuwege
gebracht, was ein ganzes vorangegangenes Jahrhundert nicht vermocht hatte. Das Elſaß
ging aus ihnen verwandelt hervor. Es hatte ſich nicht nur politiſch nun völlig aſſimiliert, ſon⸗
dern, wenn auch noch unter Beibehaltung feiner deutſchen Sitte, einen Wechſel feiner natio-
nalen Idee vollzogen. Wie war das gekommen? Wir ſahen, wie die alte Stãdtemacht und
Stãdtekultur feit zweihundert Jahren zurückſank, wie über dem Rhein das alte Reich ſeit der
ſelben Zeit ſeinem Untergang entgegenſiechte und die Verbindung beider Teile wenigſtens
auf ſtaatlichem Gebiet gelockert und unterbrochen wurde. Aber das alles hätte nicht genügt.
Eine Kataſtrophe mußte kommen, um Gegenwart und Vergangenheit voneinander zu löfen,
und ſie kam: wie durch einen gewaltigen Bergſturz lagen die Erinnerungen an die eigene einſtige
Eſaſſiſches as 217
Glanzzeit und die einſtige Größe des Reiches verſchüttet. Was galten da noch Namen wie
Tauler oder Jakob Sturm oder Bucer? Und mit der neuen rein geiſtigen Größe des politiſch
abermals tief in den Staub getretenen Mutterlandes, einer Größe, die in ihrer jetzt ſchon voll“
zogenen Vermählung mit dem preußiſchen Staat die Grundlage der künftigen geſamtnationalen
Wiedergeburt werden ſollte, fehlte den allermeiſten jeder Zuſammenhang. Dafür waren ele-
mentar die unteren Kräfte entbunden und alle Schichten von einem Strom des Enthuſiasmus
durchflutet, wie er niemals zuvor erlebt war. Wie die Lothringer, jo hatten ſich mit altgermani-
ſcher Rampfesfreude die Alemannen des Elſaß in die Schlachten des großen Kriegshelden ge-
worfen, über die Länge und Breite des Kontinents hatten ſie unter ſeinen Fahnen geſtritten
und Lorbeer auf Lorbeer um ſie gewunden. Eine beſonders ſtattliche Reihe glänzender und
zumeiſt den unteren Ständen entſtammender Generäle hatten die beiden Grenzprovinzen auf-
zuweiſen: ein Ney, Oudinot, Victor, Gérard, Mouton, Duroc, Molitor waren Lothringer,
ein Lefebvre, Kellermann, Kleber, Rapp Elſäſſer. Dieſe Soldatennamen und an der Spitze
der Name des vergötterten Kaiſers ließen die Herzen des ganzen Volkes höher ſchlagen. Und
dieſe Begeiſterung in den Ländern des alten karolingiſchen Mittelreiches, die nun nach langer
Leidenszeit und Halbexiſtenz zwiſchen den Nachbarmächten ſich gewiſſermaßen zu eigener Welt-
geltung erwacht ſahen, klang zuſammen mit der Begeiſterung der franzöſiſchen Nation und ihrer
ee von Karl dem Großen: die Sehnſucht der langen Jahrhunderte ſchien in ihm und feinem
Univerſalreich erfullt, während das alte römiſche Reich, der falſche Erbe, endlich in Trümmern
lag. Aber nicht nur der gemeinſam erſtrittene Kriegsruhm war das Verbindende. Wenn wir
im Mittelalter das Elſaß im Gegenſatz zu Lothringen als Städteland bezeichnen konnten, ſo
muß doch geſagt werden daß im Unterſchied zu Altdeutſchland das Bauerntum dort bis heute
durch ſtändigeren Zuzug die ſtädtiſchen Elemente ergänzt. Der Grundzug dieſes alemanniſchen
Bauerntums nun, das jetzt erſt greifbarer in die neue Geſchichte eintritt, iſt wie der der ftäbti-
ſchen Maſſen ſelbſt durchaus demokratiſch, unſentimental, der nüchternen Wirklichkeit zugewandt.
Und dieſe Eigenſchaften der Volkspſyche trafen wiederum völlig überein mit der demokratiſch⸗
tationaliſtiſchen Srundſtimmung der Revolution und des Kaiſerreiches. In den Städten kam
der mit alledem in neues Anſehen gebrachte franzöſiſche Lebensſtil hinzu, um wenigſtens in
den oberen Kreiſen jetzt ſchon den Konnex noch enger zu geſtalten. Und die Adminiſtration eines
jo hervorragenden Präfekten wie Lezay-Marneſia in Straßburg mag da, gerade weil er zu-
gleich ein ſehr guter Kenner deutſchen Weſens war, das Shrige in hohem Maße beigetragen
haben. Auf dem Lande begann mit der Selbſtverwaltung der Gemeinden unter ihren Maires
ein bewußtes politiſches Leben. und Bauern- und Bürgertum — das iſt das letzte, aber mit
das Wichtigſte — gediehen zu neuer materieller Wohlfahrt.“
Wir dürfen nicht vergeſſen, daß wir 1871 dieſes neue Elſaß- Lothringen erobert haben
und nicht ein Staatengebilde, das nur in unſerer Phantaſie lebt. Um fo feſter mußte ſich unſere
Arbeit auf die urdeutſche Grundlage des elſäſſiſchen Volkstums ſtützen, im übrigen aber nur
dem hohen Leitbilde der Gerechtigkeit folgen.
Rein realpolitiſch genommen, hat Lujo Brentano wohl recht, daß die fehlerhafte deutſche
Politik Elſaß- Lothringen gegenüber ebenſowenig bei Manteuffel, wie bei Möller und Hohen-
lohe lag. „Bismarck hatte ihn gemacht, als er 1871 Elſaß- Lothringen Preußen nicht einver-
leibte.“ Bismarck hat ſich dabei entgegen feiner ganzen politiſchen Anſchauung von Gefühls-
rüdfichten auf die andern deutſchen Bundesſtaaten beſtimmen laſſen. Vielleicht lernen wir
aus dieſer trüben Erfahrung für das ähnliche Problem, dem wir jetzt im Baltikum gegenüber
ſtehen. Allerdings find auch fo von der Verwaltung des Reichslandes unglaubliche Fehler ge-
macht worden. Lujo Brentano kennzeichnet fie zum großen Teil ſehr gut in feinen „Elſäſſer
Erinnerungen“ (Berlin, Erich Reiß; 4 4). Aber Manteuffel berichtet er ein Urteil Knapps,
„ieine ganze Politik gegenüber den Elſäſſern ſei die eines Virtuoſen, der auf feiner Perſönlich⸗
keit geigt“. Wie alle Virtuoſen hat Manteuffel aus ſelbſtſüͤchtigen Gründen gehandelt. Die
218 Ä | erſaſſuches
Volkstümlichkeit, die er ſich fo gewann, ſchmeichelte feiner Selbſtgefälligkeit. Brentano kenn
zeichnet ſcharf und treffend die Notabeln- und Prälatenwirtſchaft — o Belgien !! —, die üble
Einrichtung des elſäſſiſchen Notariats, die Jagd verpachtungen, die fragwürdige ſoziale Leiſtung
des oberelſäſſiſchen Fabrikantentums in den ſeinerzeit vielgepriefenen Arbeiterwohnungen,
befonders aber verweilt er bei ſeinem Wirkungskreiſe, der Univerfität. Sehr lehrreich, auch
für die Erfahrungen jetzt im Kriege, iſt die ausführlich mitgeteilte Geſchichte des „Oeutſchen
Kunſtvereins“ im Elſaß, der nach einiger Zeit kläglich einging, weil die deutſche Regierung
die von den welſchen Notablen geſtützte „Société des amis des arts“ unterftüßte. Brentano
hatte mit großem Eifer dieſen Deutſchen Kunſtverein mitgegründet, ihm viel Arbeit gewidmet,
bis er ſchließlich verbittert ausgetreten iſt. Die Schlußzeilen dieſes Kapitels enthalten die Tragik
des im Elſaß wirkenden Altdeutſchen. „Die Geſchichte des Kunſtvereins Straßburgs iſt die
Geſchichte aller deutſchen Beſtrebungen im Elſaß zur Zeit, wo ich dort weilte, geweſen. Da-
her die Wiederholung derſelben Erſcheinungen bei jedem, der aus Altdeutſchland dorthin kam.
Ein jeder kam voll guten Willens, in der Erfüllung der geſtellten Aufgaben ſein Beſtes zu tun.
Aber je eifriger er war, deſto mehr Steine warf — die deutſche Verwaltung ihm in den Weg.
Denn deren oberſte Richtſchnur war nicht die Behandlung der Fragen nach ſachlichen Geſichts⸗
punkten, ſondern mit Rückſicht auf das Wohlgefallen franzöſiſch geſinnter Notabler, welche
die ihnen gebotenen Vorteile ausbeuteten, ohne etwas dafür zu geben. Die breite Maſſe des
Volkes aber, die man hätte gewinnen können, trieb man dieſen, die vielfach ſogar ihren Wohn-
ſitz, alle aber ihren Schwerpunkt in Paris hatten, auf ſolche Weife in die Arme“
| Zum Schluß unterſucht Brentano die Frage der künftigen Geſtaltung Elſaß-Lothrin-
gens. Die oben angeführte Bemerkung über Bismarcks 1871 begangenen Fehler läßt erwarten,
daß Brentano der Zuteilung Elſaß-Lothringens an einen deutſchen Bundesſtaat oder ſeiner
Aufteilung zwiſchen verſchiedenen derſelben zuneigen müßte. Er hat aber aus genauen Er-
forſchungen der jetzigen Lage und Stimmung die Überzeugung gewonnen, daß die Umgeftaltung
in einen ſelbſtändigen Bundesſtaat der einzige gangbare Weg für die Zukunft iſt. „Freilich
würde“, jo ſchließt er, „auch dieſe Ordnung allein zur inneren Gewinnung der Elſaß-Lothringer
nicht ausreichen.“ Und nun bereitet es mir doch ein eigenes Vergnügen, Gedankengänge und
Vorſchläge, um derentwillen ich vor zwanzig Jahren angegriffen und verlacht worden bin,
hier ganz getreu wiederzufinden: „Die Selbſtändigkeit Elſaß- Lothringens als deutſcher Bundes
ſtaat müßte von der Durchführung der Freizügigkeit für die Talente, für deren Betätigung
das Land ſelbſt zu klein iſt, begleitet ſein; denn nur bei einer wirklichen Durchführung ſolcher
Freizügigkeit, nicht nur verfaſſungsmäßig auf dem Papier, ſondern auch in der Handhabung
der Verfaſſungsparagraphen, iſt zu erwarten, daß jene Fülle von Familien beziehungen zwiſchen
Elſaß-Lothringen und Altdeutſchland entſtehen, die unerläßlich ſind, damit die Elſaß- Lothringer
in Deutſchland ihr Vaterland ſehen. Und auch jeder deutſche Bundesſtaat im einzelnen würde
von der Durchführung ſolcher Freizügigkeit den Vorteil ziehen, der das ganze Aufſteigen Breu-
ßens zum führenden Staate in Oeutſchland bedingt hat.“
Nur im Vorübergehen politiſche Fragen ftreift Friedrich Lienhard in feinem Erinne-
rungsbuche „Jugend jahre“ (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer; 3,50, geb. 4,50 4). Dennoch
wird man auch für die Erkenntnis des politiſchen Lebens im Elſaß ſeit 1870 aus dieſem Buche
eine Fülle wertvoller Bemerkungen und Lebenserfahrungen gewinnen und auch hier aufs
neue beftätigt finden, wie wenig unſere deutſche Regierung es verſtanden hat, ſich an jene zu
halten, die guten Willens waren. Im übrigen aber iſt Lienhards Buch vor allem eine Quelle
der Erkenntnis feiner Perſönlichkeit, die vom Standpunkte des Volkstums aus für uns aber
nicht nur um ihrer Künſtlerſchaft und edlen Menſchlichkeit willen wertvoll iſt, ſondern noch
mehr, weil hier ein noch unter franzöſiſcher Herrſchaft geborener Elſäſſer ſich das Deutſchtum
erobert. Es iſt zielbewußte Arbeit, unentwegt treuer Dienſt an einem Ideale und iſt darum
auch ein Deutichtum von edelſter Reinheit. Die äußeren Geſchehni ſe, die Lienhard von feinem
Elſaſſiſches 219
Lebenswege berichtet, wollen nicht viel bedeuten. Wenn man trotzdem im Znnerſten gepackt
und feſtgehalten wird, geſchieht es, weil hier ein Menſch mit allen Kräften danach ſtrebt, ſich
jenem Bilde, das er von feinem „Berufe“ in ſich trägt, möglichſt ähnlich zu machen. Wenn
man ſo will: ein Einſiedler in der Welt, aber nicht, weil er dieſe Welt nicht ſieht oder ſie haßt
und verachtet, ſondern weil er dieſer Welt am meiſten zu nutzen glaubt, wenn er ſein eigenes
Selbſt möglichſt rein entwickelt. Das ſchöne Buch empfiehlt ſich darum auch vor allem als
Geſchenk an Jugendliche. .
Durch Lienhards Buch find wir in die Welt des Künſtleriſchen geführt worden. Der
Krieg hat auch manchen Leuten, die gewohnheitsgemäß den Geſchichtsroman herabſetzten,
die Augen für feine Bedeutung geöffnet. Man hat einſehen gelernt, daß es um unſere ge-
ſchichtliche Verankerung in den großen Daſeinsaufgaben unſeres Volkes nicht ſo übel beſtellt
ſein könnte, wenn wir einen Schriftſteller wie Walter Scott hätten, deſſen Werke im gleichen
Maße zum feſten Wiſſensbeſitz unſeres Volkes gehörten, wie die des Schotten bei den Eng-
ländern. Aber auch ſchwierige Gegenwartsfragen ſollten häufiger in Romanform behandelt
werden. Das würde ganz von ſelbſt geſchehen, wenn unſer Volk und vor allem unſere Frauen-
welt lebhafteren Anteil an unſeren politiſchen Sorgen nähme. Im Krieg iſt das geſchehen,
und der Niederſchlag zeigt ſich auch ſofort in der Belletriſtik. So ſind in den Kriegsjahren
mehr belletriſtiſche Behandlungen der elſäſſiſchen Frage erſchienen, als in den vierzig Fahren
vorher zuſammengenommen. Auf zwei dieſer Bücher will ich in dieſem Zuſammenhange
hinweiſen. 6
Von dieſen iſt Maximilian Böttichers „Die Frephoffs“ (Leipzig, Grethlein
& Komp.; 5 4) ein echter Roman. Daß die Familiengeſchichte ins allgemein Politiſche hinauf⸗
wächſt, geſchieht nicht erſt durch den Krieg. Aber der Krieg erweift ſich auch hier als Klärer
verdunkelter und umnebelter Verhältniſſe. Er duldet nichts Halbes, verträgt in allen inneren
Dingen, die ja doch ausnahmslos im Volkstum verankert ſind, keine Neutralität und erſt recht
kein überlegenes Darüberſtehen. Die Ehe des deutſchen Offiziers von Freyhoff mit der Tochter
eines franzöſierten Elſäſſers Vizs (Wieſe) zermürbt ſich trotz der Liebe der beiden Gatten und
des Beſitzes dreier Kinder unter den zerſetzenden Einflüſſen des elſäſſiſchen „Ooppelkultur“-
Klimas. Es kommt ſchließlich auch zur äußeren Trennung der Gatten, wenn auch nicht zur
völligen Scheidung, und trotz der noch immer in beiden waltenden Liebe zueinander können
ſie ſich nicht zuſammenfinden, weil bei jeder Gelegenheit die nationalen Verſchledenheiten
ſich trennend dazwiſchenſchieben. Das greift natürlich auch auf die Kinder über, und ſo gelingt
es ſelbſt der hochgebildeten Lebensform aller Beteiligten nicht, über ein kühles Nebeneinander
hinauszukommen, das jeden Augenblick zu einem feindlichen Gegeneinander werden kann.
Die Hochzeitsfeier des älteſten, zum Vater ſtehenden Sohnes bringt die ganze Familie zu-
ſammen. Oahinein bricht der Krieg. In einer ſehr bewegten und vielfältigen Handlung,
die aber durchaus glaubhaft geführt wird, erleben wir über ſchwerſte äußere und innere Kämpfe
hinweg das Zuſammenfinden aller im deutſchen Geiſte. Das auch pſychologiſch gründlich durch;
gearbeitete Familienbild ſteht in einem außerordentlich reichen Kulturrahmen. Bötticher
hat vor allem die ſtädtiſchen Verhältniſſe des Elſaß, wie fie ſich zumal in den letzten fünfzehn
Sahren vor dem Kriege zum Schlechten entwickelt haben, gründlich ſtudiert. Das unbeil-
volle Treiben der Wetterld (warum der Deckname Abbé Orage?) und Genoſſen, die Wühl-
arbeit der franzöſiſchen Agenten, die törichte Schwäche der deutſchen Regierung, das im Grunde
gutgeſinnte, aber von hüben und drüben unſicher gemachte und in feinen Inſtinkten verwirrte
Volk iſt gut geſehen und ſicher gezeichnet. So erhebt ſich das Buch aus der Familiengeſchichte
zu einem wertvollen Zeitgemälde. Die echte Begeiſterung des Verfaſſers, die Schwungkraft
ſeiner Natur empfehlen es auch der reiferen Jugend.
Eine in Romanform eingekleidete politiſche Abhandlung über die elſäſſiſchen Zuſtände
iſt der Straßburger Roman „Ich warte ...“ von Niklaus Bruck (Stuttgart, Deutihe Ver-
220 „Notre Same“ als Oper
lags-Anſtalt; 5 4). Der Titel iſt nach einem bekannten Bilde des Elſäſſer Malers Henner,
das eine Elſäſſerin zeigt, die über die trennenden Grenzpfähle ſehnſüchtig nach Frankreich
blickt. Der Grundgedanke des Buches iſt, daß die wartende Elſäſſerin ihren Blick jetzt nach
Deutſchland richte: das innere Elſaß müſſe von Deutfchland noch erobert werden, was nur
durch ein Eingehen auf die elſäſſiſche Weſensart erreichbar iſt. Gerade in dieſem Falle zeigt
ſich der Wert der Romanform, weil hier ganz von ſelbſt die tauſend Kleinigkeiten des Lebens
und die Bedeutung des einzelnen Individuums herausgearbeitet werden konnen, die in einer
wiſſenſchaftlichen Abhandlung keinen rechten Platz haben, in Wirklichkeit aber faſt wichtiger
ſind, als die großen Maßnahmen. — Man würde ja nun in manchem mit Bruck rechten können.
Vielleicht daß er zu nachgiebig iſt und zu wenig daran denkt, daß ſchließlich die Elſäſſerin
nicht bloß abwartend zu ſitzen brauchte, ſondern auch einmal über den Rhein hinübergehen
könnte, um ſich zu überzeugen, daß drüben auch Menſchen wohnen. Aber das iſt Nebenſache
im Vergleich zu dem vielen Richtigen und Beherzigenswerten, was Bruck zu ſagen hat. Und
vor allem iſt fein Gedanke richtig, daß wir das größere Maß an gutem Willen aufbringen müſ⸗
ſen, weil es uns als Eroberern natürlich auch leichter fällt. So wünſche ich dem Buche viele
Leſer, denn es iſt dazu angetan, jedem einzelnen Oeutſchen beizubringen, daß er im Elſaß
mit jedem ſeiner Schritte einer außer ſeiner Perſon liegenden Aufgabe zu dienen hat, daß
ſein ganzes Benehmen in jedem einzelnen Zuge wichtig iſt, nicht nur für die Beurteilung ſeiner
ſelbſt, ſondern auch ſeines Volkes.
Daß aber viele Deutſche, wenn erſt wieder Friede iſt, das Elſaß aufſuchen und es wirk-
lich einmal kennen lernen, iſt aufs dringendſte zu wünſchen. Sie bringen damit kein Opfer,
denn der verwöhnte König Ludwig XIV. hat nicht umſonſt ausgerufen: „Welch ſchöner Gar-
ten!“ Wer Sinn für Schönheit hat, für die der Natur einer fruchtgeſegneten Ebene, für die
des weinbeſtandenen welligen Hügellandes, der hehren Waldungen und der trutzigen Berge;
wer Freude hat an alten Städten und romantiſchen Dörfchen und Sinn für köſtliche Bau-
denkmãler, der ſollte ſich bald zu einer Pilgerfahrt ins Elſaß entſchließen. Ein prächtiges Werbe
mittel iſt da der ſchmucke Band „Im Oberelſaß“, der dreißig Städtebilder und Landſchaf⸗
ten nach Originalradierungen von Roland Anheißer vereinigt (Leipzig, Breitkopf & Hät-
tel; 10 4). Die im Türmer ſchon oft geprieſene Kunſt dieſes trefflichen Meiſters bewährt
ſich aufs beſte an den kühnen Burgen, den edlen phantaſtiſchen Kirchen, den groß gefühlten
Plätzen und maleriſchen Stadtwinkeln der oberelſäſſiſchen Landſchaft.
Möchten doch recht viele Deutſche mit offenen Sinnen Wanderer im Elſaß werden!
Wirklich, das Volk iſt auch hier durchaus echtes Bodengewächs, dieſe ganze Welt iſt jo urdeutſch
und jo ſchön, daß ſich doch auch die Menſchen darin zuſammenfinden müſſen. Auch dieſes
Land fagt zu uns: „Ich warte.“ Es iſt an der Zeit, daß wir feine Erwartung erfüllen.
N Karl Storck
„Notre-Dame“ als Oper
94 s fällt dem heutigen Leſer nicht leicht, ſich durch Victor Hugos berühmteften Roman
5 N 2 durchzuarbeiten. Seine Handlung iſt ganz das, was wir heute als Küchenromantik
bezeichnen, und von den Geſtalten vermag keine mehr uns wirklich ans Herz zu
er Goethes Tagebuchurteil — er hat den Roman noch in feinem letzten Lebensjahre ge-
leſen — wird heute wohl ſelbſt von den ernſten franzöſiſchen Kritikern unterſchrieben werden:
„Verdruß an den Gliedermännern, die der Verfaſſer für Menſchen gibt, fie die abſurdeſten Ge-
bärden machen läßt, ſie peitſcht, foltert, von ihnen radotiert, uns aber in Verzweiflung ſetzt.
Es iſt eine widerwärtige, unmenſchliche Art von Kompoſition.“ Danach muß man ſich eigent-
lich ſehr wundern, daß heute noch ein deutſcher Komponiſt auf den Gedanken kommt, ſich aus
4
Notre · Dame“ als Oper 221
dieſem Erzeugnis einer für uns niemals lebendig geweſenen Phantaſtik die Grundlage für
eine Oper zu ſchaffen. Vielleicht aber iſt gerade das Verhältnis, in dem die große Maſſe der
Gebildeten heute zu Victor Hugos Roman ſteht, für die Verwertung zu einer Oper nicht un-
günſtig. Es weiß faſt keiner etwas Genaues von dem urſprünglichen Werk, aber gewiſſe Vor⸗
ſtellungen von feinen Hauptgeſtalten hat doch jeder irgendwie und irgendwoher überkommen.
Das iſt für die Operndichtung, die neben der Muſik keinen Raum hat, lange Charakterentwick-
lungen zu bringen, unbedingt eine Unterſtützung der Phantaſie, andererſeits find die Vor-
ſtellungen von den Originalgeſtalten doch nicht beſtimmt genug, um ſich gegen Umgeftaltungen
aufzulehnen, wie es bei uns z. B. gegen Gounods Fauſt und Gretchen oder gar Thomas’
„Mignon“ der Fall ift oder doch fein müßte.
Franz Schmidt, der ſich in Gemeinſchaft mit Leopold Wilk das Textbuch für ſeine
romantiſche Oper in zwei Aufzügen“ ſelbſt zurechtgearbeitet hat, nutzt dieſe Vorbedingungen
gtuͤndlich aus und läßt kaum eine Geſtalt jo, wie er fie beim Dichter vorgefunden hat. Auch
in den Sang der Handlung hat er kräftig eingegriffen, und man wird ihm zugeſtehen müffen,
daß er bei alledem gutes Gefühl und ſicheren Inſtinkt bewährt hat. Um fo mehr iſt es zu be-
dauern, daß die endgültige Geſtaltung des Textbuches nicht einem wirklichen Dichter in die
Hand gegeben worden iſt. Die mancherlei ſprachlichen Entgleiſungen könnte man noch hin⸗
nehmen, bedauerlicher iſt, daß das innere Räderwerk der Geſchehniſſe nicht feſt genug inein-
andergreift, und daß vor allem einige Andeutlichkeiten in der pſychologiſchen Begründung ver-
blleben ſind, die eine geübte Hand ſehr leicht hätte beſeitigen können. Immer wieder ſieht
man ein, wie gerade für die Oper das in früheren Zeiten, zumal bei den Italienern und Fran-
zoſen, übliche Verhältnis geradezu unentbehrlich iſt. Der Operntext hat ſeine beſonderen
Lebensbedingungen, die nur aus genauer Kenntnis erfüllbar find und vor allem auch ein
möglichſt enges Zuſammenarbeiten von Dichter und Komponiſt erheiſchen. So wie ein Seribe
zu den Meiſtern der Pariſer Oper im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts ſtand, wären
derartige Mängel, wie fie jetzt dem Notre Dame Textbuche Franz Schmidts anhaften, noch
bei den Proben beſeitigt worden.
Zch weiß, ich weiß, — das iſt kein hoher künſtleriſcher Standpunkt, und es iſt faſt frevent-
lich, nach Richard Wagner noch ſo zu ſprechen, aber wir werden doch allmählich einſehen müſſen,
daß der Fall Richard Wagner nur durch das beſondere Himmelsgeſchenk des Dichter-Muſikers
ermöglicht war, und müſſen einſehen, daß die Vermehrung unſeres Opernſpielplans mit wirk-
lich brauchbaren Werken nur auf dem ſchon früher mit naiver Klarheit von Mozart gekennzeich;
neten Wege zu erlangen iſt: „Bei einer Oper muß ſchlechterdings die Poeſie der Muſik ge-
horſame Tochter ſein. — Es iſt am beiten, wenn ein guter Komponiſt, der das Theater ver-
ſteht und ſelbſt etwas anzugeben imſtande iſt, und ein geſcheiter Poet als ein wahrer Phönix
zuſammenkommen.“ (13. Okt. 1781.)
Nun, Franz Schmidt iſt ſolch ein Muſiker, der etwas vom Theater verſteht. Der jetzige
Profeſſor in der Ausbildungsklaſſe für Klavier an der k. k. Akademie für Muſik in Wien (geb.
am 22. Dezember 1874 in Preßburg) hat achtzehn Jahre lang im Orcheſter der Wiener Hof-
oper geſeſſen. Er hat hier an Hunderten von Bühnenwerken beobachten können, worauf die
Lebensfähigkeit einer Oper beruht, und ſo menſchlich ergreifend Jahrzehnte hindurch das
Daſein dieſes Mannes tft, der in mühſamer Tagesfron ſich die Mittel gewinnt, um in den
kargen Feierſtunden feinem inneren Schaf fensdrange leben zu können, — zum leidenden Re-
formator und ungewohnte Kunſtwege gehenden Neuerer hat ſich Schmidt nie berufen gefühlt.
Dazu iſt er ein viel zu ſtarkes Muſikantenblut, das nur die Gelegenheit abwartet, um ſich aus-
zutoben. Und eine ſolche Gelegenheit zur Anbringung von Muſik iſt ihm die Oper, nicht ein
Muſikdrama im Wagnerſchen Sinne.
Wir brauchen dieſe Art Opern für unſern Spielplan. Mag fein, daß keine Ewigkeits-
werte auf dieſem Wege zu holen find, aber es wird auf ihm möglich fein, wie auf keinem andern,
22 Notre · Dame“ als Oper
Muſik ins zeitgenöſſiſche Leben hineinzutragen, und zwar eine Muſik, die aus dieſem gleich-
zeitigen Leben geſpeiſt iſt. Von Richard Wagners Werken abgeſehen und allenfalls Bizets
„Carmen“ und die eine beſondere, zum Teil von außerkünſtleriſchen Verhältniſſen bedingte
Stellung einnehmenden Werke Richard Straußens ausgenommen, gehören unfere ſämtlichen
Repertoirewerke einer vergangenen Zeit an. Alle neuen Schöpfungen kommen und vergehen
ſchnell wieder, vermögen ſich jedenfalls nicht dauernd im Spielplan feſtzuſetzen. Auch Wagner
und Bizet liegen ein und zwei Menſchenalter zurück. Das find durchaus ungeſunde Verhält-
niſſe, denen wir nur beikommen können, wenn wir uns klar bewußt ſind, daß die Oper in einem
ſonft unerhörten Maße von der Erfüllung praktiſcher Forderungen abhängig ift. In Franz
Schmidt iſt uns unbedingt ein Berufener erſtanden, dem es gelingen wird, unſeren Bühnen-
ſpielplan zu bereichern, ſobald die leidige Textfrage vernünftig gelöft wird.
In dieſer ſeiner erſten Oper iſt das nur bedingt der Fall, hauptſächlich weil ſich der
Komponiſt nicht hat entſchließen können, für eine ſeiner Geſtalten Partei zu nehmen. Er hat
ſie alle ſo ſehr ins Herz geſchloſſen, daß er lauter Haupthelden hat und ſeine Oper ebenſogut
Der Archidiakonus von Notre Dame, Quaſimodo, Oer Glöckner von Notre Dame, oder Esme-
ralda heißen könnte. Ja, für den erſten Teil des Werkes kämen noch Phöbus, der ſchöne Garde
offizier, oder Gringoir, der verbummelte Philoſoph und Dichter, in Betracht. Außer Phöbus,
der nichts anderes iſt als der in der Oper reichlich häufige unglüͤcklich- glücklich verliebte junge
Mann, iſt jede dieſer Geſtalten reichlich problematiſch, hat ihre für das volle Verſtändnis not-
wendige Vorgeſchichte und müßte ſich breiter ausleben, von zahlreicheren Seiten zeigen kön
nen, um die durch ihr Auftreten im Hörer geweckte Teilnahme wirklich zu befriedigen. Dazu
iſt für fünf Perſonen in einer einzigen Oper nicht Platz, und fo fühlt ſich der Zuhörer durch die
fremden Menſchen und abſonderlichen Geſchehniſſe bald mehr befremdet als ergriffen. ©
Das Dutzend Opern, das bereits in früheren Fahren den Inhalt des Romans nutzbar
zu machen geſucht hat, iſt dieſem Fehler nicht verfallen, ſondern ſtellte die ſchöne Zigeunerin
Esmeralda in den Mittelpunkt. Das hat Victor Hugo ſelbſt in der von ihm für die Allerwelts-
künſtlerin Louiſe Angélique Bertin bearbeiteten Oper getan, die 1836 in Paris und in der
deutſchen Bearbeitung der Birch-Pfeiffer auch in München zur Aufführung gelangte. Es
wird heute wohl nicht mehr möglich ſein, für dieſe einſt auch von den Malern viel verherrlichte
Schöne größere Teilnahme zu wecken, die alle ihr begegneten Männer durch ihre Schönheit be-
tört, ſie allenfalls auch aus Fährniſſen errettet, aber doch ins Unglück ſtürzt, ohne dabei irgend
etwas anderes zu tun, als tugendhaft zu ſein. ä
Aus ſeiner Titelwahl hatte ich die Hoffnung geſchöpft, daß Franz Schmidt verſucht habe,
die tiefſte Kraft in Victor Hugos Roman auszuſchöpfen und uns den geheimnisvollen Zauber,
den ein fo eigenartiges Kunſtwerk, wie ihn die Notre Dame-Kirche zu Paris auf ganze Ge⸗
ſchlechterfolgen auszuüben vermag, muſikaliſch nahezubringen verſuchen würde. Und als im
Vorſpiel die Holzbläſer ein in dieſer Tonübertragung ganz merkwürdig packendes Glocken
ſpiel vorführten, das in freier kanoniſcher Form und ohne alle auffällige Tonmalerei den
Stimmungsgehalt des Glodengeläutes vermittelte, ließ ich mich in meiner Erwartung noch
beſtärken. Aber leider hat fpäter die Notre-Dame-Kirche in dem Werke nur noch die Aufgabe,
wirkſame Dekorationen zu bieten. Und Schmidt hat ſeinen Titel wohl nur gewählt, weil er
eben möglichſt viel aus Victor Hugos Romanhandlung zu feiner Oper nutzbar machen wollte.
Dabei hat er in den Charakteren und auch in de Handlung einige glückliche Anderungen vor
genommen. Die wertvollſte iſt die Umwandlung Claude Frollos, der bei Victor Hugo nicht
bloß Erzdiakon, ſondern auch Erzſchuft iſt, der die ſchöne Zigeunerin Esmeralda nur deshalb
an den Galgen bringt, weil es ihm nicht gelungen iſt, ſie zu verführen. Bei Schmidt iſt der
Archidiakon ein würdiger, wenn auch fanatiſcher Prieſter, der einen verzweifelten Kampf
gegen die in ihm tobende Leidenſchaft zu Esmeralda führt. Deshalb braucht er nun auch nicht
am Morde des von ihrer Liebe begünftigten Phöbus beteiligt zu fein, iſt vielmehr davon über
Notte · Same“ als Oper N 225
zeugt, daß ſie den Gardeoffizier in den Hinterhalt gelockt hat. Seine Leidenſchaft verblendet
ihn nur inſofern, als er feiner im Gefängnis gewonnenen Überzeugung von Esmeraldas Un-
ſchuld nicht zu folgen wagt, ſondern ſich von den teufliſchen Künſten der Hexe für übertölpelt
hält. Leider hat Schmidt dieſe entſcheidende ſeeliſche Entwicklung des Prieſters nicht deutlich
genug herausgearbeitet, was ſich übrigens leicht nachholen ließe. Der ſchöne Phöbus wird
jetzt in ſeinem Stelldichein mit Esmeralda von deren unglücklichem Gatten Gringoir ermordet,
der ſich darauf ſelber in die Seine ſtürzt. Auch dieſe Handlung iſt nun begreiflich, da Gringoir
nur der Scheingatte Esmeraldas iſt, die ihn geheiratet hat, um ihn vor dem Zigeunergericht
zu retten. Natürlich kann uns dieſe Vorgeſchichte nur erzählt werden, in der Oper immer eine
mißliche Sache, da gewöhnlich die Hälfte nicht verſtanden wird, zumal wenn, wie hier, dann
die andere Perſon (Esmeralda) einem auch noch in einer erzählten Vorgeſchichte begründen
muß, daß ſie ſich dem armen Gringoir verſagt, weil ſie nach einer Zigeunerwahrſagung nur
als Zungfrau ihre Heimat wiederfinden werde. ö
Man ſieht, die Sache iſt beinah fo verzweifelt, wie die Vorgeſchichte in Verdis „Trou
badour“, und es hätte für Schmidt um jo näher gelegen, Esmeralda nur als Bewegungsmittel
der Handlung zu benutzen, als es ihm gelungen iſt, außer dem Erzdiakon auch das Halbtier
Quaſimodo packend zu geſtalten. Die Schlußſzene des Werkes, in der dieſe beiden abgrund-
tiefen verſchiedenen Männer einander entgegenſtehen, wirkt ſo packend, daß von ihr aus dem
Künſtler noch jetzt der Wunſch auftauchen ſollte, auf dieſe beiden Geſtalten hin die ganze Oper
neu aufzubauen. Beide find ſchon jetzt dämoniſch umwittert und könnten wie zwei Geſchöpfe
des geheimnisvoll-großen und doch auch ſchauerlich-phantaſtiſchen Notre Dame- Bauwerkes
herauswachſen.
Aber ich glaube, Franz Schmidt iſt nicht der Mann, ſich derartige Sorgen zu machen.
Dazu ift er viel zu ſehr Muſikant, das Wort im beſten Sinne genommen. Er konnte es ſicher
gar nicht abwarten, bis er den in ihm aufgehäuften Muſikreichtum ausſchütten konnte. Sein
ſchwerer Lebenskampf gönnte ihm nur wenig Muße zum eigenen Schaffen, und dann hat
er noch obendrein die Widrigkeiten bis zur Hefe auskoſten müſſen, die dem nicht über gute
Verbindungen oder ausreichende Geldmittel Berfügenden das Herauskommen mit größeren
Werten zu ſehr erſchweren. So kam er als ſchaffender Künſtler erſt im Jahre 1901 zum Worte
mit der fünf Jahre vorher geſchaffenen erſten Sinfonie, die trotz ihres ſchönen Erfolges in
Wien anderwärts nur wenig aufgeführt worden iſt. Dann iſt in den Jahren 1902 —1904 die
vorliegende Oper „Notre-Dame“ entſtanden, die, wie mir von einer dem Komponiſten nahe-
ſtehenden Seite geſchrieben wird, „zehn Jahre lang im Archiv der Wiener Hofoper lag, deren
Aufführung aber durch endloſe Intrigen hintertrieben wurde, bis ſie endlich 1914 durch Franz
Schalk durchgeſetzt wurde und einen durchſchlagenden Erfolg hatte“. Ich kannte den Kom-
poniſten bisher aus ſeiner zweiten Sinfonie in Es-Dur, die mich beim Eſſener Muſikfeſt 1914
in helle Freude verſetzte. (Vgl. Türmer, XVI. Jahrg., Heft 10.)
Daß die Oper in Wien einen „durchſchlagenden“ Erfolg hatte, der durch ihr Beharren
im Spielplan beſtätigt wird, während in Berlin das Publikum zwar ſehr achtungsvoll Beifall
ſpendete, aber doch nicht ſo recht von Herzen mitging, liegt ſicher nur zum geringſten Teil an
der jetzt ſehr geachteten Stellung ihres Schöpfers im Wiener Muſikleben; vielmehr beruht
der Unterſchied auf der urmuſikaliſchen Art des Wieners, der für dieſes Muſizieren aus Muſik-
fülle her und ganz aus dem Empfinden heraus viel beſſer eingeſtellt ift, als der doch immer
ſehr aufs Geiſtige ausſpähende Norddeutſche. Franz Schmidt ſteht auf der Linie Schubert-
Bruckner, man kann auch ruhig die Walzermeiſter dazunehmen, und ſeine ungariſche Heimat
hat ihm ein Verhältnis zur Zigeunermuſik gegeben, deſſen Früchte uns in dieſer Oper in köſt-
lichſter Form dargeboten werden. Es iſt ein völlig freies, ins Künſtleriſch-Sinfoniſche hinüber
ſtiliſiertes Abernehmen der Rhythmen- und Melodiegänge der Zigeunermuſik, ohne doch je-
mals ihre Sonderlichkeiten ſo zu betonen, daß ſie aus dem Geſamtrahmen herausfiele. Sonſt
224 „Notre-Dame” als Oper
iſt es nicht eben leicht, Schmidts Art zu umſchreiben. Das iſt wieder einmal Muſik, die man
durchaus hören muß, ein wohliges Schwelgen im Ton, ein Spielen aus der Seele des In
ſtruments heraus, wie es ſeit Mozart kaum mehr vorhanden geweſen iſt. Hier ſpürt man den
Mann, der ſelbſt im Orcheſter geſeſſen hat, der die Inſtrumente um ihrer Fähigkeiten willen
liebt, ihnen zu Dank ſchreibt und ihnen alle ihre Schönheiten abſchmeichelt. Damit hängt es
wohl zuſammen, daß Schmidts Stil weniger auf Kontrapunktik ausgeht, im Grunde ein
dauerndes „Variieren“ ift, wobei wir bedenken wollen, daß die Variation die natürlichſte Spiel-
form inſtrumentalen Muſizierens darſtellt. Schmidt iſt maleriſcher Zeichner, nicht Baumeiſter.
Linie und Farbe ſind ſeine Mittel, und am wohlſten fühlt er ſich, wenn er mit breitem Pinſel
in weitausholendem Schwunge große Dekorationen hinſetzen kann. Allerdings iſt ihm auch
das Sinnige, Intimere nicht verſagt, wie die Liebesſzene zwiſchen Phöbus und Esmeralda
beweiſt. Doch iſt es ſehr bezeichnend, daß einem die volle Schönheit dieſes Amſpielens einer
glücklichen Stunde erſt zum vollen Bewußtſein kommt, wenn Esmeralda im Kerker davon
träumt. Da iſt dann das Orcheſter allein. Noch liegt Schmidts Kraft ganz in dieſem, obwohl
er auch für die Singſtimme dankbar ſchreibt.
Die Berliner Aufführung brachte die Vorzüge des Werkes gut zur Geltung, da das
Orcheſter unter Dr. Stidrys Leitung berauſchend ſchön ſpielte. Von den Darſtellern muß
auch an dieſer Stelle, der das Eingehen auf in ihrer Wirkung örtlich beſchränkte Leiſtungen
fernliegt, Michael Bohnen genannt werden, der als Quaſimodo ſich wieder einmal als einen
jener ganz ſeltenen Schauſpielſänger erwies, die ihrem innerſten Berufe nach Menſchendar⸗
ſteller ſind mit dem Geſang als natürlichem Sprachmittel. Wenn die Berliner Hofoper dem
Werke Treue wahrt und es auf dem Spielplan hält, wird ſich die erſte Befremdung der Zu-
hörerſchaft bald legen, und wir werden eine wertvolle Bereicherung unſeres Spielplans zu
verzeichnen haben. Karl Storck
7
—
4 IN
N
x
N
N)
UN
Ne
\
WI
1 .
m + — * =
N
nn nn nn nn |
7 5
** *
. l
N
an h
4 8 7
* \
4 1
79 N . > N / ’ / 4)
2 . % 2 u HER —
0 TUN N
RUF: 9 2 De Il) \
2 W N ' — 2 N) I, SV
Sum
NN N
2
Der Krieg
t der Oeutſche in ſeinem Durchſchnitt politiſch wirklich blindgeboren?
Wenn man die troſtloſe Gleichgültigkeit beobachten muß, mit der
dieſer Deutſche — auch nach vier Weltkriegsjahren! — wichtigſten
IS) Lebensbelängen gegenüberſteht, ſich mit oberflächlichen Redens⸗
atten- abſpeiſen läßt, wo es in Wahrheit um den eigenen Kopf und Kragen geht,
dann könnte man ſchier verzweifeln! — Hat ſich in dem Verhältnis breiteſter Schich-
ten zu den Fragen und Vorgängen im verbündeten Sſterreich- Ungarn durch
den Krieg Weſentliches geändert? Werden nicht dieſe Dinge überwiegend auch
heute noch fo angeſehen, als ſeien fie lediglich „innere Angelegenheiten“ einer be-
freundeten Macht und gingen einen weiter nichts an? Und dabei ſchreit uns doch
jeder Tag die blutige Tatſache ins Ohr: Tua res agitur, um dein Schickſal geht es!
Nun find die innerpolitiſchen Verhältniſſe in Sſterreich an einem kritiſchen
Wendepunkte angelangt. „Die Tatſache,“ wird der „Deutſchen Zeitung“ von
ihrem Wiener Vertreter geſchrieben, „daß ſich der Miniſterpräſident Dr. v. Seid-
ler, der erſt kürzlich, nach feiner Auseinanderſetzung mit den Führern der Mittel-
und der Verfaſſungspartei des Herrenhauſes, einen Sieg der Regierung über
ihre Widerſacher hinauspoſaunen ließ, dazu entſchließen mußte, ſelbſt die weitere
Vertagung der Beratungen des Abgeordnetenhauſes zu wünſchen, weil eine
Klärung der Lage bis auf weiteres nicht zu erwarten ſteht, iſt wohl der deutlichſte
Beweis dafür, daß unſere ſogenannten ‚maßgebenden Kreiſe“ mit ihrem Latein
vollſtändig zu Ende find. Die Oeutſchen in Sſterreich haben gar keine Urſache,
darüber betrübt zu ſein, daß der Zuſammenbruch des Parlamentarismus immer
deutlicher in die Erſcheinung tritt. Das Fahr, das feit der Viedereinberufung
des öſterreichiſchen Neichsrats vergangen iſt, hat den deutſchen Parteien nur Ent-
täuſchungen und Demütigungen gebracht, und es wäre niemals ſo weit gekom-
men, daß in der Preſſe gegenwärtig von einer ‚deutſchen Frage“ in Sſter—
reich geſprochen wird, wo man früher von einer tſchechiſchen, einer füdflawi-
ſchen, einer ukrainiſchen geſprochen hat, wenn nicht die Deutſchen — zum großen
Teil durch die Schuld ihrer unfähigen Vertreter — ſeit Jahresfriſt ſo unendlich
Her Türmer XX, 17 15
226 Zürmers Tagebuch
viel an Geltung verloren hätten. Die Stimmung, wie fie in den verſchiedenen
Kundgebungen aus dem Lager der Sudeten- und der Alpendeutſchen zum Aus-
druck kommt, iſt gleichzeitig eine erbitterte und zu allem entſchloſſene. Sie ſteht
in dem fchroffiten Gegenſatz zu der ſchwachmütigen und ſchwankenden Haltung
der Mehrheit der deutſchen Abgeordneten, die die Erhaltung des Parlaments
unter allen Umſtänden wünſchen, weil ſie ſich durch deſſen Ausſchaltung in ihrer
Eigenſchaft als Berufspolitiker als ſchwer geſchädigt erachten würden. Das ſind
die ſelben Leute, die der neuen Geſchäftsordnung des Abgeordnetenhauſes zu—
ſtimmten, — trotzdem die grundlegende Forderung nach Feſtlegung der deutſchen
Verhandlungsſprache nicht durchgeſetzt werden konnte. Die Pauſchalierung
der Abgeordnetendiäten in bedeutend erhöhtem Ausmaße erſchien ihnen weit
wichtiger als die Anerkennung des einzig richtigen Grundſatzes, daß im Parla-
ment nur in einer Sprache, die ſelbſtverſtändlich keine andere als die deutſche ſein
könnte, verhandelt werden darf. |
Die deutſchen Parteien werden, wenn ſie nicht noch um 115 geringen Reſt
des Anſehens kommen wollen, den ſie bei der Bevölkerung noch beſitzen, ſich zu
einer vollſtändigen Wandlung in ihrer Haltung gegenüber der Regierung — wie
immer dieſe auch heißen mag — entſchließen müſſen. Es iſt höchſte Zeit dazu,
und längeres Zögern iſt nicht mehr am Platze. Es ſind Einflüſſe am Werke, die,
trotzdem es die Deutjchen an bedingungsloſer und opferwilligſter Hingabe an
die Intereſſen des Staates und auch der Opnaſtie nicht fehlen ließen, darauf hin-
arbeiten, die deutſche Bevölkerung unpatriotiſcher Geſinnungen zu verdächtigen,
weil ſie ſich über die Ereigniſſe, die mit dem Rücktritt des Grafen Czernin in
unmittelbarem Zuſammenhang ſtänden, ihre eigene Meinung gebildet haben und
dieſer auch unumwunden Ausdruck geben. Der deutſch feindliche Kurs, der
an den höchſten Stellen des Staates gegenwärtig herrſcht, iſt anläßlich
der Kundgebung der beiden die Mehrheit des Herrenhauſes bildenden Gruppen
dieſer Körperſchaft mit aller Deutlichkeit zum Vorſchein gekommen. Der wegen
dieſer Kundgebung mit ſeinem Rücktritt drohende Präſident des Herrenhauſes
Prinz Windiſchgrätz iſt durch den Kaiſer in geradezu auffallender Weife
ausgezeichnet worden. Die Nichtannahme ſeines Demiſſionsgeſuches wurde
durch die Wärme des Tones, durch die Betonung der vorbildlichen Treue“ des
Fürſten, der der Partei der Rechten des Herrenhauſes angehört, in der auch die
Tſchechen ſitzen, und durch die Schenkung des Bildniſſes des Monarchen mit
der Unterfchrift zu einer förmlichen Demonſtration. Damit ja kein Zweifel
darüber beſtehen könne, wurde dann noch durch ein offiziöſes Blatt, die ‚Wiener
Sonn- und Montags-Zeitung“, der Verfaſſungs- und der Mittelpartei des Herren-
hauſes wegen ihrer im Gegenſatze zu dem exemplariſchen Patriotismus des Fürſten
Windiſchgrätz und ſeiner Parteigenoſſen ſtehenden unbotmäßigen Haltung eine
förmliche Strafpredigt gehalten. So erlaubt man ſich die Deutſchen zu
behandeln, die die Laſten des Krieges vom erſten Tag an freudig auf
ſich genommen und mit einem Pflichtgefühl ſondergleichen getragen
haben. Wenn man ſich ſchon mit den Verſuchen beſchäftigt, die jetzt unternom⸗
men werden, um die Ereigniſſe der letzten Wochen in anderem Licht erſcheinen
Türmers Tagebuch | 227
zu laſſen, darf man auch an den Artikeln der ‚Reihspojt‘ nicht vorübergehen,
die — weil in beſonderem Auftrag — ſich der nichts weniger als angeneh-
men Aufgabe unterzogen hat, die Familie Parma-Bourbon unter ihren
Schutz zu nehmen und gegen jene ſehr zahlreichen und gewichtigen Stimmen
Stellung zu nehmen, die gegen den ebenſo großen als beklagenswerten Einfluß
Stellung nehmen, den dieſe Familie auf unſere Staatsangelegenheiten, auf die
Führung unſerer inneren und äußeren Politik ausübt.“
Was haben ſich aber auch unſere deutſchöͤſterreichiſchen Brüder alles bieten
laſſen, — nicht nur von der Wiener Regierung, ſondern auch von ihren eigenen,
ſelbſtgewählten parlamentariſchen Vertretern! „Mit einer ſchier unbegreiflichen
Langmut“, ſchildert Paul Samaſſa in einem Wiener Briefe der „Täglichen Rund-
ſchau“ die Lage, „haben die deutſchbürgerlichen Parteien bisher die Regierungs-
methoden des Miniſteriums Seidler ertragen; es iſt nicht richtig, daß die Regie-
kung nur infolge ihrer Energieloſigkeit die Treibereien der ſlawiſchen Parteien,
die ſich gegen den Staat, die öſterreichiſchen Deutſchen, aber auch gegen das Oeutſche
Reich richteten, geduldet habe. Das mag für den Miniſterpräſidenten gelten;
aber im Miniſterrate ſitzen deutſchfeindliche Perſönlichkeiten, die dieſe
Umtriebe nicht nur geduldet, ſondern geradezu gefördert haben. Zu
dieſen gehörte — man kann ſagen ſelbſtverſtändlich — in erſter Linie der ſlowe⸗
niſche Miniſter ohne Portefeuille Zolger, von dem es heißt, daß er aus dem
Kabinett ausſcheiden ſoll, dann der Miniſter des Innern, Graf Toggenburg,
und Graf Sylva -Tarouca, der in den letzten Jahren eine höchſt zweideutige
politiſche Rolle geſpielt hat, die gelegentlich wohl noch eingehender beleuchtet
zu werden verdient. Ein Gegengewicht in deutſcher Richtung fehlt dem
Miniſterium vollkommen ... Trotzdem haben die deutſchbürgerlichen Par-
teien dieſes Miniſterium ſeither unterſtützt, weil ſie, wie ſie immer erklärten, ſich
dem Staate in dieſer ſchweren Zeit nicht verſagen wollten. Die deutſchen Wähler-
ſchaften haben aber mit beſſerem SInftinkt erkannt, daß hier in unzuläſſiger Weiſe
Regierung mit Staat verwechſelt wurde, und daß, wenn die deutſchen Parteien
wirklich in erſter Linie das Intereſſe des Staates im Auge hatten, fie nichts Wich-
tigeres zu tun hatten, als auf die Entfernung des Miniſteriums Seidler zu dringen.
Sie konnten ſich ja direkt an die Krone wenden und dieſer Vorſchläge bezüglich
eines neuen Miniſteriums machen; mindeſtens mußten fie aber doch den maß-
gebenden Einfluß auf die Politik des Miniſteriums nehmen und dieſe nicht durch
jene Parteien beſtimmen laſſen, die dieſem die allerſchärfſte Oppoſition machten.
Sie bilden allein allerdings keine Mehrheit im Parlament; ſie konnten aber die
Verhandlungen mit Polen und Ukrainern mindeſtens mit ebenſo gutem Erfolg
in die Hand nehmen wie die Regierung, hätten dieſen Parteien unter Umſtänden
ſogar beſſere Bürgſchaften für die Erfüllung ihrer Wünſche bieten können.
Angeſichts dieſer Verhältniſſe hat ſich der deutſchen Bevölkerung eine Er-
regung bemächtigt, die an die Badeni-Tage erinnert. Dieſe ging nicht etwa auf
irgendeinen radikalen Flügel unter den Deutfchnationalen zurück (unter dem zu-
allerletzt etwa die fog. deutſchradikale Partei verſtanden werden könnte, die ihren
Radikalismus“ ſchon längſt in die Schublade gelegt hat); ich erinnere nur an die
228 Türmers Tagebuch
Vorgänge in Tirol, wo ſich alle deutſchen Parteien zuſammenfanden und der
chriſtlichſoziale Landeshauptmann Schraffl in der ſchärfſten Weiſe gegen das
Verhalten der Regierung in der Ernährungsfrage Stellung nahm. Auch dieſes
Verhalten läßt ſich nicht allein auf bureaukratiſche Unzulänglichkeiten zurückfüh⸗
ren, ſondern hat ſeinen politiſchen Hintergrund. Das deutſche Tirol und
Deutſchböhmen find ausgeſprochene Hungergebiete, im Tſchechiſch—
Böhmen find Nahrungsmittel reichlich vorhanden, die Regierung wagt
es aber aus Angſt vor den Tſchechen nicht, mit Requirierungen vorzugehen. Die
in dieſem Falle mehr regierungs- als partei-offiziöſe „Reichspoſt“ aber ſuchte die
Kundgebungen in Tirol möglichſt totzuſchweigen. Die zahlloſen Kundgebungen
der deutſchen Wählerſchaft haben ſchließlich die Abgeordneten doch etwas auf-
gerüttelt, und fie drängten nunmehr den Miniſterpräſidenten, ‚etwas zu tun‘.
Die ‚Sat‘ war nun die Vertagung des Parlaments, die Ankündigung der Kreis-
hauptmannſchaften in Böhmen und einige Äußerungen über die ſüdſlawiſche
Frage, die vom deutſchen Standpunkt recht anfechtbar find, weil fie ſich gegen-
ſeitig aufheben und außerdem wohl geeignet find, in Ungarn durchaus beredhtig-
ten Widerſpruch zu erwecken. Schält man den Kern der Sache heraus, ſo kann
man wohl als mannigfach verklauſulierte Anſicht des Miniſterpräſidenten an-
ſehen, daß er die Errichtung eines ſüdſlawiſchen Staates aus Kroatien, Dalmatien
und Bosnien für möglich hält, die Einbeziehung ‚jener Teile des öſterreichiſchen
Staatsgebiets, die auf dem Wege zur Adria liegen“ (alſo doch wohl Steiermarks,
Kärntens, Krains und des Küſtenlandes) aber für ausgeſchloſſen. Das iſt aller-
dings auch die vorherrſchende Anſchauung der Oeutſchen, die an ſich keinen Grund
haben, ſich gegen die Bildung eines einheitlichen Staats- oder Verwaltungsgebiets
aus den von Kroaten und Serben bewohnten Teilen der Monarchie zu widerſetzen.
Da dieſe aber zum Teil auf dem Wege zur Adria des ungariſchen Staates liegen,
fo kann man es den ungariſchen Politikern wohl nicht übelnehmen, wenn fie hier—
bei ein ſehr gewichtiges Wort mitzuſprechen wünſchen, und daß ſie es nicht ſehr
angenehm empfinden, wenn der öſterreichiſche Minifterpräfident hier Wechſel
ausſtellt, deren Honorierung Ungarn überlaſſen wird ...
Das, was jetzt kommen wird, kann man ſich leicht ausmalen: die Tſchechen
und Slowenen ſehen in den Erklärungen des Ninifterpräfidenten nur die Wir-
kung des von deutſcher Seite auf ihn ausgeübten Druckes und werden natürlich
ihrerſeits verſuchen, dieſen durch noch ſtärkeren Druck wettzumachen. Mit dieſem
Gedankengang ſtützen ſie ſich jedenfalls auf die bis jetzt gemachten Erfahrungen
und haben damit keineswegs unrecht. Was den Deutſchen heute als Gewinn
zufällt, iſt nichts Poſitives, denn auch die Errichtung der Kreishauptmannſchaften
in Böhmen iſt beſtenfalls der Ausdruck des Willens, etwas im Sinne der deutſchen
Forderungen zu tun; alles andere bedeutet aber nicht mehr, als das Einhalten
auf einer verhängnisvollen Bahn, aber keinen poſitiven Aufbau. Was dieſer
aber bringen müßte, hat die Erklärung der beiden Herrenhausparteien gegenüber
dem Miniſterpräſidenten ganz gut herausgearbeitet: die innere Politik muß mit
der äußeren in Einklang gebracht werden. Und das iſt der Punkt, wo auch der
korrekteſte“ Reichsdeutſche zur Anteilnahme an der Entwicklung der
Zürmers Tagebuch 229
Dinge bei uns genötigt iſt. Das iſt aber nicht durch irgendwelches kleine Flid-
werk, auch nicht durch Befriedigung einiger lokaler Wünſche der Deutſchen Öfter-
reichs zu erreichen, ſondern nur durch einen großzügigen Neuaufbau, der
freilich auf der Grundlage aufgeführt werden müßte, die ſchon Maria Thereſia
dem Staate gegeben hat, und die ihn manche Stürme überdauern ließ.“
Ein fo kluger und beſonnener Politiker wie der öſterreichiſche Reichsrats-
abgeordnete Franz Jeſſer bekennt ſogar (in der „Mitteleuropäiſchen Korreſpon-
denz“), das öſterreichiſche Staatsſchiff, auf dem die innerpolitiſche Fracht ver-
taut ſei, treibe mit reißender Schnelligkeit der Kataſtrophe zu: „Im Oeutſchen
Reiche hält man die tſchechiſchen und ſüdſlawiſchen Forderungen für Größen-
wahn. Dieſe Meinung iſt grundfalſch: ſo leidenſchaftlich die ſlawiſchen Völker
ſein mögen, hyſteriſch ſind ſie nicht. Ihre Forderungen ſind natürlich taktiſche
Übertreibungen, von der Erfüllung ihrer Grundforderung — der Aufrichtung
des böh miſchen Staates — ſind fie feſt überzeugt. Und dieſe Überzeugung
ſtützt ſich auf ganz beſtimmte Zuſagen, die ihnen von maßgebender Stelle
in bindender Weiſe gemacht wurden. Tſchechiſche Blätter haben ganz
offen von Reverſen geſprochen, die tſchechiſche Politiker dem Grafen
Czernin ausgeſtellt haben. Darin verpflichteten fie ſich, die ‚böhmiſche Frage“
nicht auf den Friedenskongreß zu bringen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ſie dieſe
Verpflichtung nicht ohne Gegenverpflichtung eingingen. Dieſe kann nur
in der Errichtung des böhmiſchen Staates, in der Föderaliſierung Hfter-
reichs beſtehen. Von dieſen Abmachungen erhielt Ungarn Kenntnis.
Vekerle erzwang dann vom Monarchen die feierliche Erklärung, daß
die Krone ihre ganze Macht gegen die flawifhen Aſpirationen auf
ungariſches Staatsgebiet anwenden und niemals in eine Föderaliſierung
Oſterreichs einwilligen werde.
Der öſterreichiſche Miniſterpräſident, Herr von Seidler, mußte dann die—
ſelbe Melodie im öſterreichiſchen Parlamente ſingen. Er gab in feierlichſter Weiſe
in beiden Häuſern des Reichsrates bekannt, daß die geplante Verfaſſungsreform
den Einheitsſtaat aufrecht erhalte und keine Auflöſung oder Teilung der Rron-
länder beabſichtige, daher auch nicht die Errichtung rein nationaler Provinzen,
daß ſie jedoch die nationale Autonomie innerhalb der Kronländer gewähren wolle.
Heute wiſſen wir, daß längſt das von Herrn Seidler eingeſetzte Verfaſſungskomitee
unter dem Einfluſſe des Miniſters Zolger die Errichtung einer illyriſchen Provinz
mit den von Steiermark und Kärnten abzutrennenden flawiſchen Teilen, ſowie
die Abtrennung Welſchtirols von Oeutſchtirol vorbereitet hatte. Herr v. Seidler
begnügte ſich jedoch nicht mit dieſem Täuſchungsverſuche — er ſuchte einen Keil
zwiſchen die deutſchen Parteien zu treiben, indem er den deutſchböͤhmiſchen Ab-
geordneten vorſpiegelte, die Regierung ſei nicht abgeneigt, die Provinz Deutfch-
böhmen zu errichten — allerdings müſſe fie dann auch die ſinngemäßen floweni-
ſchen Forderungen erfüllen. Dieſer Verſuch wäre beinahe geglückt — wenn nicht
andere Umjtände die Regierung gezwungen hätten, die Grundzüge der geplanten
Verfaſſungsreform endlich doch bekanntzugeben. Da ergab ſich denn nun, daß
wohl die illyriſche Provinz vorgeſehen war, nicht aber die deutſch-
250 Zürmers Tagebuch
böhmiſche! Herr von Seidler hat alſo nicht die volle Wahrheit gefagt, als er
ſich offiziell zum Programme der Unteilbarkeit der Kronländer bekannte.
In anderen Parlamenten hätte ein ſolcher Miniſterpräſident ausgeſpielt
gehabt, — im öfterreichiſchen Parlamente konnte er noch lange Zeit den deutſch⸗
freundlichen Biedermann ſpielen und ſich an Bierabenden von ‚übermannten‘
deutſchen Parteiführern als die Hoffnung Sſterreichs feiern laſſen. Sogar jetzt
noch ſcheint ſein Einfluß groß genug zu ſein, die deutſche Politik in ſeinem Sinne
zu beeinfluſſen. Er arbeitet nämlich mit dem bewährten Trick, die Erhaltung fei-
ner Regierung als ein Staatsintereſſe auszugeben. Das Kabinett des Herrn
von Seidler iſt der Staat Öfterreih — wenn wir ihm das Budget verweigern,
ſo verweigern wir es dem Staate, wenn wir es zu Falle bringen, ſo beſorgen
wir die Geſchäfte des feindlichen Auslandes, das an dem Zuſammenbruche des
Parlamentarismus in Sſterreich das größte Intereſſe habe.
Das glimmende Feuer des Wißtrauens der Bevölkerung iſt zu lohender
Flamme aufgeſchoſſen, als der Raiferbrief an den Prinzen Sixtus bekannt
wurde. Diesmal war die un verantwortliche Nebenregierung nicht mehr zu leug-
nen, diesmal war der Gegenſatz zwiſchen der offiziellen und der geheimen Poli-
tik aller Welt ſichtbar geworden. Endlich dämmerte ſelbſt dem einfachſten Manne
der innere Zuſammenhang dieſer geheimen äußeren Politik mit der
geheimen ſlawenfreundlichen inneren Politik auf. Heute weiß man, wer
das Einſchreiten gegen die aus der Kriegsgefangenſchaft zurückkehrenden hoch-
verräteriſchen Slawen verhindert, wer ſogar der kaiſerlichen Hilfs—
aktion in dem hungernden Deutſchböhmen mit Hilfe der ſtaatlichen Bureau-
kratie entgegenarbeitet und für Nordböhmen beſtimmte Nahrungs-
mittel in tſchechiſchen Stationen aufhält und an Prag überweiſt.
Das Volk fieht eine Ententeagentur am Hofe am Werke. Sein geſundes
Empfinden ſagt ihm, daß eine Beſſerung nur eintreten kann, wenn mit dem Syſtem
der Zweideutigkeiten, geheimen Verſprechungen, kurz, mit der Hintertreppen-
politik aufgeräumt wird. Es läßt ſich nicht mehr länger Herrn von Seidler als
eine ſakroſankte Perſon, als ein Sinnbild des Staates aufſchwätzen — es verlangt
vielmehr, daß die deutſchen Abgeordneten ſich endlich auf ihre wahren ſtaatlichen
Pflichten beſinnen. Sie beſtehen in der Beſeitigung aller Perſonen, die an dieſer
Hintertreppenpolitik teilgenommen haben, vor allem des Miniſterpräſidenten.
Der Vorſtand des deutſchen Nationalverbandes — wir behalten dieſen
Namen bei, obwohl er parteioffiziell nicht mehr angewendet wird — hat ſeine
bisherige und ſeine künftige Politik damit zu begründen verſucht, daß die Deutſchen
niemals eine ftaatsperneinende Politik machen dürfen. Dagegen hat ſich nun im
Verbande, aber auch im Volke, ein ſehr gefährlicher Widerſpruch erhoben — es
ſei entgegen der Meinung der Parteileitung Pflicht einer deutſchnationalen Poli-
tit, ihr Verhältnis zum Staate abhängig zu machen von dem Verhält—
niſſe des Staates zum deutſchen Volke. Die Gefahr dieſer Auffaſſung liegt
darin, daß die Deutſchen Sſterreichs nicht leicht dazu zu bringen fein werden, die
letzten Ronfequenzen zu ziehen — d. h. im äußerſten Falle zur Kündigung der
Staatstreue zu ſchreiten und gleich den Slawen eine Politik der Irredenta zu
Zürmers Tagebuch 231
beginnen. Will man aber dieſe letzte Konſequenz nicht ziehen, dann gleicht die
Drohung mit der bedingten Staatstreue einem Meſſer ohne Heft und Klinge.
Wenn man jedoch das Wort ‚Staat‘ erſetzt durch ‚Regierung‘, ſo wird man
den Notwendigkeiten einer kräftigen ſtaatlichen und völkiſchen Politik der Deutich-
öfterreiher am früheſten gerecht. N
Nicht eine vergängliche Regierung iſt der Staat, nicht einmal die Krone re-
präſentiert ihn allein, ſondern vor allem das Volk, das ihn geſchaffen und er-
halten, das deutſche Staatsvolk. Wir müſſen gleich den Madjaren der gan-
zen Welt immer wieder zurufen: Der Staat find wir! Wir wollen keine germani-
ſierende Gewaltherrſchaft ausüben, wir wollen aber auch nicht aus unſerer Stel-
lung verdrängt werden, damit einem mechaniſchen Gleichberechtigungsprinzip
entſprochen werde.
Weil wir den Staat Sſterreich — den in tauſend Jahren gewordenen —
vorwiegend repräſentieren, müſſen wir jede Regierung als ſtaatsfeindlich betrach-
ten, die an den natürlichen und geſchichtlichen Grundlagen rüttelt. Weil wir den
Staat wollen, müſſen wir die Entfernung des Kabinetts Seidler fordern, die Op-
poſition iſt daher geradezu eine ſtaatliche Pflicht. Wenn man uns damit ſchrecken
will, daß ohne unſere fernere unbedingte Regierungstreue ein parlamentariſches
Regime nicht aufrechtzuerhalten iſt, ſo ſollten wir der Regierung kaltblütig
den Rat geben, ſich eine Mehrheit aus den flawifhen Parteien und
der deutſchen Sozialdemokratie zu bilden.
Alle Bedenken über ſchädliche Rückwirkungen einer Parlamentskriſe auf die
militäriſche, finanzielle und diplomatiſche Lage ſind heute gegenſtandslos.
Die militäriſche Lage iſt günſtiger denn je — und damit auch die diplomatiſche.
Dieſe bleibt nur ſo lange ungünſtig, als die Entente mit der Hintertreppenpolitik
in der Monarchie rechnen kann. Darum muß endlich die Atmoſphäre in Wien
gereinigt werden — dabei aber kann man nicht mit Glacéhandſchuhen arbeiten,
ſondern muß ſich an das Rezept halten, daß zuzeiten ‚golöne Rückſichtsloſigkeiten“
geboten ſeien. Die deutſchen Parteien haben es bisher beim Mundſpitzen be-
wenden laſſen — jetzt werden ſie wohl endlich zur Ordnung pfeifen müſſen, wenn
ſie nicht mitſchuldig werden wollen an der Fortfriſtung korrupter ſtaatlicher
Zuſtände. | |
Die Kataſtrophe in der inneren Politik ift nach dem Zuſammenbruche der
äußeren Politik der Nebenregierung unaufhaltſam. Ze raſcher ſie eintritt und je
vollſtändiger ſie wird, deſto nützlicher wird ſie für den Staat und das deutſche
Volk werden.“
EN
lil Ar ma ra - TDartei
Wie Erzberger zu ſeinem Ein⸗
fluß gelangt iſt
wird von einer Zuſchrift aus Zentrums-
kreiſen in der „Köln. Ztg.“ angedeutet:
„Wenn man die Wurzeln des Einfluſſes,
den Erzberger heute noch beſitzt, bloßlegen
will, dann darf man noch folgendes nicht
vergeſſen. In ſeiner überaus einflußreichen
Stellung hat er viele perſönliche Ge—
fälligkeiten erweiſen können, deren Emp-
fänger ihm zu Dank verpflichtet wurden.
Durch ihn find auch in manchen Ämtern
viele zu Stellung und Würden ge—
kommen, die nun ſeine Partei halten.
Auch in der Partei ſind wohl manche ihm
durch allerhand von ihm geleiſtete Dienſte
verbunden. Ahnliches gilt von der ihm er-
gebenen Preſſe. Sein Einfluß reicht weit
und die Preſſe, über die er verfügt,
ebenfalls. Eine Erklärung der Perſönlich-
keit Erzbergers ſollte verſucht werden. Man
ſoll ihm den guten Willen, dem Lande zu
dienen, nicht abſtreiten. Er tut es ſo, wie er
es verſteht. Auf der andern Seite ſoll man
ſich hüten, in ihm den eigentlichen Leiter und
Lenker der deutſchen Politik zu ſehen. Das
iſt er nie geweſen und niemals weniger als
gerade heute. Wir können uns auf den Bund
des Grafen Hertling mit der Oberſten Heeres-
leitung verlaſſen. und noch ein Gedanke
drängt ſich auf: Die ganze Entwicklung des
Krieges macht die Dinge fo zwangsläufig, daß
einzelne Perſonen wie Erzberger ſie ent-
ſcheidend weder nach der einen noch nach
der andern Seite beeinfluſſen können.“
Für heute — ohne Kommentar. Auch
das Tatſächliche dieſer Mitteilungen genügt
vorderhand. Damit iſt der Fall Erzberger
aber noch lange nicht abgetan.
Was dem Baltenlande not tut
zuallernächſt not tut, wird von den „Stimmen
des Oſtens“ überzeugend dargelegt:
Es gibt, das bolſchewiſtiſch verſeuchte
Fabrikproletariat Rigas und Revals ab-
gerechnet, das einen verſchwindenden Bruch-
teil bedeutet, in dem agrariſchen Lande ge-
wiß niemand zwiſchen Memelfluß und Finni-
ſchem Meerbuſen, der die Befreiung von der
Moskowitertyrannei nicht dankbaren Herzens
empfände. Aber die Befreiten wollen nun
auch leben, wollen ihre Wirtſchaft, ihr Recht,
die Grundmauern ihrer künftigen Gemein-
ſchaft aufbauen, und ſie ſchweben immer noch
zwiſchen Himmel und Hölle und wiſſen einſt⸗
weilen nicht einmal, ob ſie nicht wieder zum
Inferno verdammt werden könnten. Für Kur-
land liegen die Verhältniſſe ja einigermaßen
klar. Aber die drei Provinzen gehören nun
einmal zuſammen und ſind nach Wirtſchaft
und völkiſcher Schichtung aufeinander an-
gewieſen. Der derzeitige Zuſtand indes reißt
fie in der unglüͤcklichſten Weiſe auseinander,
zerſchneidet nicht nur den lettiſchen Volks-
ſtamm, trennt auch, wenn ſchon in befcheide-
nerem Ausmaß, den Eſten von dem Eſten,
macht nicht nur die Wiederaufnahme des
wirtſchaftlichen, macht auch die primitiviten
Formen ſtaatlichen Lebens unmöglich. Hier
iſt die eine Gewalt zuſtändig, dort die andere.
Das hat dann die ganz natürliche Folge, daß
jeder beſtrebt iſt, unbequeme Dinge von ſich
abzuſchieben und fo und fo viele Fragen über-
haupt unentſchieden zu laſſen. Und daß viel-
Auf der Warte
fach noch Beſtimmungen herrſchen, die im
eroberten und beſetzten Feindesland wohl an-
gebracht find, die aber, wie die annoch man-
gelnde Freizügigkeit, in einem Gebiet einiger-
maßen ihren Sinn verloren, das ſeine Zukunft
im engſten Anſchluß an das Deutsche Reich
zu geſtalten ſtrebt.
Die Oſtſeelande haben ſelber alles getan,
was zu tun ihnen möglich war. Nach dem
Vorgang Kurlands haben auch die geordne-
ten Vertretungen Livlands und Eſtlands den
Wunſch nach einer Angliederung an Deutich-
land ausgeſprochen und ihn in feierlicher Ab-
ordnung dem Kanzler übermittelt. Jetzt muß
das Reich den Liv- und Eſtländern helfen,
das Verhältnis zu Großrußland zu löſen. Sie
ſelbſt beſitzen ja einſtweilen gar nicht die
Organe, die Löſung diplomatiſch zu betrei-
ben. Das ift das erſte, das Dringlichſte, das
nachgerad e unaufſchiebbar Gewordene. Statt
deſſen iſt bisher nicht einmal der Friedens-
vertrag von Breſt-Litowfk im Reichsgeſetzblatt
publiziert worden, und auch, wo der beſte Wille
vorhanden iſt, ſind die Behörden nicht in der
Lage, die Rechtsfolgen aus ihm für die unglüd-
lichen Bewohner der Baltenmark zu ziehen.
Manche meinen: die von den Landesver-
tretungen der drei Provinzen angeſtrebte
Perſonalunion erſchwere einigermaßen die
Lage. Solange in Preußen der Streit um
das Wahlrecht währe, würde man an die
Entſcheidung dieſer Frage nicht herangehen
mögen. Dazu wird zu ſagen ſein, was wir
hier immer geſagt haben: die Perſonalunion,
die den König von Preußen zum Herrſcher
ihres Landes macht, iſt ein inniger Wunſch
baltiſcher Herzen. Höher aber ſteht der Be-
völkerung der Baltenmark, die in unſagbar
ſchwerer Leidensſchule gelernt hat, politiſch
zu denken, die Realunion, die Verankerung
und Feſtigung ihrer Fnſtitutionen, der ſchon
beſtehenden und der noch zu ſchaffenden, im
Anſchluß an das Deutfhe Reich. Und ganz
allgemein glaubt man im Baltikum: es wäre
ſtatthaft, gewiſſe Möglichkeiten für den Auf⸗
bau feiner Staatlichkeit ſchon jetzt zu gewäh-
ren und es einer ſpäteren Friſt zu überlaſſen,
den Bau durch die erſehnte monardifche
Spitze zu krönen.
233
Noch einmal: die Baltenmark muß leben.
And gerade, weil ſie befreit iſt, will ſie leben.
Es handelt ſich da nicht nur (oder vielleicht
überhaupt nicht) um die Oeutſchbalten. Die
ſind an Opfer und Entſagen gewöhnt und
werden, nun ſich der Himmel über fie ent-
wölkt hat, ſicher in Geduld und Ergebung
und in dem hoffnungsfrohen Optimismus,
der ein Erbteil ihres Blutes iſt, noch weiter
harren. Aber mit ihnen ſiedeln auf der glei-
chen Scholle Letten und Eſten, und deren
Stimmung, die zurzeit uns noch überwiegend
günſtig iſt, gilt es zu erhalten. Das iſt der
Punkt, in dem reichsdeutſche und baltiſche
Intereſſen ſich berühren.
Bodenſchaͤtze im Baltenlande
ie große wirtſchaftliche Bedeutung der
Oſtſeeprovinzen, die mit ihrem frucht
baren Boden und ihren herrlichen Waldun-
gen an Steuerkraft und Hektarerträgen alle
anderen Teile des ehemaligen Rußlands weit
übertreffen, iſt während der letzten Jahre
ſchon oft und eingehend erörtert worden.
Auf einen Umſtand, über den bisher noch
faſt nichts in die Öffentlichkeit gedrungen iſt,
lenkt Dr. Frhr. von Roſen in der Monats-
ſchrift „Oeutſchlands Erneuerung“ die Auf-
merkſamkeit: auf die reichen mine raliſchen
Bodenſchätze Eſtlands. In dieſer Provinz
finden ſich nämlich, abgeſehen von der bereits
ſehr entwickelten Induſtrie von Torf, Ziegeln,
Zement, den Marmorbrüchen und der
Porzellanerde, noch gewaltige, 2 Williar-
den Kubikmeter liefernde Lager von Brand-
ſchiefer mit 20% naphthaartigem Öl und
großen Mengen Leuchtgas, ſowie noch
mächtigere Phosphatlager, die hauptſäch-
lich aus 5 Milliarden Kubikmeter phosphor-
ſaurem Kalk beſtehen. Die nördlichſte und
unfruchtbarſte der drei baltiſchen Provinzen
iſt demnach überreich an einem Roh-
ſtoff, der für die Land wirtſchaft die
größte Bedeutung hat und in Oeutſch—
land, abgeſehen von verſchwindend geringen
Mengen in Württemberg, gar nicht ver-
treten iſt.
*
4 “
—
234
Bahern und Tirol
ie Wiener Regierung hatte über 800
für Tirol beſtimmte Waggons baye-
riſcher Kartoffeln bis auf einen Reſt von 175
Waggons zuungunſten Tirols verfügt,
ohne die Tiroler hiervon zu benachrichtigen.
Nur einem Zufalle war es zu verdanken,
daß auch nur der kleine Reſt von 175 Wag-
gons für Tirol gerettet werden konnte!
Dieſes Verhalten der Wiener Regierung
hat natürlich große Aufregung verurſacht.
So wurde, nach einer Orahtung an die „T.
R.“ aus München, vom Alldeutſchen Ver-
ein für Bozen und Südtirol eine Entſchließung
gefaßt, die im Sinne des deutſchtiroler Volkes
entrüſteten Einſpruch gegen eine ſolche Be-
handlung erhebt. Empörend ſei es, daß ſich
ein k. u. k. Amt, das Wiener Volksernährungs-
amt, dazu herbeiläßt und ſich der Aus-
hungerungspolitik des deutſch-öſter-
reichiſchen Volkes durch die Slawen
förmlich anſchließt. Die deutſchen Ab-
geordneten werden erſucht, mit allen Mitteln
das Syſtem Seidler ſamt ſeiner Verwal-
tung endlich hinwegzufegen. An die Deutſch⸗
tiroler erging der Aufruf, auch die letzte
RNückſicht fallen zu laffen und Bayern
zu bitten, die Tiroler dadurch vor dem
völligen Untergang zu bewahren, daß
Bayern die dauernde Aufnahme Tirols
in das Wirtſchaftsgebiet Deutſchlands
herbeiführe.
3h mußte mich bei dieſer, wenn auch
freien Wiedergabe an die Wortbeſtimmung
„Oeutſchtiroler“ halten. Aber gibt es einen
treubeutſcheren Volksſtamm, als die Tiroler?
(Auch die „Welſchtiroler“ find ja zum aller-
größten Teil nur verwelſchte Deutſche.) Und
nun gar Tiroler und Bayern! Sind ſie nicht
ſogar im engeren Sinne eine Volksfamilie,
wie etwa die Niederſachſen in Weſtfalen,
Hannover, den lippeſchen und Braunſchweiger
Landen bis zu den Hanſeaten in Bremen,
Hamburg, Lübeck und noch eine ganze Strecke
nach Oft und Nord, nach Weit und Süd
weiter? |
Bleiben wir aber — in dieſem engeren
Rahmen — bei den Bayern und Zirolern.
[4
Auf der Warte
Seit wann ſollen ſie nicht mehr des ſelben
Stammes fein? |
Wenn Oeutſch-Oſterreich an dieſem Kriege
zugrunde ginge — nein, auch nur zur Ohn-
macht gegen ein üͤbermächtiges Slawentum
verurteilt würde, dann hätte „Deutſchland“
ſich allerdings, „großzügig“, wie Dumme
immer ſind, für die „Menſchheit“ geopfert.
Der Japaner würde nicht einmal anerkennen:
Harakiri gemacht. Denn dieſe Sache wäre ihm
denn doch zu dumm.
Aber — ein ſchlimmer Troſt — die „Mon-
archie“ wäre nicht beſſer dran. Sie würde
durch eine Reihe ſelbſtändiger flawifcher
Staaten abgelöft werden, bei denen Derftänd-
nis für irgendwelche Familienintereſſen kaum
vorauszuſetzen wäre.
Iſt denn aber noch, kein deutſcher Staats-
mann darauf verfallen, daß in dieſem Spiele
auch ein tieferer Sinn liegen könnte? Man
ſehe ſich daraufhin einmal die von „uns“
unter Führung der „Monarchie“ „getätig-
ten“ Friedensperhandlungen und abſchluͤſſe
an
**
Wozu in die Ferne ſchweifen?
As Stalien“, ſtellt mit Bedauern Gene-
1 ral z. O. von Liebert feft, „verlautet
leider noch immer keine Kunde von neuen
Taten unferer Bundesgenoſſen. Den Geg-
nern iſt es nicht nur ermöglicht, die franzö⸗
ſiſchen und britiſchen Diviſionen wieder nach
Flandern zurückzurufen, ſondern ſogar ita-
lieniſche Truppenverbände dorthin zu fen-
den.“
Die Tatſache brauchte nicht erſt feſtgeſtellt
zu werden, aber es ſchadet nicht, daß ein hoher
Militär fie in aller Öffentlichkeit (7. Mai) aus-
geſprochen hat.
Und doch geht alles ganz natürlich zu,
man darf nur nicht zu hoch greifen. Auch
der treueſte deutſche und öſterreichiſche Pa-
triot wird nicht beſtreiten können, daß zwiſchen
Makkaronis und Parmeſankäſe eine gewiſſe
Wahlverwandtſchaft beſteht. Selbſtverſtändlich
nur gaſtronomiſche, aber um fo natürlichere.
And wenn daneben noch Heinrichs IV. mit
Recht berühmt es franzöſiſches , Huhn im Topfe“
Auf der Warte
liegt? — „Wozu in die Ferne ſchweifen?
Sieh, das Gute liegt ſo nah.“ Gr.
Noch eine Erinnerung an Herrn
von Bethmann Hollweg
ei Kriegsausbruch flüchtete der ſozial-
demokratiſche Agitator Münzenberg
aus Erfurt, 25 Jahre alt, um ſich der Heeres-
pflicht zu entziehen, nach der Schweiz, machte
ſich dort wichtig, wurde vor Zahresfriſt von
den ſchweizeriſchen Genoſſen als Vertreter
zu den Stockholmer Beſprechungen auserſehen,
und Herr von Bethmann Hollweg nahm
keinen Anſtand, dieſem Deferteurfreies
Geleit durch Deutſchland zuzuſichern!
Znzwiſchen iſt Münzenberg von feinem
Schickſal ereilt und wegen antimilitariſtiſcher
Umtriebe, wegen Aufreizung junger Leute
zur Verweigerung ihrer Dienſtpflicht und
wegen revolutionärer Bearbeitung der Schul-
jugend vom Bundesrat aus der Schweiz aus-
gewieſen worden. Bei ſeiner Rückkehr nach
Deutfchland wird er mit offenen Armen emp-
fangen werden, aber nicht von Herrn von
Bethmann Hollweg und feinen Paladinen,
ſondern von der zuſtändigen Heeresſtelle.
4 P. D.
England und Elſaß⸗Lothringen
is um die Wende des Jahrhunderts
dachte kein engliſcher Staatsmann
daran, für die franzöſiſchen Hoffnungen und
Pläne auf Elſaß-Lothringen einzutreten.
Nach Sedan hatten leitende Londoner Blätter
mit „Times“ und „Daily News“ an der Spitze
die Wiederangliederung Elſaß- Lothringens an
Deutſchland begrüßt, und noch im Jahr 1894
fand der angeſehene engliſche Politiker William
Harbutt Dawſon mit feinem zweibändigen
Werk „Germany and the Germans“ (Lon-
don 1894), auf Grund umfaſſender Studien-
reiſen in Oeutſchland geſchrieben, Beachtung
und Zuſtimmung. In dieſem Werk wies
Dawſon Frankreichs Anſprüche auf Elſaß⸗
Lothringen nachdrücklich zurück. Er ſchrieb:
„Eine Lieblingsbehauptung der Franzofen-
freunde geht dahin, die Beſetzung Elſaß⸗
Lothringens durch die Deutſchen ſei eine
255
ſtehende Bedrohung des europäiſchen Frie-
dens. Es wäre viel richtiger, zu ſagen, daß
die Weigerung Frankreichs, die Entſcheidung
eines Krieges, den es ſelbſt ſuchte, anzuneh-
men, mit anderen Worten: den Gedanken der
Vergeltung aufzugeben, die wahre Quelle
aller Beunruhigung iſt .. Was Deutſchland
mit Waffengewalt und unter ſchrecklichen
Opfern an Leben und Gut gewonnen hat,
was ihm durch feierlichen Vertrag zugeſichert
iſt, das wird es behalten und nötigenfalls
verteidigen, bis der letzte pommerſche Grena-
dier fein Blut vergoſſen und der Zuliusturm
den letzten Groſchen ausgeſpien hat. Deutfch-
land wird in der Tat tun, was Frankreich,
was jeder andere Staat an ſeiner Stelle täte.
Es würde viel zur größeren Ruhe Europas
beitragen, wenn einerſeits Frankreich ſich mit
der Gewißheit ausſöhnen wollte, daß Elfaß-
Lothringen nur durch Kampf und, was mehr,
nur durch Sieg wieder zu haben iſt, und wenn
andererſeits die wohlmeinenden Friedens-
apoſtel Englands und anderer Länder die Frage
der eroberten Provinzen ganz außerhalb ihrer
Berechnungen ließen und ihre Pläne auf jede
andere Hypotheſe gründeten als die unbedingt
unmögliche, daß das Reichsland verkauft, ab-
getreten oder neutraliſiert werden könne.“
Aber dieſe Auffaſſung ſetzte ſich zunächſt
Eduard VII. hinweg, als er feine Einkreiſungs⸗
politik gegen Deutſchland einleitete. Ohne
Frankreichs Mitwirken konnte fie nicht ge-
lingen. Um die Pariſer Machthaber dafür
zu gewinnen, verhieß er ihnen für den Kriegs-
fall die Mithilfe Englands bei der Vieder-
eroberung Elſaß- Lothringens. Nach den eng-
liſchen Miniſtererklärungen von Mitte Ok-
tober 1917 will England für die Herausgabe
von Elſaß-Lothringen an Frankreich kämpfen,
ſo lange wie Frankreich ſelbſt darauf beharrt.
Die Betonung der Worte „ſo lange“ ſollte
auf die Möglichkeit eines Kompromiſſes hin-
weiſen. Dieſe Erklärung wurden abgegeben,
als im franzöſiſchen Volke die Abneigung
gegen die Weiterführung des Krieges und
gegen die engliſche Politik ſtärker hervortrat,
und hatte den Zweck, die Franzoſen bei der
Stange zu halten und zu äußerſten Opfern
anzuſpornen.
256
Ein engliſcher Wunſch erneuert
n feinem Werk „Life of Richard Cobden“
J (London 1896, II., 152) äußerte John
Morley folgenden heute wieder recht zeit-
gemäßen Wunſch: „Gern möchte ich einmal
eine Erd karte veröffentlicht ſehen mit roten
Punkten an allen denjenigen Stellen, wo
die Engländer blutige Schlachten geſchlagen
haben. Man würde da entdecken, daß wir
im Verlauf von ſieben Jahrhunderten über-
all gegen fremde Feinde gekämpft haben,
doch zum Anterſchiede gegenüber anderen
Völkern niemals in unſerem eigenen Lande.
Iſt das nicht Beweis genug, daß wir die
angriffsluſtigſte Raſſe unter der Sonne ſind?“
Franzöſiſche Aberſetzungskunſt
De, „Miroir“ vom 26. Auguſt 1917 bringt
im Bild einige in den Fels geſprengte,
eroberte Unterſtände mit deutſchen Inſchriften.
Eine lautet: „Hie gut Brandenburg alleweg!“
und die franzöſiſche Uberſetzung: „Le Brande-
bourg passe partout.“ Noch intereſſanter iſt
die Überſetzung des Bismarckſchen Spruches:
„Wir Oeutſchen fürchten Gott, ſonſt nichts
auf der Welt.“ „Seuls les Allemands craig-
nent Dieu. Sans eux, rien sur le monde.“
Wie erſcheint unſern Kriegs-
gefangenen die Heimat ?
Dieſſtes Gefühl des Dankes und der Be-
wunderung für die Leiſtungen der
Heimat auf jedem Gebiet, ſo antwortet ein
kriegsgefangener Offizier Oſtern 1918 in den
„Süddeutſchen Monatsheften“, gab uns in
der Gefangenſchaft die Kraft, Schweres,
Schwerſtes zu ertragen. Aber neben dieſem
Gefühl des Dankes und der Anerkennung
ergreift den Gefangenen immer wieder
das Gefühl tiefſten Kummers, wenn er
auf die inneren Kämpfe ſieht, die gerade im
letzten Jahre die Einheit des Vaterlandes
durchfurchen.
Der Gefangene verſteht die Heimat nicht
mehr; er verſteht nicht den Beſchluß des
Reichstages vom 19. Juli 1917. Wie kann
N Auf der Warte
man trotz aller wirtſchaftlichen Not Führern
nicht mehr trauen, die nicht wie jene feind-
lichen im Auguſt 1914 voll Haß, Chauvinis-
mus und Zerſtörungsluſt zum Kampfe zogen,
ſondern in ſtillem Pflichtgefühl warteten, bis
die Stunde von Tannenberg ſchlug. |
Der Gefangene verfteht es nicht, daß man
dem Gegner die Hand zur Verſöhnung an-
bietet, während man ſich ſelbſt im Innern er-
bitterter denn je bekämpft. Würde England
und Frankreich jemals an Verſöhnung denken,
wenn es auf ſolche Erfolge blicken könnte wie
wir jetzt? Haben Frankreich und England in
ihrer Geſchichte je an Verſöhnung gedacht,
wenn ſie ſo daſtanden wie wir jetzt? Mehr
als widerſinnig iſt es, nach außen von
Verſöhnung, nach innen von Kampf
zu ſprechen. Wie denkt der Gegner dar-
über? Er lacht und ſtärkt den Willen feiner
kriegsmüden Bevölkerung durch den Hinweis
auf die möglichen Folgen unſerer Uneinig-
keit. Die Pazifiſten der Weſtgegner
arbeiten ganz im Sinne ihrer Regie-
rungen, wenn ſie von Frieden ſprechen, und
jene Regierungen hängen ihren ſchroffen
Kriegsbedingungen das verſöhnliche Mäntel-
chen nur deshalb um, um die unpolitiſch
denkenden Deutſchen in ihrem Ver—
ſöhnungswahn zu ſtärken.
Auch das noch?!
etzt ſollen auch noch die Lebensmittel
3 in Poſtpaketen unter Amtskon—
trolle geſtellt werden!
Kurier“ wird aus dem Leſerkreiſe geſchrieben:
„Der Landrat in Lübben erläßt eine
amtliche Bekanntgabe, nach welcher durch
Verfügung der zuſtändigen Kaiſerlichen Ober-
poſtdirektion angeordnet worden iſt, daß auch
über die Lebensmittelverſendung in Poſt-
paketen von jetzt ab eine Kontrolle ausgeübt
wird und Pakete mit Lebensmitteln,
welche dem Ausfuhrverbot unterliegen, von
der Beförderung auszuſchließen ſind.
Zu dieſen verbotenen Lebensmitteln gehören
in Lübben auch Mohrrüben, Quark, Graupen,
Grütze, Hülfenfrühte, alſo fo ziemlich
alles, was irgendwie in Frage kommen kann.
Dem „Deutſchen
Auf der Warte
Diefes Verhalten der zuſtändigen Oberpoft-
direktion durchbricht das bisherige Prin-
zip der Poſt, ſich in dieſer Beziehung um
den Inhalt der Pakete nicht zu kümmern,
um fo einer Nachſchnüffelung und Spio-
nage in den Poſträumen jede Möglich-
keit zu entziehen. Die Poſt hatte daher
bisher trotz der vielen Unregelmäßigkeiten,
die auch bei ihr als Kriegsfolge und als Folge
des nicht immer einwandfreien unteren Per-
ſonals vorkommen, das unbedingte Ver-
trauen des Publikums, und ſie war eigentlich
im öffentlichen Leben die Lichtſeite gegen
über der das Leben ſtark verſchattenden neu-
entſtandenen Reichs ämter. Wenn man ferner
bedenkt, daß dadurch, wie im vorliegenden
Fall, ſelbſt die Schweſter ihrem aus-
wärts wohnenden Bruder nicht einmal
ein Paket mit Mohrrüben ſchicken kann,
die ſie im Überfluß hat, ſo muß man
dieſes landrätliche Verbot als einen Ein-
griff in die perſönlichen Rechte betrachten,
der um ſo kraſſer wirkt, als heute ſogar die
Regierung einer Demokratiſierung der Staats-
form nicht mehr widerſteht... Daß ſich aber
die Poſt jetzt auch noch zum Handlanger der-
artiger Verbote hergibt, iſt im höchſten Grade
bedauerlich, und es wäre wohl zu wünſchen,
daß der Staatsſekretär der Poſt dieſer Neue-
rung in ſeinem Bereich umgehend ein Ende
macht.“
Daran läßt ſich nicht rühren: was vom
grünen Tiſch, von den „Amtern“, Kriegs-
geſellſchaften uſw. uſw. geſchehen kann, um
dem Volke das Durchhalten zu erſchweren und
zu verekeln, das geſchieht ehrlich und un-
ermũdlich.
Eine, ungehörige Bezeichnung“
as „Ziraelitiihe Familienblatt“ ſchreibt
in einer Briefkaſtennotiz: „Die Bezeich-
nung Jüdiſches Ausſehen“ in der Fahn-
dungsbekanntmachung des Armee Tages-
befehls 9 vom 23. Februar 1918 halten wir
für ung ehörig, wenn dieſer Perſonal-
beſchreibung auch eine direkte antiſemitiſche
Tendenz nicht zugrunde liegen mag. Es
werden doch auch Angehörige anderer Reli-
237
gionsbekenntniſſe in ähnlichen Fällen nicht
in analoger Weiſe charakteriſiert. Der be-
abſichtigte polizeiliche Zweck ließ ſich auch
ganz gut auf andere Weiſe erreichen.“
Die „Wahrheit“ geſtattet ſich die Frage,
woran man erkennen kann, ob jemand evan-
geliſcher oder katholiſcher „Konfeſſion“ iſt.
Das junge Deutſchland
Ol“: dieſem und ähnlichen Namen haben
ſich an verſchiedenen Orten loſe Ver-
einigungen zur Aufführung junger Dramati-
ker gebildet. Ich gönne dem Talente jede
Förderung, ſo daß ſelbſt der Mißbrauch in
den Kauf genommen ſei. Aber es ergibt ſich
ein anderes, unabweisbares Bedenken. Es
ſind durchaus nicht immer rein literariſche
Geſichtspunkte, aus denen dieſe Förderung
erteilt wird. Manche Werke kommen nicht
um ihres literariſchen Wertes willen in die
Aufführungsreihe dieſer Vereine, ſondern
weil ihre öffentliche Aufführung — ver-
boten iſt. Das Zenſurgeſetz erlaubt in ge-
ſchloſſener Geſellſchaft ohne weiteres, was
es für die öffentliche Aufführung verbietet.
Darin liegt ſicher ein berechtigter Gedanke,
der ſich auch in manchen Fällen als frucht
bar erwieſen hat. Aber zurzeit wird ein
übler Mißbrauch damit getrieben. Daß für
die Mitgliedſchaft an dieſen „geſchloſſenen
Geſellſchaften“ nicht die geiſtige Reife und
die literariſche Urteilsfähigkeit ausſchlaggebend
ſind, ſondern der Geldbeutel, gute Verbindun-
gen oder auch nur die ſchnelleren Beine bei
der Beſorgung der Karten, läßt ſich vielleicht
nur ſchwer ändern. Schlimmer ſchon iſt, daß
ſehr leicht eine Fälſchung des literariſchen
Urteils zuſtande kommt. Immer wieder heißt
es in den Berichten: „Das Stück fand leb-
haften Beifall, der nicht in ſeinen dramatiſchen
Werten begründet war. Aber das Publikum
wollte demonſtrieren gegen das unbegreifliche
Zenſurverbot.“ Man mag darüber denken,
wie man will, Tatſache bleibt, daß die Be-
urteilung mit reiner Kunſt nichts zu tun hat.
Aber wichtiger erſcheint mir ein Drittes.
Es werden jetzt manche Stücke aus politiſchen
Gründen verboten. Ob mit Recht oder Un-
238
recht, braucht uns nicht zu beſchäftigen. Tat-
ſache iſt, daß die ſtaatliche Gewalt im Snter-
eſſe dieſes Staates es für Pflicht hält, dieſe
Stücke in ihrer Wirkung auf das Volk zu ver-
hindern. Nun werden die Stücke aber vor
geſchloſſener Geſellſchaft aufgeführt und da-
nach in der Preſſe möglichſt öffentlich und
beſonders ausgiebig beſprochen. Das iſt doch
ein unſinniger Zuſtand. Auf dieſe Weiſe
wirken dieſe Stücke doch viel aufregender,
zumal nicht einmal die Korrektur der Preſſe-
ſtimmen durch eigenes Anhören des Stückes
möglich iſt. Und was dieſes Preſſe-Echo an
Widerſpruch ſich leiſtet, iſt kaum glaublich.
Bei Goerings „Seeſchlacht“ herrſcht noch
nicht einmal über die äußere Aufnahme
Einigkeit. Was die einen als ſtille Ergriffen-
heit deuten, nennen die andern ſtumme Ab-
lehnung. |
Alſo, man mache dieſer nur dem Snobis-
mus und der Verwirrung dienenden Einrich-
tung ein Ende, Wenn die Zenſur von ihrem
Verbotsrechte Gebrauch machen muß — es
ſollte nur in den ſchwerſten Fällen ge-
ſchehen —, ſo darf ſie auch keine Ausnahmen
zulaſſen, wenigſtens keine, die bei äußerer
Befolgung des Geſetzes ſchweren inneren
Schaden anrichten. K. St.
*
Die Kinoſchönheit auf Freiers⸗
füßen
in recht bezeichnendes Heiratsinſerat
findet ſich im „Berliner Tageblatt“.
Es atmet ſo richtig den Geiſt von Berlin WW.
und verdient deshalb liebevolle Betrachtung:
„Greif zu. .. I! Zm Frieden hält er
Vorträge über Lebenskunſt uſw. Sein
Beruf iſt mit glänzendem Einkommen
verbunden. Nach Ableben des kranken
Vaters () (auswärtiger Großkauf mann)
erbt er ca. Y, Million. Er iſt eine Indivi-
dualität mit eiſernem Willen und
goldigem Herzen. Lebt in abſolut geregel-
ten Verhältniſſen. Hochgewachſen, ſchlanke
Geſtalt mit Diplomatentypus (9), 35
Fahre alt, glattrafiert (), Ausſehen eines
Njährigen. Erſcheinung eines eleganten
Kinodarſtellers (). Weitgereiſt, 5 Spra-
Auf der Warte
chen beherrſchend, umfaſſende literariſche
Kenntniſſe, eifriger Theaterbeſucher, muſika⸗
liſch, leidenſchaftlicher Automobiliſt und
Tennisſpieler. Dieſer tatſächlich ſeltene
Menſch wohnt bei Inſerentin zur Miete und
weißnichts von dieſem Inferat (na, nah.
Trotz ſeiner vielſeitigen Veranlagung fühlt er
ſich vereinſamt und würde unbedingt glücklich
an der Seite einer liebend ſorgenden Gattin.
Nur ausführliche Zuſchriften, mit Bild bevor-
zugt, von Damen, Witwen (evtl. auch mit
Kind) finden Berückſichtigung. Vermögen er-
wünſcht. Gewerbsmäßige Vermittler Papier-
korb. Schreiben von Eltern oder Vormund
willkommen. Offerten unter ..“
Das, bemerkt die „Wahrheit“, iſt un-
bedingt der gegebene Mann für die Tau-
entzienbälger! Man denke: „glattraſiert“ .
„Diplomotentypus“ .. „Erſcheinung
eines eleganten Kinodarſtellers“. Das
letztere iſt natürlich das höchſte der Gefühle;
höher geht's nimmer! Und Tennis ſpielt er
auch leidenſchaftlich. „Er“ iſt alſo ſchlichtweg
das vollkommene Zdeal! Wie ſie ſich um
ihn reißen werden!
*
Die Zuckerfabrik Stuttgart
1 dem Titel „Wohin zielt das?“
brachte das Zweite Februarheft des
Türmers einen Varte-Artikel, der im An-
ſchluß an einen Bericht der „Schwäbiſchen
Tagwacht“ die außerordentlich hohen Ge-
winne der Zuckerfabrik Stuttgart-Cannſtatt
beleuchtete. Wir erhalten nun von der ge-
nannten Fabrik ein Berichtigungsſchreiben,
das wir in feinem vollen Wortlaut zum Ab-
druck bringen:
„Im Zweiten Februarheft 1918 der
Zeitſchrift, Der Türmer“ findet ſich unter der
Überschrift: „Wohin zielt das?“ ein Aufſatz,
welcher ſich mit dem neuerlichen Gewinn-
ergebnis der Zuckerfabrik Stuttgart in Stutt-
gart-Cannſtatt beſchäftigt. Wir beſchränken
uns darauf, in ſachlicher Beziehung zu dem
Aufſatz Stellung zu nehmen und dadurch die
Schriftleitung des, Türmer“ inſtand zu ſetzen,
die zum großen Teil unrichtigen Folgerungen,
zu denen jener Artikel gelangt, richtigzuſtellen.
Auf der Warte 4
Es ift richtig, daß den Aktionären auf je
drei alte Aktien eine neue Aktie unentgeltlich
zur Verfügung geſtellt werden ſoll. Dies er-
fordert bei einem Aktienkapital von 1,8
Millionen Mark eine Aufwendung von
4 600000.—. Unrichtig dagegen iſt, daß
dieſer Betrag aus den Gewinnergebniſſen
des abgelaufenen Jahres entnommen wer-
den ſoll. Es ſteht vielmehr hierfür der Vor-
trag des vorausgegangenen Geſchäftsjahres
mit 4 651000.— zur Verfügung. Dieſer
Vortrag rührt nun aber nur zu einem ver-
ſchwindend kleinen Teil aus den in den
Kriegsjahren erzielten Uberſchüſſen her. Viel-
mehr ergab ſich bereits nach Abſchluß des
Seſchäftsjahres 1913/14 auf 1. September
1914 ein Vortrag auf neue Rechnung in
Höhe von 4 570000.—, das ſind 95 % der
neuerdings beabſichtigten durch Ausgabe von
Gratisaktien zu bewerkſtelligenden Stamm-
kapitalerhöhung.
Am nun ſowohl die geplante Erhöhung
des Stammkapitals als auch die für das ab-
gelaufene Geſchäftsjahr verteilte Dividende
von 25 % richtig zu würdigen, iſt es er-
forderlich, zu berüdjichtigen, daß das ſeit⸗
herige Stammkapital von 1,8 Millionen
Mark ſchon ſeit längerer Zeit nicht mehr im
Einklang ſteht mit der Größe und Leiſtungs-
fähigkeit der drei der Zuckerfabrik zugehörigen
Betriebe (Rübenzuckerfabrik, Raffinerie, aus-
gedehnte Land wirtſchaft). Dies rührt zum
Tell davon her, daß das Aktienkapital in
früheren Jahren wegen ungünſtigen Ge-
ſchäftsganges verſchiedentlich hat zufammen-
gelegt werden müſſen, und daß es bei der
Einverleibung der Zuckerfabrik Böblingen,
die vor 10 Jahren erfolgt iſt, nur unweſent⸗
lich erhöht worden war. Die fortgeſetzten
Erweiterungen des Wertes und die ſtändigen
Verbeſſerungen des techniſchen Betriebs ſind
in Friedenszeiten vorgenommen worden ohne
irgendwelche entſprechende Vermehrung des
Aktienkapitals. Eine ſolche innere Konſoli-
dierung einer geſellſchaftlichen Unternehmung
it ſonſt als Zeichen einer guten Finanzgeba⸗
tung aufgefaßt worden. Dieſe ſchließt aber
nicht aus, daß nicht in einem gewiſſen Zeit-
punkt dem eingetretenen Wachstum des
239
Unternehmens auch durch Erhöhung des
Aktienkapitals Rechnung getragen wird, wo⸗
bei die Frage, auf welche Veiſe dem gejeh-
lichen Bezugsrecht der Aktionäre Rechnung
getragen wird, immerhin von untergeordneter
Bedeutung fein dürfte.
Wenn nun aber die Höhe der Dividende
beanſtandet werden will, ſo iſt zuvörderſt
darauf hinzuweiſen, daß ſowohl die Preiſe
für Rüben als auch diejenigen für Rohzucker
und Verbrauchszucker durch Verordnung vor-
geſchrieben find. Wenn etwa behauptet wer-
den ſollte, daß bei Feſtſetzung der Preiſe die
Regierung der Zuckerinduſtrie gegenüber zu
nachgiebig geweſen ſei, fo iſt dem entgegen-
zuhalten, daß die Gewinnergebniſſe der größe-
ren Anzahl der deutſchen Zuckerfabriken zur-
zeit ſehr beſcheiden genannt werden müſſen,
ja daß ſie bei manchen kaum die derzeitigen
Betriebskoſten decken. Wie unbegründet aber
die Behauptung iſt, daß die Dividende durch
die Zuckerpreiſe in die Höhe geſchraubt werde,
erhellt wohl am beſten aus folgenden Tat-
ſachen: Für die von der Zuckerfabrik Stuttgart
während der letzten drei Fahre jeweils zur
Verteilung gebrachte Dividende von 25 %
wurden bei einem Aktienkapital von 1,8 Mil-
lionen Mark jeweils & 450000.— benötigt.
Die Herſtellung von Verbrauchszucker durch
die Zuckerfabrik Stuttgart ergab im Durch-
ſchnitt der letzten 3 Jahre 501490 Zentner.
Geſetzt den Fall, die Aktionäre hätten auf
die Dividende von 25% verzichtet, und es
wäre der fo erſparte Betrag von & 450000.—
dazu verwendet worden, die erwähnte Pro-
duktionsmenge von 501490 Zentner zu ver-
billigen, ſo würde ſich für das Pfund Zucker
noch nicht einmal eine Verbilligung von einem
Pfennig ergeben. Damit dürfte klar bewieſen
ſein, daß die beanſtandete Dividende mit der
Erhöhung des Zuckerpreiſes nichts zu tun hat.
Hochachtungsvoll Zuckerfabrik Stuttgart.“
1
Nach wiederholtem Leſen des Briefes frage
ich mich umſonſt, was nun eigentlich berichtigt
worden iſt. Die hohe Dividende bleibt be-
ſtehen, ebenſo die unentgeltliche Zuteilung der
neuen Aktie. Berichtigt iſt, daß der Gewinn
nicht aus dem letzten Jahre allein ſtammt;
Sa.
240
aber auch in den Jahren vorher find 25 %
Dividende ausgeſchüttet worden. Von der
theoretiſchen Aufklärung über die Erhöhung
des Stammkapitals verſtehe ich nichts. Dazu
bin ich zu ſehr Laie. Das bisherige Kapital
hat ausgereicht, glänzende Geſchäfte zu
machen. Mehr Kapital iſt doch auch in Zu-
kunft nur dem Namen nach da, inſofern die
neuen. Aktien den bisherigen Aktionären ja
geſchenkt und aus dem aufgeſpeicherten Ge-
winnvortrag bezahlt worden find. Für Laien-
augen iſt alſo die Kapitalvermehrung lediglich
ein Mittel, den zu groß angewachſenen Ge-
winnvortrag unterzubringen. —
In einem zweiten Briefe führt die Zucker-
fabrik Stuttgart-Cannſtatt dann weiter aus:
„Wie wir Ihnen ſchon am 16. April jchrie- ,
ben, iſt Ihr Artikel — nicht etwa die Behaup-
tungen des ſozialdemokratiſchen Stuttgarter
Blattes — die Veranlaſſung geweſen, daß die
törichten Behauptungen in eine große Anzahl
von Zeitungen übergegangen find. Im An-
ſchluß an dieſe Entſtellunegn ſind dann
hämiſche Bemerkungen über die Zuckerpreiſe
gemacht, wodurch die Beſtrebung des Kriegs-
ernährungsamtes, die Zuckerproduktion im
Deutſchen Reiche zu erhöhen, ſehr erſchwert
wird.
Es wird auch Ihnen nicht unbekannt ſein,
daß die Zuckerrübe auf einer beſtimmten
Flächeneinheit dreimal jo viel Nährwerte er-
zeugt, als unſere beſten Getreidearten. Es
liegt daher durchaus im volkswirtſchaftlichen
Intereſſe, in der Kriegszeit möglichſt viel
Zuckerrüben anzubauen, ganz beſonders auch
deshalb, weil die beſtehenden 350 deutſchen
Zuckerfabriken leicht in der Lage ſind, in
wenigen Wochen die ganze Rübenernte zu
Trockenprodukten, die keinem Verderben
mehr ausgeſetzt ſind, zu verarbeiten.
Der Zuckerrübenanbau wird nun aber
leider nicht vergrößert, ſondern geht von Jahr
zu Fahr mehr zurück, weil der Rübenpreis,
der in einem beſtimmten Verhältnis zum
Zuckerpreis ſteht, den Rübenbauern nicht
annähernd den Nutzen läßt, den fie bei ande;
ren Feldprodukten erzielen können. Das
Auf ber Warte
Kriegsernährungsamt iſt aber in feinen Ent-
ſchließungen in gewiſſem Grade abhängig
von der öffentlichen Meinung auch dann,
wenn dieſelbe irregeführt wird durch einen
Artikel, wie ihn das zweite Februarheft des
Türmers bringt. Daß derartige Artikel auch
in nationalgeſinnten Blättern, wenn auch
nicht in böswilliger Abſicht, fo doch in leicht⸗
fertiger Weiſe Aufnahme finden, iſt geradezu
ein Unglück für das deutſche Volk.“
Es leuchtet mir ohne weiteres ein, daß
der Anbau von Zuckerrüben gefördert werden
ſollte durch Bewilligung höherer Preiſe an
die Rübenbauern. Es müßte das nach mei-
nem Gefühl um fo eher möglich fein, als die
hohen Gewinne der Zuckerfabriken doch
ſchließlich nur darauf beruhen können, daß
das Rohmaterial im Vergleich zum Verkaufs-
preiſe der aus ihm gewonnenen Erzeugniſſe
außerordentlich billig iſt. Irgendwo müſſen
doch ſchließlich die 25% Dividende ber-
kommen. Es müßte demnach möglich ſein,
den Preis des Rohmaterials zu ſteigern, ohne
den Verkaufspreis der daraus gewonnenen
Erzeugniſſe, alſo vorab des Zuckers, zu er⸗
höhen. Gerade dieſe Verteuerung aber wird
erſtrebt. In einem Artikel der „Tägl. Rund-
ſchau“ (1. März 18) z. B. heißt es: „Vas
macht es heutigentags im Haushalt aus, ob
1 Pfund Zucker mit 40 oder 60—70 9, bezahlt
werden muß?“ Was iſt das für ein Stand⸗
punkt?!
Wir haben hier den zugeſtandenen Fall,
daß eine Zuckerfabrik nicht nur 25% Divi-
dende bezahlt, ſondern darüber hinaus ihren
Aktionären noch Vorteile zuwendet. Der
Fall ſteht nicht allein. Es iſt doch mehr als
grotesk, nun dem Volke eine Erhöhung von
50 % und mehr des Zuckerpreiſes als eine
Nichtigkeit zuzumuten, damit den — Rüben-
bauern mehr bezahlt werden kann. Warum
faßt man denn gar nicht die Möglichkeit ins
Auge, daß die Zuderfabriten mit geringerem
Gewinn arbeiten könnten?!
Nach alledem wiederhole ich die Frage,
die ich dem Artikel im Zweiten Februarheft
voranſtellte: „Wohin zielt das?“ K. St.
ee En a a ee ee re a an I en en 88
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: F. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Kunſt und Mufit: Dr. Rarl Storck
Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. uur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf ⸗Berlin (Wannſerbahn)
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
QOLIIZER
a
2 <
V
b
er 2
er
—
|
10
=
|
5
Rrisgsauspabe 8
Herausneher: J. K Rreiherr nun Gratthuß
—— — —
IX. Jahrg. Zweites Juniheft 1918 Bren is
die Anabhängigkeitserklärung Eſtlands
und Livlands und die ruſſiſche Gefahr
Von F. E. Freiherrn von Grotthuß m
m 15. Mai 1918, fo wurde amtlich gemeldet, haben die Vertreter
Eſtlands und Livlands an den Reichskanzler die Bitte gerichtet,
land und Eſtland zu übermitteln. Herr Joffe chatte es abgelehnt, dieſe Er-
klärung direkt' aus den Händen der genannten Herren in Empfang zu nehmen,
ſich aber bereit erklärt, die Urkunde entgegenzunehmen, falls fie durch das Aus-
wärtige Amt übermittelt würde. Der Reichskanzler hat daraufhin der von den
Vertretern Livlands, Eſtlands und Finnlands geäußerten Bitte entſprochen
und die Unabhängigkeitserklärung durch das Auswärtige Amt Herrn Joffe über
ſenden laſſen; ſie lautet: |
Anm 28. Januar 1918 haben die Bevollmächtigten der liv- und eſtländiſchen
Ritter- und Landſchaft dem Vertreter der ruſſiſchen Regierung in Stockholm.
Herrn Worowſki, im Auftrage der genannten Körperſchaften eine Note über
geben, in der genannte Körperſchaften als die verfaſſungsmäßigen Vertreter
Liplands und Eſtlands die Selbſtändigkeit dieſer ehemaligen ruſſiſchen Pro-
vinzen erklärten. |
Der Sumer XX, 18 N = 16
2 Grotthuß: Sie Unabhängigkeitserklärung Eſtlands und Livlanbs und bie ruſſiſche Gefahr
Die Ritter- und Landſchaften Liplands und Eſtlands handelten dabei in
voller Abereinſtimmung mit den Wünſchen der örtlichen Bevölkerung,
die ihren Ausdruck gefunden hatten nicht nur in den Kundgebungen zahlreicher
Körperſchaften, Vereine und Organiſationen beider Provinzen, ſondern auch in
einem Beſchluſſe der auf breiter demokratiſcher Grundlage gewählten
Vertreter des eſtniſchen Volkes, die gleichfalls für eine Abtrennung der von den
Eiten bewohnten Gebiete Livlands und Eſtlands von Rußland geſtimmt haben.
Gegenwärtig haben dieſe Erklärungen eine weitere Beſtätigung erfahren.
Auf Beſchluß der Landtage der Ritter- und Landſchaften Livlands und Eſtlande,
die in Riga am 22. März 1918, in Reval am 28. März 1918 tagten, ſind Landes-
verſammlungen berufen worden, die aus Vertretern aller Bevölkerungs—
gruppen ohne Anterſchied der Nationalitäten zuſammengeſetzt wurden.
Dieſe Landesverſammlungen traten in Reval am 9. April 1918 und in Riga am
10. April 1918 zuſammen. Ihre einſtimmig gefaßten Beſchlüſſe lauten:
1. In Eſtland: Die vollſtändige ſtaatsrechtliche Loslöſung Eſtlands von
Rußland wird hiermit auf Grund des laut Dekret vom November 1917 von
der ruſſiſchen Regierung proklamierten Selbſtbeſtimmungsrechts der
Völkerſchaften und entſprechend der am 28. Januar 1918 dem ruſſiſchen Ge
ſandten in Stockholm vom Vertreter der Ritter- und Landſchaften Livlands und
Eſtlands übergebenen Unabhängigkeitserklärung ausgeſprochen.
Die Beſchlüſſe über die definitive Regelung der ſtaatsrechtlichen Stellung
Eſtlands ſind von dem in Riga gemeinſchaftlich für Livland und Eſtland zuſammen⸗
tretenden Landesrat zu faſſen.
2. In Livland: Die livländiſche Landesverſammlung erklärt ihre völlige
Übereinftimmung mit der Anabhängigkeitserklärung Livlands und feine Los-
löſung vom ruſſiſchen Reiche.
2 Die Bevölkerung Livlands und Eſtlands hat ſomit durch die Erklärung ihrer
Vertreter von dem Recht, ihr Schickſal frei zu beſtimmen, Gebrauch
gemacht und die Loslöſung von Rußland vollzogen, wovon wir die ruſſiſche
Regierung in Kenntnis zu ſetzen die Ehre haben.
Noch bevor ſich die wohl etwas mehr intereſſierte Regierung der ruſſiſchen
Republik zu dieſer Erklärung auch nur geäußert hatte, ſind die Mannen vom „Ber-
liner Tageblatt“, „Vorwärts“ und Genoſſen als freiwillige bolſchewiſtiſche Garde
und ruſſiſcher Vortrupp gegen die „Vergewaltigung“ Mütterchen Rußlands durch
deutſche „Habſucht“ und „Beutegier“ ins Feld gerückt. So eilig hatten fie’s, dem
eigenen Lande und der eigenen Regierung in den Rüden zu fallen! Zt das nicht,
wenn ſchon keineswegs überraſchend, ſo doch über die Maßen bezeichnend? Keine
Gnade mehr findet der Reichskanzler Graf Hertling vor den Augen des „Vor-
wärts“; um fo reiner erſtrahlt ihm als friſchgewaſchener weißer Engel mit
Bügelfalten im politiſchen Unfchuldsgewande Herr von Kühlmann. Der habe
gegen den an Rußland zu verübenden „Bruch der Vertragstreue“ mannhaft fein
Haupt erhoben, ja ſogar — fürchterlich! — mit feinem Rücktritte gedroht, falls
der „Bruch“ dennoch verübt werden ſollte. Und doch und doch habe der berühmte
Empfang der „baltiſchen Barone“ im Großen Hauptquartier — o über die VBöſe⸗
Srotthußz: Die Anabhangigkeits erklärung Eftlands und Lidlands und die zuffiihe Gefahr | 2
wichter! — ſtattgefunden, der Reichskanzler die Unterſtützung der Loslöſung ver-
ſprochen, ohne daß (Gott ſei Hanf) Herr von Kühlmann von feiner fürchterlichen
Drohung Gebrauch gemacht hätte. Dieſe allzu innige Zutunlichkeit ſcheint nun
doch nicht ganz nach dem Geſchmacke Herrn von Kühlmanns geweſen zu ſein,
denn er hat die vom „Vorwärts“ mit aller Beſtimmtheit als Tatſache vorgebrachte
fürchterliche Drohung beſtreiten laſſen, trotzdem der „Vorwärts“ in der Wilfen-
ſchaft um Kühlmann doch ſonſt jo gut beſchlagen iſt. Unerſchüttert behauptet denn
auch Georg Bernhard in der „Voſſiſchen Zeitung“: „Die Tatſache, daß ſeine
Unzufriedenheit ſich bis zu dem ernſten Willen verdichtet hatte, ſeinen Abſchied zu
nehmen, ſteht zweifellos feſt und kann durch kein Dementi erjchüttert wer-
den.“ Nicht beſtritten hat Herr von Kühlmann, daß er ſich gegen eine Loslöſung
Eitlands und Livlands vom ruſſiſchen Joch bemüht hat, und das wird er auch
wohl kaum beſtreiten können und wollen.
Es muß ſchon ſehr übel um dieſe Sache ſtehen, wenn ſelbſt die „Germania“
des Herrn Erzberger ſich gedrungen fühlt, fie ohne jede zarte Rüdficht preiszu-
geben und kaltlächelnd darauf hinzudeuten, daß Rußland ja ſelbſt durch feine Er-
klärung über das Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker auf jeden berechtigten Ein-
ſpruch verzichtet habe, daß es ſich ſelbſt dann nicht beklagen dürfe, wenn „noch
mehrere Dutzend unabhängiger Länder entſtehen würden und ihm kein Fetzen
Landes übrigbliebe“. |
Wie man die Stimmungen im Baltenlande ſonſt auch beurteilen möge, —
Tatſache, feſtſtehende, unzweifelhafte Tatſache iſt, daß alle Bevölkerungs-
ſchichten und alle Volksſtämme dort bis auf eine verſchwindende Minderheit in
dem Wunſche eines Sinnes und eines Entſchluſſes ſind, unter allen Umſtänden
von der ruſſiſchen Herrſchaft loszukommen. Sie müßten ja auch von allen guten
Geiſtern, vom einfachſten Selbſterhaltungstriebe verlaſſen ſein, wenn ſie nach ihren
Erfahrungen mit der Blut- und Schreckensherrſchaft der bolſchewiſtiſch-ruſſiſchen
„Freiheit“ und „Demokratie“ anderen Sinnes wären. Muß doch ſogar ein Wort-
führer der eſtniſchen Minderheit, N. Menning, der als „Vertreter Eſtlands“ () in
Kopenhagen () unterzeichnet, im „Berliner Tageblatt“, dem in deutſcher Sprache
geſchriebenen internationalen Organ aller gegendeutſchen Beſtrebungen, mit einer
Träne in dem nach Rußland rückwärts gewandten Auge bekennen, daß für die
nächſte Zeit in Rußland eine Periode ruhiger Entwicklung und geordneter Zuſtände
nicht zu erwarten ſei, daß aber ein Hinüberſpringen der jetzigen ruſſiſchen ultra-
revolutionären Bewegung nach Eſtland für dieſes geradezu kataſtrophal wer-
den würde. „Die bolſchewiſtiſche Bewegung in Eſtland hat gezeigt, daß die eſtni⸗
ſchen Bolſchewiſten im Lande in einer derartigen Minderheit ſind und über
fo geringe materielle und geiſtige Kräfte verfügen, daß fie die organiſche Ent-
wickelung in keiner Weiſe gefährdet hätten. Die ruſſiſchen Bolſchewiſten aber, die,
wie die Ereigniſſe in Finnland zeigen, immer bereit find, zugunſten ihrer Ge-
ſinnungsgenoſſen mit Waffengewalt beizuſpringen, verhalfen auch den eſtniſchen
zur Herrſchaft, die dann eine Reihe trauriger und grauſiger Geſchehniſſe für das
Land zur Folge hatte und im Falle eines erneuten bolſchewiſtiſchen Terrors das
Furchtbarſte verſpricht. Weicht aber die bolſchewiſtiſche Regierung in Rußland
244 Grotthuß: Die Unabhängigkeits erklärung Eftlande und Livlande und bie ruſſiſche Gefahr
irgendeiner anderen, ſo beſeitigt das die Gefahr für Eſtland, kulturell und national
unterdrückt zu werden, nur in ſehr beſchränktem Maße. Das hat der Zarismus
gezeigt, deſſen furchtbare Feindlichkeit gegen jede ſelbſtändige kulturelle Entwick-
lung der Fremdvölker ich hier nicht darzulegen brauche, da ſie nur zu bekannt ft,
Das hat aber leider auch die revolutionäre temporäre Regierung Rußlands
gezeigt, bei der ſich, allen theoretiſchen Prinzipien zum Trotz, in der
Praxis imperialiſtiſche Beſtrebungen auf Schritt und Tritt durchſetzten, und
die die zugeſagten Freiheiten des eſtniſchen Volkes bei der Durchführung auf alle
Weiſe zu beſchneiden und zu hintertreiben verſuchte. Es fei hier nur an das Un-
geheuerliche erinnert, daß fie die Mutterſprache als Unterrichtsſprache
für die niedere Volksſchule nicht geſtattete. Dieſe Erfahrungen haben die
Verbitterung der Eſten, die das korrupte und brutale zariſtiſche Beamtentum
großgezogen, nicht verſchwinden laſſen, und die Geſchehniſſe der ruſſiſchen Re-
volution haben das Gefühl der Abneigung gegenüber der kulturellen
Zurückgebliebenheit des ruſſiſchen Volkes noch vertieft. 5
So urteilt ein Vertreter der eſtniſchen Minderheit, ein Eſte, der fih gegen
einen Anſchluß an das Deutſche Reich erklärt, über die Segnungen der ruſſiſchen
„Kultur“ und „Freiheit“. Wie recht hat doch Spen Hedin: „Wenn die Ruſſen
von Freiheit ſprechen, ſo meinen ſie die ruſſiſche, unter der die anderen in Eiſen
geſchmiedet werden.“ Und für dieſen blutgetränkten „Freiheits“ mantel, den ſich
der tief in der ruſſiſchen Volksſeele lauernde uferloſe Ausdehnungsdrang und Im-
perialismus um die Schultern wirft, werden die deutſchen Arbeitermaſſen gegen
ihre eigene friedliche Wohlfahrt und Sicherheit von „Führern“, die nichts Beſſeres
wiſſen und können als leere, ſtarre Parteidogmen und verſchwommene Wald-
und Wieſentheorien, ſyſtematiſch aufgepeitſcht, um alle politiſche Vernunft ge
bracht. Es wäre Wahnwitz von dieſen „Führern“, wenn eben nicht hinter alledem
die eigene Herrſchſucht über die Maſſen, bewußt oder unbewußt, ſich verſteckte
und die Furcht, die Zügel dieſer Herrſchaft aus der Hand zu verlieren. —
Vas ſollte denn, wenn es nach dem Wunſche einer kleinen eſtniſchen Minder-
heit ginge, aus Eſtland und Livland als „unabhängigen Staaten“ werden, wenn
nicht, wie ich hier ſchon öfter dargelegt habe, ein dauernd glimmender Herd zur
Entfachung neuer Kriegsbrände, ein Zankapfel zwiſchen den ſtärkeren angrenzen⸗
den oder ſonſt „intereſſierten“ Mächten, ein neuer Balkan und ſchlie ßlich eine
Beute der einen oder anderen wettraufenden Macht? Das Deutſche Reich käme
dann ja kaum noch in Frage, denn wenn es einmal ſeine Hand von dieſen Ländern
zurückgezogen und ihre „Unabhängigkeit“ im Sinne der Bolſchewiken ruſſiſcher
und deutſcher Zunge anerkannt hätte, würde es — ganz alle in — die abgeſchloſſe⸗
nen „Verträge“ auch bierehrlich einhalten, bis ihm dann doch, zwar wieder ſehr
gegen ſeinen Willen und zu ſeinem tiefſten Erſtaunen, die Tatſachen über den
Kopf wachſen und es, ſchon aus Gründen der Selbſtverteidigung, in die mörde-
riſche Rauferei mit hineinzwingen würden. Die engliſchen Abſichten in dieſen
Ländern hat kein Geringerer als der engliſche Botſchafter Buchanan ver-
raten, indem er an eine eſtniſche Abordnung die Frage ſtellte: ob wohl die Eſten
gegen eine „britiſche Schutzherrſchaft“ was einzuwenden hätten? Ein bal-
Srottzu: Die Unabhaͤngigteitserklärung Eſtlands und Livlands und die ruſſiſche Gefahr 245
tiſches Belgien alſo! Kein übler Gedanke — vom engliſchen Standpunkte
geſehen. Die ſozialdemokratiſche „Internationale Korreſpondenz“ berichtete über
eine zehntägige Reiſe von Vertretern der konſervativen, liberalen und fozial-
demokratiſchen Preſſe nach Livland und Eſtland, bei der ſie Gelegenheit hatten,
mit den eſtniſchen Führern der Minderheit, der Gruppe Tönniſſon-Menning-
Martna, ſich eingehend über deren politiſche Wünſche auszuſprechen. Baß er—
ſtaunt iſt der Verfaſſer, der ſozialdemokratiſche Politiker Ernſt Heilmann, über die
politiſche Naivität dieſer Leute. Ihr Ideal ſei eine Republik Eſtland, möglichſt
international garantiert () nach dem Muſter Belgiens () oder der Schweiz.
Die deutſche Wilitärverwaltung in Eſtland ſollte möglichſt raſch verſchwinden.
Als man ſie aber gefragt hatte, was ſie denn nach Abzug der deutſchen Truppen
tun wollten, wenn von Rußland her die bolſchewiſtiſche Welle wiederkäme, da
mußten ſie „nach vielem Wenn und Aber“ zugeben, „daß ſie dann nötigenfalls
wieder an Deutſchlands Hilfe appellieren müßten“! Und auf die Frage,
ob denn die Eſten jemals in der Lage ſein würden, ihr Land gegen ein auch nur
halbwegs wiedererſtarktes Rußland zu verteidigen, erwiderten die guten Leute,
„ie würden ſich auf den Schutz der internationalen Verträge verlaſſen“!
Sehr richtig bemerkt Heilmann, es käme alſo in dieſem eſtniſchen Programm
letzten Endes alles darauf hinaus, daß hinter der eſtniſchen Republik ſtändig der
Schutz der deutſchen Waffenmacht als latente Orohung ſtehen ſolle, während
anderſeits Deutſchland in Eſtland nichts zu ſagen hätte und die Eſten felbft die
Freiheit behielten, je nach Stimmung zwiſchen Deutſchland und Rußland hin
und her zu taumeln. „Eine ſolche Löſung“, ſagt Heilmann, „können ſich die naiv
kindlichen eſtniſchen Politiker vorſtellen, die über keinerlei praktiſche Erfah-
rung verfügen.“
And dieſe „naiv kindlichen eſtniſchen Politiker“ ſind von ſehr einflußreichen
deutſchen Stellen noch ermutigt und gefördert worden! Sollte Herrn von Kühl-
mann nichts davon bekannt ſein? Herrn Erzberger auch nicht? —
Am 24. April hängte die „Frankfurter Zeitung“ in einem längeren Aufſatz
u. a. folgende nicht mehr ganz ganz neue, aber immer noch zugkräftige Ware ins
Schaufenſter:
„Für die Angliederung Kurlands können Gründe geltend gemacht werden,
denen ſich, wer nicht in einer Doktrin einfeitig befangen iſt, ſchwer verſchließen
wird. Die gänzliche Umgeftaltung des Oſtens, die Ablöſung Polens und Litauens
von Rußland machen eine Verrückung des deutſchen Einfluſſes nach Oſten hin
allerdings erwünſcht, und die Möglichkeit, in mäßigem Umfange europäiſches
Siedlungsland zu gewinnen, zählt mit. Aber weil Kurland angeſchloſſen wird,
folgt nicht, daß Livland und Eſtland folgen müſſen, ſonſt müßte man nad) hiftori-
ſchen Rezepten Politik treiben. Die Vorſchiebung der deutſchen Macht- und Ver-
antwortlichkeitsgrenze bis an die Tore von Petersburg bringt uns dauernd in
ein ſehr kritiſches Verhältnis zum Oſten, ſie macht uns zu Intereſſenten an der
bleibenden Ohnmacht Rußlands und damit zu Gegnern jedes künftigen ruſſiſchen
ze Dies ift eine Hypothek ſchwerſter Art auf jeder auswärtigen deutſchen
olitikl.“
246 Srotthuß: Die Unabhängigkeitsertlärung Eſtlands und Llvlands und die ruſſiſche Geſehe
Damit glaubt die „Frankfurter“ ſchon ſchwerſtes Geſchütz abgefeuert zu
haben, und ſicher erzielt ſie auch Treffer — bei den braven Leuten, aber ſchlechten
Muſikanten, die bei jedem Schuß, auch wenn er nur ein Loch in die Luft reißt,
vor Schrecken und Beſtürzung platt auf den Rüden fallen. Es find die alten, be-
kannten Scheingründe, die Logik, die nicht den Mut zu ſich ſelbſt hat, und darum
juſt auf dem Punkte ſtehen bleibt, wo ſie anfangen könnte, ſich ſelbſt unbequem
zu werden. Wie? — die Ablöſung Polens, Litauens und Kurlands wird keinen
bitteren Stachel bei den „Ruſſen“ hinterlaſſen? Erſt, wenn noch Livland und
Eſtland dazu kommen, wird der Stachel ſich automatisch auslöfen? Und England?
Das dann, an Stelle des Deutſchen Reiches, das „Protektorat“ über die baltiſche
Küſte übernehmen, ſich dort feſtſetzen und „an die Tore Petersburgs vorſchieben“
würde, um Rußland hübſch unter der Fuchtel zu halten? Zu unſerem Heile etwa? —
Varum aber ſollte uns eine Angliederung Eſtlands und Livlands zu „Sntereffenten
an der bleibenden Ohnmacht Rußlands und damit zu Gegnern jedes künftigen
ruſſiſchen Aufſtiegs“ machen? Umgekehrt könnte ein Schuh daraus werden. „Inter-
eſſenten“ an unſerer eigenen Sicherheit gegen ruſſiſche Maſſeneinbrüche und Ver⸗
heerungen nach dem von der „Frankfurter“ wohl ſchon vergeſſenen Muſter Oft-
preußen werden wir — mit ihrer gütigen Erlaubnis — wohl bleiben dürfen; auf
die abgetrennten weſtlichen Kulturgebiete des ehemaligen, nur durch Blut und
rohe, grauſamſte Gewalt zuſammengeſchweißten Imperium hat Rußland keinerlei
Rechtstitel, ſowenig es dort irgendwelche Kulturaufgaben und überhaupt etwas
zu ſuchen hat, als eben die ihm mangelnde Kultur, friedlichen wirtſchaftlichen Ver-
kehr und Warenaustauſch. Damit muß ſich Rußland abfinden; daß es ſich damit
abfinde, dafür gibt es kein anderes Mittel, als ſeinen verſtiegenen imperialiſtiſchen
Gelüſten nach dem Weſten einen eiſernen Riegel vorzuſchieben. Hat es ſich abet
damit einmal abgefunden, dann haben wir nur ein wohlbegründetes, ſtarkes, nicht
zuletzt auch politiſches Intereſſe, feinen Aufſtieg zur Kultur und zur wirtſchaft⸗
lichen Blüte zu fördern, wird es auch nicht von dem freien wirtſchaftlichen Ver-
kehr durch die baltiſchen Häfen abgeſperrt ſein. Das können und wollen wir ihm
ja alles in Verträgen verbürgen und ſicherſtellen, — die „Frankfurter“ hält doch
ſonſt fo viel von Verträgen, wenn — andere fie uns aufhängen ſollen. Fſt es aber
einmal dahin gebracht worden (denn es muß dahin gebracht werden, freiwillig
wird es nie feine ausſchweifenden, in der Nomadennatur feiner mongoliſchen Blut-
miſchung liegenden Ausdehnungsgelüſte aufgeben) —, dann wird Rußland auch
einſehen lernen, wieviel reichere Kraftquellen ſich ihm aus ſeinen ehemaligen
weſtlichen Randgebieten erſchließen, die ergiebig zu machen es trotz jahrhunderte;
langer Herrſchaft ſich vollſtändig unfähig erwieſen hat; die es nur immer troſt⸗
loſer verſickern, vertrocknen ließ, bis dann die dürre Wildnis des abgeholzten ruffi-
ſchen Steppenlandes ſie vollends aufgeſogen hätte und die Loſung nur um ſo
heißer und hungriger erſchollen wäre: „Neues, blühendes Land! Weiter, immer
weiter nach dem Weſten! Entvölkert das Land, rottet die fleißigen Pfleger mit
Kind und Kindeskindern aus, damit ihr euch in den Alleinbeſitz ihrer ſchön her⸗
gerichteten Acker und Weiden ſetzen könnt!“ Var das nicht etwa ſchon die Ab-
ſicht bei den Maſſenverſchleppungen, Verſtümmelungen und Abſchlachtungen in
Srotthußz: Pie Unobhängigteitserklärung Eftlands und Lirlands und bie ruffiihe Gefahr: 247
Oſtpreußen und Galizien? Welch kurzes Gedächtnis haben doch manche Leute,
wenn ſie's nicht an ſich ſelbſt erlebt haben, oder aus guten Gründen glauben, es
nicht befürchten zu müffen. |
Die politische Weisheit der „Frankfurter Zeitung“ iſt nichts anderes als eine
Politik der Halbheit, die ſich, wenn auch nach dem Vorhergegangenen durch-
aus nicht überraſchend, aber doch empfindlich genug mit der dreiſten Abſage der
Trotzki-Regierung auf die Unabhängigkeitserklärung Eſtlands und Livlands durch
ſeine berufenen verfaſſungsmäßigen Vertreter gerächt hat. Dieſe Erklärung,
das wollen wir doch nicht ſo ganz unter den Scheffel ſtellen, iſt aber durch
bie deutſche Reichsregierung dem Vertreter Rußlands übergeben worden,
und dieſer Unabhängigkeit haben Kaiſer und Reich feierlich und in aller Form
ihre Unterftüßung zugeſagt. Die Folgerungen daraus ergeben ſich von ſelbſt
und müſſen gezogen werden. Aber in wieviel günftigerer Lage befände fich
heute unſere Regierung, wenn ſie, wie es ſich eigentlich von ſelbſt verſtand und
auf keinen ernſtlichen Widerſtand ſtoßen konnte, auch dieſe Länder als durch das
Selbſtbeſtimmungsrecht ihrer Völker aus dem großruſſiſchen Reichsverbande aus-
geſchieden erklärt hätte, — wenn ſchon einmal mit dieſer Phraſeologie gearbeitet
werden ſollte. Denn nichts weiter als eine, gewiſſen deutſchen und öſterreichiſchen
„Demokraten“ und ihren politiſchen Exponenten auf den Leib geſchriebene Komödie
waren ja die von den Bolſchewiki im Sinne des Wortes geführten Verhand-
lungen in Breſt-Litowſk. Zetzt ſoll die Komödie wieder von vorne angehen und
gar noch in — Moskau (!) in Szene geſetzt werden!
Wenn wir in der Tat (nach der „Frankf. Ztg.“ unſere Rußlandpolitik mit
„Ihweren Hypotheken“ belaſten, fo hätten wir fie ſchon durch die Ablöſung des
ganzen ruſſiſchen Königreichs Polen (Kongreßpolens), Litauens, Kurlands, weiter
(im Gefolge des Krieges) Finnlands, der Ukraine und all der anderen Gebiete,
die ſich als ſelbſtändig erklären, bis zum Schornſtein geſchrieben. Pſychologiſch
aber am ſchwerſten belaſtet durch die bloße Tatſache, daß wir das ruſſiſche Riefen-
reich niedergeſchmettert, in Trümmer geſchlagen haben. Und wenn auch
nicht für alle Zukunft, — wäre der Ruſſe nicht Ruſſe, ſondern Franzoſe, ſo würde
er uns das nimmer vergeſſen und all ſein Trachten und Sinnen darauf einſtellen,
blutigſte, grauſamſte Rache zu üben. Nun iſt der Ruſſe aber Ruſſe; es iſt nicht
ſeine Sache, ſich über einmal Geſchehenes noch lange Jahre hindurch Gedanken
zu machen. Er nimmt es in ſeinem mit Leichtherzigkeit gepaarten Fatalismus
als Gottes Willen hin. Unverſöhnlicher, nachtragender Haß liegt ihm nicht;
er haßt auch nicht die klare, zielbewußte, ſich geltend machende Überlegenheit
des Starken; er beugt ſich ihr in Ehrerbietung und fühlt ſich zu ihr als zu einer
Ergänzung ſeines eigenen, mehr femininen Weſens triebhaft hingezogen.
Nicht alſo dauernde ruſſiſche Revancheluſt haben wir zu fürchten, ſondern
den ruſſiſchen Ausdehnungsdrang, und nichts wäre verkehrter, als ſich der be-
quemen Selbſttäuſchung anzuvertrauen: wir könnten dieſen Drang durch groß-
mutige Verzichte und „demokratiſche“ Verſöhnungsphraſen aus der Welt ſchaffen.
Selbſt wenn wir das Unglaubliche, doch wohl auch bei uns Undenkbare fertig-
brächten und die baltiſchen Provinzen, etwa auch „nur“ Eſtland und Livland — in
248 Grotthuß: Die Unabhängigteltserlärung Eſtlands und Livlanbs und die ruſſiſche Gefahr
der einen oder anderen Form — wieder an Rußland auslieferten, ſo würden wir
Rußland damit zwar keine „goldene“, wohl aber eine eiſerne Brücke gegen uns
bauen, die ihm nur ein Anreiz zu beſchleunigtem, um ſo leichterem Einbruch wäre.
Einen Hindenburg aber wird uns der Herrgott ſo bald wohl nicht wieder ſenden —
die Hindenburg und Ludendorff wachſen nicht wild auf der Wieſen. Wir hätten uns
alſo nur ſelbſt um ein ſtarkes Bollwerk beraubt und geſchwächt und die feindliche
Angriffskraft um eben dieſes Bollwerk verſtärkt, die Spitze des feindlichen Degens
mit eigener Hand auf die eigene Bruſt gelenkt, — das Beginnen eines hoffnungs⸗
los Irrſinnigen. Nur dadurch, daß wir unſere Grenzwacht jo günſtig ziehen und
fo ſtark feſtigen, wie es nur immer in unſerer Macht liegt, können wir der
ruſſiſchen Gefahr mit Erfolg begegnen. Verſicherungsſcheine auf Jahrhunderte
freilich hält die Weltgeſchichte nicht auf Lager. Gewöhnen wir „Rußland“ erſt
an den Gedanken, daß der Deutſche nicht nur zu fiegen, ſondern das durch den
Sieg Errungene auch feſtzuhalten verſteht, daß es ein ganz gefährliches Spiel
und eine verteufelt teure Sache iſt, mit ihm anzubinden, dann wird die erſte
und grundlegende Vorausſetzung zu einem freundnachbarlichen, ſogar freund-
ſchaftlichen Einvernehmen geſchaffen ſein. Allein ſchon das Bewußtſein, über ſo
viele Deutfche, dazu über Länder, die der Ruſſe (im Gegenſatz zum Reichsdeut—
ſchen !) immer als deutſche angeſprochen hat, als unumſchränkter Herr und Ge-
bieter nach Willkür ſchalten und walten zu dürfen, mußte feiner nationalen Über-
hebung und feiner unverhohlenen Verachtung deutſcher nationaler Unterwürfig-
keit und politiſcher Duckmäuſerei eine ſtändige Nährquelle fein. — Alle anderen
Vorſchläge und Beſtrebungen noch ſo brav beſorgter Deutſcher, die ruſſiſche Gefahr
zu bannen, find Dilettantismus übelſter und gefährlichſter Art, bar jeden pſycho⸗
logiſchen Schätzungs- und Einſtellungsvermögens.
Mit dem „Wirtſchaftlichen“ allein iſt es aber auch nicht getan. Es ſteht über-
haupt nicht immer und überall unmittelbar an erſter Stelle. Mag ſein, daß wir
bereits ſo verhändlert ſind, bei anderen Völkern iſt es nicht das Alleinſeligmachende
und Ausſchlaggebende. Gewiß, „Verdienen“ wird von allen groß geſchrieben, aber
— die anderen wiſſen ſich auch darin zu beherrſchen, wo ihr nationaler Ehrgeiz er-
weckt wird, die Fanale nationalpolitiſcher Ziele, das „Preſtige“ uſw. ihnen auf⸗
leuchten. Und fie haben den ſicheren Inſtinkt, daß fie dabei auch — und erſt recht —
auf ihre wirtſchaftliche Rechnung kommen. Wäre es den franzöſiſchen Macht-
habern wohl möglich, ihr verblutendes Volk durch Vorhaltung rein wirtfchaft-
licher Ziele fort und fort zur Schlachtbank zu führen? Unterſchätzen wir auch die
Engländer nicht, indem wir ihnen rein händleriſch-kapitaliſtiſche Kampfziele unter-
ſtellen. Wohl hat ſich England von ſolchen beherrſchen laſſen, als es den Krieg
gegen uns anzettelte und ſelbſt in den Krieg eintrat. Jetzt kämpft es längſt nicht
mehr nur um dieſe, es kämpft vor allem um ſein Preſtige, um die Macht, das
Anſehen der Firma, damit zwar auch für das Geſchäft, aber doch mit dem
klaren Bewußtſein der vollen Bereitſchaft, auch wirtſchaftlich ſchwerſte Opfer zu
bringen, Schädigungen auf ſich zu nehmen, von denen es ſelbſt am beſten
weiß, daß es ſie auch nach dem Kriege nicht gleich in klingende Münze wird
umſetzen können.
Geidel: Gewißheit | 249
Von keinem der uns feindlichen Völker werden ſo reichlich die rein „wirt-
ſchaftlichen“, händleriſchen „Intereſſen“ geſchwungen, in keinem dürfen ſich die
Vortführer dieſes „Kriegszieles“ fo breitmachen, erfreuen fie ſich fo großen Ein-
fluſſes und Anſehens, wie bei uns. Und es ſoll doch am deutſchen Weſen einmal
noch die Welt genefen —? Wenn wir „der Welt“ nichts weiter zu bieten oder
von ihr zu fordern haben, als wirtſchaftliche Intereſſen, dann wird „die Welt“
auf ſolche „Geneſung“ wohl lieber verzichten, und mit Recht. Nicht einmal unſere
eigenen wirtſchaftlichen Intereſſen werden dabei „geneſen“, und der allzu pfiffige
geſchäftstüchtige Michel wieder einmal der Geprellte ſein. Dafür hätten wir dann
dieſen Krieg mit dieſen Opfern auf uns genommen!
Welcher Geiſt durfte bei uns in die Halme ſchießen, daß das edle Wachstum
nur noch geduldet, demnächſt vielleicht — als läſtiges Unkraut — gar ausgereutet
wird? Welche erſtaunlichen, ſchier abenteuerlichen Unfähigkeiten und Minder⸗
wertigkeiten in Schickſalsſtunden ohnegleichen die Zügel an ſich reißen, ſie, trotz
denkbar kläglichſten Niederbruchs, in der Hand behalten! Wie konnte ſolches Elend
zu hohen Jahren kommen? Zu welchen Abgründen ſind wir geritten worden und
vor welchen ſchweben wir vielleicht noch? — Nur eines durchlichtet und durchlüftet
befreiend dieſe drückende, ſpießbürgerlich-kleinkrämeriſche Atmoſphäre —: Hinden-
burgs blitzendes, geiſtgeſchaffenes und geführtes Schwert. In ſeinem Lager
iſt Deutſchland, iſt das wahre deutſche Weſen, und nur an dieſem lauteren,
bis auf den Grund klaren Stahlbrunnen, in dem ſich irdiſch Gefild und Himmels—
geſtirn ſpiegeln, kann die Welt, können wir ſelbſt einmal noch geneſen.
Gewißheit Bon Ina Seidel
In mir iſt das Herz des Vaterlandes,
Und drum weiß ich, Land, du wirft beſtehn!
Denn ein Herz ſo blütenvollen Standes
Kann nicht untergehn.
Mich an deinen Boden ſchmiegend,
Der mich nährt und hält,
Anter deinen Sternen liegend,
Die die Sterne ſind der ganzen Welt,
Fühl“ ich mich ins Ewige gerettet
Ohne Zeit und Raum,
Weiß ich unauflöslich mich verkettet
Zwiſchen Stern und Baum. —
W
2609 Ä Kohne: Komab Norman
Konrad Nordmann
Skizze von Guſtav Kohne
ſchnurſtracks von Oſten nach Weſten ſtößt eine neu angelegte Ries-
ſtraße in das Maienfelder Moor- und Bruchgelände. Bis zu einer
2 halben Stunde Entfernung macht der grün beangerte Weg auch
O nicht den leiſeſten Verſuch, von der eingeſchlagenen Richtung abzu⸗
weichen. Starr, ſteif, eigenſinnig ſchießt er dahin, das Moorgelände von der Bruch-
niederung trennend. Zunge, weißſtämmige Birken an den Grabenrändern, die
ſchon in geringer Entfernung ſo nahe aneinandergedrängt erſcheinen, als bildeten
ſie eine weiße Bretterwand, bringen einen freundlichen Zug in ſein ſtarres, hartes
Geſicht. Kein Fußgänger, kein Gefährt belebt die lange Strecke, nicht einmal ein
Hafe hopſt über fie hinweg. Einſam, ſtill und groß liegt die Landſchaft zu beiden
Seiten des Weges da. Über ihr wölbt ſich die gewaltige Himmelstuppel,
Endlich — es iſt an jener Stelle, wo ſich rechter Hand im Bruchgelände das
Maiengeſtrüpp und Kiefernbuſchwerk zu einem dichten Rudel ene
hat — bewegen ſich die Zweige.
Nun — nun?
Eine hohe, bärtige Geſtalt tritt heraus aus dem Gebüſch und ſpringt mit
langem Schritt über den Graben weg. Ein Sechziger iſt's, in hohen Stiefeln und
Lodenjoppe, auf dem Kopfe einen verſchoſſenen Hut und in der Rechten einen
derben Eichenſtock. Es iſt Konrad Nordmann, der führende, tonangebende Bauer
von Maienfeld, der Schöpfer dieſes Weges.
Mitten auf dem Fahrdamm bleibt er ſtehen, ſchaut die kurze Strecke in der
Richtung auf das Dorf entlang, wendet ſich und läßt die Blicke gen Weſten ſchwei⸗
fen. Lange ſteht er unbeweglich da, als laure er darauf, daß da hinten — ganz,
ganz hinten — das kleine, ſchwarze Etwas in der Geſtalt eines Bockes über den
Weg traben ſolle. Aber das iſt's nicht, was ihn bannt und feſſelt. Er träumt.
Wahrhaftig: Konrad Nordmann träumt! Und das wettergebräunte Geſicht mit
den ſcharfen Zügen, der wuchtigen Adlernaſe und den wulſtigen Brauen drüber
ſieht doch gar nicht danach aus, als ſei die Seele dieſes Mannes fähig, zum Träu-
men eingeſtellt zu werden. Und dennoch: Konrad Nordmann träumt! Er denkt
daran zurück, wieviel Sorge ihm dieſer Weg gemacht, wieviel Widerſtand er bei
den Ortsbewohnern zu überwinden hatte, ehe ſie einwilligten in ſeinen ſchönen,
ach ſo ſchönen Plan.
284 Nun iſt der Zuweg fertig, und es kann daran gegangen werden, das große
Bruchgelände zu ſeiner Rechten der Kultur dienſtbar zu machen. Viel, ſehr viel
Überredungs- und Berechnungskunſt wird noch erforderlich fein, um das Geld für
dieſe Arbeit aus den Truhen und Koffern ſeiner Standesgenoſſen herauszuholen.
Auch weiß er, daß das Werk in den zehn, fünfzehn Jahren, die er beſtenfalls noch
wirken kann, nicht zu vollenden iſt.
e Seine ganze Hoffnung ſetzt er auf Franz, feinen älteſten Sohn. Wie er
ſelber einſtmals noch ein paar Jahre über die Oorfſchule hinaus fein Wiſſen be⸗
AD
gobne: Konrad Mordinann 251
reichert und feinen Geiſt geſchärft, jo hat auch Franz die Stadtſchule beſucht und
it als ſechzehnjähriger Zunge mit dem Einjährigenſchein auf den Hof zurüd-
gekehrt. Sie verſtehen ſich, er, der Vater, und Franz, der Sohn. Denn auch Franzens
Blick reicht über den Gartenzaun hinaus, und die Begeiſterung für das große
Werk und die Entſchloſſenheit, es zu vollenden, iſt bei ihm nicht geringer, iſt bei
ihm nicht minder drängend als bei dem Vater. Dieſer Sohn iſt Konrad Nord-
manns Stolz und Glück. Und mehr: er ſoll ihm dereinſt auch den Fortgang aus
dem Leben leicht machen und ihn ohne Sorgen ſterben laſſen. Mit dieſer Zu-
verſicht im Herzen ſchreitet Konrad Nordmann auf ſeinem Wege dem Dorfe
zu und kehrt ein in das wuchtige, langgeſtreckte Haus, das da unter den Eihbaum-
tiefen feines großen, ſchönen Hofes in behäbiger Ruhe liegt und ſchlummert.
Die Jahre gehen hin. Nach mehreren Beratungen in der Gemeinde-
verſammlung wird endlich eine mäßige Summe für ein paar Entwäfjerungs-
gräben im Bruchgelände ausgeworfen. Franz, der Sohn, vertritt den Vater bei
der Ausmeſſung des Geländes und gibt Natſchläge bei den Ausſchachtungsarbeiten.
Viel Schwierigkeit und Willenskraft erfordert die Hebung eines mächtigen Find⸗
Iingsfteines, der in der Fluchtlinie des Hauptkanales liegt. Der Vater macht den
Vorſchlag, den Stein zu umgehen. Franz aber trägt ſich mit dem heimlichen Ge-
danken, dieſen Stein dereinſt mit den Jahreszahlen der Kultivierungsarbeit zu
verfehen, und läßt nicht nach, bis der Koloß in feiner maſſigen Fülle auf feſtem
Untergrunde am Ufer liegt.
Da bricht der Weltkrieg aus. Statt der Kulturförderung ſetzt allem Anſchein
nach eine Kulturvernichtung ein. Auch die Entwäſſerungsarbeit wird abgebrochen,
jah und jach; denn mit Franz und zweien feiner Brüder wird der größte Teil der
Ausſchachtungsmannſchaft zu den Fahnen einberufen.
Konrad Nordmanns breiter Niederſachſenbruſt entfährt ein hartes, bitteres
Stöhnen. Indeſſen er fügt ſich und ſucht Hilfe, Schutz und Troſt bei ſeinem Gott.
War er ſonſt nur ein mäßiger Kirchgänger geweſen, ſo ſieht man ihn von nun an
faſt allſonntäglich mit ernſter Miene und voll Andacht in ſeinem Stande ſitzen.
Rehrte der Franz nicht zurück — o Gott! Der Atem will ihm ſchon ſtehen blei-
ben, wenn er nur an die Möglichkeit des grauſen Schickſalsſchlages denkt. Inniger,
mit ſchlichterer Andacht und mehr Treue und Biederkeit im Herzen als Kon-
rad Nordmann mag wohl keine Mutter, keine Tochter, keine Braut um die Ge-
ſundheit und das Leben des Angehörigen die Hände gefaltet haben.
Viele Wochen und Monate geht auch alles gut. Und Konrad Nordmann
vergißt es auch nicht, neben den Bittgebeten manches Dankgebet zu ſprechen.
Franz iſt ſchon dreimal auf Urlaub geweſen, und auch Wilhelm und Ernſt,
die beiden andern Söhne, haben wiederholt im Elternhauſe geweilt. Konrad
Nordmanns Hoffnung, daß ſein großes Kulturwerk doch noch wieder in Angriff
genommen und dereinſt durch Franz der Vollendung entgegengeführt werden
könnte, wird wieder ſicherer, zuverſichtlicher. Er ſchreckt nicht mehr davor zurück,
ſich auf ſeinen Gängen durch das Feld und über die Heide mit Einzelheiten des
ſchönen Planes zu befaſſen. Und als er erſt den friſchen, grünen Weg der Hoff-
nung wieder betreten hat, fühlt er ſich auch bald heimiſch darauf. Ein ſtarker Glaube
252 Kohne: Konrad Nordmann
reift heran in ſeinem bisher ſo angſtgeſchwängerten Herzen. Wie könnte Gott, der
Gute und Gerechte, der Ordnung hielt in der Unendlichkeit des Sternenhimmels,
der jedes Kräutlein auf der Wieſe, jedes Tierchen, das im Sande kriecht, mit ſo
viel liebender Weisheit bedacht hat — wie könnte ihn dieſer Gott mit feinem Aulti-
vierungswerke, das doch dem Wohle der Mitmenfchen, der ganzen Gemeinde galt,
im Stiche laffen? Seine bisherige Düſternis weicht einer heiteren Zuverſicht.
Franz und Wilhelm ſtehen an der Oſtfront, wo ja der Wind mit weniger
Schärfe zu wehen pflegte als im Weften, und Ernſt, der Jüngſte, der Student,
der zwar ſchon oft an Flanderns Küſte eine ſtürmiſche Briſe über ſich ergehen
laſſen mußte, iſt ein Glücks- und Sonntagskind. Er weiß allen Vorgängen des
Lebens eine heitere Seite abzugewinnen und ſchreibt einen launigen, humor⸗
geſpickten Brief nach dem andern.
Nun vergehen aber Tage und Wochen, daß Franz und Wilhelm, die beide
in demſelben Regimente dienen, weder Brief noch Kartengruß an die Eltern
ſenden. Konrad Nordmann grübelt hin und her, und der heitere Zug in ſeinem
Geſichte verliert an Licht und Glanz. FIndeſſen er rafft ſich zuſammen, wirft ſich
in die Bruſt und geht mit feſten Schritten durch Stall und Flur und Garten.
Wetterwendiſch iſt er nie geweſen in all den fünfundfechzig Jahren feines Lebens.
Treue und Beſtändigkeit ſollen ihn auch am Abend ſeiner Tage nicht verlaſſen.
Und ſiehe da, der Entſchluß trägt Frucht, noch ehe die Blüte kaum verwelkt. Die
Söhne ſchicken Briefe; doch nicht vom Oſten, ſondern aus dem Weſten. Sie ſchrei⸗
ben auch, daß alle Maßnahmen, die getroffen würden, aͤuf baldige Kämpfe deuteten.
Wochten fie kommen, die Kämpfe! Konrad Nordmann weiß, was er ſich
und feinem Gotte ſchuldig iſt. Die Treue und der Glaube find die ihm anvertrau-
ten Pfunde, womit er zu wuchern hat. Durch nichts ſollen fie ihm entriſſen werden,
Feſt zupackend will er ſie halten mit ſeinen derben Bauernfäuſten und ſie verteidi.
gen mit zäheſter Niederſachſenkraft. Will's, ſolange der letzte Hoffnungsſchimmer
noch nicht durch düſtere Wetterwolken verdrängt und vernichtet iſt. Das iſt ſein
Wille. Und er tut ihm wohl, dieſer Wille. Denn wieder bleiben die Briefe aus,
und das Herz macht den Verſuch, ihn mit neuen Sorgen zu bedrücken.
zus Aus dem Hauptquartier werden ſchwere Kämpfe gemeldet. Wieder ein-
mal füllen ſich die Anzeigenſeiten der Tagesblätter mit all dem herben, bitteren
Leid gebrochener Mutterherzen, vereinſamter Bräute, verwitweter Frauen; auch
der Heldentod zweier junger Ortsbewohner wird bekanntgegeben. Konrad Nord-
mann aber hört nichts von feinen Söhnen, weder Erfreuliches noch Beängftigen-
des. Hm! Warum nur nicht? Als er eines Tages durch den Garten geht, er-
tappt er ſich darüber, daß er gedanken und ſorgenſchwer den Kopf geſenkt hat.
Nein! Das nicht! Er gibt ſich einen Ruck und beißt die Zähne aufeinander.
Herriſch, als wolle er einen Jungen bei einem Bubenſtreich erwiſchen, ſtapft er
weiter.
Endlich trägt auch ihm der Poſtbote einen blaugrauen Brief ins Haus.
Wie ein Stein fällt's ihm von dem Herzen. Als er aber den Brief zwiſchen den
1 Fingern hält, verblaßt fein Geſicht, die derben Fäuſte fangen an zu zittern, und
er hat nicht den Mut, den Brief zu öffnen. Denn weder Franz noch Wilhelm
4
ii
Kohne: Roneadb Nordmann 253
noch Ernſt hat die Aufſchrift geſchrieben, und ein Abſender iſt nicht angegeben.
Frau und Tochter ſtehen neben ihm, zittern vor Erwartung und wiſſen zu dem
Zögern nichts zu ſagen.
„Hier!“ läßt ſich Konrad Nordmann mit heiſerer Stimme vernehmen und
reicht den Brief der Tochter. Ohne nach der Anſchrift zu ſehen, reißt ſie die Hülle
auf und lieſt. „Verwundet. Auf dem Transport. Wahrſcheinlich nach Berlin.
Herzlichen Gruß. Wilhelm.“
Viele Sekunden lang ſagt niemand auch nur ein einziges Wort. Die Mit-
teilung iſt fo kurz und karg, beängſtigend karg. Schweres läßt fie ahnen und be-
fürchten. Ein jeder fühlt's und mag es doch nicht ſagen.
„Zeig' — zeig’ mal her!“ unterbricht Konrad Nordmann endlich die Stille.
Er hält den Brief in den Händen, ſtarrt die Schrift an und wirft einen ſcheuen,
ängſtlichen Blick auf Frau und Tochter. Die Züge find fo ſtakig, die Zeilen liegen
ſo weit auseinander, und ſie ſind ſo ſchief — ſo ſchief. Ganz als wenn ein Kind
zum erſten Male auf einem Blatte ohne Linien ſchreibt. Was hatte das zu be-
deuten? Niemand wagt eine Antwort zu geben, niemand getraut ſich's, eine
Vermutung auszuſprechen. In beklemmender Vortkargheit kricchen die Tage
ſchwer dahin. Wenn doch nur erſt eine nähere Nachricht, eine beſtimmte Adreſſe
kame!
Statt deren kommt ein zweiter Brief. Wieder von fremder Hand geſchrie-
ben. Als Abſender zeichnet ein Major und Bataillonsführer. Vielleicht berichtet
er irgend etwas über Wilhelms Verbleib und Heldentat. Vielleicht? Nein, ge-
wiß! Eine Anerkennung ſeiner Tapferkeit oder ähnliches wird es ſein. Konrad
Nordmann öffnet ihn ſelber, den Brief.
„In aufrichtigem Mitgefühl muß ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen;
aber ich mache Ihnen die Mitteilung trotz des bitteren Schmerzes, der in ihr liegt,
mit großem Stolz! Und ich bin gewiß, daß auch Ihr Vaterherz in Stolz ſchlagen
wird, ſobald Ihnen die erſten Stunden und eo über das, was geſchehen iſt,
finweggeholfen haben. Ihr Sohn Franz —
Konrad Nordmanns Lippen entfährt ein heiſeres Röcheln, und blaß wie
ein Leinentuch ſinkt die robuſte Bauerngeſtalt ohnmächtig auf die Erde nieder.
Zwei Tage ſpäter trifft das Eiſerne Kreuz erſter Klaſſe ein. Konrad Nord-
mann würdigt es kaum eines Blickes. Auch den Brief des Majors hat er noch
nicht zu Ende geleſen. Wozu das auch? Was ſoll er damit, daß Franz in größter
Eile und Not freiwillig die Mine unter die Brücke getragen, den Übergang ge-
ſprengt und damit das ganze Bataillon vor der Vernichtung oder der ſicheren
Gefangennahme gerettet hat! Für ihn iſt's auch eine Phraſe, wenn da berichtet
wird, daß Franzens Geiſt und Heldentat auf ewige Zeit in der Geſchichte des
Regiments weiterleben werde. Franz, der gute, arbeitsfreudige und willens
tapfere Franz, iſt dahin! Zſt mitten herausgeriſſen aus der Kulturarbeit für feine
Mitmenſchen. Und warum das? Wozu das? Wo blieb die Ordnung, die Ge-
rechtigkeit? Mancher Nichtsnutz und Tagedieb kam mit heiler Haut davon, ver-
Hand es ſogar, ſich als Orückeberger in den warmen Stuben der Heimat umher⸗
dutreiben. Und Franz, der noch ſo vieles für feine Mitmenſchen würde geleiſtet
24 nohne: Nontab Nochmam
haben, ift dahin! Sahin für immer! Warum hatte man nicht einen Zuchthäusler
und Verbrecher die Mine legen laſſen? Er hätte die Arbeit ebenſogut erledigen
können, vielleicht ſogar mit größerer Ruhe und Kaltblütigkeit; aber das Maien⸗
felder Bruchland konnte er der Menſchheit nicht dienſtbar machen. Dazu wäre
nur Franz fähig geweſen, nur er allein. Und doch hatte ihm Gott den Schutz und
Beiſtand verſagt? Var es gerecht, die Guten vor der Zeit zu vernichten und den
Böſen ein langes Leben zu ſchenken? Nein! Und dreimal nein! Konrad Nord-
manns Bauernmuskeln ballten ſich, und die Adern auf feiner breiten Stirn ſchwol⸗
len an. Sein Ausdruck zeigt dieſelbe Entſchloſſenheit wie früher, aber es liegen
Finſternis und Bitterkeit in ſeinen Zügen. Die Frau bittet ihn, fie auf dem Kirch⸗
gang zu begleiten; er räuſpert ſich und wendet ihr den Rücken zu. Und eines
Tages, als ſie laut aus der Hauspoſtille den Abendſegen lieſt, fängt er mitten im
Texte ſarkaſtiſch an zu lachen.
% Endlich, nach acht oder zehn Tagen, trifft die Adreſſe von Wilhelm ein. Er
hat ſchwere Brandwunden im Geſicht erhalten und liegt in einem Berliner
Reſervelazarette. Ob das Sehvermögen ſeiner Augen gerettet werden könnte,
ſtünde noch nicht feſt.
Schon am zweiten Tage nach Eingang dieſes Briefes fährt Konrad Nord-
mann nach Berlin. Es iſt das erſtemal, daß er die große Stadt ſieht.
Wilhelms Stimmung iſt über Erwarten gut. Was mit ſeinen Augen wird,
iſt noch nicht vorauszuſehen. In drei Tagen ſollen fie operiert werden. Konrad
Nordmann entſchließt ſich, ſo lange in Berlin zu bleiben.
Das find nun lange, lange Stunden für ihn. Am zweiten Tage ſucht et
einen Lehrer feiner Heimatgegend auf, der in Charlottenburg im Volksſchul
dienſte ſteht. Der hat Verſtändnis dafür, wie wenig Reiz und Unterhaltung das
Straßenbild und das ganze Leben und Treiben einer Großſtadt einem Bauern
der Lüneburger Heide zu bieten vermag. Er lädt ihn ein zu einer Bootsfahrt nach
den Potsdamer Anlagen. Bis zur Wannſeeſtation fahren ſie mit der Eiſenbahn.
Da es noch faſt eine halbe Stunde dauert, bis der Dampfer abgeht, ſpazieren
ſie die Straße auf und ab und treten auch hinunter an jene Stelle, wo der junge
Heinrich v. Kleiſt vor mehr als hundert Jahren den gewaltſamen Tod geſucht
und das friedliche Grab gefunden hat. Konrad Nordmann kennt kaum den Namen
des großen Dichters und läßt ſich gern von feinem Landsmanne über das Schick
ſal des unglücklichen Geiſteshelden berichten. Aber mitten im Erzählen wird er
abgelenkt. Die Inſchrift des Steines, in der von dem Fortleben des Oichters in
feinen Werken die Rede iſt, feſſelt ihn. Auch der Hinweis auf einen entſprechen⸗
den neuteſtamentlichen Bibelſpruch macht ihn ſtutzig. Lange Zeit kommt er nicht
von der Inſchrift los. Auch des Schreibens von Franzens Bataillonskommandeur
erinnert er ſich. Franz ſollte weiterleben in der Geſchichte des Regiments. Regl-
ment? Ha! Haha! Was ging ihn, Konrad Nordmann, das Regiment an! Was
hatte im Grunde genommen auch Franz mit dem Regiment zu tun! Franzens
Heimatboden und Arbeitsgebiet hätten in Maienfeld gelegen. Und dennoch:
Konrad Nordmann kann nicht los von dem Gedanken des Weiterlebens. |
Wilhelms Operation verläuft günftig. Nicht daß er das volle Augenlicht
Lermontoff: Das Gebet | 255
zurüͤckerhält; aber er kann doch hell von dunkel unterſcheiden und vermag ſich auch
ohne Führung auf der Straße und in der heimatlichen Feldmark zurechtzufinden.
Der Vater grübelt noch immer an Heinrich von Kleiſts Grabſchrift herum
und verſucht es, ſie auf Franz und deſſen Taten anzuwenden. Franz hatte das
Bataillon gerettet, hatte den Truppen das Leben und deren Angehörigen den
Vater und Ernährer erhalten. Sie alle — und nicht nur ſie, auch deren Kinder
und Kindeskinder — mußten ihn in dankbarer Erinnerung tragen. In ihren
gerzen mußte Franz noch weiterleben, wenn all die vielen, die im hohen Alter
eines natürlichen Todes geſtorben, längſt vergeſſen waren. Hm —? Ordnung
und Gerechtigkeit? — Lag hier der Ausgleich, die Vergeltung? — Sein Herz
wird ruhiger, und der ſchwere Groll weicht von ſeiner Stirn.
Die Dorfbewohner ſehen es, und viele atmen erleichtert auf. Ein paar
nachdenkliche Gemüter geben ſich damit aber nicht zufrieden. Sie laſſen heimlich
einen Bildhauer kommen und in den maſſigen Findlingsſtein im Bruchgelände
Franzens Namen meißeln. Durch eine knapp gefaßte Inſchrift laſſen ſie auch
auf ſeine Heldentat und auf ſein Kultivierungswerk verweiſen. |
Als Konrad Nordmann dieſe Inſchrift lieft, weiß er, daß Franz auch in
der Heimat weiterleben wird, lange, vielleicht noch nach Hunderten von Fahren.
Da geht er am nächſten Sonntag zum erſten Male wieder in die Kirche
und am Tage darauf ſtapft er mit gradem Kücken und feſten Tritten ſeinen
Weg hinunter. Ganz wie ehedem; nur daß ſeine Augen matter geworden ſind
und feine Züge die alte Schärfe verloren haben. Das Wort „Entſagung“ ſteht
auf ſeiner breiten, braunen Stirn. Es mahnt ihn, ſooft er beim Haarkämmen
vor den Spiegel tritt, zur Nachdenklichkeit über des Lebens Sinn und Ziel.
Das Gebet Bon Michael F. Lermontoff
Trübt mich ein Leid, ein drückendes,
In Stunden bang und ſchwer,
Ein wunderbar beglüdendes
Gebet ſag' ich dann her.
Gewalten, ſegenkündende,
Hat fein lebend' ger Klang,
Und Luft, nicht zu ergründende,
Der heilige Geſang.
Wie eine Laft rollt nieder dann
Der Zweifel und entweicht. N
Zch glaub’ und weine wieder dann,
Und leicht wird mir, fo leicht
Heutſch von J. E. geeidenen von Geottyuk
256 Schmitt: Von der Weltgeltung des deutſchen Films
Von der Weltgeltung des deutſchen
1 - Bon Peter Paul Schmitt
n der Zeit vor dem Krieg war es nicht immer ein reines Vergnügen,
in ein Kino zu gehen. Wir kamen im Geſchmack und Schmiß mit den
Ausländern noch nicht ganz mit, indeſſen war das noch nicht das
O Schlimmſte. Das Schlimmſte war, daß wir gezwungen wurden, die
Welt, unſere Welt, mit fremden Augen zu ſehen. Wer erinnert ſich nicht noch der
Gaumont-Woche, die auf der ganzen Welt jedes Geſchehnis gepachtet hatte und
den harmloſen dummen Deutfchen die franzöſiſche Brille vorhielt. Wenn fo eine
Woche zu ſchnurren anfing, dann ſchnurrte ſie zuerſt einmal zehn- oder zwölfmal
von allem, was auf den Namen franzöſiſch hört — die ehrwürdige Weinreſtaura-
teurstype Poincaré etwa wurde uns ſelten geſchenkt —, dann ſchnurrte fie eng-
liſch, ruſſiſch, italieniſch und alles mögliche und erſt ganz zuletzt kamen drei oder
vier deutſche Erlebniſſe auf die Leinwand. Zch erinnere mich noch genau, welch
eigentümlichen Eindruck dieſe Vorführungen auf mich machten. Ich zitterte faſt,
ob jetzt der neue Gaumont käme und ſiehe, da kam er auch und es ging wie immer
und wir kamen wieder zuletzt, und während ich daſaß, beſchämt von ſoviel, ſagen
wir einmal Ungerechtigkeit auf der Welt, war ich doch ſo hypnotiſiert von der Kraft
der Überredung, die von alledem ausging, daß ich mich ordentlich geſchmeichelt
fühlte, wenn die Deutſchen zum Schluß ihren Tritt abbekamen. Gott, was da
ſchon groß von uns gezeigt wurde — ein Eiſenbahnunglück, ein kaputtner Zeppelin,
ein höfiſcher Empfang, das war die ganze Propaganda, die unſere Gönner in allen
Winkeln der Erde von uns machten reſp. die wir uns gefallen ließen.
Es iſt ſchwer, ſich heute vorzuſtellen, daß es einmal jo etwas auf der Welt ge-
geben hat und daß alle wie Lämmer herumgeſeſſen ſind, ſtatt den ganzen Schwindel
zum Lande hinauszuprügeln. Und wer erinnert ſich nicht noch der Sorte von Oeutſch,
die auf den fremden Filmen verzapft wurde? Das „Zeppelinunglück bei Ouſſeldorf“
hieß es einmal. Es gab mir einen Stich und ich ſah mich um, ob irgend etwas
geſchehe. Nein, es geſchah nichts — das Publikum lachte dumm, das war alles.
Iſt es zu glauben, daß wir uns ein Ouſſeldorf vormachen laſſen mußten, weil dieſe
großen Herren zufällig kein ü haben und das immer noch gut genug für uns iſt?
Das war einmal, würde der Vaterlandsfreund ſagen, inzwiſchen haben wir
den Weltkrieg gehabt, reſp. wir haben ihn noch, und zu ſeinen guten Folgen gehört,
daß wir mit dieſem ausländiſchen Kram aufgeräumt haben. Za, da liegt eben der
Hund begraben. Ich lade denſelben Vaterlandsfreund ein, mit in das erſte beſte
Kino zu kommen und ſich den neueſten amerikaniſchen Film anzuſehen, greifen
wir nur hinein ins volle Menſchenleben, alſo den „Nilpferdkoffer“. Warum ſoll
es nicht auch amerikaniſche Filme geben, wird der Argloſe jagen. Selbſtverſtändlich,
zugegeben, es weiß ja bei uns ohnehin kaum jemand, daß wir mit Amerika Krieg
haben. So eine echte amerikaniſche Detektivgeſchichte, das macht ihnen keiner nach,
alles, was recht iſt. Alſo ſehen wir uns die Geſchichte einmal näher an, da treten
Gamttt: Von ber Weltgeltung des beutſchen Flims | 257
auf Herr Harry Higgs, Reginald Clark, John Harris, Jacques Tournelles, Flam-
borough & Co., alles echt amerikaniſch bis auf den einen Franzoſen, und alle Zah-
lungen und Erpreſſungen gehen richtig in Dollar vor ſich. Merkwürdiger iſt ſchon,
daß die ganze Geſchichte in Paris, Calais und London ſpielt und daß alle Mitfpieler
biedere Deutſche ſind, aber noch mehr ſtaunſt du, lieber Leſer, wenn du mit mir
die Kolonnaden im Berliner Kleiſtpark, das Eingangsportal zum Reichstags-
gebäude, den Tiergarten, ein Kaffee der Oöberitzer Heerſtraße und das Reftaura-
tionsgebäude der Rennbahn Grunewald erkennſt, und daß der Schnellzug, der in
Calais einbrauſt, am Anhalter Bahnhof mündet: Ja, da ſchauſt. |
Aber fo ſpaßhaft iſt die Sache gar nicht. Man könnte vielleicht auf den Ge-
danken kommen, unſere Filmmacher wären Nachkommen von jenen guten Leuten,
die glaubten, beim Billardſpielen müſſe man franzöſiſch zählen und beim Tennis
engliſch, wiewohl ſie von keiner dieſer beiden Sprachen einen Schimmer haben,
aber was tut man nicht alles für den guten Ton. Nein, lieber Leſer, ſo harm-
loſe Gemüter gibt es auf dem Filmmarkt nicht. Jedermann weiß, wie wir in
der ganzen Welt verſchrien, verleumdet und verpeſtet ſind, kein Hund der Entente
würde noch eine Kohlrübe von uns nehmen, geſchweige ihre Anhänger ſich einen
deutſchen Film anſehen alſo muß der Film friſiert werden und das geſchieht
gründlich, auch die leiſeſte Mahnung an etwas Deutſches wird ausgemerzt. Man
begnügt ſich nicht damit, die in einem Vorort von Berlin ſpielende Handlung mit
Paris, Calais und London zu etikettieren, auch die Uniformen, die hier umgehen,
der Briefträger, der Schutzmann und der Liftjunge, ſie haben alle franzöſiſche
Uniformen oder engliſche oder eine Miſchung von beiden, alles, nur nichts Deut-
ſches. Gewiß, und um ganz ſicher zu gehen, ſteht am Rixdorfer Poſtſchalter, wo
die Erpreſſerin ihre Briefe abholt, „Poste restante“, bloß der Beamte mit dem
Käppi ſieht unverfälſcht deutſch aus.
Die Franzoſen, Italiener und Dänen erfüllen den Erdball mit dem Ruhm
ihrer erſten Schauſpieler, ihrer erfindungsreichſten Köpfe und ihrer beiten Re-
giſſeure, und es gibt kein amerikaniſches Kinoſtück, wo nicht vorn und hinten und
auch in der Mitte noch ein paarmal die amerikaniſche Flagge vorkommt, aber der
Deutſche verſteckt feinen Stolz ganz und gar in feiner Taſche, aus ganz gewöhn-
licher Angſt, dieſe Taſche nicht voll genug zu kriegen. „Business as usual“, lautet
das Feldgeſchrei dieſer Kulturkämpfer; daß deutſcher Fleiß und deutſche Tüchtigkeit
auch irgendwo moraliſche Eroberungen in der Welt zu vollbringen haben, das
liegt ihnen weltenfern. Nun gibt es immer noch zwei Wege, wenn man ſeine paar
Kilometer Film abſolut auch nach Montenegro, Rumänien und Nikaragua ver-
kitſchen will — das gehört, wenn ich nicht ſehr irre, auch zu der bewußten bis auf
den letzten Blutstropfen zuſammengeſchworenen Eidgenoſſenſchaft. Man kann
ja immerhin — warum nicht, ich bin auch kein Spielverderber — für die biederen
Neutralen etwas engliſche Schminke auflegen — es iſt nur die Frage, ob ſie nach
Friedensſchluß noch fo wirkt wie vorher —, aber zu glauben, daß auch wir in Deutſch⸗
land, alſo innerhalb von Oeutſchland, wo der ganze Oreck gewachſen ift, uns dieſe
fremde Maskerade gefallen laſſen müſſen, das iſt — nun, irgendein Wort muß
ſich dafür doch finden, das iſt eine Hundsfstterei.
Der Bürmer X, 18 17
268 Bauer: Buwerfiht
Und das liebe Publikum? Solche echten amerikaniſchen Schmarren werden
ja jede Kriegswoche, die Gott gibt, neu verzapft. Hat das Publikum ſchon einmal
mit Kartoffeln oder roten Rüben — faule Apfel gibt es ja auch nicht — geworfen
oder den Humbug zuſammengeſchrien? Es denkt nicht daran. Das ſind dieſelben
Leute — ich meine nicht die, die franzöſiſche Parfümerien mit franzöſiſchem Text
kaufen, gewiß nicht, das tue ich auch manchmal, ſo gut wie echte Schweden mit
ſchwediſchem Text, wenn es nur noch genug davon gäbe —, nein, ich meine die⸗
jenigen, die kein Auge und kein Organ für den Schimpf haben, der ihnen angetan
wird, wenn ſie ſich eine gute deutſche Arbeit als den Ruhm von Frankreich oder
den Stern von Amerika aufſchwätzen laſſen. Dieſe Leute haben nicht verdient, daß
ſie den Krieg gewinnen — vielleicht gewinnen ſie ihn auch nicht — ſie ſind noch
nicht reif dazu.
Vierzehn Tage vor Ausbruch des Krieges ſchrieb der „Daily Graphic“:
„Was in Berlin nicht engliſch iſt, das iſt franzöſiſch. Dieſer Mangel an Achtung
für die eigene Kultur iſt das Haupthindernis für die Verbreitung des deutſchen
Einfluſſes.“ So denkt der ſtolze, ſich ſeines Wertes bewußte Engländer über uns.
Dieſe Peſt ſteckt uns fo tief im Blut, das iſt mit einem einzigen Weltkrieg gar nicht
herauszukriegen. Aber, und das prophezeie ich hiermit, mit dem nächſten ganz
ſicher. . |
n
ERS 8 SENT
— "arm
Zuverſicht Bon Hans Bauer (Champagne)
Wir ſind nicht mehr ſo feuerdurchweht,
Nicht mehr die glühenden Flammenberger,
Aber wir fühlen nun feſter und ſtärker:
Oeutſchland beſteht.
Ja, es fehlt ihm wohl dies und das:
Hier ein Großes und da ein Kleines,
Aber wir wiſſen von ihm nun eines:
Es iſt Verlaß.
Rennten ſie alle auch wider uns an,
Wäre das Würgen noch wilder und toller:
Wir ſind beſtärkter und zuverſichtsvoller
Als irgendwann.
Za, wir wiſſen, ein glüdhaftes Los
Schmiebet ſich Heutſchland im Funkengeſtlebe,
Denn wir haben zu ihm eine Liebe,
Die iſt gut und grob. z
—
1
Muller: Bas Einfährige flirt 259
Das Einjährige ſtirbt
Von Fritz Müller
Die württembergifhe Zweite Rammer nahm einen Antrag auf
Abſchaffung des Einjährig-Freiwilligen-Privilegs einſtimmig an.
N Nas iſt in dieſem Krieg nicht alles ſchon geſtorben, draußen und
d 2 8 drinnen! Wieder zimmern fie im Innern einen Sarg, einen
S Di länglichen. „Hört mal, Zimmerleute, wie lang der Sarg?“ —
ein Zahr lang, Herr.“ — „Und wer iſt geſtorben?“ — „Das Ein-
5 negt im Sterben, gleich werden ſie im Parlament das Sterbeglöckchen
läuten.“ Ich ziehe den Hut. Ich habe den Sterbenden gekannt. Erſt als ſein Be-
dienter, ſpäter als ſein Herr.
Als fein Bedienter: Zehn Jahre hab' ich ihm gedient, von der erſten Volks-
ſchulklaſſe aufwärts. Faſt ſorgenlos die erſten Jahre im weiten Abſtand. Dann
ſchwitzend über Buch und Heften: „Heinrich IV. regierte von — bis ... Das Atom-
gewicht des Schwefels beträgt — ... a Quadrat plus b Quadrat gleich o Quadrat.
Das Archimediſche Prinzip des Auftriebs lautet — ... Die Schillerſchen Oramen,
chronologiſch geordnet, find — ... Die Kraniche des Ibykus a Einleitung, b Aus-
führung, erſtens, zweitens, drittens, Alpha, Beta, Gamma... Dann erſchauernd
vor den Prüfungsbrillen des St. Einjährigen ſelber: „Um Gottes willen, er wird
mich doch nicht durchfallen laſſen; heiliger Spickzettel, bitt“ für uns.“
Als ſein Herrſcher, ſelbſt mit einer gefühlloſen Lehrerbrille in einem Ein-
jährigeninſtitute ausgeſtattet, ſchmählich, hartherzig vergeſſend eigener Examens
note: „Niedermeier, wenn du dem Pythagoras nicht mehr Verſtändnis entgegen-
bringſt ... Bernheim, wenn du nicht einmal a hoch drei minus b hoch drei zerlegen
kannſt ... Frielinghaus, wenn dir die dritte Wurzel nicht im Schlaf geläufig iſt ..“
Nur der Wenn-Bedingungsſatz wechſelte, der So-Hauptſatz dahinter blieb un-
abänderlich der gleiche: „— ſo wirſt du mit Glanz durch das Einjährige fallen,
mein Lieber.“ In ſtarken Fällen war die Beugung ins Dramatiſche verſtattet:
„Wie, Schragenmaier, dein Einjähriges willſt du machen, und weißt nicht mal die
Inhaltsformel für den abgeſtumpften Kegel!“ Während ich in verzweifelten Fällen
elegiſch flöten durfte: „Laß es gut ſein, Faltenmüller: Eher geht ein Kamel durch
das bekannte Nadelöhr, als einer, der das doppelte Produkt bei der Quadrierung
eines Aggregats vergißt, durch das Einjährige ..“
Nun, der Faltenmüller hat es damals nicht gut ſein laſſen. Glatt iſt er durch
das Einjährige durchgeſtiegen, trotzdem er bei dem Prüfenden der Regierungs-
kommiſſion abermals das doppelte Produkt vergaß. „Er macht ſonſt einen tüch⸗
tigen Eindruck,“ ſagte der Regierungsgewaltige bei der Prüfungsberatung, „laſſen
wir ihn durch, den Faltenmüller.“ Zch hab' es nicht begriffen, damals. Wie konnte
ein Menſch ohne doppeltes Produkt bei der Quadrierung eines Quadrats ſeinen
Mann im Leben ſtellen? Wie konnte ein doppeltproduktenloſer Kerl vor dem
Feind im Ernſtfall überhaupt beſtehen? |
„
260 Muller: Das Einjädrige Medi
Heute, wo ich meine Prüfungsbrille längſt im Kaſten liegen habe, weiß ich's
freilich beſſer. Heute leſe ich ohne Kopfſchütteln in der Zeitung, daß der Falten⸗
müller wegen hervorragender Tapferkeit vor dem Feinde mit dem erſten Kreuz
geziert iſt. Und dabei hat die Zeitung nicht einmal erwähnt, daß der Faltenmüller
eigentlich Einjähriger iſt, geſchweige denn, daß er hinter dem Examen noch volle
zwanzig Jahre produktenlos und doch heil und aufrecht durch des Lebens Aggre⸗
gate lief. |
Heil dir, Faltenmüller! Heute habe ich Reſpekt vor dir. Heute will ich dir
geſtehen, daß ich dich in meiner Lehrerzeit unter meinem Fenſter einmal ſagen
hörte: „Und weißt du, Lippel, auch wenn ich durchfall“: Ich pfeif' auf das ganze
Einjährige!“ Einer, der zur Glanzzeit des Einjährigen auf es pfeifen hätte können!
— Faltenmüller, für deinen alten Lehrer iſt deine erſtkreuzige Tapferkeit vor dem
Feinde keine Überraſchung.
Dein alter Lehrer hat auch ſonſt im Weltkrieg mancherlei gelernt. Erinnert
hat er ſich an vieles, was er damals an der Einjährigenherrlichkeit bockbeinig über-
ſehen hatte: Leute ſind ihm im Krieg begegnet, die das Einjährige nicht hatten —
ganz nette Leute, Faltenmüller — nein, nicht nett nur, prächtig waren ſie. Erinnert
hat er ſich an zentnerweiſen eignen Lernballaſt, den er nutzlos ſchwitzend durch
ſein Leben ſchleppte, — ja, wenn er allein damit geſchwitzt, wenn er nicht auch
hundert andre damit ſchwitzen hätte machen! Erinnert hat er ſich an hundert arme
Zungen, die von Eltern, einjährigenblöder noch als er, unbarmherzig durch das Ein-
jährigenjoch gepeitſcht wurden. Deren Jugend man mit Einjährigenvorbereitungs-
foltern zerquälte. Deren goldne Mittwoch- und Samstagnachmittage man von
einem Heer bezahlter Nachhilfslehrer mitleidslos zertrampeln ließ: „Nicht wahr,
Herr Doktor, Sie fördern meinen Jungen durchs Examen, koſt' es, was es wolle?“
O, es hat viel gekoſtet! Nicht nur Mark und Pfennig. Tränen, Flüche, auf Lebens-
zeit zerhackte Nerven: „Nur acht Tage, wenn er es noch aushält, Doktor — ſtellen
Sie ihn täglich zweimal unter die kalte Brauſe, laſſen Sie ihn für die letzte Repetition
von einem weiteren Inſtruktor behandeln — tun Sie, was Sie können — und
bedenken Sie: die Schande für die Familie, wenn er nicht einmal das Einjährige.
„Nicht einmal das Einjährige!“ Drohend ſtand das Schreckwort über taufen-
den „beſſerer“ Familien und quirlte einen Hexenſabbat auf von Martern und
zerblätterten Blüten.
Faltenmüller, Faltenmüller, daß dir's dein alter Lehrer nur bekennt: Wenn
ſie morgen die Sterbeglocke des Einjährigen läuten, wenn ſie es übermorgen
feierlich begraben — mitgehn will ich ſchon bei dem Begräbnis, meinetwegen
achtungsvoll mit dem Zylinder — mehr noch: die üblichen Grablobreden will ich
anhören, ohne eine Miene zu verziehen — aber eines, Faltenmüller, wird dein
alter Lehrer nicht tun: Tränen weint er ihm nicht eine nach, dem Einjährigen,
Gott hab' es ſelig
Srotthuß: Die Nacht
251
Die Nacht Von 8. E. Freiherrn von Grotthuß
Über den Bergen hingegoſſen,
Ruht eine königliche Geſtalt:
Die Nacht.
Auf ihrem Haupte
Funkelt die Sternenkrone;
In ihrer Hand
Schimmert ein Lilienzepter,
Aus bleichen Mondes
Strahlen gewoben;
Zn ihrem Gewande buhlen
Weiche, koſende Lüfte.
Aber ſie weint.
Sie weint und ſeufzt:
„Allewiger, warum gabſt du mir
Die dunkele Pracht
And dieſe funkelnde Krone
Und dies ſchimmernde Zepter?
Und nahmſt mir alles:
Meine Kinder!
Hab’ ich fie nicht mit Schmerzen geboren,
Meine kraftvollen Söhne,
Die ragenden Bäume,
Und meine lieblichen Töchter,
Die ſüßen Blumen?
Sind ſie nicht alle, alle
Aus meinem Schoße emporgeſtiegen:
Die weichen, begrünten Täler,
Die ſtolzen, ſchneegekrönten Berge,
Die klaren Seen?
And alles, Herr,
Wofür die Menfchen,
Meine verlorenen Rinder,
Dir täglich danken?
Und ich darf ſie nicht ſehen,
Wenn ſie offenen Auges
In ſtrahlender Fülle
Sich freuen des Oaſeins,
Das ich ihnen ſchenkte!
Und ſie vergeſſen der Mutter
Und wollen mich nicht kennen
Und verachten mich! —
Nur im Traum darf ich ſie beſuchen
Und muß mich von hinnen ſtehlen
Wie eine Diebin vor deinem Morgen,
Und ſie ſind doch meine Kinder!
„Aber ich weiß:
Einſtmals,
Wenn ſie müde und elend,
Getäuſcht von dem falſchen
Glanze des Tages,
Nach Ruhe und Frieden ſich ſehnen,
Dann kehren ſie wieder
An meinen Buſen zurück,
And ich wiege fie ewig
In meinen Armen,
Sch, ihre verachtete
Mutter, die Nacht.“
Und die Königin ſeufzt.
Und im Hauch ihres Seufzers
Erſchauert der See
Und pocht mit träumender
Welle ans Ufer.
Und eratmend wiegt
Der Wald ſeine Wipfel
Und flüſtert im Traum.
Und die Königin weint,
Und weinend küßt ſie
Zum Abſchied die ſchlafenden Blumen,
Und ihre Tränen fallen
Mit heimlichem Klingen
Auf die blühenden Wangen
Ihrer lieblichen Töchter,
Der fügen Blumen.
Und fie ſchwindet auf leifen
Sohlen von dannen. —
Im Purpur prangend
Erſcheint der Tag,
Der junge König.
Und eiferſüchtig
Will er ſchnell
Die Tränen verwiſchen
Der verbannten Mutter,
Der Nacht.
Aber den erwachenden Blumen
Iſt's jo felig-jüß,
So heimlich-ſehnſuchtsvoll
Und ſo wunderſam
Ums Herz. träumen!
Ach, noch länger möchten ſie ſchlafen und
Sie ahnen: |
Ihre Mutter war bei ihnen im Traum
Und hat über ihnen geweint
Und hat ſie geküßt, —
Ihre Mutter und wifre:
Die Nacht.
2
5 U 600 8
% S
. —,% 1 er 7
| L
Großfürſt. Nikolai Nikolajewitſch
7 an Zdulber in der Krim befindet ſich Großfürft Nikolai Nikolajewitſch mit der
Raiferin-Mutter von Rußland nebſt einigen weniger beträchtlichen großfürftlichen
Staatsgefangene wurden fie dort bis zum Eintreffen der deutſchen Truppen von bolſche⸗
wiſtiſchen Matroſen in Gewahrſam gehalten.
Nikolai Nikolajewitſch unſer Gefangener — und alles bleibt ſtill! Wie ſtumpf iſt unfer
Volk im Laufe des Krieges doch geworden! ſeufzt die „Deutſche Zeitung“. „Oaß wir auf
dieſe Weiſe die Perſon Maria Feodorownas [die däniſche Prinzeſſin Dagmar] in die Hand be-
kommen haben, iſt natürlich nicht unwichtig. Die Dänin war von jeher eine unſerer gefährlich⸗
ſten Gegnerinnen am Zarenhofe. Sie war eines der eifrigſten Mitglieder der internatlonalen
Fürſtenverſchwörung gegen den deutſchen Kaiſer, die alljährlich in Kopenhagen, der Zentrale
aller dieſer Treibereien, an ihrem väterlichen Hofe tagte. Auf der Witwe Alexanders III.,
auf ihren Schweſtern, auf ihrer verſtorbenen Mutter, der „Großmutter Europas“, ruht ein
gut Teil der Blutſchuld dieſes Krieges. Durch eine merkwürdige Laune des Schickſals war ſie,
wenn wir nicht irren, auf der Durchreiſe von Kopenhagen nach Petersburg, 1914, gerade
am Tage der Mobilmachung, in Berlin. Sie mußte ihre Fahrt unterbrechen und nach Oaͤne⸗
mark zurückkehren, von wo fie dann zu Schiff oder über Schweden nach Petersburg gelangt
iſt. Der Verkehr über Eydtkuhnen war ſelbſtverſtändlich vom Augenblick des Erſcheinens des
Mobilmachungsbefehls an geſperrt. Die Kriegsnachrichten, die Ausſicht auf Rückbeförderung
in geſchloſſenem Salonwagen bei verhangenen Fenſtern, ihre Stellung unter ſelbſtverſtändlich
in die ſchonendſten Formen gekleidete Aberwachung gaben der ſehr reizbaren Dame Veranlaſ⸗-
fung, ihrem Herzen über die Deutſchen im allgemeinen, den ihr beigegebenen ‚Ehrendienft‘
im beſonderen, ganz beſonders aber über den Kaiſer in äußerſt draſtiſcher Weiſe
Luft zu machen. Ihre kaiſerliche Würde kam ihr dabei ſo gut wie vollſtändig abhanden. Ob
ſie auch dem ſie bewachenden Matroſenkommando von der Flotte des Schwarzen Meeres
gegenüber während der neueren Beſchränkungen ihrer Bewegungsfreiheit ſich ungeſtraft fo
deutlich ausſprechen durfte, wie damals in Berlin, mag dahingeſtellt bleiben. Wahrſcheinlich
hat ſie diesmal die Pickelhauben mit anderen Empfindungen vor ſich erſcheinen ſehen, als an
jenem 1. Auguſt in Berlin. Kamen fie ihr doch als Retter aus ſtändiger Lebensgefahr! Viel-
leicht hat ſie auch ſeither über manches anders denken gelernt, als bis zur Thronentſagung ihres
ſtumpfen Sohnes und bis zum Sturz der Romanoffs. Aber auf dieſes „Vielleicht“ können und
werden wir uns hoffentlich nicht einlaſſen. Es handelt ſich um eine gefährliche Frau, die
immerhin noch Unheil ſtiften kann und im Keichsintereſſe demgemäß zu behandeln
Grohfürt Nitole} Tutelafewitſch 205
iſt. Die Rüdfihtnahme auf den däniſchen Hof kann und darf daran nichts ändern. Für uns
it fie Ruſſin und das Mitglied eines ſouveränen Hauſes, das ſeinerſeits noch nicht dazu ge-
kommen iſt, feinen Frieden mit uns zu ſchließen. Daß die Regierung der Lenin und Trotzki
ſie ſtaatsrechtlich vertritt, werden die Gefangenen von Yalta ſelbſt ſchwerlich behaupten. Tun
fie’s, fo ſoll man fie über die ruſſiſche Grenze abſchieben. Sie alle, bis auf einen. Bis auf
Nikolai Nikolajewitſch nämlich.
Nikolai Nikolajewitſch in unſerer Hand! And alles bleibt ſtill! Kaum iſt's, als hätte ſich
irgend etwas ereignet! So ſehr hat die Fülle des Aufregenden, das der Krieg uns gebracht
hat, die Aufnahmefähigkeit der Offentlichkeit auch für das bedeutſamſte Neue gemindert,
wenn es nicht gerade von dem Punkte kommt, auf den ſich im Augenblick die allgemeine Auf-
merkſamkeit richtet! Was die Nachricht bedeutet, wird einem fofort klar, wenn man ſich vor-
ſtellt, daß ſie etwa in den Tagen von Tannenberg, Lodz, Gorlice oder als Mackenſen die Ruſſen
in Südrußland jagte, gekommen wäre!
Es ift richtig, — damals wäre es eine Nachricht von unmittelbarem und größtem Ein-
fluß auf Operationen, die noch in vollem Gange waren, geweſen. Heute iſt das nicht mehr der
Fall, und doch iſt fie nach wie vor hochbedeutſam. Rein militäriſch, und was einſtweilen noch
vollſtändig überſehen zu werden ſcheint, auch politiſch. Rein militäriſch zunächſt. Nikolai
Alkolajewitſch iſt einer der ſtärkſten Feldherren, die in dieſem Kriege eine Rolle gefpielt haben.
Vielleicht der ſtärkſte auf der Seite unſerer Gegner... Wohl durchweg iſt es diesſeits als eine
gewaltige Dummheit eingeſchätzt worden, die der Zar beging, als er ihn damals von der Weft-
grenze nach dem Kaukaſus abberief. Nein! er hat unſerer Kriegführung das Leben in der
Tat ehrlich ſauer gemacht. Und daß er nunmehr fürs erſte unſeren Gegnern unter keinen
- Umftänden mehr zur Verfügung ſtehen wird, iſt bei der politiſch ſchließlich doch noch immer
reichlich ungeklärten Lage im Oſten militäriſch immerhin von großem Wert.
Zur militäriſchen Bedeutung kommt die politiſche ſeiner Gefangennahme. Er iſt
der willensſtärkſte, tatkräftigſte und geſcheiteſte der lebenden Romanoffs. Derjenige Groß-
fürft, der am eheſten das Zeug hätte, den Torſo des heiligen Rußland zariſtiſch
zu organiſieren, wenn je wieder die Möglichkeit dazu auftauchen ſollte. Ein Mann von
ſtarkem Anhang. Ein Thronprätendent, wie er im Buche ſteht. Die Perſon eines ſolchen,
eines Mannes, mit dem man verhandeln kann, in der Hand zu haben, hat immer ſeinen Wert.
Mehr über dieſen Punkt zu fagen, iſt überflüſſig. Bei ihm handelt ſich's noch obendrein eben-
falls um die Perſon eines Deutſchenfreſſers erſten Ranges.
Echt deutſch werfen verſchiedene Blätter die Frage auf, ob wir eigentlich ein Recht
hätten, die Befreiten von Yalta als Gefangene zu behandeln. Sie iſt lächerlich! Übrigens,
wenn man beſondere Rechtsgrüͤnde brauchte, was aber gar nicht der Fall iſt — was den Groß-
fürſten Nikolai Nikolajewitſch anlangt, wäre man wahrhaftig am allerwenigſten in Verlegen
heit. Das nachſtehende Schreiben eines Mannes, der die Vorgänge bei Ausbruch und während
des Krieges auf ruſſiſcher Seite aus nächſter Nähe geſehen hat, enthält das Nötige. Es lautet:
„Soeben leſe ich, daß unſere Truppen den früheren ruſſiſchen Großfürſten Nikolai Nito-
lafewitſch in der Krim vorgefunden haben. Nikolai Nikolajewitſch iſt es geweſen, der, wie
feſtſteht, deutſche Reichsangehörige in die Gefängniſſe ſtecken ließ, in Ketten zu legen
befahl und aucheichtfertig gefällte Todesurteile beſtätigte. Die ganze Deutjchen-
hetze in Rußland, bald nach dem Ausbruch des Krieges, ift fein Werk, um gegen Oeutſch-
land Stimmung zu machen. Durch ſeine Verfügungen wurde der deutſche Beſitz vogelfrei,
wurden wehrloſe Bewohner Oſtpreußens nach Sibirien geſchafft, wo viele Hunderte
umgekommen find. Auf ihn, den Höchſtkommandierenden, ift es zurückzuführen, daß man
die deutſchen Frauen, Männer und Kinder (Zivilgefangene) überall aus dem
europàiſchen Rußland nach Sibirien verſchleppte, wo viele elend verkommen ſind.
Samals hatte der deutſche Reichskanzler als Vertreter der Regierung im Reichstag erklärt,
264 Wilſon und das beuiſche Anſehen
daß man für das, was man deutſchen Reichs angehörigen an Gut und Gefundheit
an Schaden zufüge, daß man auch für Beleidigungen und ſchlechte Behandlung Rechenſchaft
fordern würde. Sind das leere Worte geweſen, oder wird das jetzt geſchehen?
Wird man den Großfürſten vor Gericht ſtellen? Nicht um Rache zu nehmen, ſondern um
den Ruſſen zu beweiſen, daß man einen Deutſchen nicht ungeftraft beleidigen kann! Es
wäre dringend wünſchenswert!“ |
So liegt die Sache — für den Notfall! Die Erinnerung an die damalige Erklärung
des deutſchen Reichskanzlers iſt, ganz abgeſehen vom vorliegenden Zuſammenhange, unter
allen Umftänden dankenswert. Es iſt im Augenblick noch nicht bekannt, wie der Kaiſer über
den künftigen Aufenthalt des Großfürſten verfügt hat. Wilhelmshöhe als Unterkunft für einen
fürſtlichen Gefangenen läge ja in der Erinnerung an 1870 nahe. Geſchähe aber damit dem
Andenken Napoleons III. ſchließlich doch Anrecht. Er war an ſich ein anſtändiger Gegner.
Und das war der Großfürſt, bei all feinen hervorragenden militäriſchen Eigenſchaften, denn
doch nicht!“
Unſühnbare Blutſchuld laſtet auf dieſem großfürſtlichen ungeheuer! Dennoch hat es
. bisher nicht den Anſchein, daß den Reichsintereſſen in der Weiſe entſprochen werben wird,
wie es der Verfaſſer der dankenswerten Mahnung erwarten zu dürfen glaubt.
2 ö
Wilſon und das deutſche Anſehen
Ii, e
9 Wei der Nachwahl für den Senatsſitz des Neuporker Bezirks Madion ſuchte Prä⸗
223 ſident Wilſon die zweifelhaften Ausſichten des demokratiſchen Kandidaten Davis
28 dadurch zu verbeſſern, daß er in einem der Offentlichkeit anvertrauten Briefe
deſſen „echt amerikaniſche Haltung“ ſeit Kriegsausbruch hervorhob und den Gegenſatz zu dem
republikaniſchen Kandidaten Lenroot betonte, der bei den drei entſcheidenden Abſtimmungen
im Kongreß vor dem Eintritt Amerikas in den Krieg ſich „höchſt unamerikaniſch“ verhalten
und „geradezu im deutſchen Sinne“ gewirkt habe. Das Ergebnis der Vahl war für Wilſon
eine bittere Enttäuſchung. Senator Lenroot ſiegte mit 164000 gegen 148000 Stimmen über
Davis. Daß der Unterſchied nicht erheblich größer ausfiel, lag daran, daß der Sozialiſt Victor
Berger wider alles Erwarten 110000 Stimmen erhielt, trotzdem wegen feines Verhaltens
im Kriege ein Hochverrats verfahren gegen ihn ſchwebt, und trotzdem er im Wahlkampfe for-
derte, daß Amerika mit Oeutſchland ſofort Frieden ſchließen und ſeine Truppen unverzüglich
vollftändig aus Frankreich zurückziehen folle.
Es ergeht den angelſächſiſchen Weltlenkern mit der Brandmarkung aller Oeutſchen und
deutſchfreundlich Gefinnten als „Hunnen“ und Hochverräter wie ſeinerzeit bei der „Made : in-
Germany“ - Bewegung mit der Brandmarkung deutſcher Waren. Nachdem man damals den
deutſchen Wettbewerb genugſam als „German blight“, deutſche Krätze, als „Bazillus deutſcher
Geſchäftsunehrlichkeit“ uſw. verleumdet hatte, glaubte man ihn dadurch wirkſam bekämpfen
zu können, daß man durch die Marchandise Marks Act vom 23. Auguſt 187 bei Strafe der
Konfiskation vorſchrieb, daß alle aus Deutſchland eingeführten Waren die Urfprungsbezeid-
nung „made in Germany“ tragen müßten. Die Wirkung war bekanntlich, daß man nun eiſt
merkte, woher fo viele gute, gediegene Waren kamen, die auf dem engliſchen Markte erſchie
nen und, ſoweit ſie im eigenen Lande keine Abnehmer fanden, durch engliſche Kaufleute nach
allen Weltgegenden wieder ausgeführt wurden. Im Grunde bedeutet dieſer Krieg für die
Engländer und ihre „Vettern“ nur eine Fortſetzung des Rampfes gegen den deutſchen Wett-
bewerb. Man möchte Oeutſchland überhaupt zerſchmettern; für ben Fall, daß das nicht ge“
Feth inaud Hobler 265
lingen ſollte, verleumdet man uns in aller Welt als Barbaren, „Hunnen“, Feinde der Menſch⸗
heit. Man teöftet ſich mit der freundlichen Zuverſicht: „Germany will be anyhow the most
hatredd nation after the war.“ Das erwähnte amerikaniſche Wahlergebnis beweiſt, daß die
Werbekraft der deutſchen Waffentaten ſich in breiten Kreiſen des Volkes der Vereinigten Staa-
ten ſchon als viel ſtärker erwieſen hat als die Verleumdungen der Staatsmänner angelſächſi-
ſcher Herkunft und Geſinnung. Der große Krieg, der auf unfer geiſtiges Auge wie eine Star-
operation wirkte, hat uns auch von mancher irrtümlichen Auffaſſung, die wir im Frieden von
dem Amerikanertum gewonnen hatten, befreit. Wir erkennen jetzt, daß der „Schmelztiegel“
weniger gute Arbeit geleiſtet hatte, als es uns ſchien. Das Angelſachſentum iſt in den Vereinig⸗
ten Staaten durch die Einwanderung längft zu einer Minderheit geworden, aber es iſt die herr-
ſchende, trotz allem Demokratismus ziemlich abgeſondert lebende Kaſte geblieben. In den
maßgebenden Stellungen im öffentlichen Leben Amerikas findet man faſt nur Leute angel
ſächſiſcher Herkunft. Das trifft z. B. gegenwärtig zu für den Präſidenten und Vizepräſidenten
der Union und für ſämtliche Mitglieder des Kabinetts. Angelſächſiſcher Abſtammung find
ferner 7 von 9 Mitgliedern des Oberſten Gerichtshofes, 83 von 96 Mitgliedern des Senats,
je 3 von 4 Mitgliedern des Abgeordnetenhauſes, 526 von 385 höheren Beamten der Regie-
rungen der Einzelſtaaten, 242 von 277 Oberrichtern und Richtern der oberſten Gerichtshöfe
der Einzelſtaaten, 29 von 32 Generälen des amerikaniſchen Heeres vor Beginn des Kriegs“
zuſtandes mit Oeutſchland. Dieſe überwiegend angelſächſiſche Abſtammung des Führertume
im Volke der Vereinigten Staaten erklärt zur Genüge die deutſchfeindliche Haltung Amerikas
während des Krieges. Sie beweiſt aber auch, daß die Union ein ganz anderes politiſches Ge-
ſicht erhalten wird, wenn die Maſſen der Bevölkerung anderer als angelſächſiſche Herkunf:
durch den Weltkrieg zum Bewußtſein ihrer Kraft und Macht aufgerüttelt werden ſollten.
Otto Corbach
AD |
* *
N war er 65 Jahre alt as (geb. 14. März 1853 zu Surzelen | im Kanton Bern).
Vir kämpfen nicht gegen Tote, aber es wäre nicht nur heuchleriſch, ſondern auch
ungerecht gegen die Allgemeinheit, am Grabe ſo zu tun, als ob nichts geſchehen wäre. Hodler
hat jenen aus entartetem Haß entſprungenen Genfer Proteſt gegen uns Oeutſche unterſchrie⸗
ben, der dazu beſtimmt war, Haß und Verachtung der Welt, ſoweit ſie damals noch nicht in
den Krieg hineingezogen war, gegen uns zu lenken. Wer, wie ich, noch kurz vor Kriegsausbruch
in Genf geweilt hat, kennt die mildernden Umſtände, die für einzelne der Unterſchreiber gel-
tend gemacht werden können. Wir wollen unfererjeitd dem Phariſäertum nicht verfallen
und die Macht ſolcher Maſſenpſychoſen ruhig anerkennen.
Das ändert nichts an der Tatſache, daß ein Mann wie Hodler nicht nur durch feine welt-
kluge und klar rechnende Art, ſondern auch durch feine Lebenserfahrungen gegen eine ſolche
ſeeliſche Überrumpelung gewappnet fein mußte. Dieſe Lebens erfahrungen hatten ihm Oeutſch⸗
land als beſtes Wirkungs- und oſatzgebiet feiner Kunſt gezeigt. Er hatte auch nie Widerſpruch
dagegen erhoben, wenn er von einem großen Teil der deutſchen Kunſtkritit als Verkünder
und Prophet germaniſcher Kunſtart gefeiert worden war. Er hatte in Jena und Hannover
große Wandgemälde ausgeführt, die die urdeutſchen Erlebniſſe der Reformation und der
Freiheits kriege verherrlichen follten. Wenn er ſich trotzdem bei dieſer erſten Gelegenheit einer
jo wüſten Beleidigung dieſes deutſchen Volkes, in dem Augenblick, als es um fein Beſtehen
rang, teilhaftig machte, ſo muß da irgendwie etwas nicht ſtimmen. Wir ſind ja ſo beſcheiden,
266 Ferdinand Hodder
wir hätten kein mannhaftes Eintreten für uns gegen die haſſende Meute verlangt; aber wenig
ſtens ein Nichtſchimpfen, ein Schweigen war geboten. Wo es nicht einmal dafür reichte, muß
es um bas Menſchliche ſchwach ſtehen. Entweder war ſchon zuvor in Hodler die Abneigung
gegen uns Oeutſche vorhanden, dann durfte er die oben genannten Aufträge nicht ausführen,
weil ihm dann ja das innere Verhältnis zu den Aufgaben fehlte; oder er hat ſich aus irgend⸗
welchen rechneriſchen Erwägungen auf die andere Seite geſchlagen und damit fein früheres
Empfinden verleugnet. | |
Ich kenne die Phraſe zur Genüge, daß wir uns beim Künſtler an feine Werke halten
ſollen, der Menſch gehe uns nichts an. Abgeſehen davon, daß das nicht möglich iſt, wenn
wir mit dieſem Menſchen zu tun gehabt haben, iſt die Forderung auch eine bequeme
Phraſe, nur dazu beſtimmt, einem über bie Schwierigkeit hinwegzuhelfen, ſcheinbare Miber-
ſprüche zwiſchen Menſch und Künſtler zu überbrücken. Iſt es doch nur natürlich, daß dieſe
beiden ſich wechſelſeitig bedingen, daß ſie in jedem Falle eine Einheit bilden. Wenn dieſe
nicht harmoniſch iſt, wenn ſich Diſſonanzen nicht auflöfen laſſen, fo muß eben die Oiſſo⸗
nanz als Tatſache hingenommen werden; fie hat dann tiefere Gründe, deren Anter⸗
ſuchung ſicher auch Aufſchlüſſe über das Weſen der Kunſt eines ſolchen Menſchen bringt.
Ich bin überzeugt, das iſt auch bei Hodler der Fall. Auch feiner Kunſt fehlt die letzte
Harmonie, die höchſte ſeeliſche Jurchbilbung, ihr fehlt die letzte geiſtige Aberzeugungskraft,
wie fie nur die Liebe gibt; es bleibt ein Reſt des Rechneriſchen, des willkürlich Gewollten
und nicht Gewußten.
Dafür mag die tiefſte Urſache in einer nicht ganz geglückten Miſchung der verfchiebe-
nen Bildungseinflüſſe von Raſſe, Volkstum und Erziehung liegen. In den Nachrufen unſerer
Zeitungen wird noch ſtärker, als in den früheren Abhandlungen, Hodler als urgermanlſcher
Künſtler hingeſtellt. Es iſt nicht ohne Humor, zahlreiche jener Kunſtſchriftſteller fo ſtark das
Raffige betonen zu ſehen, die recht empört zu fein pflegen, wenn man es als Erklärung für
Kunſterſcheinungen auf dem Raſſengebiete anwendet, dem fie felbft angehören. Mit dem
Germanentum darf man offenbar arbeiten, mit dem Semitentum nicht. Der Fall wird er-
götzlich, wenn die Herrschaften ſich nun hinſtellen und mit erhobenem Finger die Oeutſchvölki⸗
ſchen zurechtweiſen, „daß deutſch und germaniſch nicht dasſelbe iſt“ (Fritz Stahl, geb. Lilien
thal, im „Berliner Tageblatt“). In dieſem Zuſammenhange nennt Stahl als die drei ger-
maniſchen Maler und Bahnbrecher der neuen, dem zugeſpitzten Realismus entgegengeſetzten
Kunſt: den Holländer van Gogh, den Norweger Munch und den Schweizer Hodler. Es iſt
nun in der Tat eigentümlich, daß wir Deutſchen jedem dieſer drei Künſtler gegenüber Wiber-
ſtände zu überwinden haben, die ſicher nicht bloß im Außeren liegen. Jedenfalls find alle drei
Beiſpiele dafür, daß mit dem Rafjenbegriff allein, mag man ihn noch fo hoch einſchätzen, nicht
zu arbeiten iſt. Er iſt eben eine, vielleicht die urſprünglichſte, aber doch immerhin nur eine
der das Weſen des Menſchen beſtimmenden Kräfte.
Auf die beiden erſtgenannten Künſtler können wir hier nicht eingehen, bei Hodler aber
liegt auch die Raſſenfrage nicht fo einfach. Wer, wie ich ſelbſt, ſchweizeriſches Alemannenblut
in den Adern und immer wieder nicht bloß als flüchtiger Reiſender in der Schweiz gelebt
hat, wird niemals die Raffengleihheit von Deutſch- und Welſchſchweizer zugeben. Gewiß
find die Welſchſchweizer auch keine Franzoſen und beruht ihre Verſchiedenheit von bieſen nicht
nur auf ihrem Verflochtenſein mit der ſchweizeriſchen Geſchichte. Aber jedenfalls ſind die
Jura ſier keine franzöſiſch ſprechenden Germanen. Oeutſches Blut wird drin fein, aber auch
romaniſches, wohl auch keltiſches. Mich hat dieſer Menſchenſchlag immer ſtark gefeſſelt; feine
Lebensform zeigt viele eigenwillige Züge, unter denen das Eingeſpanntſein eines beweglichen
Temperaments in einen ſchweren Körper einen beſonderen Reiz ausübt. Dieſe ſchwerere
Körperlichkeit, die zum Teil im Gebirglertum begründet fein mag, bildet das Binbeglieb mit
den Oeutſchſchweizern auch der Urkantone, wobei wir bedenken wollen, daß auch bet bieſen
getdinand Hobles | 207
ſelt Jahrhunderten viel fuüͤdliches Blut eingeſtrömt iſt. Ich betone das fo ausführlich, weil
es fuͤr die Körpergeſtaltungen Hodlers bedeutſam geworden iſt.
Bei Hodler wirken die Männer überzeugender, bodenſtändiger, als die Frauen, die
viel mehr konſtruiert find, während die Männer als Stiliſierungen der ſchweizeriſchen Wirk⸗
lichkeit erſcheinen. Der Schweizer zeigt dieſe körperliche Geſchloſſenheit, aus ber ſich die Glie⸗
ber nur ſchwer auslöfen. Dafür bekommt dann die Bewegung etwas Großes, breit Aus-
holendes, aber in den Gelenken ſcharf Betontes. Bei ſchweizeriſchen Schwingfeſten, bei ihren
echt volkstümlichen, weil vom Volke ſelbſt dargeſtellten Feſtſpielen, kann man diefe eigenartige
Bewegtheit am beiten kennen lernen, die von einem großen Rhythmus beſeelt iſt, deſſen ein-
zelne Taktteile fie in den Höhepunkten feſthält und nicht durch allmähliche Übergänge auf-
It, Wir wollen uns daran erinnern, daß auch Jaques-Dalcroze, der Schöpfer der rhyth⸗
miſchen Gymnaſtik, dieſem Teile der Schweiz entſtammt.
Zu den Einflüſſen der Raſſe kommen die der Erziehung und der kulturellen Umwelt,
in der wir leben. Hodler hat in Genf gelebt, wo die franzöſiſche Kultur nicht als bodenſtändige,
und damit ſelbſtverſtändliche lebt, ſondern bewußt betont und gehegt wird. Von der Bedeu-
tung der in ihrer Art einzigen Landſchaft des Lemaner Sees wird noch zu ſprechen ſein. Rein
entwicklungsgeſchichtlich angeſehen, iſt denn Hodler auch viel leichter in die neuere franzöſiſche,
als in die deutſche Kunſt einzugliedern. Hodler ſelbſt hat ſich gelegentlich zu Puvis de Cha-
vannes bekannt, der neben der vom Naturalismus geſpeiſten rein maleriſchen Richtung des
Impreſſionismus die Linie des älteren Klaſſizismus fortſetzte und ablöſte. Und während der
Impreſſionismus ganz im Tafelbilde aufging, wollte Puvis den „Mauern Leben geben“.
Vir haben hier ein Streben nach Monumentalität, für die in romaniſchen Ländern die natür-
lichſte Nährquelle der Katholizismus iſt. Katholiſch bedeutet allgemein; eine katholiſche Kunſt
heißt Allgemeinkunſt, die Kunſt einer Gemeinſamkeit, einer Geſamtheit. Es iſt ſehr bezeich-
nend, daß Puvis einer der ganz wenigen franzöſiſchen Maler iſt, die von den italieniſchen Groß-
künftlern der Wandmalerei befruchtet find. Man tut gut, daran zu denken, weil auch Hodler
ſpater noch einmal von ſich aus den Weg zu den Florentinern gefunden hat. Die unmittel-
baren Nachfolger von Puvis, wie Denis, find ganz in die Kirche gegangen. Der Runft der
ganzen Richtung iſt die Auflöfung ins Metaphyſiſche, eine Art Entkörperung gemeinſam, die
entweder im vollen Derflüchtigen der Farben oder jedenfalls in einem eigentlich unmaleri-
ſchen Verwenden derſelben ihr Ausdrucksmittel fand. Die volle Bedeutung dieſer Entwick-
lung wird einem klar, wenn man erwägt, daß dem Impreſſioniſten die Farbe nicht nur das
eigentliche Geftaltungsmittel, ſondern überhaupt das künſtleriſche Lebenselement darſtellt.
Denken wir ferner daran, daß Frankreich die urſprüngliche Heimat der Gotik iſt, fo gewiß
diefe nicht eine Schöpfung des galliſchen Geiſtes, ſondern des germaniſchen Blutes in Frank-
teich iſt. Dieſe Gotik iſt Ekſtaſe, betonte Seelenhaftigkeit. Der Korper iſt für fie Gewand der
Seele, Ausdrucksmittel des ſeeliſchen Lebens. Hier fühlen wir uns ganz im Germaniſchen zu
Haufe, und wir werden für dieſe tieferen Fragen der Kunſt eben niemals auskommen, wenn
wir uns an die geographiſchen Grenzen der heutigen Staaten, ja ſelbſt nicht, wenn wir uns
an die Sprachgebiete halten. Diefe gotiſche Richtung in der neueren franzöſiſchen Kunſt iſt
in Oeutſchland ſchon deshalb weniger bekannt, weil ihre Schöpfungen als Wandmalerei an
die Entſtehungsorte gebunden ſind, während die Tafelbilder durch Kunſtausſtellung und Han⸗
del Gemeinbeſitz der Welt werden.
Zn Deutſchland iſt Hodler erſt allgemeiner bekannt geworden, als er, ein mehr als
VBierzigjähriger, noch einmal die Italiener, vor allem Giotto, gründlich ſtudiert hatte (1905).
In ber. Schweiz war er zuvor ſchon Gegenſtand heftiger Auseinanderſetzungen geweſen durch
ſeine großen Geſchichtsbilder, unter denen der Rückzug der Schweizer bei Marignano eine
der gewaltigſten Echöpfungen der geſchichtlichen Malerei iſt, die wir beſitzen. Die Zuſammen⸗
hänge mit Holbein in der Menfchendarftellung und auch in der Kompoſition liegen offen zu-
268 Seabinanb Hoble
tage, ſtören aber nicht. Das Bild verblüffte mehr durch die Helligkeit feiner Farbe, wohl
hauptſächlich, weil es zu nahe geſehen wurde. Am Standort, für den es gemalt wurde, Ift
ſein Leuchten durchaus natürlich und von ſtärkſter Wirkung. Vielleicht wenn man Hodlers
Bilder überhaupt aus jo weitem Abſtand und auch hoch über ſich, wie die Fresken im Züricher
Mufeum, ſehen könnte, würde ſich mancher Widerſpruch geben. Es müßten große Säle fein,
deren Schmalwände auf dieſe Weiſe eine ähnliche Bedeutung bekämen, wie Altar- und Orgel ⸗
wand in der Kirche. Es iſt kein Bildinhalt, den wir da ſuchen, ſondern belebte Gliederung durch
ein in der Architektur fremdes und doch ihr ganz eingegliedertes Element. Wir haben uns aber
daran gewöhnen müſſen, Hodler als Tafelbildmaler anzuſehen, und er hat dieſe Gewöhnung
recht ſchmerzlich gemacht, indem er von einigen ſeiner Bilder, z. B. dem Holzfäller, Dutzende
zum Teil ſchlechter Wiederholungen vertrieben hat.
Trotzdem liegt hier wohl das bleibendſte Verdienſt Hoblers: er hat überzeugender als
ein anderer verkündigt, daß die Monumentalmalerei ihre eigenen Lebensgeſetze hat. Mit
der lediglich räumlichen Vergrößerung eines Tafelbildes wird man nach ihm als Wandſchmüͤcker
keinen Eindruck mehr machen, und zwar liegt ſeine in die Zukunft weiſende Wirkung hier nicht
bei den in ihrer Art reſtlos gelungenen Bildern, wie der Schlacht von Marignano, ſondern bei
den ſpäteren. Dabei fällt es uns Oeutſchen vielleicht beſonders ſchwer, den „Aufbruch der
Freiwilligen“ in der Jenaer Univerfitätsaula unbefangen anzuſehen, weil ſich uns dabei eine
Fülle geſchichtlicher Erinnerung mit eindrängt, die in dem Bilde nicht auf ihre Koſten kommt
oder gar beleidigt wird. Reiner iſt in der Hinſicht der Genuß bei jenen Bildern, die mit kei⸗
nem irgendwie gearteten äußeren Geſchehen zuſammenhängen, ſondern nur eine oder mehrere
menſchliche Geſtalten in einer ganz vom Künſtler konſtruierten Umwelt zeigen. Wenn wir
hier ganz von der Idee abſehen, die dieſen Bildern zugrunde liegt, bieten fie uns die durch
rhythmiſch bewegte Körper verlebendigte und geſtaltete Fläche. Hier iſt erreicht, was Puvis
de Chavanne wollte; „Mauern ſind lebendig gemacht“. Es iſt ganz logiſch, daß dieſes Leben
die Oreidimenſionalität gar nicht vorzutäuſchen ſucht und in keiner Hinſicht in Wettbewerb
mit der Wirklichkeit tritt.
Das Oarſtellungsmittel iſt die Linie. Die Farbe wird inſoweit benutzt, als ſie die
Wirkung der Linie erhöhen kann. Das war in einem Zeitalter, dem mit dem Impreſſionismus
die Farbe alles war, eine ins Tiefſte reichende Umwälzung und gehörte wohl zu dem, was als
. „beionders deutſch empfunden wurde. Die Art der Linienführung wird dann im beſonderen
als ſchweizeriſch zu gelten haben. Das Oeutſche ſah man endlich in der Ideen malerei.
Es iſt aber die düſtere Welt Calvins, die in dieſer unfreudigen Schwermut, in der glück
loſen, höchſtens zu einem Gleichmut gelangenden Strenge der Geſtalten ſich ausſpricht. Woran
liegt wohl dieſe Unfreudigkeit im höheren Sinne, die der Kunſt Hodlers anhaftet und nach
meinem Gefühl ihren ſchwerſten Mangel bildet? Sch glaube letzterdings doch an der Gewollt⸗
heit, man könnte faſt ſagen Lehrhaftigkeit dieſer Kunſt.
Hodler hat in feiner Frühzeit eine Anzahl köſtlicher Landſchaften geſchaffen. Sieht
man bagegen Landſchaften der ſpäteren Jahre, vor allem in größerer Zahl gleichzeitig, ſo
empfindet man ſie als Schulbeiſpiele für gewiſſe Erkenntniſſe der Naturgeſtaltung. Ich habe
oben angedeutet, daß das auf die Einwirkung der Genferjee-Landfhaft zurückgeführt werden
kann. Ich kenne keine Landſchaft, in der das rhythmiſche Geſetz der geordneten Wiederholung
ſo leicht als Wirkungsgrund auf die menſchliche Seele erkennbar iſt. Wir haben an den Ufern
das Abereinander verſchiedener Horizontalen, in den Bergen eine ſeltſame Gleichmäßigkeit
der Kegelformen, die wiederum in verſchiedenen Höhenlagen abwechſeln. Dazu die breite
Fläche des Waſſers, der immer ſcharf abgeſchnittene Horizont — jedem, ber länger an dieſem
See weilt und nach dem Grunde feiner eigentümlichen, ſeit Jahrhunderten gerühmten, bei-
nah muſikaliſchen Wirkung forſcht, wird fi ſchließlich dieſes einzigartige rhythmiſche Formen
ſpiel offenbaren. Jodler vergewaltigt nun in feinen Bildern die Natur, um dem Beſchauer
Serbinanb Hodier 5 269
dieſes rhyihmiſche Leben zu verdeutlichen. Nach meinem Gefühl bringt er es damit um die
feinſte künſtleriſche Wirkung. Entſchleierte Geheimniſſe haben keinen Wert.
Mnlich iſt es mit feiner Behandlung der Linie. Es hat für jeden etwas Beglückendes,
wenn ſich ihm in der Kunſt das Weſen der äſthetiſchen Statik (Ehrenberg) offenbart und er ſo
erkennt, wie z. B. lebhafte Bewegung im Kunſtwerk die ſtärkſte Stiliſierung verlangt, um
den wohltuenden Eindruck des Gleichgewichts hervorzurufen, wie überhaupt der bildende
Künſtler das Bild der Natur auf geometrische Figuren vereinfacht, um es fo einprägſamer zu
machen. Myrons „Oiekuswerfer“ wird, wie Ehrenberg gezeigt hat, zu einem geometrifchen
Gerüft verſchiedener mathematiſcher Figuren. Aber das alles muß als innere, als heimliche
Kraft wirken. Im felben Augenblick, wie es als Syſtem ſichtbar wird, empfinden wir es als
Vergewaltigung und werden beftemdet (Kubismus). Etwas Ahnliches iſt es bei Hodler mit
der Linie; fie iſt ihm nicht mehr Wirkungsmittel, ſondern um ihrer ſelbſt willen da. Die Natur
muß ſich ihr beugen. Die Körperform wird vergewaltigt, die Köpfe werden unnatürlich klein,
die Gliedmaßen beliebig verlängert. Und hier liegen auch die Grenzen der monumentalen
Virkung ſeiner Geſtalten, denn monumental iſt für uns letzterdings immer nur der Menſch
als Vollbringer einer Arbeit, nicht bie Tätigkeit an ſich. Yddler gibt eigentlich nicht einen Holz-
fäller, ſondern die phyſikaliſche Formel des Holzfällens durch den Menſchenkörper. Darum
gibt ihm auch der Individualismus des Menſchenantlitzes nichts; und überhaupt der ganze
unendliche Neichtum des Drumherums der Welt, in dem wir doch nun einmal ſtehen, kommt
in Wegfall. Die mefiiſchlichen Geſtalten, die er uns gibt, find eigentlich entmenſchlicht, alles
dient einem Ping an ſich.
Man könnte meinen, daß auf dieſe Weiſe die Idee nun beſonders eindringlich zum Aus-
druck gelangen müßte. Es iſt aber nicht der Fall. Sie bleibt zu kalt, weil alles zu abſtrakt iſt.
Es iſt am Ende doch auch bei Hodler jo, daß ihm die Liebe fehlt und darum die wahre ſoziale
Kraft. Gewiß iſt aller Stil Ausdruck eines geſellſchaftlichen Empfindens, er erfüllt das Ver-
langen einer Geſellſchaft. Damit dieſes zuſtande kommen kann, muß der Individualismus
überwunden werden. Es muß jeder von feinen Eigenheiten preisgeben, um ſich in dem Ge-
meinſamen mit den andern zuſammenzufinden und dadurch dieſes gemeinſam Gefühlte ge-
waltig zu verſtärken. Entſcheidend aber iſt, weshalb das geſchieht, ob im Zwang einer All-
gemeinheit, die mich individuell nicht gelten laſſen will, oder aus Sehnſucht nach dieſer All-
gemeinheit in dem beſeligenden Gefühl, mit Tauſenden eins zu ſein. Im erſteren Falle ver⸗
atme ich, nur im letzteren werde ich reich, denn was mich treibt, iſt Liebe. Und dieſe Liebe
fehlt, um es noch einmal zu ſagen, Hodler. Man fühlt es, wenn man ſeine Geſtalten, wie
etwa den Holzfäller, mit einigen der Arbeitergeſtalten Meuniers vergleicht. Formal, ſtiliſtiſch,
ft Hodler weitaus der Monumentalere; dennoch wirkt Meunier ſtärker, tiefer, denn er hat
die Liebe. Karl Storck
N NN A / = 6
5 | . 60 Ru
Der Krieg
usbau und Vertiefung unſeres Bündniſſes mit Oſterreich- Ungarn —:
die Tſchechen und Südflawen haben nicht geſäumt, uns und aller
Welt auf das deutlichſte vor Augen zu führen, „wie ſie es auf
faſſen“. Willkommenen Anlaß bot ihnen die Prager Zubelfeier
der iſchechiſchen Univerſität. „Was wir davon erfahren,“ ſchreiben die „Leipziger
Neueſten Nachrichten“, „iſt nur ein ſchwacher Nachhall deſſen, was wirklich vor⸗
gegangen. Die volle Wahrheit werden wir wohl erſt aus der Entente-Preſſe
entnehmen können, denn daß ſie dort verbreitet wird, dafür werden die getreuen
Bundesbrüder der Entente im Lande Oſterreich geſorgt haben. Indes gibt die
Kundmachung der Prager Polizeidirektion ſchon eine Vorſtellung von dem er⸗
baulichen Schauſpiel, wenn ſte ungeſchminkt von ‚einer Reihe hochverräteriſcher
Vorfälle“ ſpricht. Nicht etwa in der Abſicht, ihre gerechte Beſtrafung anzu-
kündigen! Sondern nur, um den Schuldigen rechtzeitig mitzuteilen, daß jede
7
5
I
weitere Duldung‘ ausgeſchloſſen ſel, und daß ‚von nun an‘ die Staatsgewalt
ſich nicht länger auf der Naſe werde herumtanzen lajjen. Man kann ſich alſo nach
Belieben einen Begriff davon machen, was in den drei Tagen der Feier gr
duldet worden iſt. Ein tſchechiſches Blatt hebt rühmend hervor, eine taufend-
köpfige Menge ſei am Oeutſchen Hauſe vorbeigezogen, ohne dort zu toben oder
die Fenſter einzuwerfen. Dieſe zarte Rückſicht wird alſo wohl weniger der Staats
gewalt zu gelten haben, als der üblen Nachwirkung, die eine Prager Straßen-
ſchlacht nach altem Muſter außerhalb der ſchwarz-gelben Grenzpfähle hätte haben
können. Var doch die ganze Feier auf das Thema abgeſtimmt: ‚Was wir Sſchechen,
Polen, Südflawen in Oſterreich zu leiden haben!“ Außerdem hätte es wahrſchein!
lich ſeine Schwierigkeiten gehabt, in dem Maße, wie das früher beliebt war,
Prager deutſche Studenten zu Ehren des tſchechiſchen Zukunftsſtaates durch
zuprügeln. Die werden auf den zahlreichen Schlachtfeldern liegen, wo
ganze tſchechiſche Regimenter ſo verblüffend ſchnell den Weg in die
Arme der ruſſiſchen Brüder fanden.
‚Es war alles da, was Oſterreich haßt. Gerade die Anweſenheit der
Rumänen und Staliener, dieſes Franzoſen- und Belgiererſatzes, gibt dem Feſt
aurmete Sagebup? 271
die eigene Note‘, jo jagt die, Bohemia“ von der dreitägigen Prager Feſtfeier. Ver
treter des Miniſteriums Seidler waren nicht da. Alle Kräfte waren unabkömm
lich, um die neuen Verordnungen über die Kreisregierungen in Böhmen heraus“
zubringen. Schon am 1. Zanuar 1919 ſoll der erſte Schritt zur Verwirklichung
getan werden! Aber niemand ſoll ſich einbilden, daß es ſich dabei um
den Schutz des deutſchen Beſitzſtandes handelt! Vergeſſen wir doch nur
nicht, daß gegen deutſche Gemeinden, die den Zammer ihres Hunger-
elends über die reichsdeutſche Grenze ſchreien, prompt ‚Das Verfah-
ren eingeleitet‘ wurde, während die tſchechiſchen Urheber ‚einer Reihe hoch-
verräteriſcher Vorgänge“ nur ſanft verwarnt werden, daß dergleichen ‚von nun
an“ nicht mehr geduldet werden könne. Vergeſſen wir auch nicht, daß unter dem
Miniſterium Seidler gegen deutſche Verſammlungen in Böhmen tſche—
chiſche Truppen bereitgeſtellt wurden, die von der Sſonzofront hatten
zurückgenommen werden müfſſen, weil fie es nicht übers Herz bringen
konnten, auf ihre fitalieniſchen Brüder“ zu ſchießen. So werden wir be-
greifen, was es heißt, wenn eindringlich verſichert wird, die Kreisregierung für
Böhmen ſei nichts als eine ‚verwaltungstechniſche Maßnahme“. Dieſe Verfiche-
rung umſchließt die dringende Bitte an die Tſchechen, es doch nur nicht übelzu⸗
nehmen! Bis zum 1. Januar 1919 iſt noch eine lange Friſt, und im Staate Oſter⸗
reich ijt ſie noch viel, viel länger als anderswo.
Ein italieniſcher Saft der Prager Theaterfeier hat den Wunſch ausgeſprochen,
der brüllende tſchechiſche Löwe mochte ſich bald niederlegen und auf ſeinen Lor-
beeren ruhen können. Zur Verdauungsruhe wird der brüllende Löwe aber nicht
eher geſtimmt ſein, als er verſchlungen hat, worauf ſein hungriger Blick ruht.
Das ſind nicht nur Seile öſterreichiſchen, nicht nur Teile ungariſchen Landes, jon-
dern, wie mit erfreulicher Offenheit geſagt wurde, auch Teile reichsdeutſchen
Bodens. Bis zu den Wenden in der Lauſitz erſtreckt ſich die ungeftilite tſchechiſche
Sehnſucht. Hat man den Cſchechen erlaubt, ihre Begehrlichkeit in vier Zahren
gemeinſamen Krieges immer mehr die Zügel ſchießen zu laſſen, jo wird man
mithin auch uns erlauben müſſen, vor dieſer zügelloſen Begehrlichkeit auf der Hut
zu ſein. Wir im Reiche haben nichts gegen das tſchechiſche Volk, ... aber wir
haben ſehr viel gegen die tſchechiſche Verhpetzung und den vaterlandsloſen Größen-
wahn tſchechiſcher Volksführer und Verführer [Nur? Siehe unten. D. T.], und
es war für uns im Reich eine peinliche Aberraſchung, daß die öſterreichiſche Re-
gierung den gemeinſamen Krieg nicht zum Anlaß nahm, der weiteren Verhetzung
mit ftarter Fauſt ein Ende zu machen, daß fie ihr vielmehr, durch Begnadigung
rechtskräftig verurteilter Hochverräter, einen Freibrief für unbegrenzte Zu-
kunft ausstellte. Das neuerliche Brüllen des tſchechiſchen Löwen iſt auch eine Ant-
wort auf jenen Akt der Schwäche, der uns Reichsdeutſchen einen ſo tiefen Einblick
in die innere Verfaſſung des öſterreichiſchen Staates erlaubt hat, wie wenig Er-
eigniſſe der letzten Jahrzehnte. Die natürliche Folge davon iſt, daß wir manches,
was wir vordem, im Bewußtſein unſerer Stärke, auf die leichte Achſel zu nehmen
geneigt waren, in Zukunft ernſter nehmen werden, nicht weil wir an unſerer Stärke
zweifelten — dazu haben wir am Ende des vierten Kriegsjahres weniger Anlaß denn
je — londern weil wir gewiſſe innere Schwächen Oſterreichs klar erkannt haben.
22 Kürmers Tagebuch
Wir find durchaus damit einverſtanden, daß das Bündnis mit Oſterreich⸗
Ungarn vertieft und ausgebaut werde. Aber wir begleiten die Vertiefung und
den Ausbau mit einer ganz anderen Stimmung, als wir's im erſten Rriegsjaht
getan hatten. Damals wurde von Wien aus eifrig abgewinkt, wenn bei
uns von etwas Ahnlichem die Rede war. Und den Oeutſchen in Hfter-
reich, die davon reden wollten, wurde der Maulkorb der Zenſur angelegt.
Heute vernimmt man die tönenden Worte über das, was geplant ſein ſoll, mit
einer gewiſſen Ernüchterung, die für den Abſchluß politiſcher Verträge eigentlich
nicht unerwünſcht ſein ſollte, die aber durch das Gebrüll des tſchechiſchen Löwen
höchſtens um einige Grade verſtärkt werden kann. Zumal dieſer Löwe, durch
ſeine Vertrauensleute im Auslande, die Entente ausdrücklich verſichern läßt, die
Tſchechen würden im Widerſtande gegen das Bündnis nimmer er
lahmen. Das mahnt uns doch ſehr zur rechten Zeit an die Grenzen, die dem
Werte des Bündniſfes durch die unaufhaltſame innere Entwicklung Sſterreichs
nun einmal gezogen ſind. Vertiefen und ausbauen wollen wir das Bündnis recht
gern, aber nicht über den Kopf des Deutſchtums in Sſterreich weg, und
erſt recht nicht gegen das Oeutſchtum in Sſterreich. zſt die ruſſiſche Ge⸗
fahr für Oſterreich-Ungarn auf abſehbare Zeit beſeitigt, jo iſt ſie's auch für uns.
Ohre die Oeutſchen in Sſterreich hat das Bündnis keinen Wert mehr
für uns, darüber ſollte auch die Reichsregierung keinen Zweifel aufkommen
laſſen.“
Was der Türmer je und je dargelegt hat, obwohl es ſchon beſchämend ge⸗
nug iſt, daß ſolche Darlegung erſt nötig war und leider heute noch nötig iſt! Ein
ſonderbares Bündnis, das ſich auf Völkerſchaften ſtützen möchte, die, wie die
Tſchechen mit ihrer weiteren flawijchen Gefolgfchaft, aus ihrer geſchworenen
Feindſchaft gegen uns und unſere Volksgenoſſen, ja ſogar gegen die eigene
Staatshoheit und Staatsgemeinſchaft gar kein Hehl machen! Es kann ja nicht
die Rede davon ſein, daß es ſich um bedauerliche „Ausnahmen“ handele, — das
geſamte tſchechiſche Volk iſt deutſchfeindlich und inſoweit auch öſterreich⸗
feindlich, als der öſterreichiſche Staat die tſchechiſchen Anſprüche und Forde
rungen nicht rückhaltlos zu den ſeinigen macht, und die erſte dieſer Forderungen
heißt: Abkehr vom Bündniſſe mit dem Deutſchen Reiche. Vor dieſen offen-
kundigen, von unſeren Feinden längſt in ihre politiſche Rechnung eingeſtellten
Tatſachen krampfhaft die Augen verſchließen zu wollen, wäre mehr als kindiſch,
wäre bewußter politiſcher Selbſtmord. Kann dieſe ſtaatsverräteriſche Geſinnung
noch greller beleuchtet werden, als durch die Aufſchlüſſe der „Italia“ über die an
der Front gebildete, hauptſächlich aus Tſchechen beſtehende Freiwilligen
legion? Oieſe Truppe wird nicht auf einem beſonderen Sektor verwendet, fon-
dern auf die ganze Front verteilt. Ihre Hauptaufgabe beſteht darin, durch Füh-
lungnahme mit den auf öſterreichiſcher Seite kämpfenden Lande
leuten Verwirrung in die Reihen des Gegners zu tragen. Durch Singen
der nationalen Lieder, durch Zurufe in tſchechiſcher Sprache und durch
gemeinſame Patrouillengänge nach den feindlichen Gräben ſoll Anſchluß ge-
ſucht werden. Unter den tſchechiſchen Freiwilligen find alle Berufsklaſſen ver⸗
treten, in beſonders großer Anzahl Studenten. Den Kern der Legion bilden
Sürmers Tagebuch 23
— ſelbſtverſtändlich ! — die Mitglieder der rn rühmlichen Angedenkens
ſchon aus Friedenszeiten her. —
Aber dieſer tſchechiſchen Zubelouvertüre zum „Ausbau“ und zur „Ver-
tiefung“ des deutſch-öſterreichiſchen Bündniſſes ſchwebte der Geiſt des Herrn
Kramarſch. Aber, wie der „T. R.“ aus Wien berichtet wird, er ſelbſt auch rein
koͤrperlich in höchſteigener Perſon. Wie ein Triumphator wurde er von tſchechi-
ſchen Sünglingen in Nationaltracht in das Pantheon des Muſeums
getragen, wo er die Feſtrede hielt, in der er das Schlagwort unter die Menge
warf, die tſchechiſche Nation ſei von dem Glauben erfüllt, daß keine Kraft der Welt
ſie aufhalten könne. In einer nächtlichen Feier auf dem Wenzelsplatze erklärte
der Südſlawe Radic, in Prag ſei der ſlawiſche Dreibund gegründet
worden. Der Pole Tetmajr erklärte, daß die vereinigten Tſchechen und Polen
eine Macht bilden, die nicht überwunden werden könne. Ein Redakteur des in-
zwiſchen verbotenen Kramarſch- Blattes „Narodni Listy“ feierte das vereinigte
Großpolen, den einheitlichen ſüdſlawiſchen Staat und das Tſchechenreich vom
Böhmerwalde bis zur Tatra. Schließlich faßten Tſchechen, Polen, Slowenen,
Kroaten, Serben und Staliener eine gemeinſame Entſchließung, alles zu
tun, was in ihren Kräften ſtehe, damit ihre Nationen nach dem Kriege ihre Be-
freiung erreichten und auf Grund des Selbſtbeſtimmungsrechtes zu einem neuen
freien Leben auferſtünden, wobei (als Hieb gegen Öfterreich) alle ſtaatlichen
Verträge auf das entſchiedenſte abgelehnt wurden, die nicht durch den ſouveränen
Willen der Nationen beſtätigt ſeien.
Alle offenen und geheimen Feinde des öſterreichiſchen Staates und felbit-
verſtändlich auch des Deutſchen Reiches und der Deutſchen überhaupt waren zu
dieſer 1 Verbrüderung geladen, die Slowenen, die Kroaten, die Slo-
waken, dic Polen, ſogar die Serben (ö), und auch der öſterreichiſche Staliener
Conci war an der Spitze von 17 Landsmännern erſchienen. Sogar die Nuffen
hatte man einladen wollen. Das war aber der öſterreichiſchen Regierung
doch etwas zu ſtark, und fie legte ihr Verbot ein. Daß der Neoſlawismus feine
begehrlichen Blicke auch bereits über die Grenzen des Deutſchen Reiches hinũber
richtet, dafür ſpricht, daß man auch die Sorben aus der preußiſchen Lauſitz
und aus Sachſen eingeladen hat, ſelbſtverſtändlich auch die preußiſchen
Polen, von denen jedoch ein polniſcher Feſtredner mit Bedauern feſtſtellen mußte,
daß ſie nicht erſchienen ſeien. Doch „ihr Geiſt weilt hier“, fügte er mit Em-
phaſe hinzu. Einzig und allein von allen Slawen hat man die Bulgaren nicht
eingeladen, und zwar auf ausdrückliches Betreiben des Herrn Kramarſch. Welch
feines Empfinden, ſicheres Unterſcheidungsvermögen für alles, was im Lager der
Entente ſteht, und was als Freund und Bundesgenoſſe zu den Mittelmächten hält!
Es ging ſehr heiter her. Man demonſtrierte, ſo heißt es in einem Bericht der
„München-Augsburger Abendzeitung“, nicht unter ſich, ſondern man führte den
Hochverrat offen durch die Straßen der Stadt ſpazieren und kümmerte
ſich weder um Verordnungen noch um irgendwelche Beſtimmungen. Während der
ganzen Dauer des Nationalfeſtes trugen die Teilnehmer die verbotenen Kokarden,
und bei den Straßenumzügen, die täglich e ſtattfanden, wurde das N
Der Türmer X, 18
224 Zürmers Tagebuch
ſche Hetzlied Hej Slovane mit einem neuen hochverräteriſchen Text geſungen. Eine
Schilderung der Szenen, die ſich vor dem Hotel abſpielten, ja auch nur eine Andeu-
tung des Inhalts der Anſprachen, die an die Menge gehalten wurden, läßt ſich aus
Zenſurgründen nicht machen. Erwähnt fei nur, daß, wie auch das „Prager Tagbl.“
mit Bewilligung der Zenſur feſtſtellt, nicht nur das tſchechiſche Hetzlied Hej Slovane
mit dem erwähnten hochverräteriſchen Text geſungen wurde, ſondern daß man
auch die Nationalhymnen der uns feindlichen Staaten anſtimmte.
Die Tſchechen haben ſich offen, auch dem Schwerhörigſten unmißverſtändlich,
als unentwegte Anhänger des Vielverbandes bekannt; ſie haben dieſem auf das
Tatkräftigſte, wo immer nur die Gelegenheit ſich ihnen bot, Vorſchub geleiſtet;
ihre ſüdſlawiſchen Brüder drohten in harmoniſcher Abereinſtimmung mit
den Weiſungen des Vielverbandes unaufhörlich mit der Revolution; der
polniſche Redner Daszinſki erklärte im Reichsrate: der Stern der Habsburger
iſt am 9. Februar am polniſchen Himmel erloſchen. „Alle dieſe verbitterten Feinde
der Monarchie aber wußten,“ fo durchleuchtet Hermann Ullmann (in der „Zäg-
lichen Rundſchau“) dieſes öſterreichiſche Krebsgeſchwür, „immer wieder mit
einem Augenzwinkern nach oben hin ihren Worten den Sinn zu geben, als
kämpften fie nicht gegen Sſterreich ſchlechthin, ſondern nur gegen ein mit
Deutſchland verbündetes. Dieſe außenpolitiſche Zuſpitzung des Nationall-
tätenkampfes und der inneren Politik in Oſterreich überhaupt muß man verſtehen,
um ſeinen tiefſten Sinn zu begreifen. Auch die Angriffe der Slawen gegen die
Deutſchöſterreicher, „Unterdrücker“, gelten vor allem den Trägern des Bünd-
niſſes. Wenn dieſe, trotzdem fie noch immer wirtſchaftlich das Doppelte bis Schr
fache gegenüber den Nichtdeutſchen leiſten und kulturell ganz alle in die Aufgabe
tragen, Oſterreich bei Mitteleuropa zu erhalten, politiſch immer weiter
zurückgedrängt werden, wenn ſie durch den Krieg, deſſen Hauptlaſten ſie getragen
haben, bis in die Wurzeln ihrer Volkskraft hinein durch ihre un verhältnismäßig
hohen Blutopfer und durch die Aushungerungspolitik ihrer ſlawiſchen
‚Nachbarn‘ erſchöpft werden, fo erdulden fie dies alles letzten Endes für den
Staatszuſammenhang und für das Bündnis. Nicht paſſiv, wie es dem weniger
unterrichteten Reichsdeutſchen ſcheinen mag, ſondern, wenigſtens was den ge
bildeten deutſchen Mittelſtand, die politiſch und publiziſtiſch ſchlecht vertretene
Mittelſchicht anlangt, mit äußerſter Kraftanſtrengung. Ihre Leiſtungen
find nach außen hin nicht im vollen Maße erkennbar. Wie im Heere der deutſche
Keſerveoffizier und der deutſche Soldat vielfach dafür ſich verbrauchte, um
die negativen Leiſtungen anderer auszugleichen, fo verzehrt ſich die wirt
ſchaftliche, kulturelle, politiſche Organiſationskraft des deutſchöſterreichiſchen Bürger-
tums nicht zum geringen Teile in den Widerſtänden, die von den bündnir
feindlichen Kräften ausgehen. An ſich zahlenmäßig unterlegen, werden ſie
noch dadurch in ihrem Widerſtande geſchwächt, daß ſie bei jedem Widerſtand gegen
die Regierungen, durch den allein ſich der Drud der Slawen auf dieſe ausgleichen
ließe, in Gefahr geraten, gegen einen Staat zu kämpfen, deſſen Beſtand fie nicht
gefährden wollen und der als Bundesgenoſſe Oeutſchlands ſeinen Daſeinskampf
führt. Sie können niemals ſo ganz reine Nationalpolitik treiben wie die Slawen:
nicht als Oſterreicher und nicht als Träger des Bündniſſes.
Zürmers Tagebuch 225
So hat ſich allmählich eine Art Raubwirtſchaft mit den Kräften der
Oeutſchöſterreicher herausgebildet. Um die Bündnisfeinde ‚am Staate zu
intereffieren‘, wie es ein deutſcher Abgeordneter ausdrückte, werden die Rechte der
Heutſchöſterreicher ſtückweiſe den Slawen aufgeopfert, die aufs kräftigſte
von den gegen das ‚imperialiftiiche‘ Deutſchland wühlenden, auf dem Standpunkte
der, Unabhängigen“ ſtehenden öſterreichiſchen Sozialdemokraten unterſtützt werden.
Die Deutſchöſterreicher bedeuten gewiſſermaßen das Kapital an Konſervatismus, an
Feſtigkeit und Ordnung, ohne das kein Staat, nicht einmal Oſterreich, beſtehen kann.
Aus ihm wurde die ſtändig wachſende Zeche für das Bündnis bezahlt.
Eines der erſchütterndſten Beiſpiele bieten augenblicklich die Deutſchen in
Böhmen und Tirol. Kinder, Frauen, Greiſe, gerade aus den Gebieten,
deren Regimenter ſich bis auf den letzten Mann geſchlagen haben, ver-
hungern buchſtäblich — weil man es nicht wagt, in benachbarten länd-
lichen (lawiſchen!) Bezirken gründlicher zu requirieren.
Man muß ſich in Deutſchland ganz klar darüber ſein, daß dieſes
Syſtem nicht über den Krieg hinaus dauern kann. Es findet ſeine Grenze
dort, wo die Kräfte und die Geduld der Oeutſchöſterreicher erſchöpft ſind. In dieſem
Augenblick, träte er je ein, würden die bündnisfeindlichen Kräfte nicht nur das
Bündnis, ſondern auch die Monarchie ſprengen. ..“
Wird man im Reiche den Ernſt der Lage endlich begreifen lernen? Wird
man ſich auch an den maßgebenden Stellen — endlich — zu der Erkenntnis durch-
ringen, daß es nicht länger angeht, mit gekreuzten Armen gelaſſen zuzuſchauen,
wie ſich das Geſchick an den Oeutſchöſterreichern vollzieht, das, wenn nicht der Mut
aufgebracht wird, ihm entſchloſſen in die Zügel zu fallen und noch in letzter Stunde
eine andere Wendung zu geben, nur der Untergang fein kann. Nur deutſche po-
litiſche Gedankenloſigkeit und Verkehrtheit kann hier noch das Wort „Gefühlspolitik“
vor ſich herleiern oder ſich durch dieſen mit Recht beliebten Köder politiſcher Trüger
von ſeinen Lebensbedingen weglocken laſſen. So berechtigt das Gefühl auch
iſt, in dieſem Falle ſogar eine Gefühlspolitik Realpolitik im höchſten Sinne wäre,
ſie ſtehen hier nicht in Rede. Nein, es handelt ſich hier um die Selbſterhaltung,
nicht nur deutſchen Volkes, ſondern des Deutſchen Reiches, um den Beſtand
des Reiches. Es ſei denn, wir hätten dieſen ganzen Krieg mit all feinen un-
ſäglichen Opfern umſonſt geführt, machten einen dicken Strich durch unſere
ganze bisherige politiſche Rechnung und politiſchen Kriegsziele und entſchlöſſen
uns zu einer von Grund aus neuen Orientierung. Die könnte dann aber
keine andere ſein als eine engliſche, was aber wiederum auf nichts anderes hinaus-
liefe, als auf eine in mehr oder minder ſchönes Vertragspapier eingewickelte Unter-
werfung unter Englands Willen. Das Papier dazu würde uns England,
großmütig wie immer gegen „kleine Nationen“, bereitwilligſt borgen.
Gelingt es uns nicht, die ſlawiſche Gefahr zu bannen, dann bliebe uns
in kürzerer oder längerer Sicht ſchlechterdings nichts anderes übrig. Und die
ſlawiſche Gefahr iſt noch lange nicht gebannt. Auch im ruſſiſchen Oſten nicht. Das
iſt hier wiederholt mit allem Nachdruck betont worden und hat uns kürzlich auch
Sven Hedin mit beredten Worten, aber noch beredteren Tatſachen in einem
Berliner Vortrage zu Gemüte geführt. Der berühmte, uns ſo freundlich geſinnte
226 Zürmers Tagebuch
Schwede knüpfte dort (nach einem Bericht von Profeſſor Walter Stahlberg in
den „Berliner Neueſten Nachrichten“ an ein Erlebnis an, das er im Auguſt 1915
im Gefolge der Armeegruppe von Woyrſch gehabt hat, wo er des Abends neben
dem Strohbündel ſeines Lagers in der Ecke der dürftigen Hütte ein zerriſſenes
Schulbuch fand. In 14. Auflage bot es die vom ruſſiſchen Unterrichtsminiſterium
gutgeheißene Darſtellung der ruſſiſchen Geſchichte für die ruſſiſchen Kinder dar,
ein Genuß auch für den Kenner, dem ſich Hedin noch vor der Nachtruhe hingab.
„Von den 172 Seiten des Lehrbuches, deren Raum noch durch 92 Bilder erheblich
beſchränkt war, handelten je fünf von Karl XII. und Napoleon und von den Zaren,
die ſie überwanden. Kein Wunder vom ruſſiſchen Standpunkt, da dieſe Zeiten
die einzigen großen Ereigniſſe vor dem Weltkriege umfaſſen, bei denen das Mos-
kowiterreich zitterte. Der japaniſche Krieg war ihnen gegenüber nur ein kleines
Zwiſchenſpiel, das ſchließlich für die Entfaltung der ruſſiſchen Kräfte in dieſem
Kriege nur förderlich wurde. Seit Peter dem Großen hat nichts das Wachstum
Rußlands verhindert, die ganzen 200 Jahre hindurch, bis in Hindenburg der Feld-
herr erſtand, der einſah, daß in der ruſſiſchen Macht nicht nur der Feind Oeutſchlands
vernichtet, ſondern die größte Gefahr für die geſamte europäiſche Kultur abgewandt
werden mußte.
Seit Rurik und ſeine Waräger mit der Bitte ins Land gerufen wurden, die
auch das Lehrbuch mitteilt: ‚Unfer Land iſt groß und reich, aber es fehlt ihm die
Ordnung. Komm, über uns zu herrſchen “ ſeitdem iſt hier eine Macht entſtanden, die
weiter und weiter um ſich greift. Die Schilderung von Peters des Großen Jugend
und feinen Neigungen gibt in dem Büchlein den Vorgeſchmack von feinem ‚Zefte-
ment“ und eine Vorbereitung dafür. Wo die Erzählung zu der Gründung von
Petersburg kommt, da heißt es, ‚fein geheimer Gedanke war erreicht, er ſtand an
der Küſte, die er erſtrebte“. Das ruſſiſche Wort für den ‚geheimen Gedanken' ifl
dasſelbs wie für Teſtament, und das berühmte Teſtament Peters des Großen
iſt wahrſcheinlich genau ſo Mythe, wie die weitausſchauenden Pläne, die er nach
dem Büchlein am Anfang des Krieges gegen Karl XII. hegte. Aber er hat durch
den Erfolg den Ruſſen ihren Weg gegen Schweden gewieſen, wie Katharina II.
gegen die Türkei. Es hat wenig Wert, rückſchauend zu erörtern, ob für Rußland
die Notwendigkeit beſtand, ans offene Meer vorzudringen; tatſächlich hat die ruf
ſiſche Geſchichte in dem Sinne gewirkt, die ruſſiſche Macht nach allen Richtungen
dahin vorzuſchieben. Und durch das Lehrbuch iſt den Millionen ruſſiſchet
Kinder die Notwendigkeit einer Ausbreitung des Reiches bis zu dem
warmen Waſſer wie ein religiöſes Dogma vorgetragen worden, an
dem niemand zweifeln darf. Es machte fie mit dem ‚geheimen Gedanken“
Peters des Großen vertraut und ſagt doch damit nur die Wahrheit. Ser einzelne
Ruffe mag die Kraft des Ausdehnungsſtrebens der ruſſiſchen Nation
leugnen; die Geſchichte zeigt, daß ſie beſteht als ein maſſenpſychologiſches
Problem, das in derſelben rätſelhaften Art drängt und wirkt, wie der Trieb in
großen Heuſchreckenſchwärmen oder bei den wandernden Nagetieren des Nordens.
Geſchickte Staatsmänner haben ſich dieſer Kraft, vom ruſſiſchen Standpunkt
völlig berechtigt, ſtets zu Eroberungszwecken bedient. Nie war ſie deutlicher zu
erkennen, wie im jetzigen Jahrhundert. Rußland hatte ſich erfolgreich vorgearbeitet
Zürmers Tagebuch 277
nach Oſten, nach Weſten und nach Süden. Das Ergebnis war, daß es in Port
Arthur und Dalni ſchließlich durch Sapan von dem warmen Waſſer des Stillen
Ozeans verdrängt, daß feinem Streben nach Bender Abbas zum öndiſchen Ozean
von England durch feine Koweit- Beſetzung und durch das Petersburger Abkommen
von 1907 ein Halt geboten wurde, und daß das Drängen von Finnland aus über
Skandinavien zum Atlantiſchen Ozean hin durch dieſen Weltkrieg unterbrochen
und durchkreuzt worden iſt.
An vorſichtig wäre es, zu glauben, daß das Rußland nach der Re—
volution von der Eroberung abſähe. Am Anfang des Krieges hatte der
Sedanke des Panſlawismus das ganze Volk durchdrungen. Die Agrar-
reform verſprach eine gewaltige Stärkung der ruſſiſchen Macht. Sie hatte das
unſtillbare Verlangen des ruſſiſchen Bauern nach Land nur noch geſteigert; die
Vernichtung Oeutſchlands und Öfterreich-Ungarns ſollte dem Bauern
neues Land auf Koſten von Deutfchen und Polen geben. Der Krieg war durch—
aus populär. Einſichtige Patrioten wollten ihn allerdings noch um einige Jahre
verſchieben, weil die Feſtigung der ruſſiſchen Macht mit a Fortſchreiten der Re-
form immer größer wurde.
Als Rußland den Weg nach Konſtantinopel durch das Brandenburger Tor
antrat und ſo ſeine alte Art des Vordrängens, den Druck auf den Punkt geringeren
Viderſtandes aufgab, da mußte es zuſammenbrechen. Der Zarismus iſt jetzt tot.
Sein erobernder Geiſt lebt fort. Wohl hat ſich Rußland der ziviliſatoriſchen
Aufgabe verſagen müſſen, als Dampfwalze niederdrückend und zermalmend über
Deutſchland dahinzurollen; es mußte ſich in feinen innerſten Kern zurückziehen.
Großrußland zu retten, darauf kam es zuletzt allein noch an. Zetzt ſehen wir einen
verkrüppelten Staat, ausgeſchloſſen vom Gelben und Schwarzen Meer, zurüd-
gedrängt von der Oſtſee. Karls XII. Abſicht iſt es geweſen, die Ukraine von Ruß
land loszutrennen und durch eine Barriere ſelbſtändiger Staaten Europa vor dem
ruſſiſchen Weſen zu retten. Damals verſagte Mazeppa im entſcheidenden Augen-
blick. Heute, nach 200 Jahren, iſt ſeine Abſicht in Erfüllung gegangen. Was die
ſchwediſche Großmachtspolitik vor 1718 nicht erreicht hatte, iſt der deutſchen von
1918 beſchieden..
Die Gefahr ift zunächſt vorüber. Der Verluſt von Kohlen und Eifen wird
Rußland für einige Zeit lähmen; aber ſein Expanſionsdrang wird fort—
beſtehen. Oer Charakter eines Volkes ändert ſich nicht mit feiner Verfaſſung. Das
Fenſter nach dem Weſten wird auch fernerhin offen gehalten werden. Das haben
die Finnländer in ihrem Freiheitskampfe ſchon jetzt erfahren und erfahren es noch.
Der Ruſſe iſt feinem Weſen nach amorph. Er kann geformt werden. Er iſt ge-
duldig und gelangt mit der Zeit ans Ziel. Er iſt gutmütig und verträglich. Wird er
geſchlagen, jo ſagt er fein ‚Nitſchewo“, das tut nichts, und wartet die Zeit ab. Der
alte Ruſſe bleibt mit ſeinen Fehlern und ſeinen Verdienſten. Wenn ſie von
Freiheit ſprechen, ſo meinen ſie die ruſſiſche, unter der die andern in
Eifen geſchmiedet werden. Die Heilige Mutter Rußland bleibt, für die fie
ſich ſchlagen. Der Ausdehnungsgedanke hat die Kraft einer Religion.
Die öffentliche Meinung in Rußland wird überzeugt fein, daß mangelhafte Unter-
ſtützung durch die Freunde die Schuld an dem jetzigen Mißlingen trug. Durch den
2 Fe td
278 Tuürmers Tagebuch
äußeren und inneren Staatsbankerott iſt die finanzielle Lage Rußlands gegen früher
gebeſſert. Die franzöſiſchen 20 Milliarden drücken nicht mehr. Man kann von
neuem anfangen. Die ruſſiſchen Wunden heilen ſchneller als die von
Völkern höherer Kultur.
Zetzt weiß Rußland, was ihm fehlt. Mit dem Ergebnis des Krieges wird es
ſich nicht begnügen. Rußland ſteht — Hedin benutzte damit ein geographiſches
Gleichnis — am Anfang eines neuen Kreiſes feiner Entwicklung. Der alles ni-
vellierende Schlamm der Revolution breitet ſich über das ganze Land, neue Kräfte
werden neue Formen ſchaffen. Das Chaos iſt da, eine neue Ordnung muß
eintreten. Wohl fehlen Kohle und Eiſen; man kann ſie importieren. Die Führer
fehlen; auch die kann man einführen, wie zu Ruriks Zeiten. Wann, fragte Hedin,
wird aufs neue ein Zar feine Ukaſe über das Land hinausſenden? Oer Zeit-
punkt dürfte ſo weit entfernt nicht ſein. Rußland braucht einen ſtarken Führer.
In den Händen Lenins und Trotzkis kann es nicht erſtehen. Es zerfällt.
Moskau wird der Kern für eine neue Feſtigung des neuen Rußlands wet-
den. Und dieſes wird ſich des Vergeſſens bei feinen Nachbarn erinnern,
wird wieder auf ihre politiſchen Parteikämpfe, auf ihren demokrati—
ſchen Leichtſinn bauen, wird darauf rechnen, daß ſie nichts aus der
Geſchichte lernen wollen, und wird warten, warten, bis die Nachbarn mürbe
geworden find. Rußland braucht nicht zu fürchten, daß es allein ſtehen wird. Eng;
land und Amerika greifen den Bolſchewiki ſchon jetzt unter die Arme.
Finnland weiß, um was es ſich handelt. England wird weiter dafür ſorgen,
daß Rußlands Kraft ſich gegen den Weſten richtet. Es wird ſie, wie
feine Bemühungen jetzt ſchon in Eſtland zeigen, immer als Gegen-
gewicht gegen Oeutſchland gebrauchen. Sich ſelbſt hält es dabei klug die
Slawen vom Leibe. Sollte die ruſſiſche Entwicklung ſich gegen den Südoſten
richten, ſo würde man andere Töne von England hören. Es hat ſeine Hand nicht
umſonſt auf Perſien gelegt, hat Meſopotamien erobert. Dieſe Schritte hat es
gegen Deutſchland und Rußland zugleich getan.
Rußland vor dem Beginne eines neuen Kreislaufs, wie zu Ruriks Zeiten,
im Chaos. Bleibt alſo die Frage, woher die Ordnung der neuen Zeit kommt.
Wird ſich der deutſche Gedanke und Wille mächtiger erweiſen oder der engliſche
Drang zur Beherrſchung des einſt ſo gefürchteten Koloſſes? Die Entſcheidungen
reifen heran. Auf dem Boden Flanderns ſteigt das neue Zeitalter empor. Wie
wird es ausſehen? „Auf dem Grunde der Kriegsgeſchichte findet ſich die Erkennt-
nis, wie alles gekommen iſt, wie es kommen mußte und wie es wieder kommen
wird.“ So ſagte Schlieffen einmal in einer Rede auf Moltke. Wer die ruſſiſche
Geſchichte überblickt, weiß, wie wahr dieſes Wort iſt.“
Das iſt die ernſte, nicht zu überhörende Warnung eines Mannes, der es ſo
ehrlich mit Deutfchland meint, wie mit feinem ſchwediſchen Volke. Eines klugen
und erfahrenen Mannes, von dem auch unſere zünftigen Staatsmänner und
Politiker über die Zielſtrebigkeiten der ruſſiſchen Geſchichte und die Impondera⸗
bilien der ruſſiſchen Volksſeele vieles lernen könnten. Aber das ruſſiſche Pro-
blem läßt ſich aus dem geſamtſlawiſchen nicht künſtlich herausſchneiden und
durch am grünen Tiſch zurechtgemachte „ſtaatsmänniſche“ Theorien, die man
Zürmers Tagebuch R 279
dann noch gar als „Realpolitit“ zu verſchleißen unternimmt, mit noch fo „unnach⸗
‚abmlichen Griffen“ meiſtern. Zwiſchen dem imperialiſtiſch-panſlawiſtiſchen Erobe-
tungsgedanten der Ruſſen, den Abſonderungsbeſtrebungen der Tſchechen und
Südflawen in Öfterreih, den Großmachtplänen der Polen in Rußland, Öfter-
reich und Preußen mit den berühmten „hiſtoriſchen Grenzen“ beſteht ein tiefer
innerer Zuſammenhang, der ſich auf das Gemeinſchaftsgefühl der Rajfe, des
Blutes gründet. Das will dem Reichsdeutſchen zwar nicht oder nur ſchwer ein-
gehen, bleibt darum aber nicht weniger wahr. Zit es doch gar nicht fo lange her,
daß der Oeutſche nicht einmal den Oeutſchen ſchlechthin gelten ließ, nur Preußen,
Sachſen, Heſſen, Bayern uſw. kannte, und daß „die gefährliche Lehre von der
Einheit Oeutſchlands“ von Obrigkeits wegen mit Feuer und Schwert verfolgt
und unterdrückt wurde. — Wenn fie einmal vor der Erfüllung ihrer Wünſche ftän-
den, dann freilich würden die ſlawiſchen Brüder wohl übereinander herfallen und
ein wütendes Raufen unter ihnen anheben. Aber erſt dann: erſt müßte deutſches
Land und Volk geopfert werden, bis dahin bleibt das Gemeinſchaftsgefühl des
Slawentums herrſchend.
In Oſterreich ſcheint man ja nun, in allerletzter Stunde, der Not gehorchend,
feſter zugreifen zu wollen. Was man an Einzelheiten über die dort ergriffenen
Maßnahmen zu hören bekommt, klingt ja ſoweit recht erfreulich. Aber man wird
auf alle Fälle gut tun, erſt abzuwarten, was an grundſätzlichen, realen Sicherungen
des deutſchen Volkes in Sſterreich geſchieht. Wir im Reiche und unſere Brüder
jenſeits unſerer politiſchen Grenzpfähle ſind ja von Wien ſo wenig verwöhnt, daß
es menſchlich allenfalls begreiflich iſt, wenn wir ſchließlich auch über das Gelbitver-
ſtändliche, das von dorther ſchon aus reinem ſtaatlichen und monarchiſchen Selbſt-
erhaltungstriebe unternommen wird, vor Freuden ſchier aus dem Häuschen ge-
raten. Wir dürfen aber nicht vergeſſen, daß es in Oſterreich an guten Worten für
die Deutjchen nie gemangelt hat, wenn das Schiff der Monarchie zu kentern drohte
und ſich keinen anderen Rat wußte, als eben den Opferwillen, die nie ver-
ſagende Treue und Hilfe der Oeutſchen, die ja tatſächlich und in des Wortes er-
ſchöpfender Bedeutung das ganze öſterreichiſche Staatsgefüge noch zufammen-
halten. Sobald dann die Lebensgefahr abgewendet worden war, wurden dieſe
Deutſchen den liebenswürdigen „Nationalitäten“ geopfert. Denn die forderten nur
und opferten nichts, die Deutſchen aber opferten nur und forderten nichts. Man
braucht nicht nachtragend zu ſein und darf darum doch die Vorzüge eines guten
Gedächtniſſes nicht unterſchätzen. Über der Pflicht des Opferns ſteht völkiſch
die Pflicht des Erhaltens. Ein Volk aber hat überhaupt nicht das Recht, ſich
zu opfern, es ſei denn im Kampfe um ſein eigenes Oaſein, ſeine eigene Freiheit
und Würde. Denn es hat unter den anderen Völkern ſeine beſondere gottgewollte
Beſtimmung und Sendung. Wo ſtänden wir heute, oder — umgekehrt — wo
ſtänden die Ruſſen, Franzoſen, Engländer, Italiener heute, wenn das
deutſche Volk in Sſterreich nicht geweſen wäre und der Monarchie
die Zielrichtung und den Zuſammenhalt gegeben hätte? Wo anders
denn, als in Berlin und Wien? Vergeßt das nicht!
up
Schleichendes 8
Erre wirkungsvolle „politiſche Offen-
ſive“ fordert die „Kreuzzeitung“ von
der Reichsregierung: „Die deutſche öffent-
liche Meinung hat bisher in der Behandlung
der Kriegszielfrage eine derartige Zerſplitte-
rung und Vielſeitigkeit gezeigt, die der kon-
ſtruktiven Begabung der Kriegszielpolitiker
alle Ehre macht, aber zu einer gefährlichen
Zerrüttung der inneren Einheit geführt hat,
die die Programmloſigkeit der Regie-
rung doppelt ſchuldig ſpricht. Die Ein-
ſicht, daß es dem Feind leicht iſt, aus dieſem
Chaos Vorteile zu ziehen, müßte längſt der
Regierung die Pflicht zur Führung
dringlicher gemacht haben. Alles wartet mit
großem Vertrauen, aber mit einer durch die
amtliche politiſche Tatenloſigkeit doppelt er-
regten Spannung auf den Fortgang der
militäriſchen Ereigniſſe, ohne zu wiſſen,
wie, und mit dem leicht bereiten Zweifel, ob
die Erfolge auf dem Kriegsſchauplatz poli-
tiſch ausgenutzt werden.
Es iſt dieſes ſchleichende Bethmann—
gift, das noch immer den Willen zu klarem
großangelegten Zupacken lähmt und in be-
ſchwichtigender Kuliſſenpolitik weiterfrißt.
Auch die ganze geheimnisvolle Legenden-
bildung über die Diſſonanzen zwiſchen Ober-
ſter Heeresleitung und Reichsleitung und das
mißtrauifche Überwachen ihrer Zuſtändig keiten
hat hier ihren Urſprung. Wir brauchen aber
die Einheit beider, d. h. ihre Arbeit muß
gleichwertig ſein. Weiß die Reichsleitung
nicht, daß das Volk wiſſen . wohin
der Weg führt?“
2
Kein Frieden ohne Rohſtoffe!
n der „Voſſ. Ztg.“ ſchreibt Konteradmiral
Kalau vom Hofe:
„Kommt man einmal zu dem Schluß, daß
„wir nach Eintritt des Waffenſtillſtandes unfere
Induſtrie nicht genügend beſchäftigen können
und daß wir auch keine praktiſche Sicherheit
haben, daß in den erſten Friedensjahren ge-
nügende RNohſtoffmengen zu vernünftigen
Preiſen in unſere Häfen gelangen werden, ſo
iſt es Pflicht, dafür zu ſorgen, daß vor Ein-
tritt des Vaffenſtillſtandes von England
die Rohſtoffe geliefert oder zugelaſſen wer⸗
den, die zur Umſchaltung unſerer Kriegsindu⸗
ſtrie auf den Friedensbetrieb notwendig find,
und daß vor Fried ensſchluß mindeſtens ein
voller Zahresbedarf an all den Einfuhrartikeln
nach den Handelsverhältniffen vom Zahr 1913
zur Stelle iſt. Dies muß um fo dringender ge
fordert werden, als es bekannt iſt, daß Eng;
land im ſtillen überall auf die Haupt-
rohſtoffartikel in dieſer oder jener Form
auf Jahre hinaus die Hand gelegt hat
und wir, wahrſcheinlich aber auch die Neu
tralen und Englands bisherige Bundesbrüder,
ohne ſeinen Willen davon nichts bekommen
werden, da es gerade auf dieſe Weiſe noch
hofft, die Vorteile in Handel und Znduſtrie
ſich zu ſichern, die es während des Krieges,
wo das Geſchäft nicht ‚wie gewöhnlich“ ging,
nicht einbringen konnte.“
Die beiden Erzberger
ch habe unſere Kraft nie unterſchätzt, vor
allem auch nie verfucht, fie dadurch
Hein zu machen, daß ich fie im Nebelgemölt
Auf der Warte
kraftmeieriſcher Schlagwörter untergehen
ließ“, erklart der Herr Erzberger vom wunder-
ſchͤnen Monat Mai 1918 ſtolz und kühn in
der „Germania“. Oer Erzberger von Ende
Oktober 1914 aber ſchrieb in der „Allgemeinen
Kundſchau“: „England ſei am Kriege ſchuld,
es habe den Krieg gewollt. Englands Macht
und brutale Gewaltherrſchaft muß gebrochen
werden, es koſte, was es wolle... Zwei Fra-
gen rein militäriſcher Art werden über die ®
künftige Seſtaltung Belgiens allein die Ent-
ſcheidung geben können, und kein Unken
tuf (ID) und keine berufene oder unberu-
fene Diplomatie wird gegenüber dieſen
Rernfragen ins Gewicht fallen können. Die
erſte Frage geht dahin, daß unter allen Am-
ſtänden ſichergeſtellt werden muß, daß
wir an unſerer weſtlichen Grenze in Zu-
kunft keinen angeblich neutralen Staat
dulden können, der zum Spielball uns
feindlicher Mächte wird, und die zweite
Frage lautet: Wie ſichern wir uns gegen-
über Eng land die freie Durchfahrt durch den
Kanal? . . . Es ſoll vielmehr nur geſagt wer-
den, daß unter dem Geſichtspunkte der mili-
täriſchen Sicherung unſeres Volkes das
künftige Schickſal Belgiens ganz allein
entſchieden werden darf. .. . Nicht das Schid-
ſal Belgiens iſt es, das in erſter Linie hierbei
in Betracht kommt, ſondern die Zukunft
Deutſchlands hat das entſcheidende
Wort zu ſprechen ... Darum kann das
Schickſal Belgiens von Deutfchland nur ()
unter dem einen Geſichtspunkte beurteilt
werden: Wie iſt das heute in unſerm Beſitz
befindliche Belgien künftig als ſchärfſte
Schutz- und Trutzwaffe gegen England
zu geſtalten? .. . Das Schwert iſt gezogen
und das Schwert allein muß auch ent-
ſcheid en über Belgiens künftiges Schid-
ſal.“ — Im Reichstage 1918: Man müſſe
unter allen Umftänden Belgien wieder-
herſtellen, denn es ſei „der Liebling der
Welt“. Nebenher: Welche widerliche dema-
gogiſche Kriecherei!
Als ganz beſonders unſittlich brandmarkt
der Erzberger von Ende Mai 1918 („Ger-
mania“) den Gedanken: Derartige Opfer wie
in dieſem Kriege dürften nicht umſonſt ge-
281
bracht worden ſein. — Der Erzberger vom
Herbſt 1914: „Englands Macht- und brutale
Gewaltherrſchaft muß gebrochen werden, koſte
es, was es wolle. Dieſer Kampfpreis (9)
allein rechtfertigt alle die hohen Werte, die
in dieſem Kriege geopfert werden müf-
ſen .. . Nie und nimmer hat der Kaiſer ſich
verbürgt, daß die Grenzen des Reiches nicht
geändert werden ſollen. Nie und nimmer hat
der Kaiſer ſein Wort dazu gegeben, daß die
europäiſche Weltherrſchaft nach dieſem blu-
tigen Kriege ebenſo ausſehen werde wie vor
demſelben. Man darf noch mehr ſagen: Nie-
mand im deutſchen Volke würde es ver⸗
ſtehen, wenn auf die heutigen ſchweren
Opfer nicht ein Siegespreis (!) kommen
würde, der dieſe Opfer in etwas lohnt,
und lediglich () von dieſem Geſichts-
punkt aus betrachtet das deutſche Volk das
Schickſal Belgiens.“ Mit dieſer Politik des
Erzberger von 1914 geht der Erzberger von
1918 auf das grauſamſte ins Gericht. Es iſt
ſchon faſt ein Juſtiz- oder — Selbſtmord:
„Dieſe Kriegszielpolitik werde ich immer und
bei jeder Gelegenheit mit allem Nachdrucke
bekämpfen, da ich fie als ein Unglück in
erſter Linie für Oeutſchland, dann für die
Welt und für das Chriſtentum anſehe.“
Der Gedanke eines Siegespreiſes für die
Kriegsopfer ſei ein „erſchütternder Ausdruck
für das Maß, bis zu welchem die Materiali-
ſierung aller Werte in dem Bewußtſein der
Menſchen gedeihen kann“. |
Es ift in der Tat ein „erſchütterndes“
Schauſpiel, wie ſich die beiden Erzberger in
den Haaren liegen und gegenſeitig abwürgen.
Aber ſind es ihrer nur zwei? — Das iſt der
Fluch des allzu Vielſeitigen und Geſchäftigen,
daß feſt jede neue Kundgebung Erzbergers
fortzeugend neue Erzberger muß gebären.
Man wird die vielen, um ſie fein ſäuberlich
auseinanderzuhalten, — numerieren müjfen.
Gr.
Erzberger und die katholiſchen
Intereſſen
ei aller Milde und Schonung für den
Glaubens- und Parteigenoſſen erhebt
Rechtsanwalt Ruß (Worms) in der „Rölni-
282
Shen Volkszeitung“ die ſchwere Anklage
gegen Erzberger, daß er ein Schädiger nicht
nur der vaterländifchen, ſondern auch der
katholiſchen Intereſſen ſei: |
„Oer Weltkrieg hatte mit den vielen krän⸗
kenden Vorurteilen gegen uns deutſche Katho⸗
liten gründlich aufgeräumt. Die große, ſtrenge
Schule der Prüfung und Bewährung hat den
andersgläubigen Mitbürgern endlich Gelegen;
heit gegeben, an den vaterländifchen Taten
und Opfern der deutſchen Katholiken die Un-
gerechtigkeit der Anzweifelung ihrer natio-
nalen Zuverläſſigkeit zu ermeſſen.
Da platzen in dieſe geſchichtliche Recht-
fertigungsperiode der deutschen Katholiken
die ſog. Fälle Erzberger hinein. Wir ſind
weit davon entfernt, zu behaupten, daß der
Abgeordnete Erzberger bewußt und abficht-
lich dieſe Annäherung unterbrechen will oder
auch nur dieſe Folge richtig erkennt; aber es
muß offen herausgeſagt werden, daß die Wir-
kung ſeiner vielſeitigen, unruhigen und allzu
geſchäftigen Tätigkeit leider ſehr leicht zu
einer uns deutſchen Katholiken nachteiligen
Anzweifelung unſerer vaterländ iſchen Kre-
ditwürdig keit führt oder führen kann. Tat-
ſächlich hören wir ja auch ſchon wieder Auße⸗
rungen wie die: „Da ſieht man wieder, daß
die Katholiken bei uns nicht national ſicher
ſind. Ihr Abgeordneter Erzberger führt
das große Wort nicht im Sinne Deutſchlands
und des deutſchen Sieges, ſondern im Sinne
der ſchwarzen Internationale“; oder: ‚Die
Katholiken in Oeutſchland find in nationalen
Dingen trotz alledem mit Vorſicht zu behan⸗
deln, das beweiſt wieder ihr Führer Erz-
berger“
Nur mit vieler Mühe, durch das Blut, den
bitteren Schweiß, die Tränen und große Opfer
unſerer Glaubensgenoſſen, durch die innigſte
Kampf- und Leidensgemeinſchaft mit den
übrigen deutſchen Brüdern und Schweſtern
iſt es uns endlich gelungen, die ſo lange und
hartnäckig in Zweifel gezogene vaterländifche
Haltung und Größe des katholiſchen Volks-
teils in Deutfchland fo ſicherzuſtellen, daß wir
es nicht mehr nötig haben, auf unſere natio-
nale Geſinnung immer wieder hinzuweiſen.
Wir ſind demgegenüber beunruhigt und emp-
®
Auf der Warte
finden es bitter, daß ein an hervorragender
Stelle ſtehender parlamentariſcher Vertreter
der deutſchen Katholiken ſtörend in dieſe der
Kirche und dem Vaterlande nützliche Ent-
wickelung eingreift.“
Die „Norddeutſche Allgemeine
bittet um Verzeihung
ie bekannt, wird in einem Anhängſel
an den deutſch-rumäniſchen Friedens-
vertrag beſtimmt, daß wir nun doch einen ge⸗
wiſſen, beſcheiden verklauſulierten und noch
beſcheidener formulierten Schadenerſatz von
Rumänien erhalten ſollen. Darob tiefge⸗
fühltes Bedürfnis der „Norddeutſchen All-
gemeinen“, ſich vor der Reichstagsmehtheit
zu verantworten und zu rechtfertigen; Bruder
Studio würde jagen: ſich herauszupauken und
wieder bierehrlich zu machen. Man werde,
ſtammelt das Blatt des deutſchen Auswärti⸗
gen Amtes mit verlegenem Räufpern, in die
fen Beſtimmungen „an gewiſſen Stellen“ eine
indirekte Kriegsentſchädigung, die Ru-
mänien auferlegt worden iſt, erblicken. „Aber
abgeſehen davon, daß ſich der Erſatz dieſer
Kriegsſchäden durchaus mit den Regeln des
Völkerrechtes verträgt, wird man ſich gegen
eine derartige Deutung der Beſtim-
mungen nicht allzu heftig zu wehren
brauchen. Man wird es im Gegenteil wohl
ziemlich allgemein als der Sachlage durch;
aus entſprechend finden, daß wir den Erſatz
unſerer Schäden bis auf den letzten Pfennig
von den Rumänen verlangen, es aber ab-
lehnen müſſen, ihnen unſerſeits die Schäden
zu erſetzen, die bei unſerem Feldzuge ent-
ſtanden ſind. Eine internationale Kommiſſion,
die zu gleichen Teilen aus Rumänen, Oeut⸗
ſchen und Angehörigen neutraler Staaten zu⸗
ſammengeſetzt ſein wird, wird über die Höhe der
zu erſetzenden Schäden zu entſcheiden haben.“
Die Art, in der die „Nordd. Allg. Ztg.“
von der Kriegsentſchädigung ſpricht, gibt ihr
die „Tägliche Rundſchau“ zu verſtehen, iſt
zum mindeſten originell. Es wird zugeftan-
den, daß wir eine Entſchädigung erhalten,
und dabei muß der Verzichtsmehrheit des
Reichstages gut zugeredet werden, daß ſie
Auf der Warte
ſich damit abfinde und ſich „nicht allzu hef-
tig wehren“ folle gegen dieſes „Unglüd“,
das dem Oeutſchen Reiche geſchieht. Es iſt
für die Anhänger der Reſolution des Reichs-
tages, die einen ent ſchäd ig ungsloſen Frie-
den verlangten, charakteriſtiſch, daß man von
ihnen erwartet, fie würden ſich „heftig“ da-
gegen wehren, daß das Deutſche Reich ſeine
Aufwendungen für Rumänien wiedererſtattet
ethält und ſomit nicht das deutſche Volk die
Koſten des rumäniſchen Feldzuges auch noch
bezahlen muß. Die deutſchen Hüter der inter-
nationalen Verſtändigung erſcheinen in die-
ſem Lichte faſt als Gegner des deutſchen
Volkes, wenn man ſie erſt bitten muß,
daß ſie ſich gegen das rumäniſche Geld nicht
wehren bzw. „nicht allzu heftig“ wehren
ſollen! So erfreulich die rumäniſche Ent-
ſchädigung iſt, jo bleibt es dennoch un-
verſtänd lich — oder iſt eben nur mit der
Ruͤckicht auf die Reichstagsmehrheit zu er-
klären —, daß man es bei den Bukareſter
Verhandlungen nicht gewagt hat, im Haupt-
vertrage mit Rumänien klipp und klar eine
Kriegsentſchädigung feſtzuſetzen, wozu wir als
Sieger ein Anrecht gehabt hätten. Wenn es,
um mit der „Nordd. Allg. Ztg.“ zu ſprechen,
„wohl ziemlich allgemein als der Sachlage
durchaus entſprechend gilt“, daß wir den Er-
ſatz unſerer Schäden „bis auf den letzten
Pfennig von den Rumänen verlangen“, dann
brauchte man nicht die rumäniſche Kriegs-
entſchädigung hintenherum in den Zujaß-
vertrag verklauſuliert hineinzuarbeiten und
im Hauptvertrag das Gegenteil zu fagen, fon-
dern man mußte ehrlich genug ſein, von
vornherein die Dinge beim rechten
Namen zu nennen, und die Summe, die
in Frage kommt und die auf etwa 4½ Milliar-
den geſchätzt wird, im Vertrage feſtſetzen, zu-
mal der Verzicht auf eine Entſchädigung durch
das reiche Rumänien ein un entſchuldbarer
Fehler geweſen wäre, der zur allerſchärfſten
Kritik herausgefordert hätte.
Jedenfalls erweckt die Form, in der die
„Nordd. Allg. Ztg.“, das Blatt der Regierung,
die Sache anfaßt und mundgerecht macht,
den Eindruck trauriger Entſchuldigung, der
Bitte um Nachſicht an die Mehrheit und die
285
Rumänen: Verzeiht, daß wir den Rumänen
etwas abverlangt haben, und daß wir den
Rumänen keine Kriegsentſchädigung gezahlt
haben. Glaubt man, daß eine ſolche Politik
im Auslande und bei den geſchlagenen Geg-
nern den Eindruck unſerer Kraft erhöht? Daß
man uns nicht vielmehr verachtet, wenn wir
Erfolge für uns einbringen, als hätten wir
dabei etwas Unehrenhaftes, etwas Schlimmes
getan, deſſen man ſich ſchämen müßte?
Eine Glanzleiſtung!
f ie oft ſchon, angeſichts deutſcher politi-
ſcher Unbegreiflichkeiten, Narren-
ſtreiche und Unterlaſſungsſünden — von
Schlimmerem nicht zu reden — haben wir,
mehr oder minder überzeugt, ausgerufen:
„Höher geht's nimmer!“ Und doch —: es
ging und geht immer noch höher! Zetzt
(31. Mai) werden von Lutz Korodi in der
„Täglichen Rundſchau“ folgende Tatſachen
weiteren Kreiſen bekanntgegeben: „Schon
im April vorigen Jahres hatten achtenswerte
rumäniſche Perſönlichkeiten, die ſich drüben
uneingeſchränkten Anſehens erfreuen und die
uns immer ſehr wohlgeſinnt waren, in Wien
und in Berlin Fühler ausgeſtreckt, ob
man hier nicht eine Bewegung in rumänifchen
Landen unterſtützen oder wenigſtens dulden
wolle, die auf Beſeitigung des herunter-
gekommenen und ganz in den Klauen
der Entente befindlichen Herrſcher-
hauſes abzielte. In Wien zog man die
Vertrauensmänner hin, in Berlin verhielt
man ſich kühl und unzugänglich. Graf Ezer-
nin wollte ſich nicht feſtlegen, und Herrn
v. Bethmann erſchien das Unternehmen
offenbar zu gewagt, obwohl es ſich zunächft
nur darum handelte, einer Stimmung, die
im rumäniſchen Volk nach den Erfahrun-
gen des unglücklichen Krieges guten Boden
hatte, freien Lauf zu laſſen. Das ent-
ſchiedene Zugreifen war aber nun einmal
dem politiſchen Charakter des damaligen
Reichskanzlers nicht angemeſſen. Sein Nach-
folger ſchien dafür etwas mehr Verſtändnis
zu haben; Michaelis duldete wenigſtens
das Erſcheinen des Blattes Lumina“, in dem
284
die natürliche Verknüpfung unſerer mit den
sumänifhen Belangen geſchickt vertreten
wurde. Die Gegner der rumäniſchen Oynaſtie
hatten offenbar die Abſicht, im gegebenen
Augenblick das Volk zu Worte kommen zu
laſſen und auf dieſe zwang loſe Weiſe das
wohlverdiente Ende dieſer mißratenen und
überfälligen Geſellſchaft herbeizuführen. Lei-
der iſt dieſe Bewegung, die nach dem Urteil
aller Landeskundigen ganz von ſelbſt hübſch
in Fluß gekommen wäre, dadurch zum min-
deſten ſtark verlangſamt worden, daß der von
Rechts und Geſchichts wegen erledigte König
Ferdinand von Czernins Gnaden ver-
handlungsfähig gemacht wurde. So er—
leben wir das widernatürliche Schauſpiel, daß
dieſer Fürſt, vielmehr feine betriebſame Gat-
tin, luſtig weiterregiert, im Vollgenuß des
Vertrauens ihrerengliſch-franzöſiſchen
Auftraggeber und unter wohlwollender
Förderung der Vielverbandsgeſandten in
Bukareſt und Zajfy als völkerrechtlich inftallier-
ten Spionen, — um die nächſte paſſende Ge-
legenheit abzuwarten, wo wir nach allen
Regeln der Bauernfängerkunſt am erfolgreich-
ſten um die Ohren gehauen werden.“
Eine Glanzleiſtung! Wer erkennt hier
nicht den Abgott unſerer Philipp Scheide
mann und Theodor Wolff mit ihrer ganzen
mehr oder weniger „vornehm“ aufgemachten
Sippe? Ihren „großen, führenden Staats-
mann“, der, obſchon ſelbſt auf Krücken daher⸗
humpelnd, keinen Schritt tun konnte, ohne
von anderen geführt zu werden — war's
nicht ein Graf Czernin, nahm er auch mit einem
Erzberger, Scheidemann oder Theodor Wolff
fürlieb. — Noch, hofft Korodi, ſei es vielleicht
nicht zu ſpät, um dies böſe Verluſtkonto
durch behutſames Vorgehen wettzumachen:
„Die diplomatiſche Geſchichte Rumäniens
während der letzten vierthalb Fahre bietet ge-
wiß in ihren Akten die wunderbarſten
Handhaben zu einer gelegentlichen Aus-
einanderſetzung mit dieſen Schuldigſten des
rumãniſchen Krieges, ſobald etwa von ſeiten
des rumäniſchen Volkes Anregung dazu ge-
geben wird. Mag man nur die gekennzeich-
nete Volksſtimmung unter dem Orucke des
für Rumänien in feinen wirtſchaftlichen Wir-
Auf der Warte
kungen immerhin wenig erbaulichen Friedens
ſich ruhig weiter entwickeln laſſen! Hemmen
wir aber dieſe Entwicklung künſtlich, dann
werden wir dieſen Fehler in kürzeſter Friſt
hundert und tauſendfach bezahlen.
Neue und immer neu Blutopfer zu bringen,
ſind wir ja gewohnt; ob es jedoch gerade not-
wendig wäre, genau an der Stelle, wo wir
eben ein verheerendes Feuer gelöfcht haben,
einen neuen Brandherd errichten zu laſſen,
dürfte dem ſchlichten Bürger nicht ſo ohne
weiteres einleuchten. Und das fatalſte dabei
wäre, daß wir uns verſichert halten könnten
des grauſamſten Hohngelächters von
Albion bis Monako!“
Ich fürchte: auch an das Hohngelächter
haben wir uns gewöhnt. Wer dieſe vier
Kriegsjahre mit offenen Sinnen im Reiche
miterlebt, nicht nur an ſich hat vorüberziehen
laffen, den wird jo leicht nichts mehr in Er-
ſtaunen ſetzen oder aus der Faſſung bringen.
| Gr.
1.
Die Großzüchtung der aus⸗
ländiſchen Hetze
Ri ihrer Nummer vom 25. April ſagen
die „N. Zürcher Nachrichten“, an einer
gewiſſen ſchweizeriſchen Preſſegebarung gegen
über Deutſchland hätten doch auch die reichs
deutſchen Stellen eine beſtimmte Mitſchuld,
„weil fie im Bundespalais [zu Bern] allzu-
wenig hiergegen auftraten“.
3a, aber du lieber Himmel, unter einer
Bethmannſchen „ſtaatsmänniſchen Leitung“!
Mir fällt bei der nur immer wieder ein, wie
ich vor zwanzig Jahren zu Gaſt in einem
fröhlichen Pfarrhaus in einer Thüringer
Kleinſtadt ſaß. Die eine der Töchter warf
lachend ein gebrauchtes Packpapier durchs
offene Fenſter auf die Straße. — Na na, die
Polizei kommt! — „Ach was, wenn's der
Bürgermeiſter ſieht, der jagt doch höchſtens:
Entſchuldigen Sie!“ . b.
Auf ber Warte
Verſchmähte Fügung
N nur in erdichteten Geſchichten, auch
im Buch der Geſchichte leſen wir immer
wieder von der gerechten Fügung, die einen
gemeinen oder falſchen Feind in die Hände
feines Gegners gelangen läßt. Wir empfin-
den das mit tiefer Befriedigung als Walten
eines höheren Richters. Die Tragiker und
Balladendichter der Weltliteratur haben ſolche
Fälle immer wieder gefeiert. Unſere Zeit da-
gegen ſcheint den Sinn für dieſes große Wal-
ten der Weltgerechtigkeit verloren zu haben.
Oder vielleicht iſt es nur unſere Staats klug⸗
heit, die von Weisheit fo fern iſt, die gerade
dieſe „Zwangsläufigkeiten“ einer höheren
Lenkung nicht wahrnehmen will, während ſie
li denen ihrer eigenen Kurzſichtigkeit fo gern
beugt. Das Volk empfindet ſicher anders.
Da ift es unſerem Heere gelungen, den
heimtüdifchen rumãniſchen Feind in die Knie
zu zwingen. Es iſt nach allem anzunehmen,
daß der größte Teil des rumäniſchen Volkes
den Krieg gegen uns nicht gewollt hat. Einige
üble Hetzer, die ränkeſüchtige Königin an der
Spitze, haben den charakterloſen König zum
derräteriſchen Überfall bewogen. In den
Friedens verhandlungen iſt von alledem nichts
geſagt. Tauſende Rumänen und, was mehr
iſt, Tauſende von Deutſchen haben durch die
Schuld dieſer Männer ihr Leben eingebüßt.
Vo bleibt die Sühne für dieſe Meintat? Die
Rumänen haben ſie offenbar als natürlich
angeſehen: die ſchlimmſten Hetzer find ge-
flohen, und vor den Friedens verhandlungen
wurde angekündigt, daß der König den glei-
chen Weg wählen wolle. Das Schickſal, nein,
die Fügung hat es in unſere Hand gelegt,
dieſe verbrecheriſchen Kriegshetzer zu ſtrafen.
Für mein Empfinden machen wir uns der
Ungerechtigkeit ſchuldig, wenn wir dieſen
höheren Auftrag nicht erfüllen. Von der
politiſchen Torheit eines ſolchen Verſäum-
niſſes will ich ſchweigen. Die Hetzer werden
naturlich in das Land zurückkehren und wie
alle unbeſtraften Gauner doppelt frech ihr
altes Handwerk wieder aufnehmen. Aber
was ſoll das Volk, das rumäniſche wie das
deutſche, denken, wenn dieſe mit großer Schuld
285
Beladenen ungeſtraft ausgehen, während die
Schuldloſen fo ſchwer an dem durch fie ver-
urſachten Leide zu tragen haben?
Die Fügung hat uns in der Krim jene
ruſſiſche Großfürſtenclique in die Hand ge-
geben, die auf Deutſchlands Vernichtung hin-
gearbeitet hat; fie brachte Nikolai Nikolaje-
witſch, den Verwüſter Oſtpreußens, in unſere
Gewalt. Ob der Sinn dieſes großen Ge-
ſchehens wirklich darin liegt, daß wir dieſe
Bande gegen die Bolſchewiſten ſchützen? Ob
es nicht viel natürlicher wäre, den Herrn
Nikolai irgendwo in einem engen Turm in
Oſtpreußen einzuſperren? Unſere Preſſe, die
ſich ſonſt ſo gern das Sprachrohr des Volkes
nennt, hat ſich früher nicht genug tun können,
gerade dieſe Männer und Frauen, die jetzt in
unſerer Hand find, als Untäter zu brand-
marken. Warum ſchweigt ſie jetzt? Man rede
doch nicht von Edelmut! Der mag edlen
Gegnern gegenüber angebracht ſein. Und
davon abgeſehen: die Gerechtigkeit iſt das
Fundament der Herrſchaft. K. St.
„Kramarſch ausgewieſen!“
lingt das nicht wie ein Trompetenſtoß d
Klingt das nicht ſo, als ob die Wiener
Regierung dem gerichtlich überführten und
verurteilten, dann aber begnadigten Hoch-
verräter nun wirklich ernhaft an den Kragen
gehen wolle? Kopfſchüttelnd ob fo erſtaunlich
ſchneidigem, wider alle bisherige Übung ver-
ſtoßendem Vorgehen lieſt man die Wiener Mel-
dung: „Dr. Kramarſch wurde von der Pollzei
auf unbeſtimmte Zeit aus Prag ausgewieſen.“
Aber unmittelbar darauf folgt der beruhi-
gende Satz: „Er hält ſich gegenwärtig in
einem kleinen Orte bei Prag auf.“ Alſo
kein Grund zur Aufregung. Kramarſch bleibt
Kramarſch und in der Mitte ſeiner Lieben
und Getreuen.
Kramarſch war der Organiſator und die
Seele der jüngſten hoch verräteriſchen Rund-
gebungen in Prag gegen den öſterreichiſchen
Staat und für die mit der Monarchie im
Kriege liegenden feindlichen Staaten. Zit
ſchon feine Begnadigung wegen feiner frühe
ren Verbrechen nicht mehr rüdgängig und
286
gutzumachen, fo drückten die Prager Vor-
gänge der Regierung die untadeligſten Rechts
mittel förmlich in die Hand, ihn wegen diefer
neuen hoch- und landes verräteriſchen Hand-
lungen zur Rechenſchaft zu ziehen und in Ge-
wahrſam zu nehmen. Aber Kramarſch bleibt
Kramarſch, geht feinem Berufe als Hoch-
verräter in Freiheit und Frieden weiter
nach —: durch Huld geheiligt.
Wenn das die von unbelehrbar harm-
loſen Oeutſchen bejubelte „neue Ara“ be-
zeichnen ſoll, das „ſcharfe Vorgehen gegen
die ſtaatsverräteriſchen Umtriebe“, dann täten
unfere deutſchen Brüder in Oſterreich wohl
daran, ſich jeden weiteren Aufwand zu jpa-
ren und allein auf ſich ſelbſt, ihr eigenes Volks
tum und ihre eigene Kraft zu ſtellen. Die
Tſchechen waren ſich denn auch keinen Augen-
blick im Zweifel, wie fie ſolche forſchen An-
kündigungen zu nehmen haben. Der Tſchechen⸗
klub nahm in einer Vollverſammlung in Prag
eine Einſpruchsentſchließung gegeneine Ver-
tiefung der Waffenbrüderſchaftmitdem
Oeutſchen Reiche an. Eines muß man den
Tſchechen laſſen: ſie wiſſen, was fie wollen, und
wiſſen auch die Mittel zu gebrauchen. Gr.
*
Livlands und Eſtlands Selbſt⸗
beſtimmungsrecht
ie Gegenerklärung des Berliner Ge-
ſandten der ruſſiſchen Republik, Joffe,
auf die Unabhängigkeitserklärung Livlands
und Eſt lands wird von baltiſcher Seite durch
Gründe entkräftet, deren Rechtmäßigkeit und
klare Logik es faſt unbegreiflich erſcheinen laj-
ſen, daß darüber in deutſchen Kreiſen noch
irgendwelche ſachlichen Meinungsverſchieden-
heiten beſtehen können:
Herr Joffe geht jo weit, den Lidländern
und Eſtländern vorſchreiben zu wollen, in
welcher Weiſe fie ihre inneren Angelegen-
heiten ordnen ſollen. Dem kann nur in
ſchärfſter Weiſe widerſprochen werden, denn
in der Geſamtbevölkerung beider Länder be-
ſteht der Wunſch, ihre politiſchen Angelegen-
heiten unabhängig von fremder Einmiſchung
zu regeln. Livland und Eſtland haben
ihr eigenes Entſcheidungsrecht, das
Auf der Warte
durch die verfaſſungsmäßigen Vertre-
tungen, die Ritter- und Landſchaften, be-
reits zur Geltung gebracht worden iſt. Die
vielfach auch in der deutſchen Preſſe zum
Ausdruck gelangte Anſchauung, als unter-
ſtehen Livland und Eſtland laut dem Breſter
Friedensvertrag noch der ruſſiſchen Ober-
hoheit, iſt rechtlich unhaltbar und un-
begründet. Der Friedensvertrag regelt nur
das Verhältnis zwiſchen Oeutſchland und
Rußland in bezug auf dieſe Länder und
ſtellt ſie unter deutſchen Schutz, unterwirft
fie aber nicht der vom ganzen Gebiet ab⸗
gelehnten ruſſiſchen Herrſchaft. Daher beruht
auch die Anſchauung des „Vorwärts“ und
anderer Blätter, die Angliederung Livland
und Eſtlands an Deutſchland widerſpreche
der Rechtslage des Breſter Vertrages, auf
einem fundamentalen Irrtum. Denn
Livland und Eſtland find durch den Breſter
Vertrag in keinem Punkte gebunden
und beanſpruchen ihr Recht der jelbftän-
digen freien Entſcheidung.
Eſtniſche Selbſtbeſtimmung
0 Buchanan knapp vor dem Ein-
marſch der Deutſchen in Eſtland dort
noch raſch eine England dienſtbare „Regie
rung“ eingerichtet hat, tritt nun in Peters;
burger Telegrammen vom 26. April ein re .
publikaniſches Haupt der Eſten hervor, wel
ches Seligman heißt und unſeren ſtets etwas
ſparſam verſorgten deuifchen Zeitungen un
bekannt geblieben war. Der neue Napoleon
von Reval meldet den in Moskau regierenden
Freunden: Gegenüber den Beſchluͤſſen von
Riga „erkläre ich als Vertreter der eſtniſchen
Republik, daß die Reſolution“ (das Wort
mußte kommen) „eine grobe Fälſchung der
Meinung des eſtniſchen Volkes ift, ... und
ich proteſtiere gegen dieſe ... Realiſierung
des Rechtes der Volker, ſelbſt über ihr Schick
ſal zu beſtimmen.“ Gez. Seligman.
Da auch die Selbſtbeſtimmung des deutſchen
Volkes weſentlich in den Händen von Herrn
Seligmans ethnographiſchen Verwandten
liegt, follte doch eigentlich die Perſonalunlon
dadurch eher zur Anbahnung gelangen. h.
Auf der Warte
Engliſche Offenherzigkeiten
bringt, wie ſchon öfter, der „Manchester
Guardian“, „Mit Flandern dauert Englands
militäriſche Unterſtützung“ — für Frankreich —
„weiter. Geht Flandern verloren, fo müßte
unſere Hilfe auf die See beſchränkt werden.“
Nur muß es umgekehrt geleſen werden.
Dermag uns Frankreich nicht zur engliſchen
Eroberung Flanderns zu helfen, ſo iſt für
England verſpielt, weswegen es am Kriege
aktiv teilgenommen. Dann haben Truppen-
ſendungen nach Frankreich auch keinen Zweck
mehr.
Bemerkenswert iſt nebenbei, daß hier,
Ende April, auch die engliſche Erörterung
von Flandern, ſtatt von Belgien, ſpricht.
« ed. h.
Scheidemanns Zuſammenarbeit
mit dem Feinde
1 dieſem Stichwort veröffentlicht die
„Unabhängige Nationalkorreſpondenz“
folgende Zuſchrift:
„Wer aus den Blättern die Vorgänge in
Moskau und auf der Berliner ruſſiſchen Bot-
ſchaft mit einiger Aufmerkſamkeit verfolgt,
wird über die unvermindert feindſelige
Geſinnung der Herren Bolſchewiki und ihres
Berliner Beauftragten keinen Zweifel hegen.
Infolgedeſſen charakteriſiert ſich auch die an-
dauernde Kooperation des Führers der deut-
ſchen Sozialdemokratie als eine vollkommen
planmäßige Zuſammenarbeit des Ab-
geordneten Scheidemann mit dem
Feinde, gerichtet gegen das eigene
Volk und deſſen höchſte nationale Inter-
eſſen. Der Abg. Scheidemann betätigte
die gleiche Intimität bereits mit Herrn
Sewrjuk, dem vormaligen Berliner Ver-
treter der alten ſoziallſtiſchen Kiewer Rada,
der hier gegen unſere wie gegen ſeine eigene
Regierung intrigierte und dem Abg. Scheide
mann das Material zu deſſen Vorſtoß
gegen die Oberſte Heeresleitung und
den Grafen Hertling lieferte, weil durch dieſe
der Sturz der alten Regierung herbeigeführt
worden fei ... Außerdem iſt neulich aus
Kiew berichtet worden, daß gelegentlich der
287
Hausſuchung bei einem verhafteten ukraini-
ſchen Miniſter ein Telegramm an Herrn
Sewjruk gefunden wurde, in dem der frühere
ukrainiſche Miniſterpräſident den Geſandten
erſucht, bei der deutſchen Regierung wegen
des Eingreifens Eichhorns in ukrainiſche An-
gelegenheiten Proteſt zu erheben, Schutz bei
den deutſchen Sozialdemokraten zu
ſuchen und die Abberufung des Gene-
rals von Eichhorn zu verlangen ...
Was hinſichtlich der Ukraine noch unter
den neuen Begriff des parlamentariſchen
oder parteipolitiſchen, jedenfalls ‚tolerablen‘
Landesverrats fallen mochte, das hört auf,
tolerabel zu ſein, ſobald es ſich um die
Sicherheit unſerer eigenen künftigen
Nordoſtgrenze, um die baltiſchen Pro-
vinzen handelt, die im Oſten für den Kriegs-
ausgang von ähnlicher lebenswichtiger Be-
deutung find, wie im Weiten die flandrifchen
Küſtengebiete. Und wenn die Zufammen-
arbeit des Abg. Scheidemann mit dem Feinde
auch hier den ungeſtörten Fortgang nimmt
wie bisher, wenn keine der verantwortlichen
Stellen die deutſchen ſozialdemokratiſchen
Führer daran zu hindern wagt, daß ſie die
Geſchäfte ihrer bolſchewiſtiſchen Gefinnungs-
genoſſen betreiben — Geſchäfte, die dar-
auf hinauslaufen, die Angliederung
der zu uns gehörigen und zu uns
hinſtrebenden Baltenländer an das
Deutſche Reich durch Winkelzüge und
illoyale Vertragsauslegung auf jede
Weiſe zu hintertreiben —, dann wird es
Zeit, daß der „Arbeiterführer“ Scheide
mann vor dem ganzen Lande und den eige-
nen Wählern gebrandmarkt und an den
Pranger geſtellt wird. Denn es koſtet letzten
Endes neue Ströme von Arbeiterblut,
wenn dem Abg. Scheidemann das gelingt,
was er neuerdings in dem heißen Bemühen,
die Heimat zu ſchädigen, mit dem „Bot-
ſchafter“ Joffe ausgeheckt hat: der Verbleib
der baltiſchen Küſte bei Rußland hat
die dortige Feſtſetzung der Engländer
zur ſofortigen Folge, die dann den
neuen, noch blutigeren Krieg um ſo aus-
ſichtsreicher vorbereiten können.“
ö *
Haben.“
288
Kein Mittel iſt zu ſchmutzig!
er „Vorwärts“ hat feſtgeſtellt, „daß
Herr von Bethmann Hollweg der erſte
und letzte führende Staatsmann Peutfch-
lands geweſen iſt, der für den Zuſammenhang
zwiſchen den Kriegsnotwendigkeiten und den
moraliſchen Kräften des Volkes ein gewiſſes
Verſtändnis bekundet hat“. Seitdem ver-
laſſe man ſich ganz auf die fortwirkende
Mechanik des Krieges und trage kein Be-
denken, breite Volksſchichten in einen Zu-
ſtand der Erbitterung und des Mißtrauens
hineingleiten zu laſſen.
„Herr von Bethmann Hollweg“, bemerkt
die „Deutſche Zeitung“, „hat der Sozialdemo-
kratie die Regierungsfähigkeit zugeſprochen,
in dem Wahne, ihr damit die Fähigkeit, grund-
ſätzlich zu hetzen, wenigſtens im Kriege ab-
gewöhnen zu können. Die Sozialdemokratie
hetzt aber im Kriege genau ſo, wie ſie es im
Frieden getan hat. Ihr Parteivorſtand hat
das Hetzen in ſeinem Pfingſtaufruf von Partei
wegen angeordnet. Er empfiehlt darin als
zeitgemäßes Haupthetzmittel die Ver—
kürzung der Brotration. In jenem
Pfingſtaufrufe ſteht der Satz: ‚Statt in ab-
ſehbarer Zeit das gleiche Wahlrecht zu er-
halten, wird das deutſche Volk zunächſt mit
einer Verkürzung der Brotration zu rechnen
In die ſozialdemokratiſche Heb-
ſprache übertragen heißt das nichts anderes
als: ‚Arbeiter! Euer Anſpruch auf das gleiche
Wahlrecht wird mit dem Nuf: Hungert! be-
antwortet.“ Nicht ein beliebiger ſozialdemo-
kratiſcher Wühler von Partei, Berufs oder
Geſchäfts wegen hetzt jo, ſondern der Partei-
vorſtand iſt es, der dieſe Hetzloſung ausgibt.
Der Parteivorſtand weiß nur zu gut, daß
die Verkürzung der Brotration eine un-
bedingt notwendige Maßnahme iſt, um mit
der Volksernährung durchhalten zu kön-
nen. Er weiß, daß dieſe unabweisliche Maß-
nahme mit dem Kampf ums gleiche
Wahlrecht ſachlich nicht das mindeſte
zu tun hat; daß Wahlrechtspolitik und Er-
nährungspolitik zwei völlig voneinander un-
Auf der Warze
abhängige Gebiete find. Wenn dennoch der
Parteivorſtand einen Zuſammenhang her-
ſtellt, fo kann das nur in der bewußten Ab-
ſicht geſchehen, um zu hetzen. Oas gleiche
Wahlrecht allein zieht nicht. Oie meiſten
Arbeiter laſſen ſich heute nicht einen Augen;
blick deswegen aufregen, weil ſie noch nicht
alle fünf Jahre bei den Wahlen zum preußi-
ſchen Abgeordnetenhaus denſelben vor den
Sozialdemokratie vorgeſchriebenen Wahlzettel
in die Wahlurne ſtecken können, wie bei den
Reichstagswahlen. Aber wenn den Arbeitern
vorgelogen wird, daß die Herabſetzung der
Nahrung eine fie verhöhnende Bos—
heit darſtellen ſoll, um die Arbeiter für ihre
Forderung des gleichen Wahlrechts an ihrem
Leibe zu ftrafen, jo muß das nach der Be⸗
rechnung des ſozialdemokratiſchen Partei-
vorſtandes unfehlbar aufhetzend wirken.
Der Parteivorſtand will den Wahlkampf.
Denn für die ſozialdemokratiſche Hetzarbeit kann
es nichts Ergiebigeres geben; als eine leiden
ſchaftlich erregte Wahlbewegung. Da kann tag⸗
aus, tagein geſchürt und gewühlt werden; und
wenn nun noch obendrein den Arbeitermaſſen
in jeder Wählerverſammlung vorgeſchwindelt
wird, man laſſe das Volk aus Nichtswür⸗
digkeit hungern, fo muß der ſozialdemo⸗
kratiſche Weizen üppig wachſen und blühen.“
Schwarze Liſten
ie Wahlrechtsvorlage iſt abgelehnt. Der
„Vorwärts“ iſt wütend über die große
Mehrheit der „Wahlrechtsgegner“ So bringt
er am 3. Mai eine Zuſchrift aus dem Ab-
geordnetenhauſe, in der es heißt: „Wir hal
ten es für nötig, diejenigen Mitglieder der
Zentrumsfraktion, die den Gegnern des glei⸗
chen Wahlrechts mit zum Siege verholfen
haben, öffentlich bekanntzugeben. Gegen das
gleiche Wahlrecht haben folgende Zentrums
abgeordnete geſtimmt: ... (Es folgen die Na;
men.) An den Pranger mit den Verfech⸗
tern ihrer eigenen Meinung! ſo denkt der
„Vorwärts“! — Auch ein Beitrag zum Kapitel
der „perſönlichen Freiheit“. Schol.
a ee N en u ee u a Er ae wen en
Verantwortlicher und Yauptfchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grottbuß + Bildende NRunſt und Muflt: Dr. Karl Gtork
Alle Zuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf -Berlin (Waunnſeebahn
Druck und Detlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
Alan ume >»Dopos
Suay "7%
—— — — Hn—— —
-
Lil
*
Io
a‘ N wo
DZ
72
|
4 hi N 9/7,
12 72
JN 7
|
8
|
h
|
ri
10
160 7
00 5
I
7):
So
N
NS |
i Anl
SS
Krisgsunagabe u
— ze C. = von en
II. Jahrg. j err Tal 118 1 Bett ı 10
deulſchland oder die Angelſachſen!
Von Fritz Bley
ie große Weſtoffenſive, mit der der Krieg zu feinem urſprünglichen
Ziete, der Küſte von Frankreichiſch-Vlaandern zurückkehrt, ſowie die
f 2 JEreigniſſe im Oſten zeigen unzweideutig auf, wie recht diejenigen
x EL gehabt haben, die von vornherein das große Weltringen als die Ent-
ſcheidung zwiſchen Oeutſchland und der angelſächſiſchen Welt betrachtet und den
ruſſiſchen, ja ſelbſt den franzöſiſchen Gegner politiſch nur als Kräfte zweiten Ranges
bewertet haben. Es kann auch nicht dem geringſten Zweifel unterliegen, daß der
Weltkrieg durch keinen noch ſo fein ausgetiftelten Frieden beigelegt werden wird.
Die Geſchichte Englands beweiſt vielmehr, daß wir mit einem wirtſchaftlichen
Nampfe zu rechnen haben, in dem es kein Remis, geſchweige denn gar eine ernft-
hafte Verſtändigung gibt. Ä
Der im September 1914 beſchloſſene zeitweilige Verzicht auf Calais, das
nach Schlieffens Plan das erſte große Ziel bildete und dies nun wieder geworden
iſt, führt uns mitten hinein in den Kernpunkt der in der Überſchrift aufgeworfe⸗
nen Frage. Sicherlich hätte kein engliſcher Feldherr in gleicher Lage ſo herrliche
Erfolge zu erringen vermocht wie unſere Heerführer an der Marne. Aber das
ſteht feſt, daß kein Engländer genötigt geweſen wäre, eine Entſcheidungsſchlacht
abzubrechen aus Mangel an Vorſorge der Heimat. Wir wiſſen ja heute, daß die
Marneſchlacht keineswegs verloren, daß vielmehr nach den Erfolgen von Kluck
Ser · Turmer XX, 19 19
| 290 N Bley: Deutſchland oder die Angelſachfen!
und Bülow Foffres linker Flügel tief erſchüttert war. Aber bei allem ſchmerz“
lichen Bedauern über den trotzdem erfolgten Abbruch der Schlacht war nicht über
die Tatſache hinwegzukommen, daß für die beiden Korps, die auf Hindenburgs
dringenden Wunſch an den Oſten hatten abgegeben werden müſſen, kein Erſatz
rechtzeitig herangezogen werden konnte, und daß dieſer Mangel an einer Heeres-
reſerve für die Entſcheidung der damaligen Oberſten Heeresleitung beſtimmend
geblieben iſt. | |
Den Grund aber erkannten nun alle Unterrichteten in der unfer Volk tief
beſchämenden Kleinlichkeit, mit der die deutſche Volksvertretung die Ausbildung
der Erſatzreſerve verſagt hatte. Es wurde gerade in jenen Marnetagen bekannt,
daß eine Million Freiwillige ſich gemeldet hatten. Wäre von dieſen auch nur det
fünfte, ja vielleicht nur der zehnte Teil ausgebildet geweſen, jo hätte am 7. und
8. September 1914 Zoffres Schickſal und damit das unſeres Vaterlandes ſich
anders erfüllt.
Daß die Kriegsbereitſchaft der verbündeten Donaumonarchie tief im argen lag,
war bekannt und hätte unſeren Etatsſtreichern ein ſchwerwiegender Grund zur um ſo
pflichtmäßigeren Berückſichtigung der eigenen Heeresnotwendigkeiten ſein müſſen!
England hatte bis dahin geglaubt, nach den Erfahrungen ſeiner bisherigen
Kriege auch dieſen mit einigen Kolonialen und hauptſächlich Frankreichs Heeres-
kraft und der ruſſiſchen Dampfwalze mühelos gewinnen zu können. Mit be⸗
wundernswerter Entſchloſſenheit brachte es nun, nachdem es den ſchweren Ernſt
ſeiner Lage erkannt hatte, nicht nur den Reſt der von uns abgekehrten Welt gegen
uns auf, ſondern nahm zum erſten Male das eigene Volk bis zum letzten Mann
für den großen Daſeinskampf in Anſpruch. Wohl wiſſend, daß der Deutſche kaum
beſiegbar iſt, es wäre denn, daß man ihn durch ihn ſelbſt beſiegen könnte!
Die Heeresfeindſchaft der deutſchen Demokratie, die Unfähigkeit breiter
deutſcher Kreiſe, über die von dem „Central Committee for Aational patriote
Organisations“ auf dem Umwege über die franzöſiſchen „Amities“ und „Sou-
venirs“ in den Reichslanden und in Belgien betriebene Hetze ſich klar zu werden,
und der Zaberner Skandal waren engliſcherſeits längſt als ſtarke Erwartungen
in Rechnung geſtellt, wie das vernichtende Wort zeigte, mit dem Campbell Banner-
man im Anterhauſe auf die „denkenden Menſchen“ in Oeutſchland hinwies. Die
Etatsnörgelei von 1915 und 14 war ja leider nur das Erbe des Geiſtes, der 1865
„Preußen den Großmachtskitzel austreiben“ wollte und Ende 1869, als bereits
das franzöſiſche Wetter heraufzog, zu dem Antrage Virchows auf allgemeine
Abrüſtung führte. Als reife Frucht dieſes Schlingkrautes mußten wir, während
in Oft und Weſt vor unſern Heeren die Reiche der Feinde zuſammenbrachen,
auf der Höhe unſrer Erfolge im Daſeinskampfe in der Heimat die berühmte Mehr-
heitsentſchließung vom 19. Zuli 1917 erleben!
Es iſt klar, daß hier Charaktereigenſchaften einander gegenüberſtehen, von
deren Siege das Schickſal des Weltkrieges und damit für abſehbare Zeit das
Schickſal der Völker dieſer Erde abhängt. Dem geſchichtlichen Rückblicke tritt das
alte Erbübel ſchon in der Jugendzeit der Germanen entgegen. Ganz Europa
haben die Goten mit ihrer Kraft erfüllt. Die herrlichſten Bauten Italiens, Frank-
Bley; Deutſchland oder die Angelſachſen! | 291
reichs und Spaniens find Zeugen ihres geiſtigen Geburtsadels. Als Volk aber
find fie verſchwunden, weil fie an ihrer Verſöhnungspolitik und ihrem Kultur-
beſtreben zugrunde gehen mußten. Das Römertum iſt durch ihre Milde und Groß
mut nicht zur Dankbarkeit veranlaßt, ſie ſelbſt aber ſind am Römertum verdorben.
Selbſt Theoderichs des Großen Reichsſchöpfung konnte ihn nicht überleben, da er
ſeine ganze Kraft darangeſetzt hatte, das verdorbene Römertum zu erneuern,
ihm ſein römiſches Recht und ſeine feſten Plätze überließ und derweilen auf den
verſtreuten Gütern des Landes den von Rom verödeten Ackerbau zu neuer, ehr-
furchtgebietender Größe brachte.
Die alte Klage über dieſe Zerlaſſenheit zieht ſich dann auch durch die ganze
deutſche Kaiſergeſchichte. Blicken wir auf die Sachſen oder die Salier und die
Staufen: immer dasſelbe Lied, daß die urſprüngliche Stammestüchtigkeit den
Nachfahren in dem Erbe fremden Mutterblutes verloren geht. Friedrich Rotbarts
Enkel bereits tritt uns als Sarazenenzögling ohne Kenntnis der deutſchen Sprache
entgegen, und Konradin endet unter dem Henkersbeil. Wie anders ſteht dem-
gegenüber der Welfen-Löwe, der dieſer Politik den Rüden kehrt und mit eiſerner
Fauft dem Oeutſchtum neuen Boden im Oſten erwirbt!
Anſre Geſchichtsauffaſſung aber kann ſich nicht erſchöpfen in Bewunderung
des Glanzes und Schimmers der Staufenzeit. Und während fie die Rohkraft
Cromwells und die von ihm ausgehende Erſtarkung des britiſchen Volksſtolzes
in weicher Zärtlichkeit beliebäugelt, hat ſie für den Welfenherzog bisher immer
noch wenig übrig gehabt. Um ſo leidenſchaftlicher verliert ſie ſich noch heute an
die Gedanken der franzöſiſchen Revolution in der von Ernſt Moritz Arndt ſo bitter
beklagten „Weltenliebe“. Daher noch immer die Vorherrſchaft der Auffaſſung
von einer geſetzmäßigen geſchichtlichen Fortentwicklung der Menſchheit.
Abſeits dieſer Betrachtungsweiſe ſteht das Aſchenbrödel der deutſchen Raffen-
forſchung, dem die Wiſſenſchaft vom Spaten und die Erforſchung der Bildniſſe
zu neuen Werten verholfen hat. Es gilt, im Sinne von Gobineau und Woltmann
zu neuen Erkenntniſſen zu ſtreben; ihre Lehre findet in dieſem Weltkriege glän-
zende Rechtfertigung. Hoffentlich wird das kommende Geſchlecht nun lernen, die
Völker ſelbſt als Geſamtperſönlichkeiten zu bewerten, und wird prüfen, wie weit
ſie ſich ſelbſt treu geblieben ſind und den in ihnen kämpfenden Gedanken. Auch
für die Völker wird die Verheißung zu gelten haben: Sei getreu bis in den Tod,
jo will ich dir die Krone des Lebens geben! Denn in der Tat zeigt uns jeder Ver-
gleich, insbeſondere aber der zwiſchen Angelſachſen und Oeutſchen, daß nur das
Volk zur Höhe emporſteigen kann, das in Kultur und Politik dem eigenen Geiſte
treu bleibt, feine eigene urſprüngliche Gliederung wahrt und ſich bei jeder Be-
rührung mit fremder „Weltkultur“ gegen das Gift geiſtiger Anſteckung ſchützt.
Blicken wir hin auf die im Kampfe ſtehenden Völker, ſo entgeht uns nicht
die Tatſache, daß einerſeits die beiden Inſelvölker der Engländer und Japaner
und andererſeits die ſeit Jahrhunderten in ſtarkem Kampfe bewährten inſelartig
zwiſchen andere Völker eingebetteten Madjaren und Bulgaren unbeſtreitbar die
größte Selbſttreue bewieſen und den Nationalgedanken in ſich am kräftigſten
herausgebildet haben.
292 Bley: Oeutſchland ober dle Angelſachſent
Es iſt belehrend, unter dieſem Geſichtspunkte die Kriegszielpolitik der Bul⸗
garen und Madjaren zu betrachten und die Stellung, die unſre Diplomatie zu
ihr eingenommen hat. Während in Deutſchland die Forderung der notwendigen
Sicherungen ſeit Beginn des Krieges als ein wahres Verbrechen verfolgt wurde,
hat Bulgarien unter ausdrücklicher Billigung unſrer Diplomatie von Anbeginn an
als grundfäßliches Kriegsziel die Vereinigung aller Bulgaren aufgeſtellt.
Die gute Frucht dieſes muſterhaften Eintretens des ganzen bulgariſchen
Volkes für ſeine großen nationalen Ziele liegt in dem Ergebniſſe des Bukareſter
Friedens vor uns. Bulgarien wußte, was es wollte, und hat es dementſprechend
nahezu — bis auf die Norddobrudſcha — erreicht!
Die Madjaren waren durchaus im Rechte, als ſie gegenüber Rumänien
eine ſtärkere Sicherung und dementſprechend die Verſchiebung der ſiebenbuͤrgiſchen
Grenze forderten. Inzwiſchen aber hatte die ſonderbare Politik des Grafen Czer⸗
nin Oeutſchland im Vereine mit unfrer Reichstagsmehrheit tugendhafte Enthalt-
ſamkeit gepredigt. Der ehemalige Vertrauensmann des Erzherzog Thronfolgers
ſetzte ſich damit zugleich in Widerſpruch mit feiner eigenen beſſeren Überzeugung,
und wie er zu Lebzeiten ſeines Gönners für die Berechtigung der Nationalitäten
in Ungarn nach Maßgabe des Geſetzes von 1866 eingetreten war, ſo ſchnitt er ſich
auch in dieſer Frage die Naſe aus dem Geſicht, indem er nunmehr ganz und aus-
ſchließlich für die Rechte der Madjaren eintrat. In der Grenzfrage freilich ſoll
ihm nach einer ſehr glaubhaften Lesart Graf Tisza durch einen Druck an anderer
Stelle zu Hilfe gekommen ſein.
Wie ſteht es dagegen um den deutſchen Erfolg? Allerdings haben die Herren
v. Kühlmann und Dr. Helfferich unſern Heeresölbedarf gedeckt und die Anſprüche
der deutſchen Banken auf Rumäniens Petroleum einſchließlich der zur Der-
ladung erforderlichen Pacht der Donauwerft von Giurgiu erledigt. Aber die
politiſchen Belänge des Deutſchen Reiches und die Forderungen des deutſchen
Volkes ſind unerfüllt geblieben. Das unwürdige Königspaar, das leicht durch
einen ſehr würdigen Fürſten hätte erſetzt werden können, iſt uns erhalten ge-
blieben, und Ferdinand blickt bereits wieder „als König und Rumäne voller Hoff⸗
nung in die Zukunft feines braven und tapferen Volkes“, wie es in einem Draht-
gruße an Marghiloman heißt. Weniger entzückt ſind davon die Angehörigen der
in Rumänien unter der Anleitung franzöſiſcher Offiziere in viehiſcher Weiſe ge⸗
quälten deutſchen Gefangenen: von dieſen ſind im Lager Sipote von 16000 im
Laufe eines Winters 12000 geſtorben, von 102 deutſchen Offiziersaſpiranten
ſind heute nur noch 7 am Leben. Dies teure Blut iſt nicht zu erſetzen. Aber daß
es nicht möglich geworden iſt, von dieſem Volke eine angemeſſene Kriegsentſchädi⸗
gung zu erzielen, daß man überhaupt dem öſterreichiſchen Plane eines Wieder-
aufbaues Rumäniens in fo weitgehendem Maße zugeſtimmt hat, bleibt eine Der-
nachläſſigung unſerer deutſchen Notwendigkeiten, die im umgekehrten Verhält-
niſſe zu unſern militäriſchen Leiſtungen ſteht. Hoffentlich wird wenigſtens nun-
mehr bei der Dobrudſcha-Konferenz uns ein deutſcher Hafen geſichert, am beiten
an der Sulina-Mündung zugleich mit Beſetzung der Schlangeninſel! Oder ſollen
wir wirklich nach allen Erfahrungen von Osnabrück, Nijswick und des berüchtig⸗
7
Bley: Deutihland oder die Angelſachſen! 293
ten Jusqu' à-la-mer- Vertrages von 1815 erleben, daß abermals ein deutſcher
Quellfluß an ſeiner Mündung uns verſperrt wird?
Am allerbetrüblichſten ſtellen ſich die Auswirkungen dieſes Friedens auf
die benachbarte Ukraina dar. Wir haben im Norden der Dobrudſcha und im Süden
des jetzt an Rumänien ausgelieferten Beßarabien einen außerordentlich wert-
vollen Stamm von deutſchen Anfiedlern, die ſich jetzt hilfeflehend an das A. O. R.
in Riew gewandt haben mit der Bitte, ſie gegen rumäniſche Bedrückung zu ſchützen.
Laſſen wir dieſen wohlhabenden deutſchen Bruderſtamm auf ſeinem bisherigen
Vorpoſten im Stiche, ſo werden wir uns wirklich nicht zu beklagen haben, wenn
der letzte Reſt von deutſchem Anſehen in die Brüche geht. Denn wo in aller Welt
gäbe es wohl einen minderwertigeren Gegner als dieſes Rumänien?
Auch die Ukraina legt ja, wie bekannt, leidenſchaftliche Verwahrung gegen
die Auslieferung der Deutſchen und ihrer Volksgenoſſen an Rumänien ein. Ins-
beſondere iſt der ganze Süden Beßarabiens von der Dobrudſchagrenze bis zur
Stadt Akkermann faft frei von Rumänen. Dieſer Teil des Vertrages iſt alſo
undurchführbar, und Deutſchland muß dafür Sorge tragen, daß es auch dort am
Ufer des Schwarzmeeres bleibt, ſchon um bei den zukünftigen Beratungen, die
ja in der Verwahrung der Ententemächte an Rumänien bereits jetzt ſich ankündi-
gen, dafür ſorgen zu können, daß die Schwarzmeerfragen auf die Anliegermächte
beſchränkt bleiben. Herr Marghiloman hat mit Fug und Recht bei einem Feſtmahl
kürzlich darauf hingewieſen, daß Beßarabien nicht in Kiſchinew, ſondern in Buka-
reſt von Rumänien erworben ſei.
Hoffentlich gelingt uns die Verſtändigung mit der Ukraina in beſſerer Weiſe,
zumal dort und in der Krim eine ſtarke und einflußreiche deutſche Anſiedlerſchaft
lebt, die nur unter deutſchem Schutze ihres Lebens froh werden kann, und weil
wir ferner in dem Waſſerwege Cherſon-Riga unter Verbindung des Onjepr mit
der Düna durch Ausbau des Kanals von Orſcha nach Witebsk ein wertvolles Seiten-
ſtück und Gegengewicht gegen den Donauweg ſchaffen können und müſſen.
Der Ernſt der militäriſchen Forderungen ſcheint nun zur Ausgleichung
der bedauerlichen Winderleiſtungen und politiſch dahin geführt zu haben, daß
wenigſtens die allerdringlichſten Notwendigkeiten in dem neuen Vertrage mit
Öfterreich berüͤckſichtigt find. Sachlich war der alte ja in dem Augenblicke erloſchen,
als unter Hindenburgs Schwerthieben das Reich der Romanows und Bolſche⸗
wiken zuſammenbrach, denn ſchon bei Begründung des Bündniſſes ließ Graf
Zulius Andraſſy der Altere Bismarck keinen Augenblick im Zweifel daran, daß
er dies nur als Schutz gegen einen ruſſiſchen Angriff betrachten könne. In
Peſt wie in Wien iſt man ſich zweifellos darüber klar geworden, daß Deutſchland
mit der Niederringung der Ruſſen ſich in eine gewiſſe Abhängigkeit von Öfter-
reich-Ungarn hineinſiegte. Dieſe Auffaſſung kommt leider auch zum Aus-
drucke in der Behandlung der Oeutſchen beider Hälften des Habsburger Reiches.
So wie wir in dem Bunde die weitaus ſchwerſte militäriſche Leiſtung gehabt
haben, ſind auch innerhalb des Doppelreiches die Oeutſchen in verhängnisvoller
Tragik das Opfer unſrer und ihrer Staatstreue geworden. Während die Slawen
mit Verrat und Überlaufen die Zahl der Gefangenen auf 1600000 Mann ge-
*
294 Bley: Deutfhland oder die Angelſachſen !
bracht haben und ganze Brigaden von Tſchechen jetzt gegen uns kämpfen, iſt in
den Alpen und den Sudeten Hof um Hof durch den Opfertod des Bauern und
ſeiner Söhne verwaiſt. Und während in Ungarn und Tſchechien die Bevölkerung
in Wohlleben ſchwelgt, müſſen die Deutſchen in Tirol, Böhmen und Schleſien
ſich hilferufend an das benachbarte Bayern und Preußen wenden. In Ofen- Peft
aber hat man im Winter 1916/17 in einer Geheimſitzung des Abgeordnetenhauſes
Klage darüber geführt, wie die deutſchen Erretter das notleidende Ungarn „aus-
geſogen“ haben. Der Haß aus Dankbarkeit iſt eine neue Form, die zu ftudie-
ren unſern Diplomaten und allen denen vonnöten wäre, die noch immer die Frage
aufwerfen, „warum die Deutſchen im Auslande fo unbeliebt find“!
Zugleich haben die Madjaren die Gelegenheit der rumäniſchen Schwierig-
keiten dazu benutzt, die Zugeſtändniſſe zu beſeitigen, die unter dem von Franz
Ferdinand geübten Drucke in der Sprachenfrage auch den Deutſchen im Ungar
lande gemacht waren. |
An alledem geht die Mehrheit des deutſchen Volkes mit einer Gleichgültig-
keit vorüber, als handele es ſich um Kirgiſen oder Botokuden und nicht um Brüder
vom eigenen deutſchen Blute.
Gewiß iſt dieſe Politik auch vom habsburgiſchen Standpunkte aus letzten
Endes kurzſichtig, denn die leitenden Männer müſſen im Hinblide auf die Haltung
der Slawen immer wieder zu dem Schluſſe gelangen, den Kaiſer Karl ſelbſt
zur Zeit, als er als Thronfolger im Felde ſtand, gegenüber den Herren ſeines
Stabstiſches geäußert hat: „Ihr Deutſchen ſeid die einzigen, auf die ich
mich wirklich verlaſſen kann.“ Alle übrigen Völker ſeines Reiches arbeiten
an der Schwächung der Reichseinheit. Und doch ernten auch von amtlicher Seite
die Deutfhen nur Undank, da man glaubt, ihrer auf alle Fälle immer wieder
ſicher ſein zu können. Verlieren fie aber erſt einmal den Mut und wird ihr Volks-
körper zum Ausbluten gebracht: wo ſoll dann noch Habsburgs Zukunft liegen?
Trotzdem bleibt Öfterreihs Zaudern und der Einfluß fo vieler deutfchfeind-
licher Kreiſe von entſcheidender Bedeutung in dem Kampfe, den wir gegen die
Angelſachſen führen. Im Oktoberhefte des zu Lauſanne erſcheinenden Entente-
blattes „Revue Internationale Contemporaine“ veröffentlichte Graf Julius
Andraſſy Sohn einen Aufſatz, in dem er die Zerſchmetterung Englands als ein
ebenſo großes Unglück für Sſterreich- Ungarn bezeichnet, wie die Vernichtung
Deutſchlands geweſen ſein würde. Er erblickt in der „Niederringungspartei“ beider
Länder das ſchwerſte Friedenshindernis und nimmt für Sſterreich- Ungarn die
Aufgabe des gegebenen Vermittlers zwiſchen der älteren und der jüngeren ger⸗
maniſchen Weltmacht in Anſpruch. Er hält ein auf eigenen Füßen ſtehendes,
ſtarkes Oſterreich- Ungarn nur dann für lebensfähig, wenn England in feine alte,
überlegene Vermittlerſtellung wieder eingeſetzt wird. Zu dieſem Zwecke erſtrebt
er einen Frieden, der England wieder zur Zunge an der Wage des europãiſchen
Gleichgewichtes macht. Auf alle Fälle kann England darauf rechnen, daß Wien
einer ſolchen Wiederherſtellungspolitik auf halbem Wege entgegenkommt. Graf
Czernin hat unverkennbar jede Gelegenheit geſucht, um Oſterreich Ungarns Macht
auf Koſten des Deutſchen Reiches zu ſtärken, und die tſchechiſche Politik deckt uns
Zimmer: Tyeodor Gtom 295
Einflüſſe auf, die ebenſo wie die ganze habsburgiſche Polenpolitik den Wünſchen
Englands entgegenkommen. Dieſe Einflüſſe, von denen der Kaiſerbrief und die
Rolle der Prinzen von Bourbon-Parma noch gar nicht einmal die ſtärkſten Er-
ſcheinungen darſtellen, werden immer wieder auf eine Zurückſchraubung der
deutſchen Vormachtſtellung hinarbeiten, ſolange nicht unſrerſeits die ganze Frage
entſchloſſener behandelt und Öfterreih-Ungarns Rückzug aus Polen gefordert wird.
Sit es nötig, dieſe Gedankenreihe noch weiter auszuſpinnen, um den Be-
weis zu liefern, daß es ſich letzten Endes in dem ganzen gewaltigen Weltringen
um den Kampf zwiſchen der deutſchen und der angelſächſiſchen Welt handelt?
Sollte man wirklich noch immer nicht begriffen haben, daß alle unſre Feinde ver-
einbartermaßen den Krieg nicht lediglich gegen das Deutſche Reich, ſondern
gegen das deutſche Volk geführt haben? Unzweideutig hat Goremykin den
Balten, die ihn bei Ausbruch des Krieges um Schutz baten, dies erklärt. Noch un-
zweideutiger lehrt es die planmäßige Ermordung, Mißhandlung, Beſchimpfung
und Beraubung aller Deutſchen durch die Engländer, insbeſondere auch die Schän-
durig deutſcher Frauen durch Eingeborene vor den Augen der Eingeborenen auf
Befehl verruchter Franzoſen, ja jetzt ſogar nach dem Friedensſchluſſe durch das
rumäniſche Geſindel: daß es für die Volksgeſamtheit um Sein oder Nichtſein geht.
In den feindlichen Staaten ſowohl als anderwärts. Soll nicht endlich im ganzen
Volke das Verſtändnis dafür erwachen, daß aus ſeiner eigenen Seele das Rüft-
zeug genommen werden muß, um dieſen Weltkampf zu beſtehen? Auf den Wag-
ſchalen der Geſchichte hält der richtende Herrgott den deutſchen und den engli-
ſchen Schädel!
1 . ei
S M
Theodor Storm. Bon Fritz Alfred Zimmer
Zum Gedächtnis feines 30. Todestages am 4. Juli
In das Vergrollen dieſes Krieges klingt ein Sommerlied.
Dazu verträumte Cellotöne, volle, weiche,
Und ſüßes Wünſchen und Weinen einer alten Geige,
Daß noch das bange, vergrämte Herz kaum weiß, wie ihm geſchieht.
Ein Märchenſinnen ſchöner Sonntagsnachmittage
Friedet die Einſamkeiten dunkler Gartenhage,
In die der Duft der ſtillen Städte und ihrer Meere weht,
Und manchmal auch im blütenweißen Schimmerkleide
Ein ſilbernes Jungmädchenlachen hinter Buſch und Beet,
Und fernher dumpfe Donner über heller Heide.
2
296 | Hein: Ein halber Tag
Ein halber Sag...
Skizze von Alfred Hein |
ecilie ſchreibt: Lieber! Wir werden uns wiederſehen. Nein, wir
N S IN werden uns das erſtemal erſchauen! Denn das letztemal irrten
9.5 unſre Regungen und Gefühle noch aneinander vorbei; diesmal
—
O ſpüren wir jetzt ſchon ineinander verſinkende Zweieinigkeit. Und — —
wollen — wir — uns küſſen? Za! Ja! ga!!! Meiner Du! Es wird eine heilige
Heimlichkeit für uns geben! Es muß eine geben, und wenn alles wider uns wär'!
Zch fühle es ahnend — — — Aber ſei vorſichtig und hüte unſer Geheimnis!
Mein Gott, der Brief findet Dich noch in Toſen und Tod, in Wüfte und Weh.
Wie mein Herz arm wird, wie arm — — ein Nichts — — —: wenn Du — nicht —
kämeſt — — nie mehr — — —
ga. Du kommſt. Du mußt. Ein großes Glück wartet in uns auf Erfüllung.
Es iſt ſtärker als aller Geſchoſſe Haß. Ich bin ganz Andacht. .. Ich tue meine
ſehnende Seele um Oich.
Aber komm bald! Ich freue mich! Cecilie.
Diefer Brief ruht nun in einem Zeldpoftfad einem Müden zu Füßen. Einem
Immermüden. Einem nimmer Aufſtehenden. .. Denn ſein Antlitz iſt fahl, fein
Auge ſtarren, wehen Glanzes. .. Lehm und Blut haben feine Uniform ſchaurig
bunt gemacht. Er hat ſich zwiſchen den Gräben verirrt, als die Kugel ihn riß. Wer
findet den Toten? Wann wird man ihn in der Ode überhaupt das erſtemal ſehen?
Wann wird man ihn in dem hölliſchen Feuer holen können?
Ach, der hoffende Brief iſt nach dem Land geflogen, wo keiner auch nur
ganz zag hoffen darf... Nach Flandern.
Durch die Wüſte, in der nichts aufſteht, nur weit und breit Eiſen, Qualm
und Erde aufſpritzen in düſteren Fontänen, rennt ſchwarz ragend gegen goldene
Sonne ein Menſch! Geknatter von Maſchinengewehren. Er aber rennt, rennt,
rennt. Eine Granate in ſeiner Nähe. Rauchwolke verſchluckt ihn einen Augenblick.
Dann raſt er ſchon wieder weiter, Fauſt am pochenden Herzen, Augen grellweiß
im ſchweißigen, lehmverklebten Geſicht. Jetzt kommt er am Toten vorbei. Er
erſchrickt, er kennt den Armen. Doch nur für Sekunden iſt er ruhigen Leides voll,
dann hat das Geſicht wieder das Harte, Starre, Grimmige der Helden hier vorn.
Er kniet, entreißt dem Liegenden die Erkennungsmarke durch die zerfetzte Uniform
hindurch, greift haftig in die Taſchen, birgt Briefmappe, Uhr in den feinen, krallt
dann die Fauſt um den Feldpoſtſack, ſpringt auf. Eine Kugel ſiiirrrt. Er hört
ſie ſeelenruhig. Da ſpürt er plötzlich warmes Rinnen den Rücken entlang.
Er ſchleppt ſich von einem Trichter zum andern. Schon verfolgen mehrere
Maſchinengewehre. Der Laufgraben! Er nimmt die letzte Kraft zuſammen, ſpringt
einige Schritte — — rollt bewußtlos in den Graben hinein.
Und der Sack wird abermals gefunden. Aber neben einem Toten.. Zwei
ſind um der Kameradenbriefe willen verglüht. Wer erzählt von einer ſchlichten
Heldentat?
®.
Hein: Ein halber Tag 297
Nur in der Nacht kommen die Briefe auf dem Rüden eines ruhig dahin-
ſchreitenden Landſturmmannes, der zugleich noch Eſſen mitbringt, ſicher nach vorn.
„Du haſt einen Brief!“ ſchreit einer den andern an. Er rennt geduckt von
Trichter zu Trichter, ſchon zeigt ſich die Sonne!
Und Musketier Hans Ansgard kriecht durchs Trichterfeld. Nur jetzt kein Ende.
Nur noch den Brief leſen — —!
Dort hockt der Leutnant. Da wird auch die Poſt in der Nähe ſein!
Ansgard ſpringt auf! Er hält es nicht mehr aus. Cecilie! ſehnt es in ihm!
And er ſucht aufrecht ſtehend, wo ein gelber Sack vielleicht leuchtet.
Da! s
„Biſt woll verrückt? Sollen wir das Feuer denn direkt für uns beitellen?
Duck dich! Es qualmt ja ſchon rings an allen Ecken!“
„Ein Brief für mich!?“
„Hier.“
Aufreißen. Überfliegen. Du!! Ach — —
Und in demſelben Augenblick heult's, heult's, — — zerkracht's!!
„Sie haben uns geſehen! Wir müfjen hier fort“, knirſcht der andere.
Und die zwei kriechen paar Trichter weiter ab.
Lang iſt der Tag noch. Abertauſend durchtoſte Sekunden noch.
In der Nacht erſt darf Hans Ansgard nach hinten. Urlaub! Urlaub!!
Vierzehn lange Tage! (O ſie vergehen ſchneller als vierzehn Minuten hier
vorn. .)
Urlaub!!!
Still, ſtill im Land, wo man nicht hoffen darf.
a %*
Noch immer hat er fie nicht geſehen. Noch drei Tage, er muß fort. Heimliche
Briefe ſind hin und her geirrt. Noch war kein „Zufall“ gefunden, der ihn nach
dem Nachbarſtädtchen führt, ohne daß es den Klatſchbaſen und der geſtrengen,
fürnehmen Frau Mutter auffiele. Denn „er“ iſt nichts für „ſie“.
Da kommt das Glück! Es iſt ſo gut, das Glück! Es gibt und gibt und gibt —
aber auch, ach das Glück ſagt plötzlich: Schluß. Oder: Soviel diesmal noch nicht.
Und geizt.
Eines Tages klingelt das Telephon. „Herr Ansgard dort? Guten Tag,
mein Lieber. Hier Frau Elmenried. Ich hab 'ne dringende Bitte. Kann Ihr
Sohn, der damals in Berlin den lauſigen Vertrag mit Berenſtein und Cie. für
mich abſchloß, nicht heute nachmittag herüberkommen? Es ſtimmt da etwas nicht.
Vertreter von Berenſtein iſt auch hier. Bitte ſchicken Sie ihn, ja? — Danke. — Wie
geht's ihm denn? — Bald wieder fort? — Wieder nach Flandern? — Der Armſte.
Ach ja, der Krieg. — Alſo bitte ſchicken Sie ihn! — Vielen Jank. Grüßen Sie Ihre
Frau. Und Ihren Sohn natürlich auch. Ich freue mich, ihn wiederzuſehen.“ —
*
Der Vertrag iſt in Ordnung. Der Vertreter von Berenſtein iſt ſchon abge-
fahren. Es iſt fünf Uhr, Um neun Uhr muß Hans zurück. Bis jetzt hat Hans
Cecilie nur von ihrem Mädchenzimmer her fingen hören.
*
*
BER
298 Hein: Ein halber Tag...
Frau Elmenried iſt ſehr liebenswürdig, aber auch nur das. Und etwas hoheits⸗
voll dem Sohn ihres früheren Geſchäftsführers gegenüber, der zwar ein virtuoſer
Geiger fein ſoll. .. Pe, brotloſe Kunſt!
Da geſchieht etwas unerwartet überflammend Schönes für Hans.
Die Tür öffnet ſich. Cecilie darin im himmelblauen Kleid.
Augen voll Glück! Lippen erbeben! Hände heben ſich heiß haſtig zum Gruß
entgegen!
Nur die Worte ſind ſehr alltäglich: „Guten Tag, Herr Ansgard!“
„Guten Tag, gnädiges Fräulein!“
„Hertaaa!!“ jubelt es übermütig aus Mädchenmund zum Fenſter in den
Kirſchblütengarten hinaus.
„Komm herauf! Beſuch!!“
Frau Elmenried rümpft die Naſe: Großartiger Beſuch!
„Meine Freundin Herta! — Der Geigenkünſtler Herr Ansgard!“
* *
*
Cecilie, Hans und Herta gehen ſittſam im Schloßpark ſpazieren.
Das rieſige Ringen der Welt iſt zweien ein Nichts. Sie wiſſen nicht einmal
zur Stunde, daß gerade ihre Seelen heiß daran hängen. Ach, ſie wiſſen nicht einmal
mehr, was fie alles an Widerwärtigkeiten am heutigen Tag beſiegt haben, ehe ſie
zum jubelnden Jetzt gelangt find,
Sie ſind Nebeneinander -Schreitende, die ſich Blicke voll Liebe geben.
Manchmal ein weiches, alltägliches und doch ſeltſam werbendes Wort.
Ein Weg im Park wird nun den beiden unvergeßlich. Sie werden, wenn
ſie ihn in Jahren gehen, ſagen können, in welcher Richtung der Kuckuck ſchrie und
welche Blumen um die alte Linde ſtanden. Sie werden ſich wohl noch erinnern,
wie die Uhr vom Turme her ſchlug, welche Stunde ſie aber ſchlug, werden ſie
ebenſowenig wiſſen, wie ob der Tag des Glücks ein Montag oder Freitag war.
Denn jedes Geräuſch, jedes Blinken, jedes Aufflattern eines Falters nimmt die
Seele in ſolcher Stunde für immer fühlend auf; Berechnungen und Maße aber
wirft ſie fort. Denn ſie iſt etwas Ewiges.
O der Rauſch, die bei jedem leichten Berühren zuſammenzuckende Sehnſucht,
das nah wogende Blut des andern, . .
Cecilie ſpricht von der Muſik. Ihre braunen Augen überglänzen die Worte
voll ſilberner Rührung, ihr dunkelgüldenes Haar bebt manchmal, als ſei es Saite,
auf der Frühlingswind geigt, ihre ſchmalen, weißen Hände formen die weichen,
warmen Worte noch mit andächtiger Geſte nach, ſo daß ſie Hans mit großen Augen
und lächelnden Lippen in ſich trinkt als koſtbar Unvergeßliches.
Sie ſagt jetzt: „Du wirſt mir heut abends geigen.“
Und er: „Za, ich werde die Seele fingen laſſen — für dich allein —“
Stahl blitzt in ſeinem Blick. Er reckt ſich. Man merkt, daß er mehr iſt als
Musketier. Ein Seltſamer. Ein Einſamer.
Und ſie: „Muſik aus dir — — Da werden wir ganz, ganz ferne ſein —
ganz .. ganz . ferne . . . zweieinſamſüß verſinkend in ein Meer Seligkeit ——“
Hein: Ein halber Tag 299
Die Freundin geht ſtumm neben den zwei Zitternden. Sie ahnt alles ſeit
dem erſten Augenblick. Wie gern ließe ſie die beiden allein.
Aber wir ſind in der Kleinſtadt!
Sie kommen an eine Bank. Es iſt Einſamkeit. Jubelnde Finten und Amſeln
werfen mit der güldenen Sonne und dem ſeltſam beruhigenden Licht junggrüner
Bäume und dem lauen, leichten Wind eine Überfülle an Frühling in die Allee.
Man iſt trunken. Man muß ſich lieben. Man muß ſich küſſen können.
Die Freundin ſpürt, daß dieſer Drang die zwei beherrſcht.
Sie will ein wenig weiter gehen, indes die zwei ſich niederſetzen.
Cecilie hält ſie zurück. „Bleib! Küſſe improviſieren? Nein. Oder fie ſich
in wenigen ängſtlichen Sekunden von den Lippen reißen? Nein.“
And gans ſagt traurig, aber feſt: „Es wäre nur Halbes.“
Alle drei Schauen ins Leere.
Nach einer Weile ſagt Hans: „Bleiben Sie, Fräulein Herta. Wir ſind ſehr
gluͤcklich und wollen nichts ſonſt zur Stunde.“
Da ſpringt Cecilie auf, tritt vor ihn hin, der in der Bank zurücklehnt, die
Hände auf der Rückenſtütze nach beiden Seiten ausgereckt. Er brauchte fie bloß
zuſammenzuſchlagen, da hielte er die Geliebte innig umfangen — — !
„Du. Lieber! Das war ſchön geſagt. Das war wunderfein ſchön.“ Und
leis, leiſe lächelt fie mehr als fie flüſtert: „Ich liebe dich.“
Ihre Knie berühren ſich eine Sekunde lang ganz ſacht und unwillkürlich.
War — das — der — erſte — Kuß — —?
| %* %
*
Eine Seele iſt über eine Geige gejpannt. . .
Und die Saiten erbeben:
Denn du, zu der alle dieſe Klänge hauchen, jubeln, weinen und entzückt
taumeln, biſt ewig. Darum fürchte ich mich nicht, Tod von Flandern. Donnere,
Tod, ſchreie, Tod, reiße, raube, räche dies Glück, Tod! Du e es nicht. Dieſes
Glück ift und iſt und iſt! Es hat keine Stunde.
Meine Liebe liegt lachend in deiner, Cecilie. Ich werde ein hohes Feſt in
mir tragen, wenn wir auch wüſtes, toſendes Land durchwaten.
Nun aber will ich von dir ſingen, die ich anbete.
Wenn ich mit andächtigen Händen über dein Haar gleite, über dein feines
Saar, welche zauberzitternde Klänge ſinken da hinein. Klänge der trunkenen
Seele — — —
Wenn ich deine großen Augen trinke, deine braunen Augen, welch“ Klänge
erbeben im ſeltſamſten Rauſch! Klänge der trunkenen Seele — — — Wenn ich
deinen Mund ſehe, deinen niegetüßten Mund .. welch' — Klänge —
Die Geige ſchweigt ſeufzend. Es wäre doch zu ſchön geweſen.
„Warum, Herr Ansgard?“ fragt Frau Elmenried. (Man ſitzt im Salon
bei Wein und Zigarette.)
Hans muß, alle Kraft a end ein Lächeln auf ſeine Lippen
zwingen.
„Vergeſſen, gnädige Frau.“
300 Hein: Eiu halber Tag...
„Vergeſſen —“ haucht's leiſe zwiſchen ſchmalen, blaſſen Lippen aus zer⸗
riſſenem Mädchenherzen heraus. Cecilie, die im Erker im Lehnſtuhl ſitzt, ſchlägt
die Hände vors Geſicht.
Hans erſchrickt vor Entdeckung, errötet.
Herta zieht eilends Frau Elmenried in ein Alltagsgeſpräch.
Cecilie ſchaut aus ihrem dämmrigen Winkel mit grell glänzenden Augen
voll Bangigkeit auf. Nur noch wenige Minuten — — —
„Flandern“, denkt Hans Ansgard.
„Allein“, denkt Cecilie.
Wo iſt die Siegesgewißheit, die noch vorhin aus ſeiner Muſik Hang? Abſchied
zerſchlägt doch alles.
Man ſpürt wohl, daß alles Liebe geblieben iſt, aber es wird ſtärkſter Wille
und Glaube überdunkelt von der Pein des Riſſes. Man weiß, ſpäter wird es wieder
lichter. Hoffnung kehrt wieder.
Was nützt der Gedanke, wenn alles jetzt Qual, Qual, Qual iſt!
Da — in den letzten Minuten beginnen die Seelen wieder zu ragen.
Herta tritt ans Fenſter: „Es iſt eine wunderſame Vollmondnacht! Können
wir Herrn Ansgard nicht zur Bahn begleiten? Frau Elmenried, dürfen wir?
Da ſchlafen wir auch beſſer!“
„Hmm — Meinetwegen.“
Herzen jauchzen auf: Du!! Du!! Noch einen ſüßen Weg durch die Voll-
mondnacht! Du!! Du!!
Wie in guter, alter Zeit liegt die kleine Stadt im Mondlicht. Das gibt Mär-
chen in die eben noch zerquälten Gedanken. Er iſt kühn und legt den Arm in den
ihrigen. Eine ſtille Gafje lang — — Turmuhrklänge rollen durch ſie. Die alten
Dane rumoren. Ein Brunnen fingt.
— Doch jetzt kommt die Hauptſtraße. Klatſchtanten kehren vom Kaffeeſchmaus
heim. Spießbürger vom Abendſchoppen. Der Nachtwächter.
Vom Bahnhof her ertönen ſchon ſchrille Schreie von Lokomotiven. Die Arme
löſen ſich voneinander. Augen ſtarren geradeaus. Minuten raſen. Herzen ſtocken.
„Schreib viel!“
„da.“
„War's ſchön, Armer?“
„Ja, es war ſchön, Armſte!“
„Ich bin nicht arm. Unendlich reich!“
„Ich auch! Du! Ja!“
Noch zwei Minuten, bis der Zug kommt, der ihn fortträgt. Sollen ſie jetzt
noch hier auf dem Bahnſteig vor allen Leuten den Kuß wagen? Denn — Hans —
Ansgard — geht — ins — Land — des — Todes — — —
Nein. Sie haben ſich ja geküßt!
Ihre Seelen ſind tief ineinander getaucht, tauſendmal!
Der Zug donnert heran.
Ihre Hände wollen ſich nicht laſſen.
Ein Riß.
Britting!? Ser Soldat ö ö ö 301
Sie gehen auseinander, [hauen ſich nur halb an („Auf Wiederſehen, Fräu⸗
lein Herta! Wir danken Ihnen für die Idee des Begleitens!“
Im Einſteigen ſchickt er Cecilie einen großen, heißen Blick. Dann ſpringt er,
ein Schluchzen in der Kehle, in den Wagen hinein; ſchlägt die Tür zu um kann
nicht mehr hinausſchauen.
Herta führt die blaſſe, weh lächelnde Cecilie langſam fort.
Tränen.
Ein Name wird in die Nacht geſchrien!
Ein Stern fällt vom Himmel.
Herta ſpricht weich und lieb: „Ich habe mir gewünſcht, daß ihr gluͤcklich werden
ſollt.“ Denn ſie ſah den Stern fliegen.
Einer ſitzt im trüblichten Eiſenbahnzug, ſchlägt die Hände vors brennende
Geſicht. Nichts denken, nichts denken, nichts denken — — nur immer wieder
fühlen ihre Hände, ihre Blicke — — — die Sekunde der leiſen Berührung im
Park — — —
Der Soldat - Bon Georg Gritting
So ſitzt er auf der Kante ſeines Betts;
Schwer baumeln ſeine Beine in die Tiefe,
Er ſtützt den Kopf, als ſei er ſchlapp und ſchliefe,
Gefangen hält dig Schwermut ihn im Netz.
Er horcht nach innen, als ob ihn wer riefe,
And beugt den Kopf und weiß, geſchrieben ſteht's —
Der Tod iſt nah, doch auch die Liebe ſtets:
Er taſtet nach der Taſche: ah, die Briefe!
Mit trüben Augen, Leſens ungewohnt,
Die Finger ſtreichelnd jedes liebe Wort —
So buchſtabiert er Zeil’ für Zeile fort
Und hört das Brauſen nicht der nahen Front.
Krumm ſitzt er auf dem Bett bei Kerzenſchein,
And ſeine Beine baumeln in die Tiefe.
Mit ſchwerer Hand liebkoſt er ſeine Briefe
Und neigt den Kopf und nickt und ſchlummert ein,
NV;
45 f x *
302 " Reifl: Amerikaniſche Gettelbeptelſe
ee che Getreidepreiſe
Von Frank v. Kleiſt |
RK der Londoner „Daily Chronicle“ vom 13. Dezember findet ſich
an wenig auffallender Stelle in kleinſtem Druck folgende für uns
| * als intereſſante Meldung der „Exchange Telegraph Co.“ aus
: 9 Waſhington, deren Zahlen fo recht geeignet find, uns die überaus
ſchwierige, um nicht zu jagen verzweifelte Lage unſerer europäiſchen Feinde vor
Augen zu führen; und die es uns gleichzeitig erklären, woher die ſo manchem von
uns unbegreifliche Begeiſterung der Amerikaner für die Weiterführung des großen
Krieges ſtammt. Die Meldung lautet wörtlich: „Die Schätzung der Kriegsernte
in Amerika durch das Landwirtſchafts-Departement zeigt, daß fie die wertvollſte
iſt, die die Geſchichte kennt. Roggen wird auf zuſammen 315949000 Buſhels
geſchätzt, die einen Farm Wert von 810726400 Pfund Sterling nach dem Preiſe
vom 1. Dezember repräjentieren. Der Ertrag an Winterweizen war ſchätzungs⸗
weiſe 65082000 Buſhels, im Werte von 261 485600 Pfund Sterling.“
So arbeiten engliſche Journaliſten. Man jongliert etwas mit Zahlen, unter
der Vorausſetzung, daß es doch keinem der Leſer ſo leicht einfallen wird, dieſe
Zahlen ſich zu berechnen, und ſollte der eine oder der andere es wirklich tun —
nun, jo hat man ja die Wahrheit geſagt, ohne die große Öffentlichkeit irgendwie
zu beunruhigen. Begehrt ſpäter, wenn die Tatſachen ihre bittere Sprache ſprechen,
die Menge auf, ſo kann man mit gutem Gewiſſen darauf verweiſen, daß man ja
ſchon längſt auf dieſe Dinge aufmerkſam gemacht habe.
Was aber die obigen Zahlen beſagen, wollen wir unſeren Leſern einmal in
deutſche Werte umrechnen. Dreihundertund fünfzehn Millionen neunhundert und
neunundvierzigtauſend Buſhels Roggen haben einen Marktwert von achthundert⸗
undzehn Millionen ſiebenhundert und ſechsundzwanzigtauſend vierhundert Pfund
Sterling, d. h. ein Buſhel zu 35,237 1 koſtet Mark 52.42. Rechnet man den Liter
Roggen zu einem Durchſchnittsgewicht von 750 Gramm, ſo wiegt ein amerikani-
ſches Buſhel 25, 722 Kilogramm. Das entſpricht einem Preiſe von zwei Mark
und vier Pfennig für ein Kilogramm Roggen.
Bei Weizen wiegt der Liter etwa 760 Gramm, das Buſhel alſo 26, 780 Kilo-
gramm. Hier ſtellt ſich, da der Wert eines Buſhels vom Landwirtſchafts Departe⸗
ment auf E 4.017 = Mark 82.07 angegeben wird, der Preis für ein Kilogramm
Weizen auf drei Mark und ſechs Pfennig. Dieſe Preisſchätzungen verſtehen ſich,
wie ausdrücklich betont wird, ab Farm. Es kommen alſo noch alle die Zuſchläge
des Zwiſchenhandels, des Transportes und der Transportverſicherung hinzu. Bis
alſo das amerikaniſche Getreide von 1917 in die Hände der Engländer, Franzoſen
uſw. gelangt, bildet ſich ein ganz geſalzener Preis dafür aus.
Amerika hat eine recht geringe Ernte gehabt, und das Staaten ⸗Miniſterium
hat ſchon vor Monaten darauf aufmerkſam gemacht, daß man nur in der Lage ſei,
um rund zweihundert Millionen Zentner Weizen weniger zu liefern,
als die mit Amerika verbündeten Staaten unbedingt zum Durchhalten
Walter: Holde Verlockung 509
benötigen. Bis zu dem Augenblicke, wo aus dieſen Gründen nichts, überhaupt
nichts mehr geliefert werden kann, müſſen alſo dieſe noch nie dageweſenen Preiſe
bezahlt werden, wenn man überhaupt etwas von Amerika erlangen will und damit
iſt das Getreide noch lange nicht in den Häfen unſerer Gegner angelangt. Was
wird da das Pfund Brot in den Ländern der Entente koſten?
Faſt wäre man verſucht, dieſe Angaben der „Daily Chronicle“ für irrtümlich
ober übertrieben anzuſehen, wenn nicht einige Nummern ſpäter die Schriftleitung
nochmals auf die hohen Getreidepreiſe zu ſprechen käme, wobei ſie hervorhebt, daß
die diesjährigen Preiſe alles bisher Dageweſene weit in Schatten ſtellen. Es ſtimmt
alſo tatſächlich. Möchten daher unſere Staatsmänner bei den kommen-
den Verhandlungen mit England dieſe verzweifelte Lage in der Nah-
rungsmittelverſorgung bei den Feinden auch keinen Augenblick aus
den Augen laſſen!
S
B ea)
Holde Verlockung Bon Robert Walter
Zwiſchen Wettern, zwiſchen Sonnen
Macht mein Herz die liebe Reiſe.
Aber Schroffen, Furt und Schneiſe
Iſt das ſtillſte Tal gewonnen.
Gärten ſchlafen ein im Grunde,
Mond hebt ſich zum Tau der Sterne.
Schwärmend lieg’ ich, ach! wie gerne!
An der Träume ſüßem Munde.
Hier hält dich Natur geborgen.
Wo die fanften Quellen ſteigen,
Spielt aus dir das Licht den Reigen.
Holder kränzt dich jeder Morgen.
Sonne gräbt in deine Schlüfte.
Reifewind wird dir gewogen.
Regen ſpannt den Farbenbogen,
Und Geſang bewegt die Lüfte.
Was ſoll all dein Heimverlangen?
Ziehe, ſüßer Wind, und brauſe!
Überall biſt du zu Haufe,
Wo du ganz von dir umfangen.
Ewig ſtill und ewig ſchnelle
Bleibſt du, Herz, mit Luſt umfloſſen.
Gluck der Welt auf allen Noſſen!
Feuerſpiel und blaue Welle!
N
304 Weiß v. Ruckteſchell: „Ich hunn aach e Gilt geſeihe
„Ich hunn aach e Glick geſeihe“
Bon Alice Weiß ⸗ v. Ruckteſchell |
ls die Bawett ihr ſchönes Schecketche ſchlachten mußte, verkaufte fie
das Fleiſch billig und ohne Marken. Aber damals gab fie den Leu-
ten viel mehr als nur billiges Kuhfleiſch. Auf einmal war halt das
5 Unglück hinter der Bawett her. Daß der Peter ins Feld mußte,
no ja, das paſſierte faſt allen Weibern. Dann ſtarb das kleine Hänsche — das
war ſchlimm und traurig, doch war er immerhin der Fünfte von ſieben. Aber als
acht Tage darauf die ſchöne große Scheckete geſchlachtet werden mußte, da war's
um der Bawett ihre Faſſung geſchehen. Die Scheckete war ihre beſte Milchkuh
und hatte vor kurzem gekalbt. Irgendwie war eine Haarnadel ins Heu geraten;
daran fraß ſich die Scheckete den Tod. Sie wälzte ſich ſtöhnend im Stall und
ſtarrte die Bawett mit großen, bangen Augen an. Die lief zum Tierarzt — und
vierundzwanzig Stunden ſpäter hing die Scheckete als markenfreies Fleiſch in
Metzger Heilebergers großer Scheune, das Pfund zum Höchſtpreis von einer Mark
fünfzig.
Die Bawett ſtand dabei und weinte. Ihr war's, als ſchnitte man mit jedem
Pfund Fleiſch ein Stück von ihrem Herzen.
„Ich trau’ mir als nit, es dem Peter ſchreiwe“, klagte die Bawett. „Liewer
Gott — der vorich Woch' der Bu, un beit’ die Kuh!“ Sie ſchluchzte leiſe.
Die anderen tröſteten. Jeder hatte ſein Leid. „No, Bawett,“ ſagte der
Bäcker Geiß, „alleweil haft noch Glick aach beim Unglick. Es hätt' aach fu kumme
kenne, daß de 's Fleiſch ni' hättſt verkaafe derfe. Der Herrgott mecht's alleweil
gut. De Menſche ſehe nor immer 's Unglick, awwer 's Glick ſehe ſe net.“
Da hob die Bawett den Kopf. Ihr blaſſes, vergrämtes Geſicht ſah beinahe
ſchön aus durch den geſchmerzten Leidenszug um den Mund und die rotgewein-
ten Augen. Sie hatte gerade der Zeit gedacht, wo die Scheckete noch ein Kälb⸗
‚hen war und der Peter daheim und der Bu klein und froh und lebendig. Fhre
Hände hatten ſich unter der Schürze gefaltet.
„Nau, nau!“ ſagte ſie, wie abwehrend, und ſchüttelte den Kopf, und nun
klang ihre Stimme ganz feſt und freudig. „Ich hunn aach e Glid geſeihe.“
And fie ſagte das jo überzeugt davon, daß fie einmal reſtlos glücklich war,
und ihre Augen blieben ſo trocken von dieſem Augenblick an, daß alle, die tröſten
hatten wollen, ſtill blieben. Und ſie dachten: Wenn ein Unglück ums andre kommt,
wieviel Kraft muß das geben, wenn man fo voll Dunk ſagen kann, wie die Bawett:
„sh hunn aach e Glick geſeihe.“
N
ö
)
mm.
— 2
ere
Et
vr)
2 ERBEN
— > N N
!
NUN N
/ 7
277
55 4225
erſten Male das Wort „Vermögens abg abe“ in das Land ſchleuderte, bemächtigte
j ſich faſt des ganzen Volkes eine Aufregung, wie fie trotz der Kriegszeiten lange
nicht dageweſen war. Die Sparkaſſen und Banken wurden beſtürmt und konnten nicht genug
Geld fluͤſſig machen in der kurzen Zeit, um all die Angſtlichen zu befriedigen. Nach und nach
brach ſich, durch die maßgebenden Kreiſe beruhigt, die Welle, der „run“ ebbte ab, und die Kaſſen
füllten ſich wieder mit den „Spargroſchen“ der Kleinkapitaliſten. Warum dieſe Aufregung,
haben die meiſten dieſer Uberängſtlichen wohl nicht gewußt, und an den geſetzmäßigen Weg
einer jeden neuen Geldquelle und an die vorherige Stellungnahme des Reichstags hat niemand
gedacht. Zunächſt war es daraufhin verpönt, eine Vermögensabgabe in die Erörterung zu
ziehen, aber nach und nach gewöhnt ſich der Menſch bekanntlich an alles. |
So kam aus Ungarn die Nachricht, daß die Vorarbeiten zu einer einmaligen Ver-
mõgensabg abe, welche die Deckung der Kriegskoſten aufbringen ſoll, bereits getroffen werden,
und kein Men in Ungarn ſcheint ſich dadurch aus der Ruhe bringen zu laſſen. Auch aus Oſter-
teich hört man keinerlei Stimmen, die ein Übergreifen dieſer Finanzmaßnahme in das eigene
Haus fürchten und deshalb in Erregung geraten. Und wenn heute oder morgen der eine oder
andere Finanzmann unſeres Reichs trotz der bereits erfolgten ſcharf ablehnenden Stellungnahme
des Grafen Poſadowsky ein derartiges „Steuerungeheuer“ bis zum Regierungs vorſchlage und bis
zum Reichstag brächte, ſo würde zweifellos der Vorſchlag eine rein ſachliche Erörterung finden.
Zn Ungarn plant man eine 15prozentige Vermögens abgabe zugunſten des Staates,
die in fünf Zahren getilgt werden kann, und wobei die kleinen Sparer geſchont, Vermögen unter
10000 Kronen nicht in Mitleidenſchaft gezogen werden. Es ſoll jedem Leiſtungspflichtigen
freigeftellt werden, feine Abgabe in natura zu leiſten, das Wie bedarf noch der näheren Ver-
einbarung. Andererſeits wird ſich die Steuerpflicht auch auf Kunſtwerke und Juwelen erſtrecken,
damit nicht durch Ankauf von derartigen Luxusgegenſtänden der Staat um feine volle Ein;
nahme gebracht wird. 5
Auch in Eng land wird die Frage der Vermögensabgabe ganz angelegentlich erwogen,
und zwar infolge einer Äußerung des Schatzkanzlers Bonar Law „in einer privaten Unterredung
mit zwei Arbeiterfuüͤhrern“, wie er jetzt ſelbſt im Unterhaufe betont. Die Möglichkeit der Abgabe
hat aber im Lande große Erregung hervorgerufen und den Miniſter zu einer Erklärung im
Unterhauſe veranlaßt. Mit vielen Worten verſucht er nun die ganze Erwägung als eine rein
akademiſche hinzuſtellen, der er ganz vorurteilslos gegenüberftehe. Im Grunde will er aber
doch die Frage der Kapitalsabgabe einigermaßen ſchmackhaft machen und e Leute an den
Gedanken gewöhnen.
Der Türmer XX, 19 20
506 j Vermögens abgabe ober Reichsſteuer?
Auch Asquith weiſt in feiner nachfolgenden Rede die Möglichkeit einer Vermögensabgabe
nicht ganz von der Hand. Die Folge davon iſt, daß ſich alle engliſchen Zeitungen mehr oder
weniger mit dieſer Frage beſchäftigen, fie aber zum weitaus größten Teil bekämpfen. „Die
ganze Idee iſt unmöglich“, ſagt die „Financial Times“. „Die Erträgniſſe des Kapitals zu be-
ſteuern, iſt wohl angebracht, das Kapital ſelbſt wegzunehmen iſt aber etwas ganz anderes und
bedeutet nichts als die Henne zu töten, die die goldenen Eier legt. Die einzige „Zwangsaus⸗
hebung des Reichtums“, die möglich und mit geſunden Finanzverhältniſſen verträglich iſt,
beſteht in der unmittelbaren Einkommensbeſteuerung, — die Einkommenſteuer betragt in
England bis zu 25 % —, und wir freuen uns, daß Bonar Law ſcheinbar begriffen hat, daß
man damit ſchon ſo weit wie möglich gegangen iſt. Aber indem er mit dem Gedanken einer
Vermögensabgabe ſpielt, hat er dieſen in einer tief bedauerlichen Weiſe gefördert, und gerade
die Unbeſtimmtheit der von ihm dabei gebrauchten Ausdrücke macht das noch gefährlicher,
denn der Gedanke würde wenig Anhänger finden, wenn Natur und Folgen der Maßregel
voll und ganz erläutert würden.“
In England findet der Gedanke der Vermögensabgabe alſo wenig Gegenliebe. In
Deutſchland würde es vermutlich ebenſo fein, wenn ein ſolcher Vorſchlag eingebracht würde.
Eine derartige Konfiskation des Vermögens iſt ein ſo ſtarker Eingriff in das Eigentumsrecht
der Staatsbürger, daß von einer „Steuererhebung“ nicht mehr die Rede fein kann, wenngleich
nicht zu leugnen iſt, daß jede Beſteuerung etwas Konfiskatoriſches an ſich hat. Das natürliche
Gefühl des Steuerzahlers ſträubt ſich jedenfalls heftig dagegen. Auch die wirtſchaftlichen Folgen
einer derartigen Maßnahme ſind ganz ungeheuere und laſſen ſich in ihrer ganzen Tragweite
gar nicht vorausſehen. Es ſoll indes an dieſer Stelle nicht die Rede fein, inwieweit die Volks
wirtſchaft Schaden davon tragen würde — Graf Poſadowsky hat das in der Beſprechung
des Reichshaushaltplanes näher begründet, und die „Financial Times“ deuten das recht gut
an mit dem Töten der Henne, welche goldene Eier legt —, ſondern die praktiſche Frage iſt die,
hat Deutſchland eine Vermögensabgabe nötig und auf welche Weiſe kann es dieſe umgehen?
Wenn man ſich mit der Finanzierung der Reichskaſſe und mit der Abbürdung der Rriegs-
laſten beſchäftigt, ſo iſt man gern geneigt, einen Blick auf das Ausland zu werfen, um zu ſehen,
ob dort ein Allheilmittel gefunden iſt; denn auch vom Gegner ſoll man lernen. Aber von allen
ausländiſchen Staaten, die durch den Krieg in große Schulden geſtürzt worden find, iſt nur
England und Amerika unter denjenigen zu nennen, die bereits während des Krieges beſſere
Einnahmen und Steuern erzielen als Deutſchland; und zwar verdankt England den Mehr-
betrag feiner bereits erwähnten hohen Einkommenſteuer und nicht zuletzt feiner Kriegsgewinn⸗
ſteuer, die bis auf 60 % hinaufgeſchraubt worden iſt und mit 7 bis 8 Milliarden Mark gebucht
werden muß. Auch die Vereinigten Staaten haben neben der Erhöhung der Einkommen-
ſteuer (4 Milliarden Mark) die Kriegsgewinne ſtark zugunſten der Geſamtſtaaten belaſtet und
daneben ein ſehr vielſeitiges indirektes Steuerſyſtem ausgebildet.
Für Oeutſchland geſtaltet ſich die Frage dadurch ſchwierig, daß nicht allein das Reich
einer vermehrten Steuereinnahme bedarf, ſondern auch die Einzelſtaaten und die Gemeinden.
Urſprünglich wollte man dem Reiche gemäß Art. 70 der Reichsverfaſſung nur indirekte Steuern
zuſprechen, daneben die Erwerbseinkünfte, die naturgemäß gering find, und die Matrikular⸗
beiträge. Abgeſehen davon, daß der Art. 70 mit den Worten, es dürfen Matritularbeiträge er-
hoben werden, ſolange Reichsſteuern nicht eingeführt find, mutmaßlich direkte Steuern gemeint
hat, denn indirekte beſtanden damals bereits, entbehrt dieſe Frage meines Erachtens jedweder
praktiſchen Bedeutung; denn wenn es gilt, dem Reiche Geldmittel zur Verſtopfung der
durch den Krieg geriſſenen Lücken zu verſchaffen, könnte man notfalls auch die Abänderung eines
Verfaſſungsartikels verantworten, wenn nicht der Verfaſſungstext dieſe Maßnahme unnötig
machte. Außerdem hat das Reich an direkten Steuern bisher bereits einige eingeführt. Es fei
nur an den Wehrbeitrag und an die im Kriege eingeführte Vermögenszuwachsſteuer erinnert.
Vermögensabgabe ober Neichsſteuer ? 307
Daß Oeutſchland, lediglich um die auf über 100 Milliarden Mark angewachſenen Kriegs-
ſchulden zu verzinſen, und zu diefem Zwecke allein ohne Kapitaltilgung 6 bis 7 Milliarden
aufzubringen, mit dem ſog. „Omnibus“ Programm, d. i. zu faſt allen beſtehenden Steuern
Zuſchläge zu erheben, nicht auskommen kann, bedarf keiner weiteren Erörterung. Es müſſen
neue Steuerquellen zum Fließen gebracht werden, aber welche? — x
Ser Gedanke an eine Reichseinkommenſteuer tauchte bereits im Frieden des öfteren
auf, hat aber als größten Gegner die Tatſache, daß das Einkommen bereits von ſeiten der Einzel-
ſtaaten und der Gemeinden ſo ſtark in Anſpruch genommen iſt, daß eine weitere Belaſtung
durchaus ungeſund, der Ertrag außerdem ſo gering wäre, daß er der aufzubringenden Summe
gegenüber fehr wenig ins Gewicht fallen würde. Es bleibt außerdem zu beachten, daß eine zu
ſtarke Belaſtung des Einkommens Veranlaſſung zur Auswanderung und deshalb zur Schwächung
unferer Volkskraft gibt.
Die im Juni 1917 eingeführte Kriegsgewinnſteuer iſt demgegenüber bei weitem
ertragreicher und iſt mit 5 ½ Milliarden Mark veranſchlagt worden. Dieſe Steuerquelle ver-
ſiegt indeſſen mit Kriegsende, und das Reich wird ſich in erſter Linie der indirekten Be-
ſteuerung zuwenden muͤſſen.
Als Nordamerika ſich nach dem Sezeſſionskriege einer Schuldenlaſt von 11 Milliarden
Mark gegenüberſah, konnte es ſich aus dieſer für damalige Verhältniſſe ſtarken Verarmung nur
durch allerhand Verbrauchsſteuern retten. Auch wir werden uns an den Gedanken eines
vielverzweigten Verbrauchsſteuerſyſtems gewöhnen müſſen, ſei es nun eine Amſatzſteuer,
die ſich auf jeden Beſitzwechſel erſtreckt, ſei es eine Erzeugungsſteuer, die vom Herſteller
erhoben wird. Weniger zu empfehlen iſt in jedem Falle die Beſteuerung der Nohſtoffe, aber
auch das wird ſich nicht vermeiden laſſen. Eine ergiebige Quelle iſt z. B. die voriges Jahr ein-
geführte Kohlenſteuer mit 500 Millionen Mark (20% der Kohlenförderung), wenngleich zu
bedenken bleibt, daß dieſe Steuer nicht nur alle Perſonen, ſondern auch alle Snöuftrieerzeug-
niſſe belaſtet. Aus dieſem Grunde iſt eine ſchärfere Heranziehung der Fertigfabrikate mehr zu
empfehlen, die ſich nach den Bedürfniskreifen richtet und den Luxus am ſtärkſten trifft.
Man hat den Warenumſatz in Deutſchland auf 37 Milliarden Mark jährlich geſchätzt
und dem Reiche ausnahmsweiſe eine 15 Kige Steuer vom Verbrauchspreiſe zugeſprochen,
dann würde dadurch bereits ein Gewinn von über 5 Milliarden erreicht. Die Folge davon
wäre natürlich eine allgemeine Verteuerung der Lebenshaltung. Aber man könnte ja die
notwendigen Nahrungsmittel geringer belaſten. Das Minus wäre dann durch Zölle und
Monopole auszugleichen. An Monopolen kommt vielleicht in erſter Linie das auf Tabak in
Frage, das bereits Bismarck in Vorſchlag gebracht hatte; dann ein Branntweinmonopol, ein
ſolches auf Salz, Petroleum uſw. Beſonderen Ausbau verdient das natürliche Kalimonopol
Deutſchlands, das mit einer guten Zolleinnahme in Verbindung gebracht werden kann.
Indes, wenn man alle dieſe Steuerſyſteme noch ſo fein ausklügelte und ſo gerecht als
möglich zu geſtalten ſuchte — eine abſolut gerechte Steuer gibt es ebenſowenig wie eine gern
bezahlte — es haftet ihnen allen der Mangel an, daß die unteren und mittleren Klaſſen der Be-
völkerung ſehr ſtark in Anſpruch genommen werden. Man wird deshalb von ſelbſt auf das Ge-
biet der Reichserbſchaftsſteuern gelenkt. Es wurde vor einiger Zeit wieder einmal das
Syſtem vorgeſchlagen, wonach das Reich jeweils bei Vorhandenſein bis zu drei Kindern einen
Kindeserbteil miterhält. Sind alſo drei Kinder vorhanden, fo ſteht dem Reiche der vierte Kindes
erbteil zu. Bei vier und mehr Kindern erbt das Reich dagegen nicht mit. Dieſes Syſtem hat in
erſter Linie bevölkerungspolitiſche Bedeutung, dürfte aber gleichzeitig eine gute Einnahme-
quelle des Reiches bedeuten. Der Gedanke iſt indes wenn auch nicht neu, ſo doch zu wenig
geläufig, als daß er Ausſicht hätte, verwirklicht zu werden.
Mehr Anhänger und mehr Ausſicht auf Verwirklichung hat die Bambergerſche Reichs-
erbſchaftsſteuer, die ſchon im Jahre 1915 Gegenftand eines Geſetzentwurfs war. Wenn auch
308 | Drei Sachverſtändige des „Berliner Tageblattes“ |
Bamberger nicht als der Urvater des Gedankens anzuſprechen iſt, fo verſucht er doch, man
muß jagen leider, ſeit 25 Jahren vergebens, ſeinem Syſtem zu einem „Gele zu verhelfen. Es
iſt im Rahmen diefes Aufſatzes nicht möglich, auf das „Reichs erbrecht“ näher einzugehen.
(Vergl. Bam berger, Erbrecht des Reiches und Erbſchaftsſteuer, Oeichertſche Verlagsbuch⸗
handlung Leipzig 1917.) Es ſei nur auf den Grundgedanken hingewieſen.
An Stelle des teſtamentloſen Erbrechts der Seitenverwandten, eines Produkts des alten
römiſchen Rechtes, tritt das Erbrecht des Staates. Die „lachenden Erben“ ſollen alſo i in Weg⸗
fall kommen. Oerartige Glückliche gab es im Fahre 1912 nicht einmal 50000, die in Schutz
zu nehmen das Reich kein Intereſſe hat. Das Ergebnis dieſes Erbrechts beläuft ſich auf zirka
1. Milliarde. Schließt man die Seitenverwandten auch von der Teſtamentserbfolge aus,
wie es bereits Schmoller und 1907 auch Bamberger vorſchlug, und ſetzt an deren Stelle das
Reich, ſo kann man dieſe Summe leicht um ein Beträchtliches erhöhen. Dieſe Art der Steuer
dürfte zu den ergiebigften zählen und am wenigſten drückend empfunden werden.
Dr. jur. et phil. Wilhelm e
Drei Sachverſtändige des „Berliner Tageblattes -
59 0 rei Weiſe aus dem Morgenlande“ nennt ſie Prof. Dr. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven,
9 der fie in der „Deutſchen Tageszeitung“ einem ſtaunenden publioo vorführt. Oieſe
5 3% drei ſtarken Männer oder Weiſen hat er ſich mit einem glüdlihen Griff aus der Wochen ·
ausgabe des „Berliner Tageblattes“ und zwar der Sondernummer „Oſteuropa“ eingefangen.
Eine derart veranſtaltete und betitelte Ausgabe läßt immerhin ſchon allerhand Sachkenntnis,
ehrliche Liebe zur Wahrheit, einen Wettſtreit der Beſten erwarten. Aber die Erwartungen werden
noch übertroffen, der Sprecher darf in feiner köſtlichen Vorführung feſtſtellen: „Erſchuͤttert und
vernichtet muß man da eine Fülle von Weisheit über ſich ergehen laſſen. Zum erſten Male
erfährt man aus berufenem Munde, was eigentlich dem Oeutſchen Reiche frommt, wie man
fremde Völker behandeln muß, wer dieſe Völker eigentlich ſind.
A.b'bbr dieſe letzte Frage orakelt niemand geringeres, als der Abgeordnete Gothein,
einer der feinſten Köpfe im Lager der Freiſinnigen. Und wichtig, wertvoll und neu iſt es, was
er uns mitzuteilen hat. Er legt Deutſchlands Verhältnis zu den ehemals ruſſiſchen Rand-
ſtaaten feſt. Mit Litauen befaßt er ſich nur flüchtig. Bloß im Vorübergehen ſagt er aus, daß
die Litauer ugrofinniſchen Stammes ſeien. Dann aber wendet er ſich den baltiſchen
Provinzen zu und verkündet, daß Kurland, Livland und Eſtland eigentlich Lettland
heißen müßten, da fie von dem gleichfalls ugrofinniſchen Stamme der Letten bewohnt
find, während die Deutfchen nur eine dünne Oberſchicht bilden. Denn , die Bauern, wie die
Land- und Induſtriearbeiter, das Geſinde, die Kleinhandwerker find Letten, ob fie ſich nun
Kuren, Liven oder Eſten nennen“. Dieſes Lettland nun will Herr Gothein keinesfalls in ein.
näheres Verhältnis zu Deutſchland bringen, da das eine ewige Reibungsfläche zwiſchen ihm und
Rußland ſchůfe. Daran aber, daß England nach dem Baltikum ſtrebt, vermag er nicht zu glauben.
Damit hat Herr Gothein von feinem Standpunkt aus natürlich recht. Pſpchologie beruht
bekanntlich in erſter Linie auf Selbſtbeobachtung. Wenn engliſche Staatsmänner die Oenk⸗
und Empfindungsweiſe freiſinniger Abgeordneten hätten, würden fie auf ſolche verbrecheriſche
Machtpläne ſicherlich nicht verfallen. Und wenn es gelänge, Rußland in den Glauben zu ver-
ſetzen, daß dieſelben freiſinnigen Abgeordneten in Oeutſchland etwas zu ſagen haben, wird es
ſich ſelbſtverſtändlich die Ablöſung der Randſtaaten nicht gefallen laſſen. Von dieſen Thebanern
würde auch San Marino nichts hinnehmen, vielmehr gegen das von ihnen regierte Reich eine
energiſche Macht- und Annexionspolitik treiben.
Drei Sachverſtänbige des „Berliner Tageblattes“ 309
i Im übrigen aber müffen wir Herrn Gothein dankbar fein, daß er uns fo ganz neue Auf-
ſchlüſſe gibt. Bisher glaubten ſelbſt die ungenügend unterrichteten Fachgelehrten, nicht bloß
die unwiſſenden Landesbewohner, daß Letten und Lit auer indogermaniſchen Stammes
ſind und mit den einſtigen Preußen einen beſonderen, den Slawen naheſtehenden Zweig
desſelben darſtellten, ferner, daß die Kuren ganz, die Liven bis auf einen kleinen Reſt von
einigen hundert Menſchen ausgeſtorben ſind, daß die Letten hingegen Kurland und
Südlivland, die Eſten aber, die wirklich ugrofinniſchen Stammes und den Finnen nahe
verwandt ſind, Nordlivland und Eſtland, d. h. etwa die Hälfte des baltiſchen Ge-
biets, bewohnen. Nach dieſer nunmehr als irrig erkannten Anſicht beſtand ſogar ein recht
ausgeſprochener Gegenſatz zwiſchen Letten und Eſten, die weder in Abſtammung, noch in
Sprache auch nur das mindeſte miteinander gemein haben, und es hieß, daß dieſer Gegenſatz
politiſch ſehr bedeutſam iſt und die Stellung der Deutſchbalten immer weſentlich erleichtert
hat. Aber jetzt wiſſen wir, daß alles das ganz anders iſt, als wir glaubten. Dank, heißen Dank
ſchuldet man Herrn Gothein, dem freiſimmigen Recken, für dieſe Aufklärung.
Wuͤrdig ihm zur Seite ſteht Herr Hans Vorſt, der Sachverſtändige des ‚Berliner Tage
blatts“ für ruſſiſche Angelegenheiten. Auch er warnt im Kaſſandratone vor einer Angliederung
der Oftſeeprovinzen. Man binde das Oeutſche Reich nicht durch eine endgültige Regelung, ehe
es ſich erwieſen hat,, daß ein freiwilliges Hand- in⸗Hand-Gehen auf demokratiſcher Baſis denkbar
ift‘, d. h. natürlich ein Hand- in- Hand- Gehen mit den Letten und Eſten. Denn es verſteht ſich von
ſelbſt, daß das glücklichen demokratiſchen Zeiten entgegenſchreitende Deutſchland eine reaktio-
näre Politik, die es mit den Oeutſchbalten verbände, nicht treiben wird. Wie ſchön, daß Herr
Hans Vorſt für Deutſchlands Zukunft ſorgt, der ſelbe Herr Hans Vorſt, deſſen völkiſches
Empfinden fo ſtark ift, daß er, der freilich nur feiner Abſtammung aus achtbarer Pfarrersfamilie,
nicht aber ſeinem Lebensgang nach, ſelbſt Balte iſt, bei Kriegsbeginn alle Beziehungen
zu den Landsleuten abbrach, damit ihre deutſche Geſinnung ihn nicht in den Augen
der ruſſiſchen Regierung kompromittiere. Und wie gut, daß er die Fahne der Freiheit
und Demokratie hochhält, er, der ohne in irgendeinem Verhältnis zur Wiſſenſchaft zu ſtehen
und unter geſetzwidriger Umgehung der akademiſchen Inſtanzen, von dem reaktionärſten
aller ruſſiſchen Anterrichtsminiſter, Caſſo, ein mehrjähriges Auslandsſtipendium
zwecks Ausbildung zu einer Profeſſur erbat und damit die bindende Verpflichtung über-
nahm, ſich dieſem ſpäterhin bedingungslos zur Verfügung zuſtellen, ein Katheder
aus ſeiner Hand zu empfangen und ihm als Werkzeug in ſeinem Kampf gegen
die Selbſtänd ig keit der Hochſchulen zu dienen. Nun freilich ift Caſſo tot und das Stipen-
dium verzehrt. Die Bolſchewiki werden den Vechſel des Herrn Vorſt kaum diskontieren, und
nichts hindert ihn, für alles Edle und Hohe zu ſchwärmen. Hoffen wir, daß das ‚Berliner Tage-
blatt‘ ihm demnächſt die Redaktion der Hochſchulnachrichten und damit den Kampf für die Frei-
heit der Wiſſenſchaft gegen die Tyrannei des preußiſchen Kultusminiſteriums überträgt.
Als dritter im Bunde tritt Herr Dr. Bernhard Dernburg auf, der es nie vergißt,
den demokratiſchen Leſern des ‚Berliner Tageblatts“ mitzuteilen, daß er Staatsſekretär a. D.
iſt. Er beſchäftigt ſich mit der baltiſchen Siedlungsfrage und mißbilligt natürlich alle in dieſer
Richtung gehegten Pläne. Eines aber wurmt ihn beſonders. Die baltiſchen Großgrundbeſitzer
haben bekanntlich ein Drittel ihres Landes zu Siedlungszwecken zur Verfügung geſtellt, und
zwar au, den ſehr niedrigen Preifen, die vor dem Kriege galten. Herr Dernburg findet das
unbeſcheiden und ſchlägt ſtatt deſſen allen Ernſtes vor, nur ein Viertel zu nehmen, dieſes aber
unentgeltlich. Dem kindlich reinen, ſtets opferwilligen Sinn, wie ihn die Tätigkeit als Bank-
direktor nun einmal unvermeidlich züchtet, mag ſolches natürlich ſcheinen. Darin liegt wohl die
Erklärung für den Vorſchlag, den man, tief gerührt durch Herrn Dernburgs grenzenloſe Un-
eigennüͤtzigkeit, dankbar zur Kenntnis nehmen möge.
Im Gefolge dieſer drei Weiſen tritt Herr Joſef Schwab auf, der im Leitartikel flehentlich
310 Oer Vater der fäulnisfreien a
15 das jetzt wehrloſe, aber bald wieder märchenhaft ſtarke Rußland nicht zu ſchädigen, ins
beſondere aber, ſoweit es um die Randſtaaten und unter ihnen die baltiſchen Provinzen geht, die
Beſtätigung der von den Landesräten geäußerten Wünſche ‚auf breiter Grundlage‘ abzuwarten.
Soll man ihnen noch Herrn Joffe angliedern, der den freiheitsdurſtigen Leſern ebenſo
warm als Botſchafter empfohlen wird, wie Herr Dernburg als Staatsſekretär? Tatſächlich,
auch er wird als Mitarbeiter des ‚Berliner Tageblattes“ vorgeführt, obgleich er ſich damit be-
gnügt hat, auf eine Reihe ungewöhnlich — ſagen wir — naiver Fragen Antworten zu erteilen,
in denen er ſich noch ſichtbarer über das ‚Berliner Tageblatt“ luſtig macht, als fein Herr und
Meiſter Trotzki ſeinerzeit über des Tageblattes Abgott, Herrn v. Kühlmann.
Es klingt ja recht luſtig, was ſie zuſammenſchreiben, vom ugrofinniſchen Lettland, vom
ſtarken Rußland, von den habgierigen Baronen. Zft’s aber nicht eigentlich entſetzlich, daß ſo
etwas in deutſcher Sprache deutſchen Leſern gefagt, in Zehntauſenden von Nummern
im Oeutſchen Reich verbreitet werden darf?“
Ye
Der Vater der fäulnisfreien Wundbehandlung
9 u ) Abend, weſſen wir alle ſchon Zeuge waren, die Schöpfer höchſt fragwürdiger
65 Heilverfahren in den Himmel erhoben wurden, hat man umgekehrt unanfedt-
5 0% baren Wohltätern der körperlich leidenden Menſchheit das Leben zur Hölle ge-
macht. Ein geradezu grauenerregendes Beiſpiel für dieſen Satz iſt das Schickſal des Vaters
der fäulnisfreien Wundbehandlung, des Ignaz Philipp Semmelweis, der am 1. Juli
1818 wohl der Erde, aber nicht ſich zum Heile geboren wurde. Daß ihn die Briten einen Ungarn
nennen, ändert ja nichts an der Tatſache feiner Deutſchbürtigkeit, obwohl er in Ofen zur Welt
kam. Wohl aber könnten ſich deutſche Gelehrte an den Briten ausnahmsweiſe ein Beiſpiel
nehmen und Semmelweis wenigſtens in der Vorgeſchichte der fäulnisfreien Wund behand⸗
lung nennen, wenn anders fie ihn nicht als ihren Schöpfer feiern wollen. Denn ſelbſt die En-
cyclopaedia Britannica gibt dieſe Vorläuferſchaft zu; dagegen haben es noch in den letzten
Jahren deutſche Profeſſoren fertiggebracht, Lord Liſter, den Briten, in allen Tonarten als
den Bringer des Segens zu preiſen, den wir grade unſerm Semmelweis verdanken, und da-
bei dieſen ins Irrenhaus gehetzten Märtyrer der Medizin auch nicht mit einem Sterbens-
wörtchen zu erwähnen! And dabei konnten ſich dieſe Britenanbeter aus mehr als einem
halben Dutzend fachmediziniſcher Werke die Belehrung holen, daß alles Entſcheidende in der
fäulnisfreien Wundbehandlung bereits urwüchſig durch Semmelweis gefunden und bereits
von ihm auch der Weg gewieſen war, den man nach dem Lord Liſterſchen Zwiſchenſpiel, deſſen
Verdienſte nicht geleugnet werden ſollen, wieder beſchritten hat.
Sonne und Sauberkeit hat man als Heilfaktoren in dem letzten Jahrhundert iminer
höher einſchätzen gelernt. Sauberkeit iſt ein vergleichsweiſer Begriff. Der Erhebung der
Heilwiſſenſchaft auf eine höhere Stufe der Sauberkeit verdankt die Kunſt des Arztes viel
leicht ihren größten und anſehnlichſten Fortſchritt im 19. Jahrhundert. Und der Erzieher zu
dieſer größeren Reinlichkeit war Semmelweis. Einzig und allein durch gründlicheres Ver⸗
fahren in der Reinhaltung von Wäſche und Werkzeugen hat dieſer Heilbringer die medizini⸗
Ihe Wiſſenſchaft mehr gefördert, als wohl den modernen Verjauchungsprieſtern, den Der-
unſauberern des Blutes, in völliger Verkennung oder Verdrehung der Wahrheit nachgerüͤhmt
wird. Seine folgenreiche Entdeckung hat Semmelweis nicht etwa durch Verſuche am Ter
gemacht. Auch hat er fie nicht im Orüberſtolpern aufgeleſen. Sondern fie war die Frucht un-
ausgeſetzten, vom mitfühlenden Herzen angetriebenen Denkens.
Oer Vater der fäulnisfreien Wundbehandlung 311
Als junger Aſſiſtenzarzt war Semmelweis Zeuge der entſetzlichen Sterblichkeit, die
bis auf feine Zeit in den Hoſpitälern für Wöchnerinnen herrſchte. An der Wiener Gebär-
tinit, wo er tätig war, gab es nun zwei Abteilungen: eine, wo Hebammen angelernt wurden,
mit geringerer Sterblichkeit; eine andre, wo Studenten ſich übten, mit hohen Totenziffern.
Die ſtatiſtiſchen Aufzeichnungen, die Semmelweis zu Rate zog, brachten ihn auf den Gedanken,
ob nicht die Tatſache von Belang ſei, daß dieſe Studenten vorher, ehe fie zu den Wöchnerinnen
kamen, an Leichen zu tun gehabt hatten. Wie nun in Luthers Leben, ſo ſollte auch in dem von
Semmelweis der Tod eines Freundes eine große Rolle ſpielen: der Tod des Profeſſors Kol-
letſchka. Blutvergiftung infolge Hantierens an Leichen war die Urſache. Semmelweis wurde
aufs tiefſte betroffen durch die Gleichheit des Krankheitsbildes ſowohl beim Rindbett- wie
beim Wundfieber. Für ihn war es keine Frage mehr, daß auch beim Kindbettfieber An-
ſteckung mit dem Fäulnisgift der Leichen die Hauptrolle ſpiele. Er ordnete deshalb an, daß
ſich alle Perſonen des Krankendienſtes einer viel gründlicheren Reinigung unterzögen als
bisher; Bürſte und Chlorkalkwaſchung traten in Tätigkeit, die Inſtrumente mußten vor jedem
Gebrauch neu gereinigt werden, ſtrengſte und bisher nicht entfernt beobachtete Sauberkeit
auch der Bettwäſche, der Tücher, Bezüge, Unterlagen wurde Bedingung. Der Erfolg dieſer
Vorſchriften war verblüffend. Die Sterblichkeit ſank auffallend. Und in der Folgezeit zeigte
ſich überall, wo man das Semmelweisſche Verfahren in Anwendung brachte, das gleiche über
raſchende Ergebnis. Wiener Profeſſoren von Ruf erkannten den großen Fortſchritt an, doch
taten ſie nichts zur Beförderung des jungen Arztes; vielmehr erfuhr dieſer, ſtatt Erhebung
in einen größeren Wirkungskreis, Verſetzung und gewiſſermaßen Abſchiebung in die Provinz.
Zumal fein unmittelbarer Vorgeſetzter betrieb dieſe Kaltſtellung eines gefährlichen Neben-
buhlers. Zwar wurde Semmelweis bald danach auch Profeſſor, aber ſein Verfahren brach
ſich nur langſam Bahn. Gerade die Autoritäten der Frauenheilkunde, die Direktoren großer
Wöchnerinnenhoſpitäler ließen noch jahrzehntelang die armen Frauen an der verheerenden
Seuche ſterben, der ſie durch Beachtung der Semmelweisſchen Aſepſis hätten Einhalt gebieten
können. Verſammlungen von Naturforſchern und Ärzten erklärten ſich unter Virchows Füh-
rung gegen Semmelweis; auch die Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften ließ ſich die Gelegen-
heit nicht entſchlüpfen, ſich vor Mit- und Nachwelt zu blamieren. Semmelweis mußte ohn-
mächtig zuſchauen, wie ſein ſegenbringendes Verfahren zur Verhütung von Wundfäulnis,
alſo die Aſeptik, die der Chirurgie eine fo gewaltige Entwicklung ermöglichte, meiſt unbenutzt
blieb! Das Bild von menſchlicher Gewiſſenloſigkeit und wiſſenſchaftlicher Eitelkeit, das ſich
ihm fortgeſetzt aufdrängte, war niederdrückend und empörend zugleich. Dieſe Verhältniſſe
waren zum Verrücktwerden. Im Gefühl feiner Ohnmacht wurde der glücklich- unglückliche Ent-
decker wahnſinnig. Man brachte ihn in eine Srrenanftalt bei Wien, wo er bald nach feiner
Einlieferung 1865, erſt 47 Jahre alt, geſtorben iſt, angeblich an Blutvergiftung infolge einer
Verletzung. So war Semmelweiſens Schickſal noch tragiſcher als das feines Zeitgenoſſen
Nobert Mayer, deſſen für die moderne Phyſik und Technik bahnbrechende Arbeiten ja eben-
ar
Geiſteskranke gequält worden, alfo mit Zwangsjacke, Zwangsſtühlen, Zwangsbetten — Mayer
dabei geiſtig geſund, Semmelweis angeblich verrückt; aber vielleicht wollten Leute, die ſich
eine große Schuld ihm gegenüber aufgeladen hatten, den Mann, der möglicherweiſe nur ſehr
nervös war, durch das Irrenhaus loswerden? Die Tragik im Leben beider Forſcher erſtreckte
ſich auf den Sohn eines jeden: beider Söhne endeten durch Selbſtmord.
Das Schickſal des Semmelweis iſt von A. v. Berger in einer Novelle behandelt wor-
den. Die Kunde von feiner Entdeckung gelangte fehr bald durch Wort und Schrift auch nach
England, wo wenige Jahre nach Semmelweis! Tod, wohl ohne Kenntnis von deſſen Arbeiten,
Lord Liſter, auf den Arbeiten Paſteurs über Gärung und Fäulnis fußend, mit ſeiner anti-
512 f Ein Hildebrand · Orama
ſeptiſchen Methode auftrat und trotz der Nebenſchäden feines Verfahrens zu Erdenberühmt⸗
heit gelangte. Auch in Oeutſchland hat man Liſter zu Lebzeiten faſt vergöttert, dem Briten
gegeben, was man dem eigenen Landsmann vorenthalten hatte. Und, wie ſchon geſagt, konnte
man noch 1916 und 1917 in Zeitungen und Büchern Liſter als den verherrlicht leſen, der der
Vater der fäulnisverhütenden Wundbehandlung geweſen ſei, während die beſſere, urwüchſi⸗
gere und frühere Leiſtung der Ruhm des Deutſchen iſt.
Semmelweis erhob die ärztliche Menſchheit im beſonderen und die ganze Menſchheit
im allgemeinen auf eine höhere Stufe der Sauberkeit: unmittelbar wahrnehmbaren Segen,
millionenfache Lebensrettung brachte er, und doch widerſetzte ſich dieſem Erzieher zur Reinlich⸗
keit die höchſtbetitelte Arzteſchaft, das heißt das Profeſſorentum. Danach läßt ſich ermeſſen
wieviel ſchwerer es noch fein mag, die Menſchheit auf eine höhere Stufe der inneren Sauber-
keit zu erheben, deren Vorteile noch größer, aber weniger greifbar und ſinnfällig zu machen
find ... Dr. Georg Biedenkapp
2
Ein Hildebrand⸗Drama |
EN N N Vährend dieſes Krieges hat ſich oft die Erkenntnis ausgeſprochen, daß wir mit
2 2 G; allen Mitteln darauf bedacht fein müſſen, unſer inneres Verhältnis zu unferer
IV eigenen DBoltsvergangenheit zu vertiefen. Das nächſtliegende Mittel dazu it,
die Kenntnis dieſer Vergangenheit zu verbreiten. Die Vertiefung wird ſich dann ganz von
ſelbſt einſtellen: denn Art läßt ſchließlich nicht von Art, und im Ur-Ur-Entel lebt mit dem Bluts⸗
tropfen auch noch eine der altvorderlichen weſensverwandten Fühlweiſe, ſo daß fich die Be⸗
ziehungen ganz von ſelbſt einſtellen, wenn man fie nur nicht ſtört. Gerade die Störenfriede
ſind aber immer gleich eifrig am Werke, wenn irgendwo ein in dieſer Richtung liegender
Verſuch gemacht wird. |
Da hat in diefen Tagen das Wiener Hofburgtheater Heinrich. Lilienfeins Drama
„Hildebrand“ zur Aufführung gebracht. Die von der Mehrzahl der Berliner Blätter ver-
öffentlichten Berichte bieten ein eigentümliches Schauſpiel. Keiner vermag die dichteriſche
Bedeutung des Werkes zu beſtreiten, aber keiner findet ein Wort der Freude daruber. Der
Burgtheaterdirektor von Millenkovich — beſſer bekannt unter feinem Schriftſtellernamen
Max Morold — erhält nur Nadelſtiche und höhniſche Hinweiſe auf fein „ chriſtlich- germaniſches“
Programm. Daß er das wertvolle Werk eines ſeinem ganzen Schaffen nach fördernswerten
Dichters herausgebracht hat, wird ihm nirgendwo zugunſten gebucht. Wenn er eines der zahl-
loſen altteſtamentariſchen Dramen aufgeführt hätte, die uns in der letzten Zeit beſchieden
worden find, würde er wenigſtens dieſen literariſchen Dank erhalten haben. Ich glaube auch
nicht, daß dieſe Herren Berichterſtatter dann betont hätten, daß dieſe altteſtamentariſchen
Helden „unſerer Fühlweiſe zu fern“ liegen. Für die Herren Berichterſtatter mag es ja auch
nicht der Fall ſein, denn, wie ich oben betont habe, glaube ich an das Nachwirken des Blutes
der Altvordern auch noch im fernſten Nachkommen. Aber gerade darum müßte doch für uns
Deutſche eher eine Beziehung zu den altgermaniſchen Recken herzuſtellen fein, als zu den
Größen der alten Zuden.
Lilienfeins Dichtung liegt im Oruck vor (Stuttgart, J. G. Cotta; geh. 2 4) und wird
auch in dieſer Form jedem Leſer Freude bereiten. Ein Vorſpiel führt in den Heldengarten zu
Walhall. Dietrich von Bern, Siegfried, Wieland der Schmied und Hildebrand geraten nach
frohem Rampfipiel in ein ernſtes Geſpräch. Hildebrand beſtreitet, daß ſich bei den Menſchen
der beſonnene Sinn lerne, „Leid nur lernt’ ich unter den Menſchen, nicht Weisheit“. Und
jeder der Helden vermeint, das Schwerite gelitten zu haben. Hildebrand hat ſich von dannen
Ein Hildebrand ⸗Orama 313
geſchlichen. „Schweigend geht er und ſchlägt die lauten Geſellen durch ſein Schweigen.“ Hat
doch keiner gelitten, wie er, als er wider Willen das Schwert mit dem eigenen Sohn kreuzte.
Und nun folgt das Drama, das in drei Akten den Stoff des alten Hildebrandeliedes
aufnimmt.
Das urgewaltige Bruchſtück iſt wohl allgemein bekannt. Das Lied iſt nach einem ſchönen
Worte Lilienfeins „inmitten entzwei geborſten vor wildem Wehe“. Wie es geendet, wiſſen
wir nicht. Das tragiſche Ende beftätigen die Worte des ſterbenden Hildebrand aus einer alt-
nordiſchen Faſſung des 12. Jahrhunderts: N
| „Steht mir zu Häupten der Heerſchild geborften ...
Sind an der Zahl zehnmal acht,
Lauter Männer, denen ich Mörder ward.
Liegt hier der Sohn ſelbſt mir zu Häupten.
Erbſproß er, den ich eigen gehabt.
Unwollend fein Ende ſchuf ich.“
Das jüngere deutſche Hildebrandslied, ein viele Spielmannszüge tragendes Volkslied
des 15. Jahrhunderts, endigt günſtig. Nachdem ſich die Helden arg verbeult haben, erkennen
ſie ſich und ziehen vereint nach Haufe, wo nun der alte Held an der Seite Frau Utens einem
geruhſamen Feierabend ſeines kampfbewegten Lebens entgegenſieht.
Lilienfein hält ſich natürlich an die alte, tragiſche Auffaſſung, übernimmt aber aus
dem jüngeren Hildebrandsliede die Heimkehr in ſein Haus. Sie iſt meiſterhaft begründet, und
er gewinnt dadurch, entgegen allen mir zu Geſicht gekommenen Zeitungsberichten, dem alten
Geſchehen einen neuen Zug ab, der eine Vertiefung bedeutet und im guten Sinne eine Moderni-
ſierung. Als Menſch von heute denkt er auch an die Frau, für deren tiefes Leid weder das alte
noch das jüngere Hildebrandslied Sinn hat. Frau Ute iſt bei ihm keine Penelope. Als ihr nach
jahrelanger Abweſenheit Hildebrands der Tod des Gatten gemeldet iſt, erliegt ſie der Werbung
eines anderen Mannes; es iſt ein feiner Zug des neuen Dichters, daß diefer Sindolt kein Held
iſt, ſondern ein Mann des Friedens, der geſchmeidigen Rede und des behaglichen Wohllebens.
Den Halbgott ehrte die herbe Jungfrau, das vollblütige Weib erſehnte den Lebensgenuß.
Ihr und Hildebrands Sohn Hadubrand aber hat des Vaters Blut. Noch iſt es der Mutter
gelungen, den Jungen von kühner Heerfahrt zurückzuhalten; als aber jetzt Boten von der Grenz-
burg melden, daß dort ein Fremder ſich für Hildebrand ausgebe und ſeine Ankunft ankündige,
ſtürzt er davon, den frevlen Betrüger zu ſtrafen. Und nun ſtehen fi) Vater und Sohn gegen-
über. Mit ſtolzer Freude erkennt Hildebrand in ſeinem Sohne den würdigen Sproß. Mit der
weiſen Überlegenheit des weltgereiften Mannes überwältigt er den ſtürmiſchen Jüngling,
ſo daß dieſer ihn hochgemut in ſeine Burg führt, wo die Mutter entſcheiden ſoll. Erkennt ſie
ihn nicht an, fo muß er ſich zum Nampfe ſtellen. Hildebrand geht den Weg, der für ihn ein
Schmerzensweg geworden iſt, als er von ſeines Weibes Bund mit Sindolt erfährt.
Mann und Frau find allein. Hildebrand findet warme Worte, aber Ute verleugnet
ihn. Und wenn ſie den Gatten erkennen müßte, ſie will ihn nicht kennen. Sie hat ſich ihr Recht
ans Leben genommen und will es nicht weggeben. Sie will Hildebrands Lebensauffaſſung
nicht verſtehen. Hildebrand möchte, im Innerſten getroffen, von dannen gehen. Da tritt ihm
gadubrand entgegen und fordert die Einlöſung des Wortes. Umſonſt verſucht Ute, dem „frem-
den Mann“ friedlichen Abgang zu erflehen. Sicher hat Hildebrand recht, wenn er dem Sohn
entgegenhält: „Knabe, du kennſt mich! Es wühlt in deinem Herzen nicht der Haß wider mich.
Es tobt von Wehe.“ Doch Hadubrand: „Laßt es toben, von was es mag, und fechtet.“ So
ſchreiten ſie zum Kampfe. Und auch jetzt findet Ute kein anderes Wort, als das doppelſinnige:
„Ihr ſeid mir ein Fremder.“ So ſchreitet das Verhängnis feinen Weg; von des Vaters ge-
waltigem Schlag fällt der Sohn. Die Mutter will dem Alten ihren Fluch entgegenſchleudern,
da bricht auch ſie vor der Gewalt des Geſchehenen zuſammen: „Hildebrand biſt du!“
5
314 Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe
„Hört nicht! Glaubt nicht! Irre redet Frau Ute.
Redet nur im Wahn, der die Sinne verdunkelt.
Hildebrand war ich vielleicht: ich bin's geweſen.
Der ſein eigen Geſchlecht mit dem Schwert geſchlagen,
Ausgelöſcht wie den Stamm hat er den Namen
Selber kennt er ſich nicht mehr .. Wer will ihn kennen?“
Mit den anrückenden Hunnen zieht er des Wegs, wie er kam. Heimlos, namenlos, nur
feinem Schwert Geſelle, ſucht er und findet er ein Grab auf blutender Heide. —
Und eine ſolche groß empfundene und groß geſtaltete Dichtung ſoll unſerm Volke vor-
enthalten bleiben? Hier zeigt ſich angeſichts der Art, wie dieſem Drama durch die Wiener
Berichte feig und verſchlagen der Weg auf die anderen Bühnen verbaut wird, wie notwendig
der Theaterkulturverband wäre, wie wir ihn uns bei der Gründung in Hildesheim gedacht haben.
Karl Stord
2
Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordneten⸗
| hauſe
. chon in den Kommiſſionsberatungen haben in dieſem Jahre Erörterungen über
NY 7 KO) Kunſt einen ungewöhnlich breiten Raum eingenommen. Nun hat das preußiſche
a Abgeordnetenhaus auch noch die langen Sitzungen zweier Tage (8. und 10. Zuni)
Kunſtfragen gewidmet. Man wird dem Abgeordneten Haeniſch zuſtimmen, wenn er fagte:-
„Im allgemeinen war es doch eine recht erfreuliche Empfindung, daß wir kurz vor Ablauf des
vierten Kriegsjahres in der Lage ſind, hier in dieſem Hauſe eine Kulturdebatte großen Stils
in dieſer Art führen zu können. Schon die bloße Tatſache, daß ſolche Debatten heute in unſerem
von einer Welt von Feinden umdrohten Vaterlande ſtattfinden können, mag man fie im ein-
zelnen beurteilen, wie man will, zeigt wieder einmal aufs deutlichſte, wie haltlos das Gerede
unſerer Feinde von dem Barbarentum und der Kulturloſigkeit des deutſchen Volkes iſt.“
Beim Leſen der Zeitungsberichte konnte einem freilich angſt und bange werden. Nach-
dem ich nun die ausführlichen Parlamentsſtenogramme eingeſehen habe, halte ich es doch für
notwendig, als Zeitungsleſer Einſpruch gegen dieſe durch ihre Einſeitigkeit und Oberflächlich
keit irreführende Berichterſtattung zu erheben. Dann lieber nur eine allgemeine, ganz frei
gefaßte Inhaltsangabe des Berichterſtatters, als dieſen Schein eines die Verhandlungen in
allem Weſentlichen wiedergebenden Berichtes, auf den ſich der Zeitungsleſer verlaffen zu kon;
nen glaubt. In Wirklichkeit werden die offenbar ohnehin ſchon einſeitig aufgenommenen
Niederſchriften unſerer journaliſtiſchen Stenographenbureaus nachträglich zunächſt nach der
Parteirichtung der Blätter zuſammengeſtrichen und danach noch mit Rückſicht auf den knappen
Raum fo gekürzt, daß vielfach ein ganz falſches Bild entſteht. Iſt es alſo um die Behandlung
von Kunſtfragen doch nicht ganz ſo ſchlimm beſtellt, wie es nach den Zeitungen den Anſchein
hatte, jo vermißt der Kunſtfreund doch ſchmerzlich das Fehlen wirklich berufener, kenntnis;
reicher Vertreter, und der Gedanke einer Wahl der Abgeordneten aus dem 8
einer Vertretung aller Berufsſtände drängt ſich einem lebhaft auf.
Wir wollen im folgenden die Hauptpunkte der Beratung — und zwar heute über Thea-
ter und Muſik, die bildende Kunſt wird beſonders zu behandeln fein — herausgreifen und mit
dem Berichte über die behandelten Fragen gleichzeitig unſererſeits Stellung nehmen.
Aus dem Berichte über die Kommiſſionsverhandlungen erfahren wir von vielfachen
Wünſchen zur Umgeſtaltung oder Erweiterung unſeres Kultusminiſteriums. So iſt eine
beſondere Stelle zur Pflege der Volksunterhaltung vorgeſchlagen worden, der auch das Volks
Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 315
theater und Kino unterſtehen müßte. Noch weiter ging der Vorſchlag, ein „Miniſterium der
ſchöͤnen Künſte“ in der Art Frankreichs einzurichten. Der Vorſchlag würde vielleicht mehr
Gegenliebe gefunden haben, wenn nicht einerſeits eine Vereinfachung (lies: Verbilligung)
der Verwaltung erſtrebt und andererſeits dem jetzigen Kultusminiſter, der von feiner frühe-
ren Tätigkeit her den Beinamen „Kunſtſchmidt“ hat, das Vertrauen entgegengebracht würde,
daß bei ihm die Künſte gut aufgehoben ſeien. Doch war allgemein Stimmung dafür, das
Theater ganz oder doch wenigſtens in größerem Maße aus dem Bereich des Miniſteriums
des Inneren auszulöſen und dem Kultusminiſter zu unterſtellen. Jedenfalls ſollte da in enger
Fühlung zuſammengearbeitet werden, denn auch die „Bedürfnisfrage“ bei neuen Theater-
unternehmungen wird der Kultusminiſter eher beantworten können, als der des Innern, und
gerade hier muß die ſoziale Fürſorge einſetzen. Der üble Konkurrenzgeiſt läßt an jedem Orte,
an dem ein Theater blüht, alsbald ein zweites und drittes entſtehen, und einem Einſpruch
wird vielfach dadurch vorgebeugt, daß das Gebäude erſtellt wird, bevor ein Theaterleiter die
Erlaubnis eines Betriebes nachſucht. Das vorhandene Gebäude dient dann als Druckmittel.
Mit Befriedigung iſt zu verzeichnen, daß ein beſonderer Beamter für den Heimat-
ſchutz ins Kultusminiſterium berufen worden iſt. Er wird reichlich zu tun haben, um das Vor-
handene zu ſchützen und vor allem auch den Schönheitsgehalt des heimatlichen Lebens durch
Neues zu bereichern. Gerade das durch den Krieg ſtark belebte Heimatempfinden ſteht in
zahlreichen Beziehungen zur Kunſt; beide werden ſich wechſelſeitig befruchten können. Ich
habe das in einem ausführlichen Aufſatze in der „Zeitſchrift des deutſchen Bundes für Heimat-
ſchutz“ dargelegt. Auch für Kino und Theater werden ſich dabei vielfach neue Aufgaben finden.
Über die wichtige Frage des Kinos zeigten die Herren ſich leider recht wenig unter-
richtet und vor allem ſcheinen fie wenig darüber nachgedacht zu haben, wie deſſen unheimliche
Macht in ethiſchem Sinne auszunützen wäre. Auch darüber habe ich (da der Türmer jetzt
im Raume ſo beſchränkt iſt, in der Monatsſchrift „Wege und Ziele“ 1918, Zanuarheftl) Vor-
ſchläge unterbreitet, die zuvor ſchon im Vortrage vor ſachverſtändigen Kreiſen die Probe be-
ſtanden hatten. Mit einem gewiſſen Mißtrauen ſtehen die Herrſchaften den großen Kriegs-
gründungen auf dem Kinogebiete gegenüber. Die Lichtbild-Geſellſchaft, die das von militä-
riſcher Seite gegründete Filmamt induſtriell ergänzt, hat verſucht, im Kriege nachzuholen,
was im Frieden verfäumt worden iſt: die Propaganda für alles Deutſche im Auslande. Im
Inlande täte eine ſolche bis zur Stunde erſt recht not. Es iſt gerade im letzten Hefte des Tür
mers nachgewieſen worden, wie die außerordentliche Propagandakraft des Kinos bei uns an-
dauernd für das Ausland fruchtbar gemacht worden iſt, und das hat auch jetzt im Kriege noch
nicht aufgehört. Es wird vor allem im künftigen Frieden nicht ohne weiteres möglich ſein,
die Einfuhr ausländiſcher Films zu verbieten. Ich halte, wie ich oft betont habe, überhaupt
vom Verbieten in allen Kunſtdingen nicht viel. Nur die poſitive Arbeit bringt Segen. Wenden
wir alle Kräfte daran, das Schöne und Große, was Deutſchland in Gegenwart und Vergangen-
heit aufzuweiſen hat, zu zeigen, ſorgen wir dafür, daß der dramatiſche Film von deutſchem
Leben erfüllt iſt, ſo iſt dieſe Frage gelöſt, ſobald es gelingt, die deutſche Filminduſtrie ſo zu
ſtärken, daß fie gegen den ausländiſchen Wettbewerb ſiegreich bleibt. Dazu iſt mit einem Kapi-
tal von 25 Millionen die Afa gegründet worden (Univerſum-Film⸗-Aktiengeſellſchaft). Natür-
lich, da hat der Abgeordnete Heß ganz recht, will dieſe Geſellſchaft vor allem verdienen, und
ſicher hat es große Bedenken, den ganzen Betrieb zu monopoliſieren. Den Wettbewerb brau-
chen wir vor allem für die Steigerung der techniſchen Leiſtungsfähigkeit. Die Angſt dagegen,
daß die Propagandakraft des Films politiſch mißbraucht werden könnte, brauchten die Herr-
ſchaften nicht zu haben, wenn fie ſich nur dazu verſtehen wollten, das Vaterländiſche, auch das
betont Patriotiſche, in dieſem Sinne nicht als politiſch anzuſehen. Es genügt völlig, wenn
alle Parteipolitik verboten wird. Über die Möglichkeiten, ein künſtleriſches Sondergebiet
des Kinos auszubauen, hat nur der Abgeordnete Haeniſch einige leiſe Andeutungen gemacht.
Nur zum Teil richtig iſt Dr. Irmers Bemerkung, daß die hohen Theaterpreiſe ſchuld ſeien,
316 Theater und Mufit ini preußifhen Abgeorbnetenhaufe
wenn das Kino fo viel beſucht wird. Es hat natürlich auch andere Gründe, vor allem den der
Bequemlichkeit. Das Kindtheater ſpielt ſelbſt im Kriege von 5 bis 10 Uhr und bringt in je
einer Stunde ein mannigfaltiges Programm. Damit wird das Theater niemals in Wett-
bewerk treten können.
Aber das Kino als „Theater-Erſatz“ iſt ein unzuträglicher Zuſtand auch für das
Kino ſelbſt. Die beiden brauchen ſich gar keine Konkurrenz zu machen, es kommt vielmehr
darauf an, die Eigenart des Kinos möglichſt auszubauen und es in feinen Werten, künſtle⸗
riſchen wie ethiſchen, möglichſt hoch zu ſteigern. Wir können Kino und Theater ſehr gut neben;
einander gebrauchen, gerade weil, wie von allen Seiten betont wurde, nach dem Kriege unſer
Volk, vor allem die zurückkehrenden Truppen, ein großes Unterhaltungsbedürfnis haben wer-
den. Weil das Kino an kleinen Orten, die niemals an ein Theater denken können, beſtehen
kann, muß alles daran geſetzt werden, ſeinen Wert zu erhöhen. Nach meiner Meinung ſollte
das Kultusminiſterium eine Verſammlung von Sachverſtändigen — Künſtlern, Aſthetikern
und Filminduſtriellen — einberufen, die dieſe Fragen einmal gründlich durchberaten müßten.
Der Bilderbühnenbund deutſcher Städte iſt eine ſehr ſchöne Sache, aber für dieſe Zwecke viel
zu eng angefaßt. —
f Ausgiebig verhandelt wurde über das Theater, und da iſt die wichtigſte und erfreulichſte
Erſcheinung, daß die Verpflichtung von Staat und Gemeinde gegenüber dem Theater all-
gemein anerkannt wird. Noch ift man weit davon entfernt, dieſen Gedanken bis zu Ende durch-
zudenken und daraus dann zu jener grundſätzlichen Anderung unſeres ganzen Theaterweſens
zu gelangen, die feine logiſche Folge iſt. Aber es iſt doch viel gewonnen, wenn der Minifter die
Pflege des Theaters als eine feiner wichtigſten Aufgaben anerkennt, und wenn unter allgemei-
ner Zuſtimmung gefordert werden kann: „Die Stadtgemeinden müſſen ſich mehr ihrer Thea⸗
ter annehmen; fie müfjfen davon ausgehen, daß ihre Theater Bildungsmittel find, daß fie nicht
dazu da find, um ihre Raffen zu füllen; fie müſſen Opfer bringen nach jeder Richtung hin“ (Abg.
v. Bülow). Auch die Theaterfürſorge für das Land und kleinere Städte wurde allgemein betont,
die ſtaatliche Unterſtützung der guten Wandertheater verlangt, mit einem Wort, die Soziali-
fierung des Theaterbetriebs hat — wenigſtens theoretiſch — große Fortſchritte gemacht.
Ich glaube, das iſt ein großes, bis jetzt das größte Verdienſt des Hildesheimer Theater-
kultur-Verbands, dem von allen Seiten des Hauſes das größte Wohlwollen zugeſichert
worden iſt. Ich gehöre zu den Gründern des Theaterkultur-Verbands, bin noch jetzt in deſſen
Hauptausſchuß und alſo wohl gegen den Verdacht einer Voreingenommenheit geſichert, wenn
ich hier erkläre, daß ich von ſeiner Entwicklung und bisherigen Tätigkeit nicht ganz ſo entzückt
bin, wie die Herren Abgeordneten. Wenn der Abg. Haeniſch gelegentlich bemerkte, der Theater;
kultur⸗Verband wolle etwa das, was die Freien Volksbühnen für Berlin geleiſtet haben, auf
das Reich ausdehnen, jo kennzeichnete er damit zutreffend die Verengerung, die das Hildes-
heimer Programm erfahren hat. Oer erſt ſpäter dem Bunde beigetretene ſozialiſtiſche Ab-
geordnete Schulz hat das Wort von der „Organiſation des Theaterkonſums“ geprägt
und damit den Verband ganz in jene Richtung gelockt, die ich gleich bei der Gründungsverfamm-
lung für allzu naheliegend erklärte, als ſich die Führer der ſchauſpieleriſchen Berufsorganiſa⸗
tion, Rickelt und Dr. Selig, jo hervorſtechend beteiligten. Ich möchte mich nun ausdrücklich
dagegen verwahren, als ob ich die Verdienſte dieſer Männer im allgemeinen und um den
Theaterkultur⸗Verband im beſonderen nicht zu ſchätzen wüßte, nur — das Geiſt ige kommt
dabei hinter dem Sozialen zu kurz. Der Zuſammenſchluß aller beſtehenden Organi-
ſationen des Theaterkonſums, alſo aller Volksbildungsverbände, freien Bühnen u. dgl., die
Neugründung derartiger Verbände für Stadt und Land war und bleibt eine unbedingte Not-
wendigkeit. Und wenn der Theaterkultur-Verband dieſe Aufgabe übernehmen will, fo iſt es
ſchön und gut. Aber er muß ſich dann auf dieſe eine Aufgabe beſchränken, und es muß ein neuer
Verband für die andere Aufgabe gegründet werden, die nach meiner Überzeugung den meiſten
Teilnehmern an der Hildesheimer Tagung näher am Herzen gelegen hat. Ihnen kam es zu⸗
Theater und Mufit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 317
nächſt weniger auf das Soziale, als auf das Geiſtige des Theaters an; ſie wollten keine Organi-
ſation des Theaterkonſums, ſondern eine Reform des dramatiſchen Angebots. Die
Organiſation des Konſums war nur inſoweit Aufgabe des Theaterkultur-Verbandes, als fie
dazu gedient hätte, für dieſes dramatiſche Neuangebot an Theaterware die Abnehmer zu: ver-
einigen und dadurch jener Ware das nötige Abſatzgebiet auf dem Theater zu ſichern.
Die Mehrung und Erweiterung unſeres Theaterſpielplans aber iſt eine Notwendig-
keit. Da die national gerichteten und poſitiv chriſtlichen Kreiſe der Überzeugung find, für ihre
Weltanſchauung, ſoweit das nachklaſſiſche Drama in Betracht kommt, beim heutigen Theater-
ſpielplan nicht auf ihre Rechnung zu kommen, da fie andererſeits der Überzeugung find, daß
wertvolle dramatiſche Dichtungen vorhanden find, die in der Linie ihrer Weltanſchauung
liegen, hatten ſich zum Hildesheimer Bunde zunächſt und vor allem dieſe Kreiſe zufammen-
gefunden. Deshalb hat auch das „Berliner Tageblatt“ nebſt Gefolge fein wüſtes Gezeter
wegen Antiſemitismus und Dunkelmännerei erhoben. Man muß ruhig eingeſtehen: das „Ber-
liner Tageblatt“ hat zunächſt geſiegt. Der Theaterkultur⸗-Verband hat nicht nur eine Maſſe
Arbeitskraft verbraucht, um den Vorwurf des Antiſemitismus abzuwehren, er hat ſich auch
einſeitig auf das „ungefährliche“ Gebiet der „Organiſation des Konſums“ abſprengen laſſen.
Noch einmal: er wird auch fo ſehr verdienſtvolle Arbeit leiſten können, aber günſtigſtenfalls
auf ſehr weiten Umwegen zu jener geiſtigen Reform des Theaters gelangen, die uns dringend
not tut. Bis jetzt iſt in der Richtung jedenfalls noch nichts geſchehen. Selbſt die an ſich wert-
vollen „dramaturgiſchen Blätter“ des Verbandes find bis jetzt nur eine Sammlung von Kri-
tiken und werden ſo lange nicht mehr ſein, als bis die Auswahl viel, viel ſtrenger wird und
der Verband als ſolcher für jede Empfehlung eintritt. Er wird natürlich dann den Ruf der
Beckmeſſerei auf ſich laden, vielleicht auch der Oeutſchtümelei, der Chriſtlichkeit uſw. Aber ohne
Kampf geht es nun einmal nirgends, und wo gekämpft wird, ſetzt es auch Wunden. Wer
niemandem zu nahe treten will, erreicht nichts. Der Verband müßte ſich von aller Polemik
freihalten und einfach pofitive Arbeit leiſten, indem er den Standpunkt einnähme: die und
die Stucke will ich für meine Mitglieder; die und die Werke ſcheinen mir aufführungswert und
ich ſtelle für fie meine Mitglieder als organiſierte Ronſumentenmaſſe. Darin wird kein Ver-
nünftiger etwas Unduldſames finden können; gerade jene Leute, die immer das Wort „Frei-
heit der Kunſt“ im Munde führen und von „Toleranz“ und „ſozialem Empfinden“ ſprechen,
oder gar das demokratiſche Denken aufrufen, müſſen jeder Richtung zum mindeſten das pro-
portionale Oaſeinsrecht auf der Bühne zugeſtehen.
Sch verſtehe gar nicht, weshalb um dieſe Dinge immer ſo feig herumgeredet wird. Auch
im Abgeordnetenhaus war das der Fall. Da rühmt der Zentrumsredner Dr. Heß unſer Theater
über den grünen Klee, hält eine Reklamerede auf Reinhardt, vermutlich nur, um ſich gegen
den Vorwurf konfeſſioneller Voreingenommenheit zu ſchützen. Denn wie kann jemand, der
unſer Theater wirklich kennt, ſagen, „es habe ſich gerade in den letzten Jahren gebeſſert und es
ſei eine Tatſache, daß auf dem Gebiete des Theaterweſens das Gute jetzt überwiege“? Freilich,
dieſer Mann hat ſich zu folgenden Sätzen verſtiegen: „Iſt es nicht bezeichnend und ein gutes
Zeichen für unſer Volk, daß fo köſtliche Harmloſigkeiten, wie das, Dreimäderlhaus“ in Deutſch⸗
land fo viele Aufführungen haben erleben können? ... Meine Herren, wenn Sie das Stück
an ſich betrachten, ſo harmlos, ſo rein: wirft das nicht auf den Kern unſeres Volkes ein recht
gutes Licht?“ Oer Abgeordnete Haeniſch hat ihn ſpäter dafür zurechtgewieſen, freilich ohne
dabei dem Künſtleriſchen auf den Grund zu gehen. Daß Schubert verhungert iſt und die Aus-
beuter ſeiner Muſik jetzt Millionen verdienen, hat ja mit dem Kunſtwerk an ſich nichts zu tun,
zeigt bloß, zu welchen Blöͤdſinnigkeiten unſere Art des geſetzlichen Schutzes geiſtigen Eigentums
führen kann. Richtiger iſt, daß die einzige künſtleriſche Wirkung in dieſem Stück den Liedern
Schuberts zu danken iſt, die eben einfach nicht umzubringen ſind. Aber an dieſer hervorragenden
Stelle hätte mit vernichtender Schärfe gebrandmarkt werden muͤſſen, daß die Verfertiger des
„Dreimäderlhauſes“ und ihre ſchon gruppenweiſe auftretenden Nachahmer ganz ſchamloſe
— 7
318 Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordnetenhauſe
Kunſtſchänder ſind, denen nichts heilig iſt; weder die menſchliche Perſönlichkeit des auf die
Bühne gezerrten Künſtlors, noch das Geheimnis des künſtleriſchen Schaffensprozeſſes, noch
endlich die Unantaſtbarkeit des Kunſtwerkes an ſich. Mit allem gehen fie nach ihrem Belieben
um und nützen alle ſchwächlichen Inſtinkte des Publikums, um aus ihrer Tätigkeit, die oft genug
einer geiſtigen Leichenſchändung gleich kommt, Gewinne einzuſtreichen.
And darin, daß ſolche Erzeugniſſe Rieſenerfolge haben, ſoll ein günftiges Zeichen für
unſer deutſches Volk liegen? — Nein, darin liegt nur ein Zeichen für ſeine künſtleriſche Un-
erzogenheit und darüber hinaus allerdings ein rührendes Zeichen für ſeinen Hunger nach
einer harmloſen, leicht eingänglichen, vor allem das Gemüt anſprechenden und ſinnfälligen Muſik.
Auf Mittel zu finnen, wie dieſer Hunger zu ftillen iſt, wäre eine der wichtigſten Auf-
gaben für den Theaterkultur-Verband. Es brauchte da nicht von vornherein auf alte Mufit
verzichtet zu werden. Wie in der „Fledermaus“ das Zeit beim Fürſten Orlofsky oft dazu her-
halten muß, um einem Konzertprogramm auf der Bühne Raum zu geben, ließe ſich wohl ein
Weg finden, das Theater für wertvolle alte Muſik nutzbar zu machen. Denn es iſt ganz ſicher,
daß keine andere Gelegenheit zur Verbreitung guter Muſik, vor allem wertvoller Lieder, ſo
geeignet iſt, wie die ſzeniſche Umrahmung. Aber die Unantaſtbarkeit der vom Künſtler ſelbſt
geſchaffenen Form feines Werkes iſt hier oberſtes Gebot, jegliche ſentimentaliſche Verwäſſerung
der menſchlichen Perſönlichkeit und der Schaffensart unſerer Großen dagegen iſt ein ver-
dammenswertes Sakrileg. Aber überhaupt, ſorgen wir für die verbreitete Kenntnis der Alten
auf anderm Wege! Das Konzert iſt in ſozialer Hinſicht noch kaum ausgenutzt. Die Erfolge,
die die Berliner Freie Volksbühne mit ihren Anſätzen dazu errungen hat, waren ſo ermunternd,
daß hier ein ſyſtematiſcher Ausbau dringend erforderlich iſt und auch der Staat dafür Mittel
bereitſtellen ſollte. Notwendig aber iſt neue Kunſt. Jede Zeit braucht die ihr eigene Aus-
ſprache, zu allererſt für das breite Volksempfinden. Wir brauchen dringend das zeitgemäße
Singſpiel, mit einem Worte: das künſtleriſche Gegenſtück zur Operette. Der ungeheure
Erfolg der Operette, der in künſtleriſcher und ethiſcher Hinſicht ein nationales Unglüd darſtellt,
berubt darauf, daß ſie dieſem natürlichen Verlangen des Volkes entgegenkommt. Hier muß
das Schlechte durch ein Gutes verdrängt, werden. Daß wir nicht die geeigneten Kräfte dafür
haben ſollten, glaube ich nicht. Aber fo wie unſere Theaterverhältniſſe liegen, haben derartige
Werke kaum Ausſicht, auf die Bühne zu kommen. Der Theaterkultur-Verband ſchaffe dieſe
Ausſicht; er kann ſogar die Sicherheit dafür geben. Das weitere wird ſich dann finden.
Was er bis jetzt in der Hinſicht getan hat, iſt nur dürftigſter Kriegserſatz. Ich habe Dr.
Fiſchers „muſikaliſche Hauskomödien“ von ihrem erſten Erſcheinen an fo freudig unter
ſtützt, daß ich mir es nun auch leiſten kann, ihre Grenzen ſcharf zu betonen. Wie ſchon ihr Name
ſagt, hat Dr. Fiſcher ſelbſt urſprünglich an Hauskomödien gedacht. Er wollte die unſagbar
läppiſche und blöde Literatur für häusliche Feſte und Vereinsauffuüͤhrungen verdrängen. Pie
große Bühne und gar das Theater ſind aber kein paſſender Rahmen für dieſe Harmloſigkeiten.
Und wenn fie, ſelbſt vor einem großen Publikum, von Gebildeten, — z. B. kürzlich vor einer
geladenen Zuhörerſchaft in der Königlichen Hochſchule für Muſik — großen Erfolg haben, fo iſt
das nur ein Beweis mehr dafür, wie allgemein der Hunger nach einer einfachen gemütswarmen
Muſik, nach einer unkomplizierten Kunſt iſt, auch in jenen Kreiſen, die geiſtig durchaus zur
Aufnahme unferer großen, ja ſogar unſerer modernen Kunſt fähig find. Ich habe ſchon vor mehr
als einem Jahre auch öffentlich dem Theaterkultur- Verband vorgeſchlagen, den ja nicht un-
bekannten Weg des Preisausſchreibens zu beſchreiten, um eine ſolche leichte Spielopernliteratur
mit ganz kleinem Orcheſter, zur Not ſogar mit Klavier allein, zu erhalten.
Auch dieſe Stücke müßten dann von beſonderen muſikaliſchen Abteilungen der Wander-
theater übernommen werden. Wir wollen übrigens dabei nicht vergeſſen, daß bis in die Mitte
des 19. Jahrhunderts für Singſpiel und Spieloper vielfach Schauſpielerkräfte verwendet
wurden. Es find auch in der heutigen Schauſpielerwelt genug muſikaliſch begabte Leute vor;
handen, die wenigſtens für die kleineren muſikaliſchen Aufgaben völlig ausreichen würden,
Theater und Muſik im preußiſchen Abgeordnetenhauſe | 319
ſo daß das Perſonal dieſer Wandertheater zur Aufnahme dieſes muſikaliſchen Gebietes nicht
in einem Maße vergrößert zu werden brauchte, das ihre Finanzierung weſentlich erſchweren
könnte. Übrigens könnte ſolch kleines Orcheſter, und wäre es nur Kaffeehausbeſetzung, in
den Zwiſchenakten bei Schauſpielaufführungen gute Muſik ſpielen und fo gleichzeitig in dieſer
Richtung nutzbar gemacht werden.
Die Wichtigkeit dieſes Wandertheaters wurde einmütig anerkannt und man darf
wohl die Hoffnung hegen, daß in abſehbarer Zeit für alle deutſchen Provinzen leiſtungsfähige
Truppen zuſammengeſtellt werden.
Mit dem oben berührten Problem hängt die Theaterſpielplan-Frage aufs engſte
zuſammen; ſie iſt im Abgeordnetenhauſe zwar mannigfach geſtreift, aber von keinem Redner
ſyſtematiſch behandelt worden. And doch hätte die gerade abgeſchloſſene Spielzeit des Berliner
Königlichen Opernhauſes reichlichen Anlaß dazu gegeben. Ich will einmal vor der Frage der
Neuheiten abſehen und nur betonen, daß es unbegreiflich iſt, wenn auch von jenen Seiten
des Abgeordnetenhauſes, die gern das Ausland anziehen, niemals darauf verwieſen wird,
daß die Pariſer Oper verpflichtet iſt, jährlich eine beſtimmte Anzahl Akte neuer muſikaliſcher
Werke herauszubringen. Im Dienſte des zeitgenöſſiſchen Schaffens ſollte eine ſolche Gegen-
leiſtung für die reiche Subvention unbedingt geſetzlich feſtgelegt werden. Denn für „vornehme
Pflichten“ ſcheinen auch königliche Anſtalten nicht übermäßig feinfühlig zu ſein.
Dagegen ſollte es die ganz ſelbſtverſtändliche Pflicht einer ſolchen Anſtalt fein, den natio-
nalen Kunſtſchatz vornehm zu verwalten und den Spielplan von höheren Geſichtspunkten aus
zu geſtalten. Nun, im letzten Jahre iſt an der Königlichen Oper in Berlin Verdi 48 mal vertreten
und damit öfter, als Wagner, Mozart und Weber zuſammengenommen. Zch bin ein leiden-
ſchaftlicher Bewunderer Verdis, aber für dieſe Zahlen finde ich kein anderes Wort als: es iſt ein
Skandal! Und beim gleichen Worte muß ich bleiben, wenn unſer köſtlicher Weber überhaupt
nur ein einziges Mal an die Reihe kommt, von Mozart nur „Figaros Hochzeit“ auf dem Spiel-
plan ſteht, weil die „neueinſtudierte“ „Entführung“ ſo unter aller Kritik herausgeſtellt wird,
daß fie nach einer einzigen Aufführung verſchwindet. Aber man höre weiter: „Freiſchütz“,
„Walküre“, „Triſtan“, „Lohengrin“ und „Hänſel und Gretel“ find zuſammen nicht jo oft auf-
geführt worden, wie die unausſtehliche „Mignon“. Um die Ziffer der „Martha“ aber zu er-
reichen, muß man noch den „Tannhäuſer“ dazunehmen.
Ich meine, dieſe Dinge ſchreien zum Himmel. Es iſt niemals eine wüſtere Rriegsge-
winnlerei getrieben worden, als mit einem ſolchen Spielplan, der den gewöhnlichſten Virtuoſen-
inſtinkten eines durch und durch ungebildeten Geldmobs front.
Mit dem Theaterſpielplan ſteht es nicht viel beſſer. Der Abgeordnete Runze hat da
einige Wünſche für die ältere Zeit vorgetragen, der Abgeordnete Haeniſch ein Beiſpiel dafür
gegeben, wie es mit der im „jungen Deutſchland“ zur Schau geſtellten Liebe Reinhardts zu
unſeren zeitgenöſſiſchen Dichtern in Wirklichkeit ſteht. Danach hat im vorigen Fahre „eine große
Reihe hervorragender Leute aus allen Kreiſen, aus allen Parteilagern, aus allen künſtleriſchen
Lagern ſich an Profeſſor Reinhardt mit dem dringenden Erſuchen gewandt, es Arno Holz zu
ermöglichen, mit einem oder dem andern feiner bedeutendſten Stücke „Ignorabius“ oder
‚Sonnenfinjternis‘ auf einer der Reinhardtſchen Bühnen zu Worte zu kommen“. Profeſſor
Reinhardt hat dieſe Anfrage nicht einmal einer Antwort gewürdigt. Er iſt drei Kriegsjahre
lang auch für die Wünſche nach der „Hermannsſchlacht“ taub geblieben und hat fie dann in
einer Aufführung herausgebracht, bei der die alten Germanen wie Botokuden ausſahen. Aber
ſchlimmer iſt, daß man ſich mit ſolchen Wünſchen nur an Reinhardt und nicht ans Königliche
Schauſpielhaus wendet. Dieſe Bühne nimmt durch Subvention eine Sonderſtellung ein, mit
beſonderen Pflichten, und dieſe Pflicht lautet: vor allem das ganze klaſſiſche und nachklaſſiſche
Repertoire von literariſch bedeutenden Werken ſtets lebendig zu erhalten, aus dieſem Spielplan
dagegen grundſätzlich fernzuhalten, was lediglich gewöhnliche Unterhaltungsware iſt. Es iſt
ein Skandal — auch hier gibt es kein anderes Wort —, daß die Königliche Bühne im Krieg den
——
520 Klelnſtadtmuſit
urnationalen Wildenbruch unaufgeführt läßt, um ſo und ſo viel Dutzende von Abenden g
loſen Nichtigkeiten, wie „Meine Frau, die Hofſchauſpielerin“, freizuhalten. |
Noch manches wäre aus den Verhandlungen herauszugreifen. Aber wir müßten da
noch mehr eine gelegentliche Bemerkung auf ihren grundſätzlichen Wert erſt ſelber unterſuchen.
Das iſt überhaupt das Bedauerliche, daß die Herren Abgeordneten zwar in ſelbſtgefälliger
Breite ihre kleinen perſönlichen Einzelerfahrungen vortragen, nicht aber verſuchen, den Fragen
auf den Grund zu gehen. Das hat noch eine zweite üble Seite, indem eine ſolche perjönliche
Kritik durch die Stelle, an der ſie vorgetragen wird, zu außerordentlicher Bedeutung gelangt.
Man könnte ſich ſonſt mit einem Achſelzucken darüber hinwegſetzen, wenn Herr Heß, der be-
geiſterte Verehrer des „Dreimäderlhauſes“, der Berliner Muſikkritik im Gegenſatz zur Kölner
„Oberflächlichkeit“ vorwirft, ohne es auch nur für nötig zu halten, einen Schein des Beweiſes
anzutreten. Und was hat es mit der Sache zu tun, wenn derſelbe Herr die Leiſtungen des
Kölner Männergeſang vereins für „genial“, die des Berliner Lehrergeſangvereins für „virtuos“
erklärt? Das iſt doch nur — den Herren liegt das Wort ja — denkbar oberflächlichſte Laienkritit,
die allenfalls am Biertiſch, aber doch nicht im Parlament am Platze iſt, erſt recht nicht, wenn
ſo viele grundſätzlich ſchwer liegende Dinge zu erörtern ſind, wie auf dieſem Gebiete.
eg Karl Storck
. Kleinſtadtmuſik
C. S s iſt noch nicht fo lange her, da war in den Köpfen der deutſchen Kleinſtädter und
N 2 ihrer Bürgermeiſter Berlin Trumpf. Alle hatten fie fo einen kleinen Großſtadt⸗
— Finmel und ſuchten ſich gegenſeitig zu überbieten in der Annäherung an Groß
ſtadtverhältniſſe auf allen möglichen Gebieten.
Die leider hier und da ſchon bedauernswert verunſtalteten Stadtbilder „ind z. B.
Zeugen jener nun wenigſtens in der Baukunſt ſchon vielfach überwundenen Zeit. Denn da
hat man allmählich einſehen gelernt: Eines ſchickt ſich nicht für alle. Man hat wieder Sinn
bekommen für die eigenartigen Reize der Kleinſtadt und ſucht im Außeren wie in der Lebens;
geſtaltung wieder Charakter, ehrlichen Kleinſtadtcharakter zu gewinnen.
Während jich's ſo in baulichen Dingen und anderem zum Beſſeren wendet, ſcheint aber ein
Gebiet gerade erſt jetzt in den Klein und Mittelſtädten „verberlinert“ werden zu ſollen: die Muſik.
Vor dieſer Gefahr ſeien die deutſchen Städte, die's angeht, einmal gewarnt. Die War-
nung iſt nötig, da die Gefahr ſich im Gewande des „Segens“ naht und heuchleriſcherweiſe
„Bereicherung des Muſiklebens“ zu bringen vorgibt.
Gewiß, ſie bringt. Aber was fie bringt, das raubt, das tötet! Sie überſchwemmt das
Land mit dem Überfluß, den die Großſtädte nicht zu faſſen vermögen, mit dem Proletariat,
das dort unverſtändigerweiſe herangezüchtet worden iſt, und ſucht in den Kleinſtädten einzu⸗
führen, was dort bisher völlig unbekannt war: das Geſchäftemachen mit Muſik!
Haltet euch dieſe Hauſierer mit Kunſt vom Leibe! Verderbt ihnen ihr Geſchäft!
Wenn einer (in vielen Fällen wird's euer gernegroßiger Muſikalienhändler ſein, den
die Lorbeeren des Kollegen in der Nachbarſtadt nicht ſchlafen laſſen) euch abgelagerte oder un-
reife Großſtadtkünſtler mit lockender Marktſchreiermiene anpreiſt, dankt und — geht nicht hin!
Bleibt bei der alten, guten Art eurer Väter, ſelbſt eure Kunſtpflege zu beſtimmen
und euer kleinſtädtiſches Muſikleben nicht & la Berlin aufzuziehen!
Was iſt das Muſikleben einer Klein- und Mittelſtadt? Was foll es fein?
Es ſoll ſein der öffentliche Ausdruck des Zeiterlebens, die Weihe ernſter und froher
Feiertage, der Ausdruck der Teilnahme einer Stadt am geiſtigen Leben des Volkes, ein Spiegel
bild ihres Weſens, Erholung von Wochen und Monaten der Arbeit, ein Anſporn, auch im Haufe
und Alltag die geiſtigen Güter des Deutſchtums zu pflegen.
Aleinftabtmufit 321
Dieſes Muſikleben muß auf eigenem Boden erwachſen fein, muß unter der Obhut von
Männern ſtehen, die ihre Heimat lieben, die ihrer Heimatſtadt ihr beſcheidenes und doch reges
und tiefes geiſtiges Leben erhalten wollen, muß freigehalten werden von allem Geſchäftsgeiſt.
Es kommt nicht darauf an, daß es prunkend ſei und auswärts Anſehen genieße. Dar-
auf kommt es an, daß es den Bewohnern das gibt, was ſie brauchen, daß es ihnen den Zugang
zu allen den tiefen und reichen Bronnen deutſcher Muſik offen hält, daß es die Liebe zur Muſik
immer von neuem entfacht in den Herzen von jung und alt!
Dann iſt dieſes Muſikleben in ſeiner Schlichtheit und Echtheit reicher und ſegensreicher
als die Überfülle von Konzerten in den Großſtädten, als der große Muſikjahrmarkt mit feinem
gahrmarkts- und Meßbetrieb in Berlin.
Vor mir liegt ein Büchlein: „25 Jahre Chorvetein 1885— 1908“, erſchienen zu Hagenow
in Mecklenburg in der Schröderſchen Buchhandlung, geſchrieben von Adolf Steinmann. Es
erzählt von den Aufführungen eines Chorvereins, den ein Bahnhofsinſpektor gegründet hat
und den nun ſchon feit langen Jahren ein Zuſtizrat, der Verfaſſer dieſer Denkſchrift, leitet.
Zn welchem Sinne dieſer Mann feine Tätigkeit auffaßt, zeigt der Umſtand, daß er
an die ſchlichte Folge der Programme einen Anhang von über 70 Oruckſeiten als Feſtgabe
fügt: „Über Muſikpflege bei unſeren klaſſiſchen Dichtern.“ 70 Seiten Auszüge aus Brief-
wechſeln und Tagebüchern der Klaſſiker!
Schon um dieſer prächtigen Ausleſe willen wünſchte ich das im Buchhandel zu beziehende
Heft in die Hände recht vieler Muſikfreunde zur geiſtigen Anregung für ihre Mußeſtunden.
Zn den deutſchen Kleinſtädten aber ſollte man ſich die Programme zum Muſter nehmen
und tapfer wie dieſer mecklenburgiſche Juſtizrat der Kunſt dienen, ſtets dem Beſten zugewandt!
Wir denken jetzt fo oft, an die Berliner Anzeigen mit den 1000 —2000 Mitwirkenden
uns haltend, die Maſſe müſſe es bringen. Nein! Man kann auch mit einem guten kleinen
Chor von 50—80 Leuten Taten tun und ſeiner Kleinſtadt die Bekanntſchaft mit beiten Kunſt⸗
werken vermitteln. Wieviel Sänger hat denn Bach gehabt, als er ſeine Matthäus-Paſſion
aufführte? Ob die Monſter⸗Aufführungen mit 1500 Menſchen, wie man fie in Frankfurt ſich
geleiſtet hat, ihm nicht ſein Werk verekelt hätten?
gan Hagenow hat man mutig zu dem kleinen Chor ein ganz kleines Orcheſter mit einem
Generalbaßſpieler hinzugenommen und hat ſo in ſeiner Art mit echter Kunſtbegeiſterung und
ohne zu fragen, ob die Großſtadt die Ohren rümpfe, Mendelsſohns „Elias“ und „Paulus“,
gaydns „Schöpfung“, Schützſche Paſſion, Bachſche Kantaten, Händels „Samſon“ aufgeführt
und fo auch einer kleinen Stadt ermöglicht, teilzuhaben an dem Beſten unſerer Muſik.
Und ich glaube, die Komponiſten würden gejagt haben: „Wir halten's mit Gott und
ſehen das Herz an!“ |
Daneben iſt der deutſche Choral, das deutſche Volkslied und das Chorlied unſerer
Romantiker, iſt Kammermuſik gepflegt, iſt durch Programme wie: „Ein Singekonzert bei
Goethe“ die alte Zeit lebendig gemacht, ſind die großen Feſttage unſeres Volkes im Frieden
wie jetzt im Krieg durch muſikaliſche Feiern verſchönt worden.
Und wie es in Hagenow iſt, fo iſt's in anderen Städten geweſen oder iſt, Gott ſei Dank,
noch fo. Iſt's dort ein Juſtizrat, iſt's wo anders der Kantor des Orts oder ein Geiſtlicher oder
ein ſtudierter oder nicht ſtudierter Lehrer oder ein Mann der Technik.
Das find die richtigen „Laienbrüder“ im Heiligtum der Muſik, die Helfer und Bewahrer
unſerer alten deutſchen Kunſt, die mit dem Volk verwachſen war und verwachſen bleiben ſoll in
Stunden der Not und der Freude, in furchtbaren Zeiten wie der des Dreißigjährigen Krieges,
wo ſie faſt die einzige Quelle ſeiner ſeeliſchen Kraft war, wie in ſonnigen Jahren des Friedens.
Erhaltet euch eure eigene, bodenſtändige, echt deutſche Kunſtpflege, ihr
deutſchen Klein- und Mittelſtädter! Laßt euch nicht anſtecken von dem Geſchäftsbetrieb
und der Außerlichkeit, in die drei Viertel unſerer Großſtadtmuſik ſich verloren haben! Seid
ihr nicht viel beſſer denn fie?! Dr. Georg n
1
Her Zürmer XX, 19 IR
7
— —
rn - 7
2
. 2
n
2 27 * ..
7 7 / .
%
8
— , f}
* 27
[4
GB
ER
2
2
Ss
2
— *
2
f,
— N
8 = r 2
IN
*
8 —
= 2
N *
N
*
— ä —
. e =, (ANNE a: .
Sers [cf gebih _
— nn m m m m m pn m
ga 0 nr pn Der pn — an En nn = men — =
Der Krieg
Wit allen Fibern unſerer Seele folgen wir dem beiſpielloſen Sieges-
E zuge, den Entſcheidungskämpfen im Veſten. Aber unſer Mit-
X 9 erleben dort wird von einem großen, bei aller äußerften Spannung
5 Qdoch beruhigenden Gefühl beherrſcht, dem durch nichts aus dem
e zu bringenden Sicherheitsgefühl: unſere Sache ruht in den treue-
ſten und beſten Händen, in Händen, in die der Allmächtige ſelbſt die Entſcheidung
gelegt hat. Wie dieſe auch ausfallen möge, — ſie muß in Wahrheit die gott-
gewollte ſein, und wo immer auch unſerem Siegeswillen eine Grenze geſteckt
ſein werde, — es wird die Grenze ſein, über die menſchliches Vermögen, auch
das beſte Werkzeug in den beſten Händen — und dieſer Ruhm wird unſerem Heere
und ſeinen Führern nicht einmal vom Feinde ernſtlich beſtritten — nicht W
aus kann.
Anders, wo andere Kräfte am Werke ſind, anders im Oſten. Von An-
beginn des Krieges habe ich mich gegen die Auffaſſung gewandt, als hätten wir
die Wahl zwiſchen einer Orientierung nach Weſten oder nach Oſten, als ließe ſich
öſtliches und weſtliches Problem in dieſer Phaſe noch geſondert löſen. Wer ſich
heute noch dazu bekennt, der hat den Sinn dieſes Weltkrieges nie begriffen und
wird ihn nie begreifen, oder vielleicht etſt dann, wenn es zu jpät iſt und die Tat-
ſachen wieder einmal über ſeinen armen Kopf klirrend hinweggeſchritten find,
Weltkrieg! Das bedeutet ein unerhörtes Geſchehen, ein Geſchehen, das keinen
Vorgänger in der Geſchichte hat, einen Krieg — nicht um die Vergrößerung
oder Verkleinerung des einen oder anderen Staates um ein paar Streifen an-
grenzenden oder kolonialen Landes, ſondern um das Ganze, um eine völlige
Neueinſtellung auf dieſem Erdkreiſe, den wir „Welt“ nennen. Darum find auch
alle Vergleiche und Analogien mit früheren Kriegen, wie dem von 1870 oder 1866,
nur müßiges Gerede, der letzte gar von einer ſchon grotesken Lächerlichkeit. Man
ſtaunt — oder ſtaunt längſt nicht mehr —, daß „führende“ Akademiker, Hochſchul⸗
profeſſoren ſich berufen fühlen, dieſen flüchtigen Sand mit der blanken Schärfe
Zürmers Tagebuch | 323
ihres blitzenden Geiftespfluges zu durchwühlen, zu dem einzigen Erfolge, ſich und
ihren bedauernswerten Züngern — Sand in die Augen zu ſtreuen.
Im letzten (23.) Hefte der „Oeutſchen Politik“ begegne ich Ausführungen
des ſozialdemokratiſchen Reichstagsabgeordneten Dr. Karl Leuthner (Wien), die
ſich zwar nur mit „Oeutſcher und tſchechiſcher Politik“ beſchäftigen, aber über
dieſen engeren Rahmen hinaus jeden politiſch Urteilsfähigen zu Schlüſſen auf
die allgemeine Problemſtellung zwingen, die mit dem eingangs Geſagten parallel
laufen. Nicht verhehlen will ich, daß mich das Zeugnis dieſes öſterreichiſchen
und ſozialdemokratiſchen Politikers, „eines der ausgezeichnetſten politiſchen
Publiziſten Wiens“ (als welchen ihn nicht nur die Schriftleitung der „Deutfchen
Politik“ anerkennt), für die von mir ſtets vertretene Auffaſſung geradezu über-
taſcht hat. Ich ſehe dabei von den praktiſchen Vorſchlägen des Verfaſſers zur
Löſung der Frage ab und beſchränke mich auch in der folgenden Wiedergabe auf
den grundſätzlichen, nationalpolitiſchen Teil ſeiner Ausführungen:
„Als zu Beginn des Weltkrieges die Nachricht von einer patriotiſchen Rund-
gebung, welche Tſchechen und Deutſche in Prag in einmütiger Begeiſterung voll-
zogen hatten, nach Deutſchland gelangte, war dort die Freude groß. Stets fertig
mit der Theorie, entwickelten treufleißige deutſche Profeſſoren die glorwürdige
Lehre von der Übergewalt des Staatsgedankens über das Nationalgefühl, welche
Übergewalt die Haltung der Völker im vielſprachigen Öfterreih unwiderſprechlich
erweiſe. Dieſe Lehre wuchs, breitete ſich aus und überſchattet jetzt wohl das Denken
der Mehrzahl deutſcher politiſcher Profeſſoren und Publiziſten. Es hat ihr im
mindeſten nichts geſchadet, daß inzwiſchen der hochoffiziöſe Nachrichtenkeim, aus
dem fie üppig entſproſſen, kläglich verdorrt iſt. Im Prozeß Kramarſch wurde näm-
lich gerichtsordnungsmäßig feſtgeſtellt, daß jene vielberufene gemeinſame
Kundgebung Polizeimache geweſen, und als ſie in Unfug ausartete, auch wieder
von der Polizei eingeſtellt worden. Das Gelächter, das ſich bei dieſer amtlichen Auf-
klärung im Gerichtsſaal erhob, fand in Deutſchland keinen Widerhall. Dort blieb
man ernſthaft und endgültig beim Primat des Staatsgedankens, und ließ ſich
auch durch die tſchechiſchen Brigaden, die Maſarikſche Propaganda, die Ruſſophilie
der Polen, die ſüͤdſlawiſchen Kundgebungen nicht irren. Nie mand iſt tatſachen-
blinder als wir deutſchen „Intellektuellen“ wenn uns ein Dogma befangen
hält. und nun iſt unſer Nationalgefühl ebenſo lau und matt, wie unfer
Staatsaberglauben unzerbrechlich; wir haben es zuwege gebracht, die
herrliche Kraftentfaltung, die aus der Einigung des deutſchen Volkes hervorging
und jetzt im Kriege niegeſehene Wunder vollbringt, der Seele des deutſchen
Volkes abzuerkennen und der toten Maſchine des Staates gutzu-
ſchreiben. Wir ſind überdies, volkswirtſchaftlich“ gerichtet, alſo für alle Ideen
bewegungen der Zeit gebührend taub. Iſt es da noch erſtaunlich, daß wir in dieſem
Weltkrieg, der mit jedem Tage verkündet, daß heute die nationale Idee die ſtärkſte
geſtaltende Macht im Leben der Völker, im Leben der europäiſchen Oſtvölker
aber nahezu die einzige bewegende Kraft iſt, die Rolle des Anton ſpielen,
der ſich in der Welt nicht mehr auskennt? Wir erſinnen noch heute die wunder
lichſten Beweggründe für den Anſchluß Amerikas an England, weil wir für
524 | Türmers Tagebuch
die Übermacht des Gefühls angelſächſiſcher Gemeinſamkeit in unſerem
nationslofen Senken und Empfinden keinen Raum haben und werden
Reichsdeutſche und Oſterreicher in holder Gemeinſchaft vertrauend auf die öfter-
reichiſche ‚Staatsidee‘, von der unter 28 Millionen ‚Öfterreihern‘
18 Millionen, d. h. alle Nichtdeutſchen, nichts wiſſen und nichts wiſſen
wollen, wohl gar noch eine Geſtaltung der Grenzen herbeiführen, die Deutfchland
noch tödlicher einſchnürt, werden uns mit der auſtropolniſchen“ Löſung bereit-
willigſt ſelbſt die Schlinge drehen und zuguterletzt, wie ein führendes Berliner
Blatt () eindringlich rät, juft auf die öſterreichiſche Staatsgeſinnung der Sſchechen
das deutſch-öſterreichiſche Bündnis aufbauen, das zu ſtützen die Deutſchen
Oſterreichs zu ſchwach ſeien. Der kleine Nebenumſtand, daß an demſelben Tage,
als jener Artikel feine gläubigen Leſer in der Berliner Intelligenz ſammelte, Zehn-
taufende Tſchechen auf dem Prager Wenzelsplatz ſangen: „Wenn uns Rußland
nicht hilft, hilft uns England“, kann doch den unzerſtörbaren Lehrſatz vom Primat
der Staatsidee und die Hoffnung auf die Freundſchaft der ‚Weſtſlawen“ nicht
beirren.
Die Lächerlichkeit hat unter uns Deutſchen noch niemanden getötet, und weder
Spott noch Ernſt vermag etwas gegen die Verblendung und Unwiſſenheit, die
mit jedem neu erſcheinenden volkswirtſchaftlichen und ſtaatsrechtlichen Werk über
Oſterreich nur noch dicker und undurchdringlicher wird. Man will im Reiche die
Wahrheit nicht hören, man fühlt ſich ohnedem gekränkt, daß alle Welt ringsum
der aller Welt ringsum entgegengebrachten deutſchen kosmopoliſchen
Liebe ſo wenig Gegenliebe zuträgt, und möchte aus dem Reiche des Bundes-
genoſſen nur Angenehmes vernehmen. So haben denn die Roſenmaler ein breites
Publikum. Ohnmächtig iſt demgegenüber die Wahrheit, dennoch muß ſie pflicht⸗
gemäß auf die Tſchechen verweiſen. Und eine der wichtigſten, weil aufſchluß⸗
reichſten Tatſachen iſt die Prager Pfingſtkundgebung. Sie lehrt, daß die
Geſamtheit des tſchechiſchen Volkes von den Stimmungen beherrſcht iſt, die
in den Handlungen der tſchechiſchen Brigaden zum Ausdruck kam, daß alle Tſche⸗
chen ohne Ausnahme die volle tſchechiſche Staatlichkeit anſtreben und daß bei-
nahe alle ohne gewichtige Ausnahmen die Erreichung des tſchechiſchen Staates
von einem Sieg der Entente erhoffen. Freilich haben tſchechiſche Abgeordnete
im Reichsrate ohne jede Scheu beides — den Wunſch nach dem vollſtändig unab-
hängigen tſchechiſchen Staat und die Hoffnung, ihn auf dem Weltfriedenskongreß
zu erreichen — wiederholt in der feierlichſten Form ausgeſprochen. Die Dreikönigs-
Erklärung iſt die programmatiſche Formulierung dieſer Anſchauungen. Gleichwohl
hat Czernin noch vor kurzem verſucht, die Welt irre zu führen, indem er einen
Gegenſatz der Meinungen zwiſchen den Führern des tſchechiſchen Volkes und
dieſem ſelbſt behauptete, einen Gegenſatz, der nie beſtanden hat. Wer heute ſolche
Behauptungen zu wiederholen wagte, den zeiht die Prager Kundgebung Lügner:
in ihr war nichts Gemachtes, fie war wirklich ein ſeeliſcher Erguß der Volksgeſamt⸗
heit. Überdies hat fie unzweifelhaft dargetan, daß der Panſlawismus keiner
wegs tot iſt, was ja auch bloß einige akademiſche Kinder in Deutſchland glauben,
ſondern daß er in voller Kraft lebt und eben daran iſt, ſich in der für Mitteleuropa
Türmers Tagebuch 325
gefährlichften Form des Auſtroſlawismus zu betätigen. Er ea ſich
übrigens durch die italieniſche Bundesgenoſſenſchaft. Die Prager flawifch-italie-
niſche Verbrüderung, an der nahezu alle öſterreichiſch-italieniſchen Abgeordneten,
namentlich die durch die erlittenen Verfolgungen tief empörten Welſchtiroler teil-
nahmen, hat die römiſche bekräftigt und wird ſich demnächſt in parlamentariſche
Tat umſetzen.
Man hat den Staatsbildungsplänen der Tſchechen Ooppelzüngigkeit und
Zwieſpältigkeit vorgehalten — mit Recht, inſofern ſie im Namen des hiſtoriſchen
böhmiſchen Staatsrechts, im Namen der Unteilbarkeit der ehemaligen Länder
der böhmiſchen Krone die Unterwerfung von 3,5 Millionen Oeutſchen unter die
tſchechiſche Staatsgewalt, und andererfeits im Namen des demokratiſchen Selbſt-
beſtimmungsrechts die Angliederung von 2,5 bis 3 Millionen Slowaken heiſchen,
die nach hiſtoriſchem Staatsrecht von je und je zu Ungarn gehört haben. Allein
der moraliſche Einwand gegen ein Programm iſt nur dann wirkungsvoll, wenn die
feinen Forderungen zugrunde liegende Unſittlichkeit auch im eigenen Volke emp-
funden wird und die Geiſter ſpaltet. Das iſt jedoch hier durchaus nicht der Fall.
Noch niemals haben ſich die Tſchechen fo einig um eine gemeinſame Fahne ge-
ſchart. Die demokratiſche Beimengung des Programms gewinnt ihm alle fort-
ſchrittlich gerichteten Elemente, namentlich die tſchechiſchen Sozialdemokraten.
Demokratie iſt ein Zauberwort, das alle Zweifel beſchwichtigt, alle Einwände
entwaffnet. Im künftigen demokratiſchen tſchechiſchen Staate kann es doch kein
Anrecht, keine Vergewaltigung geben, alſo dürfen es ſich die tſchechiſchen Sozial-
demokraten erſparen, über eine etwa den 3,5 Millionen Sudetendeutſchen im
böhmiſchen Zukunftsſtaate zu gewährende Autonomie nachzugrübeln. Sie wäre
auch bei der geographiſchen Lage ihrer Siedlungen vom Standpunkt des böhmiſchen
Einheitsſtaates allzu gefährlich. Umgekehrt verſteht ſich vom demokratiſchen Ge-
ſichtspunkt des Selbſtbeſtimmungsrechts aus die Loslöſung der Slowaken aus
dem ungariſchen Staatsverbande und ihre Eingliederung in den böhmiſchen Staats-
verband von ſelbſt.
Wenn jedoch der demokratiſche Einſchlag des Programms alle freiheitlichen
Parteien in den Bann ſchlägt, fo kommt das ‚hiftorifche Staatsrecht“ nicht bloß
den älteſten Aberlieferungen der tſchechiſchen Politik entgegen, es gewährt zugleich
dem tſchechiſchen Imperialismus die weiteſtgehenden Hoffnungen. In ſeinem Sinne
erklärt der erſte Führer des tſchechiſchen Volks und deſſen „Märtyrer“, Kramarſch,
die Sudetendeutſchen als Feinde, als Eindringlinge auf böhmiſchem Boden, denen
man ſchon deshalb keine Autonomie einräumen könne, weil ſie kein eigenſtändiges
Recht beſäßen. Das Programm der Entnationaliſierung wird in einem Atem mit
dem Programm des gleichen Rechts verkündet und iſt ebenſo ernſt gemeint, ent-
ſpricht ebenſo den älteſten Haßinſtinkten gegen die deutſchen Landesgenoſſen, wie
dieſes eine leere Phraſe bedeutet. Natürlich gehen die Pläne des tſchechiſchen
Imperialismus, wie fie die tſchechiſchen Zeitſchriften ſeit Fahr und Tag unaus-
geſetzt erörtern, noch viel weiter. Sie verlangen, übrigens in Übereinftimmung
mit franzöſiſchen Weltaufteilungsplänen, die Schaffung eines „Korridors“, der
mitten durch madjariſches und deutſches Gebiet laufend die Slowakei mit dem zu
326 Türmers Tagebuch
gründenden ſüdſlawiſchen Reich verbinden ſoll, ſie fordern die Angliederung
der Lauſitz, des Gebiets von Glatz, ja von ganz Preußiſch-Schleſien.
Das klingt reichlich ausſchweifend, allein gerade der letztgenannte ausſchweifendſte
Gedanke hat alle Ausſicht, ein ‚auſt ropolniſches“ Prog ramm zu werden,
wenn etwa im Sinne der auſtropolniſchen Löſung Kongreßpolen an Oſterreich
angeſchloſſen wird, wo dann tſchechiſche und polniſche Begehrlichkeiten, die auf
Preußiſch-Schleſien gerichtet find, ſich mit gewiffen, aus Maria Thereſias
Zeit herſtammenden Erinnerungen zu holder Gedanken ⸗ und Gefühlshar-
monie verſchmelzen dürften.
Was iſt denn überhaupt an dieſen Plänen der Tſchechen Phantaſtiſches?
Sie ſind, das ſagen ja ihre Urheber unverblümt, im Hinblick auf den Sieg der
Entente entworfen und mit den Zukunftsabſichten der Ententeſtaatsmänner,
mit ihren Plänen, Oeutſchland und Sſterreich- Ungarn aufzuteilen, ſtehen ſie
zweifellos im Einklang. Ze mehr das deutſche Volk zerſtückelt wird, je mehr von
deutſcher Kraft durch Einverleibung deutſcher Gebiete in fremde Staaten ge-
bunden wird, um ſo ſicherer erhebt ſich der Bau der franzöſiſchen und engliſchen
Macht. Gelangt indes die Entente nicht zum Siege? Auch dann wird die Politik,
welche die Tſchechen jetzt im Kriege verfolgen, der Geſtaltung ihrer künftigen
Geſchicke nur förderlich ſein. Sie haben ſich durch ihre Brigaden, durch ihre drohenden
Kundgebungen, durch ihre enge Verbindung mit den Weſtmächten den Wiener
Machthabern furchtbar gemacht. Der Auſtroſlawismus war immer das
zweite Geleiſe der Wiener Politik, wie er auch das zweite Geleiſe der tſchechi⸗
ſchen Politik iſt, falls fie die Wege des Panſlawismus und Ententismus ungangbar
findet. Kramarſch bildet in feiner Lebensgeſchichte die Verkörperung beider Rich-
tungen. Furcht alſo und die in Wien ſtets rege Beſorgnis, von Oeutſchland nicht
allzu abhängig zu ſcheinen, werden mit verdoppelter Kraft zu einer Annäherung
an die Tſchechen drängen. Dieſen Drang aber zur unwiderſtehlichen Nöti-
gung zu erheben, wäre die auſtropolniſche Löſung, die Stiftung des
auſtro-polniſch- ungariſchen Dreireichs das unfehlbare Mittel. Sie
würde eine ungeheuere flawifhe Mehrheit des Geſamtreichs ſchaffen,
und dieſer die Polen als die zahlenſtärkſte, politiſch entwickeltſte Nation
zur unbedingten Führerin geben. Schon heute umbuhlen fie madjariſche
leitende Politiker als die künftig entſcheidende Macht im Habsburger Reiche.
Zwiſchen Tſchechen und Polen iſt aber das engſte Bündnis auch abgeſehen
von allen panfſlawiſtiſchen Strömungen, von aller tſchechiſchen und allpolniſchen
Ruſſophilie durch die Gemeinſamkeit der Zukunftswünſche und Ziele
gegeben. Die Polen haben, zumal in Sſterreich, wo ſie kein Blatt vor den
Mund nehmen, nie ein Hehl daraus gemacht, daß ſie den Anſchluß an
Oſterreich-Ungarn lediglich anſtreben, um für die Eroberung Oanzigs,
Poſens und Oberſchleſtens die Bajonette der öſterreichiſch-ungariſchen
Völker zur Verfügung zu haben. Schon in der Vorbereitungszeit des mittel
europäiſchen Krieges, den eine auſtropolniſche Löſung unausbleiblich macht, würde
die Politik beider Völker fraglos ineinanderarbeiten, würde die alte polniſch-fran⸗
zöſiſche Freundſchaft die Prager Ententefeſte prächtig ergänzen, würde die
Zürmers Tagebuch 327
preußiſch-polniſche Irredenta neben ihrem natürlichen Zentrum in Varſchau
und Krakau, durch Vermittlung der tſchechiſchen Abgeordneten den kräftigſten
Reſonanzboden im Wiener Abgeordnetenhauſe finden. Und wehrlos würde
dem ſelbſt der bundestreueſte, vertragsfrommſte Wiener Außenminiſter
gegenũberſtehen. Auf wen ſollte er ſich zur Abwehr des ſlawiſchen Blocks
von gut 38 Millionen ſtützen? Auf die knapp 10 Millionen Oeutſch-Oſter-
reicher? Noch weniger als heute wird es in Zukunft möglich ſein, die Außenpolitik
in einer der überwältigenden Mehrheit der Reichsangehörigen nicht genehmen
Richtung zu ſteuern. |
Sit es nicht trotz alledem bare Torheit, wenn eine fo kleine Nation wie die
Tſchechen in ihre Zukunftsſtaatspläne den Gedanken einſchließt, 3,5 Millionen des
zahlreichſten und raſſenmächtigſten Volkes Europas zu beherrſchen und national
zu vergewaltigen, beſonders da doch gerade die Deutſchböhmen ſtets ſtärkere Ab-
wehrkraft erwieſen haben und ihre Siedelungen mit denen ihrer Volksgenoſſen
im Reiche in ununterbrochenem und engſtem Zuſammenhange ſtehen? Was die
Tſchechen einzig mit Anmaßung eines ſolchen Vorhabens erfüllen kann, iſt der
Vergleich ihrer nationalpolitifchen Entwicklungshöhe mit der der Oeutſchöſterreicher.
Die Tſchechen find unſtreitig heute ſchon eine ‚Staatsnation‘. Sie
haben den tſchechiſchen Staat in geiſtiger, wirtſchaftlicher, kultureller Organiſation
innerlich voll ausgebaut, nur fehlt noch ſein äußeres Gehäuſe. Das innere Feuer
dieſer tſchechiſchen Staatsgeſinnung bildet ein geiſtiges Leben, eine Literatur, die
von den Tagen der Erweckung her, durchaus mit Kampf und Haß gegen das Deutich-
tum geſättigt, mit einem alle Lebenskräfte umfaſſenden Nationalismus und Chau-
vinismus durchtränkt iſt, der bis in die entlegenſten, aller Politik ſonſt entrückten
Gebiete des wiſſenſchaftlichen Denken und äſthetiſchen Schaffens reicht, der ſich
auch die perſönlichſten Gefühle und ihren lyriſchen Ausdruck untertan macht. Das
tſchechiſche wiſſenſchaftliche und ſchöngeiſtige Schrifttum, nirgends vom Genie ge-
ſegnet, nirgends über das gute europäiſche Mittelmaß hinausragend, auch im um-
fange beſchränkt, eben darum aber auch von dem Durchſchnittsgebildeten, ja ſelbſt
von den begabteren Söhnen des Volks erfaßbar, iſt durch eine unermüdliche, zu-
gleich nationale und kulturelle Propaganda in erſtaunlich breite Schichten hinaus-
getragen, und wird gerade um ſeiner engen Verquickung mit dem nationalen
Selbſtbewußtſein mit heißer Liebe umfangen. Auch der tſchechiſche Arbeiter,
wenn er zur Bildung emporſteigt, muß an dem geiſtigen Klima dieſer Literatur
zum glühenden Nationaliſten werden. Von hier aus wird dann das Nationale zur
alles umſchließenden, alles geſtaltenden, zur unentrinnbaren Lebensmacht. Und
alle äußeren Bildungen des tſchechiſchen Daſeins ſind rein national. National
it die Schule, von der Volksſchule bis zur Univerfität, tſchechiſch wie die franzöſiſche
franzöſiſch iſt. Die eingebildeten oder wahren Großtaten und Leiden der tſchechi⸗-
ſchen Geſchichte bilden den Mittelpunkt des Unterrichts, der von Sſterreich und
ſeiner dynaſtiſchen Legende nichts weiß. National iſt die tſchechiſche Prieſterſchaft
vom Kaplan bis zum Domkapitel, national fühlen und handeln die Beamten, die
vom öſterreichiſchen Staate nur den Gehalt, vom tſchechiſchen Volke aber den
inneren Beruf und Auftrag empfangen und auch im Miniſterſeſſel ausſchließlich
328 Türmers Tagebuch
Diener ihres Volkes bleiben. National endlich find nicht minder alle wirtſchaft⸗
lichen Einrichtungen und Körperſchaften von den Banken bis zu den Handwerks
innungen. So ſteht der tſchechiſche Staat mitten im öſterreichiſchen Staate
fertig da...“ |
Als Rettung ſchwebt dem Verfaſſer eine demokratiſche Neuordnung Öfter-
reichs vor, „die, indem ſie den Deutſchen das höchſte Maß von Selbſtverwaltung
und Selbſtändigkeit verleiht, in die eigenen Hände die Geſtaltung ihrer Zukunft
legt, fie vor den feindlichen Schickungen zu bewahren vermag, die in der über-
wiegend ſlawiſchen Monarchie ihrer ſonſt unentfliehbar harren“. Zu dieſen und
anderen hier nicht wiedergegebenen Sätzen, die nur im Zuſammenhange richtig
verſtanden werden können, dann aber einer gründlichen und kritiſchen Beleuchtung
gewürdigt werden müßten, will ich heute nicht Stellung nehmen. Sie ſind ganz
gewiß nicht auf die leichte Achſel zu nehmen. Nur den Eindruck kann ich dabei
nicht zurüddrängen: die Mittel und Wege, die Karl Leuthner vorſchlägt, wären
an ſich nicht von der Hand zu weiſen; aber ein Verſuch mit ihnen würde weit
weniger Gefahren bergen, weit größere Ausſichten eröffnen, wenn der über-
wiegende Teil der deutſchen Sozialdemokraten Öfterreihs fo nationaldeutſch,
der flawiſchen jo gerecht fühlte und dächte, wie — Karl Leuthner.
Englands Genick
er Ausfall der ruſſiſchen Weltmacht,
führt Dr. Paul Lenſch in der „Glocke“
aus, bedeutet zunächſt nur ein automatisches
Anwachſen der engliſchen Weltmacht: „Ge⸗
biete wie Perſien, die bisher zwiſchen beiden
Räubern geteilt werden ſollten, würden nun-
mehr ungeteilt den Engländern zum Opfer
fallen; ebenſo würde es Länder geben, die
zwiſchen den beiden Weltreichen eine fchwan-
kende Exiſtenz geführt haben und in der
gauptſache ihre bisherige Unabhängigkeit
dem Konkurrenzneid der beiden Großen zu
verdanken hatten. Zu ſolchen Ländern könnte
man Afghaniſtan rechnen. Bliebe es in dieſen
Gebieten lediglich bei dem Ausfall der ruf-
ſiſchen Macht, ſo träte der übriggebliebene
Konkurrent ganz von ſelber als glücklicher
Erbe an ſeinen Platz. Die deutſchen Siege
über Rußland würden ſich als genau fo
viele engliſche Siege über Rußland
entpuppen.“
Aber es gibt ein Radikalmittel dagegen —
England muß am Genick gepackt werden!
„Vor reichlich hundert Jahren konnte Na-
poleon ſeine Expedition nach Agypten nur
um den Preis einer völligen Preisgabe
ſeiner Verbindungen mit der Heimat wagen.
Für Oeutſch land wäre eine ſolche Expedition
nach den Friedensſchlüſſen im Oſten und
nach der Vertreibung der Engländer vom
Kontinent und den Friedensſchlüſſen mit
Stalien und Frankreich eine verhältnismäßig
leichte und ſichere Unternehmung. Die Ver-
bindungen mit der Heimat wären jedenfalls
beſſer und ſchneller als die Verbindungen
Englands. Hier hätten wir eine un-
unterbrochene und feſte Land verbin-
dung, dort den langen, durch U Boote
gefährdeten Umweg zur See über
Gibraltar. Und dieſe potentielle Möglich-
keit würde militäriſche Wirklichkeit werden
müſſen, falls England nach wie vor — ſelbſt
unter dem vorausgeſetzten ‚ihlimmiten Fall“
— den Frieden ablehnen würde. Den Ver⸗
luft des Ranals von Suez und Agyptens aber
könnte das alte England nicht riskieren, ohne
die geographiſchen Grundlagen feiner. bis-
herigen Weltſtellung zertrümmert zu ſehen.
Hier in Suez ſchlägt wirklich das Herz des
Rieſenreiches, hier liegt, wie Bismarck ſich
ausdrückte, das engliſche Genick. Die
Verbindung mit Indien wäre wieder auf
den Weg über das Kap der Guten Hoffnung
zuruͤckgeworfen, eine Reife, für die die moder-
nen Dampfer mit ihren Raumdispoſitionen
überhaupt nicht eingerichtet ſind.“
*
Traumwandler und Märtyrer
er Verein tſchechiſcher Profeſſoren hat
den Beſchluß gefaßt, die polniſche
Sprache als obligatoriſches Unterrichts-
fach an den böhmiſchen Schulen einzu-
führen und beſondere Schritte zu unterneh-
men, um den Beſchluß, trotz des dagegen ſich
geltend machenden Widerſtandes, energiſch
durchzuſetzen. Die Annäherungsbeitre-
bungen der Tſchechen an die Polen
haben damit ihren ſichtbaren Ausdruck ge-
funden, ſie werden zu gelegener Zeit auch
unverhüllte Gegenliebe bei den Polen.
—
530
finden, obwohl dieſe vorläufig noch ihre ge-
heime etwas zurückhalten, denn erſt müͤſſen
ſie ihr eigenes polniſches Schäfchen ins
trockene gebracht haben.
Auch eines der vielen Anzeichen, die alle
— „zwangsläufig“! — in die gleiche Rich
tung weiſen. Maſche knuͤpft ſich an Maſche
zu dem neuen Netzwerke, das dem blöden
deutſchen Traumwandler eines günſtigen
Tages über den Nacken geworfen werden foll.
Noch ſtehen wir in mörderiſchem Daſeins-
kampfe gegen die allbritiſche, angelſächſiſche
Einkreiſung, und ſchon wird munter und mit
deutſcher Duldung, ja Hilfe, an der neuen,
allſlawiſchen Kette gehämmert!
Alle Welt ſieht's und hört's und lacht ſich
ſchadenfroh ins Fäuſtchen, — nur der, den’s
am nächſten angeht, hört und ſieht nichts da-
von. Oder will's nicht in ſeiner bald ruchloſen
Querköpfigkeit! Lieber lallt er im Traum:
„Völkerbund .. . Verföhnung .. Allerweits-
frieden .. Selbſtbeſtimmung der Völker.
offene Tür“... Bums! Da liegt er ſchon
draußen und reibt ſich ſtöhnend die ver-
ſchlafenen Auglein. And wird ein nächſtes
Mal froh ſein dürfen, wenn er mit dem nackten
Leben, ob auch mit zerſchundenen Gliedern,
davonkommt. Dann aber nicht in der er-
träumten „demokratiſchen“ Freiheit mit dem
„demokratiſchen“ Selbſtbeſtimmungsrecht, fon-
dern als geduldeter Arbeitsſklave, ſei's nun
als Allerweltsſchulmeiſter, oder als Bier-
wirt, Kellner, Friſeur. Immer aber ganz
ſelbſtverſtändlich als Söldner, der den ande;
ren ihre Händel mit ſeiner Habe und Haut
auszutragen und auszubaden hat. So iſt's
ſchon einmal geweſen und ſo kann es einmal
auch wieder kommen. Der Schlauberger kann
ſich ja ſchließlich damit tröſten, daß ſeine
Theorie und Wiſſenſchaft einen glänzenden
Triumph gefeiert hat. Denn war es doch
Nietzſche, der die Lehre von der „Wiederkunft
aller Dinge“ verkündet hat. Ein Märtyrer
der Wiſſenſchaft alſo — iſt das nicht das höchſte
der Gefühle? — Oerer, denen es — auch im
Traume — nicht einfallen würde, ſich frei-
willig dazu herzugeben. Gr.
*
Auf der Warte
Lichnowſky-Einſtu
as „Berliner Tageblatt“ hatte behauptet,
Fürſt Lichnowſky habe feine Denk-
ſchrift nicht verbreitet wiſſen wollen, er habe
im November 1914 in einem Schreiben an
den Leiter des „Berliner Tageblattes“ die
Notwendigkeit der Einheit des deutſchen
Volkes betont und zugeſichert, er werde ſich
während des Krieges paſſiv verhalten. Dem-
gegenüber erklärt in der „Münchener Zeitung“
deren Leiter: |
„ich weiß und dann beweiſen, daß der
verwirrende und entmutigende, unheilvolle
Einfluß des Fürſten Lichnowßky lange
vor Bekanntwerden feiner Oenkſchrift
ſich in der deutſchen Politik bemerkbar
gemacht hat, daß dieſer Einfluß, und zwar
ausgeübt mit den gleichen Gründen, wie fie
in der Denkſchrift angeführt werden, ins-
beſondere mit der Lichnowfkyſchen Behaup⸗
tung von der Schuldloſigkeit Englands am
Kriege, nicht nur die Haltung des ‚Berliner
Tageblattes“ mitbeſtimmt hat (was wegen
der ſowieſo vorhandenen, bekannten inter-
nationalen Tendenz dieſes Blattes nicht von
großem Belang geweſen ſein mag), ſondern
daß auch die ganze Politik mindeſtens noch
eines anderen großen und beachteten deut-
ſchen Blattes durch dieſen Einfluß Lich⸗
nowfkys beſtimmt worden iſt, und zwar
kann ich das aus einer Unterredung mit dem
Verleger dieſes Blattes im Jahre 1915 feir
ſtellen. Es iſt alſo nicht wahr, daß Fürft
Lichnowſky ſich „ganz paſſiv“ verhalten hat.“
Japans großer Schlag
ie japaniſch· chineſiſche Konvention, ſchreibt
Graf Reventlow, macht China tatſaͤch
lich zum Objekt Japans, nimmt ihm nicht
nur die ſchon bislang ſehr beſcheiden vorhan-
dene Unabhängigkeit, ſondern auch die Gelb-
ſtändigkeit. Die Ehimefen haben ſich verpflid-
tet, japaniſche Mititärtransporte, wo und
wohin auch immer, zu dulden, ja zu fördern,
japaniſche Sarniſonen ebenfalls, wo es
immer den Japanern paßt. Die Konvention
Auf der Warte
ſpricht ausdrücklich von den Bauten, die
dazu auf chineſiſchem Boden ausgeführt
werden würden, von Ingenieuren und ande-
ren Spezialiſten, welche Japan liefern werde.
„be Temps“ erwähnt übrigens, daß die Ron-
vention durch Artikel ergänzt werde, welche
maritime Abmachungen zwiſchen den beiden
öftlihen Mächten enthalten. Mithin werden
die Japaner ſich auch das Benutzungs- und
Garniſonsrecht in chineſiſchen Häfen ge-
ſichert haben.
In Waſhington und London weiß man
gut genug, was ſolche Abkommen mit Ver-
ſprechen „ſpäterer Räumung“ und auf dem
Fuße „völliger Gleichheit“ bedeuten. Agyp-
ten, Marokko, Perſien, Afghaniſtan, Korea,
gawai, Kuba bezeichnen Unternehmungen,
die alle ähnlich eingeleitet worden ſind. Es
wird den Angelſachſen nicht leicht fallen, zu
einem fo böſen Spiele, wie es ihnen Japan
im fernen Oſten ſpielt, gute Miene zu machen,
aber man darf überzeugt fein, daß fie es, viel
leicht von einigen publiziſtiſchen Ausnahmen
abgeſehen, tun werden. Daß Rußland an
dieſer und anderen japaniſchen Rettungs-
aktionen, fo von Wladiwoſtok, beſonders dank;
bare Freude haben werde, wird man eben-
falls bezweifeln dürfen.
Japan hat den Augenblick gekommen ge⸗
glaubt, einen großen Schlag auf dem oſtaſiati-
ſchen Feſtlande zu machen, und es gibt keine
Macht der Welt, die in der Lage wäre, ihm ent;
gegenzutreten. Übrigens iſt ganz auffällig, wie
Japan ſich für ſeine großen politiſchen Aktionen
im fernen Oſten ſtets ſolche Perioden aus-
fucht, in denen die Kriegslage für ſeine
angelſächſiſchen und anderen Verbün—
deten ſich wenig günſtig anläßt.
*
Der atze die Schelle umgehängt
hat der bapriſche Kriegsminiſter v. Hel-
kingroth. Den An abhängigen Sozial-
demokraten Simon gelüftete es, die Auf-
merkſamkeit der Abgeordnetenkammer durch
eine „Interpellation“ wegen Ausweiſung miß-
liebiger Perſonen aus Bayern oder deren
Berbringung in Zwangsaufenthalt auf die
331
bewährte vaterländiſche Tätigkeit feiner Par-
tei und die eigene werte Perſon zu lenken.
Da kamen fie aber an die falſche oder viel-
mehr an die richtige Adreſſe. Der tapfere
Bayer forcht ſich nit und ſchickte Herrn Simon
und Genoſſen mit blutiger Abfuhr heim.
„Angeſichts der den vaterländiſchen Inter-
eſſen zuwiderlaufenden Beſtrebungen der
An abhängigen Sozialdemo kratiſchen
Partei“, erklärte Kriegsminiſter v. Helling
roth u. a., „erachte ich es für geboten, einer
Stärkung dieſer Partei während des Krieges
mit allen durch das Geſetz mir zur Verfügung
ſtehenden Mitteln entgegenzuarbeiten. Als
wirkſames Mittel, dem weiteren Umſichgrei-
fen des verderblichen Einfluffes der An-
abhängigen Sozialdemokrat iſchen Par-
tei vorzubeugen, erwies es ſich, jene Partei-
angehörigen, die ſich durch agitatoriſche Um-
triebe beſonders hervortun, aus ihrem bis-
herigen Wirkungskreis zu entfernen. Die in
der Interpellation beanſtandeten Maßnahmen
des Stellvertretenden Generalkommandos
find rechtlich unanfechtbar. Es iſt ganz
natürlich und unvermeidlich, daß Auswei-
ſungen und Zwangsaufenthalt für die Be-
troffenen eine Härte bedeuten und mit mate
riellen Schädigungen verbunden ſein können.
Wenn wir aber ſolche Maßnahmen anordnen,
ſo handeln wir nur in berechtigter Notwehr
und pflichtgemäß. Wir ſchützen uns gegen
die Machenſchaften von Leuten, die
Vaterland und Kriegführung mit allen
Mitteln zu gefährden beſtrebt ſind. Da
geht es hart auf hart. Weichliche Rüdficht auf
einzelne wäre ein Verbrechen gegen die
Allgemeinheit.“
Dieſe Erklärung hat nicht nur den Vorzug
erfriſchender Ehrlichkeit und Deutlichkeit,
ſondern auch den unanfechtbarer Wahrheit.
Solche Wahrheit würden wir aber auch gern
im Deutſchen Reichstage vom Regie-
rungstiſche hören. Als einmal in einem
unvergleichlich ſchwerer liegenden, geradezu
erſchreckenden Falle ein Verſuch gewagt
wurde, konnte der unerſchrockene Kriegs-
miniſter v. Stein kaum einige Sätze ſprechen,
ohne durch wũtendes Toben der Linken, unter
wohlwollender Begönnerung der „Mehrheits-
2
332
parteien“, überbrüllt zu werden; Herrn v. Ca-
pelle ging es nicht viel anders, und die Tage
der Reichskanzlerſchaft Dr. Michaelis waren
gezählt. Sollte der Fall ſchon in Vergeſſen-
heit geraten ſein? Es handelte ſich um nichts
Geringeres als um erwieſenen Landes-
verrat, offenkundige Meuterei. Und
Führer der Unabhängigen Sozialdemo-
kratiſchen Partei hatten mit den über-
führten Landesverrätern und Meute-
rern enge Gemeinſchaft gepflogen!
Gr.
*
Volksrat für auswärtige Inter⸗
eſſen
ieſe Beſorgnis gewiſſer Reichstagsherren,
der Hetman Skoropadski, deſſen Ver-
ſtãnd igkeit günftig für unſere vertragsmäßigen
Forderungen iſt, könnte heimlich eingeſetzt von
Deutſchland fein! Annötige Befürchtung;
wir dürften dieſe argusäugigen Oberzenſoren
unſeres biſſel Politik ruhig zu ihrem Ober-
geliebten nach Waſhington exportieren, wo
fie — Kuba, Panama, Nikaragua — beſſer
begründete Beſchäftigung fänden!
And fo die immer gleiche Leier! Dieſe
Angſt, daß der verkorkſte Friede von Breit-
Litowſk loskomme von feiner feigen Doppel-
züngigkeit, daß man ihn offen und ehrlich
fäubere und die Balten und Eſten von ihren
hingeſchleppten dringenden Wuͤnſchen und
Sorgen bald erlöſe! Dagegen dieſe nie ge-
kannte Steuerfreudigkeit, daß nur Oeutſch⸗
land nicht etwa Nationen, die gegen uns
planende Argliſt ſannen und uns verrieten,
zu belaſten brauche.
Wahrhaftig, nach manchen Parteihähnen
und Teilbeſtrebungen wäre der Ausdruck
nicht zu hart: Deutſche Volksvertretung für
die auswärtigen Intereſſen. Wäre der Staats-
mann des belgiſchen „Unrechts“ im Amt, fo
hätte er dieſe Bezeichnung vielleicht auch un
ſchuldig willkommen geheißen. Das deutſche
Volk hat natürlich nichts damit zu tun, es muß
nur herkömmlich zu allen Gehirn- und Herz-
fehlern des Parlamentarismus den Namen
geben. ed. h.
2
n
Auf der Warte
Das unglückliche Land
er zur Zeit der rumäniſchen Neutrali-
tät dort im Lande war, konnte als
einen Hauptgrund der Stimmungen für das
zariſche Rußland und gegen die Mittelmächte
die Vorausſicht hören, daß die letzteren von
Rumänien die ſog. Erteilung der Rechte an
die Juden fordern würden. Nun, da der
Friede zur Erörterung ſteht, verfehlt denn
auch nicht ein Teil der internationalen Federn,
den Hauptpunkt aus dieſer Frage zu machen,
mittels der eigenen Darſtellung und mittels.
deſſen, was ſie in Interviews die befragten
amtlichen Perſönlichkeiten dartun laſſen. So
auch in der an ſich keineswegs juͤdiſchen, aber
mit regſamen und horchſamen juͤdiſchen Mit-
arbeitern aller möglichen geographiſchen Her;
kunft verſehenen „Neuen Zürcher Zeitung“,
wo denn nach beliebter Gewohnheit das nicht
fo glatte Vorangehen der jüdiſchen Wünfche
mit dem politiſchen Schickſal des Landes durch;
einandergebracht und gleichgeſetzt wird. Graf
Czernin habe ſich der jübifhen Sache mit
großem Eifer angenommen und auch wohl
die deutſchen Unterhändler mitgezogen, ja ſie
vorzuſchieben gewußt, aber inzwiſchen
haben der rumäniſche Antiſemitismus und
deſſen „Einflüſterungen“ doch wieder mehr
Boden gewonnen. „So geſtaltet ſich die Lage
in dieſem ungluͤcklichen Lande zu einem politi-
ſchen Unglück, wie es in kaum irgendeinem
andern Staate in dieſem Maße vorhanden ſein
dürfte“ („N. Z. Z., 1. Mal).
Der Vergleich mit den andern Staaten,
wer da beglüdend und herrſchend regiert, iſt
ja richtig. F.
*
Ein Moskauer, Genoſſe“ gegen
den „Vorwärts“
3 der ſozialdemokratiſchen „Internatio-
nalen Korreſpondenz“ ſchildert ein Brief
aus Moskau die Zuſtände in Rußland unter
ſozialdemokratiſcher Herrſchaft. Ein grauen
volles, troſtloſes Bild, — ein Höllenrachen
klafft uns entgegen. Völlige Geſetz⸗ und
KRechtloſigkeit des Eigentums wie der Per⸗
fon; foweit die Macht der Bajonette reicht,
Auf der Warte
blutige Willkür und Gewaltherrſchaft; Ver⸗
wültung, Brachlegung des Grund und Bodens,
Ruin des Handels und Verkehrs, der Induſtrie
und Geldwirtſchaft. Und über allem das Ge-
ſpenſt wirklicher Hungersnot. „Jedermann,
auch die arme Bevölkerung, hat nur den
einen Wunſch, von dieſem Schredenstegi-
ment erlöſt zu werden ... Inzwiſchen höre
ich mit Erſtaunen von dem ſcharfen
Proteſt des „Vorwärts“ wegen Eſtland
und Livland. Wenn er nur wüßte, wie
falſch ſeine Vorausſetzung iſt, daß es in
Rußland irgendeine Regierung gäbe,
die in der Lage wäre, Vereinbarungen zu
treffen oder getroffene Vereinbarungen zu
halten. Sie wiſſen ganz gut, wie wenig im-
perialiſtiſch ich geſtimmt bin und wie ſtarke
Abneigung ich gegen den Gewinn von Land
mit fremdſprachiger Bevölkerung hege. Aber
was hier vorgeht und was ſich hier noch zu-
ſammenbraut, iſt ſo furchtbar, daß man
jedem Lande nur Glück wünſchen kann,
wenn wir es davor retten, mit in dieſen
Hexenkeſſel hineinzukommen
Selbſt in Mos kau alſo haben ſie keinen
ſehnlicheren Wunſch, als von ihrer Höllen-
herrſchaft „erlöſt“ zu werden, — der „Vor-
wärts“ aber mit Genoſſen (Scheidemann an
der Spitze!) wollen auch die nicht ruſſiſche
Bevölkerung Livlands und Eſtlands an
dieſe ruſſiſche Herrſchaft ausliefern! Und das
darf ſich „Zentralorgan der deutſchen
Sozialdemokratie“ nennen, wo doch das
Liebesgirren ſchon den Moskowiter in „Ex-
ſtaunen“ ſetzt! Gr.
Ruſſiſcher als ruſſiſch
e unverhüllter, ſchreibt die „Deutſche
Politik“, das Kad ettenminiſterium
in der Ukraine moskophile Tendenzen in
die Verwaltung hineinbringt, um ſo wichtiger
iſt es, daß deutſcherſeits dem ukrainiſchen
Volke zum Bewußtſein gebracht wird, daß
Deutſchland ein ſtarkes Intereſſe an der
ukrainiſchen Selbſtändig keit beſitzt. Die
Rede des deutſchen Vertreters in Kiew, Bot-
ſchafters Baron Mumm, in der auf die Not-
wendigkeit demokratischer Reformen in poli-
3³³
tiſcher, agrarpolitiſcher und kultureller Hin-
ſicht hingewieſen wurde, iſt daher ein erfreu-
liches Anzeichen dafür, daß wenigſtens an
dieſer Stelle die Bedeutſamkeit des ukraini-
ſchen Problems für Deutſchland richtig ein-
geſchätzt wird. Um ſo bedauerlicher iſt es,
daß die offiziöſe „Nord deutſche Allge-
meine Zeitung“ aus Kiew Rorrefponden-
zen erhält, aus denen un verhüllter Mosko-
witer Geiſt hervorlugt. Glaubt man wirk-
lich damit „moraliſche Eroberungen“
machen zu können? Wird nicht vielmehr dem
Mißtrauen der Ukrainer, daß Oeutſchland
den kadettiſchen Kurs der Hetmann-Regierung
ftüße, neue Nahrung zugeführt? Nach ſolchen
Leiſtungen wird der Stoßſeufzer eines ukraini-
ſchen Patrioten verſtändlich, der kürzlich ſich
verwunderte, daß die deutſche Preſſe mit
Vorliebe Vertreter nach Kiew ſchicke, die
ruſſiſcher ſeien ſelbſt als das dort amtierende
Kadettenminiſterium.
1*
Krim und PNaſewalk
in Freund der „Deutſchen Zeitung“
ſchreibt aus der Krim zu dem in der
„Rundſchau“ des letzten Türmerheftes („Groß-
fürſt Nikolai Nikolajewitſch“) wiedergegebe-
nen Aufſatze:
„So müßte es ſein. — Und wie iſt es in
Wirklichkeit?
Strenger Befehl, die ruſſiſchen Herrſchaf⸗
ten, die alle in Oulber ſitzen, darunter die alte
Dänin, als Zivilperſonen zu behandeln und
auf eine Meile Umkreis nicht in ihre Nähe zu
kommen. Nur muß öfters angefragt werden,
ob ſie auch genügend zu leben hätten.
Großfürſt Nikolaus hat ſich jeden Anblick
eines Deutſchen hoͤflichſt verbeten. Alle wer-
den behandelt wie Reichsfuͤrſten. Eine deutſche
Schutzwache, die ihnen von der Regierung an ·
geboten wurde, lehnten ſie ab.
Öfters muß der Haushofmeiſter, Baron
Stael, befragt werden, ob die Herrſchaften
noch genügend Geld haben.“
Dies und noch einiges mehr, was ſo nach
und nach aus der Krim zu uns durchſickert,
war ja fo ſicher zu erwarten, daß ich mir wirk⸗
lich nichts auf meine „Prophetengabe“ ein-
554
zubilden brauche, weil ich in einem kleinen
Nachſatze zu den Ausführungen des Verfaſſers
ſchonend auf eine Enttäuſchung feiner (an
ſich ja nur ſelbſtverſtändlichen) Erwartungen
vorbereitet habe. Die in der Krim kennen ſich
aus, — „in Paſewalk ſind wir noch nicht ſo
weit“ Gr.
*
Anſchluß Livlands und Eſt⸗
lands — keine andere Löſung
en wohltuendem Gegenſatze zu den un-
J verantwortlichen, leider aber immer noch
geduldeten Quertreibereien des auch katholi-
ſchen Herrn Erzberger fordert das führende
rheiniſche Zentrumsblatt, die „Köln. Volks-
zeitung“, mit aller Entſchiedenheit die An-
erkennung der Loslöſung Livlands und
Eſtlands von Rußland und ihren feſten
Anſchluß an das Oeutſche Reich:
„In Deutſchland wird die nunmehr ab-
geſchloſſene Tatſache der Loslöſung der
baltiſchen Lande von Rußland und ihre feſte
Angliederung an das Deutſche Reich fraglos
überall, wo man die nationale Seite der
Frage ebenſo einzuſchätzen weiß, wie die hoch;
bedeutſame wirtſchaft liche, mit Freude und
Genugtuung aufgenommen werden. War
in früheren Zeiten das Verſtändnis für bal-
tiſche Dinge begreiflicherweiſe kein großes,
überwog die Rüdjihtnahme auf das gut-
nachbarliche Verhältnis zum großen Oſtſtaat,
ſo haben ſich die Zeiten nunmehr völlig
geändert, und die mehr links ſtehenden Par-
teien und deren Preſſe bis tief hinein in das
ſozialdemokratiſche Lager find in dem Ge-
danken einig, daß es eine andere Löſung
als die nun ausgeſprochene nicht gibt.“
Ein Sozialdemokrat über die
baltiſchen Barone“
as haben unſere „demokratiſchen“
Einpeitſcher aus dieſen „Baronen“
alles gemacht! Einen wahren Popanz aus
dem finſterſten Mittelalter, den Inbegriff
alles „Reaktionären“, geſchworene Feinde
aller freiheitlichen Entwicklung und Kultur!
And nun ſchreibt der von einer Eſtlandreiſe
Auf der Warte
zurückgekehrte ſozialdemokratiſche Polititer
Emjt Heilmann in der ſozialdemdkratiſchen
„Internationalen Korreſpondenz“:
„Die ſtärkſte Uberraſchung unſerer Eſtland ·
reiſe waren für mich die „baltiſchen Barone“.
Sie widerſprachen durchaus der Vor-
ſtellung, die man ſich nach deutſchen Zei-
tungen von ihnen machen mußte. Es ſind
keine oſtelbiſchen Großgrundbeſitzer, die viel-
leicht der Zeit der Leibeigenſchaft noch näher
ſtehen als unſere uckermärkiſchen Granden,
ſondern durchweg Intellektuelle und
Aſtheten. Die Zeit, die ihnen die Bewirt⸗
ſchaftung ihrer Güter ließ, haben fie geifti-
gen Intereſſen zugewandt. Die ſehr ſchwe⸗
ren Zeiten des Drudes der ruſſiſchen Reaktion
unter Alexander III. und Nikolaus II. haben
ſie nicht revolutionär geſtimmt, .. haben ie
aber doch freiheitlichen Gedanken zugänglich
gemacht. Sie haben gar nichts mehr von
dem bornierten Zunkerdünke ! . .. Alles
Schneidige, Junkerliche, Gardemäßige fehlt
dieſen baltiſchen Baronen vollkommen. Sie
tragen zum Seil, ohne es zu wiſſen, aus-
gefranſte Hoſen und zerbeulte Hüte. Ole
Balten untereinander laſſen übrigens meiſt
die Adelstitel fort. Irgendeine Stände
ſcheid ung zwiſchen Großgrundbeſitzern, deut-
ſchen Kaufleuten oder Angehörigen der ge⸗
lehrten Berufe iſt unbekannt.“
Wem folgen ſie?
ie Flamen fragen uns: Erz berger fagt:
Belgien iſt der Liebling der Welt.
Karl Marx ſagt: Belgien iſt die Hölle der
Arbeiter und das Paradies der Kaplitaliſten.
Folgt die deutſche Sozialdemokratie Erz-
berger oder Marr?
„Die Glocke“ vom 30. März 1918.
Krieg und Recht
as Recht muß herrſchen“, ſagten ſchon
1 die alten Römer, und das ſagen auch
die modernen Weltbeherrſcher, die angel
ſächſiſchen Machthaber hüben wie drüben des
großen Teiches. Sie verſchweigen natürlich,
wie das Recht beſchaffen fein würde, das fie
Auf der Warte
meinen, ſondern reden nur immer davon, daß
erſt der (pręußiſch-deutſche) Militarismus aus
der Welt geſchafft ſein müſſe, damit Recht
überhaupt im Völkerleben Geltung erlangen
könne. Alle Rechtsbegriffe ſind aber in ihrem
Weſen ſubjektiv und unſachlich in ihrem Ar-
ſprung. Es wird immer, ſolange es perjön-
lichen und völkiſchen Egoismus als Gier für
ſich ſelbſt und Beſchränktheit in ſich ſelbſt gibt,
das ganz ehrlich als Recht empfunden wer-
den, was dem egoiſtiſch befangenen perjön-
lichen und völkiſchen Intereſſe entſpringt.
Treffend kennzeichnet Johannes Müller den
Zuſtand, in den die Welt geraten würde,
wenn die angelſächſiſch⸗amerikaniſche Rechts-
auffaſſung nach dem Kriege zur Geltung ge-
langte. Er wundert ſich in einem im zehnten
Kriegsheft der „Grünen Blätter“ erſchienenen
Aufſatz „Zwiſchen Krieg und Frieden“ über
unſere Pazifiſten, die ſich von Amerika her
einreden ließen, mit der Abſchaffung des
Militarismus und Marinismus wäre die
Macht entthront und das Recht zur Herr-
ſchaft gekommen. „Haben ſie denn noch
nicht bemerkt,“ ruft er aus, „daß es in dieſem
Kriege gar nicht um politiſche Macht geht,
ſondern vielmehr um die wirtſchaftliche
Diktatur des angelſächſiſchen Kapitals,
um die Geldweltherrſchaft Amerikas, daß uns
die brutale Autokratie Wilſons, gegenüber der
die zariſtiſche patriarchaliſch war, ein Vorſpiel
der pazifiſtiſchen Epoche gibt, wo das Necht
überhaupt von der Macht völlig verſchlungen
ſein wird. Jetzt ſchon ſtehen doch alle Macht»
formen, die es in der Welt gibt, auch die
geiſtigen Mächte, unter der Herrſchaft des
Geldes, werden aber noch geſchützt durch die
Traditionen, die aus einer Zeit ſtammen, in
der das Geld noch nicht alles war ... So-
lange nicht die ſinnliche und geiſtige Macht
dieſer Welt durch die ſeeliſche und göttliche
Macht, die Recht atmet und Wahrheit aus-
ſtrahlt, überwunden, dienſtbar gemacht und
beſeelt iſt, wird immer Macht vor Recht gehen,
und alle Verſuche der Menſchen, das Völker
leben auf Recht zu begründen, werden es
immer mit eiſerner Notwendigkeit der ver⸗
gewaltigenden Macht ausliefern.“ O. C.
*
385
Zum Blutabzeichen
as Verwundetenabzeichen, das „Blut-
abzeichen“, macht nun nicht, wie es erſt
den Anſchein hatte, einen Anterſchied zwi-
ſchen Schwer- und Leichtverwundeten. Der
Begriff der Beſtimmung war wohl zu dehn⸗
bar, hätte wohl zu Mißhelligkeiten geführt,
hätte vielleicht gar Mißtrauen zwiſchen Of-
fizier und Mann ſäen können, weil Begünfti-
gungen nicht ausgeſchloſſen waren. Das iſt
nun glücklich vermieden. Warum aber
macht man nun einen Anterſchied nach der
Zahl der Verwundungen? Das iſt an ſich
zwar eine klare, aber dennoch eine recht
äußerliche Unterſcheidung, die freilich außer-
dem eine ähnliche Gefahr in ſich birgt. Denn
dann bekommt der, der bei feiner erſten Ver-
wundung zum blinden Krüppel für fein gan-
zes Leben wurde, die niederſte, der aber, der
zwar fünfmal, aber nur leicht verwundet, ſeine
volle Geſundheit wiedererlangte, die höchſte
Auszeichnung. Warum dies? Zſt dieſe Art
der Verleihung gerechtfertigt? Uns ſcheint,
daß dies bei den Schwergeprüften, die zeit-
lebens am härteſten getroffen find, bitteren
Unmut erwecken muß! Es iſt keiner an der Art
wie an der Zahl ſeiner Verwundung ſchuld.
Alle boten dem Feind die Bruſt. Sie gaben alle
ihr Blut. Sie waren alle bereit zu bluten, zu
leid en, zu dulden. Es iſt hier kein Unterſchied.
Nur das „feindliche“ Blei machte zufällig einen
ſolchen. So gebührt ihnen allen gleiche Achtung
und gleiche Ehre. Und darum ſollte es heißen:
Ein Blutabzeichen für alle! W. Kl.
Das Hohenlohe⸗Geheimnis
in Mitarbeiter ſendet uns folgende Mit-
teilungen, zu deren Wiedergabe wir uns
aus öffentlichem Intereſſe verpflichtet fühlen:
Für die Berliner Finanzwelt und die wei-
ten Kreiſe, die damit zuſammenhängen, hat
ſich ein äußerjt bedeutſames Creignis voll-
zogen: die Trennung des Finanzkonzerns des
Fürſten Chriſtian Kraft zu Hohenlohe von
der Deutſchen Bank. Man wird ſich er-
innern, daß die raftlofe und überaus erfolg-
reiche Geſchäftstätigkeit des Fürſten Henckel
PR a A un A
336
Donnersmarck eines Tages auch die Fürſten
Hohenlohe und Fürſtenberg auf den Plan
rief, die ſich mit Feuereifer auf allen mög-
lichen kommerziellen Gebieten zu betätigen
begannen. Leider aber waren ihre Unter-
nehmungen durchaus nicht von dem gleichen
Glück begünſtigt. Ein Wißerfolg reihte ſich
vielmehr an den andern. Am bekannteſten
unter dieſen mißglückten Spekulationen iſt die
Beteiligung bei den Wolf Wertheimſchen
Warenhausgründungen geworden. Sie hat
den Fürſtenkonzern viele Millionen gekoſtet.
Nach all dieſen Niederbrüchen „konzentrierte“
ſich zunächſt Fürſt Fürſtenberg Schleunigft „rüd-
wärts“, Fürſt Hohenlohe glaubte es noch eine
Weile aushalten zu können und ließ ſeinen
füͤrſtlichen Kollegen ziemlich weitherzig aus
den meiſten Engagements. Aber das immer
noch erhoffte Glück wollte und wollte nicht
kommen. Sa, die Ralamitäten wurden immer
größer und drohten ſogar, das immenſe
Hohenloheſche Vermögen ernſthaft zu zer-
trümmern. In der höchſten Not ſprang als
Helferin die Deutſche Bank ein. Aneigen-
nützig, wie ſie ſagte. Ihre erſte Tat war, daß
ſie auf den Fürſten alle die Werte aus ihrem
Beſitze abſchob, die ſie aus der Knauerſchen
Erbſchaft hatte übernehmen müſſen. „Faule
Werte“ alſo. Darunter ſind zu rechnen: das
Hotel Eſplanade, Hotel Exzelſior, Nol-
lendorftheater, Piccadilly uſw. Diefe
Werte riſſen den Fürſten, der dafür ſeine
beſten Induſtriepapiere als Sicherheit hatte
hinterlegen müſſen, immer mehr rein. Das
hätte ihn ſelbſt alles nicht einmal ſo ſchwer zu
treffen brauchen, wenn es die klugen Mächler
der Deutſchen Bank nicht verſtanden gehabt
hätten, dem Fürſten in einer ſchwachen
Stunde eine ſelbſtſchuldneriſche Bürg-
ſchaft für alle dieſe Engagements abzufor⸗
dern. Allmählich wurde jedenfalls bei der
„ſelbſtloſen“ Sanierung durch die Oeutſche
Bank der völlige Zuſammenbruch des Hohen-
loheſchen Vermögens nur noch zu einer Frage
der Zeit. Als die Not am höchſten war, berief
Fuͤrſt Hohenlohe den klugen Generalſekretãr
des Hanſabundes in ſeine Verwaltung, damit
Auf der Warte
er rette, was noch zu retten wäre. Dieſer hat
denn auch fein möglichſtes getan, um den
Karren der fürſtlichen Finanzen wieder flott
zu bekommen. Daß das mit der Oeutſchen
Bank nicht gehen würde, die ja das Gegenteil
eines Intereſſes daran hatte, hatte er bald be-
griffen. Infolgedeſſen ging fein Streben von
vornherein dahin, dieſe Verbindung durch
eine andere zu erſetzen. Das iſt ihm jetzt ge-
lungen; wie man ſagt, zur größten Über-
raſchung der Herren von der Deutſchen Bank.
An deren Stelle iſt die Nationalbank in
Verbindung mit dem Barmer Bankverein,
einer Tochtergeſellſchaft der Distontogejell-
ſchaft, getreten. Da es ſich hier um Objekte
im runden Werte von 100 Millionen handelt,
iſt es klar, daß in der Bank- und Handelswelt
von nichts anderem geſprochen wird. Auf-
fällig muß es erſcheinen, daß die wahren
Gründe dieſer Trennung fo ängſtlich vor der
Öffentlichkeit geheimgehalten werden. Zürft
Hohenlohe hätte meines Erachtens nicht den
geringſten Grund, hier mit der reinen Wahr-
heit hinter dem Berge zu halten. „Auf-
faſſungsdifferenzen über die zu verfolgende
Dividendenpolitik“ follen nach der Börſen⸗
preſſe die Urſache der Trennung geweſen ſein.
Das iſt natürlich nur Spiegelfechterei, von
der ſich kein Eingeweihter täuſchen läßt. Es
würde ſofort Klarheit in dieſe ganze An-
gelegenheit kommen, wenn ſich die Fürſtlich
Hohenlohefhe Verwaltung aus ihrer falſchen
Scham in die breite Öffentlichkeit heraus
retten würde und einfach die Verträge
publizierte, die ihr von der Deutjchen
Bank aufgezwungen worden ſind. Man ſpricht
darüber ſchon ziemlich deutlich und gibt all-
gemein die Auffaſſung kund, daß hier eine
Ausnutzung der Notlage betrieben wor
den iſt, die man bei jedem Privatmanne mit
ganz anderen Worten bezeichnen würde.
Anſerer Auffaſſung nach hätte aber nicht nur
die Offentlichkeit an der reſtloſen Klarſtellung
der Angelegenheit Intereſſe, ſondern in wo-
möglich noch höherem Maße die Regierung
und das Parlament. Wann wird der Stein
ins Rollen kommen? Wir ſind begierig!
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Kunft und Muſik: Dr. Karl Gtord
le Zuschriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Berlin (Wannſeebahn)
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
N
% =
4%, Sommer
5 un)
yr N
TORTEN KV
N
N
|
2
rk.
A RAB
Politik und Völkerpſychologie
Von Prof. Dr. Benno Imendörffer
Zein anderes Volk der Erde hat es ſo wie das deutſche verſtanden, ſich
1 5 liebevoll in das Weſen anderer Völker zu verſenken. Mit hingeben
= EN YA W dem Fleiße, mit nimmermüdem Forſcherdrange ſuchten und ſuchen
x ve line deutſche Gelehrte Verſtändnis für fremde Kulturen zu gewinnen;
die Literaturen und Sprachen anderer Völker wurden durch Meiſterüberſetzungen
dem deutſchen Volke zugänglich gemacht in einer Weiſe und in einem Maße, wie
dies ſonſt nirgends der Fall iſt. Der Deutſche Budenz begründet die madjariſche,
der Deutihe Jungmann die tſchechiſche Philologie; deutſche Reiſehandbücher
weiſen uns den Weg durch aller Herren Länder, deutſche Reiſende erkunden die
bewohnte und unbewohnte Erde, deutſche Profeſſoren ſchreiben die tiefgründig-
ſten Werke über Sitten und Gebräuche der Einwohner aller Erdteile und Zonen.
Mit erſtaunlicher Bereitwilligkeit werden die Leiſtungen aller fremden Völker
auf deutſchem Boden anerkannt und geprieſen; die deutſchen Bühnen ſtehen frem- .
den Dichtern allezeit zur Verfügung, die Gemälde fremder Künſtler werden im
deutſchen Kulturkreiſe gemeinhin höher geſchätzt als die der einheimiſchen; fremde
Sprachen ſich anzueignen, gilt mehr als ſonſt irgendwo in der Welt dem deutſchen
Volke als Kulturpflicht, und die altererbte Redensart, die eine Sache als minder
wertig bezeichnen ſoll, ſagt ihr nach, fie ſei nicht weit her. Deutfche, die ſich dauernd
in fremden Landen niederlaſſen, beeilen ſich, ſich in Sprache und Sitte ſo raſch
Her Türmer XX, 20 22
338 Smenbörffer: Politik und Völkerpſychologie
als möglich den Landeskindern anzupaſſen, und opfern bereitwilligſt die eigene
Nachkommenſchaft dem fremden Volkstume. Deutſche Hochfchulen ſtehen den
lernbegierigen Zünglingen der ganzen Welt offen, und nicht den geringſten Stolz
deutſcher Wiſſenſchaft bildet es, Lehrmeiſterin des Erdkreiſes zu fein. Deutſche
Kaufleute und Induſtrielle bemühen ſich, den Geſchmacksrichtungen ihrer Ab-
nehmer in fremdem Lande Rechnung zu tragen, ja, ſie ſuchen dieſe zu Hauſe heimiſch
zu machen. Dieſe Aufzählung ließe ſich ins Unendliche fortſetzen. Warum ich dieſe
altbekannten Dinge anführe? Weil ſie genau das Gegenteil deſſen beweiſen, was
ſie zu beweiſen ſcheinen; weil in dieſen Tatſachen, die ſonderbarerweiſe heute noch
den Stolz vieler Oeutſcher bilden, nicht zuletzt die Arſache des Welthaſſes gelegen
iſt, der im Weltkriege zu ſo gewaltiger Entladung gelangte.
Merkwürdig, wie doch all dieſes liebevolle Verſenken in fremde Eigenart, wie
dieſes bereitwillige Hochſchätzen fremder Kulturen, dieſes bis zur Würdeloſigkeit
gehende Buhlen um die Gunſt der anderen ſo gar nicht vermocht hat, uns deren Zu-
neigung zu verſchaffen oder wenigſtens doch auf der anderen Seite das Bedürfnis
hervorzurufen, nun auch uns kennen und verſtehen zu lernen. Merkwürdig und doch
ſelbſtverſtändlich. Freilich war die Stimmung der anderen, die fie uns gegenüber
hegten, nicht immer die gleiche. Es gab bekanntlich eine Zeit, und ſie liegt noch
gar nicht ſo ferne, wo wir zwar nicht gerade Liebe und Hochachtung, aber doch
ein gewiſſes, freilich mit Mitleid und Herablaſſung gemiſchtes Wohlwollen bei
den anderen genoſſen. Das war, ſolange wir uns darauf beſchränkten, das Voll
der Dichter und Denker zu fein, ſolange wir, politiſch eine quantité negligeable,
wirtſchaftlich Handlanger der anderen waren, dazu leidliche Abnehmer ihrer Er-
zeugniſſe. Jedes Kind weiß heute, daß und warum ſich dieſes Verhältnis ſehr zu
unſeren Angunjten geändert hat. Nun aber trat die merkwürdige und durchaus
nicht ſelbſtverſtändliche Erſcheinung ein, daß ſich zwar das Verhalten der anderen
Völker gegen uns, nicht aber unſer Verhalten gegen die anderen Völker in ent-
ſprechender Weiſe geändert hat. Darin liegt der ſchlüſſigſte Beweis dafür, daß
uns trotz unſeres vorgeblichen tiefen Verſtändniſſes für fremde Völker ein ſchwerer
Mangel an völkerpſychologiſcher Einſicht belaſtet. In dem Augenblicke, wo ſich
durch unſere gewaltigen Leiſtungen auf politiſchem, militäriſchem und vor allem,
durch dieſe ermöglicht und vorbereitet, auf wirtſchaftlichem Gebiete, ſchließlich
begreiflicherweiſe, die Stimmung der meiſten anderen Völker zuerſt mehr und
mehr mißtrauiſch, dann immer feindſeliger geſtaltete, was wir nicht überſehen
konnten, in dem Augenblicke hätten auch wir unſer Verhalten ihnen gegenüber
neu einſtellen müſſen. Daß dies nicht geſchehen iſt, iſt unſere Schuld, eine Schuld,
die ſich nach bekanntem Oichterworte rächen mußte und ſich, ſonderbarerweiſe zum
Erſtaunen fo vieler ahnungsloſer Deutſcher, im Weltkrieg in unerhörter Weiſe ge⸗
rächt hat. Noch weit unerhörter aber iſt es, daß ein gut Teil derer, die heute die
deutſche Politik lenken oder doch Einfluß auf ſie zu nehmen in der Lage ſind, dieſe
Tatſache des völligen Verſagens auf dem Felde der Völkerpſychologie noch immer
nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.
And doch iſt unſer Sündenregiſter nach dieſer Richtung ſchier endlos. Die
eingangs gebrachte Aufzählung hat zunächſt nur die eine Seite unſerer großen
Zmendörffer: Politik und Völterpfpchologe 359
Schwäche im Wettkampfe der Völker berührt. Weit verhängnisvoller als auf
den verſchiedenſten Gebieten des Kulturlebens und der wirtſchaftlichen Betäti-
gung offenbart fie ſich in unſerer Auslandspolitik bis mitten in den Weltkrieg
hinein, ja bis zur allergegenwärtigſten Gegenwart. Man braucht nicht erſt zum
tauſendunderſten Male auf die tauſendmal gerügten Fehler, die kurz vor und un-
mittelbar bei dem Ausbruche des Weltkrieges fo verhängnisvoll gewirkt haben, hin-
zuweiſen, als da ſind die ſträfliche Mißachtung der fremden Preſſe, das Verſagen
des Nachrichtendienſtes, die unbegreifliche Vertrauensſeligkeit Staaten gegen-
über, über deren freundſchaftliche Geſinnung wir uns noch niemals zu beklagen
gehabt hatten, und ſo manches andere, das noch in aller Erinnerung lebt. Schließ
lich handelt es ſich hier doch nur um die negative Seite unſeres Problems. Weit
verhängnisvoller und viel weiter zurückliegend find jene Fehler, die unſer politi-
ſches Verhalten gegenüber faſt allen fremden Völkern ſeit Jahrzehnten kenn
zeichnen. Man kann Verſtändnis für das verhängnisvolle Mißverſtehen der Dent-
weiſe fremder Völker auf deutſcher Seite nur erlangen, wenn man ſich darüber
klar geworden iſt, daß unter den mannigfaltigen und glänzenden Begabungen, die
unſerem Volke zuteil geworden ſind, ſich leider politiſche Begabung nicht befindet.
Daß dem ſo iſt, dafür erbringt nicht nur die Geſchichte des deutſchen Volkes, dafür
erbringt ſozuſagen jeder neue Tag den lüdenlofen Beweis. Aus dieſer Unzulänglich⸗
keit unferer politiſchen Befähigung, die vereinzelte glänzende Ausnahmen (Bis-
marck!) erſt recht ins Licht ſetzen, ergibt ſich auch die lange Reihe der Mißgriffe
im Verkehre und bei Behandlung fremder Völker. Das A und das O unſerer
pſychologiſchen Weisheit war hier ſeit jeher der wohlfeile, ſo naheliegende und in
den meiſten Fällen ſo grundfalſche Analogieſchluß: So, wie wir Deutſche denken
und fühlen, ſo muß auch der Slawe, der Franzoſe, der Engländer uſw. denken
und fühlen. Vielleicht haben wir es hier mit einem Erbteile aus der Zeit des eben
wieder erwachenden demokratiſchen Gleichheitswahnes zu tun, der, gleich wie er
alle Individuen als gleichartig anſah, auch keinen Unterſchied unter den Völkern
mehr kennen wollte. Während aber dieſe aller geſchichtlichen und völkerkundlichen
Erfahrung hohnſprechende Lehrmeinung bei anderen Völkern — man denke an
Franzoſen und Engländer! — lediglich Theorie geblieben iſt, gut genug, um als
Blendwerk für harmloſere Völker zu dienen, nahmen und nehmen wir es heute noch
ernſt damit. Freilich liegt die Unfähigkeit, andere Völker zu durchſchauen, tief be-
gründet in der deutſchen Natur, und ſchon die erſten Germanen zahlten dafür un-
geheure Blutopfer. Hätte die kindliche Argloſigkeit, die auf politiſchem Gebiete
das deutſche Volk feit jeher kennzeichnet, nicht fo unendlich viel Tragiſches ge-
wirkt, man könnte ſich zu ihrer Charakteriſierung mit dem weichen Worte rührend
begnügen; fo aber wirkt fie lediglich noch empörend, denn zwei Jahrtauſende
übler Erfahrungen haben, dem Anſcheine nach, noch nicht ausgereicht, uns die
Augen zu öffnen. Daß dem wirklich fo ift, ergibt ſich mühelos aus beliebigen Bei-
ſpielen. Die der Allgemeinheit der Oeutſchen ſo ſelbſtverſtändliche Pflicht der
Dankbarkeit ſetzen wir allüberall auch bei anderen Völkern voraus. Gründet ſich
nicht darauf die jeglicher Kenntnis der flawifchen Volksſeele entbehrende Politik
gegen Polen, Tſchechen und Slowenen? Gründet ſich nicht darauf, neben einem
340 Smendörffer: Politik und Dölkerpſychologle
guten Zuſchuſſe von Eitelkeit freilich, das verkehrte Vorgehen, die Quellen unſerer
wiſſenſchaftlichen und techniſchen Überlegenheit allen Völkern der Erde bereit-
willig zu öffnen? Gründet ſich nicht darauf das in ſeinen Wirkungen völlig das
Gegenteil erreichende Buhlen um die Gunſt der maßgebenden Klüngel in den
Reichslanden? Nicht einmal ſo weit alſo iſt die Erkenntnis im deutſchen Volke
gediehen, das die größten Geſchichtsforſcher ſein eigen nennt, daß es wüßte; was
jedes Blatt der Geſchichte eindringlich lehrt: es gibt keine Dankbarkeit der Völker,
ja, ſelbſt bei den einzelnen Angehörigen der verſchiedenen Völker iſt die Fahigkeit,
dankbar zu ſein, ſehr verſchieden. Aber die Sache liegt noch weit ſchlimmer. Man
braucht nicht erſt die Völkerpſychologie anzurufen, um zu wiſſen, daß es Wohl-
taten gibt, die faſt niemals Oankgefühle bei ihren Empfängern auslöſen. Dies zu
wiſſen, genügt ſchon die Erfahrung des täglichen Lebens. Am ſeltenſten nun iſt
die Dankbarkeit der Schüler gegen den Lehrmeiſter; meiſt kommt man erſt in
reiferen Jahren zur Erkenntnis deſſen, was man ſeinen Lehrern verdankt. Nun
hat unſere Art, den Magister orbis terrarum zu ſpielen, aber für die belehrten
Völker ſtets etwas Bedrückendes; gar noch, wenn wir uns gelegentlich darauf be-
rufen, mag fein, ſachlich meiſt mit Recht. Statt Gefühle des Dankes bei ihnen zu
erregen, tritt daher der gegenteilige Fall ein: ſie tragen es uns nach, daß wir es
waren, denen ſie einen mehr oder weniger großen Teil ihres eigenen Wiſſens, ja
ihrer Kultur verdanken. Der unverſöhnliche Haß der öſterreichiſchen Slawen, der
Polen gegen alles Deutihe hat nicht zuletzt hierin einen feiner Hauptgründe.
Sollte aber etwa in Völkern der Dank gegen den Lehrer auch erſt in reiferem
Alter zur Entfaltung gelangen, ſo hätten wir alſo beſten Falles die Ausſicht, daß
ſlawiſche Geſchichtſchreiber uns in fernen Jahrhunderten beſcheinigen, daß ihre
Völker uns zu Dank verpflichtet ſeien, was ihnen dann nicht mehr wehtun, uns
nicht mehr helfen wird. And doch wollen viele gute Deutſche heute ihr Verhalten
gegen die Slawen auf den Gedankengang gründen, daß dieſe uns doch wohl in
pflichtmäßiger Oankbarkeit entgegenkommen müßten. Dabei aber hat — bei-
läufig bemerkt ſelbſtverſtändlich — nicht einmal die Erkämpfung der polniſchen
Freiheit durch das deutſche Schwert bei den Polen auch nur das leifefte Dank⸗
gefühl ausgelöſt. Wie ſollte es auch! Hat denn nicht das Bewußtſein, die eigene
Freiheit als reines Gnadengeſchenk aus fremden Händen empfangen zu mülſſen,
etwas tief Demütigendes? Dabei iſt es völlig gleichgültig, daß die Polen ſich
eigentlich ſagen müßten, dieſes Geſchenk nicht verdient zu haben. Nun, da ſie
die ihnen von den Deutſchen gebrachte Freiheit und Unabhängigkeit greifbar vor
ſich ſehen, wollen fie fie auch ganz haben und meinen ſich jeder Oankesſchuld ledig,
wenn wir die Gabe nicht bedingungslos geben. Wir aber vergeſſen, daß es eben
ein Gnadengeſchenk unfererfeits iſt, daß wir nicht auf Dank rechnen dürfen, ſon⸗
dern daß wir nur allmählich und ſtückweiſe dem befreiten Volke geben dürfen,
was es ſonſt unweigerlich als Waffe gegen den Geber wenden wird. Ein anderes
Beiſpiel: Das deutſche Volk iſt das Volk der Ordnung und der Zucht. Wo deutſche
Truppen in fremden Landen Fuß faſſen, wird deutſche Ordnung eingeführt;
deutſche Verwaltung ſorgt für öffentliche Sicherheit und Reinlichkeit. Gewiß
kommt der Segen dieſer Maßregeln vor allem den betreffenden Völkern zugute,
Smendösffer: Politit und Völterpſychologle 341
aber um Gottes willen erwarten wir dafür keinen Dank! Augenzeugen beſtätigen,
daß nichts im Oſten ſo ſehr die Leute erbittert hat, als daß die deutſche Verwaltung
ihnen ſo kräftig zum Bewußtſein führte, wie zurückgeblieben ſie bisher waren.
Hier iſt nicht nur kein Oank zu ernten, hier leiſten wir Danaidenarbeit, und das
Zurückſinken in den alten lieben Schmutz und die altgewohnte Unordnung wird
einen der größten Genüffe für die von uns beglückten Völker bilden. Wieder ein
anderes Beiſpiel: Das Deutſche Reich hat bekanntlich, ausgehend von dem Ge-
danken, feine unbegrenzte Friedfertigkeit aller Welt möglichſt eindringlich dar-
zuſtellen, ſeit Jahrzehnten die Politik befolgt, gegen die Kleinen unter den Staaten
die allerzarteſte Nückſicht an den Tag zu legen, eine Rückſicht, die die Grenzen
der Selbſtachtung nicht ſelten überſchritten hat; gegen die Großen aber verhielt
man ſich faſt bis zur Würdeloſigkeit beſcheiden. Hat dies verhütet, daß aller Welt
von unſeren Feinden lange vor dem Kriege ſchon gepredigt wurde, wir ſeien der
Feind aller Welt, wir ſeien darauf erpicht, Eroberungen zu machen; hatte es
verhütet, daß dieſe bewußten Unwahrheiten geglaubt wurden? Natürlich nicht,
denn es war naheliegend genug, daß ſich die Völker ſagten, dieſe ſo aufdringlich
zur Schau getragene Friedensliebe, dieſe unnatürliche Selbſtbeſchränkung eines
Volkes von der ungeheuren Kraft des deutſchen kann nur Maske fein. Die leiten-
den Männer in Frankreich, England und Rußland wußten freilich nur zu gut,
daß dem nicht ſo ſei, und werden es ſich gegenſeitig hohnlächelnd beſtätigt haben,
aber ſie wären Narren geweſen, wenn ſie ihre Völker nicht ſo belehrt hätten, wie
ſie es eben taten.
Geradezu Orgien feierte völkerpſychologiſcher Unverftand in unſerem Ver-
hältnis zu Japan und zu den Vereinigten Staaten. Bei Ausbruch des Welt-
krieges wurden bekanntlich die Japaner in Berlin ſtürmiſch gefeiert, und vor
der japaniſchen Botſchaft fanden förmliche Huldigungen ſtatt, während die
Söhne der aufgehenden Sonne bereits die Marſchbefehle in der Taſche hatten
und ſich bereiteten, das gaſtliche Reich zu verlaſſen, um ihm in den Rücken zu
fallen. Wie hatten doch deutſche Reiſende, Gelehrte, Techniker, Offiziere und
viele andere Deutſche ſtets von Japan als dem oſtaſiatiſchen Preußen erzählt,
das dem Oeutſchen Reiche taufendfältig zum Dante verpflichtet ſei. Nur wenige
Stimmen hatten betont, daß wir uns durch das Denkmal, das japaniſche Dankbar⸗
keit dem Begründer japaniſcher Wehrkraft, dem königlich preußiſchen Stabs-
offizier Möckel errichtet hat, nicht blenden laſſen ſollten. In dieſer äußeren Ehrung
des Mannes, der, ohne es zu ahnen, die japaniſchen Waffen gegen ſein eigenes
Vaterland geſchliffen hat, hat ſich der japaniſche Dank völlig ausgegeben, aber
niemand wollte dies in Oeutſchland glauben. Die freche Zumutung Japans und
der Verluſt Kiautſchaus waren die Antwort auf die kindliche Gutgläubigkeit auf
deutſcher Seite. Nun vollends die Vereinigten Staaten! Es hieße Eulen nach
Athen tragen, wollte man zum ſoundſovielten Male all’ unfere würdeloſen Be-
mühungen, die Gunſt des goldanbetenden Volkes jenſeits des großen Teiches zu
gewinnen, noch einmal ausführlicher Kritik unterziehen. Heute wiſſen wir ja
alle, was lange ſchon einzelne Einſichtige tauben Ohren predigten, daß all' die
Austauſchprofeſſoren, die geſchenkten Denkmäler, die Empfänge hervorragender,
342 Smendörffer: Politie und Völterpſychologie
ach, ſo äußerlich nur und durch den Geldbeutel hervorragender, Amerikaner, die
Entwürdigung unſeres höchſten akademiſchen Ehrengrades, den man dem großen
Rauhen Reiter verlieh, kurz daß alle dieſe faſt Jahrzehnte hindurch fortgeſetzten
Kriechübungen vor der Anion uns lediglich geſchadet haben. Daß dem fo fei, da-
für ſprachen ſchon lange vor Kriegsausbruch unmißverſtändliche Zeichen die Fülle,
man braucht ſich nur der Außerungen amerikaniſcher Admirale zu erinnern; dafür
ſprach das Verhalten der meiſten amerikaniſchen Zeitungen uſw. Dennoch lebten
wir noch bis tief in den Krieg hinein in dem Wahne, wenn ſchon keinen aufrigti-
gen Freund, ſo doch einen ehrlichen Friedensvermittler in dem großen Lande des
Humbugs und der Korruption zu finden. Und doch haben viele auch bei uns
— Schreiber dieſes darf ſich ſelbſt dazu rechnen — deutlich geſehen, daß der ge-
weſene Mädchenſchullehrer und ergebene Diener der amerikaniſchen Plutokratie,
der in deren Namen die Politik der Vereinigten Staaten lenkt, lediglich auf den
beſten Vorwand und auf den geeignetſten Augenblick lauerte, um ſich unſeren
Feinden zu geſellen. Man ſah nicht, oder, was viel ſchlimnmer iſt, man wollte nicht
ſehen, daß drüben alles, aber auch alles zuſammenwirkte, um die Stimmung gegen
das Deutſche Reich immer feindſeliger zu geſtalten. Aber eine einzige einfache
Erwägung hätte genügen müſſen, um uns vom erſten Augenblicke des Krieges an
klar ſehen zu laſſen. Dollarika hatte ſich, das wußte auch bei uns jedes politiſche
Kind, von vornherein geſchäftlich am Kriege engagiert; es hatte zuerſt etliche
hundert Millionen, bald Milliarden in das Unternehmen hineingeſteckt, in ein
Unternehmen, das völlig und ausſchließlich auf unſeren Zuſammenbruch berech-
net war. Je länger der auf ſich warten ließ, um fo mehr mußte doch der ſmarte
amerikaniſche Geſchäftsmann ſich ſagen, daß er mit allen Mitteln das erwünſchte
Ziel herbeiführen müſſe. Die kindliche Hoffnung, daß die deutſchen Bindeſtrich⸗
Amerikaner, wie ſie drüben ſo freundlich genannt werden, uns irgendwie helfen
könnten, ja daß fie auch nur gewillt ſeien, dies zu tun, hat ſich ſelbſtverſtändlich
nicht erfüllt. Ich ſage ſelbſtverſtändlich, denn ich habe ihr niemals Raum gegeben.
Nur eine verhängnisvolle Selbſttäuſchung konnte dieſe Hoffnung gebären. Eine
Selbſttäuſchung, die um ſo jämmerlicher war, als ſie auf völliger Verkennung
der eigenen, der deutſchen Volksſeele beruhte. Wer jemals die traurige Gelegen-
heit gehabt hat, die völlige politiſche und völkiſche Unzulänglichkeit des weitaus
größten Teiles des Auslandsdeutſchtums zu beobachten, die faſt unglaublicher
weiſe noch die des Heimatsdeutſchtums um ein Erkleckliches übertrifft, für den
galt längſt das alte Dantewort, und er hatte längſt alle Hoffnung fahren laſſen.
Wie ſollte auch das nordamerikaniſche Oeutſchtum, das es bei einem Beſtande
von vielen Millionen Köpfen in jahrzehntelanger Entwicklung noch zu keinem
irgendwie nennenswerten, geſchweige denn maßgebenden Einfluſſe auf die Poli-
tik des Staates gebracht hat, das immer raſcher der völligen Verengländerung
entgegeneilt, wie ſollte das uns irgendwie von Nutzen ſein? Ein paar mehr oder
weniger gute Witze gegen unſere Feinde in deutſchen Zeitungen, einige taufend
begeiſterte Briefe einzelner Treugebliebener, das war alles, was wir beſten
Falles hatten erhoffen dürfen, und es blieb auch alles, was uns geboten wurde.
Wie viele Oeutſchamerikaner ſich bemühen werden, im Kampfe gegen uns ihr
Imendörffer: Politit und VBölkerpſychologie 843
Beſtes zu leiſten, werden wir vielleicht noch Anlaß haben, mit verhaltener Wut,
manche unter uns wohl auch mit offener Bewunderung — wir ſind doch nun
einmal objektiv — feſtzuſtellen. Natürlich hätten wir all dies nicht verhindern
können, wenn wir es auch rechtzeitig, namentlich an unſeren verantwortlichen
Stellen, erkannt hätten, aber vielen Millionen Oeutſcher wäre eine Überrafhung
erſpart geblieben und wäre die Schmach erſpart geblieben, hier überhaupt erſt
eine Überrafchung erleben zu können. Vor allem aber der uneingeſchränkte Unter-
ſeebootkrieg wäre ein Jahr früher ſeinen Weg gegangen, und Herr Woodrow Wilſon
hätte ſich vielleicht darauf beſchränkt, verlogene Noten zu ſchreiben, ohne den Mut
zu finden, uns offen den Krieg zu erklären. So aber bezahlten Hunderttauſende
deutſcher Helden die völkerpſychologiſchen Irrtümer ihres Volkes mit dem Leben.
Wenn nur aber wenigſtens der Preis endlich voll wäre, wenn wir nur hoffen
dürften, daß die Erlebniſſe dieſes Krieges endlich allen Deutſchen die Augen ge-
öffnet hätten! Wer aber dürfte ſolches angeſichts deſſen, was wir noch täg-
lich erleben, glauben? Leider muß es ausgeſprochen werden: wenn nicht Gott
ein Wunder tut, jo wird bei Friedensſchluß alles, was wir bisher an völkerpſycho-
logiſcher Hilfloſigkeit auf deutſcher Seite erlebt haben, in den Schatten geſtellt
werden. Wenn der völlig verrückte, aller geſchichtlichen und völkerpſychologiſchen
Erfahrung — die Geſchichte iſt doch die Hohe Schule der Völkerpſychologie —
hohnſprechende Gedanke, die Feinde durch einen fie möglichſt ſchonenden Friedens-
ſchluß für die Zukunft zu verſöhnen und zu gewinnen, Wahrheit werden ſollte,
wie es — täuſchen wir uns darüber nicht! — leider Millionen guter Deutſcher,
die aber elende Muſikanten ſind, wollen, wie es ein Häuflein von Männern, die
ſich zwar Deutſche nennen, aber dabei kaum Wert legen auf die Tatſache, als
Deutſche geboren zu ſein, mit allen Mitteln anſtrebt, dann iſt nicht nur das un⸗
geheure Opfer an Gut und Blut vergeblich geweſen, dann ſind auch all die teuer
erkauften Erfahrungen des Weltkrieges, die wir als unveräußerliches und un-
erſetzliches Gut unſeren Enkeln zu hinterlaſſen verpflichtet wären, verloren. Was
dies aber bedeutet, zeigt ein Blick auf unſere geſchilderten Mißerfolge auf dem
Gebiete der Behandlung fremder Völker. Hier wird nun einmal ſcheinbare Logik
zu allerſchlimmſter Unlogik, und die einfachſten Gedankengänge, die ſich fo lüden-
los aus ſchönen Schlußreihen zu ergeben ſcheinen, ſind bei näherer Betrachtung
nur verhängnisvolle Trugſchlüſſe. Wie einleuchtend klingt es doch, wenn wir
hören: Wir müſſen unſere — hoffentlich — beſiegten Feinde ſchonen, damit kein
bitteres Gefühl in ihrer Seele zurückbleibe, damit wir nach dem entſetzlichſten
Blutvergießen, das die Geſchichte kennt, nun in die Bahnen der Völkerverſöhnung
eingehen. Als ob es möglich wäre, auf dieſe Weiſe wahre Verſöhnung zu er-
reichen! Schonen wir unſere Feinde, ohne es aus zwingenden Gründen tun zu
müſſen, ſo werden fie doch lediglich die Empfindung haben, daß wir eben fo han-
deln, weil wir nicht ſtark genug ſind, den Sieg — wenn er unſer iſt — voll aus-
zunutzen. Unſere Feinde müſſen mit mathematiſcher Notwendigkeit fo denken,
denn für fie wäre das gleiche Vorgehen im Falle ihres Sieges unter allen Um-
ſtänden ausgeſchloſſen, und der Analogieſchluß hat hier für ſie in der Tat etwas
Zwingendes. Ebenſo töricht wie dieſer formell logiſche, aber wegen feiner völli-
344 Hauck: Schichal
gen pſychologiſchen Unzulänglichkeit ſachlich grundfalſche Gedankengang der ver-
ſöhnenden Milde gegen die Feinde iſt es, wenn wir auf den Dank jener Völker
rechnen, denen wir in dieſem Kriege die Freiheit gebracht haben. Ich will gar
nicht den etwas gewundenen Kettenſchluß verfolgen, der uns ſtreng logiſch als
die wahren Befreier Rußlands vom Zarenjoche erſcheinen läßt. Hier iſt natur-
gemäß der ſchmerzliche Eindruck der Niederlagen, die wir ihnen beigebracht haben,
für die Ruſſen ſo ſtark, daß ſie unmöglich in uns die Befreier erkennen können,
mögen wir es tauſendmal ſein. Aber der Dank Polens ſollte uns, nach Meinung
vieler deutſcher Politiker, gewiß ſein, und doch iſt uns nichts gewiſſer als deren
Andank, der ſich übrigens längſt zu äußern begonnen hat. Völkerdank iſt eben
unter keinen Umſtänden eine brauchbare Grundlage für politiſche Ziele. Das
Gefährlichſte aber und darum das Wahrſcheinlichſte iſt es, daß wir den beſiegten
Feinden gegenüber auf halbem Wege werden ſtehen bleiben: wir werden fie nicht
ſo weit ſchwächen, als wir etwa könnten, wir werden ſie aber auch nicht ganz
nach dem Rezepte Erzberger - Scheidemann behandeln. Wir werden, ſoferne wir
echte Deutiche find, ihnen ſo wenig wehe tun als möglich, aber wir werden fie
doch nicht ganz ſchmerzlos behandeln können. Nun iſt aber nichts falſcher, als
zu glauben, daß es hier auf den Grad des Schmerzes ankommt, den wir dem
Feinde beim Friedensſchluſſe antun. Die Wirkung auf die Seele des beſiegten
Volkes bleibt unter allen Umjtänden die gleiche. Ob wir Frankreich nur die Briey
nehmen oder das ganze derzeit beſetzte Stück, der Stachel bleibt für die Franzoſen
derſelbe. Ob wir von England erreichen, daß es uns wenigſtens die afrikaniſchen
Schutzgebiete zurückgibt, oder ob wir es in viel weitergehender Weiſe demütigen,
für den Engländer bleibt es an ſich unerträglich, beſiegt worden zu ſein; ja es ge⸗
nügt, ihn für alle Zeiten bis zu feiner und unſerer Vernichtung zu unſerem Tod⸗
feinde zu machen, wenn es ihm nicht gelingt, uns zu zerſchmettern. Dies alles,
ich weiß es wohl, iſt nichts Neues, iſt hundertmal geſagt worden, aber es muß
noch tauſendmal geſagt werden, es muß dem deutſchen Volke eingehämmert wer-
den, damit es mit der rechten Erkenntnis dem Frieden entgegenſchreitet. Gehen
wir aber an dieſen heran mit der feſten Abſicht, uns wieder einmal über alle Geſetze
der Völkerpſychologie hinwegzutäuſchen, ſo müſſen wir uns darüber klar ſein, daß
wir lediglich einen Waffenſtillſtand, niemals aber einen haltbaren Frieden ſchließen
können. Dann wäre uns faſt beſſer, wir folgten den Spuren der hochgemuten
Mehrheit des Reichstages; ſie leiten zu einem Ende mit Schrecken, Halbheit aber
zu einem Schrecken ohne Ende.
Schickſal - Von Ernſt Hauck
Hat Balmung uns zu früh die tiefſte Not
Gebannt und unſrer Grenzen grauſes Beben?
Wir ſahn den Schatten kaum von Oeutſchlands Tod.
Nun find wir blind dem Siegesmorgenrot
Und taub dem Schrei Germanias: Zch will leben!
3
| Müller: Freude 345
Freude
Von Fritz Müller
ie Sörma war erſte Tänzerin der Kammerſpiele. Die Kammerſpiele
waren für die feine Welt. Die feine Welt war von 8 Sörma be-
geiſtert.
5 „Dieſe Anmut!“ ſagte der Reichsgerichtsrat.
„Dieſe vornehme Temperiertheit!“ ſagte Fräulein von Niefelheim.
„Und dabei ſoll fie ganz von unten her —“, hüſtelte der alte Reichsfreiherr,
„unter uns: Vater unbekannt — Mutter Mörtelträgerin oder ſo was — komiſch,
welche Mörtelwege das Talent oft geht.“
„Talent?“ wendete der Kritiker des Tageblattes ein, „was heißt Talent,
wenn der Gottesfunke des Genies nicht überſpringt.“
„Herr Doktor, wenn Sie uns die Sörma verekeln wollen, ſo —“
„Verekeln? Zch vergleiche nur —
„Womit?“
„Mit einer Tänzerin im Blauen Krokodil, die —“
„Blaues Krokodil? Iſt das nicht die Vorſtadtbude, wo —?“
„Kinder, unſer guter Doktor wird geſchmacklos. Jetzt vergleicht er gar die
Kammerſpiele mit dem Tingeltangel, wo die Hefe —“
„Bitte ſehr, ich vergleiche Kunſt mit Kunſt, Örtlichkeiten find mir Wurſt“,
ſagte der Kritiker trocken.
„Nu nu,“ begütigte der Intendant der Kammerſpiele, „unfer Doktor pflegt
nichts ohne Grund zu jagen — ich bin dafür, daß unſer kleiner Zirkel mal inkognito
ins Grüne Krokodil — oder war's 'n blaues —?“
„Aber,“ wendete die von Niefelheim ein wenig ſchaudernd ein, „unſereiner
kann doch nicht ins Krokodil, oder wie das Tier heißt —“
„Unſereiner ſoll auch nicht ins Krokodil gehn. Ins Krokodil geht — ihrer-
einer, liebe Niefelheim, wenn ich den Doktor recht verſtehe“, vermittelte der In-
tendant.
Der Kutſcher des Reichsgerichtsrats war nicht ſchlecht erſtaunt, als er mit
feiner verſchliſſenſten Stallhoſe herausrücken mußte: „Nur leihweiſe, Johann“,
lächelte ſein Herr und zog ſie wahrhaftig an.
„Sie haben aber auch gar nichts — nichts Volkstümliches in Ihrer Garderobe,“
kritiſierte die von Niefelheim die Zofe, in deren Koffer kramend, „laſſen Sie mal
unſre Milchfrau zu mir bitten.“
„Taugt alles nicht, mein Beſter“, hüſtelte der alte Freiherr in der muffigen
Maskenverleihanſtalt. — „Entſchuldigung, Herr Baron — nicht gefaßt — mitten
im Sommer — Auswahl naturgemäß beſchränkt — aber vielleicht dieſer eklatant
maleriſche Lumpenanzug.“ — „Hem, ganz nett, nur nicht — nicht echt genug,
Verehrter.“ — „Echt? Aber Herr Baron wollen doch nicht im Ernſte —?“ —
„Studienhalber, mein Beſter, nur ſtudienhalber.“
Dann ſaßen fie zu viert in einer dunklen Ede des Blauen Krokodils. „Rin-
346 müller: Freube
der,“ flüfterte der Intendant, „mit der Kleidung ſtimmt's ſoweit, jetzt nur das
Maul geſchloſſen halten, ſonſt fallen wir doch noch aus dem Rahmen — heißt das,
Sie, meine Herrſchaften — ich ſpreche Dialekt, wenn's ſein muß — was haſt g'ſagt,
Depp, damiſcher!“
„Ihren Maurerdreck hätten Sie ſchon abbürſten dürfen!“ rief ein Kutſcher
aus der andern Ecke.
„Fürs Krokodil wird's wohl gut genug fein!“ trumpfte der Intendant
hinüber. |
„Für gewöhnlich ſchon, aber heut' iſt Mittwoch.“
„Mittwoch oder nicht, ich pfeife —“
„Schämen ſollten Sie ſich — Mittwoch und Samstag tanzt doch ſie — ſchauen
Sie hinüber, wo vom Tageblatt der Kritikdoktor ſitzt — der verſäumt fie nie — der
iſt immer da — ohne Schreiberkittel — ohne Tintenſpritzer drauf, Sie ausg'ſchamter
Kalkbaron!“
Kalkbaron? Den Intendanten riß es. War er erkannt, trotzdem der Regiſſeur
verſichert hatte, der Kalkdreck wäre echt?
„Ich bring' Ihnen eine Bürſte mit das nächſtemal, wenn ſie wieder tanzt
und —“
„Sie? Wer iſt ſie?“ wagte der Intendant.
„Jaſo,“ ſagte der Schloſſergeſelle beſänftigt, „wenn Sie fie noch nicht kennen,
dann freilich —“
„Wen denn?“
„Die Freud' halt, unſre Freud’, die —“
„Bſcht, bſcht,“ machte es von mehreren a bſcht, die „japaniſchen Teller⸗
werfer!“
„O jee, deretwegen!“
„Bſcht, bſcht“, bei jeder neuen Nummer, und dann immer wieder: „O jee,
deretwegen!“ bei den mexikaniſchen Drahtſeilkünſtlern, bei den tiroliſchen Kunſt-
pfeifern, bei den muſikaliſchen dummen Auguſts. Der übliche Beifall, das übliche
Vergnügen bei den üblichen Nummern, Oberfläche das eine und das andere.
Auf einmal Stille. Kein Bſcht mehr. Erwartungsvolles Schweigen. Hoch
gereckte Hälſe. Die Werkeltagsgeſichter aufgeblättert: Herr, wende mich, ich bin
bereit. Der ſchreiende Vorſtadtvorhang rauſcht faſt feierlich. Nein, es iſt erſt der
Direktor. Ein wenig ſchmierig wie immer. Aber feierlich auch er: „Ich habe die
Ehre, einem verehrlichen Publikum mitzuteilen, daß in der nächſten Nummer —“
„Die Freud“, ſagt aus dem Dunkel eine ſchlichte Stimme.
„ daß in der nächſten Nummer“, hebt blumenreich der ſchmierige Direktor
wieder an, „die geſchätzte Attraktion unſeres Muſentempels —“
„Die Freud! ... die Freud! ... die Freud! . . ., flüſtert's, ruft's, ſchrillt's,
wogt auf, ebbt ab, verklingt und ſchweigt, und füllt im Schweigen noch den ganzen
Raum, wie ein ſtilles Auge nicht nur ſein kleines Bett, ſondern ganze Zimmer
füllen kann.
Auf einmal ſteht fie auf den Brettern. Herausgeblüht aus ihnen, nicht herein
gekommen aus Kuliſſen. So treibt der Stadtasphalt im Sommer manchmal
Müller: Freude 347
\
eine Blaſe aus der Tiefe. Aufbrechend ſchaut dir plötzlich eine Roſe ins Geſicht.
Weiß kein Menſch, woher fie kam. Weißt nur, wohin fie treibt: durch dich durch.
Fräulein von Niefelheim wunderte ſich: „Schlichtheit, alle Achtung, aber
als Fabriksmädel angetan zu tanzen, na, ich muß ſagen —“
„Nichts ſagen — ſchauen!“ mahnte der Reichsgerichtsrat.
„Schauen?“ flüſterte kritiſch der Baron, „was ich ſehe, iſt ein unbewegtes
Geſicht und — “
„Sie ſoll ja eine dünne Stoffmaske tragen, ſagt der Doktor“, warf der
Intendant ein.
Sie ſtand noch immer unbeweglich auf den Brettern, als beſänne ſie ſich.
„Rinners,“ machte ungeduldig der Baron, „ich glaube, der Ooktor hat uns rein-
gelegt — aha, jetzt ſcheint ſie doch herausgefunden zu haben, daß ſie fürs Tanzen
da iſt.“
„Tanzen? Sit das Tanzen u
Sie lief über die Bühne, wie ns nach Feierabend aus dem Waren-
haus, ſchlenkernd, trippelnd, ein wenig mit den Armen fechtend: Ha, endlich
Dann auf einen kleinen Schnaufer ſtehen bleibend: Ha, frei, frei..
Und dann fing fie zu tanzen an im Werkeltagskoſtüm und mit der ſtarren Maske.
Tanzen? Nein, erſt war es nur ein Stolpern eingeroſteter Gelenke. Dann ein
Verwundern müder Glieder, daß fie überhaupt noch gehen konnten. Zetzt ein
Schreiten. Dann ein Laufen. Darauf ein Wiegen in den Hüften. Ah, aus den
Lenden wuchs etwas heraus, rankte um die Büſte, lief die hochgeſtreckten Arme
hoch, züngelte pfingſtwunderig aus den Fingerſpitzen in den Zuſchauerraum hinein
und ſteckte an: Die Freude.
Was weiter auf der Bühne war, iſt nicht beſchreibbar. Hinter einer Tanz-
begnadeten herzulaufen, um armſelige Worte ans armſelige Gewändchen mit
armſeligen Stecknadeln anzuheften, derweil es ringsum ſproßt von Freude —
nein, nur das nicht. Ja, Freude. Ob fie ging, ſich drehte, hüpfte, ſchleifte, ftill-
ſtand oder wirbelte, immer war's, als regneten ihr Blumen in die offne Ladnerinnen-
ſchürze, als würfe ihr von unten her die Erde aus jedem Taktmaß auch noch Blumen
in die Schürze, und als ſchüttete ſie die immer neugefüllten Schürzen voll ins Pu-
blikum: Nehmt, ſo nehmt doch, nehmt, wonach ihr ſucht, was ihr entbehrt in Läden,
an Maſchinen .
Und fie nahmen. Herrgott, wie fie nahmen. So trinken Schmachtende.
So pflücken Liebende lange vorenthaltene Küſſe von der Liebſten Lippen: Freude,
Freude, gibt's überhaupt noch etwas in der Welt, was keine Freude iſt — Kinder,
Kinder, freut euch, freut euch doch.
Und ſie freuten ſich. Dem Blödeſten da ne dem von der Tagesfron
Zerhämmertſten war's klar, warum die Begnadete da droben keinen bürgerlichen
Namen hatte, warum ſie nur Die Freud' hieß, ſchlechthin Die Freud'.
Wußte keiner, wie lang der Tanz da droben dauerte. Fit Freude lang, iſt
Freude kurz? Wer Antwort weiß, hat ſich nicht voll gefreut. Was ſie da drunten
wußten, war nur, daß im Höhepunkt geſchenkter Freude — da wo ſie ſchon faſt
weh tut — die Tanzende da droben plötzlich eingeſchluckt war, niemand weiß wohin,
348 Muller: Freude
jeder weiß nur: Durch mich durch iſt fie gegangen, meine Bruſt hat fie mit ihrem
Tanzſchritt ausgeweitet, ja, meine Bruſt vor allen ... Und dann: Stadtasphalt
ringsum herinnen, und draußen eine ſpäte ſcheppernde Straßenbahn, Zeit iſt's,
Kinder, heimzugehen, morgen heißt es früh heraus zu euren Läden und Waſchinen,
und vergeßt auch nicht, euch eine von den Blumen in das Haar zu ſtecken, ob's
eurem Griesgramvorſtand recht iſt oder nicht
Der Kritiker vom Tageblatt erwartete die vier in einem Seitengäßchen:
„Nun, was ſagt Ihr?“
Sie ſagten nichts zunächſt. Sie drückten ihm die Hand. Sie fanden nach und
nach erſt Worte.
Das zerfältelte Geſicht des Reichsgerichtsrates arbeitete ſich aus einem Akten-
meer zum Sönnchen einer Gaslaterne, als er jetzt den Kopf hob: „Doktor, mir
war, als wär' ich wieder jung, ganz jung . ..“
Das wiſſende Geſicht des Freiherrn war ausgelöſcht. Ein Verwunderter blin-
zelte ins Gaslicht: „Aber Doktor, daß es fo was gibt, das hab' ich nicht gewußt...“
Fräulein von Niefelheims korrektvergrämtes Antlitz aber war tränenüber-
goſſen, ohne es zu wiſſen: „Doktor, Doktor, was hat unſereiner all die Jahre her
entbehrt ..“
„Euereiner?“ ſagte der Doktor lächelnd, „Euereiner hat's, weiß Gott, doch
gut gehabt, ſoviel ich weiß: Geld genug, Wohlanſtändigkeit genug, genug Gefell-
ſchaftsfreuden und —“
Alle dreie ſchüttelten ſtumm den Kopf: Nein, was Freude iſt, das wiſſen wit
erſt jetzt.
Der Intendant aber war in der Zwiſchenzeit aufgeregt zwiſchen einer Gas⸗
laterne und der andern hin und her gelaufen. Jetzt pflanzte er ſich dem Doktor
exploſionsreif unter die Naſe: „Unfre erſte Tänzerin, meine Sörma iſt eine —
eine Puppe gegen die!“ explodierte er.
„Nun nun, auch ſie gibt Kunſt, edle Kunſt, Herr Intendant.“
„Ach was, Kunſt! Freude will ich, Freude iſt es, was wir alle brauchen.
Herrgott, was die konnte heute abend! Noch dazu mit einer Maske. Wenn die
erſt ihre Maske abgetan —“
„Darin irren Sie. Die Menſchen von heute müffen lächeln, immer lächeln.
Schauderhafte Vorſchrift wohlerzogener Menſchen. Gilt bis unter die Manfarden-
wohnung heute. Alles zerlächeln ſie, das Kleine und das Große, den Schmetz,
die Freude — zerlächelt und verwüſtet tanzen die Geſichter über unfres Lebens
Bühnen. Wenn ich die Maske von heute abend recht verſtehe, ſo —“
„Ah, die wahre Freude rettet ſich von verlogen lächelnden Geſichtern in
Arm' und Füße, in den Tanz — jaja, das iſt es — aber nicht allein — da iſt noch
eine Gnade, die einer nie erlernt — die aus der dunklen Tiefe verhärmten Volks
tums aufſteigt — die Sörma wird's nie verſtehen —“
„Obgleich ſie's eigentlich doch ſollte,“ hüſtelte der Baron nachdenklich im
Gehen, „unter uns: Vater unbekannt — Mutter Mörtelträgerin oder ſo was —“
„Jaja,“ unterbrach ihn die von Niefelheim ungeduldig, „das ſagten Sie
ſchon früher.“
Oftmart: Sommerwolten N 349
„So, fagt’ ich das? Gut alſo, dann wird die andre wohl von einer Königin
das heimliche Kind —“
Der Intendant war ſtehen geblieben und zeigte auf offne Fenſter im erſten
Stock: „Da droben wohnt fie.“
„Wer — wer — wer?“ ging es durcheinander, „die Freud“?“
„3 wo, die Sörma. Ich hätte gute Luft, ihr an dieſem Steinchen ins Zimmer
einen Zettel zu werfen: Stümperin, nimm dir an der Freud' ein Beiſpiel —“
„Bſcht, ich glaub', dort kommt fie heim —“
„Gut, dann kann ich ihr gleich mündlich —“
„Herr Intendant, Sie werden doch nicht — es iſt nachtſchlafende Zeit, und
außerdem ...“ Sie zogen ihn in eine Wageneinfahrt gegenüber.
Drüben huſchte eine Geſtalt zur Tür. Ehe ſie den Schlüſſel hob, ſchaute ſie
ein wenig ſcheu die menſchenleere Straße hinauf, hinab —
„Es iſt die Sörma“, flüſterte es in der Wageneinfahrt. Da fiel Laternenſchein
auf ein Geſicht. Da neſtelte eine Frauenhand an einer vorgebundnen Maske —
„Nein, es iſt — es ift —“
„Unſinn, die Sörma iſt's!“
„Nein, nein, die Freud'!“ gab der Doktor leis und heiſer zurück, „ich kenne
doch die Maske und —“
Die Maske drüben fiel. Aus der Freude ſchälte ſich die Sörma. Der Schlüffel
klirrte. Es ſchlug eine Türe. Totenſtille. Fünf Menſchen in einem Torweg ſahen
ſich ſtarr an. Der Intendant ſchlug ſich vor die Stirne. Die andern Herren fchüttelten
immerzu den Kopf. Die von Niefelheim fand das Wort als erſte wieder: „Herr
Intendant, wir werden ihr ſagen müffen, daß das Publikum der Kammerſpiele die
wahre Freude bitter nötig hat, noch nötiger als — als das Blaue Krokodil.“
III
Sommerwolken Von Erich Oſtmark
Mittagsruhig liegt die Au
Unter Sonnenglut und Schweigen.
Mächtige Wolkenhäupter ſteigen
Blendendweiß ins ſatte Blau.
Eine tief verhalt'ne Kraft
Atmet ihre trotzige Fülle,
Und in ihrer großen Stille
Schläft Gewitterleidenſchaft.
Durch die heiße Mittagswelt,
Kaum noch ſpürbar, läuft ein Schauer
Langſam wächſt die Wolkenmauer
Steil hinauf am Himmelsgzelt.
AD
350 | Fgroſt: Frauenpflchten
Frauenpflichten
Von Laura Froſt
iele Frauen gibt es, die in dieſer großen, ſchweren Zeit nicht teilneh-
men können an der wichtigen vaterländiſchen Arbeit, die auf den
2 verſchiedenſten Gebieten draußen gefordert wird. Ihr eigenes Haus
weſen, ihre Kinder, Perſonen, denen ſie ſich verpflichtet haben, oder
is Alter und Kränklichkeit halten ſie zurück. Sie ſind traurig darüber. Denn
ſie ſehen das innere Glück, das die Betätigung der Vaterlandsliebe den Helfenden
ſchafft. Auch meinen ſie, daß man ihren Patriotismus anzweifeln könnte, wenn
fie ſich da draußen nicht betätigen; faſt iſt es fo weit, daß fie ſich ihrer pflicht
treuen Zurückhaltung ſchämen.
Aber dieſe ſtillen Frauen im Haufe ſollen ſich ſagen, daß auch fie Vaterlands⸗
dienſte zu leiſten haben, daß ſie da drinnen, innerhalb ihres häuslichen Kreiſes, hohe
Werte dem Vaterland zu hüten haben. Immer hat es neben der arbeitsfrohen
Marthatätigkeit auch zarte Marieninnigkeit gegeben, eine ohne die andere ver-
mag nicht, eine ganze Aufgabe zu löſen.
Wo die Frauen und Töchter aus den Häuſern gegangen find, da fehlen fie.
Die Wärme, die das Haus verläßt, vermag nicht mehr, drinnen im Haufe zu wärmen;
es wird kalt, wenn die Frau nicht mehr das heilige Feuer des Herdes hütet. Draußen
wird geholfen, und drinnen herrſcht manchmal der Mangel. Nicht vielleicht an mate-
riellen Werten, aber an ſeeliſchen, an weiblicher Wärme und Herzensfreundlichkeit.
Wenn aber Oeutſchland ſich erneuern ſoll, wenn vieles anders und beſſer
werden ſoll, wenn vor allem die junge Generation gut erzogen werden ſoll, und
wenn nach den Schrecken des Krieges wieder Frohſinn und Lebensfreude in die
wunden Herzen einziehen foll, fo brauchen wir dazu die Frauen mit ihrer Tätig-
keit im Rahmen der Familie. „Vom Hauswefen“, jagt Jahn, „geht jede wahre,
beſtändige und echte Volksgröße aus; der Hochaltar unſeres Volkstums ſteht im
Tempel der Häuslichkeit.“
Schwieriger als je, ſolange wir leben, iſt die Wirtſchaftsfüh rung. Zwar
hören wir, daß es vor hundert Jahren noch ſchwieriger damit war; allein damals
war das deutſche Volk an eine einfachere Lebensart gewöhnt, während es jetzt
in allen Klaſſen und Ständen in wirtſchaftlichem Überfluß lebte. Hier gilt es
alſo zunächſt, die Intelligenz der Hausfrau für die Lebensmittelfrage anzurufen.
Es läßt ſich heute nicht Einkauf und Verarbeitung der Lebensmittel nach dem
Stand der Wirtſchaftskaſſe oder der freiliegenden Arbeitskraft beſtimmen. Son-
dern man muß kaufen, was zu haben iſt, und muß auf das andere verzichten. Die
Tüchtigkeit und Klugheit der Hausfrau zeigt fi in der Art, wie fie ſich damit ab-
findet. Wenn es ihr gelingt, mit den vorhandenen Lebensmitteln eine gute Ver⸗
pflegung in ihrem Haufe zu leiſten, fo wird ſich eine rechte Befriedigung darüber
in ihr einſtellen. Jedes Überwinden von Schwierigkeiten macht Freude. Und
dieſe Freude wirkt auf ihre Umgebung. zſt die Hausfrau zufrieden und heiter,
ſo u es die ganze Familie. „In dem Auge der Hausfrau liegt Segen oder Fluch.“
Froſt: Frauenpflichten | 351
Dieſer Einfluß geht weiter. Er erſtreckt ſich auf den ganzen Verkehr der
Hausfrau. Wie er ihre bekannten Frauen zu gleichem fröhlich ſtolzen Tun an-
regt, ſo daß ſie ſich ihrer materiellen Kleinlichkeit wegen ſchämen, ſo hilft er vor
allem in den Volkskreiſen, die, rühmliche Ausnahmen abgerechnet, weniger ver⸗
ſtändnisvoll der knappen Zeit gegenüberſtehen. Wie kann da die Hausfrau auf-
klärend wirken! Wenn ſie zum Beiſpiel die Frau, die ihr klagt, ihr Mann müſſe
Butter und Wurſt auf dem Brot haben, wenn er von der Arbeit kommt, — wenn
fie dieſe Frau fragt, ob fie meine, daß die oſtpreußiſchen Männer das auch ver-
langt hätten, als die Feinde mordend und verwüſtend ihre Provinz durchzogen,
da wird jede einigermaßen verſtändige Frau das Törichte ihrer Forderung ein-
ſehen. Sie wird Gott danken, daß das ſo viel Wichtigere, ihr Haus und ihr Herd,
noch in Sicherheit iſt, und mit warmem Dank wird ſie an unſere Feldgrauen
denken, die unſere Grenzen ſchützen.
Dieſen Dank in die rechten Bahnen zu lenken, iſt eine weitere wichtige Auf-
gabe der Hausfrau. Sie muß dafür ſorgen, daß unter keinen Umftänden Klage-
briefe ins Feld geſchrieben werden, die unfere tapfern Krieger beunruhigen könn-
ten. In der Liller Kriegszeitung ſtand folgendes kleine Gedicht:
Wir halten die Waffe noch ſtark in der Hand,
ö Wachen getreulich fürs Vaterland,
Kämpfen für Deutſchlands Ehr':
Macht uns das Herz nicht ſchwer!
Fit auch das Brot dort ein bißchen knapp,
Bekommt doch wohl jeder noch etwas ab;
Und bald gibt's ja auch wieder mehr.
Macht uns das Herz nicht ſchwer!
N Uns iſt der Mut noch ganz ungetrübt,
Wenn wir nur wiſſen, daß ihr uns noch liebt.
Alſo wir bitten ſehr:
Macht uns das Herz nicht ſchwer!
Auch noch in anderer Weiſe hat ſie unſern Helden in der Sion zu danken.
Die Kindererziehung liegt heute ganz in der Hand der Frauen, und es be-
darf mehr denn je zuvor ihrer aufmerkſamen Sorge, ſie richtig zu führen. Es gilt,
die Kinder, die ebenfalls unter der Uppigkeit gelitten haben, zu einfachen Gewohn-
heiten und zur Anſpruchsloſigkeit auf materiellem Gebiet zurückzuleiten. Es gilt,
ſie zu deutſchen Kindern zu erziehen, ſie deutſch denken und fühlen zu lehren.
Deutſch fein heißt einfach und ehrlich und pflichttreu fein, heißt Oeutſchland, unſere
Heimat, lieben „über alles in der Welt“.
Wenn unſere tapfern Krieger einſt heimkehren, dann ſoll nicht nur die Frau
ihren Gatten mit ihrem wohlgeordneten Hausweſen empfangen, ſondern auch
die Kinder ſollen dem Vater geſittet und gut erzogen entgegentreten und ſollen
dabei helfen, ihm nach der wilden Schwere des Krieges das häusliche Leben dop-
pelt behaglich zu machen.
Hauswirtſchaft und Kindererziehung! Piefe weiten Gebiete mit
ihrem Reichtum von Sorgen und Freuden ſind die patriotiſche Pflicht der Frau,
352 Grotthuß: Das Straußlein aus Moos
die fie im Haufe zum Segen der Gegenwart und der kommenden Generation er-
füllen ſoll. Die Frau, die mit Freude ſich dieſer Arbeit widmet, wird auch im
weitern Kreiſe herzerquickend wirken. Das freundliche Antlitz, das in Küche und
Kinderſtube herrſcht, wird jedem entgegenleuchten, der ihr Haus betritt; auch
denen, die mit ſchwerem, kummerbeladenem Herzen zu ihr kommen. Ihre Herzens-
freundlichkeit wird alles verſtehen, ohne viel zu fragen; ſie weiß in der rechten Art
zu tröſten und aufzurichten, ſie weiß auch gute Ausblicke zu zeigen und wieder
froh zu machen. Wir müſſen warme Herzen im Innern des Hauſes haben, wenn
die Lebensfreude in unſerer ernſten Zeit nicht erſterben ſoll; wir brauchen herzens⸗
freundliche Hausfrauen, die auch im tiefen Dunkel noch den Lichtesfunken zu
ſchauen vermögen und tröſtend darauf hinweiſen. Die ſittliche Erneuerung unfe-
res Volkes kommt nicht von außen, ſie muß von innen kommen, muß im Hauſe
gepflegt werden und von dort aus ſich verbreiten. Immer, in den Tagen des
ſittlichen Untergangs wie in denen der Erhebung, find es die Frauen und die
Mütter geweſen, auf denen die Schuld und auf denen die Hoffnung ruhte.
Draußen iſt Krieg, aber in unſern Häuſern ſoll guter Friede fein. Kriegs-
dienſt iſt zu leiſten draußen und drinnen. Wer das erſte nicht kann, ſoll das zweite
tun im vollen Bewußtſein, daß er damit ebenſo ſeine patriotiſche Pflicht erfüllt.
„An den grauen Tagen des Lebens“, ſagt Karl Weinhold in ſeinem Buche
„Die deutſchen Frauen im Mittelalter“, „iſt das treue, tiefe Auge der Frau der
Troſt und die Zuflucht des Mannes. Und wenn über die Völker der eiſerne Wagen
der Geſchichte rollt und die feſten Burgen ſtürzen, dann hoffen die gebeugten
Männer auf die Frauen, die Erzieherinnen der kommenden SGeſchlechter.“
RP SE
LERSTEIER
88
Das Sträußlein aus Moos
Von 3. E. Freiherrn von Grotthuß
Wohl manchen Tag ſah ich entgleiten,
Vergeſſen war das Sträußlein Lang,
Gekränkt in trotzigem Beginnen,
Das junge Auge tränenvoll,
Ging ich zum Wald mit düftren Sinnen,
Wo manche Träne niederquoll.
Gar kindiſch war mein banges Grämen,
Doch ſchien mein Herz mir ſchwer gekränkt;
Faſt wollt’ ich gar ſchon Abſchied nehmen,
So tief hatt“ ich mein Haupt geſenkt.
Und zur Erinn' rung dieſer Stunde
Band ich ein Sträußlein mir aus Moos,
Das ich im weichen Waldesgrunde
Entrig dem kühlen Mutterſchoß. — — —
Als heut“ das Bild aus jenen Zeiten
Mir wieder vor die Seele drang.
3h fand das Sträußlein heute wieder
Und ſah es lange, lange an,
Bis von der Wange ſtill hernieder
Mir mancher heiße Tropfen rann.
Ein trockner Strauß aus dürrem Mooſe — —
Und alles, alles iſt verhallt!
Meint’ ich doch noch in deinem Schoße,
Ou grüner, tiefer Zugendwald !
u
— —
SB
174
at?
ine ſehr nützliche Betrachtung ſtellt Prof. Dr. Hans Frhr. von Liebig, der mutige
und verdienſtvolle Enthüller und Bekämpfer des „B. H. Syſtems“, in der „Deut-
ſchen Zeitung“ an. Die Wahrheit, die er hexausſchält, iſt jo nüchtern, fo hausbacken,
daß man annehmen müßte, fie brauchte nicht erſt ausgeſprochenz geſchweige denn bewieſen
zu werden. Aber darin liegt ja gerade die Moral (oder der Humor) von der Geſchichte.
Ein Naturwiſſenſchaftler, ſchreibt Frhr. von Liebig, der alle halbe Jahre eine neue An-
ſchauung verficht, die im nächſten halben Jahre wieder widerlegt iſt, iſt eine unmögliche und
lächerliche Erſcheinung; Kräfte dieſer Veranlagung beſchränken ſich, wenn ſie es zu einer ordent⸗
lichen Profeſſur gebracht haben, auf die Erfüllung ihres Lehramts und haben in der Öffentlih-
keit keine eigene Anſchauung. Politiſierende Geſchichtsprofeſſoren aber, die viele
Jahrzehnte lang Vorausſagen aufſtellen, von denen unfehlbar das Gegenteil eintrifft,
und Anſichten entwickeln, die ſich mit unbedingter Sicherheit ein halbes Jahr ſpäter als
falſch erweiſen, können wenigſtens in Deutſchland ohne Schwierig keiten Geheimrat werden,
verbreitete Monatshefte leiten und ſich ſtändig hohen und höchſten Anſehens erfreuen, weil
man ihnen die theoretiſche Möglichkeit ihrer Anſichten nicht geſetzmäßig widerlegen kann. Aus
den verſchiedenen Geltungsbereichen ergibt ſich für den nicht fachlich Gebildeten eine verſchiedene
Stellung. Die wichtigſten Grundlagen der verſchiedenen Geiſteswiſſenſchaften ſind in jedem
menſchlichen. Einzelleben vorhanden. Einem klugen erfahrenen Arbeiter, der nicht mehr als
vier Volksſchulklaſſen durchlaufen hat, wird ein guter Lehrer in kurzer Zeit klarzumachen
verſtehen, warum dieſe oder jene Verwaltungsmaßregel getroffen wurde, weshalb ein Geſetz
dieſe oder jene Faſſung erhalten hat, worauf letzten Endes eine ſittliche Forderung beruht,
warum ihm das eine Gemälde beſſer gefällt als das andere. Ein Ladenmädchen windet viel-
leicht geſchmackvollere Strauße als eine ͤſthetiſch gebildete junge Dame der Geſellſchaft, und
die Philoſophie eines alten Bauern iſt unter Umſtänden mehr wert als die des Bhilofophie-
geheimrats von der nächſten Hochſchule. Die Erkenntnisgrundlagen und Richtlinien für die
Tätigkeit. des Bauernbürgermeiſters eines kleinen Dorfes unterſcheiden ſich nicht weſentlich
von denen des Kanzlers eines großen Reiches, und es waren ſchon Lagen in der Geſchichte da,
in denen der Tauſch zwiſchen einem geſcheiten Dorfbürgermeifter und einem von der Pike auf
gedienten Kanzler dem Reich ur zum Vorteil geraten wäre
geder Bauer weiß in Bälde, ob der Landrat viel oder wenig taugt; der Städter kritiſiert
an feinem Bürgermeiſter herum; in der Runftausftellung werden ſelten aus freier Wahl häß⸗
liche Sachen gekauft, auch in Dorf und Kleinbürgerwohnungen find die mannigfaltigen Ge-
ſchmackloſigkeiten nicht durch freie Wahl hineingekommen, ſondern durch Händler eufgeihmäst
Der Türmer XX, 20
354 Urteilsfähigteit Über auswärtige Polit
oder durch Ausſchaltung des Wertvolleren aus den Läden aufgezwungen worden. Der Laie
unterſcheidet zwiſchen guten Predigern und ſchlechten, zwiſchen guten Schauſpielern und den
mittelmäßigen, zwiſchen ſeichten Philoſophen und Denkern, zwiſchen ſachlichen Richtern und
Buchſtabenrichtern; er urteilt über den Geſchichtsforſcher und den Sprachgelehrten, den Rechte
gelehrten und den Kunſthiſtoriker, den Nationalökonomen und den Literaturprofeſſor; nur
auf einem Gebiet traut ſich der Deutſche kein Urteil zu, und dieſe Ausnahme iſt um fo merk⸗
würdiger, als ſie ſich auf ſein Volk beſchränkt: auf dem Gebiet der auswärtigen Politik.
Wenn einen Engländer oder Franzoſen oder Ruſſen oder Oeutſchen alle Schuhe drücken,
die ihm ein beſtimmter Schuſter liefert, dann ſchließt er daraus, auch wenn er ſelbſt keine Schuhe
machen kann, auf einen ſchlechten Schuſter und geht zu einem andern. Wenn aber den Oeutſchen
ſeine Staatsmänner auf auswärtigem Gebiet von einer üblen Lage in die andere bringen,
dann zieht er daraus nicht den Schluß auf die Unfähigkeit ſeiner Staatsmänner, ſondern auf
feine eigene Unfähigkeit, die Dinge richtig beurteilen zu können. Er rechnet die auswärtige
Politik des Staates nicht wie der Bürger jedes anderen Staates zu den Gebieten, auf denen ihm
kraft feines gefunden Menſchenverſtandes und feiner Lebenserfahrungen ein gewiſſes Urteil
zuſteht, ſondern er reiht fie jenen Fächern ein, in denen erſt jahrelanges Einarbeiten zum Mit-
urteil befähigt. Die „Akten“, der „Aberblick“, die „Beziehungen“ ſcheinen ihm ebenſo außer-
ordentliche Dinge zu fein wie etwa die ſonderbaren Gerätſchaften in einem chemiſchen Labora-
torium, das geheimnis volle Drahtgewirr in einer elektro-phyſikaliſchen Verſuchsſtätte, die ver-
zwickten Formeln einer mathematiſchen Doktorarbeit. In Wirklichkeit beſteht aber zwiſchen den
Beziehungen einzelner Familien der Völkerfamilien untereinander und den Beziehungen
einzelner Familien zur Umwelt kein Weſensunterſchied; jede im Erwerbsleben oder ſonſt tätige
Familie hat ihre Freunde und Feinde, ihre Bundesgenoſſen und Widerſacher, ihre Sorgen um
Nahrung, Kleidung, Bildung und Erziehung; auch die Wege, auf denen die verſchiedenen
Schwierigkeiten überwunden werden können, ſind im weſentlichen im Staatsleben nur eine
Übertragung alltäglicher Lebenserfahrungen ins Große.
Das deutſche Volk erringt in dieſem Weltkriege militäriſch die Erfolge, die feinen un
geheuren Leiſtungen entſprechen. Politiſch hat es Glück und immer wieder Glück, gegen alles
Verdienſt und Gerechtigkeit. Den politiſchen Leiſtungen nach müßten unſere Gegner ſchon
längſt Herr über uns geworden ſein und uns den von ſo vielen und maßgebenden Leuten in
Deutſchland angeſtrebten Hungerfrieden gebracht haben. Zu dieſen Glücksfällen ſind auch
die zahlreichen und eindringlichen Lernmög lichkeiten zu zählen, mit denen der Krieg unſer
Volk beſchenkt; nie wurde einem politiſch unreifen und des Unterrichts bedürftigen Volke vom
Schickſal praktiſches Unterrichtsmaterial in fo reichem Maße unterbreitet, wie dem deutſchen
in dieſem Weltkrieg, der ihm auf jeden Irrtum hin faſt unmittelbar darauf die Widerlegung
dieſes Irrtums vor Augen führte. Die Feinde haben uns ſchon mit der Veröffentlichung ver-
ſchiedener geheimer Akten ihrer und unſerer Regierungen einen großen Gefallen getan; es
iſt auch ein hocheinzuſchätzendes Verdienſt des Fürſten Lichnowſky, durch feine Denkſchrift
dem deutſchen Volke einmal einen Einblick gewährt zu haben in das Getriebe jener Stellen,
vor deren Türen die Kritik des guten deutſchen Staatsbürgers in ehrfurchtsvollem Schauer
einzuhalten pflegte. Verhilft die Denkſchrift ihm zur Einſicht, wie bar jeder Geheimwiſſen⸗
ſchaft die Kunſt des Diplomaten iſt, wieviel wichtiger auch bei dieſer Kunſt natürliche Be-
gabung, geſunder Menſchenverſtand und ein gewiſſes Gefühl für das Richtige iſt als erlernte
Schulweisheiten, Kunſtgriffe und Aktenkenntniſſe, dann hat damit Fürſt Lichnowſky viele
&
jeiner Sünden wieder gutgemacht.
Griechenland im Weltkrieg | | 355
| Griechenland im Weltkrieg
N .
ei Ausbruch diefes Krieges war Griechenland in einem großartigen allgemeinen
75 Aa Aufſtieg begriffen. Das innerpolitiihe Leben nahm einen normalen Verlauf,
2 2 die Finanzen fingen an, ſich zu feſtigen, eine Zufriedenheit beruhigte die Ge-
miker, und Werke des Friedens wurden geplant. Mitten in dieſer Sammlungsarbeit kam
der Weltkrieg und raubte dem Lande die Ruhe. Ja, er raubte ihm ſogar das Recht, als freier
Staat zu leben, zu denken und zu handeln.
Es iſt zwecklos, über das Maß der Schuld dieſer oder jener Männer der leitenden grie-
chiſchen Kreiſe Erörterungen anſtellen zu wollen. Vielmehr iſt Griechenlands Verhängnis
in dieſem Kriege auf ſeine geopolitiſche Lage zurückzuführen, welche Griechenland zum natür-
lichen Bollwerk Engliſch-Agyptens und der britiſchen Zwingburgen im Mittelmeer macht.
Dazu kommt noch die für engliſches Empfinden und engliſche Berechnungen unliebſame Eigen-
ſchaft der Griechen, ein ſeefahrendes Handelsvolk zu ſein (im Jahre 1915 zählte die griechiſche
Handelsflotte 495 Dampfer mit 900000 Tonnen netto) ſowie der Umſtand, daß Griechenland
allein, ohne jede Hilfe daſtand. Die wahren Gründe der Expedition nach Saloniki hat
der engliſche Miniſter Bonar Law Anfang März 1918 im Unterhaus wie folgt angegeben:
„ .. Jedenfalls ſei der Nutzen, den die Entente aus dem Salonikiunternehmen
gezogen habe, offenſichtlich. Wenn die Armee nicht dort geweſen wäre, würde
ganz Griechenland zu einem Waffenplatz DOeutſchlands geworden fein, und alle
griechiſchen Häfen wären Unterſeebootsſtützpunkte geworden, wodurch die Lage
zur See nach dem Urteil von Fachleuten geradezu unerträglich geworden ſein
würde. Za die ganze Verbindung Englands mit dem Oſten wäre dadurch in Frage
geftellt worden.“ Nun wiſſen die Griechen (aber auch die Oeutſchen), wofür fie in den Krieg
mußten. — England würde ſich nicht geſcheut haben, mit Holland und den ſkandinaviſchen
Staaten in gleicher Weiſe zu verfahren; dort lagen aber die Machtverhältniſſe anders.
Es ift für den Feſtländer nicht immer leicht, die verſchnörkelten Gedankengänge briti-
ſcher Regierungen zu durchſchauen. Der engliſchen Politik ſteht eine dreihundertjährige Nou-
tine zur Seite. Im engliſchen Gehirn haben ſich mit der Zeit Zellen und Windungen aus-
gebildet, die der Feſtlandbewohner nicht hat. Die bald hundertjährige Leidensgeſchichte Neu-
griechenlands iſt im Grunde doch nur die lehrhafte Geſchichte engliſcher Ausbeutungs- und
Anterjochungspolitik, welche unter dem Deckmantel traditioneller Wohltaten bis zum heutigen
Tage planmäßig durchgeführt wird. Mit dem Verkauf der unglücklichen griechiſchen Stadt
Parga an eine Beſtie, den Ali-Paſcha von Janina (im Jahre 1819) gegen klingendes Gold
(150000 Pfd. St.) hat die engliſche Ausbeutung angefangen, mit den Erpreſſungen und den
Blockaden wurde fie fortgeſetzt, mit der Desorganiſierung der Kriegsflotte machte fie ſich be⸗
liebt, mit der Vertreibung König Ronftantins klomm fie zur Höhe.
*
Im Januar 1915 hat England erſtmalig und zwei Monate ſpäter zum zweiten Male
die griechiſche Regierung erſucht, in dem europäiſchen Konflikt Farbe zu bekennen. Die eng-
liſche Forderung, begleitet von der eigenmächtigen Beſetzung der der Meerenge vorgelagerten
griechiſchen Inſeln, ging dahin, Griechenland zu veranlaſſen, ſein Landheer für die Operatio-
nen der Verbündeten gegen die Dardanellen zur Verfügung zu ſtellen, wofür, nach glück-
licher Beendigung des Krieges, ein ſüdlicher Teil Kleinaſiens mit Smyrna und Aivali bis
zur Bucht von Adramit an Griechenland als Belohnung fallen ſollte. Venizelos, der einzige
von allen griechiſchen Staatsmännern, ſcheint damals ſchon den engliſchen Lockrufen
in allem Ernſt gefolgt zu fein, wurde aber rechtzeitig durch König Konſtantin von der Regie-
rung entfernt. Die erregten inneren Auseinanderſetzungen darzulegen, würde hier zu weit
356 Griechenland im Wellerleg
führen. Die Gelegenheit ſchien Venizelos für Griechenland einzig, mit Hilfe der Weſtmächte
in Konſtantinopel, der Stadt der Sehnſucht aller Griechen, einzuziehen, denn er traute ſich
ſchon zu, die Rivalitäten unter den Verbündeten, ganz beſonders zwiſchen Rußland und Eng⸗
land, zugunſten Griechenlands auszunützen. An dem engliſchen Sieg hat Venizelag natur
lich nie gezweifelt, denn von Zugend auf war er ein begeiſterter England freund und han in
allem Wandel der Zeiten an feinen Sympathien und feinen Ideen feſtgehalten. Ehn um
ſo mehr an den Sieg Englands und der Ententemächte geglaubt, als ihm Deutſchland und
die deutſche Welt unbekannt ſind. Er träumte von Anfang an, mit der Niederwerfung der
Zentralmächte, von der Zerſtückelung der Türkei und ſomit von der Befreiung des dort leben;
den Griechentums. König Konſtantin hat Venizelos richtig gekennzeichnet, als er von ihm
ſagte: er würde kein kurzſichtiger Staatsmann ſein, wenn er nicht ſo weitſichtig wäre. Von
ſeinen Träumereien eingenommen, in feiner Englandbewunderung befangen, durch die ſchmei⸗
chelnden Worte, die man ihm von London und Paris ſpendete, umnebelt, überſah er die
großen Nachteile, die ein Sieg der Entente dem griechiſchen Volke bringen mußte. Es iſt da-
gegen jedem klar geworden, daß die Siege Deutſchlands und Oſterreichs die Balkanvölker
vom ruſſiſchen Drucke befreit haben.
Vor Jahresfriſt ſchrieb ich in meiner Schrift „Europas Frieden“: „Das heutige
Griechenland iſt ein attiſch-makedoniſcher Staat. Nur auf der Balkanhalbinſel ſelbſt,
wo Neu-Griechenland bezeichnenderweiſe zuerſt als freier Staat entſtanden iſt, kann ein weite;
rer Machtzuwachs für das Königreich und das Griechentum überhaupt möglich fein.“
So viel hat aber England über griechiſche Intereſſen nicht nachgedacht. Es hat nur da-
für geſorgt, feine Verbindung mit dem Oſten aufrechtzuffkhalten und dabei ein ſeefahrendes
Handelsvolk mitſamt feinen Schiffen feſt in die Hand zu bekommen. Seit Cromwells Zeit
find alle Engländer darüber einig, daß außer England kein anderer Staat Schiffe haben dürfte.
Nachdem England eine znſel nach der anderen beſetzt und die griechiſche Küͤſte blockiert,
hat es Ende Zuli 1915 plötzlich und ohne Grund die große Inſel Mytilene beſetzt. Anfang
Oktober 1915 fing es an, mit Frankreich zuſammen in Saloniki zu landen, und Anfang Januar
1916 ließ es durch Frankreich Korfu beſetzen. Der Appetit kam beim Eſſen, und fo wurde zu-
letzt faſt das ganze Königreich beſetzt. Gegen Mitte Februar 1916 ließ es die Blockade ver-
ſchärfen und zog eine Sperrlinie von Schlachtſchiffen von Korfu, bis zur Bucht von Kavalla
hin. Trotz aller dieſer Drangſalierungen hielt ganz Griechenland. treu zum König. Im Sommer
1916 iſt das Land König Konſtantins erbarmungslos gepeinigt worden. Eine Forderung
reihte ſich an die andere, und ein Oruck folgte dem anderen. Ein Zugeſtändnis nach dem ande;
ren wurde dem König Konſtantin und ſeinen Regierungen durch Drohungen, durch Blockaden
und allerhand Gewaltakte abgezwungen, wobei die Franzoſen ſich vorſchieben ließen. Schließ
lich wurde auch die griechiſche Hauptſtadt beſetzt.
Wenn man das alles überdenkt, erſcheinen Englands Abſichten ſehr durchſichtig. Nach
dem im Oezember 1915 der Zuſammenbruch der Dardanellenexpedition und Serbiens voll;
ſtändig geworden war, erwärmte man ſich in England immer mehr für den Plan, das auf-
kommende Griechenland zu erdroſſeln. Die Griechen ſind ja, wie geſagt, auch ein ſeefahrendes
Handelsvolk. Und zu dem Zweck mußte zunächſt das griechiſche Staatsweſen planmäßig zer-
ſtört werden. Wie bei der Beſiedelung Nordamerikas und beim Suezkanal, ſo hatten auch
hier die Franzoſen den Vortritt. Wie England aus Hannover und ſpäter aus Belgien den feil-
ländiſchen Brückenkopf für die britiſche Inſel gemacht hatte, ſo trachtet es jetzt danach, aus
Griechenland den europäiſchen Brückenkopf zur Verteidigung Agyptens und der erſehnten
Land verbindung mit Indien zu machen (vgl. unſere Schrift „Europas Frieden“, S. 90 [1917).
Aus dieſem Gedankengang wird die zähe und eee Aufrechterhaltung der makedoniſchen
Front verſtändlich.
*
die Wolga deutſchen und das ahnungeloſe Oeutſchland 357
Die Befreiung Griechenlands von ſeinem Peiniger iſt mit dem Ausgang des Kampfes
in Flandern verknüpft. Wenn England den Sieg haben könnte, wäre es um Griechenland
geſchehen. Gleich Portugal würde es in engliſcher Abhängigkeit ein kümmerliches, königloſes
Dajein führen. Es wird aber anders kommen, denn Englands Niederlage rückt mit jedem
Monat näher. Der deutſche Sieg iſt eine Notwendigkeit unſeres Jahrhunderts. (Näheres
darüber in unſerer Broſchüre „Deutſchlands Sieg“ [1915].) Er muß und wird vollſtändig
ſein, weil er die Welt von engliſcher Begehrlichkeit und engliſcher Willkür erlöſen ſoll.
Wenn nun der Tag des Friedens kommt, haben die Mittelmächte ein lohnendes Werk
zu vollbringen, indem ſie ſich mit Intereſſe und Wohlwollen des griechiſchen Volkes annehmen.
Politiſche Fragen ſind ja an allen Orten und zu allen Zeiten Machtfragen. Niemand wird
aber füglich in Abrede ſtellen, daß der Fall Griechenlands auch zu rein menſchlichen Erwägun-
gen Anlaß bietet. Das Schickſal hat es gefügt, daß König Konſtantin mit den Interefjen ſeines
Landes auch das ZIntereſſe Deutſchlands verfechten mußte. Den deutſchen Sieg hat er herbei-
geſehnt, weil er ihm in erſter Linie als die Rettung Griechenlands erſchien. Mit dieſer Über-
zeugung hat der König drei Jahre lang im Kampfe gegen die Entente geſtanden. König Kon-
ſtantin muß nicht nur amtlich, auf Grund geſchloſſener Verträge, ſondern im Triumph unter
donnerndem Jubel der Völker Europas in fein Land zurückkehren, und zwar in das ſelbe Land,
welches er ſelbſt bei den ſiegreichen Balkankriegen durch Befreiung griechiſcher Gebiete ſich
geſchaffen hat; wozu natürlich nicht nur die von den Zentralmächten und Bulgarien provifo-
riſch und unter Garantie des Zurückziehens beſetzten griechiſchen Gebiete (Rawalla, Drama,
Serres ufw.), ſondern auch die von den Stalienern beſetzten Hodekaniſſen und Nordepirus
(einfchließlih Valonaf ſelbſtverſtändlich gehören. Dann wird Englands Niederlage beſiegelt
und Deutſchlands Sieg ein Sieg des Rechtes ſein. Dr. A. Poulimenos
2
Die Wolga⸗Deutſchen und das ahnungsloſe
Deutſchland s
Auf Einladung des Unabhängigen Ausſchuſſes für einen Deutſchen Frieden hielt der
Auslandsdeutſche Paſtor Schleuning am 12. Juni im Preußiſchen Abgeordneten
d 3 hauſe einen Vortrag über das Schickſal und die Hoffnungen der deutſchen Koloniſten
an der Wolga, der weiteſter Beachtung nicht dringend genug empfohlen werden
kann. Daß Oeutſchland erbärmlich wenig von feinen Auslandskindern weiß, ſich wenig oder
gar nicht um fie bekümmert, fie kaum noch als Deutſche angeſehen hat, — dieſe bitter beſchämende
Tatſache hat auch der Vortragende erfahren müſſen: Verſunken und vergeſſen, kann man faſt
ſagen, ſind diejenigen vom Mutterlande, die hinausgezogen ſind in die Fremde; verſunken und
vergeſſen auch das große Wunderland, wo 700000 deutſche Bauern wohnen an den
beiden Ufern der Wolga. Katharinenſtadt, das Zentrum der Oeutſchen, iſt ein deutſches
Dorf von ungefähr 17000 Seelen, mit einer Oberrealſchule, einem deutſchen Lehrerſeminar,
einer höheren Töchterſchule und verſchiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen. Reden wir jemand
auf der Straße an, fo hören wir einen unverfälſchten deutſchen Dialekt, wie er vor 150 Zahren
im Mutterlande geſprochen wurde, ſogar noch mit ſächſiſchem und bayeriſchem Ton.
Vor 150 Jahren war dieſe Gegend noch eine Wildnis, von Räuberhorden durchzogen,
das Land der Tataren und Nomaden. Die Kaiſerin Katharina II. hatte den weitſchauenden
Gedanken gefaßt, in dieſer öden Gegend deutſche Koloniſten anzuſiedeln, einmal um Kultur-
land zu ſchaffen, dann aber auch einen Schutzwall gegen Often zu bekommen. Den Anſiedlern
wurde Freiland verſprochen, dann Steuerfreiheit für die erſte Zeit, weiter ſelbſtändige Ver-
358 Die Wolga-Deutſchen und das ahnungsloſe Seutſchland
waltung, Freiheit des Gewiſſens, der Religion und des Volkstums, freie Entwicklung, dann
vor allen Dingen, was beſonders verlockend war, ewige Freiheit vom Wilitärdienſt. Aus der
öden Gegend wurde ein fruchtbares Land, das nicht nur ſeine Bewohner ernährt, ſondern auch
noch weite Strecken mit Weizen verſorgen kann. Der ſchwerſte Kampf richtete ſich indeſſen
gegen die ruſſiſche Regierung. Man hatte ſich die Nationalität gewahrt. Die verſprochene
Selbſtverwaltung blieb größtenteils unerfüllt, die Verbindung mit dem Mutterlande war
unterbrochen, das Lehrperſonal für die Kinder wurde ſchlechter, und die verſprochene Rüd-
wanderungsmöglichkeit wurde illuſoriſch.
Als der Krieg ausbrach, begannen die furchtbarſten Qualen und Verfolgungen,
obgleich die deutſchen Koloniſten treu ihre Pflicht dem neuen Heimatlande erfüllten und die
beſten Steuerzahler waren. Sie waren ſich, wenn auch ſchweren Herzens, doch ſtets ihrer
Pflicht voll bewußt; ſie folgten dem Rufe des Staates; die Liebe dieſes Volksſtammes hatte
man ſich nicht zu wahren gewußt, die deutſche Sprache zu gebrauchen, wurde ihnen verboten,
dennoch wurde fie gepflegt. Das war ein Kampf, wie ihn einſt Rüdiger kämpfte zwiſchen
Pflicht und Liebe, denn die Liebe war erwacht in den Herzen auch des einfachen
Bauern. — Dies führte auch ſehr bald dahin, daß die Wolg adeutſchen nicht mehr an
der ruſſiſchen Veſtfront eingeſtellt wurden, ſondern in den Kaukaſus kamen, wo ſie
in bitterer Kälte ſchutzlos hingeopfert wurden; ſie ſollten vernichtet werden.
Die daheim gebliebenen Deutſchen wurden vom Schwerſten nicht verſchont: die Ent⸗
eignung ſetzte ein. Die meiſten mußten nach Sibirien wandern, ein Schickſal, von dem uns erſt
die Revolution befreite. Das Deutſchtum wurde uns wiedergegeben, wir durften wieder deutſch
ſprechen. Ein deutſcher Kongreß trat zuſammen, und 400 Vertreter gelobten ſich den Rampf
für ihr Oeutſchtum, möge es koſten, was es wolle, ſei man auch gezwungen, ſich eine neue
Heimat zu ſuchen, das große Mutterland werde noch ein Plätzchen übrig haben. Überfälle
und Plünderungen ganzer Ortſchaften folgten, und der Blick der Koloniſten richtet ſich immer
mehr nach Oeutſchland, das ja auch im Breſter Friedensvertrage an fie gedacht hatte. Eine
Abordnung — Rebner gehörte ihr ebenfalls an — wurde bei dieſer Gelegenheit zum beutſchen
Botſchafter nach Moskau entſandt, um ihm die Klagen der Landsleute vorzutragen. Oieſer
hatte auch für das Scheickſal der dortigen 700000 Oeutſchen Zeit ... zehn Minuten! Er ver
ſprach, für ſie einzutreten, warnte aber gleich vor übertriebenen Hoffnungen. Aber
die Härten hörten alsbald auf, das Sowjet wurde ſeines Amtes enthoben und Autonomie
verheißen, ein Zeichen, daß etwas zu erreichen iſt, wenn man nur im geringſten den Hebel
in Bewegung ſetzt, aber es ſoll ein Arbeiterrat überall eingeſetzt werden.
So ein Arbeiterrat iſt aber bei den Oeutſchen ſchwer zu ſchaffen. Das gleiche, geheime,
direkte Wahlrecht iſt keineswegs das Zdeal. Es gibt viel modernere Dinge. Das ruſſiſche Wahl-
recht iſt das einzig wahre! Kein Wahlrecht befigt der, der irgendwie mit fremden Arbeitskräften
arbeitet, wer eine Dienſtmagd beſchäftigt oder auf ſonſtige Hilfsarbeiter angewieſen iſt. Nur
dieſe ſelber ſind wahlberechtigt! Auf Grund dieſes freieſten Wahlrechts kommen aber in der
Wolgagegend nur wenig Arbeiterräte zuftande, nur einige Taugenichtſe find dafür verwendbar.
Was von deren Herrſchaft zu erwarten iſt, bleibt abzuwarten.
Welches find nun die Erwartungen der Roloniften? Was erwarten fie vom deutſchen
Volke? Vor allen Dingen erwarten wir, daß man Ernſt macht mit den Bedingungen des
Breſter Friedens. Damit ift ſehr viel zu machen, Vermögen und Leben der WVolgadeutſchen
kann damit voll geſchützt werden. Die ruſſiſche Regierung macht bei energiſchem Vorgehen
keine Schwierigkeiten. Hier in Deutſchland ahnt man nicht, wie ſtark Deutfchland
eigentlich iſt! Wir Auslandsdeutſche haben dies während des Krieges erfahren, Oeutſch⸗
land weiß nicht, was es im Auslande durchzuſetzen vermag. Dann verlangen wir wirk-
lichen, ernſtlichen Schutz des Vermögens, und daß betont wird, daß die ruſſiſche Regierung
dafür verantwortlich iſt. Die deutſche Regierung muß darauf beſtehen, daß die Wolgadeutſchen
(
Die Berliner Bühnen im verflofienen Rriegswinter N 559
ihre eigene Zeitung behalten, wie ſie ihren örtlichen Verhältniſſen entſpricht. Amerika hat
einen wohlorganiſierten Preſſedienſt in Moskau, und die Amerikaner wiſſen, was
ihnen dieſer nützt. Die Wilſonſchen Reden werden in Millionen Exemplaren ver-
teilt. Diefe Arbeit trägt ihren Lohn. Von ſeiten Oeutſchlands dagegen wird nichts getan.
Dann muß den Koloniſten das Rückwanderungsrecht voll geſichert werden. Für Schule
und ſonſtige Kultur muß etwas geſchehen, Lehrer müſſen hinausgeſandt werden. Ein General-
konſulat in der Wolgagegend und Spezialbehörden müffen errichtet werden. Die Volgadeutſchen
ſchauen auf die Oſtſeeprovinzen als ihr künftiges Siedlungsland.
In Rußland zweifelt kein Menſch, auch kein noch ſo deutſchfeind licher Kadett
mehr daran, daß die Oſtſeeprovinzen endgültig Deutſchland gehören. Die Wolga-
deutſchen find entſchloſſen, für Deutjchland alles zu tun, wie fie mit zitterndem Herzen den
deutſchen Heldenkampf verfolgt haben. So erwarten fie, daß man für fie eintritt und ihre
gerechten Forderungen erfüllt und ihnen hilft. Möge der Erfolg dieſes Krieges der ſein, daß
überall, wo Oeutſche in der Welt wohnen, fie ſich ſicher unter deutſchem Schutze
fühlen. Überall, wo Engländer wohnen, wehen Englands Fahnen. Dieſer Gedanke muß
ſich auch in Deutſchland Bahn brechen.
Die Berliner Bühnen im verfloſſenen Kriegs⸗
5 winter |
| (Ruͤckblick und Summe)
IR enn man klar überblicken will, was der regierende Theaterklüngel des Rurfürften-
875 damms im letzten Fahr geleiſtet hat, muß man die geſchäftliche Situation in
Rechnung ſetzen. Von jeher jammerten die Direktoren, daß die Kaſſierer ihre
ſchönſten idealen Pläne zunichte machten. Wie gern würden ſie den großen Überlieferungen
des deutſchen Dramas dienen! Wie drängte ihr eigenes Künſtlerblut, die Leſſing, Schiller,
Goethe, Kleiſt, Hebbel, Grillparzer, Anzengruber und andere zu ſpielen! Wie beneidenswert
würde es ſie dünken, die Bühne als den Mittelpunkt der Kultur ſtrahlen zu laſſen! Aber was
ſollten ſie tun? Wie ſollte ihr Geiſt einen hohen Flug nehmen, wenn ſie ewig von dem Blei-
gewicht der geſchäftlichen Intereſſen nach unten gezogen wurden? Wie ſollten ſie Goethe
ſpielen, wenn das Publikum nun einmal mit Gewalt einen pikanten franzöſiſchen Schwank
ſehen wollte? Die Kritik ſollte doch um Gottes willen gerecht ſein und ihnen keine Vorwürfe
machen. Wären fie von den geſchäftlichen Intereſſen frei — ja, dann allerdings, dann würden
ſie ſich aber auch an deutſchem Idealismus von niemand übertreffen laſſen.
Soweit Berlin in Frage kommt, war dieſes Klagelied in den letzten Zahrzehnten von
einer unheimlichen Verlogenheit. In der Hauptſtadt lagen die Verhältniſſe fo, daß ein un-
deutſcher und antideutſcher Theaterring im Bund mit einer blutsverwandten Preſſe dem Pu-
blikum die literariſche Korruption gewaltſam aufzwang. In unſerem Türmeraufſatz „Aus der
Werkſtätte der nationalen Vernichtung“ haben wir das ausführlich dargelegt und begründet.
Weil es aber nicht wahr iſt, daß die Berliner nach all dem ausländiſchen und perverſen Kram
verlangten, den man ihnen bot, kann immer noch wahr ſein, daß das idealiſtiſche Wollen eines
Direktors vom Kaſſierer gelähmt wird. Wenn man das Publikum ſich ſelbſt überläßt, verlangt
es ſicher nicht die bühnenunmöglichen Stücke der Shaw und Wedekind, aber es verlangt viel-
leicht Moſer, Benedix, Otto Ernſt oder wie ſonſt die jeweilig populären Unterhaltungsfchrift-
ſteller heißen. An der freſſenden Theaterverderbnis, die ſeit mehr als einem Jahrzehnt von
Berlin aus die deutſche Luft verpeſtet, iſt das Publikum unſchuldig. Wahr bleibt darum aber
360 Die Berliner Bühnen im verfloffenen Kriegewinter
doch, daß die geſchäftlichen Intereſſen ein Klotz am Bein des Direktors ſein können und ſehr
oft ſind.
Die Herren wünſchen, daß wir das in Rechnung ſetzen und die geſchäftliche Situation
unferen Betrachtungen zugrunde legen. Wohlan, kommen wir ihnen entgegen! Zm ver
floſſenen Winter war in Berlin die Befreiung von der Herrſchaft des Kaſſierers
erreicht, nach der ſich die Direktoren angeblich ſo oft geſehnt haben. Der Krieg hat ſo viel Leuten
Geld in die Hände gebracht, daß es auf den Preis eines Theaterbillets nicht mehr ankommt.
Man braucht dabei gar nicht an verwerfliche Kriegswucherer und Kriegsgewinnler zu denken
und auch nicht an die Leute, die auf einem ſozuſagen legitimen Wege Millionen zuſammen-⸗
gebracht haben. Sie find zu wenig zahlreich, als daß fie den Beſuch der Berliner Bühnen de-
einfluſſen könnten. An die Mittelſchicht, glaube ich, muß man ſich halten. Tauſende und aber
Taufende kleiner Krämer, die ſonſt jede unnötige Ausgabe vermeiden mußten, haben im Krieg
für ihre Verhältniſſe ſehr viel Geld verdient und wollen nun auch das kennen lernen, was ihnen
im Frieden als ſtrahlender Lebensgenuß vorſchwebte. Die Löhne der Arbeiter find ſtark ge-
ſtiegen. Die Gehälter der Angeſtellten ſind erhöht uſw. Dazu kommt, daß ſehr viele Zuftbar-
keiten, die ſonſt ihre Anziehungskraft ausübten, verboten find. Auch ein ſolider Kneipabend
läßt ſich nicht mehr machen. Das Bier iſt zum Dünnbier herabgeſunken, und der Wein iſt un-
erſchwinglich geworden. Das Kaffeehaus aber? Ja, du lieber Gott, da gibt es eine ſchreck⸗
liche Brühe, die den Mokka, und einen fürchterlichen Kleiſter, der die Torte erſetzen ſoll. Auch
mißvergnügte Kellner gibt es da, die durch unliebenswürdige Blicke jede Stimmung vergiften.
Was bleibt alſo ſchließlich andres übrig, als ins Theater zu gehen? Fünf Mark koſtet ein Platz?
ga, was ſchadet denn das? Fünf Mark muß man ja heute ausgeben, wenn man für ſeine Fa;
milie ein paar Kohlrabi kaufen will. Unterhaltung während eines ganzen Abends iſt für 5 Mark
geradezu gefunden.
Die hier geſchilderten Umſtände haben im verfloſſenen Winter zu einem beilpiel-
loſen Andrang an den Theaterkaſſen geführt. Die Theaterdirektoren waren jeder
geſchäftlichen Sorge überhoben und konnten ſchlechthin machen, was ſie wollten.
Ob ſie Shakeſpeare oder Ludwig Fulda oder etwas anderes ſpielten: das Haus war immer voll.
Selbſt das „Berliner Tageblatt“, das jo leicht nichts ausſpricht, was dem herrſchenden undeut-
ſchen Theaterſyſtem gefährlich werden konnte, hat einräumen müſſen, daß die Direktoren zu
jouveränen Herren des Spielplans geworden ſeien. Sie beſaßen endlich die Freiheit, nach
der ſie immer geſeufzt hatten. Sie brauchten in den reichen Schatz der deutſchen Literatur
nur hineinzugreifen und konnten die ſeltenſten und prächtigſten Stüde im Licht der Aufführung
funkeln laſſen. Nie hat eine hiſtoriſche Stunde die verantwortlichen Verwalter der deutſchen
Kultur ſtärker zur nationalen Feier aufgerufen. Nie waren ſie leichter imſtande, dem Ruf
zu folgen und nie wäre es ihnen mehr von allen Guten des Volkes gedankt worden. Die Situa-
tion war ſo zwingend, wie fie eben nur in einem Weltkrieg ſein kann. Und was haben
die Berliner Direktoren getan? Haben fie uns an feſtlichen Abenden die ſchönſten Dramen
unſerer Kultur geboten? Ach nein, ſie haben mit einer Oreiſtigkeit, die in der Geſchichte unſeres
Volkes ohnegleichen iſt, das Deutſchtum ausgeſchaltet und jeden nur erdenkbaren Vor⸗
wand benutzt, um Ausländer zu ſpielen, die mit der vorliegenden hiſtoriſchen Situation nicht das
leiſeſte zu tun hatten. Und alſo haben ſie die abnorm günftige Situation für ihren Spielplan
gar nicht auszunutzen gewußt? O, doch! Das wäre zuviel geſagt. So ganz haben fie die Gunſt
der Stunde nicht vorübergehen laſſen. Sie haben uns mehrfach Stücke geboten, die in ſittlicher
oder kuͤnſtleriſcher Beziehung jo erbärmlich waren, daß fie in normalen Geſchäftszeiten aus
kapitaliſtiſchen Gründen unterblieben wären. Man hätte im Frieden aus Furcht vor dem Raf-
ſiere r ſchlechterdings nicht gewagt, den „Kuhhandel“ von Eſſig oder den „ſchwarzen Hand-
ſchuh“ von Strindberg zu ſpielen. Die brillante Konjunktur aber machte Talentloſigkeit und
Korruption ſelbſt in dieſen aufreizenden Formen zu einem riſikoloſen Unternehmen.
Die Berliner Bühnen im verfloſſenen Kriegswinter 361
Wer die Berliner Verhältniſſe nicht kennt, wird den Tatbeſtand, den mein Arteil feſtſtellt,
wahrſcheinlich entſetzlich finden. Er iſt es auch, und eine ſpätere Zeit wir dkaum glauben wollen,
daß er jemals geweſen iſt. Wie wir kopfſchüͤttelnd vor den Folterinſtrumenten der mittelalter
lichen Gerichtspflege ſtehen, weil die hiſtoriſchen Vorausſetzungen der damaligen Zeit nicht
mehr in uns lebendig ſind, werden kommende Geſchlechter mit verſtändnisloſem Grauen die
nationale Demütigung betrachten, die unſer Volk ſich bieten ließ, als es die Erde mit ſeinem
Ruhm erfüllte und zum Weltreich emporzuſteigen ſich anſchickte. Nichtsdeſtoweniger habe ich
weder übertrieben noch tendenziös gefärbt. Zum Zeugnis deſſen werde ich in den folgenden
Zeilen die Tatſachen jelber vor meinen Leſern ausbreiten, und ihre ſtumnie Sprache wird
meinem Urteil recht geben.
Mit wem fangen wir an? Nun ſelbſtverſtändlich mit Max Reinhardt. Reinhardts
Bühnen kennt im weiten Oeutſchen Reich jeder, jo wie jeder Maggis Suppen, Ötters Back-
pulver und Liebigs Fleiſchextrakt kennt. Herr Reinhardt hält ſich nicht nur ſelbſt für den führen
den Theaterdirektor Berlins, er wird auch von dem größten Teil der Preſſe dafür gehalten,
und ſo klopfen wir naturgemäß zuerſt bei ihm an, wenn wir die Leiſtungen des letzten Winters
erfragen wollen. Er gebietet über zwei Bühnen, über das „Deutſche Theater“ und die
„Rammerſpiele“. Außerdem hat er während des Krieges auch in einer Arbeiterbühne des
Oſtens, nämlich im Volkstheater am Bülowplatz, die künſtleriſchen Geſchäfte geleitet.
Fangen wir mit dem Oeutſchen Theater an. Ein flüchtiger Blick auf das Verzeichnis
der Stücke lehrt bereits, daß die unerhört günſtige geſchäftliche Situation hier zunächſt die
Tugend der Bequemlichkeit gefördert hat. Nicht weniger als vier Stücke find aus dem Spielplan
früherer Winter übernommen und einfach neu aufgewärmt worden. Da die Leiſtungen früherer
Winter für die letzte Spielzeit offenbar nicht in Frage kommen, ſcheiden wir fie aus der gegen-
wärtigen Betrachtung aus. Zu welchen neuen Taten hat ſich nun die Direktion aufgerafft?
Hier ſind ſie: Es wurden neu geſpielt Hauptmanns „Vinterballade“, Tolſtois „Macht
der Finſternis“ und Molières veralteter „Bürger als Edelmann“ mit der Muſik von
Richard Strauß. Von dieſen drei Stücken iſt „Die Macht der Finſternis“ von Reinhardts Vor-
gänger Brahm ungezählte Male geſpielt worden. Auch hier handelt es ſich einfach um eine
literariſche Aufwärmung, in der wir hoffentlich keinen Beweis geiſtiger Unternehmungsluft
erblicken ſollen, und daß Hauptmann geſpielt wurde, war keine Leiſtung, ſondern eine Selbft-
verſtänd lichkeit. Es bleibt alſo nur übrig, daß Herr Reinhardt die Muſik von Strauß als Vor-
wand nahm, um ein wertloſes Stück von Woliòre ſpielen zu können. Nicht wahr? Man
ſteht erſchüttert vor dieſer winterlichen Leiſtung eines berühmten Theaterdirektors? Und
wie ſympathiſch berührt im vierten Kriegswinter der nationale Klang dieſes dramatiſchen
Akkordes! Neben einem Franzoſen und einem Ruſſen kommt ſchließlich auch ein Oeutſcher
zu Wort. |
Vielleicht war man aber in den Rammerſpielen beſſer geſtellt? Zunächſt wurden auch
hier zwei Stücke aus alten Spielplänen aufgewärmt. Neugeſpielt wurden „Mad ame d'Ora“
des Dänen Zenfen, die „Koralle“ von Herrn Georg Raifer, „Kinder, der Freude“ von
Heren Felix Salten und „Oer ſchwarze Handſchuh“ von Strindberg. Die beiden erſten Stücke
waren Kinodramen der ſchlimmſten Sorte, die ſowohl in äſthetiſcher wie ſittlicher Beziehung
einen offenen Skandal bedeuteten. „Oer ſchwarze Handſchuh“ von Strindberg war die ohn-
mächtige Arbeit eines kranken erſchöpften Geiſtes, und in „Kinder der Freude“ wurde gefällige,
aber oberflächliche Theatermache geboten.
Und nun überſchlage man einmal im Zuſammenhang die Leiſtungen beider Bühnen
dieſes führenden Direktors! Von Goethe? Nichts! Ein neuer Schiller? Gott bewahre! Hebbel?
Nichts. Grillparzer, Grabbe, Anzengruber? Nichts. Dafür aber ein Ruſſe, ein Franzoſe, ein
Schwede, ein Däne und zwei juͤdiſche Literaten. um Gerhart Hauptmann konnte man natür-
lich nicht herum. Ich frage: wie lange noch wollen wir es hinnehmen, in unferem eigenen
362 | Die Berliner Bühnen im verfloffenen Kriegewinter
Lande als Stiefelputzer behandelt zu werden, während Franzoſen, Ruſſen, Dänen und
Schweben ironiſch lächeln? Mein Gott: wie lange noch? —
Im „Volkstheater am Bülowplatz“ treffen wir den erſten nationalen Klang dieſes
Reinhacdtſchen Winters. Hier wurde die „Hermannsſchlacht“ geſpielt. Wir find keine
Freunde des Stücks, wir halten es für eine Gelegenheitsarbeit des großen Kleiſt, an der ſein
nationaler Grimm mehr teilhatte, als feine poetiſche Genialität. Selbſtverſtändlich aber find
wir bereit, den guten nationalen Willen der Direktion anzuerkennen. Fit es aber nicht bezeich⸗
nend, daß gerade dieſe Arbeit in eine Arbeiterbühne des dunklen Oſtens gelegt wurde? Das
gleiche geſchah mit dem „Edelwild“ von Emil Gött, das man zugunſten Reinhardts hätte
buchen mũſſen, wenn er es nicht draußen im Oſten von vornherein matt geſetzt hätte. So traurig
dieſe Tatſachen aber auch ſind, auf das Reinhardtſche Syſtem werfen ſie ein helles Licht. Die beiden
großen einflußreichen Bühnen der inneren Stadt ſind vom Ausland und vom Kurfürſtendamm
mit Beſchlag belegt. Muß man ſchon, halb aus Erbarmen, einen Deutſchen ſpielen, wird er
in das dunkle Chriſtenviertel am Bülowplatz geſteckt. Was gab es ſonſt da draußen? Brei
Stücke, die aus alten Spielplänen aufgewärmt waren und die wir alſo ausſcheiden, einen
banalen Schwank von Ludwig Fulda und ein wohlgemeintes, ſchwaches Stück von Georg
Reike, der zu den Schützlingen des Berliner Tageblattes gehört, in dieſem Falle aber nach
dem Oſten verbannt werden mußte, weil ſeine Arbeit einen vaterländiſchen Ton enthielt. Im
Anfang des Kriegs war fie für die Rammerfpiele in Ausſicht genommen. Im vierten Kriegs
winter macht man mit deutſchen Stücken aber keine Umftände mehr. Immer hinaus nach
dem Bülowplatz, wo die künſtleriſche Geltung erliſcht und verhetzte Arbeitermaſſen ſich der
patriotiſchen Tendenz liebevoll annehmen werden.
Wir können das Syſtem, das in Berlin herrſcht, nicht an allen anderen Bühnen mit der
gleichen Ausführlichkeit aufdecken. Wer es in der bisherigen Darſtellung nicht erkannt hat, dem
iſt ohnehin nicht zu helfen. Wir beſchränken uns alſo von jetzt an auf eine kurze ſachliche Auf-
zählung. Herr Barnowski ſpielte am Leſſingtheater einen Ungarn, der ſich in Parſſer
Zweideutigkeiten gefiel, eine matte Arbeit des ſattſam bekannten Herrn Sternheim, die Strind⸗
berg-Trilogie „Nach Damaskus“, die „Menſchenfreunde“ von Dehmel und ein Journaliſtenſtüc
von Schnitzler. Zn Summa: ein Ungar, ein Schwede, zwei vom Kurfürſtendamm und als
deutſcher Konzeſſionsſchulze Richard Dehmel. Von den großen Werken unſeres Schrifttums:
Nichts.
Den Herren Meinhard und Bernauer hänge ich ein großes Verdienſtkreuz um: ſie haben
tatſächlich zwei begabten Deutſchen das Wort gegeben, nämlich Wilhelm Stücklen („Pie
Straße nach Steinaych“) und Bruno Frank („Die Schweſtern und der Fremde“). Diele
beiden Arbeiten bilden zuſammen mit „Oyckerpotts Erben“ (Reſidenztheater) den literariſchen
Gewinn des Winters. Was alſo an neuen Werten gebracht wurde, war deutſch — trotz der
Winkelexiſtenz, zu der man das Oeutſchtum verurteilt hat.
Das Königliche Schauſpielhaus erfreute uns durch zwei Schilleraufführungen,
von denen im beſanderen „Die Braut von Meſſina“ reinen Genuß bot. Die früher ſehr
wichtigen Schillertheater ſind von der Direktion Pategg ſo weit heruntergewirtſchaftet
worden, daß fie kaum mehr mitzählen. Die Geſellſchaft „Das junge Oeutſchland“, die
ſich in den Räumen des Oeutſchen Theaters eingerichtet hat, entpuppte ſich im Laufe des Win-
ters immer mehr als eine dramatiſche Filiale des Berliner Tageblatts, von der man im wefent-
lichen Kino-Effekte, Nervenſenſationen und Zerſetzung zu erwarten hat.
Der Reſt iſt Schweigen. Erich Schlailjer
2
Sebenktage 365
Gedenktage
(Voß — Gebhardt — Burkhardt — Gounod)
m Roſenmonat iſt Richard Voß geſtorben. Er iſt faſt ſiebenundſechzig Jahre alt
200 geworden, was ihm als Kind und Züngling keiner zugeſtanden hätte. Denn der
S oußf dem pommerſchen Landgut Neugrape Geborene war von früh an kränklich
und mußte als Zehnjähriger „wegen andauernder Kränklichkeit“ vom Gymnaſium entlaſſen
werden. Nach feinem eigenen Bericht iſt er auch andauernd kränklich geblieben, „ein menſchen⸗
ſcheues, phantaſtiſches, verträumtes Kind, welches keine Spiele kannte, keine Kameraden hatte
und von keinen Freuden wußte. Zch litt häufig heftige Schmerzen, an die ich mich jedoch nicht
nur gewöhnte, die ich ſogar liebgewann, Denn wenn meine Krankheit mich fo recht peinigte,
überkamen mich ſeltſame, mir unverſtändliche Gebilde, die mich verwirrten und zugleich ent-
züdten, Sie führten meinen Geiſt von dem Krankenbette weit fort in fremdartige Welten
voller Schönheit und Glanz ... Frühzeitig fing ich an, mir mein Leben bis in alle Einzel-
heiten umzudichten. Es waren geiſtige Morphiuminjektionen, die ich mir gab. Sie halfen
mir, meinen elenden körperlichen Zuſtand zu ertragen, jedoch der Schaden, den ſie in meinem
Organismus anrichteten, ſollte ſich über meine ganze Zugend erſtrecken.“ Ich glaube ſogar,
daß in dieſer Kindheit die Erklärung für Voſſens ganzes Leben und Schaffen liegt. Denn
der Verſuch, durch Ergreifen des landwirtſchaftlichen Berufs „an Leib und Seele geſund zu
werden“, ſchlug fehl. Dann riß ihn der Krieg von 1870 gewaltſam aus allem heraus. Es iſt
gerade in dieſer Stunde von hohem Reiz, wie Voß in feinem Erinnerungsbuch „Allerlei Er-
lebtes“ (1902) den Eindruck ſchildert, den die Kriegserklärung im damals in ſchönſter Ernteluſt
ſteckenden Thüringen weckte. „Schon am Abend ſollten die jungen Männer, die eben erſt die
Früchte des Feldes geſchnitten, Weib und Kind, Mutter und Braut verlaſſen, um mit Gott,
für König und Vaterland in den Kampf, vielleicht in den Tod zu ziehen. Halbbeladen blieben
die Wagen ſtehen, die Garben lagen zerſtreut, auf dem Acker ward es einſam. Kein Zubelruf
wurde gehört, aber auch kein Wehklagen. Eine kleine, ernſte und ſchweigende Schar zogen wir
an dem ſtrahlenden Tage durch die den Segen des Friedens tragenden Felder. Über uns jubi-
lierten die Lerchen. Und ſchon am Abend mußten ſie fort: unter der Linde vor meinem Fenſter
war der Abſchied. Als würde der alte Baum vom Jammer der Menſchheit gepackt, jo ertönte
er vom Schluchzen der Zurüdbleibenden; denn die Fortziehenden erſtickten ihre Tränen in
dem Ruf: „Vater, Bruder, wir ſchlagen die Franzoſen! Mutter, Weib, wir kommen wieder!‘
Und dann erbrauſte das Lied vom deutſchen Rhein; und es wurde zu der unendlichen Melodie
unſerer Nation. Wie ein Kirchenchor ſchwebten die Klänge hin über die Erde, die bald von
Blut dampfen ſollte. Kein Geſang war's, — es war Andacht. Und ſchon am Abend war auch
ich fort! Soldat konnte ich nicht werden; mit in den Krieg aber mußte ich. Alſo ward ich
Krankenwärter. Welche Fahrt nach Berlin, welche Ankunft! Das Herz von ganz Oeutſch-
land pochend in einem Schlag: wir kämpfen für unſer teuerſtes, heiligſtes Eigentum, das
nicht unſere Familie, das unſer Vaterland iſt! Bis zu dieſem Tage war es mir nie ſo recht
zum Bewußtſein gekommen, daß ich Preuße, daß ich Deutſcher ſei. Plötzlich fühlte ich mein
Deutfhtum in jedem Blutstropfen. Jeder meiner Blutstropfen gehörte nicht mir, ſondern
dem Vaterlande. Fur das Vaterland ſterben zu dürfen, ſchien mir wert zu fein, gelebt zu haben.
Der Herzſchlag unferer Nation in jenen herrlichen, jenen gewaltigen Tagen war wie das „Ja“
eines liebenden Weibes vor dem Altar: Treue bis in den Tod! Bis hierher habe ich — viel
zu redſelig! — von mir ſelbſt geſprochen. Wie kann ich das jetzt noch? Das eben iſt ja das
Größte bei ſolchem Großen: der einzelne Menſch verſinkt in das Allgemeine, verſchwindet
mit feinem kleinen Geſchick, hört auf zu fein. Unſere häßlichſte und unſere menſchlichſte Eigen-
ſchaft: unſere Selbſtſucht, verweht wie Spreu vorm Winde, wenn ein ganzes Volk fampfes-
freudig in einen Krieg zieht, der gerecht iſt.“
2
N x
364 Geberitiüge
Aus dem Krieg heraus, den er zehn Monate lang als Krankenträger mitmachte, iſt
Voß zur Schriftſtellerei gekommen. Er hatte ſich jetzt zum Studium nach Zena begeben, aber
die ungeheuren Eindrücke des Schlachtfeldes ließen ihn nicht los. „Oer Soldat konnt nicht
die Folgen des Krieges; denn er zieht weiter: vorwärts, immer vorwärts. Den Krieg kennt
nur der, welcher nach dem Soldaten zurüdbleibt, um die Toten zu begraben und die Ver⸗
wundeten zu pflegen. Die Erinnerung an das fürchterliche Erlebte, das ich oft wie In Vſſio⸗
nen wieder vor mir ſah, lag wie Alpdruck auf mir. Ich mußte verſuchen, ihn von mir abzu⸗
wälzen, um wieder friedliche Nächte zu haben. So begann ich zu ſchreiben — nur für mich
ſelbſt, um mich ſelbſt zu befreien.“ Auf dieſe Weiſe find die „Viſionen eines deutſchen Patriv-
ten“ entſtanden (1871). Der Verfaſſer wurde dadurch berühmt, daß man das Buch verbot.
Raſch jagten ſich die Bücher. Der junge Schriftſteller war „in einen neuen Krieg“ geraten,
den Kampf um fein geiſtiges Daſein. „Ich kämpfte und kämpfte: gegen mein eigenes ſelt⸗
ſames, phantaſtiſches Ich, gegen die düſtere und leidenſchaftliche Art meiner Begabung, die
mir Welt und Leben in grellen, flammenden Lichtern zeigte, gegen das Schickſal, das keine
milde, helfende Göttin für mich war. Erſt jetzt begannen meine Lehrjahre, die mich in ein
Labyrinth führten, darin ich nicht ein noch aus wußte. Aber ich kämpfte fort und fort. Und
ich darf von mir nur agen, daß es ernſt und ehrlich gekämpft war. Ich wurde dabei der muͤde
Mann, ich wurde ‚der müde Mann‘; und es war nicht Affektion, wie mir noch heute oft nach-
geſagt wird.“
Nein, gekünſtelt war das nicht. Es war nicht einmal bewußte Poſe, als er die traurigen
und troſtloſen, in tauſend Seelenqualen nur zur Selbſtbefreiung entſtandenen Phantaſtereien
„Scherben“ als „geſammelt vom müden Manne“ bezeichnete. Der Vierund zwanzigjährige
war tatſächlich ein müder Mann, und gerade darin lag damals feine „Modernität“, viel mehr
als in der Art, wie er zu Zeitfragen, z. B. zum Kulturkampf in „Anfehlbar“ und „Savona⸗
rola“ Stellung nahm. Die Müdigkeit, wie ſpäter die „Krankhaftigkeit“ wur ihm Natur, und
Tauſenden erſchien gerade das damals als echte Dichte rnatur. Weltfremd iſt Richard Voß
nach feinem Berichte von Kind an geweſen, aber er iſt es auch, trotzdem er es ſelber nicht ge;
glaubt, bis ans Ende geblieben. Seine Welt war eine Theaterwelt; ihre Naͤhrquellen find
Literatur und Kunſt. Die Menſchen, die ſich in dieſer Welt bewegen, haben mit der wirklichen
Natur nur wenig gemein. Aber da ſie an ſich ſelber glauben, vermögen ſie den unkritiſchen
Leſer ſeltſam zu feſſeln. Das „unkritiſch“ möchte ich damit nicht in üblem Sinne verſtanden
haben, ſondern als willig, hingebungsvoll. Für vereinzelte Stunden wird das jeder einmal
fein. Für einen großen Erfolg, wie ihn Voß zeitweilig hatte, ift Vorausſetzung bafür, daß in
der Zeit ſelbſt der Hang zu der betreffenden Art vorhanden iſt. Das war für Voß in den acht;
ziger Jahren der Fall, und er iſt damals einer der einflußreichſten Schriftſteller und auch auf
dem Theater erfolgreichſten („Alexandra“, „Schuldig“) geweſen. Seine Überhitztheit galt für
Leidenſchaft, ſeine ſelbſtbewußte, höchſt ſentimentaliſche Naturſchwelgerei für inniges Natur-
empfinden. Dieſe falſche Romantik, durch die ſelbſt fein beſter Hochgebirgsroman „Berg;
aſyl“ entſtellt wird, iſt uns heute nicht mehr erträglich. Aber wenn er in die Ferne ſchweift,
zumal in das von ihm ſchwärmeriſch geliebte Italien, erlag ihm der Oeutſche bis zuletzt. Pie
italieniſchen Novellen und Romane („Die neue Circe“, „Michael Cibula“, „Sabinerin“, „Kin
der des Südens“, „Dxyiel der Konvertit“, „Römiſches Fieber“ und viele andere) haben der
deutſchen Italienſchwärmerei reichliche Nahrung gegeben. In dieſer Schwärmerei war Voß
durchaus aufrichtig. Seine Liebe zur Villa Falconieri, die ihm lange Jahre hindurch Wohnſitz
geweſen ift, hat er einmal „die ſtärkſte Leidenſchaft feines Lebens“ genannt. „Aus den grauen
nordiſchen Nebeln einer wirren Jugendzeit rettete ich mich auf die immergrünen Höhen der
Campagna Roms; aus den dunklen Irrpfaden eines ſchickſalsvollen, kämpfereichen Lebens
führten mich gütige Geiſter in dieſes von feierlichen Eichenwipfeln umrauſchte, von greifen
Zypreſſen umdüſterte Aſyl.“
Gcbentinge | 365
Voß hat in ſeinem eigenen Hauſe immer wie ein trunkener Hochzeitsreiſender gelebt.
„Jede Stunde wird mir zum Feſt.“ Ein ſolcher Zuſtand iſt dauernd nicht zu ertragen, er muß
zur Uberreizung führen. Was Quell der Geneſung fein könnte, wird zum ermüdenden Sumpf
der Gewohnheit. Es iſt ſchade um die ſchöne Begabung des Richard Voß, der ſicher einer der
phantaſievollſten Dichter der Neuzeit geweſen iſt. In die heute übliche Geringſchätzung braucht
man dabei nicht einzuſtimmen; in vorſichtigen Doſen genoſſen iſt feine A eines
dauernden Reizes ſicher.
*
Der Krieg hat keine laute Feier des achtzigſten Geburtstages Eduard von Gebhardts
zugelaſſen, und der Papiermangel verbietet leider ſogar die einem Künſtler angemeſſenſte
Würdigung durch Wiedergabe einer größeren Zahl feiner Bilder. Das wird in günjtigeren
Tagen nachgeholt werden. Aber des Feſttages wollen wir doch um ſo eher gedenken, als dieſer
deutſcheſte Vertreter der neueren religiöfen Malerei des Proteſtantismus aus einem evange-
lichen Pfarrhauſe Eſtlands ſtammt (geb. 13. Juni 1838 zu St. Johannes). Einen ſchöneren
Beweis für die Bewahrung urdeutſcher Geſinnung und, was noch mehr bedeutet, grunddeut-
ſcher Fühlweiſe im fernen Baltikum kann es nicht geben. Und iſt nicht dieſer Gebhardt, als
er 1860, in Wilhelm Sohns Oüſſeldorfer Werkſtatt erſchien, geradezu ein Befreier deutſcher
Art geweſen gegen die ganz unter Raffael ſich beugende religiöſe Malerei Schadows und die
im gleichen Geiſt gehaltene, nur in der Technik etwas aufgefriſchte Kunſt Ittenbachs, der Brüder
Müller und anderer? Ihm hatte weder das Studium in Petersburg, noch der Aufenthalt in
Belgien etwas anhaben können; auch ſpäter in Italien hat er überall nur geholt und in ſich
aufgenommen, was ſeiner deutſchen Art verwandt war.
Das evangeliſche Pfarrhaus, dem unſere Literatur jo viel verdankt, iſt hier für die Male-
rei fruchtbar geworden. Das einfache, unverwidelte Verhältnis zum Leben, eine gerade Gläu-
bigkeit, die auf tiefſtem religiöfen Bedürfen beruht, eine wunderbare Aufrichtigkeit des Emp-
findens und dabei ein un verbrauchtes Naturgefühl find die Eigenſchaften, die der junge Geb-
hardt mitbrachte und die der Greis bis zur Stunde bekundet. Ihm war Chriſtus kein Symbol,
ſondern der ſtark erlebte Gottmenſch, in deſſen irdiſchem Wandel das Ewige ſeiner Lehre,
das Unvergängliche. reinſten Menſchentums den überzeugteften Ausdruck findet. So brauchte
dieſer Künſtler nicht zu deuteln, nicht zu moderniſieren, ſondern einfach zu erzählen. Da er
aber echter Epiker war — nicht Geſchichtsforſcher, ſondern eben Künſtler —, war ihm nicht
das hiſtoriſche Drumherum wichtig, ſondern der geſchichtliche Kern, das Stück Leben. So ſah
er die geſchichtliche Treue nicht im Koſtüm des Orients und in der orientaliſchen Landſchaft,
ſondern im Erfaſſen des menſchlichen Gehalts der von der Bibel berichteten Ereigniſſe. Chriſtus
ſelbſt iſt ihm Verkörperung des höchſten Seelenadels, dabei ein vollblütiger Menſch, der unter
den Menſchen als ihresgleichen wandelt. Dieſer Chriſtus lebt überall, wo an ihn geglaubt
wird, und darum hat Gebhardt, der feine Werke für Deutſche ſchuf, die uns geiſtig und körper-
lich verwandte Umwelt gewählt. Daß er dabei nicht den Schritt in die Gegenwart tat, ſondern
im Reformationszeitalter blieb, geſchah aus ſicherem Taktgefühl. Die Einkleidung in die Gegen
wart muß immer aufdringlich wirken, weil ſie beim Beſchauer des Bildes die Aberwindung
der in ihm lebenden Vorſtellung eines Vergangenen fordert. Die übliche Einkleidung in die
italieniſche Renaiſſance iſt uns zwar gewohnt, aber für uns Oeutſche eine üble Gewohnheit.
Die Einkleidung ins echt Orientaliſche bedeutet für uns heutige Deutſche eine Koſtümierung.
So wählte er den einfachſten Weg für feinen Zweck, der kein rein maleriſcher, ſondern ein gei-
ſtiger war. Gebhardt will mit ſeinen Bildern dem chriſtlichen Glauben dienen. Dieſer Glaube
glüht in ihm und erfüllt auch alle feine Geſtalten. Er will dieſen Glauben nicht als Alltags-
gewohnheit, ſondern als Gewalt des Hohen, des Beſten und Stärkſten im Menſchen. Sicher
war. jede Begegnung mit Chriſtus für die Menſchen feiner Zeit ein im Tiefſten aufwühlendes
Erlebnis. Ein ſolches iſt es in allen Bildern Gebhardts. Stumpfe Gewohnheit ſieht darin
366 Gedenktage
leicht übertriebenes Pathos. Als „theatraliſch“ aber haben es ſelbſt feine Gegner nie bezeich⸗
net, denn fie ſpürten die Echtheit dieſes künſtleriſchen Empfindens. Ein nie gealtertes Tempera
ment, eine vollſtändig hingeriſſene, darum packende Leidenſchaftlichkeit durchbebt alle Verle
dieſes Künſtlers. In der Rompofition feiner Bilder iſt er deshalb manchmal gewaltſam ge-
worden, aber immer eindringlich geblieben. Die Farbigkeit, die anfangs oft etwas bunt war,
hat er immer mehr zur abgeklärten Ruhe gedämpft. Freilich, wer den eigentlichen Maler
Gebhardt, den Ourchſeeler der Farbe kennenlernen will, muß zu feinen Bildniſſen oder zu den
meiſterlichen Studien für ſeine großen Bilder greifen. In beiden erweiſt er ſich überdies als
einer der tiefſten Ergründer menſchlichen Seelenlebens. Und darum wird ſein Name in vollem
Glanze leuchten, wenn zahlreiche von denen, die uns als Verkünder der Zeitſeele angeprieſen
worden ſind, mit dieſer Zeit längſt verſunken ſein werden.
*
Die hundertſte Wiederkehr des Geburtstages Jakob Burckhardts am 25. Mai gab
vielfachen Anlaß, ſich mit dem großen Geſchichtſchreiber der Renaiſſance zu beſchäftigen. Die
Reihe ſeiner bedeutenden Werke von der „Zeit Konſtantins des Großen“ über den „Cicerone“
zur „Kultur der Renaiſſance in Stalien“ und der „Geſchichte der Renaiſſance in Italien“ find
1855 bis 1867 erſchienen, und daß ſie heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, immer
noch die bedeutendſten Darſtellungen der betreffenden Gebiete find, iſt in der wiſſenſchaft⸗
lichen Literatur eine ſolche Ausnahmeerſcheinung, daß dafür beſondere Urſachen wirkſam ſein
müſſen. Dieſe Fähigkeit, „von Dauer zu ſein“, hat Goethe dem genialen Werke zugeſprochen,
das nur dem wirklich ſchöpferiſchen Menſchen gelingt. Hier iſt in wiſſenſchaftlichem Gewande
Künſtlertum am Werke.
In der Tat iſt Burckhardt eines der feſſelndſten Beiſpiele dafür, daß die wahrhaft große
Geſchichtſchreibung auf die Mitwirkung der Phantaſie angewieſen iſt. „Inneres äußerlich
machen, darſtellen zu können, ſo daß es als ein dargeſtelltes Inneres, als eine Offenbarung
wirkt,“ war Burckhardts Beftreben, und es paßt auf ihn, was er einmal vom Dichter ſagt: „Bloß
Außerliches noch einmal äußerlich zu geben, vermögen viele — jenes dagegen erweckt im Be-
ſchauer und Hörer die Überzeugung, daß nur der eine es gekonnt, der es geſchaffen, daß er alſo
unerſetzlich geweſen.“ So war ihm die dichteriſche Phantaſie ein Mittel, „die Lücken der An-
ſchauung zu ergänzen“.
Wir erleben hier bei Burckhardt beſonders deutlich, wie ſich dieſe „Produktivität“, nach
Goethe das Kennzeichen des Genies, auch wider Willen in die wiſſenſchaftliche Tätigkeit
ausjtrömt, und deshalb in dem betreffenden Menſchen der vorher ſtarke Orang nach dichteriſcher
Tätigkeit einfach abſtirbt. 1859/40, als Burckhardt im kunſtfrohen Haufe feines Berliner Leh⸗
rers Franz Kugler mit zahlreichen Dichtern und Küͤnſtlern verkehrte, und noch mehr ein Zahr
ſpäter, als er in Bonn mit Gottfried Kinkel von alter und neuer Rheinherrlichkeit ſchwärmte,
hat Burckhardt an feinen Oichterberuf geglaubt. Und noch einige Jahre ſpäter (Auguſt 1844)
ſchrieb er feinem Freund Beyſchlag: „Ich bin nicht unglücklich, aber unbeglückt, bis wieder
etwas goldene Muſe und etwas Poeſie zurückkehrt ... Ich muß freiwillig oder unfreiwillig
als einen Pfeiler meines Lebensglüdes die Dichtung nennen. Es iſt nicht Übermut, ſondern
Notwendigkeit...“ Er hat aber alles in allem nur zwei zuſammen kaum fingerdicke Bänd⸗
chen Gedichte veröffentlicht. Beide ohne Namensnennung. 1849 die Herbſtgabe „Ferien“
und vier Jahre ſpäter „E Hämfeli Lieder“ in feiner Bafler Mundart. Später iſt er kein Zeit ·
dichter geworden, wie er in feiner Jugend gedacht hat, ſondern ein Zeitſchauer, ein Deuter
des Weſens der Menſchheitsgeſchichte und unvergleichlicher Darfteller einer ihrer bedeutend
ſten Abſchnitte. Was Goethe von Winckelmann rühmte, trifft auf ihn zu: „Er ſieht mit den
Augen, er faßt mit dem Sinn unausſprechliche Werke, und doch fühlt er in unwiderſtehlichem
Orang, mit Worten und Buchſtaben ihnen beizukommen. Das vollendete Herrliche, die Idee,
Gedenktage a 367
woraus die Geſtalt entſprang, das Gefühl, das in ihm beim Schauen erregt ward, ſoll dem
Hörer, dem Leſer mitgeteilt werden .. Er muß Poet fein, er mag daran denken, er mag wollen
oder nicht.“. (Vgl. „Jakob Burckhardt als Dichter“ von Karl Emil Hoffmann. Baſel 1918,
Helbing & Lichtenhahn.) N
85
Der Krieg darf uns nicht abhalten, auch des hundertſten Geburtstages des Franzosen
Charles Gounod zu gedenken. Es gibt ſolcher feiner, auch menſchlich edler Künſtlernaturen
nicht ſo viele, daß man ohne weiteres auf ihren Beſitz verzichten könnte. Man darf es um ſo
weniger, wenn, wie bei Gounod, mancherlei Beziehungen zur Kunſt des eigenen Landes ficht-
bar werden. Da ſtößt man bei manchen guten Oeutſchen zunächſt wohl auf ein unwilliges
Aufbegehren. Auch ich ärgere mich darüber, daß Gounods „Margarete“ noch immer zu den
meiſtgeſpielten Werken des deutſchen Opernſpielplans gehört. Dabei bleibt es allerdings
eine arge Ungerechtigkeit, wenn dieſes Werk immer in einem Atem mit der „Mignon“ des
aus Lothringen ſtammenden Ambroiſe Thomas genannt wird. Das läßt ſchon der muſikaliſche
Vertunterſchied nicht zu. Gounods Oper gehört zu den muſikaliſch reichſten Werken der Opern-
bühne. Ohne beſondere Kräfte vermag ſich keine Oper ſechzig Jahre lang in fo ſtarker Wirtfam-
keit zu erhalten. Gounod iſt ein Vollblutmuſiker mit reicher melodiſcher Erfindung, voll packen
den rhythmiſchen Temperaments, glänzend, wenn auch etwas äußerlich in der Charakteriſtik
und von eindringlicher Süße der Melodie. Daß das alles franzöſiſch gefärbt iſt, iſt für den Fran-
zoſen ein Ruhmestitel; wenn es uns Deutſchen trotzdem fo viel Genuß und Freude bereitet,
liegt die Annahme nahe, daß im tieferen Untergrunde doch uns verwandte Kräfte walten.
And ſo iſt es in der Tat. Seine leidenſchaftliche Liebe zu Mozart, über deſſen „Don Juan“ er
eine feinſinnige Analyſe geſchrieben hat, und fein inniges Verhältnis zu Schumann haben
Sounods Muſikertum ſtark befruchtet.
Nein, der Muſik iſt Richard Wagner nicht gerecht geworden. Wenn ſie wirklich nur die
„Arbeit eines untergeordneten Talentes“ wäre, „das es zu etwas bringen möchte und in der
Angſt nach jedem Mittel greift“, wäre die Oper „Margarete“ wahrſcheinlich ſchon längſt von
unferer Bühne verſchwunden, gleich Roſſinis „Tell“, neben dem Wagner ſie als Beiſpiel des
„Dinabſteigens des deutſchen Theaters zum Niederträchtigen“ anführt. Doch hier liegt die
Hauptſchuld beim deutſchen Publikum. Den Franzoſen wird Goethes Gretchen wohl immer
unverſtänd lich bleiben, dem Oeutſchen müßte es heilig fein. In der Verbiegung dieſer Geſtalt
liegt das größte Bedenken, das ich gegen das Textbuch der Gounodſchen Oper hege. Daß ſie
uns vom eigentlichen Fauſt nichts gibt, wäre kein Schaden; denn Goethes Dichtung wird da-
durch dem deutſchen Volke nicht angetaſtet. Wohl aber geſchieht das durch die Verfälſchung
eines gefühlsmäßig ſofort zu erfaſſenden Charakters, wie Gretchens. In mancher Hinficht
ließe ſich an dieſem Werke die Pſychalogie des Operntextes ſtudieren.
In Frankreich iſt übrigens Gounods acht Jahre ſpäter (1867) liegende Oper „Romeo
und Julie“ höher geſchätzt, und warum man den „Arzt wider Willen“ nach dem ſchönen Er-
folg, den die Komiſche Oper in Berlin mit der Wiedererweckung 1910 errungen hat, wieder
preisgab, verſtehe ich bei der Armut an komiſchen Opernwerken nicht.
Gounods muſikaliſches Geſamtſchaffen iſt außerordentlich reich. Er hatte als Einund-
zwanzigjähriger (1859) den großen Rompreis des Konſervatoriums gewonnen und benutzte
den Aufenthalt in Italien zum eingehenden Studium Paleſtrinas. Damals dachte Gounod
nur an Kirchenmuſik, war ſogar nahe daran, Prieſter zu werden. Es war wohl hauptſächlich
Schumanns Mufit, die feinen Sinn fürs Poetiſche weckte, das wie bei allen franzöſiſchen Muſi-
kern einen weſentlich dekorativen Einſchlag hatte und Gounod auf ſeinen Landsmann und
Mitſchüler bei Leſueure, Berlioz, verwies. Das Veltkind in Gounod war erwacht und wandte
ſich mit Leidenſchaft dem Theater zu. Es iſt bezeichnend dafür, wieviel leichter in Frankreich
den Bühnenkomponiſten der Weg offenſteht, daß ihm verſchiedene Mißerfolge den Zugang zu
568 Gedenttage
den Pariſer Opernhäuſern nicht zu ſperren vermochten, bis endlich der fünfte Anlauf 1859
mit „Margarete“ den großen europäiſchen Erfolg brachte.
Seit 1852 hatte er als Direktor der Pariſer Männergeſangvereine und Geſangſchulen
auch eine ſegensreiche kunſtpolitiſche Tätigkeit begonnen. Gounod iſt einer der fruchtbarſten
Chorkomponiſten Frankreichs, und wenn ſeine größeren Kirchenkompoſitionen den ſtrengen
Anforderungen, die vom deutſchen Cäcilianismus in der katholiſchen Kirche wieder zur Herr-
ſchaft gebracht worden find, nicht genügen, jo find. die kleinen Stücke durch die Verbindung
würdiger Haltung mit echt volkstümlicher Melodie ausgezeichnet. Unter den großen Chor-
werken iſt die „heilige Trilogie Tod und Leben“ für unſer Gefühl zu ſehr durch den engen
Anſchluß an die katholiſche Totenmeſſe gehemmt. Dagegen zählt die „Redemption“ zu
den bedeutendſten Schöpfungen in der langen Reihe von Verſuchen, Chriſtum und ſein Werk
darſtellend zu verherrlichen. Gewiß wirkt auch hier auf uns manches theatraliſch, aber die
überwältigend innige Art, mit der Chriſti Reden geſungen werden, bezeugt Gounods tief
religiöfes Empfinden und hohes muſikaliſches Vermögen.
An einfachen Dingen merkt man oft die größte Verſchiedenheit der Völker. Das be-
kannteſte Inſtrumentalſtück Gounods iſt die „Meditation“ über das erſte Präludium aus Bachs
Wohltemperiertem Klavier. Der alte deutſche Meiſter gibt uns nur das Wogen gebrochener
Akkorde und trägt auf ihnen den Geiſt des Hörers in die Weite. Iſt's ein Träumen unter rau-
ſchenden Baumwipfeln, auf hoher Halde mit dem Blick in ziehendes Gewölk, iſt's das Schwei-
fen der bewegten Phantaſie ins unbegrenzte Land des Geiſtes, iſt es das Auf und Ab des müh-
ſam gebändigten Gefühls in heimlich verſchloſſenem Herzen? — Oer deutſche Künſtler läßt es
unbeſtimmt. Ihm und uns iſt dieſe Muſik an ſich, dieſe Entbindung zuvor ruhiger Tonmaſſen
zu innerlicher Bewegtheit völlig genug. Dem Franzoſen iſt das nur Vorbereitung, er braucht
die Beſtimmtheit, er kann das nur innere Singen nicht vertragen und hält es für nötig, eine
ausgeſprochene Melodie hinzuzufügen. Das iſt ſicher ein tiefliegender Unterſchied zwiſchen
deutſch und franzöͤſiſch und gäbe ein ſchönes Beiſpiel ab; aber leider geht die Rechnung nicht
auf, denn Gounods „Meditation“ hat beim breiten deutſchen Publikum Bachs Präludium
erſt beliebt, wenn nicht gar erſt bekannt gemacht.
In alledem ſpricht ſich doch auch ein tiefes Verlangen unſeres Volkes nach leichter,
ſinnfälliger Melodie aus, dem durch unſere große Muſik oft nicht Genüge getan wird. Dieſes
Verlangen iſt jo mächtig, feine Erfüllung wirkt fo hinreißend, daß alle kritiſche Überlegung
verſtummt. Hier liegt auch die letzte Erklärung für den Erfolg der „Margarete“. Denken wir
an das auf die gleiche Urſache zurückgehende UAberwuchern der Operette, jo werden wir noch
froh fein, wenn ſich unſer Volk die Ergänzung zur deutſchen Muſik bei fo echten Künſtlern ſucht,
wie Gounod einer war. Karl Storck
— 8 nn — >
EN ——
15
v
7 NN
NN 1
* 2 6 N
0 0 WI | 60 74
Ne
N
r J
1 Surmers Dagebi )
„ —— . are nr — — . — ——Ä— “ ͤ—
Der Krieg
NS N @ as alte trübe Lied, das Lied von dem böſen Erbmangel deutſcher Art,
(8 N dem Mangel nationaler Inſtinkte! Zn der „Deutfhen Zeitung“
€: 7 batte es Leopold Baron v. Dietinghrff-Scheel wieder angeſtimmt:
man verdeutſche dies Fremdwort durch „Herdentrieb“, und ſofort
werde klar, woher der Mangel jener Inſtinkte bei uns Oeutſchen rührt. „Unſere
Nachbarn, namentlich die ſogenannten Romanen, zählen durchweg zu den Herden
völkern, wir dagegen find das ausgeprägteſte Perſönlichkeitsvolk, das es gibt.
Bei jenen daher viel Anlehnungs- und Vergeſellſchaftungsbedürfnis, das zu Ge-
meinſchaftsſinn führt; bei uns Neigung zur Vereinzelung, Abſonderung und dem-
entſprechend Abneigung gegen Befaſſung mit den Angelegenheiten anderer, alſo
auch der Geſamtheit.“ Darin aber liege die immerwährende Gefahr, völkiſch
zugrunde zu gehen.
„dieſe Gefahr wird noch erheblich vermehrt durch einen weiteren Mangel,
der leider wirklich als ein deutſcher Erbfehler zu bezeichnen iſt. Ihn mit einem
einzigen Worte erſchöpfend und völlig treffend zu benennen iſt freilich ſchwer.
„Mangel an nationaler Leidenſchaft' drückt vielleicht am beſten aus, was
gemeint iſt, ſchärfer jedoch als jede beſchreibende Erklärung wird Anführung einiger
Beiſpiele Art und Weſen dieſes Erbfehlers beleuchten, und — an ſolchen Beiſpielen
iſt die deutſche Geſchichte nur zu reich, bietet leider auch der gegenwärtige Krieg
eine erſchütternde Fülle dar. Sie iſt ſo groß, daß es geradezu als Pflicht erſcheint,
den Finger immer wieder auf dieſe Wunde, die faſt einer Schwäre gleichkommt,
zu legen, dem deutſchen Volke immer wieder wenigſtens die gröbſten, aus dieſem
Mangel heraus begangenen Sünden in voller Schärfe vorzuhalten.
„King Stephan‘. — Ich fürchte, es gibt ſchon ſehr viele Deutfche, bei denen
ſich mit dieſem Namen keine deutliche Erinnerung mehr an ein beſtimmtes Ge-
ſchehnis verknüpft, aber — wie dem auch ſei — in wieviel Herzen bebt auch wohl
nur noch eine Spur von Zorn über jene feigen Schufte, welche unſere Zeppelin
leute mit kalter Mörderluſt dem Ertrinken preisgaben, obwohl ſie ſie retten konnten?
Der Türmer XX, 20 24
379 Zürmers Tagebuch
Seien wir ehrlich, — in ſehr wenigen ſchlägt heute der Puls im Gedanken an
jene Untat auch nur um einen Schlag ſchneller. Vergeſſen! ö
„Baralong“. — Dieſer Name, mit einer der niederträchtigſten Freveltaten
unſerer Feinde verknüpft, iſt ja freilich noch nicht verſunken und vergeſſen, aber
ſeien wir auch hier ehrlich: wo färbt ſich noch eine Wange rot von heiligem Zorn,
erinnert man einmal an ‚Baralong‘?
Die deutſchen Gefangenen in Frankreich. Es gab eine Zeit, wo über
üble Behandlung unſerer Gefangenen in Frankreich die Preſſe beileibe kein
Sterbenswörtlein bringen durfte; es ſollten — fo hieß es — keine Haß; und
Rachegefühle erweckt werden. Ich fürchte, die Herren, die fo verfügten, haben
ſich unnütze Sorge gemacht. Jetzt darf ja über derlei geſchrieben und berichtet
werden. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht ein zweifellos feſtgeſtellter Fall
unerhörteſter, teufliſchſter Grauſamkeit, von Franzoſen an deutſchen Ge-
fangenen begangen, mitgeteilt wird. Erweckte das irgend eine meßbare Erregung
im deutſchen Volke? Nun, ich fürchte, auch der feinſte Beobachter wird davon
nichts feſtſtellen können. Es iſt auch durchaus nicht ſo, daß die Erregung etwa vor-
handen wäre, aber, der deutſchen, ſtillen Art entſprechend, nicht lärmend nach
außen hin in die Erſcheinung träte. Man rede über jene Grauſamkeiten mit noch ſo
vielen Perſonen aus noch ſo verſchiedenen Kreiſen und Schichten, — man wird
nicht den Eindruck gewinnen, als nähmen das Herz, die Seele ſehr tiefen, innerlichen,
aus Schmerz und Zorn geborenen Anteil an dem Leiden der gepeinigten Volks-
genoſſen.
Die Hinmordung deutſcher Gefangener in Rumänien. Tauſende
Deutſcher find in den Gefangenenlagern in Rumänien unter den unmenſch—
lichſten Qualen und Peinigungen langſam zum Tode gebracht wor-
den. In allen Einzelheiten berichteten die Zeitungen darüber; nicht nur die
großen, hauptſtädtiſchen Blätter, nein, auch die kleinſten Blättchen in dem kleinſten
Städtchen, wie es ſich ja auch gebührt. Hat ſich da etwas wie heiliger Volkszorn
oder dergleichen geregt? Da darf es freilich kaum wundernehmen, daß das Aus-
bleiben jeglicher Sühne jener Schandtaten an den deutſchen Gefangenen beim
Abſchluß des Friedens mit Rumänien gleichfalls ſpurlos am deutſchen Volks-
empfinden vorübergegangen iſt. Man ſtelle ſich vor: das Volk, zu deſſen Ange-
hörigen jene verruchten Mörder an Tauſenden von Deutſchen zählen, lag beſiegt
zu unſeren Füßen. Wir hatten alſo die Möglichkeit, jede Sühne zu for
dern und zu erlangen. Wir verzichten darauf ſo rundweg und glatt, als hätten
wir an derlei überhaupt nicht einen Augenblick gedacht und — das deutſche Voll
brauſt ob ſolchen Vergeſſens der Frevel an Tauſenden ſeiner Söhne nicht in
brennendem Zorn auf, ſondern verharrt in ſeiner überwältigenden Mehrheit in, —
nun ja, eben in völliger ‚nationaler Leidenſchaftsloſigkeit“. ..“
So berechtigt an ſich dieſe Anklage iſt, ſo glühend die hier vorgebrachten
ſchimpflichen Tatſachen jedem Deutſchen auf der Seele brennen müſſen
oder — müßten —: in das rechte und gerechte Licht, in den Brennpunkt ſind
ſie erſt durch eine Erwiderung gerückt worden, die aber in den übrigen Punkten
durchaus zuſtimmend bleibt: „Es iſt wahr und iſt zu bedauern, daß die ſich ſtets
Sürmers Tagebuch | | 371
mehrenden Nachrichten über Mißhandlungen der deutſchen Gefangenen nicht
ſchon längſt einen leidenſchaftlichen Sturm bei allen Oeutſchen entfacht haben.
Die Schuld dafür, daß es nicht geſchehen iſt, trifft aber weniger das deutſche Volk,
als in erſter Linie ſeine berufenen Vertreter, die Regierung und den
Reichstag, dazu alle Männer, die im öffentlichen Leben ſtehen und Ge—
legenheit haben, in Schrift und Wort ihre Meinung zu äußern. Denn
wer iſt das Volk? Auch ich ſchätze das deutſche Volk mit dem Verfaſſer in jeder
Beziehung höher ein als ein rumäniſches. Aber es bleibt etwas allen Völkern
Gemeinſames. Ein Volk iſt die Summe vieler Tauſende und beſteht aus einzelnen
Perſonen. Es iſt ohne Führer doch nur eine Herde ohne Hirten. Ein Volk will
geführt ſein, es blickt nach ſeinen Führern und läßt ſich gern leiten. Von den
Führern muß es immer wieder Stimmung und Zielweiſung bekommen. Wir
haben leider mehr und mehr das Gefühl, daß wir überhaupt nicht geführt werden.
Wie ſoll der einzelne ſeinen Willen äußern? Soll er in noch mehr Vereine
eintreten, Geld, Zeit und Kraft für fie opfern, ſoll er Verſammlungen beſuchen
und Entſchließungen faſſen? Das iſt geſchehen. Sollen alle Spalten der Zeitungen
von ſeinen Forderungen widerhallen? Das iſt den meiſten gar nicht möglich, auch
wenn ſie Wertvolles zu ſagen haben. Das Volk kann ſeinen Willen in der
Hauptſache nur durch ſeine gewählten Vertreter und durch ſeine Re—
gierung äußern. Und da muß es in dieſer Zeit den Schmerz erleben, daß ſich
jene oft wohl für fremde Völker und ihre Vorteile ereifern, aber nur ſchwäch-
lich oder gar nicht für die bedrängten deutſchen Brüder im Auslande und für die
armen Gefangenen eintreten. Was ſoll der deutſche Bürger tun? ſo fragen wir
nochmals. Die Berichte über Völkerrechtsbrüche unſerer Feinde begannen mit
dem erſten Tage des Krieges und reißen bis heute nicht ab. Dicke Bände ſind
darüber geſchrieben worden. Sie ſind nicht zur Vergeſſenheit geſchrieben,
ſondern ſind uns für immer ein zwar ſchmerzliches, aber klares Zeugnis, daß
die vielge rühmte Kultur unſerer Feinde doch nur eine Tünche
über viehiſche Roheit und Gemeinheit war. Manchmal ſind die Berichte
ſo unglaublich, ſo entſetzlich, daß man ſie vor Grauen nicht mehr zu Ende leſen
möchte. Das iſt keineswegs gleichgültig vergeſſen! O nein! Um ſo ſchmerzlicher
wirken wiederum die Berichte über die Gefangenenbehandlung bei uns. Wir
führen mit ſtolzer Genugtuung jeden neutralen Vertreter durch die Gefangenen-
lager in Oeutſchland und heimſen die Lobſprüche ein, weil wir nicht nur
alles durch Völkerrecht Vorgeſchriebene tun, ſondern in ſchon übertriebener
Weiſe für Belehrung, Unterhaltung, Beluſtigung und Sport der Herren Gefange-
nen ſorgen. Dem deutſchen Volk prägt ſich ein doppeltes Empfinden tief ins
Herz, nämlich einmal Schmerz, Zorn und Haß gegen die Feinde, und das iſt gut.
Nicht nur die Väter und Mütter, die Frauen und Kinder werden die quälende
Frage nicht los: Mußte denn unſer Sohn, unſer Vater ſo elend zugrunde gehen,
gibt es keine Sühne dafür?, auch allgemein iſt die Meinung, daß Deutſchlands
tapfere Söhne ein anderes Los verdient hätten. Das andere Empfinden iſt die
leider ſich ſtets mehrende Gewißheit, daß uns vieles gefliſſentlich
verheimlicht worden iſt und daß die berufene Vertretung des deutſchen
372 | | j Zürmens Tagebuch
Volkes immer erſt nach langem Zögern mit Gegenmaßnahmen ge-
droht hat, die Ausführung aber ſchwächlich oder auch gar nicht ein-
getreten iſt.
Sollte das Volk dazu Skandal ſchlagen, ſollte es ſich vornehmen: ‚Diefer
Regierung keinen Pfennig mehr?“ Ja, in der Tat, es iſt die allerhöchſte Zeit,
daß etwas geſchieht, ehe noch mehr der Beſten und Treuſten im Lande dazu kommen,
zu jagen: Es müßte noch viel Schlimmer kommen, damit endlich einmal wirkliche
Abhilfe geſchaffen wird! |
Auch die Erfahrungen bei den Friedensunterhandlungen mit Rußland und
Rumänien ſind wenig erfreulich. Daß bei Ausbruch des Krieges die deutſche
Geſandtſchaft ausgeplündert und ein alter Beamter, der zum Schutze des
Gebäudes zurückgeblieben war, ermordet wurde, die hinreichend bekannten Greuel
in Oſtpreußen ſind nicht vom Volke, wohl aber von den Vertretern
des Deutſchen Reiches vergeſſen worden. Einer der Hauptſchuldigen, der
Großfürſt Nikolai iſt als Gefangener in deutſcher Gewalt. Aber die Regierung
ſcheint Wert darauf zu legen, ihn nur als Großfürſten ehrenvoll zu be—
handeln, bis er eines Tages wie Großfürſt Michael entwiſcht iſt und wieder
für uns ein gar gefährlicher Gegner wird.
Noch mehr regt ſich der Zorn des Volkes, wenn es an den rumäniſchen Frieden
denkt. Die Regierung Rumäniens hat in voller Abſicht unſere dortigen
Gefangenen zu Tode gemartert. Noch im März d. 3. hat der inzwiſchen auf
dem Schlachtfelde gefallene Graf von Preyſing in aller Öffentlichkeit zahlen-
mäßig nachgewieſen, daß in den rumäniſchen Gefangenenlagern unſere Sol-
daten bis zu 99 vom Hundert elend umgekommen ſind. Varen unſere
Vertreter in Bukareſt gar nicht in der Lage, dafür ſofortige, gründliche Sühne zu
verlangen, ehe es zur Unterzeichnung des Friedens kam? Rumänien war völlig
in unſeren Händen. Wenn jetzt nachträglich im Reichstage ſchwächliche Forderungen
an Rumänien erhoben werden, ſo kennen wir die dortige Regierung nach den
Erfahrungen des Krieges doch wohl hinreichend und werden auch an etwaige
Verſprechungen nicht glauben. Es iſt zu ſpät, die Gelegenheit iſt verpaßt.
Und dieſe Erwägung führt zum letzten. Warum haſſen uns überhaupt
die Völker? Warum können es Staaten von der Sorte Liberias, San
Salvadors, Perus und Bolivias wagen, Deutfchland den Krieg zu erklären?
Weil ſie uns nicht achten! Schon der lächerliche Verſuch der Begründung von
jener Seite zeigt das. Wir bedrohen angeblich die Freiheit dieſer Staaten. Es
weiß jeder längſt, daß es die Trinkgelder der Entente ſind, die überall die niedrigſten
Inſtinkte, die Habgier nach deutſchem Vermögen und Beſitz, entfacht haben. &
iſt ja fo bequem, den ſchutzloſen Deutfhen im Auslande zu überfallen
und auszuplündern. Die Zriedensverhandlungen Oeutſchlands zeigen, daß
Strafe und Sühne dafür nachher vergeſſen werden. Einem Engländer
im Auslande, und wäre es ein kleiner Kaufmannslehrling, wagt man fo etwas
nicht zu bieten.
Kurz, das deutſche Volk hat die Greueltaten an feinen Tapferen keineswegs
vergeſſen, es hat ebenſowenig in „nationaler Leidenſchaftsloſigkeit“ die Nachrichten
Tarmers Sagebuch | 3873
von den Friedensſchlüſſen hingenommen. Vielmehr ſind die deutſchen Herzen
von Schmerz und Zorn bewegt. Wenn ſich dieſe Empfindungen nicht laut genug
äußern, fo liegt das an den berufenen Führern des Volkes.“
= *
*
Als dies geſchrieben wurde, da konnte der Verfaſſer noch nicht ahnen, welcher
klaſſiſche Zeuge für die Wahrheit feiner Ausführungen auftreten werde, da
hatte — Herr v. Kühlmann noch nicht fein politiſches und völkiſches Glaubens-
bekenntnis fo offenherzig abgelegt, wie noch nie. Jetzt hat er es getan — in feiner
Reichstagsrede vom 24. Juni. Wenn aber Herr v. Kühlmann, der Leiter unferer
auswärtigen Politit, der „geborene Staatsmann mit den unnachahmlichen Griffen“,
nicht zu den „berufenen Führern“ unſeres Volkes zählen ſollte, wer dürfte dann
als ſolcher noch gelten? Aus eigenem Munde dieſes „berufenen Führers“ beſitzen
wir alſo das klaſſiſche Zeugnis, weſſen wir uns von ſolcher Führerſchaft verſehen,
welche „Achtung“ wir noch von unſeren Feinden, von der „Welt“ er-
warten dürfen, und wie wenig, wie blutwenig alle Schläge Hindenburgs-Luden-
dorffs, alle Opfertaten unſeres ſiegreichen Heeres zu unſeren Gunſten ins Gewicht
fallen. Unferem gequälten, in ſtiller Geduld und heroiſcher Entſagung ſich durch-
hungernden Volke reißt er, ſoweit es an ihm, dieſem „berufenen Führer“, liegt, den
letzten Hoffnungsanker aus blutendem Herzen: die Hoffnung auf ein abſehbares
und ſieggekröntes Ende, indem er ihm „mit müder Grabesſtimme“ die Troſt-
loſigkeit des ſiebenjährigen, ja des dreißigjährigen Krieges an die Wand malt!
Und das alles in ſchriller Mißtönigkeit, in kraſſem Gegenſatze zu den aufrichtenden
Erklärungen unſerer großen Heerführer und dem noch in uns allen nachklingen-
den Bekenntnis des Kaiſers, daß dieſer Krieg ein Krieg gegen den angel-
ſächſiſchen Geiſt, den Götzendienſt des Geldes ſei und daß der Sieg „er
zwungen“ werden müſſe. Aus dem „berufenen“ Munde des amtlichen Ver-
treters der deutſchen Auslandspolitik, vor der denkbar breiteſten Öffentlichkeit der
Welt, vom Regierungstiſche des deutſchen Reichstages!
In den Sätzen, die überhaupt einen Inhalt hatten — das übrige waren
Zumutungen erſtaunlicher Banalität —, läßt ſich die Rede nur als eine mit
Leichenbittermiene herausgeorgelte Grabrede auf deutſchen Siegeswillen
und deutſche Siegeshoffnung kennzeichnen. „Laßt alle Hoffnung draußen!“ —
nur mit dem kleinen Unterſchiede zwiſchen einem Dante und einem Herrn
v. Kühlmann. Unter anderem Geſichtswinkel nennt die „Tägliche Rundſchau“ dies
Rede einen „politiſchen Skandal“. Auch die nachträgliche (inzwiſchen in Ab-
rede geſtellte) Retuſche an den Schlußſätzen des Staatsſekretärs werde „die
unerfreulichen Wirkungen nicht ausgleichen können, die dieſe Rede zweifellos im
Ausland und Inland hervorrufen wird. Waſſer auf die Mühle der Mittler,
Makler und jedes Hans Dampf. Das Bedenklichſte daran, der fatale Schluß, der
ſich freilich noch fataler anhörte als er ſich lieft. . .
Nehmen wir den verhängnisvollen Satz Herrn v. Kühlmanns buchſtäblich ſo,
wie er ihn nachträglich genommen haben will: „Ohne Gedankenaustauſch wird
bei der ungeheuren Größe dieſes Koalitionskrieges und bei der Zahl der in ihm
374 Zürmers Tagebuch
begriffenen auch überſeeiſchen Mächte durch rein militäriſche Entſchei—
dungen allein ohne alle diplomatiſchen Verhandlungen ein abſolutes
Ende kaum erwartet werden können.“ Der Ton macht die Muſik. Und
Herr v. Kühlmann hat das vorgetragen mit Grabeston, müde, hoffnungslos, in
jeder Weiſe ſo, wie der Mann es nicht vortragen durfte, der vor den Augen und
Ohren der Welt in dieſer Zeit und Sache unſer politiſches Geſchäft zu vertreten hat.
Dieſe Art, ſich und unſere Sache darzuſtellen und vorzutragen, war. ſchlimmſte
Sünde gegen den Geiſt, moraliſche Sabotage. Man kann Herrn v. Kühl-
mann nicht für ſo wenig klug halten, daß er ſich nicht des offenen Gegenſatzes voll
bewußt geweſen ſein ſollte, in den er ſich mit dieſem Kaſſandratone zum Kaiſer
und zur Oberſten Heeresleitung brachte. Ein folder Gegenſatz, auf offener Reichs- |
tagsbühne durch einen Staatsſekretär des Reiches zur Schau geftellt, ift einfach g
ein politiſcher Skandal. ... Die Nation hat ein Recht, ſich von einem immer- 8
hin moraliſch verantwortlichen Staatsmann ſolche Extratouren zu verbitten.
Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß Herr v. Kühlmann bei buch-
ſtäblicher Anwendung ſeines Satzes ja nur Selbſtverſtändliches geſagt habe. Ganz
gewiß iſt es eine Binſenwahrheit, daß zu einem Friedensſchluß Verhandlungen
nötig ſind. Aber um dieſer Binſenwahrheit willen war es doch nicht,
daß Herr v. Kühlmann die Schrecken eines dreißigjährigen Krieges an
die Wand malte und ſeine Antitheſen gegen die Schwerttheſe von Kaiſer, Kanzler N
und Feldherr aufſtellte. Er tat es doch nicht um des Buchſtabens, ſondern um des ö
Geiſtes willen. Und das war böſer Geiſt. Dabei wieder die leichtfertige Wendung,
wir können uns das leiſten, unſere Mittel erlaubten uns das, aufs Konto Hinden-
burgs können wir ruhig ſo ſündigen. Politik und Kriegführung gehören ja ganz
gewiß zuſammen. Aber nicht in dem Sinn, daß die Politik in gefährlichen Experi-
menten den Gewinn der Kriegführung vergeudet, ſondern in dem, daß
fie ihn politiſch ausbeutet. Unterſtützung, nicht Durchkreuzung. Aber Voraus-
ſetzung dabei iſt und bleibt der Sieg des Schwertes. Mit bitterem Recht ſtellte Graf
Weſtarp feſt, daß Herr v. Kühlmann, der fein Wort hoffentlich nicht ganz ſo unglüd-
ſelig gemeint habe, wie er es formulierte und vortrug, damit Mord am Geiſt
beging, an der Seele des Heeres und des Volkes. — Zutreiberdienſt für
Britanniens Gimpelfängerei.“
Mehr als ſonſt, mehr auch als ihm hätte nützlich erſcheinen ſollen, urteilt die
„Deutſche Tageszeitung“, offenbarte Herr v. Kühlmann die Tiefen feiner
eigentlichen und ihm eigentümlichen Gedankengänge. „Seine England
zugewandte Denkungsart trat zu wiederholten Malen mit aller Oeutlichkeit zu—
tage; fie offenbarte ſich vor allem in dem Peſſimis mus, der über feiner ganzen
Rede bleiſchwer laſtete, der ihn hindert, mit innerer Kraft und Zuverſicht an ein
Niederringen Englands zu glauben, und ihm das Ende des Krieges beſtenfalls
als Remispartie vor Augen ſtehen läßt. Auf dem Staatsſekretär laſtet düſterer
Peſſimismus; und er bringt es fertig, in einer Zeit, da Tauſende, getragen von
der unerſchütterlichen Zuverſicht und dem Glauben an den Erfolg ihres Selbit-
opfers, täglich und ſtündlich ſtarkherzig dem Tode ins Auge blicken, den Satz zu
prägen, daß ohne Vorverhandlungen die militäriſchen Erfolge keine abſolute Ent-
Zürmers Tagebuch 375
ſcheidung herbeiführen können. Wem fagt er das? Den Gegnern? Die haben
wahrlich keinen Überfluß an dem Artikel. Alfo ſagt er es dem eigenen Volke,
dem eigenen Heer, das auf die militäriſchen Siege hofft, in ihnen Markſteine
ſieht auf dem Wege zum Frieden. Hineingeſtellt in die Gänge dieſer Rede, gemeſſen
an ihrer ganzen Tonart und Tendenz, gewinnt er ein Geſicht, das die ſozial⸗
demokratiſche ‚Internationale Korreſpondenz“ — nicht uns — veranlaßt, ihrem
Kommentar zu des Staatsſekretärs Ausführungen die Überſchrift zu geben:
‚Rühlmann, der Oefaitiſt“.“
Wohlgemerkt: die ſozialdemokratiſche „Internationale Korreſpondenz“
prägt dieſes Wort. Und die freiſinnige „Voſſiſche Zeitung“ ſtellt feſt: „Der eng-
liſche Miniſter des Auswärtigen hatte in ſeiner letzten Rede wieder einmal dem
Deutſchen Reiche vorgeworfen, den Krieg entfeſſelt zu haben. Wenn ein deutſcher
Staatsmann auf dieſen Vorwurf überhaupt noch erwidern wollte, ſo durfte er das
nur dann, wenn er der Überzeugung war, den Vorwurf an England zurückgeben
zu können. Herr v. Kühlmann aber hat als Antwort auf die engliſche Anklage ge-
ſtern vor aller Welt England von der Schuld an der Entfachung des
Krieges feierlich freigeſprochen. Die Geſchichte von dem Brandſtifter Ruß-
land, das aus eigenem Antrieb die Welt in Flammen ſetzte, iſt von ihm wieder
einmal dem deutſchen Volke erzählt worden. Aber diesmal nicht, um Rußland
anzuklagen — denn dazu lag gar keine Veranlaſſung vor —, ſondern um England
zu entlaſten. Und er beſorgte dieſe Entlaſtung ſo gründlich, daß er England
auch gleich noch Abſolution für frühere hiſtoriſche Schuld erteilte. Und
er bekräftigt dieſe Legende, indem er Englands neueſte Blutſchuld — die Schuld
an dem jetzigen Kriege — von Englands Schultern ablöſen und auf Rußlands
Schultern zu wälzen hilft.“ Noch deutlicher werden die „Berliner Neueſten Nach-
richten“: „War ſchon der äußere Eindruck feiner Rede höchſt niederdrückend
und jammervoll, fo war der Inhalt feiner beſſer nicht zum Ausdruck gebrachten
Gedanken für deutſches Empfinden geradezu empörend. Hindenburgs und
Ludendorffs ſiegreiche Fahnen wehen ſtolz vor Paris und ſahen die ſchwerſten Nieder-
lagen der Engländer und Franzoſen. Die Pariſer flüchten in dichten Scharen aus
ihrer Hauptſtadt und bringen in beſonderen Eiſenbahnzügen ihre Kinder und ihre
Kunſtſchätze in Sicherheit, im ODeutſchen Reichstag aber ſpricht der Staats
ſekretär von der Ausſichtsloſigkeit, unſere Feinde militäriſch zum
Frieden zwingen zu können!! Gibt es in dieſem Augenblick etwas.
Empörenderes, als die Stimmung unſerer kampfesmutigen und fiegesficheren
Feldgrauen durch die Ausſicht auf vielleicht noch jahrelangen Feldzug und die
Ungewißheit des militäriſchen Sieges gewaltſam zu Boden zu drücken? Faſt
ſcheint es, als ob etwas wie Neid und Wißgunſt gegen die wirklichen Führer
unſeres Volkes, gegen Hindenburg und Ludendorff, bei Herrn v. Kühlmann mit-
geſprochen hat.“
Die Katze iſt nun aus dem Sack — wird es was nützen? Darf, kann es
aber ſo weiter gehen? Auch ein ſo treu durchhaltendes, ſo tapfer die Zähne
zuſammenbeißendes und von einem Kriegswinter in den anderen ſich durchquälen-
des Volk, wie unſer deutſches, muß ja endlich erlahmen, wenn ihm das, was allein
376 c Sürmers Tagebuch
es aufrechterhält: der Glaube an einen ſiegreichen Frieden, die Hoffnung, ſeine
unerhörten Opfer nicht umſonſt gebracht zu haben, von führender, amtlicher
Stelle immer wieder zermürbt und zertreten werden. Und wäre es mehr
als nur menſchlich, wenn einmal auch die Männer, die ihr ganzes Wollen und
Können, Sinnen und Trachten dahingeben, dieſen Glauben und dieſe Hoffnung
im Volke zu erhalten und neu zu entfachen, endlich müde würden, ſolche Siſyphus⸗
arbeit mit ſchweren und bewußten Opfern an Geſundheit und Leben noch weiter
zu verrichten, weil ja doch ihr unendlich mühſäliges Werk immer wieder zertrümmert
wird, und das von „berufenen Führern“, von Amtes wegen?! Gewiß, die
Gefahr ſteht außerhalb der Befürchtung, daß ſie jemals fahnenflüchtig werden
könnten; nein, ſie würden auch dann weiterkämpfen bis zum Ende, aber doch nur
mit dem Bewußtſein des Soldaten auf verlorenem Poſten. Woher ſollten ſie
noch die eigene Zuverſicht und Freudigkeit ſchöpfen? Es wäre nicht viel mehr,
als was die Griechen Euthanaſia nannten, ein Sterben in Schönheit.
Was jetzt noch geſchehen kann und geſchehen muß, um den Eindruck dieſer
böſeſten aller Kühlmannoffenbarungen in etwas abzuſchwächen, iſt, daß laut,
nach außen wie nach innen, in die Welt hinausgerufen wird: „Laßt euch nicht
irren! Die Stimme, die ihr am 24. Juni, wenn auch von einem hohen Regierungs-
ſitze aus, vernahmt, iſt nicht die Stimme und Stimmung des deutſchen Volkes,
iſt nicht die Stimme ſeiner in Wahrheit berufenen, von ihm anerkannten
Führer! Zt nicht die Stimme feiner allverehrten und geliebten Heerführer,
nicht die Stimme des oberſten Reichsvertreters und nicht die Stimme deſſen,
bei dem die letzten Entſcheidungen ruhen: des Deutſchen Kaiſers. Wollt Ihr
aber euch irren laſſen —: nun wohl, ſo tut's, aber — zu eurem Schaden!“
Das aber muß dem Volke — mit allen ſich daraus ergebenden Folgerungen —
auch beſtätigt und bekräftigt werden. Das darf das Volk erwarten, das zu
erwarten hat es ein heiliges Recht. An Pflichten und Opfern trägt es wahrlich
genug, dieſes Opferlamm einer Welt.
Der Kern der Kühlmannrede
vom 24. Juni wird vom Grafen Reventlow
mit folgenden einwandfreien Feſtſtellungen
aus feinen Umhüllungen herausgeſchält:
„Der Sinn des Kühlmannſchen Gedankens
iſt klar: die Siege bringen uns den Frieden
nicht, folg lich müſſen wir den anderen Weg
gehen und um ‚Verſtändigung“ bei unſeren
Gegnern werben, wie ja Kühlmann auch
tut. Die Aufmerkſamkeit der deutſchen Preſſe
hat ſich hauptſächlich auf den Schlußteil der
Rede gerichtet, insbeſondere auf die Wen-
dung Kühlmanns, daß militäriſche Entſchei-
dungen allein den Frieden nicht bringen
könnten. Uns erſcheint die angezogene Wen-
dung viel wichtiger; denn in ihr liegt das
Bekenntnis zum Gegenteil des Sieg es—
willens und des Glaubens an den
Sieg, nicht nur dem Ausdrucke, fon-
dern auch jedem Sinne nach. Keine Inter-
pretation vermag das auch nur zu modifizieren.
Zn dieſen Gedankengängen und Ausdrücken
liegt das Ung laubliche der Kühlmannſchen
Rede in erſter Linie und der ſchwere Scha-
den, den ſie nach innen und außen angerichtet
bat. In keinem der uns feindlichen Länder
wäre ein derartiger Vorgang denkbar. Man
braucht ſich nur das Bild von dieſem Gefichts-
punkte vorzuſtellen, um nicht nur die Schäd-
lichkeit, ſondern auch das Beſchämende der
Sache zu fühlen und zu ermeſſen.
Wie lange der Krieg dauern werde, ver-
mag niemand zu ſagen. Daß Großbritannien
und Amerika verkündet haben, ſie würden den
Krieg auf der See weiterführen, wenn er
auf dem Feſtlande nicht mehr geführt werden
könnte, iſt bekannt. Um fo notwendiger
iſt es aber, den Willen zum Siege im deutſchen
Volke nicht nur anzuregen, ſondern ſeine
Anerläßlichkeit zu begründen. Herr von
Kühl mann hat das Gegenteil getan; denn er
will nach den politiſchen Motiven“ zur fo-
genannten Verſtändigung ‚ausfpähen‘, weil
er an die Wirkung der Siege nicht
glaubt. Oabei iſt es logiſch und ebenſo
im Lichte der Erfahrungen und des We-
ſens dieſes Krieges ohne weiteres klar,
daß unſere Feinde durch Zähigkeit den
militäriſchen und den inneren Zuſammen-
bruch Deutſchlands erreichen wollen, und
daß die Deutfchen auch deswegen um ſo mehr
Sieg und Siegeszuverſicht gebrauchen. Jede
andere Einwirkung auf die Stimmung des.
deutſchen Volkes wie des Auslandes wirkt
als Kriegs verlängerung. Von Beginn
des Krieges an ſind deutſcherſeits Dutzende
von Friedensangeboten direkt und indirekt,
ausdrücklich und unausdrüͤcklich gemacht wor-
den. Sie haben nur zur Knochenerwei—
chung im Innern und zur Zuverſicht
unſerer Feinde beigetragen und nicht
zuletzt zur Verlängerung des Krieges.
Bethmann Hollweg war unausgefeßt be-
ſchäftigt, nach jenen politiſchen Motiven aus-
zuſpähen, wenn möglich auf Koſten der
Kriegführung. Die Verzichtreſolution des
Reichstages hat in gleicher Beziehung
wie eine Peſt gewirkt und tut es noch.“
*
Der Mann mit der eiſernen
Maske
iner von den klügeren Abgeordneten
hat Herrn von Kühlmann in den erſten
Wochen ſeiner Tätigkeit einmal den Mann
2
578
mit der eiſernen Maske genannt und hin-
zugefügt, man weiß nicht recht, was dahinter
iſt. Wenn gar nichts dahinter wäre, — das
wäre furchtbar! Heute ſehen wir wohl alle,
daß in der Tat hinter der eiſernen Maske
nichts ſteckt, nicht die Spur einer politiſchen
Idee, nicht die Andeutung einer weltpoli-
tiſchen Überzeugung.
mann-Reden vom 24. und 25. Juni ergaben
in ihrem Zuſammenhange eigentlich nur
eine Bankerotterklärung ſämtlicher
Methoden, die uns aus dem Kriege
herausbringen können. Von den rein
militäriſchen Methoden will Herr von Kühl-
mann nichts wiſſen. Verhandlungen von
Parlament zu Parlament lehnt er ebenfalls
ab. Bliebe alſo nur noch die diplomatiſche
Fühlungnahme. Aber auch von der ver-
ſpricht er ſich bei der Stimmung in England
und Frankreich nichts. Alles in allem alſo
die ausgezeichnetſte Ratloſigkeit, die
nicht vorwärts und nicht rückwärts weiß.
Wie eine ſolche Natur aber den Krieg
beenden ſoll, das iſt eine Frage, die uns
wohl niemand beantworten kann.
So die „Leipziger Neueſten Nachrichten“,
und auch die beſten Freunde Herrn von
Kühlmanns wiſſen keine Antwort.
Zweigleiſige Meinungsſchiebung
Der Reichstag muß genommen werden,
wie er 1911 nun einmal gewählt ward.
Einen andern zu wählen iſt unmöglich. Sei-
nen Beſchlüſſen, obwohl nur die einer durch
Kunſtgriffe zuſammengebrachten Mehrheit,
wurden Zugeſtändniſſe gemacht, die mit der
Verfaſſung ſchon in Widerſpruch und Bruch
geraten. Michaelis wich und fiel vor der
Stimmenzahl im Parlament. Die Linke,
oder richtiger ihre Drahtzieher triumphieren,
daß damit die Unterordnung der Miniſter
unter das Parlament anerkannt und (angeb-
lich) grundſätzlich geworden ſei.
Das preußiſche Abgeordnetenhaus in
ſeiner viel ſtärkeren „Mehrheit“, die eine
Mehrheit der Überzeugung und der Über-
legung iſt, welche dem 19. Juli 1917 zu-
geſtanden fehlte, erwehrt ſich der Forderung,
Die beiden Kühl⸗
Auf der Warte
dem bankerottierenden Selbſterhaltungsakt
eines auch ſo erledigten Nichtſtaatsmannes
die rechtsgůltige Verewigung zu erteilen. (Die
inhaltliche Frage hat mit dieſer Parallele nichts
zu tun; auch ich habe mich für einen gerech⸗
teren und vor allem echteren Volksrat mit
gleichem Wahlrecht ausgeſprochen.) Zweifel
los hält ſich der Landtag innerhalb einer
Zuſtändigkeit, für die er eingeſetzt iſt, und
innerhalb der Verfaſſung. Hier aber heißt
es nicht: dieſer Verfaſſungskörper muß ge-
nommen werden, wie er iſt und einmal von
Rechts wegen beſteht. Hier iſt es nur nicht
unmöglich, ſondern iſt notwendig, mitten im
Kriege einen anderen zu wählen. Niemand der
parlamentariſtiſch jo überaus Grundfäßlichen
verlangt die parlamentariſtiſche Löſung, daß
der fortgeſetzt mit feiner Vorlage überftimmte
Miniſter Drews feinen Rücktritt nimmt.
Auf den Willen der Krone pochen tajchen-
ſpieleriſch diejenigen, die ihn eben jetzt end-
gültig ausgeſchaltet zu haben meinen. Tat-
ſächlich ſetzen zwei Willen ſich gegenſeltig
matt, der eine, willensfreiere, der dem Volt
unter. Waffen die Mitentſcheidung vorbehielt,
und der zweite, der letzte Notanker Beth
manns, der den männlichſten, aktiven, opfer-
reichſten Teil des Volkes um fein Selbſt⸗
beſtimmungsrecht verkürzte. ed. h.
Schafft Politiker!
o, meint Georg Bernhard in der „Voſſ.
Ztg.“, müſſe letzten Endes die Forde ⸗
rung der Reform unferes politiſchen Oienſtes
lauten. „Aber wie? Daß ſich Genies nicht
in beliebiger Menge hervorbringen laſſen,
weiß jedermann. Aber auch wirklich politiſche
Köpfe von nur durchſchnittlichem Rang ſind
in Oeutſchland nicht leicht zu haben. Die
breiteſte Ausleſemöglichkeit für politiſche Köpfe
ſollte doch im Reichstag gegeben ſein, der auf
der Grundlage des allgemeinen, gleichen und
direkten Wahlrechts zuſammengeſtellt wird.
Sind dort aber mehr politiſche Köpfe
zu finden, als man an den Fingern der
Hände herzählen kann? Wo find denn
dort die Männer, die an die Spitze des Reiches
zu ſtellen das geſamte Volk ſehnſüchtig ver-
Auf der Warte
langt? Man überſieht in Deutſchland eben
immer noch zu ſehr, daß jede Diplomatie im
Grunde genommen eben doch nur ein Ex-
ponent des geſamten Volkes fein kann.
Wo ſollen denn in einem Volk, das bis vor dem
Kriege ſich um politiſche Fragen überhaupt
kaum kümmerte, die Politiker, die Diploma-
ten, die Staatsmänner herkommen? Die Re-
form des Auswärtigen Amtes und der deut-
ſchen Diplomatie muß daher bei der Politi-
ſierung des Volkes anfangen. Die Be-
deutung der auswärtigen Politik für das
moraliſche und wirtſchaftliche Wohl aller
Deutſchen muß dem Volke aber erſt ein-
geimpft werden. Ein Volk, das weiß, daß
man für die Hergabe eines Talers nicht ſofort
drei Taler Nutzen haben kann, ein Volk, das
weiß, daß die beſten und freieſten in-
länd iſch en Einrichtungen dauernd ohne
äußere Macht bedroht find, ein Volk, das
gelernt hat, daß, „wenn hinten weit in der
Türkei die Völker aufeinanderſchlagen“, auch
die Sicherheit ſeiner eigenen Hütten
gefährdet werden könnte, ein ſolches Volk
iſt ein politiſches Volk. Nur ein politiſches
Volk aber kann einen Durchſchnitt tüchtiger
Führer erzeugen und wird nicht mit kindlicher
Einfalt dauernd darauf warten, daß ihm ein
Meſſias beſchert wird, dem es dann ſeine poli-
tiſchen Geſchäfte gedankenlos anvertrauen
kann. An dieſer wichtigſten Vorbedingung
zur Reform der deutſchen Diplomatie und des
deutſchen Auswärtigen Amtes, an der politi-
ſchen Erziehung des geſamten Volkes — vor
allem der ſogenannten gebildeten Schichten —
können und müſſen wir alle mitarbeiten. Dieſe
Aufgabe kann durch keine Ausſchüſſe und Denk-
ſchriften gelöſt werden.“
*
Japan und Bethmann ⸗Erz⸗
berger⸗Politik
6 den Erwiderungen des früheren
japaniſchen Außenminiſters, jetzigen
Führers der Oppoſition, Barons Kato, auf
die Fragen des Vertreters der „Daily Mail“
hebt die „Oeulſche Zeitung“ beſonders hervor:
Japan glaubt trotz deutſcher Siege zu
Land an den Endſieg der britiſchen Flotte,
379
an einen ſehr langen Krieg, worin Zapan
noch viele Geſchäfte auch auf Koſten der
Angelſachſen machen wird, was Kato aber
natürlich verſchluckt; an den Rohſtofftod
Deutſchlands in einem allerdings noch ſehr
entfernten Zeitpunkt, und ſomit iſt ein
deutſch-japaniſches Bündnis undenkbar, die
Fortführung des engliſch-japaniſchen Bünd⸗
niſſes aber geboten, weil Japan ſonſt in Ver-
einzelung geriete.
Dies alles iſt zutreffend. Japan glaubt
heute noch an den engliſchen Sieg und ſtellt
ſeine ganze Politik darauf ein. Aber Hind en-
burgs Schläge hallen in Nippon kräftig
wieder, und wird ihre Wirkung nicht
durch neue Schwächlichkeitendes Reichs-
tages aufgehoben, ſpürt Japan vielmehr
den unbedingten Siegeswillen Oeutſch-
lands, dann, aber auch nur dann würde
Sapan aus der Vaſallenſchaft der Angel-
ſachſen aufſteigen können zur Freiheit des
Kampfes gegen die Angelſachſen. Vorerſt
beruht, wie Kato es ausſpricht, „mein Ver-
trauen auf einen Sieg der Entente darin, daß
fie über überlegene Hilfsquellen, Wider-
ſtandskraft und Hartnäckigkeit verfügt“.
Es iſt nicht zu glauben, was uns die
Bethmann -Erzbergerſche mangelnde
Hartnäckigkeit im fernen Oſten ge—
ſchadet hat.
*
Ein Sozialdemokrat über den
Anſchluß Baltenlands
m vorigen Hefte wurde das Urteil des
ſozialdemokratiſchen Politikers Ernſt Heil-
mann über die „baltiſchen Barone“ wieder-
gegeben, die für ihn „die ſtärkſte Uberraſchung“
ſeiner Eſtlandreiſe waren, weil ſie ſo ganz und
gar nicht der Vorſtellung entſprachen, die man
ſich „nach deutſchen Zeitungen“ von ihnen
machen mußte. Statt der vorgegaukelten
grauslichen „Junker“ aus den Zeiten der Leib-
eigenſchaft fand er „durchweg Zntellektuelle
und Aſtheten“, — „gar nichts mehr von dem
bornierten FJunkerdünkel“. Aber politiſch viel-
leicht noch beachtenswerter iſt, wie er in dem
ſelben Blatte („Internationale Korreſpon-
denz“) über cin enges Verhältnis der drei bal-
380
tiſchen Provinzen zum Oeutſchen Reiche
urteilt:
„In der Tat ſcheint es uns nicht mehr
zweifelhaft, und es war mindeſtens im letti-
ſchen Teil des Landes allgemein Überzeugung,
daß der Anſchluß der drei Oſtprovinzen an
Deutfchland bereits unumſtößlich geſichert ſei.
Schafft die deutſche Verwaltung einige ſoziale
Gerechtigkeit im Land, find auch große natio-
nale Konflikte nicht ſehr zu befürchten. Dazu
iſt die Zahl der Letten und Eſten nicht groß
genug, dazu fehlt ihnen zu ſehr der Rückhalt
an einem eigenen Staat außerhalb unſerer
Grenzen, dazu haben ſie in Ausſehen und
Denkweiſe auch ſchon zuviel deutſche Kultur-
elemente in ſich aufgenommen, vor allem den
evangeliſchen Glauben. Sind auch in Eſtland
nur wenige Prozent der Bewohner deutſcher
Abkunft, jo kann man ſich doch in allen Ge-
ſchäften und mit jeder Marktfrau ohne weite-
res deutſch verſtändigen, und deshalb wird es
auf die Dauer den Letten und Eſten nicht
ſchwer werden, ſich unter Wahrung ihrer Eigen-
art und Sprache in das Gebiet des Oeutſchen
Reiches und Rechtes einzufügen. Wurde doch
auch bis zum deutſchen Einmarſch in Reval
noch immer nach altem lübiſchem Stadtrecht
geurteilt.
So ſelbſtverſtänd lich uns heute der
Gedanke iſt, daß Elſaß-Lothringen
deutſches Land iſt und bei Oeutſchland
bleiben muß, ſo natürlich werden wir
in einem Menſchenalter Baltenland
als altes deutſches Land anſehen, das
gleichzeitig mit Straßburg und Metz uns in
den Zeiten deutſcher Erniedrigung verloren
ging und nun zum Heimatland zurückkehrt.
In wenigen Jahrzehnten werden die
drei baltiſchen Provinzen völlig mit
dem Deutſchen Reiche verſchmolzen
fein und ſich, wirtſchaftlich mächtig voran
gekommen, mit allen ihren Bewohnern
darin wohlfühlen können.“
*
Wie es ſein — könnte
ſchildert die „Pall Mall Gazette“ vom 16. Mai
1918:
Auf der Warte
„Unſer früherer Botſchafter in Rußland,
Sir George Buchanan, warnte uns vor dem
Fehler, Rußland während feines gegen-
wärtigen chaotiſchen Zuſtandes aus den Augen
zu laſſen. Er bemerkte richtig, daß, je mehr
wir in dieſen Irrtum verfallen würden, um
ſo mehr Oeutſchland in der Lage ſein werde,
feine Herrſchaft während des Krieges zu be⸗
feſtigen. Trotz des lebhaften Intereſſes, das
wir an der Wiederherſtellung Belgiens und
an der Abtretung der in dieſem und früheren
Kriegen Frankreich entriſſenen Gebiete be-
ſitzen, iſt nichts, was für uns und die ganze
Welt von ſo großer Bedeutung iſt, wie die
Beziehungen zwiſchen Deutſchland und dem
ehemaligen ruſſiſchen Reich. Wenn nicht die
Flut der preußifchen Eroberung, die ſich jetzt
von Finnland bis zum Kaukaſus ausbreitet,
zurüdgedammt wird, und das ruſſiſche Volt
eine wirkliche Autonomie erhält, ſo wird
Oeutſchlands Stellung ſtärker werden,
als es vor dem Kriege der Fall war. Die
reichſten und bevölkertſten Gegenden Rußlands
werden ein zweites Sſterreich werden,
das in politiſcher, militäriſcher und wirtſchaft ·
licher Hinſicht durch alle Mittel mit ihm
verknüpft wird. Es iſt eine Frage, die uns
beſonders intereſſiert. Denn dadurch, daß
das Schwarze Meer in ein mare olausum
umgewandelt, und der Kaukaſus zu einer
türtkiſchen Satrapie geſtaltet wird, verſchafft
ſich Deutſchland neue Zugänge zu Mittel-
aſien und erwirbt eine ſtärkere Baſis
für ſeine zukünftigen Abſichten auf
den Suezkanal. Wenn es imſtande iſt, eine
unbegrenzte Zahl von U-Booten in das
öſtliche Mittelmeer zu ſchicken und zu
gleicher Zeit ſeine Armeen verwenden kann,
um das Rückgrat des britiſchen Reiches zu
zerbrechen, ſo wird die Abſendung von
Verſtärkungen nach Agypten das ge
fahrvollſte unternehmen werden. Wit
werden plötzlich finden, daß Eng land und
Indien von der Möglichkeit abgeſchnitten
werden, ſich gegenſeitig zu unterftüßen.“
Folgt die unvermeidliche Forderung, jedes
nur mögliche Mittel anzuſtrengen, dieſe Gefahr
abzuwenden uſw.
Auf der Warte
Auch die hochgeſchätzten Ame⸗
rikaner!
Aus der Rede des Kaiſers am 30. Jahres-
tage ſeines Regierungsantrittes, die in
dem Satze gipfelte, der Kampf zwiſchen Deut-
ſchen und Engländern ſei ein Kampf um zwei
Weltanſchauungen: der preußifch-Deutich-ger-
maniſchen Pflichterfüllung für ideale Güter
und dem angelſächſiſchen Gößendienfte des
Geldes, merken die „Leipziger Neueſten Nach-
richten“ mit ganz beſonderer Befriedigung an:
Es iſt ein Verdienſt unſeres Kaiſers, dieſen
tiefſten und letzten Grund des Weltkrieges in
hellſte Beleuchtung gerückt zu haben. In
dumpfer Sorge vor der unwiderſtehlich fieg-
haften Kraft dieſer deutſchen Weltanſchauung
läſterte vor kurzem noch Lloyd George das
Weſen unſeres Volkes, ſuchte er den Geiſt, der
uns zu unvergleichlichen Taten an der Front
und in der Heimat befähigt, als haſſenswerte
Peſt aller Welt verächtlich zu machen. Hinden-
burg tat recht daran, in ſeiner Anſprache an
den Kaiſer auf dieſes elende Gegeifer hin-
zuweiſen, und der Kaiſer griff den Gedanken
auf, indem er den Geiſt der Ordnung, der
Treue und des Gehorſams pries. Er charakte-
riſierte aber zugleich den Händlerſinn, der ſich
deutſchem Heldengeiſt entgegenſtemmt, nicht
nur als engliſche, ſondern als angel-
ſächſiſche Weſensart. Alſo auch für die noch
in den erſten Monaten des Krieges von man-
cher maßgebenden Stelle hochgeſchätz⸗—
ten Amerikaner gilt nunmehr, was über
das britiſche Streben nach wirtſchaftlicher
Ausſaugung und Aufſaugung der Welt geſagt
wurde.
*
Auch du, Brutus?
us Stockholm, und zwar von einem
Skandinavier, gehen der „Voſſiſchen
Zeitung“ folgende Mitteilungen zu:
„Es wäre falſch, zu behaupten, daß die
Preſſeorgane des offiziellen Schwedens
die Neutralität wahren, deren ſeine Miniſter
ſich öffentlich rühmen. Man kann in den letz-
ten drei Monaten bei der regierungstreuen
liberalen Preſſe Schwedens die ausgeſprochene
381
Tendenz wahrnehmen, weit ſchlimmer und
planmäßiger als früher ihren Leſerkreis
gegen Oeutſchland aufzuhetzen.
Das letzte und gröbſte Glied in dieſem
Lügenfeldzug iſt der Plan, ein neues Ron-
kurrenzbureau gegen ‚Svenska Tele-
grambyro‘ zu ſchaffen. Die Herren Gyl-
den und Bildt, die an der Spitze des Unter-
nehmens ſtehen, ſind nicht nur als Feinde
Deutſchlands bekannt, ſondern auch dafür, daß
fie alle ihre Geſchäfts verbindungen
mit der Entente haben. Herr Bildt hat
durch ſeine, Tranſito-Geſellſchaft feine vor-
her verworrenen Geſchäfte ins klare
gebracht, ſich ein Millionenvermögen
verſchafft und der Wallenberg-Bank
gewaltige Verdienſte zugeſchanzt.
Das neue Telegrammbureau ſoll mehr
als bisher in Schweden die Entente-Inter-
eſſen wahrnehmen. Man merkt die Abſicht,
dieſelbe einſeitig gefärbte Lügenkampagne in
Gang zu ſetzen, die in Rumänien, Portu—
gal und Amerika zu fo prächtigen Ergeb-
niſſen geführt hat.
Herrn Bildts neue Schöpfung bekommt
ihre rechte Beleuchtung, wenn man weiß, daß
Schwedens jetziger Zuſtizminiſter früher
hauptſächlich juriſtiſcher Vertreter der
Tranſito-Geſellſchaft war und den größ-
ten Teil feines Einkommens davon be-
zog. Nachdem Löfgren Juſtizminiſter gewor-
den, kauften er und ſeine Ententefreunde die
ſchon vorher ſtark entente-aktiviſtiſche ‚Afton-
tidningen‘, die im Begriff war, an wirtſchaft-
lichen Sorgen einzugehen. In dieſen Tagen
hat die Redaktion der Zeitung gewechſelt,
und ihre Haltung, die ſchon vorher offen en-
tentefreundlich war, hat ſich jetzt zur Höhe der
ſchlimmſten Lügenorgane der Northeliffe-
Preſſe emporgearbeitet.“
Es werden dann einwandfrei einige wei-
tere Fälle dargelegt, die den traurigen Be-
weis liefern, daß in der Tat die ſyſtematiſche
deutſchfeindliche Ententehetze einer Reihe
„regierungstreuer“ ſchwediſcher Blätter
ſelbſt durch die leidenſchaftliche Verlogenheit
der Northeliffe-Preſſe nicht mehr überboten
werden kann, nur darf dieſer immerhin als
mildernder Amftand angerechnet werden, daß
382
fie nebenher auch das politiſche Geſchäft
ihres Landes beſorgt, wie ſie es eben begreift,
während die gekaufte ſchwediſche Regierungs-
preſſe nur in die eigene Taſche und zum
Schaden ihres Landes arbeitet.
Der Skandinavier ſchließt mit der Mah-
nung, daß „die deutſche Regierung allen
Grund habe, die Entwicklung der Dinge in
Schweden mit Wachſamkeit zu verfolgen“.
Sollte ſich aber dieſe Wachſamkeit nicht auch
auf unſere politiſche Vertretung in
Stockholm erſtrecken? Sollte unſerer Re-
gierung nicht bekannt geworden ſein, daß von
uns wohlgeſinnten Schweden bitter darüber
geklagt wird, wie wenig Rückhalt fie ge-
rade bei dieſer Stelle finden, wie ſie
bei ihr eher auf Hemmniſſe, als auf Unter-
ſtützung ihrer Bemühungen ſtoßen? Sollten
ihr ferner gewiſſe — ſagen wir Berichte nicht
vorgelegen haben, die auch dem Türmer zur
Verfügung geſtellt wurden, ohne daß es für
ihn eine entfernte Möglichkeit gab, davon Ge-
brauch zu machen? Das Schlimmſte ſtammt
ja, wie alles Schlimmſte in dieſem Kriege,
noch aus Bethmanns Erbſchaft, aber es muß
doch endlich einmal auch mit dieſer Konkurs-
maffe aufgeräumt werden. Gr.
Ein Bruch mit dem „Syſtem B*
u den Anfragen im Reichstage über das
8 Elend unſerer Kriegsgefangenen im
feindlichen Auslande ſchreibt die „ODeutſche
Zeitung“:
Es iſt eine der erfreulicheren Begleiterſchei-
nungen der Verpflanzung von Parlamenta-
riern in den Olymp der Wilhelmſtraße, daß
mit dem Syſtem tunlichſten Totſchweigens
und Vertuſchens auf dieſem traurigen Gebiet
endlich gebrochen worden iſt. Mit der gehäſſi-
gen Erinnerung, hier die Überlieferungen der
Bethmann - Zeit jämmerlichen Angedenkens in
ihren Vertrauensleuten auf dem Miniſterſeſſel
getreulich fortgeſetzt zu haben, möchten die
Mehrheitsparteien denn doch nicht gern der
Zukunft entgegengehen, ſo ſehr, was vordem
geſchah, in ihrem Sinne war. Bis dahin wurde
leiſe getreten bis dort hinaus, die Preſſe gehin-
dert, auszuſprechen, was war, angeblich, um
Auf ber Warte
den heimiſchen Angehörigen der unglücklichen,
völkerrechtswidrig behandelten und mißhan-
delten Reichsangehörigen draußen Schmerz
und Kummer zu erſparen und zu verhindern,
daß ihre Klage den Kriegswillen der Nation
beeinträchtige; in Wahrheit, um dem
Aufflammen der Entrüſtung eben die—
ſer Nation, einer unerwünſchten Stei—
gerung ihres Kriegswillens und dem
Verlangen nach tatſächlich wirkſamen
Gegenmaßnahmen aus dem Wege zu
gehen. Es war immer dieſelbe Geſchichte:
die politiſche Leitung des Reichs fühlte ſich
den Anforderungen, die der Krieg an ihre
Willenskraft und an ihr ſtaatsmänniſches
Können ſtellte, innerlich nun einmal nicht
gewachſen; alles, was Leiſtungen von ihr
fordern hieß oder der ſchleunigſten Beendi⸗
gung der ihr höchſt unbehaglichen Zeit der
Prüfung auf ihr Können hin entgegen ſein
konnte, erſchien ihr als perſönliche Anfein-
dung oder ſchwere Unbill des Schickſals, und
ſo waren ihre natürlichen Verbündeten in
deren verſchiedenen Schattierungen alle, denen
nach Ströbels denkwürdigem Wort aus
jener Zeit ein voller Sieg des Oeutſchen
Reichs dem Vorteil ihrer Partei nicht
zu entſprechen ſchien. So enthielt man
die Niedertracht unſerer Feinde in ihre Hände
geratenen Reichs angehörigen gegenüber der
Offentlichkeit nach Möglichkeit vor, beſchränkte
ſich auf lahme Proteſte, die nur den Hohn
der Vergewaltiger des Völkerrechts in Feindes
land herausforderten, und beſchränkte ſich, als
die ſtärkſte aller Künſte, auf die Androhung von
Repreſſalien, auf eine lahme Androhung, wo
ſofortige energiſche und umfaſſende Anwen-
dung nach dem Grundſatz: „Auf einen Schel⸗
men anderthalbe“ den körperlich und ſeeliſch
in der unerhörteſten Weiſe Gequälten draußen
allein Rettung und Hilfe bringen konnte! Wo
ſelbſt etwas damit erreicht wurde — wie lange
hat es nicht gedauert! Man denke z. B. an den
Fall Schierſtädt! Und wie vieler Lebensmut
und Lebenskraft iſt nicht für die Dauer ge-
brochen worden, wie viele find nicht ganz ver
dorben und geſtorben, ehe es fo weit war!
Dafür aber, daß die Beſprechung dieſer Zu⸗
ſtände im Reichstag die Öffentlichkeit nicht
Auf der Warte
in Erregung brachte, wurde mit allen Hilfen
der Überredung, der guten und der ſchlechten
Behandlung der Parteiführer geſorgt! Wozu
waren die Ausſchüſſe, wozu die Möglichkeit
vertraulicher Ausſprachen dort da? Mit die-
ſem unheilvollen Syſtem hat erſt die
Ara Hertling gebrochen. Sie hat endlich
den Mut, ſich dem Drucke der öffentlichen
Meinung auszuſetzen, weiß den Wind, der ihr
damit in die Segel fällt, zu ſchätzen und macht
wenigſtens den Verſuch, ihn durch entſprechen-
des Lavieren zur Erreichung irgendwelcher
Ziele auszunützen. Und ſo hört man denn in
der Vollverſammlung des Reichstags endlich
von dieſen Dingen!
*
„Alldeutfch*
Ji den „Alldeutſchen Blättern“ macht
Spieß Oörſcheid auf den beluſtigenden
Viderſpruch aufmerkſam, in den ſich die Geg-
ner der Alldeutſchen verwickeln, wenn fie ein-
mal erklären: „Die eigentlichen Alldeutſchen
ſind nur reichlich ein Dutzend ſtimmbegabte,
aber politiſch ſchwachbegabte Doltrinäre“ und
auf der anderen Seite ganze Bücher mit dem
„Nachweis“ anfüllen, welch unheilbaren Scha-
den dies „reichliche Dutzend“ angerichtet hat.
Man nimmt’s eben, „wie's trefft“, bald ſo,
bald ſo. Wie weit aber der „alldeutſche“ Ein-
fluß in Wirklichkeit reicht, darüber iſt offenbar
niemand mehr im unklaren, als der Alldeutſche
Verband ſelbſt. Indes klären ihn die Gegner
darüber tagtäglich bereitwilligſt auf. „All-
deutſch“ iſt die „Kölniſche Volkszeitung“,
wenn ſie ſich gegen Erzberger wehrt; „all-
deutſch“ iſt jeder, der die Mehrheitsentſchlie-
zung vom 17. Juli nicht für Offenbarung
höchſter ſtaatsmänniſcher Weisheit hält. Aber
es geht noch weiter nach links. Innerhalb der
Sozialdemokratie gibt es eine kleine Gruppe,
die ſich um Dr. Lenſch und die „Glocke“ ſchart.
Sie hat mit ihrem klaren Blick für geſchicht-
liche Notwendigkeiten den „Realpolitikern“
ſchon manche peinliche Stunde gemacht.
Denn ſchließlich ſind's doch Sozialdemokra—
ten, die da für „Machtpolitik“ eintreten und
es wagen, Begriffe wie „Parlamentarismus“
und „Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker“
383
als — „öde Schlagworte“ zu verhöhnen.
Die „Frankfurter Zeitung“, der dieſe „ganze
Richtung“ offenbar „nicht paßt“, verſucht's
mit väterlihem Wohlwollen und mildem
Spott: Folgerichtigkeit ſei ganz gut, aber
„unter Umftänden iſt eben doch auch In-
konſequenz etwas Schönes und ſehr Nüb-
liches“. Argerlicher iſt die Sache der Partei-
preſſe, zumal Lenſch mit Liebens würdigkeiten
gegen fie — fie biete ein „jam merwürdiges
Schauſpiel“ — nicht ſpart. Indes hat ſie
eine Waffe, um ihn tödlich zu treffen. Sie
verſucht's nicht mit fachlicher Widerlegung.
Warum einen ſolch mühſamen Umweg wäh-
len, der doch allerhand geiſtige Unkoſten ver-
urſacht, wenn man es viel leichter und beque-
mer haben kann mit der Behauptung, Lenſch
iſt ein — Alldeutſcher! Damit iſt für jeden,
der urteilsfähig iſt, doch auch ſogleich bewie-
ſen, daß er — unrecht hat. Und fo „Ichüttelt“
die Dresdener „Volkszeitung“ fein bitterböſes
Arteil über den „Vorwärts“ ganz mühelos
„ab“: „Sagen wir alſo: ein alldeutſches
Urteil über den „Vorwärts.“
Wahrzeichen deutſcher Selbſt⸗
erniedrigung
ie bekannt, ſchreibt die „Kreuzzeitung“,
finden ſich in zahlreichen Städten
Elſaß- Lothringens noch franzöſiſche Denk-
mãler, von denen eines der bekannteſten wohl
das Standbild des napoleoniſchen Generals
Kleber auf dem nach ihm benannten Platz in
Straßburg iſt. Zum großen Mißvergnügen
zahlreicher deutſcher Elemente find dieſe fran-
zöſiſchen Denkmäler ſeitens der deutſchen
Regierung mit einer Pietät behandelt
worden, die vom politiſchen Standpunkt aus
kaum als glücklich bezeichnet werden kann und
die auch in den früheren zahlreichen Demon-
ſtrationen der Welſchlinge vor dieſen Denk-
mälern kaum eine ausreichende Erklärung
findet. Man ſollte nun der Meinung ſein, daß
die in ganz Deutſchland bevorſtehende Ein-
ſchmelzung der Bronze- und Rupferdentmäler,
die für ſo viele Städte Opfer und Härten mit
ſich bringt, vor den überlebten und gegen-
ſtandslos gewordenen franzöſiſchen Stand-
594
bildern in den Reichslanden keinesfalls halt-
machen, ſondern gerade mit dieſen dauernden
Erinnerungszeichen an die zweihundertjährige
Franzoſenherrſchaft aufräumen würde. Doch
weit gefehlt! Wie man uns mitteilt, verfallen
in den Reichslanden zwar die nach 1870 ge-
ſetzten deutſchen Denkmäler, ſoweit ſie nicht
einen hohen Kunſtwert aufweiſen, der Ein-
ziehung und Einſchmelzung, die franzö—
ſiſchen Standbilder jedoch bleiben, weil
in der Mehrheit vor dem als Grenzlinie an-
genommenen Fahre 1850 geſetzt, als Alter-
tümer der Nachwelt erhalten, — als
Altertümer und, wie man berechtigterweiſe
hinzuſetzen könnte, als Wahrzeichen dafür,
daß die Michelei in Oeutſchland anſcheinend
unausrottbar iſt. Wie man im feindlichen
Auslande dieſe und ähnliche Fragen behandelt,
ohne ſich in der gleichen Zwangslage zu be-
finden wie wir, zeigt zur Genüge wohl die
Einſchmelzung des Standbildes Fried-
richs des Großen in Waſhington.
Deutſche — „Gutmütigkeit“?
in unglaubliches — Verzeihung, ein in
„Deutſchland“ nur allzu glaubliches
Stück wird der „O. T.“ aus Niederbayern
berichtet: In der Kreishauptſtadt Landshut
a. d. Zjar wohnt ein Staliener, der heute noch
italieniſcher Staatsbürger iſt. Oeutſche
Gutmütigkeit ermöglichte es dem Manne,
heute noch ſeinem Geſchäft wie in Friedens-
zeiten nachzugehen; er hat ſogar, wenn wir
nicht irren, ſtaatliche Aufträge. Anſtatt
ſich dafür dankbar zu zeigen und ſich bejchei-
den den notwendigen Kriegsgeſetzen zu unter-
werfen, verſucht er, den Beſtimmungen hin-
ſichtlich der Volksernährung ein Schnippchen
zu ſchlagen und für ſich Sondervorteile
herauszuholen. Die kommunalen Behörden
brachten der welſchen Unbeſcheidenheit kein
Verſtändnis entgegen und billigten dem Sta-
liener nicht mehr zu, als was der eigenen Be-
völkerung auch zuſteht. Darüber beſchwerte
ſich der Fremdling bei der Kgl. Regie-
Auf der Warte
rung und beſchuldigte bei dieſer Gelegen-
heit einen ſehr geachteten Bürger der
Stadt Landshut, der als deutſcher Mann dem
Vaterland einen Sohn geopfert hat, eines
Vergehens gegen die beſtehenden Beſtimmun⸗
gen. Anſtatt dem welſchen Oenunzianten die
Türe zu weiſen, nahm die Behörde die
Beſchuldig ung willig entgegen und lieg
über den Bürger Erhebungen pflegen,
welche die Unwahrheit der Anklagen er-
gaben. Bis heute hat man nichts davon
gehört, daß der Italiener wegen feiner
falſchen Anſchuldigungen etwas zu leiden ge-
habt hätte. ö
Vas wohl einem Oeutſchen paſſiert wäre,
der ſich in Rom, London oder Paris ein ähn-
liches Stückchen geleiſtet hätte? — fragt der
Berichterſtatter. Die Frage iſt gegenftands-
los; in Rom, London oder Paris fehlt jede
Vorausſetzung der Möglichkeit ſolcher
Stücke. Wenn es aber zum Schluſſe heißt: Es
geht doch nichts über die deutſche „Gutmütig⸗
keit“! — fo wollen wir dieſes Wort nicht be-
ſchönigend mit einem derartigen Gebaren in
Verbindung bringen, das mit edeln, wenn
auch falſch angewandten Eigenſchaften längſt
nichts mehr zu tun hat, das nichts anderes iſt,
als der Ausfluß einer völkiſchen Seuche.
„Proſkyneſe“ fagten die alten Griechen. Da-
mit meinten ſie würdelofes Sichſelbſthinwer⸗
fen, -fortwerfen. Gr.
*
Nach dreieinhalb Kriegsjahren!
ine kleine Feſtſtellung, die aber Bände
ſpricht:
Nach dreieinhalb Kriegsjahren wurden
die Tagegeldſätze für Offiziere auf die
Höhe vor dem Kriege herabgeſetzt — die
Tagegelder für die Herren Abgeordneten
wurden nahezu um das Doppelte erhöht!
Wer jetzt noch nicht begriffen hat, wie ⸗
viel wertvollere Dienſte die Abgeordneten
dem Vaterlande leiſten, als die Offiziere,
der — kann ſich das ja leicht an der Hand der
Tagegeldziffern ausrechnen. Gr.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß + Bildende Runſt und Muſik: Dr. Karl Siord
Ale Zuſchriften, Sinſendungen uſw. nur au die Schriftleitung des Türmers, Jehlendorf Berlin (Waunſecb ahn
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
adulanßz um? HU
US HL AENTATCBERIG
71
1.
is
*
N
9
or
“ 4 N un
ie
— m Pe — B- 3 En WW
*
7
5
1
N
*
’
—
4
4
7
*
2
*
1
77
Ina e EEE nn —
.
. . + 7
* 75 DE WE
4 Ir *
.
.
*
9 5
* er Li
* €
2 »
*
8 „ „
ee 88 8%
.
ni
. der 5
„
„
1
2 „ er
on
-
x
„
.
‚
r
2: a
. . „
. . 5 *
e ee
„ 3 11.
1 5 2 8
“ vi nie ..
Ne
r \
—2* Y . 33
* 905
D 92 .
.
e
. ro ne
* z *
ER De
0. 5
we ‘ „ »
“.
. 7 ing
oo. * 5
.. 5 *
2 = 75
— m
5 3 *
* 2 a 5
1 u
* *
. —
.
a or
. 2 ‘
+ IE,”
8 **
2 . oo.
— 2 EM
. ’
4 .
. .
.:
x 0 x
„ 89 ꝙ 1
1 *
„
„ .
— * .
N EM
a D
*** 7 „
*
„ ‘
* 7 oo.
. .-
. .
**
.
*
„ 5
1 „
— Mr
. “
\
1 451 '
1
- ge
. +
*
* — „ *
- RE
* * *
. 1 2
..
. 7 I
.
1 7. E
8 5
„ N
„ * 2
b
„
.
1.5
. 16 N 77 NUR f
N on us 7 15 . a Ne RG 1775
v
24)
7
|
|
eisgmaangehs
Herausgeber: J. C. Rreiherr von zes
XX. Jahrg. Erſtes Auguſtheft 1918 | j Bett 21 u |
Das feindliche Doppelgeſicht
Von Submarinus
E EN Vatſachen, die durch das deutſche Heer und den ſelbſttätigen Verlauf
im Oſten entſtanden find, haben unſere Diplomatie über den Null-
N 2 punkt hinaufgedrückt. Aber ein Element des Nichtoffenen, Be-
—— fangenen iſt in ihr verblieben. Das macht, weil ſie nicht ſicher auf
nationalem Boden ſteht. Sie genierte ſich nach der deutſchen Seite wegen ihrer
Nikodemus-Verabredungen mit unſerer weltpolitiſchen Hochfinanz, und ſie hatte,
weil fie das ſtammverwandte Mundwerk überdreiſt verwöhnter Journaliſten und
ähnlicher Eintagswiderſtände fürchtet, nicht den offenen Mut, weltpolitiſche Ge-
legenheiten, die mit den Notwendigkeiten deutſcher Politik ſo ſehr zuſammenfallen,
wie die Sicherung von Eſtland und Livland, freiweg und ohne Unentſchloſſenheit
zu nutzen. Nicht friſch und klar patriotiſch empfindend, dafür in „wirtſchaftlichen“
Plänen allzu einſeitig auf kritikloſe Berückſichtigung gedrillt, verſteht fie ſich inner;
lichſt auch nicht mit nationalen Imponderabilien der gegenüberſtehenden Völker,
enttäuſcht und verletzt dieſe, vernichtet ihre Dankbarkeit, erwirbt ſich mit undurch-
dachtem Vorgreifen das Odium und das Mißtrauen der Gewalttätigkeit. Finn
land und Rarelien, um nicht zu weiteren Beiſpielen abzuſchweifen. Daß politiſche
Schlauheit, taſchenſpieleriſche Zwecke dabei ſind, iſt ihr ja nicht vorzuwerfen.
Auf dieſe nach wie vor verſteht ſich England. Die Richtſchnur ſeiner Politik
iſt gewiß die nationale. In vorderſter Reihe die weltjüdiſchen Belangen auszu-
Ser Türmer XX. 21 | | 25
,
—
386 | Submerinus: Sas feindliche Ooppelgeſicht
richten fällt ihr nicht ein. Aber in geeigneten Fällen erklärt ſich England möglichſt
vor aller Welt und ohne Vorbehalt für auswärtige jüdiſch- internationale Wünfche
und läßt dann, wenn aus der Sache nichts oder nicht alles wird, Deutfchland auf
der Anklage, daß es daran ſchuld ſei, ſitzen. Wie das mit dem Zioniſtenſtaat
in Paläſtina, alſo in der uns verbündeten Türkei, ausgehen wird, werden wir ja
noch erleben. An ſich iſt ein ſolcher Staat dem hochachtbaren eigennationalen
Streben dieſes ifraelitifchen Teils nur herzlich zu gönnen. Er iſt auch ſonſt zu wün-
ſchen. Denn dann entſteht die bislang verwehrte Berechtigung, eine jüdiſche Na-
tionalität als ſolche zu unterſcheiden. Wir erlangten mehr Gleichberechtigung
neben dieſen Staatsbürgern, die jetzt das doppelte Recht ausüben, beides zu ſein,
die wachſam empfindlichen Streiter für ihr Volk und die für Takt unempfindlichen
Vormünder des Volks, wo fie leben.
Auf der rumäniſchen Judenfrage ſind wir ſchon richtig ſitzen geblieben.
Der berühmten Reſolution vom 19. Juli 1917 die Verantwortung laſſend, hat
der deutſche Unterhändler zu Bukareſt auf eine klare Kriegsentſchädigung für die
deutſche Geſamtheit verzichtet. Dafür hat er die bekannten, großbanklich ver-
quickten wirtſchaftlichen Zugeſtändniſſe dem beſiegten Treu- und Friedensbrecher
abgenötigt, und ohne eine „Reſolution“, die ihn veranlaßte und ihn dabei deckte,
hat er Rumäniens innerer Politik die Erfüllung alljüdiſcher Wünſche auferlegt.
— Der Laie hat indeffen unrecht, wenn er bei deutſchen Oberſphären mehr
heimiſches Raſſegefühl erwartet hätte. Mit dieſer Subſtanz kann man noch
General und König ſein, doch mit ihrer unvorſichtigen Bekennung kann man
zurzeit nicht Geſandter, Miniſter, Geheimrat, akademiſcher Sachverſtändiger und
ähnliches werden. Ergo nach Adam Rieſe kann fie nicht in der Politik ent-
halten ſein.
Aber ſo ergibt ſich noch weitere Erklärung. Wo die erwähnte Subſtanz
im perſönlichen Rückenmark darin iſt, ſetzt ſich auch der ganze Mann für eine Sache
ein, führt fie durch. Wo fie welk iſt, ſchreitet er angeſichts auftauchender Schwierig-
keit zum Kompromiß. Erkennen, wo man weichen, nachgeben müſſe, nicht mehr
„intereſſiert ſein“ wolle, gewöhnte man ſich allzuſehr, für Politik zu nehmen.
Schwierigkeiten in Handhaben zum Vorteil zu verwandeln, dieſe vormalige Bis-
marckſche Kunſt liegt nun weit außerhalb der halben Fähigkeiten, denen die Über-
legenheit, ja die Unabhängigkeit abhanden gekommen iſt. England hat ſie noch. Vir
haben viel Grund, auf England zu ſchelten, aber auch manchen, es zu beneiden
und den Augenblick zu fürchten, wenn aus dem ſchwertführenden Krieg das figuren
beſetzte, kuliſſenreiche Schachſpiel der Verhandlung werden wird. Außer dem feinen
Beiſpiel der engliſchen Judenverheißungen laſſen ſich andere engliſche Spielvorteile
im hohen Norden des ſich der Entente weigernden Rußland finden. Die Buchanans
weichen nicht ſogleich, rücken nicht im diplomatiſchen Salonzug aus, wenn die
Sache anfängt bedrohlich zu werden oder nur unbequem zu mißglücken. Ihre
Richtlinie und ihr Rückgrat iſt der Patriotismus. Ihr Parlament fragt die
engliſchen Miniſter aus, was fie gewannen, welche Ungunſt fie verhüteten, in
der engliſchen Preſſe ift es nicht denkbar, daß ein Zetermordio über drohende Vor⸗
teile, Erreichungen erhoben wird. Die Lichnowſky, Kühlmann und das Berliner
dubmarmus: Das feindliche Ooppelgeſicht | 387
Tageblatt führt Tieferliegendes, als der Reklamewunſch, zuſammen. Lichnowſkys
beſtes dahingehöriges Selbſtzeugnis iſt, daß er den Namen „Petrograd“ gebraucht.
Die rumäniſchen Unterhändler, als die Verantwortlichen für ihr Volk ſich
betrachtend, leiſteten Widerſtand, machten Schwierigkeiten. So allerdings des-
intéreſſierte man ſich wieder etwas, ging zurück. Immerhin nicht fo nachgiebig,
wie ſonſt die deutſche Technik iſt. Denn hier wußte man wohl, daß man im Rücken
nicht den deutſchen Michel, ſondern die mit ruhmredigen Beſchwichtigungen nicht
zufriedenen journaliſtiſchen Maſchinengewehre hatte. Man kam zu einer kom-
promißlichen, bedingten rumäniſchen Zuſage für die Juden. Da dieſe leichten
Bedingungen dem Zugeſtändnis wenig nehmen, ſo meinte der deutſche Diplomat,
er hätte ſeine Schuldigkeit getan. Sollte man meinen.
Pſychologie haben wir, auch nach dieſer Seite, ſeit Bismarck ja nicht mehr
gehabt. Sie hat immer nur der echt Empfindende. Drum war auch dies verrechnet.
Anſtatt des Halleluja gellt in den internationalen Zeitungsartikeln die jüdiſche
Enttäuſchung, die „großen Nationen der Entente“ werden von ihnen gegen die
neue mittelmächtliche Vergewaltigung () angerufen, internationale iſraelitiſche
Kundgebungen, wie die Verſammlung von Scheveningen ſoeben im Juni erklären,
daß von Oeutſchland „nichts zu erwarten“ ſei.
Wir haben den Rumänen etwas aufgedrungen, haben den Sieg benutzt,
ſie in einem Punkte zu vergewaltigen, wo ſie es nicht wieder vergeſſen werden und
können. Denen jedoch, welchen gedient werden follte, hinterließen wir ihre Un-
begnügtheit, ihre Verſtimmung, die von dieſem ekſtatiſchen, alles übertreibenden
Volkstum nicht ſo behandelt wird, als wenn wir nur Balten, Bulgaren, Finnen
um ihre Hoffnungen kürzen und dieſe ſtatt vor die Erfüllung vor neue Draht-
verhaue führen. England kann lachen.
Pumpreich und in der politiſchen Stimmung an Deutſchland angelehnt,
ſo war mir Rumänien bei einem älteren Aufenthalt, vor dem Krieg, erſchienen.
Politiſch zwar ſchmudelig auch. Im Handelsteil unſerer linksliberalen Zeitungen
veranſchlagen auch dieſe ja immer vieles, was ſie im Leitartikel liberalerweiſe
niemals wiſſen. So auch die parlamentariſche Übung, daß einem guten Teil der
rumäniſchen Politiker ihr Mandat ſchlechtweg bedeutet, Schmiergelder, Stimm-
käufe, finanzielle Beteiligungen herauszuſchlagen. Hier gipfeln Paris und Rom
erſt vollends in Bukareſt, wo auch noch die alte Fanariotenwirtſchaft die „lateiniſche
Schweſternation“ grundiert. Ernſter zu nehmen, national gediegener, ſo auch
im Lehrkollegium der Univerjität, iſt von den beiden Hauptſtädten Jaſſy.
Auf der ſpäteren Fahrt von 1914 war ein jüdiſcher Geſchäftsmann von
Czernowitz der erſte, der mit der ſcharfen Freimütigkeit, welche ſein Stamm gerne
dervorkehrt, mir das darlegte, was nie in den Zeitungen ſteht. Dieſe Kreiſe dort
weitum im Oſten hatten vielleicht ſchon früher gefolgert, als die Rumänen ſelber.
Sie wußten Beſcheid mit dem diplomatischen Geflechte der Ara Bethmann Ballin.
„Rumänien kann nicht mit den Mittelmächten gehen. Sie ſagen, ‚wir wollen nicht,
daß dann ihr verd.. . Juden die Rechte kriegt!“ ſagte wörtlich der Kaufmann
von Czernowitz. — Im Lande war's dann ſo. Im Manöverzug von Bukareſt nach
Konſtanza fuhr ich ausſchlie lich im Waggon mit Offizieren der Reiterei. Wie
388 Submarinus: Das feinbliche Ooppelgeſicht
überall im Kaffee, auf der Straße, in Studentenverſammlungen ging die leiden-
ſchaftliche Erörterung um die großen Kriegsparteien. Und um die einheimiſche
Kernfrage. Den Oeutſchen dazwiſchen traf es nur mittelbar, ohne Ungemütlichkeit,
Vergebens erinnerte ich an 1878. Der heiße Ruſſenzorn von damals war verblaßt,
vergeſſen. Es gab nur einen Halt in der Abwehr einer ſchon ſo, trotz der politiſchen
Beſchränkung, umkrallenden, ausſaugenden, volksenteignenden Gewalt, das, wenn
auch weſtlich verkettete, nihiliſtiſche und jüdiſch durchwühlte, doch immer noch
zariſche, orthodoxe Rußland. Man wird ſich wohl der rumäniſchen Abel bewußt
geweſen fein, ſah aber jedenfalls Übleres, das erſt kommen würde. Ihr Kokettieren
mit dem Ruſſiſchen, mit Klöſtern und byzantinernden Architekturen vermehrte
der einfältigen engliſch-koburgiſchen Kronprinzeſſin den nationalen Nimbus. —
Nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg haben Straßenausſchreitungen in
Jaſſy und Bukareſt, hat die Hochwoge der Judenverdächtigung, die Gefangen-
ſetzung vieler als beargwöhnte Verräter und Spione dieſen volkswurzelnden
Haß beſtätigt.
Nichtsdeſtoweniger hat der jüdiſch-rumäniſche „Intellektualismus“ ſich auf
die Seite unſerer mit Rußland verbündeten Gegner geſchlagen. In ſeinem jetzigen
Andringen an die Regierung und das Parlament pocht er darauf, rumäniſche Juden
außerhalb des Landes hätten „Studien und Stellung aufgegeben“, um zu den
Fahnen zu eilen; die es nicht taten, hätten ſich für die Entente und Rumänien
propagandiſtiſch betätigt, namentlich aber in Nordamerika hätten ſie Bratianus
diplomatiſche Bemühungen „gefördert“. In der europäiſchen Preſſe traten ſie
im Namen Rumäniens auf, verknäuelten ſtetig die rumäniſche Politik und die
eigenen Ziele, fielen aus der Rolle, als fie, der Verhandlungen von Focſani noch
unficher, Beſſarabien mit feinen zahlreichen Stammgenoſſen beſſer bei Oſterreich
aufgehoben erklärten, und wie dieſe journaliſtiſche Beredſamkeit einmal iſt, ver-
mochten fie nie zu unterlaſſen, im Gegenſatz zu Deutfchland auf die von Ziraeliten
bekleideten Miniſterſtellen in den Ländern der Entente hinzuweiſen. Das aus
ſchlaggebende Land war ihnen aber von Anfang, wie für fie alle, Nord amerika.
An England entdeckten fie noch dunkle Punkte. Wenn ſich nun durch vier Jahre
das lächerliche Schauſpiel zieht, daß Englands Zugriff die dortigen ruſſiſchen Juden
zum Entente-Heerdienſt bringen wollte, entweder in Rußland oder im Weſten,
und ſie ſich dieſer Pflicht der „Gleichheit“ und des Kampfes für die Ziviliſation
alle die Jahre zu entwinden verſtanden, mit gräßlichem Geſchrei und mit Hilfe
der ſtammgenöſſiſchen Advokaten, die engliſche Politiker find, fo trauerte über
dieſen Schandfleck auf Englands „Demokratie“ ()) und „Humanität“ der jo im
brünſtig auf Englands Waffen und Sieg feine Sache ſetzende patriotiſche „rumä⸗
niſche Mitarbeiter“ der internationalen und neutralen Journaliſtik.
Wir in Deutſchland, wie keine Nation in Europa, haben für dieſe weltbürger-
liche Finanz- und ſonſtige Macht ſo viel getan, daß uns zu tun faſt nichts mehr
übrig bleibt. Auch mit dem Miniſteramt — Oernburg — iſt es ſchon probiert
worden. Juden ſelber haben ehrlich feſtgeſtellt, mit einem feineren Akzent des kri⸗
tiſchen Tadels, ſachlichen Bedauerns faſt (der Name Goldſtein iſt da im Gedächtnis
geblieben), daß ihr akademiſches und literariſches Herrſchaftsgefüge in Oeutſch⸗
Submarinus: Das feindliche Ooppelgeſicht 389
land vollkommen iſt. Nichtsdeſtoweniger wird unfer Volkstum als das eigentlichſte
Hemmnis behandelt, Deutjchlands Nichtunterliegen im Weltkrieg auswärts als
der verpfuſchte Weltſieg des Judentums betrachtet.
Der Germane wird eigentümlich vor allen andern Ariern (und Ugriern)
von jenem Stamme am meiſten halb beneidet, halb gehaßt. Die Gründe, die ihm
deutlicher bewußt ſind, als ſie meiſt in uns werden, liegen in einem inſtinktiven
Empfinden, das anthropologiſch iſt. Es iſt etwas Unerreichbares, in der Raſſe
nicht zu Amalgamierendes da, etwas, das man wohl voll Genugtuung heiraten,
aber nicht erlangen und nicht nachzeugen kann. Nicht nur die primäre Natur,
ſondern auch ihre Folgeäußerungen fühlen das verweigerte Herrentum. Der
Jude, der ſich ſalopp am natürlichſten fühlt, der alles parodiert und karikiert, ſpricht
doch raſchäugiger, betaſtender, als wir, von den Geſtalten ſchöner Offiziere, vom
Adligen, von der „Haltung“. Hier iſt der Zentralpunkt für den ſcheinbaren Zwie⸗
ſpalt, daß er vom Börſianer zum Landjunker ſtrebt, daß er mit einer ſeltſamen
Sehnſucht um das Hineinkommen in den Offiziersſtand wirbt, während er gleich-
zeitig den „Militarismus“, die Heereserziehung begeifert.
England bietet etwas mehr Chancen — ich bitte dies Fremdwort hier zu
erlauben — für eine zur ſtraffen Anſtrengung entſchloſſene Mimikry. Schon durch
den iberiſch-keltiſchen Einſchlag von Gälen, Waliſern, Fren. Mehr durch die ſtark⸗
mechaniſche, d. h. minderkritiſche Veräußerlichung der in England geſellſchaftlich
geltenden Maßſtäbe. Es iſt nicht ganz bequem, „man kommt in England nicht aus
dem reinen Hemd heraus“, erzählte der reiſende Oskar Blumenthal, aber es läßt
ſich machen. Auch ſonſt ſind Günſte der Amalgamierung da. Der feſtländiſche
„Baron Hirſch“ bleibt doch immer kenntlich. D' ſraeli ward Lord Beaconsfield,
Stern nannte ſich Harmsworth, wurde Lord Northcliffe. Mit dem Niederbruch
der Herrſchaft der Tories 1850 tat ſich die Ausſicht auf, politiſche Führung durch die
Liberalen zu erlangen und — bei den Tories. Das wirkte vielgeſtaltig in dieſe
feſtländiſche Internationalität, ließ England in ihren Blicken wichtiger als Frank-
reich werden, das raſtloſe Weltreich wichtiger als das politiſche Schlaraffenland
der Finanzleute und der Advokaten.
Oennoch tröpfelt die Erreichung nur. Die Überlieferung im Volksganzen,
welcher das Machtgefühl des Geldes und der großſtädiſchen Meinungsmache nie
gehörige Beachtung ſchenkt, der energiſche einheimiſche Wettbewerb verſchmälern
den Erfolg. Auch die ſtammliche Baſis trägt nicht recht, ſie iſt nicht ſeit alters ſo
ins Land verbreitert, das mehr als 100000 Köpfe zählende Gewimmel in London
hat eher fein Unliebſames. Amerika, du haft es beſſer, du haft keine Schlöſſer und
keine Baſalte. Wie Frankreich hinter England, ſinkt England hinter den Vereinigten
Staaten zurück, wo die angelſächſiſche Sprache den zerriebenſten ethnographiſchen
Miſchmaſch deckt und man mit jedem Geſicht Amerikaner iſt.
Die „unbegrenzten Möglichkeiten“ der ſtammlichen Solidarität haben
dort ihre erſte Weltbaſis gewonnen. Daran mußte die begrenzende Monroe-
doktrin zugrunde gehen, längſt bevor die formelle Abſage geſchah. Sie war auf
den Vankee zugeſchnitten. In feiner ſpezifiſchen Groteske, mit feiner Exzentrik⸗
Kindlichteit, feinem Selbſthumor, feiner ſchließlichen Einſicht, daß das Geld kein
390 N Submarinus: Oas feind liche Ooppelgeſicht
Selbſtzweck ſei, trotz allem Brutalen, beginnt er einer Vergangenheit anzugehören,
ward tragende Schicht unter dem neueren Alluvium. Die Wandlung wird be⸗
zeichnet durch eines jener weder Bildkraft, noch Naivität und Humor enthaltenden
Wörter auf ismus, die neuerlich alle aus der Münze der Intellektuellen ſtammen,
Amerikanismus. Es ſtammt aus dem Lande, wo der Filial⸗-Amerikanismus
am glatteſten von den Eilfertigen, Ungeduldigen auf den Schild gehoben werden
konnte, aus dem neuen Deutſchland. Aus dem Mittelpunkt Berlin; doch auch
das vordem engländernde Hamburg trägt ſtarke Züge dieſes ungermaniſchen Ameri-
kanismus. Drüben find die Namen Wilſon, Morgan keine Verhüllung mehr, über-
all in den politiſchen, finanziellen, kriegsamtlichen, munitionmachenden Spitzen
der „neuen Welt“ ſehen die Namen der älteſten hervor. (Zu der ſtrohmänniſchen
Rolle Wilfons paßt dieſer eitle, fingerfertige Profeſſor, den fein Univerſitäts-
Kurator den größten Schurken und Lügner der Vereinigten Staaten genannt hat.
Der ihm dies ins Geſicht ſagte, war Grover Cleveland, der ehrliche Mann und
zweimalige Präſident aus Wilſons demokratiſcher Partei.) Die beiden kriegs⸗
gegneriſchen Diplomatien, die ja Beſcheid wiſſen müſſen, entſandten als Werbe-
männer nach drüben Herrn Dernburg und den Lord Stern Northcliffe, von denen
doch dieſer dort häuslichen Fuß faſſen konnte. In Petersburg, in der Botſchaft
der U. S. an der Fürſtadtkaja, als noch kein jüdiſcher Handelsreiſender einen ruffi-
ſchen Paß erhielt, wohnte bereits Herr Meyer, an der Hohen Pforte des Iflam
ſaß Herr Morgenthau.
Bankmann zweier Welten, ging 1916 Herr Warburg aus Hamburg nach Stoch
holm, um als deutſcher Aberdiplomat mit dem ſchwankenden, wankenden Rußland
die ſtillen Präliminarien in Ordnung zu bringen. Schwerlich ohne den bis zum
Erbrechen erörterten Wiederaufbau Rußlands durch die in Deutſchland verklickte
internationale Finanz. Abwarten, ohne Ungeduld reifen laſſen kann man nun
einmal nicht.
„Wandte ſich, ſo daß bewundern jener ſeinen Rücken kann“, heißt es im
Lied von König Wilhelm und Benedetti 1870. Daß Herr Protopopow in Stock-
holm das auch tat, war der kleine Strich durch die zu haſtig gemachte Rechnung.
Der große kam nach, das Zerberſten des künftlichen Koloſſes in die zum volklichen
Selbſtwillen dabei erwachenden Nationalitäten.
Das eilfertig liberaliſierte Rußland, reich am Faſerwurzelgeflecht der Stamm-
genoſſen, „großzügig“ vom wirtſchaftlichen Neuaufbau in Beſitz genommen, wäre
das Großreich Nr. II der Weltplutokratie der unbegrenzten Möglichkeiten get
worden. Der Reihsdiplomatie hat es denn nicht an Geſichtspunkten gefehlt,
fie müſſe noch wieder das nach den Naturgeſetzen der Völker zerfallende Groß
khanat der Romanows vermörteln. Hier kam uns die „Schwierigkeit“ zugut.
Herr v. Kühlmann verzichtete bald, der Weltgeſchichte in den Arm zu fallen. —
Bei ſachlich klarer Sicht kann niemand meinen, daß wir dies heutige Großrußland,
alſo das kleinere, zu „fürchten“ haben. Wir müßten es denn durch die Aufdrän-
gung baltiſcher Gebiete mit freiwilliger Nötigung nach dem Weiten orientieren.
Wie Oeutſchlands Schwerpunkt vom Hohenſtaufen nach dem oſtelbiſchen Neuland
aus Entwidlungsgründen rückte, ſo hat ſich der ruſſiſche mit dem Datum 1917
Submafinus: Das feindliche Doppelgeficht 391
nach dem nationalruſſiſchen Sibirien und an das öſtliche Weltmeer befreit. Als
übernationales Völkerkonglomerat weiterbeſtehend, aus der Großdeſpotie, dem
unhaltbaren Großkhanat, mittels der Epiſode Kerensky in die Hand des goldenen
Intellektualismus gefpielt, müßte ſich abſehbar auch das zweite Reich der un- |
begrenzten Möglichkeiten vom Pazifik zum Atlantik auswälzen. Die Oſtſee
und das Schwarze Meer einſchließend, wie drüben den Erie und den Michiganfee.
Nichts iſt ſo ſtabil in der Wiederholung, wie die Legenden und Hiſtorien
des Alten Teſtamentes der Bibel. Zoſeph bei Pharao, Mardochai, Eſther und der
geſchichtliche Nehemia am Perſerhof. Der tiefſte Sinn des Ahasver-Fluches iſt
es, daß ſie immer nur die Macht erlangen können, aber kein Herrenvolk der Erde
fein. Mr. Meyer, the U. 8. Embassador, die iſraelitiſchen Minifter um den Popen-
john Kerensky, dann Trotzky, Joffe, Kamenjew, — es ſchien jo nah und war doch
alles vergeblich. Der Turm von Babel liegt in Trümmern, was Rußland hieß, iſt
„zerſtreut in alle Länder, es iſt nicht mehr einerlei Volk und Sprache unter ihnen“.
Nur: wegen Störung vertagt bedeutet nicht aufgegeben. Unter der Adreſſe der
ruſſiſchen „Patriotenliga“ an unſere Feindesregierungen, ich leſe ſie im Pariſer
„Journal“ vom 13. Zuni, ſteht voran Herr Efremow, folgt Herr Rafalowitſch uſw.
Wir in Oeutſchland haben keinen Politiker, den man mit fo viel Nutzen lieſt,
als Georg Bernhard, den ehemaligen „Gracchus“, „Plutus“, damals nur erſt ſehr
eingeweihten Finanzſchriftſteller. Herrn Theodor Wolff kann man ohne Lupe
leſen, kann es auch ohne Verſäumnis unterlaſſen. Herrn Bernhard muß man
mit der Springwurz der Feinhörigkeit aufſchließen. Er iſt die Taube, die aus
Noahs Arche kommt, man muß ſie beobachten, wie aus dem Flug der Vögel die
alten Auguren das Schickſal laſen. Sein Wort war: Erhaltung Rußlands, als
ob wir nur ſo mit ihm Freund ſein könnten, was wir aber ſo viel weniger
und niemals wieder könnten. Um das den Vaterlandsparteilern einleuchten-
der, lohnender zu machen, gaben er und feine „Voſſiſche“, die alte liberale England-
ſchwärmerin, ohne Gnade das britiſche Weltreich dem alldeutſchen Gedanken preis.
Auch die Berliner Zeitungen, die den Namen der Börſe im Titel tragen, ſprechen
von der Unentbehrlichkeit des größeren Rußland. England ward Hekuba.
Inzwiſchen iſt in Oſtſibirien u. a. eine Republik „gegründet“ worden, die
ſich für ihr problematiſches Daſein auf die Inſpiration aus den Vereinigten Staaten
beruft. Gleichzeitig lehrt Wilſon, man dürfe es mit den Moskauern, die doch die
legitimen Herren Sibiriens ſind, nicht verderben. Nichts iſt aufgegeben. Nur die
Verhüllung der Sprache. Der Geſtörte, Geärgerte, in feiner Voreiligkeit Bla-
mierte redet hartnäckiger, nervöſer, unverblümter. Wilſons geölte ſelbſtloſe Welt-
beſcheidenheit ſtellte feſt, daß ſich jetzt, und er denke, nicht vorübergehend, die
Lenkung Amerikas ein wenig auf alle Nationen erſtrecke.
Für England ſehr beachtlich anzuhören. Auch für uns. An den „leidenſchaft-
lichen Britenfreund Wilſon“ glaubten zwar nur die politiſchen Poſemuckler, die
zu dem Worte „angelſächſiſch“ ſofort verſtändnisvoll Aha! und Selbſtverſtändlich!
jagen. „Alle Nationen.“ Es ift kein Rätfel darin. Aber viel Offenbarung.
Vier Jahre Weltkrieg verändern Bedingungen und weitere Entſcheidungs-
fragen. 1763 ſah die Welt auch anders aus, als 1756, da iſt die „erſte Großmacht“,
392 Store: Noiegger
Frankreich, mit Oſterreich verbündete. Englands 1765 beginnende Allmachts⸗
periode iſt abgelaufen. Die deutſche Michelperiode der Minderberechtigung und
Gefolgſchaft gegenüber England muß unbedingt gleichfalls abgelaufen fein. Für
germaniſches Staatsdenken und Volkstum wird es aber zur nachdenklichen, wenn
auch politiſch-praktiſch längſt nicht leicht gelöften Frage, was künftig beſſer iſt, —
Deutſchland contra Amerika mit angehängtem England, oder Deutſchland + =
land contra vermeintlichen und ſonſtigen unbegrenzten Amerikanismus. |
ELIA 28 n
Rojegger - Bon Karl Storck
Ein echtes Volkskind, Zögling der Natur,
Wuchs dir zum Weltbild deine Heimatflur
Und machte dich im Zeitenkampf der Geiſter
Zu unſrem lieben guten Waldſchulmeiſter.
Dein offner Sinn, das offnere Gemüt
Sah den Verfall, doch auch was grünt und blüht,
Du bliebſt im Kreis der Haſſer und der Macher
Voll ſteter Liebe ſeelenheitrer Lacher.
Dich lockt' nicht Glanz; dir täuſcht' nicht fremde Lift
Der altererbten Güter Wert. So biſt,
Als andre in die fernſten Fernen trieben,
Heimgärtner du dem deutſchen Haus geblieben.
Dir ward als Lohn für ſchwere Erdenpein,
Der Gottgeweihten einer unter uns zu ſein,
Die glücklich machen und die glücklich ſind:
Ein gütiger Dichter und ein reines Kind.
Nun ruhe gut von langen Kampfesmühn
In deiner Heimat ſaftigem Mattengrün.
Du haſt bewährt, was Treue leiſten kann,
Als edler Chriſt, als braver deutſcher Mann.
Ropne: Dauerware \ 393
Dauerware
Eine Kriegsidylle der Heimat
Von Guſtav Kohne
e iſt klar: nicht jeder Ort, zumal ein niederſächſiſches Heidedorf, kann
\ an der großen Heerſtraße des Lebens und Verkehrs liegen. Auch
Wulfshagen liegt abſeits davon; liegt verſteckt zwiſchen Tannen-
Okämpen und Maiengrün. Das iſt ein Zeichen von Beſcheidenheit,
und kein Verſtändiger wird ihm wegen dieſer Zurückgezogenheit einen Vorwurf
machen. Denn noch immer gilt Beſcheidenheit als eine Zierde. Das wiſſen auch
die Bauern von Wulfshagen. Ehrgeiz, Ruhmſucht oder wie ſonſt dieſe Art Un-
tugenden heißen mögen, ſind den Wulfshagenern fremd. Sie verzichten auch auf
den zweifelhaften Ruf, der neuen Zeit Richtung und Varſchroute gewieſen zu
haben, verzichten gern darauf, ganz ohne Groll und Bitterkeit. Die Bauern von
Wulfshagen zahlen — wenn es durchaus nicht geht, ſich darum herumzudrücken,
ihre Steuern und gehen jeden zweiten Sonntag in die Kirche. Sie ſchlachten im
Winter ihre drei oder vier fetten Schweine und ſtechen um die Pfingſtzeit auf
dem nahen Moore Torf. Aus Vorbedacht, damit fie ihren Veihnachtskuchen im
behaglichen Zimmer eſſen können und den Faſtnachtspunſch als wirklichen Genuß
und nicht als Wärmemittel für den Körper zu ſchlürfen brauchen. Denn ſie wiſſen,
was dem Leib bekömmlich und der Seele zuträglich iſt. Arbeit haben ſie in Fülle;
aber mit eigentlicher Sorge geben ſie ſich nicht ab. Sorgen zehren und hindern
gar zu ſehr den Schlaf. Wirtſchaftsfragen, Kulturprobleme, Politik — „na, ick
meine man!“ würde der Berliner ſagen. Die Bauern von Wulfshagen ſind keine
Promenadefexen und wiſſen, daß nur Eſſen und Trinken Seele und Leib zu—
ſammenhält. Dieſes Wiſſen genügt ihnen, und wer mehr von ihnen fordert —
nun, der wird zwar nicht von ihnen umgebracht; aber er wird mit blinzelnden
Augen von unten bis oben angeſehen, als gelte es, feine geiſtige Zurechnungs-
fähigkeit zu prüfen. Den Mund tun ſie ſelten auf, die Bauern von Wulfshagen;
denn fie wiſſen, daß Reden zwar Silber, Schweigen aber Gold bedeutet. Und
der Wert des Goldes wird von ihnen ſicherlich nicht unterſchätzt. Niemand kennt
ſie beſſer, die Bauern von Wulfshagen, als ihr Landrat. Er weiß, daß er am beſten
mit ihnen fährt, wenn er ſie möglichſt unbehelligt läßt. Er beſchränkt ſich darum
in ſeinen Anordnungen auf das Notwendigſte und drückt auch bei dieſer N
noch manches Mal ein Auge zu.
Nun war aber der Krieg gekommen. Bereits zwei Jahre lang war er am
Wüten. Und feinem Einfluß hat ſich ſelbſt ein Wulfshagen in ſeinem Kiefern-
duft und Maienverjtede nicht entziehen können. Mancher Knecht, mancher junge
Bauer und Tagelöhner ſteht ſeit Anfang draußen. Auch einige Verluſte ſind zu
beklagen. Nun, man nimmt fie hin, die Verluſte, und fügt ſich ins Geſchick. Denn
Tod und Unglücksfälle ſind in Wulfshagen von jeher keine unbekannten Gäſte.
Selbſt an die ruſſiſchen Gefangenen hat die Leutenot Bauer und Bauersfrau
394 Rohne: Dauerware
gewöhnt. Aber an eins können fie ſich nicht gewöhnen, wollen fie ſich nicht ge-
wöhnen: das iſt der fremde Eingriff in ihr Wirtſchaftsleben. Freilich, offenen
Widerſtand zu leiſten — bewahre Gott! Sie ſind doch Chriſten, die Wulfshagener,
und darum durch das „Wort“ verpflichtet, der Obrigkeit untertan zu fein. Sie
geben dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und Gott, was Gottes iſt. Aber damit
Schluß. Wer mehr von ihnen fordert — nun, die Wulfshagener Bauern bringen,
wie geſagt, zwar keinen Menſchen um, aber ſie ſind auch nicht ſo dumm, wie
mancher glaubt!
Wieder einmal iſt eine neue Verfügung vom Landratsamte eingetroffen.
Der Gemeindevorſteher Peter Sorgenſchwer lieſt ſie, die Verfügung. Lieſt fie —
bis zur Hälfte. Dann lacht er auf und wirft fie zu all den andern dummen Schrei⸗
bereien, die ganz hinten auf dem Ecktiſch ſtapeln. Er muß ſeinen Hafer dreſchen
und hat nicht Zeit, ſich mit Larifari zu befaſſen. |
Vierzehn Tage ſpäter läuft ein Erinnerungsſchreiben ein. Peter Sorgen
ſchwer greift ſich vor die Stirn und weiß erſt gar nicht, was der Landrat von ihm
will. Er ſtöbert im Aktenſtoß herum und überfliegt mit nicht mehr ganz ruhigen
Augen eine Verfügung nach der andern. Brotgetreide — Schweineſchlachtung —
Milch- und Eierbelieferung —? Zum Teufel auch! Was gehen der Wulfshagener
Backofen und Hühnerſtall das Landratsamt in Poggenried nur an! Mag der
Herr Landrat die Naſe in ſeine Geſetzesbücher ſtecken, ſie aber herauslaſſen aus
ihrem Ochſendreck und nicht hineinnieſen in ihr Butterfaß! Na, ick meine man!
Diesmal handelt es ſich um eine Dauerware, um die Oauerware der Fleiſch⸗
kammer. Dauerware? Dauer — 2 Ah! Aha! Die Mettwurft! Oer Schinken
und die Speckſeiten! Hahahaha! Jo jo jo! Über das breite Geſicht des Vor-
ſtehers Peter Sorgenſchwer huſcht ein behagliches Lächeln, und unwillkürlich be-
leckt er ſeine wulſtige Unterlippe.
Nun weiß er auch wieder, Peter Sorgenſchwer, daß er über die Dauerware
ſchon einmal etwas geleſen hat. Noch ein paar vergebliche Griffe, dann hat er
ſie gefaßt, die einſchlägige Verfügung. Das Blatt ſo weit vorſtreckend, als die
Arme es geſtatten, denn Peter Sorgenſchwer iſt in jeder Hinſicht ſehr weitſichtig,
lieſt er die Verfügung diesmal von Anfang bis zu Ende durch.
„Im! Zä jä!“ läßt er ſich vernehmen. Dann kneift er die Augen ein und
blinzelt verſchlagen durch die Wimpern. Alſo auf Dauerware iſt es abgeſehen?
Daue rwa—? Gut. Ihm iſt es recht. Ohne der Frau oder einem ſonſtigen Haus
genoſſen etwas zu ſagen, klettert Peter Sorgenſchwer auf die Rauchkammer ſeines
Strohdachhauſes, ganz nach oben, bis in den Hahnenbalken. Wieder leckt er ſich
unwillkürlich über die wulſtige Unterlippe, und aus feinen fonft fo trüben Augen
ſtrahlt ein Leben und Leuchten, daß dies derbe, ungewöhnlich breite Bauern-
geſicht manchen Maler würde gereizt haben, es feſtzuhalten. Vielleicht hätte er,
der Maler, dann auch die langen Reihen der Würſte, Schinken und Spedfeiten,
die da unter der Dede hängen, als Staffage mit auf das Bild gebracht — um
ſie der Nachwelt zu erhalten. Erhalten? Hm! Der Gedanke iſt nicht ſchlecht.
Dieſer Anſicht iſt auch Peter Sorgenſchwer. Er will treu und ehrlich dafür ſorgen,
daß es Dauerware wird, was da ſo lecker in langen Reihen vor ihm hängt. Aber
Kopne: Dauerware 395
wie es anfangen? Peter Sorgenſchwer verfällt ins Grübeln. Und das iſt doch
ſonſt gar nicht ſeine Art. Aber hier lohnt es ſich. Ja, wahrhaftig, hier hat das
Grübeln Sinn und Zweck! Und ſonderbar: trotz der Angewohntheit geiſtiger
Arbeitsleiſtung iſt des Rätſels Löſung bald gefunden. Da in der Ecke ſteht ja die
hohe, rauchgeſchwärzte Tonne. Schon zu Urgroßvaters Zeiten hat der von Ort
zu Ort fahrende Händler in dem langen blauen Kittel alljährlich einen Scheffel
körnigen Salzes in ſie laufen laſſen. Der dumme Krieg will es, daß das Salz
pfundweiſe bezogen wird. Pfundweiſe! Ha! Hähä! Na, Schwamm darüber!
Wozu ſich ärgern! Aber einen Vorteil hat's: die eiſenharte Tonne mit dem faſt
waſſerdichten Oeckelverſchluſſe iſt entbehrlich.
Gemeindevorſteher Peter Sorgenſchwer nickt der Tonne wie einem vertrau-
ten Freunde zu, ſteigt vom Hahnenbalkenboden herunter, winkt Trine, fein treu-
biederes Weib, zu ſich in die Schlafkammer und vertraut ihr ein Geheimnis an.
„Tjä, wenn du meinſt, Vader! Mi ſchall et recht wäſen!“ antwortet Trine,
als ihr Ehemann zu Ende iſt. |
Am Abend hat Trine noch lange in der Küche zu tun. Die Magd, die ihr
helfen will, wird zu Bett geſchickt. Eine knappe Stunde lang iſt alles ſtill im Hauſe.
Nur ab und zu ſtöhnt an der langen Diele eine Kuh, die ſich überfreſſen hat. Dann
wird's im Hinterhauſe, wo die Wohn- und Schlafräume der Familie liegen, leben-
dig. Leiſe wird die Stubentür geöffnet, und in Socken ſchleichend treten Bauer
und Frau heraus. In Socken, die geblendete Stallaterne in der Hand, geht's
auch vorſichtig taſtend auf die Bodenkammer. Der Bauer kehrt zuerſt zurück.
Auf den Schultern ſchleppt er die große ſchwarze Tonne. Er geht damit zur Seiten-
tür hinaus und trägt fie in das Oornen- und Ginſtergeſtrüpp der Sanddüne, die
die Verbindung bildet zwiſchen dem Obſt- und Gemüſegarten und dem dahinter
liegenden Kiefernkampe. Einen Spaten hat er ſchon am Nachmittage im Vorbei-
gehen an der Düne ſtecken laſſen, und eine Schiebkarre iſt dort aus Verſehen ftehen-
geblieben. So kann die Arbeit gleich beginnen. Peter Sorgenſchwer zieht die
Jacke aus, wirft die Mütze vom Kopfe, ſpuckt in die Hände und fängt an, ein Loch
zu graben. Den Sand tut er auf die Karre und ſchiebt ihn weiter rückwärts in
die Vertiefung, die ein umgewehter Baum zurückgelaſſen hat. Viermal hat er
die gehäufte Karre ſchon entleert. Nun iſt das Loch ſo tief, daß er bis über die
Hüfte darin verſchwindet. So hoch iſt auch die Tonne; denn Peter Sorgenſchwer
ſorgt ſich um alles und hat genau gemeſſen. Alſo noch einmal die Karre gefüllt,
damit der ſchwarze Behälter einen guten Spatenſtich unter die Erde zu ſtehen
kommt und der nötige Sand zum Bedecken vorhanden iſt.
Während ſeiner Grab- und Karrenarbeit ſchleppt Trine, ſein treubiederes
Weib, eine Schürze voll angehender Dauerware nach der andern an den Bergungs-
ort. Als der ſchwarze Hohlbauch unten ſteht, werden Speck und Wurſt und Schin-
ken ihm in den Verſchling getan. Das iſt keine leichte Arbeit. Gemeindevorſteher
Peter Sorgenſchwer liegt lang auf ſeinem runden Bäuchlein, läßt ſich von Trine,
ſeinem treubiederen Weibe, ein Stück der im Werden begriffenen Dauerware
nach dem andern reichen und läßt's vorſichtig in den ſchwarzen Schlund hinab.
„Ruitt — kumm mit!“ ſchreit ein Käuzchen aus dem nahen Buſche. Sonſt iſt
396 Kohne: Oauerware
alles ſtill. Peter Sorgenſchwer ſpornt der Eulenruf zur Eile an. Während er
Deckel und gelben Sand auf den feuer- und diebesſicheren Dauerwarenbehälter
tut, holt die Frau eine Schürzevoll trockener Nadeln und halbvermoderten Laubes
heran. Damit wird das Dauergrab in Andacht und Pietät beſtreut, und Peter
Sorgenſchwer und Trine, fein treubiederes Weib, kehren mit Schute und Karre
nach dem langen Strohdachhaus zurück.
Mit leichtem Herzen legen ſie ſich ſchlafen. Denn auch für ſie gilt das Wort:
„Nach getaner Arbeit iſt gut ruhen.“ Ebenſo das andere, in dem vom guten Ge⸗
wiſſen und ſanften Ruhekiſſen die Rede iſt. ö |
Am nächſten Sonntagnachmittag hält Peter Sorgenſchwer in AUngelegen-
heit der Dauerware eine Gemeindeverſammlung ab. Wie gewöhnlich findet die
Zuſammenkunft im Dorfkruge ſtatt. Die kurze Pfeife im Munde, an den Füßen
dicke rindslederne Stiefel und auf dem Kopfe eine ſchwere Stoffmütze, kommen
die Bauern nacheinander angeſchlarrt. Faſt alle bartlos, mit braunen, ſehnigen
Geſichtern. Bald ſind alle Stühle beſetzt, und der Wirt hat ſeine liebe Not, den
Beftellungen auf Bier und Schnaps nachzukommen.
Eine halbe Stunde nach der angeſetzten Zeit rückt Peter Sorgenſchwer mit
dem Beratungsgegenſtand heraus. „Für Dauerware ſollen wir ſorgen“, beginnt
er. „Sie verlangen da oben, dat wir recht dicke Schweine ſchlachten. Hä! Oicke
Schweine! Wovon denn? Von Buchweizenkaff un Rübenblättern? Hat ſich was!
Sollten uns man unſern Roggen un Hafer laſſen, die da oben! Dann wären
wir ihnen auch gut für dicke Schweine. Und dann ſoll ich an ſie ſchreiben, woviel
Wurſt un Schinken un Speck ein jeder auf der Bodenkammer hängen hat.“
Durch die Verſammlung geht ein Räuſpern und ein Huſten; auch ein paar
halb mißlungene Vitze werden laut. Peter Sorgenſchwer iſt es juſt ſo recht, und
er grieflacht zu dem Räuſpern und dem Huſten. Als Diplomat und Führer der
Gemeinde weiß er ſich aber zu beherrſchen. „Tjä, Leute“, fährt er fort. „Wat
ſin mott, dat mott ſin; wat aber nich ſin mott, dat brukt ok nich to wäſen. Zähle
un wiege ein jeder ſo gut, als er's gelernt hat, un dann ſchreibt er's auf 'n Zettel,
woviel Schinken un Wurſt un Speck er noch auf'm Boden hängen hat. Den Zet⸗
tel bringt er mir dann in mein Haus.“
Eine ganze Weile herrſcht völliges Schweigen im Zimmer. Die Bauern
ſitzen in ſich gekehrt da und ſaugen bedächtig an den Pfeifen.
„Alſo bloß dat, wat up de Rauchkammer hängt?“ näſelt einer vor ſich hin.
„Natürlich!“ beſtätigt Peter Sorgenſchwer. „Wat nich im Rauche hängt,
iſt ok keine Dauerware, kann beſtenfalls erſt welche werden. Verſtehſte? Hä —?
Un wat noch erſt im Werden und Entſtehen is, dat zählt nicht mit.“
„Na,“ wird ihm da zur Antwort, „denn wüllt wi den Stips woll lecken un
dat Swin woll trecken!“
Damit iſt die offizielle Beratung erledigt und die geheime, vertrauliche, die
von Nachbar zu Nachbar ſetzt ein. Manches „Ah!“ wird laut, manches verſchmitzte
Lächeln und Zublinzeln iſt zu beobachten.
Die Folge iſt, daß es in den nächſten Nächten kaum während einer einzigen
Stunde in Wulfshagen ruhig wird. Hier ſchleppt jemand einen ſchweren Sack
Brauer: Zm Gras | 397
nach dem Bienenzaune in der Heide, dort karrt jemand einen unförmlichen Stein-
topf nach dem Sandberg hinter dem Oorfe. Bei einzelnen kreuzen ſich die Wege.
Und begegnen ſich dieſe Bauern in den ſpäteren Tagen auf der Straße, und es
wird nach dem „Woher“, „Wohin“ gefragt, ſo heißt es wohl mit ſchmunzelndem
Geſicht: „Na, mal up den dicken Findlingsſtein dahinten in der Heide dat Freuh-
ſtücksmeſſer wegen.“
Der andere fängt dann vertraulich an zu lachen, krault ſich mit vielſagender
Gebärde im Nackenhaar und geht mit einem ſchmunzelnden: „Jo jo jo, dat find
eis Tieden!“ feiner Wege.
Peter Sorgenſchwer hat bereits dreimal in nächtlicher Stunde die Vorräte
feiner Bodenkammer mit den in der Sanddüne eingekellerten gewechſelt. Natür-
lich aus Pflichtgefühl: um ſie trocken zu erhalten, ſie vor Fäulnis zu bewahren
und richtige Dauerware daraus zu machen. Jetzt erſt weiß er, wie zutreffend doch
ſein Familienname iſt. Ja wahrhaftig, er hat's nicht leicht.
Auch dem Landrat in Poggenried geht ein Verſtändnis für Peters Namen
auf. Hat es doch Peter Sorgenſchwer in der fleiſcharmen Kriegszeit fertiggebracht,
trotz des geringen Beſtandes der Vorratskammer, der ja von Polizei und Militär-
verwaltung beſtätigt worden iſt, volle eindreiviertel Zentner in freiwilligen Gaben
an die Kreisbehörde abzuliefern. Wer hätte darum wohl ein größeres Anrecht
auf das „Allgemeine Ehrenzeichen“ gehabt, als Peter Sorgenſchwer, der einfichts-
volle Erhalter der fo ſehr begehrten Dauerware! Oieſer Meinung iſt auch der
Kreisblattredakteur in Poggenried. Mit warmen Worten feiert er den neuen
Ordensritter und ſtellt ihn den übrigen Ortsvorſtehern des Bezirks als Vorbild
hin. Das iſt gerecht und auch klug und geſcheit gehandelt. Denn nach einigen
Wochen geht eine zweite Sendung Dauerware von Wulfshagen nach der Kreis-
ſtadt ab. Diesmal iſt's ſogar noch ein voller halber Zentner mehr geworden, und
Peter Sorgenſchwer hat Ausſicht auf eine zweite Anerkennung ſeiner Verdienſte
um das allgemeine Menſchenwohl.
Im Gras Von Helene Brauer
Sieh, alle Blumen ſind höher als ich und du!
Liebſter, ſei leiſe,
Sie hören zu.
Laß mich und leg' deinen Kopf ganz ſtill in meinen Schoß:
Der neugierige rote Klee
Macht ſchon die Augen groß.
Und die Feuernelken lachen uns ins Geſicht —
Ich ſchäme mich fo,
Küſſe mich nicht
UP
398 | Oilers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt
Was die heutige Frauenbewegung
leiſtet, und was ihr fehlt
| Von Marie Diers |
7 in gänzlich andres Geſicht hat heute das Schrifttum der Frauen-
| Rampfgefhrei hüben und drüben, Verfechten und Belegen der
—
— __ +9 Meinungen für und wider, ein immer erneutes Beleuchten der Natur
und Beſtimmung des Weibes — vielfach Ausartung in Plattheiten, Worträuſchen,
geiſtigen Seiltänzerſprüngen. Ä a
Heute liegt das gefamte Schrifttum zu dieſer Frage faſt ausſchließlich in den
Händen der Frauenrechtlerinnen. Und dieſe — da nun der Meinungskampf zu
ihren Gunſten entſchieden iſt, wenigſtens in der Sffentlichkeit — haben es nicht
mehr nötig, ihre Sache zu verteidigen, zu beweiſen, zu beleuchten. Sie ſteht feſt,
—
1
— —-
und die Zeit zu poſitiverer Arbeit iſt für ſie gekommen.
Der Sache an ſich kommt dies zugute. Das erkämpfte Feld wird ausgebaut,
und was darauf blüht, iſt etwas ſehr Tüchtiges und Brauchbares. Ein Bienenfleiß,
ein Arbeitsehrgeiz, der den berufstätigen Frauen viel ausgeprägter eignet als
den Männern, feiert hier ſeine Triumphe. Die Frauen dringen nicht nur tätig,
ſondern auch beobachtend, ſichtend, feſtſtellend in das Getriebe des öffentlichen
Lebens ein, ziehen ihre Schlüſſe, ſtellen ihre Folgerungen zuſammen.
Feder Anklang an den gereizten Kampfton früherer Jahre iſt geſchwunden.
Es iſt alles ſachlich, unwiderleglich ſachlich. Hier werden die Fundgruben, die
Stützen und Anhaltpunkte für die Nachkommenden geſchaffen, für das junge Ge⸗
ſchlecht, das in die ſchon bereiteten Bahnen nur noch einzutreten hat.
Die Zukunft unſrer Töchter iſt unmittelbar mit den Befunden dieſer raft-
loſen und tüchtigen Arbeitsgeiſter verknüpft, an ihren Leitfäden taſten ſie ſich
in das Berufsleben hinein. :
Ich greife die Namen der hervorſtechendſten Führerinnen heraus, die durch
ihren Bienenfleiß, ihr eindringendes Studium, ihre anhaltende Beſchäftigung mit
den öffentlichen Dingen und nicht zuletzt ihre Lebensklugheit und Gewandtheit
ſich das Recht erobert haben, den Nachkommenden Leitſtern zu ſein: Sofefine
Levy- Rathenau; Hildegard Radomski; Dr. Marie Bernays; Frl. Dr. Bäumer;
Frl. Dr. Salomon; Frl. Dr. Käthe Schirmacher.
Es ſteht z. B. ſo, daß es für jede Mutter, deren Töchter vor der Berufswahl
ſtehen, für jedes junge Mädchen, das ſich einen Weg wählen ſoll, in hohem Grade
ratſam iſt, ſich das Buch von FJoſefine Levy Rathenau: Die deutſche Frau
im Beruf (Moeſers Buchhandlung) anzuſchaffen. Es gibt einen ausgezeichneten
überblick über die Berufe, die akademiſchen, ſozialen, kaufmänniſchen uſtw., die
Anſtellungsmöglichkeiten, die Bezahlungsverhältniſſe. Außerdem hält es mit der
Zeit Schritt, verzeichnet z. B. ſoviel wie möglich die jeweiligen Veränderungen, die
der Krieg bringt, erteilt wohlangebrachte Warnungen und ſteht gewiſſenhaft von
jeder feſten Angabe ab, wo die Verhältniſſe fließend oder unſicher ſind.
bewegung, als es dies vor einem Dutzend Jahren hatte. Damals
ö
Oiers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt 399
In ihrer durch den Gegenſtand gebotenen Beſchränkung ebenſo zuverläſſig,
umfaſſend und geordnet iſt die Schrift: Die Frau in der öffentlichen Armen
pflege von Hildegard Radomski (Moeſers Buchhandlung). Man erhält Ein-
blick in die verſchiedenen Syſteme der Armenpflege, ihre geſetzlichen Grundlagen,
die geſchichtliche Entwicklung. Dann auch eingehend in die Pflichten, in die mannig-
fachen Anforderungen, denen eine Armenpflegerin gewachſen ſein muß, in die
verſchiedenen Zweige dieſer Arbeit und die Anſtellungsverhältniſſe. Was man
von dem Stoffe verlangen kann, wird hier lückenlos geboten.
Dr. Marie Bernays: Zuſammenhang von Frauenfabrikarbeit ö
und Geburtenhäufigkeit in Oeutſchland (Moefers Buchhandlung) gibt
ein ſtatiſtiſch nach allen Seiten hin belegtes Bild von dem Anteil der Frau an der
gewerblichen Arbeit und dem etwaigen Rückſchlag auf ihre Mutterſchaft. Es handelt
ſich hier allerdings um etwas mehr als eine bloße Sichtung, Einordnung und Dar-
ſtellling der beſtehenden Verhältniſſe — es bricht durch den objektiv zu betrachtenden
Zahlen- und Tatſachenſtoff immer wieder ein ſubjektives Mühen, die Schlaglichter
nicht zu ſtark zuungunſten der Frauenfabrikarbeit fallen zu laſſen. Teilweiſe geben
dem die Zahlenverhältniſſe recht, es fehlen aber nicht Stellen, an denen die Ver-
faſſerin etwas vergewaltigend an den Oingen rückt, um ſich ſpäter notgedrungen
ſelbſt widerlegen zu müſſen. Es iſt ihr durchaus zuzuſtimmen, wenn ſie außer
der Fabrikarbeit noch eine ganze Reihe andrer Urſachen für den Geburten Rückgang
namhaft macht: fo den zerſetzenden und ſchwächenden Einfluß der Großftadt, dem
es zuzuſchreiben iſt, daß die Provinz Brandenburg dank der Willionenſtadt Berlin
in der abſoluten Geburtenziffer am niedrigſten, wie in dem Geburtenſturz mit an
erſter Stelle ſteht. Ferner, wenn ſie die Nahrungsmittelteuerung verantwortlich
macht, auch das Erbrecht am Boden, durch das (3. B. in Heſſen) der begreifliche
Wunſch, das Kindererbe nicht allzuſehr zu zerſtückeln, zu den erſtaunlich niedrigen
Geburtenziffern führt. Dann tritt auch der bemerkenswerte Einfluß der Kon-
feſſionen zutage. Der Katholizismus hat die meiſten Kinder, danach der Pro-
teſtantismus. Am ſchlechteſten kommen die Miſchehen weg, und an allertiefiter
Stelle ſteht das unkirchliche Frankreich.
Es iſt auch ohne Zweifel, daß die willkürliche Beſchränkung der Geburten,
genährt von dem Trugbild des Neumalthuſianismus, zu dem die Frauenbewegung
im ganzen und der Bund für Mutterſchutz in ausgeſprochener Weiſe neigt, in das
Publikum, auch in die Arbeiterſchaft durch einen Teil der Arzte (Dr. Bernſtein und
Dr. Marcuſe in erſter Linie) und durch profitgierige Händler eingeführt, die Haupt-
laßt der Verantwortung an dem reißenden Geburtenrückgang trägt. Es bleibt aber
trotz aller Gegenverſuche beſtehen, daß ein merklicher Rückgang dort eintritt, wo
ſtarke Fraueninduſtrie herrſcht, wo beſonders die 20—30jährigen in die Fabriken
ſtrömen, daß im Gegenſatz ein merklicher Geburtenhochſtand in Orten mit hauptſäch-
licher Männerinduſtrie feſtzuſtellen iſt, und daß die gewerblichen Gifte, denen die
Arbeiterinnen der Textil-, Tabak-, Metallinduſtrie uſw. ausgeſetzt ſind, unmittelbar
ſchädlich auf die ungeborenen Kinder wirken. Daß die immer vervollkommnete
Technik kein Geſchenk für unſre Volksgeſundheit iſt, indem die Muskelarbeit, die
die Frau (wie auf dem Lande) tüchtig macht zu reicher Mutterſchaft, abgelöſt wird
von der ſchwächenden Nervenarbeit (eine Arbeiterin bedient 8-10 Webſtühle).
— nn
N
400 5 Diers: Was die heutige Frauenbewegung leiſtet, und was Ihr fehlt
Es iſt dann noch ſachlich lobend zu erwähnen: Bürgerkunde und Volks-
wirtſchaftslehre für Frauen von Elly Heuß Knapp (Voigtländers Verlag)
und Käthe Schirmacher: Die moderne Frauenbewegung (Verlag Teubnehy.
Beide Bücher werden ihrem Stoff durchaus gerecht. Wer ſich über das
eine und das andere unterrichten will, tut gut, ſich dieſe Leitfäden zu kaufen. Kurz
gefaßt, überſichtlich, erſchöpfend und das Weſentliche erfaſſend.
Ungefähr dasſelbe, wenn auch mit eingeſchränkterer Anerkennung ließe ſich
(vom Schrifttum zur praktiſchen Arbeit übergehend) von den ſozialen Frauen-
ſchulen des Frl. Dr. Bäumer in Hamburg und des Frl. Dr. Salomon in
Berlin ſagen. Dies find die Anftalten, die an der Spitze des geſamten Frauen-
ſchulweſens zu marſchieren meinen, und denen auch wohl am meiſten Beachtung
zuteil wird. = , 4
Bis hierher weiſen die tatſächlichen und unbeſtreitbaren Leiſtungen der
Frauenbewegung. Doch nun kommt das große Aber, der gewaltig aufſteigende
Mangel wie ein gähnender Rachen, den Tauſende nicht ſehen, den die Berufenften
unter den Zugendleiterinnen noch nicht einmal ahnen, weil ihr Blick ſeit Zahrzehn⸗
ten künſtlich auf eine Seitenrichtung eingeſtellt iſt und der doch unſer junges auf⸗
wachſendes Mädchengeſchlecht und mit ihm unſre künftigen Mütter verſchlingen
wird, wenn nicht beizeiten die Herzen erwachen, die Augen wieder ihre natürliche
Blickrichtung gewinnen.
Allen dieſen tüchtigen, brauchbaren Büchern und Anſtalten, dem ganzen
Stabe dieſer Frauenführerinnen fehlt etwas. Und was ihnen fehlt, iſt gerade
das Beſte und Höchſte, iſt das für Vaterland und Familie Anentbehrlichſte. Dieſe
Bücher und Frauenſchulen, ſo klug erdacht, ſo emſig geſchaffen und ausgebaut, ſo
eifrig geprieſen — ſind kernlos.
Ihnen fehlt der große Sammelpunkt, die heiligende Grundkraft, ohne die
alles, was ſie bieten, und mag es Tauſendfaches fein, loſe herumflatternde Einzel-
heiten bleiben, ohne Beziehung zum wahrſten Lebenspunkt. Sie kommen mir vor
wie Lexika, wie Wörterbücher. Unanzweifelbar in ihrer Fülle, ihrer Richtigkeit,
ihrer Notwendigkeit und Brauchbarkeit. Aber ohne geiſtigen Mittelpunkt, ohne
Zuſammenhang in ſich, ohne lebendige Beziehung zu uns. Als Wörterbücher nutz
lich, aber nicht als Lebensleiter.
Wer aber keine andere Lektüre hat, der lieſt Tag für Tag in dieſen Wörter⸗
J büchern, bis er dumm im Kopf und leer, ausgepumpt im Herzen iſt.
f Ihnen fehlt das Ideale — das religiöfe u und nationale Moment.
ö In Foſefine Levys Buch ſucht man es am wenigiten. Sas iſt wirklich ein Nach ·
ſchlagebuch und will nichts anderes ſein. Aber ein leiſes Ziehen und Weiſen nach der
Seite der Frauenrechtlerinnen iſt darin unverkennbar. Soweit es überhaupt hervor
tritt, iſt es „links orientiert“. Unter den Berufen fehlt bezeichnenderweiſe der
der Miſſionarin. Es iſt dies bei der ganzen Stellung der Frauenbewegung ein
fach ſelbſtverſtändlich. Zu dieſer Sache nachher noch ein weiteres Wort.
Etwas mehr tritt der Mangel ſchon in Hildegard Nadomskis Buch von der
Armenpflege zutage. Hier wäre der Ort, an dem die Herzenskraft, die Gefühls
wärme durchbrechen müßte, wenn ſie da wäre, unhemmbar ſelbſt dann, wenn die
x
* 22 um e .
— „ K Zn N
n
N
Dlers: Was dle heutige Frauenbewegung leiſtet, und was ihr fehlt 401
Verfaſſerin ſich nüchternſte, unbeirrteſte Tatſachenbehandlung zum Geſetz gemacht
hätte. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Der Abglanz fehlt.
In der „Bürgerkunde“ von Elli Heuß- Knapp und der „Frauenbewegung“ von
Käthe Schirmacher fehlt auch dieſer Glanz. Man fragt ſich: Iſt es möglich, das
wundervolle, reichgegliederte Gefüge unſeres deutſchen Vaterlandes, dies Runft-
werk höchſter Schaffenskraft, an dem jetzt unberufene, ſchmutzige Hände zu reißen
wagen, den klaren, kühnen Staatsbau Preußens mit ſeiner kerngeſunden Finanz,
die beiſpiellos daſteht im Reigen der Völker, ohne ein Wort, ein Zeichen tiefer Er-
griffenheit, heimlich jubelnder Begeiſterung uns zu zeigen? Soll das „objektiv“ fein?
O nein, es iſt einfach farblos, leblos, ſchal. Leſe man die prächtigen Ausführungen
von Schubert über die Verfaſſung und Verwaltung des Deutschen Reiches und Preu-
Bens, jetzt in ſeiner 26. Auflage, und man wird ſehen, wo es dieſen Frauen fehlt.
Und wie iſt es möglich, die Frauenbewegung in ihrer geſamten Erſcheinung
darſtellend, Deutſchland, unſer Vater- und unſer Kinderland, unſer Eigenſtes, das
uns an Fleiſch und Blut, an Seele und Zukunft geht, nur als geographiſchen Be-
griff zwiſchen den anderen Staaten zu nennen, einzuordnen? Übrigens mit betonter
Hinneigung zum weiblichen Stimmrecht, zu jeglichem Frauenrecht überhaupt.
Käthe Schirmacher iſt heute eine Ausnahmeerſcheinung unter den ganz
international gerichteten Frauenrechtlerinnen, von denen Minna Cauer, von
jeglicher nationaler Würde verlaſſen, jetzt im Kriege einen Gruß an die engliſchen
Frauenrechtlerinnen ſchickt, ihnen herzlich glückwünſchend die Hand drückt für das
eroberte Stimmrecht — Käthe Schirmacher iſt ganz deutſch geſinnt, ſie glüht in
heiligem Eifer für des Vaterlandes Not, feinen Stolz und feine Hoffnung. Um fo
ſeltſamer wirkt dieſes farbloſe Buch, das nur von dem Wunſch nach ausgedehnten
Frauenrechten Farbe erhält. |
In den ſozialen Frauenſchulen von Frl. Salomon und Frl. Bäumer iſt eine
Fülle, eine Aberfülle an Stoff, die den feiner organiſierten Schülerinnen bedrückend
iſt, weil die Menge in keinem Verhältnis zur Tiefe ſtehen kann, und die gewiffen-
hafte, kluge Eltern bedenklich machen müßte. Immerhin, es wird viel, alles, was
nur irgend in den Rahmen geht, geboten — und es fehlt doch eines. Die Ge-
ſinnungspflege fehlt. Das Religiöfe fehlt und das Weden des Nationalbewußtſeins,
des Stolzes auf unſer Vaterland, des Verantwortlichkeitsgefühls für unſer Deutſch-
tum. Der Kern des inneren Lebens fehlt, ohne den keine Jugend gedeiht, ohne
den Kraft und Glanz im weiblichen Dafein verkümmert und verblaſen wird.
Anſtatt dieſes ſtarken, ſtolzen, frohſinnigen Glaubens und Wollens aber wird
die alte fatale „Objektivität“ geboten, mit der ſich unſere Objektiven ſchon lächerlich
genug gemacht haben. Und dann — trotz dieſer proklamierten Objektivität — eine
ſubjektive Gehäſſigkeit gegen alles, was ſtark und vaterländiſch auftritt, wie fich
an den reichlichen Ausfällen von Frl. Dr. Bäumer gegen die Vaterlandspartei
zur Genüge erweiſt. In dieſen Anſtalten ſollen unſre künftigen Mütter heran-
gezogen werden — Mütter von Helden, wie ſie unſere Zeit trägt??
Das „Soziale“ ſoll das Nationale überflüſſig machen. Es überſchreit es
heute ſchon.
Und nun die Folgerung.
Der Türmer XX, 21 26
402 | geln: Sommermorgen
Was der heutigen Frauenbewegung fehlt, was überall in dem Wirken und
den Spuren dieſer fleißigen, nüchternen Berufsmädchen fehlt — wo wird es uns
erſetzt, wer erſetzt es uns?
Wo es da iſt, da fehlt vielfach das, was uns und unſerer Jugend das Wirken
der Frauenrechtlerinnen unentbehrlich macht: die praktiſche, erfolgreiche Lebens
durchdringung. Der Menſch lebt zwar nicht vom Brot allein, das ſehen wir an
der Leere, die dieſe kernloſen Beſtrebungen ſchaffen. Der Menſch lebt aber auch
nicht vom Geiſt allein — er braucht Geift und Brot.
| Da fangen unfere Aufgaben an! Die Zeit muß vorüber fein, in der wir
alles aus den Händen der Frauenrechtlerinnen nehmen. Unſere weibliche Jugend
braucht heute mehr, ſie braucht geſundere, gehaltvollere Koſt. Schon arbeiten die
chriſtlichen Frauenſchulen in dieſer Hinſicht, aber noch lange nicht genug, noch lange
nicht geſchickt genug. Hier iſt ein Feld für unſere organiſatoriſchen Kräfte. Laßt
uns die jungen Mädchen fo richten, daß fie einſt hier ihre Kräfte einſetzen können.
Laßt ſie uns darauf ſchulen, fähig zu werden, die Bücher und Nachſchlagewerke,
die zuſammenfaſſenden Ergebniſſe eingehender Studien ſchreiben zu können, in
denen neben der Tüchtigkeit und Zuverläſſigkeit der heilige Geiſt nicht fehlt, der
Geiſt der Religion, des Vaterlandes, des Muttertums.
Verheißungsvoll ſprießen die jungen Saaten. Ich weiß es aus lebendiger
Erfahrung. Hier gilt es, die neuen Kräfte zuzubereiten für neue Lebens- und
Schaffensformen, erfüllt mit den alten heiligen Idealen unſeres Volks!
MM
Sommermorgen Von Kriegsfreiw. Alfred Hein
Die Lerche warf den Tag, den jungen,
Mit einem friſchen, übermüt’gen Triller
Herunter und mir Schlafenden ins Herz.
Und munter war ich aufgeſprungen!
Und riß die Augen weit! Und lauſchte .. laufchte . .
Und glaubt’ es endlich — daß im Land der Gräben
Nur Sommer war — — ein Friede märchenfein
Den noch kein Todeseiſen ſchrill durchrauſchte.
Und eine ganze Stunde ging — war zart verwoben
Ins lichte Blau, dem Tempel meiner Glüͤcksgebete!
Und mit der Sonne und den Lerchen und dem weichen Duft
Stieg ich und ſtieg! Ward Nöte, Gold, Demant!
Und meine Augen waren froh wie Schmetterlinge!
Als ſprängen Blüten, wurden meine Fäuſte wieder Hand,
Die felig-langfam nach der ſchönſten Wolke greift . .
Doch da ein Grollen durch die Stille ſtreift,
And vor mir waren ſchwarz Granaten aufgeſtoben.
%
RISSE
—
Hnſere Alten! Wir, die wir jetzt alt geworden ſind, haben als Jünglinge zu Abe
Füßen geſeſſen, und mit dankbarem Herzen denken wir daran, was wir von ihnen
mitnehmen durften in unſer Leben und zehren jetzt noch davon. Unſere Zeit,
die ſo groß und reich iſt an ungeheuren Erlebniſſen, iſt deshalb auch ſo ſehr geneigt, der Alten
zu vergeſſen — aber was wären wir, wenn wir nicht auf ihren Schultern ſtänden! Vielfach
kommen ſich die Zungen, die Neuen größer vor, als die Alten, weil ihnen Dinge in den Schoß
gefallen find, von denen die Alten noch keine Ahnung haben konnten, gber vielfach find fie
doch nur Epigonen. Was die Alten geleiſtet haben, iſt mehr. Zu den Alten zurückkehren, heißt
vielfach Neues gewinnen.
. Juli ds. Is. werden es fünfzig Jahre, daß Auguſt Vilmar in Marburg die Augen
für dies Leben ſchloß. Man fand ihn an jenem Morgen friedlich entſchlafen in ſeinem Bett,
wie er ſich abends niedergelegt hatte, ſein Käpplein in den gefalteten Händen. So hatte er
ſich ſein Sterben immer gewünſcht und vom Herrn erfleht. Er iſt 68 Zahre geworden. Was
hat der Mann in dieſer Spanne Zeit auf den verſchiedenſten Gebieten des öffentlichen Lebens
und der Wiſſenſchaft geleiſtet! Wer kennt ihn nicht als Literarhiſtoriker! Seine Geſchichte
der deutſchen Nationalliteratur zu leſen iſt heute noch ein Genuß. Neuere haben wohl weiter-
gebaut, aber ihm gleichgekommen, oder gar ihn übertroffen an Klarheit des Urteils und liebe- .
vollem Ergreifen der gefundenen Schätze hat ihn keiner. Großes hat er ferner geleiſtet auf dem
Gebiet der Schule. Hier iſt er bahnbrechend geweſen für ſein engeres Vaterland Heſſen und
weit über die Grenzen desſelben hinaus. Gelehrten und Volksſchulen ſollten ihm mehr fein,
als Einrichtungen, um mit einem gewiſſen Wiſſensſtoff die Köpfe zu füllen, er wollte Männer
erziehen, Charaktere, bewußte Chriſten. Als ein Mann, als ein Charakter, als ein
bewußter Chriſt ſtand er wie eine knorrige Eiche in den Revolutionsſtürmen um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts (Rudolf Roch oll nennt ihn irgendwo einmal die knorrigſte Eiche des
Heſſenlandes). Da bot er unerſchrocken dem Marburger Mob, der ihm das Haus ſtürmen
und ihn ſelbſt maſſakrieren wollte, die Stirne, er iſt ein Zeuge, ein Streiter geweſen wider die
Revolution, wie wenige. — Und nun der Theologe! Oer Schreiber dieſes weiß, daß nam-
hafte, auch gläubige Vertreter der Theologie ihre Bedenken haben gegen manches in Vilmars
Lehre, er aber für ſeine Perſon legt in Dankbarkeit einen Kranz auf Vilmars Grab: hier ruht
ein Mann, der ein Großer war auf dem Gebiet der Theologie, ein Großer in der Kirche des
Herrn. Auf feinem Grabmal ſtehen, wie er ſelbſt es gewünſcht hatte, die Worte: „Zch habe
geglaubt an eine Vergebung der Sünden, eine Auferſtehung des Fleiſches und ein e
Leben. Amen!“
404 Chamberlain über die rumäniſchen Zuben
Zu den Alten zurückkehren, aus den Brunnen ſchöpfen, die ſie gegraben haben, das
würde großen Gewinn bringen den Zungen.
Wer über den Werdegang dieſes ſeltenen Mannes Näheres wiſſen will, leſe die höchſt
intereſſant geſchriebene Biographie Vilmars von W. Hopf (N. G. Elwerts Verlagsbuchhand⸗
lung, Marburg). Pfaff, Sup.
82
_ Shamberlain über die rumäniſchen Juden
VL u der auch in deutſchen Blättern und Reden viel erörterten rumäniſchen Zuden-
frage nimmt Houſton Stewart e in „Deutfchlands Erneuerung“ (3.
Erft feit dem Jahre 1723, d. h. alſo mehr als ein halbes Jahrtauſend nach der Begrün-
dung des engliſchen Reiches und erſt nach einer in der Hauptſache dauernden Feſtigung des
Lanbbeſitzes, ließ das engliſche Volk die Juden zum Grundeigentum zu. Wer weiß, ob das
heutige England — die Weltmacht — unter anderen Bedingungen je entſtanden wäre?
Sch glaube es nicht. Denn im frühen Mittelalter waren die Zuden in England ſehr zahl-
reich; und wenn Sie des berühmten Nationalökonomen Cunninghams Werk The growth of
English industry and commerce during the early and middle ages (dritte Auflage, 1896,
S. 199ff.) aufſchlagen, fo werden Sie ſehen, daß dieſe Juden, denen bis zum Jahre 1290 jedes
Gewerbe und jedes Handwerk offenſtand, und gegen die noch ein Vorurteil herrſchte, ſich
ausſchließlich mit Galdwucher und anderen unſauberen Geſchäften abgaben. Die vielen Ver⸗
ſuche der Negierung, die Juden zur Ergreifung anſtändiger Gewerbe zu bewegen, ſchlugen
fehl. (S. 203.) Und fo vergleicht denn Cunningham die damalige jüdiſche Kolonie mit „einem
Schwamm, der das geſamte Vermögen der werdenden Nation aufſog“. Genau ebenſo erging
es damals dem franzöfifchen Adel; faſt fein geſamter Beſitz war im 13. Jahrhundert an die
Juden verpfändet (ſiehe André Reville: Les paysans au Moyen Age, 1896, S. 5. Was hat
nun dieſe Länder vor der gänzlichen Entnationaliſierung ſchon in dieſen erſten Anfängen ihres
ſtaatlichen Dafeins geſchützt? Einzig die Klauſel, welche den Juden vom Grundbeſitz ausſchloß.
Ohne dieſe Maßregel wäre der geſamte Boden von England und Frankreich — abgeſehen von
den Staatsdomänen — vom 13. Jahrhundert ab jüdischer Beſitz geweſen, und die Geſchlechter,
welche engliſche Geſchichte ſeitdem gemacht haben, hätten als Frondiener der Wucherer ihr
Daſein friſten müſſen! Jene eine Maßregel genügte aber nicht, um dem zerſetzenden Einfluß
der großen jüdiſchen Kolonie in England Einhalt zu tun, und ſo entſchloſſen ſich die von jeher
praktiſchen Engländer zu einem gründlicheren Vorgehen; ſie entfernten ſämtliche Juden aus
dem Lande. Vom Jahre 1290 bis zum Jahre 1657 hat es in England keinen Juden gege⸗
ben — d. h. alſo während der ganzen Konſolidierung der Nation, vom großen erſten Eduard
(dem erſten echten Nationalkönig und Begründer des eigentlichen Parlaments) bis nach dem
Tode der großen Herrſcherreihe, die mit Heinrich VIII. beginnt, in Eliſabeth gipfelt und mit
Cromwell und ſeiner weitſichtigen überſeeiſchen Politik endet. Dieſe Tatſache iſt nun von
dauerndem Einfluß bis auf den heutigen Tag geblieben. Denn während es zur Zeit der Der-
treibung 16000 Juden in England gegeben hatte (ſiehe Green: History of the English People,
Buch III, Kap. 4), was nach den zuverläſſigſten Schätzungen der damaligen Bevölkerungs
zahlen mindeſtens 1, wahrſcheinlich aber gegen 2 Prozent der Bevölkerung ausmachte, gibt
es in dem heutigen England (nach dem Jewish Year Book für das Jahr 1898) nicht ganz
Y4 Prozent Juden. Inzwiſchen war eben das engliſche Volk nach jeder Richtung hin erſtarkt,
und ſo konnte der Jude nie mehr in dem Maße wie früher — und trotzdem alle Türen und
Tore ihm offen ſtanden — Fuß faſſen. Wenn alſo, wie geſagt, das e Verhältnis
Ehamberlain über die rumäniſchen Zuden 405
der Juden in England und in Rumänien heute dasjelbe wäre, ſo berechtigten die Lehren der
Geſchichte nicht zu der Behauptung: weil in England die Juden ſeit anderthalb Zahrhunder-
ten Grundeigentum beſitzen dürfen und ſeit etwa 50 Jahren in jeder Beziehung gleihbe-
rechtigte Bürger ſind, deswegen iſt ein gleiches für Rumänien ratſam. Nur Sophismus oder
Anwiſſenheit kann eine derartige Folgerung ziehen. Denn die Geſchichte — deren Lehren zwar
ſchwer zu entziffern, doch darum nicht zu verachten ſind — ſcheint vielmehr das Gegenteil
zu beweiſen. Wollte Rumänien ſich nach dem Beiſpiel des erfolgreichen Staates England
richten, fo müßte es ſchleunigſt ſeine ſämtlichen Zuden des Landes verweiſen und fie erſt nach
drei oder vier Jahrhunderten wieder zulaſſen, nachdem die Nation ſich äußerlich und inner-
lich ausgebaut und die Beſitzverhältniſſe ſich dauernd gefeſtigt hätten.
Nun ſind aber die zahlenmäßigen Verhältniſſe nicht dieſelben. Während im alten,
ſtarken, feſtkriſtalliſierten England auf 400 Menſchen ein Zude kommt, zählen Sie in Ru-
mänien auf 100 Menſchen mindeſtens 6 Juden. Der abſoluten Zahl nach beſitzt das verhält
nismäßig noch ſpärlich bevölkerte Rumänien viermal ſoviel Juden wie das dichtbevölkerte
England, der relativen Zahl nach ungefähr 25 mal ſoviel! Das allein ſollte genügen, Bedenken
zu geben. Denn man braucht kein blinder Zudenhaffer zu fein, um aus einer mehrtaufend-
jährigen Geſchichte zu erkennen, daß der Jude überall und immer ein zerſetzendes Element
geweſen iſt. Seine guten und ſeine ſchlechten Eigenſchaften wirken beide dahin, daß er das,
was er berührt, entweder zerſtört oder ſich zum Nachteil des anderen aneignet. Die Juden
beſitzen viele achtungsvolle Eigenſchaften, doch das muß jeder einſichtige und wiſſende Mann
zugeben: ſie ſind jedes politiſchen Inſtinktes bar, überhaupt jedes Taktes. Daher durfte jener
große, weiſe, den Juden von Jugend auf freundlich geſinnte Mann — Goethe — die Behaup-
tung aufſtellen: „Duldſamkeit gegen die Juden bedroht die bürgerliche Verfaſſung.“ (Dich-
tung und Wahrheit, 13. Buch.) .. . Wie wollen Sie es nun fertigbringen, das junge, noch nicht
mit Eiſen gepanzerte Staatsſchiff Rumäniens durch alle Gefahren ſicher hindurchzuſteuern,
wenn Sie 25 mal mehr Zuden an Bord haben als England? ... Soll ich aus allem Gefag-
ten noch die Folgerungen ziehen? Nein, nicht wahr? Es iſt nicht nötig. Nieder mit allen
Judenverfolgungen! Nieder mit allem abſurden, mittelalterlichen Aberglauben! Nieder
mit aller ſozialen Geringſchätzung und perſönlichem Haß! Gewähren Sie den Juden denfel-
ben unverletzlichen Schutz, wie Sie ihn allen Fremden gewähren; räumen Sie ihnen außer-
dem, als alten Inſaſſen des Landes, weitergehende Vorrechte ein; laſſen Sie ſie (da Sie es
nicht mehr verhindern können) zu dem gewerblichen und induſtriellen Wettbewerb zu — doch
ſchauen Sie ihnen dabei genau auf die Finger! Aber räumen Sie ihnen kein politiſches Recht
und kein Recht auf Grundbeſitz ein. Es tun, hieße für Rumänien den Selbſtmord begehen.
And forgen Sie dafür, daß die Juden nicht die Herren der öffentlichen Meinung durch die Zei-
tungen, und nicht die Herren der Köpfe und der Herzen durch die Beherrſchung des Bücher-
marktes und der Schule werden. Der frühere Berliner Vertreter der „Times“ — ein Jude —
veröffentlichte vor einigen Fahren ein Buch über Oeutſchland, in dem er triumphierend miel-
det: „Es gibt keine deutſche Literatur mehr, ſondern nur noch eine jüdiſche Literatur in deutſcher
Sprache.“ Sorgen Sie beizeiten dafür, daß niemals von Rumänien dasſelbe geſagt werden
könne. Schutzgeſetze wären hier zu wünſchen, doch noch wichtiger iſt die aktive Abwehr des
jüdiſchen Einfluſſes durch die bewußte Erkenntnis feiner Gemeingefährlichkeit. Nicht etwa,
als ob ich die Motive des Zuden verdächtigen wollte, ich tue es auf geiſtigem ebenſowenig wie
auf gewerblichem Gebiete; der Jude hat das Recht, ſo zu ſein, wie er iſt; die Zähigkeit, mit
welcher er an ſeiner Eigenart feſthält, iſt bewundernswert und nachahmungswürdig; doch für
unſeren Geiſt und für unſer Gemüt iſt ſein geiſtiger Einfluß ein zerfreſſendes Gift.
up
406 Bureaukratie und Auslandokuſde
Bureaukratie und Auslandskunde
N N. ur Rückgewinnung und Erweiterung unſrer ausländiſchen Abſatzmärkte ſoll hinfüro
Yy wo) ganz beträchtlich mehr Auslandskunde getrieben werden. Das Kultusminiſterium hat
ſich bereits in den Dienft der Sache geſtellt und will an den verſchiedenen Univerſi⸗
täten allerhand Vorleſungen einrichten. Mit andern Worten, die Bureaukratie, unter deren
Leiſtungsfähigkeit wir alle ſeufzen, wird Stellen ſchaffen und Stellen beſetzen, der Steuerzahler
wird weiter belaſtet, aber daß der deutſche Profeſſor mit Ableſung von längſt überholter Weis
heit dem deutſchen Handel viel nützen wird, wer möchte ſich ſolch roſigen Hoffnungen hingeben?
Sollte nicht die Kaufmannſchaft aus eigner Tatkraft Beſſeres zu ſchaffen wiſſen? Die hervor-
ragendſten Hochſchulgelehrten haben es längſt ſelber zugegeben, daß das Neue, der Fortſchritt
nicht aus ihrer Mitte, nicht aus dem Schoße des gelehrten Beamtentums hervorging. Gibt es
heute ein ſchnelleres und billigeres Mittel, ſich über das Ausland zu unterrichten, als die Der-
tiefung in ſeine Preſſe? Die Zeitungen ſpiegeln die Beſtrebungen und den Kulturſtand des
Landes. Viel wäre alſo ſchon getan, wenn ſich in allen größeren Handelsſtädten die Kaufleute
zum gemeinſamen Bezug ausländiſcher Zeitungen zuſammenfänden. Wenn nun aber die
Regierung Dozenten genug finden ſollte, die im Lauf mehrerer Monate, ihre Weisheit ſtündlich
und tropfenweiſe verabfolgend, aus Heften vorleſen, was ſchon mehr oder minder lang und
meiſt beſſer ſchon in Büchern ſtand, — ſollten ſich dann nicht billiger und wirkſamer Bücher her ⸗
ſtellen laſſen, die ihre Weisheit in einem oder zwei Tagen vortragen, die man immer wieder
fragen, mit ſich tragen und ſchließlich weitergeben kann? Solche Bücher finden auch ihren Weg
in die entlegenſten Winkel, wo man Aufſchluß über das Ausland begehrt. Sodann könnte man
auch vielleicht gerade die begabteſte und willigſte Jugend für den Dienſt der Auslandskunde
gewinnen. Es beſteht ein tiefer Zuſammenhang zwiſchen dem Trieb und Drang ins Weite,
Ferne einerſeits und Fähigkeit zu neuen Einſichten, neuen Forſchungswegen andrerſeits.
Wenn auch Sokrates und Kant kaum aus ihren Wohnbezirken herausgekommen ſind (beide
waren arme Schlucker), jo läßt ſich doch für jene Behauptung nicht nur eine Fülle von Tat⸗
ſachen herbeibringen, ſondern fie läßt ſich auch ſeeliſch wahrſchelnlich machen. Es iſt das vollere,
ſtärkere Leben, das über den Trott des Alltags hinaus und hinaufſtrebt, das die Welt räumlich,
zeitlich und geiſtig durchmeſſen will, alſo ſich nach fernen Ländern ſehnt, die Geſchichte liebt
und alles, was Geiſt iſt, ſich einverleiben möchte. Zunge Leute voll Wißbegier und Wagemut,
zu einſamen und weiten Wegen im Näumlichen und Geiſtigen gleicherweiſe entſchloſſen, finden
ſich in Deutſchland genug — bisher ſind ſie meiſt verkümmert —, ihnen ſollte man das Geld
zu Auslandsreiſen und Auslandsbeobachtungen geben, nachdem man ihnen an berühmten
Vorbildern gezeigt hat, wieviel gute Auslandspioniere ihrem Vaterlande genützt haben.
Dieſen Vorbildern gehörte ein ausgiebiger Raum in den Schulgeſchichtsleitfäden, in
denen ſie ſich, von einer knappen Erwähnung Friedrich Liſts abgeſehen, überhaupt nicht finden.
Lift hat in Amerika die große Bedeutung der Eiſenbahnen für die Volkswirtſchaft erkannt und
mit Dranſetzung feines Lebensglückes die Deutſchen zu entſprechenden Taten vermocht —
ohne ſeine Heimkehr wäre Deutſchland vermutlich von England fried lich durchdrungen“ worden.
Zohann Jakob Sturz hatte Nord-, Mittel- und Südamerika bereiſt und in Braſilien eine
bedeutende Rolle geſpielt. Er predigte den Deutſchen die Nützlichkeit des Hochſeefiſchfangs als
erſtens einer Nahrungsquelle und zweitens einer unentbehrlichen Schule der Seetüchtigleit.
Sturz war ein hochverdienter Erzieher zur Seegeltung. Dem engen und beſchränkten Geſichts·
kreis der preußiſchen Adelsjugend ſtellte er den weiten Horizont des vornehmen jungen Eng
länders gegenüber. Während der Junker über das Garniſonleben einer beſchränkten Kaſte
nicht hinauskomme, befahre der junge Gentleman in eigner Yacht die Meere und fühle ſich
als Herren der Erde. Aber nicht nur den Hochſeefiſchfang, ſondern auch Hebung der Fiſchzucht
E
Volkslied und Kunſtgeſang 407
im Binnenland und Organiſierung des Fiſchhandels von der Küſte bis zu den Alpen predigte
Sturz, und hierin hatte er einen ebenſo eifrigen Nachfolger in Heinrich Beta, beide Männer
hatten im angelſächſiſchen Auslande geſehen, woran es in Deutſchland noch gar ſehr fehle:
an rationeller Fiſchwirtſchaft auf unſeren zahlloſen Gewäſſern. Wäre man ihnen noch mehr
und gründlicher gefolgt, als man tatſächlich gefolgt iſt, ſo hätten wir in dieſen vier Jahren auch
Fiſchnahrung reichlicher zur Verfügung gehabt; in den Büchern der Nationalökonomie der da-
maligen Zeit gab es nicht einmal ein Kapitel über Fiſchzucht und Fiſchfang als Quelle der
Volksnahrung; wenn es heute anders iſt, ſo iſt es das Verdienſt jener Auslandspioniere, deren
Namen natürlich vergeſſen find. Als vierten Auslandspionier nennen wir den Dichter und
Ingenieur Max Eyth: er brachte uns die Zuſammenfaſſung der Landwirtſchaft, Ausſtellungen,
Verwertung der Maſchinen und beſonders der Dampfkraft auch beim Ackerbau, hob ſomit die
deutſche Landwirtſchaft auf ein höheres Niveau: das vermochte er nur, nachdem er ſelbſt für
engliſche Fabrikanten den Oampfpflug in Agypten, Rumänien, Rußland und Amerika ver-
breitet hatte. Dieſe Auslandspioniere ſollte man unſerer Zugend vorhalten, es waren edle
und vaterlandsliebende, weitſichtige Männer. Volkswirtſchaftlich und ſprachlich vorgebildet,
zum Studium des Auslands ein oder zwei Jahre nach allen Windrichtungen entſandt, zur
ſchriftlichen Berichterſtattung über Geſehenes und Gehörtes verpflichtet, könnten gerade die
-begabteften jungen Leute auf ein nützliches Tätigkeitsfeld gebracht werden. Heimgekehrt
würden ſie, als Lehrer oder Schriftleiter tätig, vielleicht auch in der Induſtrie unterkommend,
durch Fortſetzung des Studiums der ausländiſchen Preſſe fortfahren können, Auge und Ohr
für ausländiſche Dinge zu bleiben. Natürlich erſt recht könnten auch junge Kaufleute, die beruf-
lich ins Ausland kommen, durch jene Beiſpiele angeſpornt, die Augen und Ohren unſeres
Handels vermehren. Daß aber mit Vorleſungen von Aniverſitätslehrern oder auch Männern
der Praxis viel gewonnen würde, das möchte man bezweifeln, nachdem ſich die Wiſſenſchaft
der Nationalökonomie in dieſem Weltkrieg als ſo wenig vorbereitet und weitſichtig erwieſen und
unſere Auslandsdiplomatie, alſo die Bureaukratie, ſich um jeden Kredit gebracht hat.
Dr. Georg Biedenkapp
Volkslied und Kunſtgeſang
nſere Kunſtmuſik befindet ſich in einem bedauerlichen Zuſtande von Volksuntüm-
L lichkeit; das gilt auch für das Kunſtlied von heute. Es hat ſich feinen Ausdrucks-
S nmitteln wie ſeinem Gefühlsgehalte nach verſtiegen, oder iſt platt und aufdringlich
weſchlich geworden. — Zn der Zeit ſeit dem 15. Jahrhundert bis in die erſte Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ſproß faſt ununterbrochen eine Folge von Liedweiſen kraftvoll volkstümlicher Art,
die man zu den gelungenſten Kunſtprägungen deutſchen Fühlens zählen muß, und die heute
noch leben und wirken. Die Kluft zwiſchen dieſen durch Jahrhunderte lebendigen Volksweiſen
und unſerem Kunſtliede iſt erſchreckend tief. Dagegen hielt ſich das ältere Kunſtlied von
Schulz bis Brahms in weit engerer Fühlung mit jenen Weiſen. Wenn man dieſe Dinge zu-
ſammendenkt, muß man zu dem Schluſſe kommen, daß unſerm Kunſtliede eine Neubildung
dringend not tut. Alle, die es angeht, müſſen dieſe Kluft zunächſt ſehen lernen, ſich der Ver⸗
irrung bewußt werden, und dort Heilung erſtreben, von wo erfriſchender und geſundender
Atem weht; im volkstümlichen Geſange, der Wurzel all unſerer Muſik.
Zu allen Zeiten übte das Volkslied eine ſtarke Beſtimmungs- und Heilkraft auf das
Schaffen unſerer Kunſtmuſiker, ſelbſt der größten, aus. Man kann z. B. unfere in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts aufblühende Klaſſik ſtiliſtiſch als eine bewußte Betonung und
Hinwendung zur volkstümlichen Melodik bezeichnen. Auch die beſtimmenden Perſönlichkeiten
2 —
408 Volkslied und Runſtgeſang
früherer fruchtbarer Epochen waren ſämtlich ihrer ſozialen wie geiſtigen Herkunft nach aufs
innigſte mit dem geſunden volkstümlich künſtleriſchen Empfinden ihrer Zeit verwurzelt. Das
kann man ſchon von der Kunſt Wagners, Liszts, Berlioz', Chopins und teilweiſe auch mancher
deutſchen Spätromantiker nicht mehr fagen. Sie erſcheint bereits dieſer geſunden Atmoſphäre
entfremdeter als das Schaffen der älteren Meiſter, deren Kunſt in ihrem thematiſchen Kerne
echt volkstümlich und darum von allgemeingültiger und bleibender Überzeugungskraft ift.
Der Muſik unſerer Jahrzehnte ſteht dagegen die ungeſunde Bläſſe und das überreizte
Mienenſpiel volksfremden Weſens auf dem Geſicht geſchrieben, und das Schaffen unſerer Tages-
größen fußt höchſtens in Außerlichkeiten einmal auf der Volksmuſik, begeht aber meiſt mit
ausgeſprochener Abſichtlichkeit die von ihr abgelegenen Wege. Liegt das daran, daß unſerer
Zeit eine kraftvolle Volksmuſik fehlt, oder iſt dieſe entartet und erſtorben, weil ihr von der Kunſt⸗
muſik her keine fördernden Kräfte mehr zufloſſen? Tatſächlich entwickeln ſich wohl immer
beide Zweige der Mufit, wenn ihre Zeit gekommen iſt, gleichzeitig nebeneinander, höchſtens
ſprießt die ſchlichtere Volksmelodik ein wenig zeitiger, wie das Gras vor Baum und Strauch
kommt, und reicht ihre beſcheideneren Gebilde der höherſtrebenden Schweſter zur Ausgeſtaltung
und Veredelung dar. Anſerer Zeit, deren geſamte kulturelle Angelpunkte ſich in einem noch
nie erlebten Grade lockerten, kann eben kein muſiſches Zeitalter ſein, und beide Zweige der
Muſik mußten in ihr ſchwer erkranken. Dieſe Tatſache, und die daraus entwachſenen Schäden
für das ſeeliſche Leben unſeres Volkes werden ſeit Jahren lebhaft beklagt, und man ſinnt aller-
orten auf Hilfe und Heilung.
Sie kann nur von beiden Teilen: dem Volke, das nach feinerem künſtleriſchem Erleben
ſtreben lernen muß, wie auch vom Muſiker, der ſich feiner hohen ſozialen Verpflichtungen be-
wußter werden muß, gebracht werden. Auf das Volk hoffen die vielen (und ſicher nicht mit
Unrecht), die ihm, wo und wie ſie nur können, anbieten, was an guter Volksmuſik vorhanden
iſt. Das hat bereits Erfolge gezeitigt, wenn wir an unſere Wanderjugend denken. Freilich
wachſen auch noch das großſtädtiſche Gaſſenlied und der Operettenſchlager, die Gegenerſchei⸗
nungen unſerer verſtiegenen Runftmufit, friſch weiter. Man darf nämlich die heutige Volks-
liedbegeiſterung noch nicht als einen Beweis eines neuen Erſtarkens volkstümlichen Geiſtes
innerhalb der ſchaffenden Kräfte begreifen, vielmehr erſt als ein Anſchwellen der Sehnſucht
danach in den weiteren nur aufnehmenden Kreiſen, die nur den Wunſch nad) einer fie befriedi-
genden Kunſt äußern können, der Kräfte, ſich Erſatz zu ſchaffen, aber ermangeln. Die liegen
und müſſen geweckt werden bei den ſchaffenden Muſikern. Sie gilt es jetzt vor allem zu wecken
und aus ihrer egoiſtiſchen Freude an ihrer volksfremden überkünſtelten Schaffensart zu reißen,
und ihnen die neue höhere Aufgabe begreiflich zu machen, daß ſie ſich die Kräfte wiedererwerben
müſſen, mit deren Hilfe ſie auf den Ruf des Volkes antworten können.
Denn das tut zuerſt not. Es iſt den meiſten unſerer Muſiker in den letzten Jahrzehnten
viel von der künſtleriſchen Geſinnung und dem Können unſerer Großmeiſter und der Schar
ſolider Alltagsmeiſter um ſie herum verloren gegangen. Das müſſen ſie zunächſt einſehen, um
daraufhin eine gründliche Arbeit an ſich ſelbſt zu leiſten, um wieder eine Kunſt zu ſchaffen, die
für die kommenden Jahrzehnte annähernd das leiſtet, was z. B. das volkstümliche Kunſtlied in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ſeiner Zeit war. Eine ſolche Weiterentwickelung
auch nur unſeres Kunſtliedes, die man keineswegs eine Rüdentwidelung nennen darf, würde
unſere Muſik davor bewahren, ſich ganz aus dem Zuſammenhange mit dem Volksempfinden
zu löſen.
-Diefe Mahnung zur Selbſtbeſinnung und Selbſtarbeit kann mit Ausſicht auf Erfolg
nur an unſere jüngeren noch entwickelungsfähigen Muſiker gerichtet werden. Wer mit den
hier werdenden Kräften Fühlung hat, weiß übrigens, daß hier manches bereits im ſtillen
keimt. Man kann ſie dabei nur auf ſich ſelbſt und ihre Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen
und vorauszufühlen (das Kriterium des echten Talentes und Genies), verweiſen; denn auf
Volkslied und Kunſtgeſang 409
den Schulen iſt noch nie gelehrt worden, wie man ſeiner Zeit voranſchreitet. Die Schule, in
die unſere kommenden Meiſter einzig gehen können, iſt die Kunſt der älteren ſchlichten Meiſter,
die den Beruf des Künſtlers gegenüber ihrem Volke reiner und tiefer erfüllten, als es den
Vertretern der neueren Muſik vergönnt iſt.
Alle geſunde neue Kunſt muß feine Geſtaltungsmittel aus älteren techniſch vorbild
lichen Leiſtungen auswählend entnehmen und gebiert ſich mit dieſer Hilfe neu, aus dem un
bewußt neuartigen Erfaſſen und Geſtalten ewig gültiger ſchlichter und echter Empfindungen
einer neuen. Zeit. Doch greifen denn nicht unſere Kunſtmuſiker von heut ſchon vielfach bewußt
auf die Technik älterer Meiſter zurück? Das iſt noch für Brahms, als letzten und größten tech-
niſchen Könner und eigenſten Geiſt unter den Muſikern des neunzehnten Jahrhunderts zu
bejahen. Sein Schaffen iſt in der Tat ein Beweis dafür, daß auch ein eigenſtes Fühlen nur mit
Benutzung eines reichen Erbes alter Technik ſich ausſprechen kann. Weiſt man aber auf die
kontrapunktiſchen Strebungen vieler unſerer modernen Muſiker, z. B. Negers Nachfolge Bachs,
als etwas Ahnliches hin, ſo iſt dem zu widerſprechen. Die bewußte Anknüpfung iſt nicht zu
leugnen, doch die Geſinnung, aus der heraus fie erfolgte, führt bei Neger nicht zu einer Weiter-
führung und kunſtvollen Umbildung Bachſcher Ausdrudselemente und prinzipien, jondern
zu ihrer Verzerrung. Es iſt eben undenkbar eine Kunſt höchſter Stimmindividualiſierung, die
nur auf einem ſchlichten und wohlgeordneten Klangboden gedeihen kann, mit dem ungezügelten
Streben nach aufgeregten, weitausholenden Klangſchritten zu verbinden.
Wenden wir dieſe Gedanken auf das Kunſtlied an! Es hat, ſeit etwa 1770, als die erſte
bewußte Wiederanknüpfung ans Volkslied erfolgte, nachdem es ſich, genährt von einer natur-
begeiſterten Dichtergeneration mit ihrem Haupte Goethe, über Reichardt zu Schubert und
über dieſen hinaus zu Schumann und Brahms hin entwickelt hatte, einen langen und folge⸗
richtigen Entwickelungsgang durchlaufen. Es iſt dann durch Wolf und unſere von ihm vor-
wiegend beeinflußten neueren Lyriker bis in die letzten Möglichkeiten der Dellamation, ſowie
der charakteriſierenden und tonmalenden Behandlung der Begleitung getrieben worden. Es
hat ſich gezeigt, daß mit der letzten Methode zwar auffallende, aber doch nur techniſch aufgeſetzte
gleichſam unterſtreichende Wirkungen zu erzielen ſind. Während die von innen ausſtrahlenden
Wirkungen des Liedes, das beweiſt das Schaffen des letzten genialen Liederkomponiſten Wolf
ſelber noch, immer auf der geſchloſſenen Führung einer als Ganzes intuitiv erfühlten Melodie
linie und einer aus ihr natürlich herauswachſenden klanglichen Okonomie beruht.
Zu dieſen über Jahrhunderte hindurch bewährten Grundlagen der Geſtaltung eines
jeden muſikaliſchen Kunſtwerkes letzten Endes, zu allererſt aber eines jeden prägnanten Lied-
gedankens müſſen ſich unſere Lied komponiſten zurückfinden. Mit dieſen alten Mitteln gilt es
neue Wirkungen zu erzielen, welche ſich ſchon einſtellen werden, wenn jene aus einem neuen
Empfinden heraus gehandhabt werden. Freilich müſſen geiſtesverwandte Dichter den Kom-
poniften die Hand zu dieſem Werke reichen, wenn auch andrerſeits vieles, was bereits vor Jahr
hunderten ſchon echt und rein geſagt wurde, noch heute ſeiner Geſtaltung im Geſange harrt.
Immerhin iſt es an der Zeit für unſere Lied komponiſten, fi) zum Empfang der neuen Lyriker
zu rüſten. Dazu können fie zunächſt nichts Beſſeres tun, als Umſchau zu halten: einmal in dem
Beſten, was hier an Textgeſtaltungen für ein Lied geſchaffen wurde, dann auch einen Einblick
in die Meiſterlieder- und Melodien der letzten 400 Jahre zu gewinnen trachten, um ſich durch
dieſe Einfühlarbeit in frühere meiſterliche Geſtaltungsart aus ihren übertrieben einſeitigen
Anſchauungen über den Charakter und die Geſtaltungsgeſetze eines guten Liedes zu befreien.
Wie wenige unſerer Komponiſten haben die wünſchenswerte Fühlung mit der Muſik-
geſchichtswiſſenſchaft, die ſelbſt dem Genie nur förderlich ſein kann. Ein Buch wie Hermann
Kretzſchmars Geſchichte des neueren deutſchen Liedes iſt der gegebene Wegweiſer für einen
jeden Liedkomponiſten, der ſich bewußt geworden iſt, daß er im blinden Weiterbohren in den
Wänden einer Sackgaſſe nichts für ſich und ſeine Zeit erreichen kann.
410 i | | Viogktsiied und Kunfigefang
Die gleiche Richtung der künſtleriſchen Selbſterziehung weiſen Brahms' Bearbeitungen
volkstümlicher Weiſen alter Zeit. Man kann annehmen, daß der Meifter ſich dieſer Arbeit
ebenſoſehr aus egoiſtiſch künſtleriſchen Zwecken unterzog, als in dem Wunſche, von dem Me-
lodienſchatze älterer Zeiten, deren naive Schönheit ſelbſt ihm, dem ſchwerbluͤtigen Könige einer
Spätkunſt unerreichbar war, ſich ſelber und ſeiner Zeit einen Teil neuzuſchenken. Dieſes Werk
iſt bis heute ein Anikum geblieben, weil kein geborener Tonſetzer nach ihm oder vor ihm die
Notwendigkeit einer ſolchen Arbeit für ſich und ſeine Zeit bekannte. Keinen lockte der Reiz
einer nach innen wie außen fo lohnenden Aufgabe. Was aber in diefer Richtung an Arbeiten
noch vorliegt, enttäuſcht, hält man es neben das Werk von Brahms. Robert Franz' wenige
Faſſungen altdeutſcher Lieder beſtätigen es, daß die Kunſt dieſes Meiſters doch nur vornehmſte
Salonkunſt ift, deren Sprache mit der unverwüftlich friſchen Melodik namenloſer Sänger des
15. und 16. Jahrhunderts nicht zufſammenklingt. Alle übrigen Verſuche dieſer Art: z. B. die
von Tappert, Saran, Druffel, Lange und anderen ſind, ſo verdienſtlich ſie immerhin bleiben,
künſtleriſch zu unzulänglich. Das gilt auch für die erfolgreichſte Sammlung dieſer Art, die
von Reimann, wiewohl dieſer Bearbeiter ſich mit der Aufgabe, eine alte Melodie zu einem
lebenden Liede auszubauen, oft mit bemerkenswertem Geſchick abfindet.
Löſen kann fie nur der geborene und in ſich konzentrierte Tondichter. Und auch für
ihn iſt Vorausſetzung des Gelingens eine offenbar ſeltene Unvoreingenommenheit in der Be-
wertung der modiſchen Ausdrucksformen des Liedes, die gerade dem Künſtler einer ausklingen;
den Entwicklungsperiode am häufigſten mangelt, wo fie ihm doch am nötigften wäre, um ihn
vorm Verſinken in Subjektivimus und Manierismus zu bewahren. Hier könnten unſere Lieder-
komponiſten zeigen, ob es ihnen ernſt um ihre Kunſt iſt, ob ſie noch die Kraft haben, Entſagung
zu üben, ſich von einem mit überdifferenzierten Ausdruckselementen überladenen Stile ab-
zuwenden und damit den Zuſammenhang mit der Sprache einer äſthetiſch gefeſtigteren, glüd-
liheren Künſtlerſchaft früherer Zeiten wiederherzuſtellen. Zugleich damit würden fie unferer
Zeit einen reichen Schatz alter Weiſen in neuer Form erſchließen und damit auf den Geſchmack
der Sänger und ihrer Hörer einen merklichen Einfluß gewinnen, ſo daß auch von dieſer Seite
her dem neuen Liede der Empfang bereitet wäre. Durch eine ſolche Befruchtung des zeit-
genöſſiſchen Liedſchaffens mit altem gutem Samen wäre ein nicht unbedeutſamer Beltrag
zur Geſundung und Weiterführung unſerer Liedkunſt geleiſtet. |
| Hermann Zuftus Wetzel
* rr 8 — Kl r
4
* NS NA W
NSN
U
Der Krieg
— er Vechſel im Auswärtigen Amte, die Erörterung feiner Folgen und
40 feiner Urſachen im Reichstagsausſchuſſe und noch mehr in der „Un-
XI Di, öffentlichkeit“ geben dem Grafen Reventlow Anlaß, ſich mit „ge-
O wiſſen Kreiſen“ zu beſchäftigen, die ihren ſeeliſchen Wohnſitz in „Lao-
dicäa“ haben. In dieſen Rreifen);werde] feit Jahren die Auffaſſung vertreten:
i
J. 8
| Syst
| B 90 .
j 5 5 5
* 7 en _ u
2 ee —
gewiß müſſe man ſiegen, gewiß brauche man die Oberherrſchaft über Belgien
und die flandriſche Küſte, gewiß könne man nur auf dieſem Wege die Freiheit
der Meere und den Beſitz von überſeeiſchen Kolonien ſichern, kurz alles das ſeien
notwendige Ziele für die deutſche Sicherheit und die Möglichkeit eines unabhängigen
Gedeihens des Deutſchen Reiches, — aber in dieſem Kriege jene notwendigen
Ziele zu erreichen, ſei ausgeſchloſſen. Zweifellos werde das Ende dieſes Krieges
den Abergang zu einem Frieden bilden, der nur als Waffenſtillſtand bezeichnet
werden könne. Während dieſer Zeit werde das Deutſche Reich, wenn es unbeſiegt
wie bisher daſtehe, genügend Kraft gewinnen, um im zweiten Kriege alle Ziele
zu erreichen, deren es für ſeine Zukunft mit Lebensnotwendigkeit bedürfe.
„Dieſe Theorie“, meint Graf Reventlow, „hat bisher immer eine gewiſſe
Werbekraft bei allen denen geäußert, die ſich weder zur negativen noch zur poſitven
Richtung bekennen möchten und die ‚mittlere Linie‘ in der Vertagung der Erreichung
des Kriegszieles auf den nächſten Krieg erblickt wiſſen möchten. Im Grunde denken
dieſe Richtungen: die Hauptſache iſt, daß wir erſt einmal irgend einen Frieden
bekommen, das andere wird ſich dann ſchon finden oder auch nicht. Wir ſind der
Sache müde, das iſt die Hauptſache!
Tatſächlich liegen die Dinge ſo, daß, um es gleich offen auszuſprechen, das
Deutſche Reich niemals erreichen wird, was es in dieſem Kriege nicht erreicht.
Profeſſor Delbrücks bekanntes Wort: ein unausgefochtener Krieg werde für
Deutſchland ein großer Sieg ſein, iſt das Gegenteil einer tatſächlichen Wahrheit.
Wir gehen aber noch weiter: Geht das Oeutſche Reich nicht ſiegreich und nicht
unter voller Ausnutzung des Sieges für die Genugtuung der deutſchen
Lebensnotwendigkeiten hervor, ſo wird es nicht imſtande ſein, überhaupt
wieder einen Krieg zu führen, wenn es wieder angegriffen werden
23
412 5 Türmers Tagebuch
ſollte. Die Möglichkeit der wirtſchaftlichen Wiederaufrichtung des Deutſchen
Reiches, der Erhaltung und Stärkung ſeiner Wehrkraft — das letztere beſonders
zur See — hängt eben davon ab, daß das Oeutſche Reich militäriſch und politiſch
ſiegreich, geſichert und frei aus dieſem Kriege hervorgeht. Geſchieht das nicht,
fo tritt mit der Verarmung und mit einer ſchnell fortſchreitenden wirtſchaftlichen
Abhängigkeit von anderen Mächten auch die innere, die ſoziale Zerrüttung
ein. Sie allein würde mit dem Wiederaufbau auch ausſchließen, daß die Wehr-
kraft auf der Höhe gehalten wird. Aber auch abgeſehen von der Möglichkeit, nicht
nur Schwere Erſchütterungen, ſondern völlige mehr oder minder gewaltſame
Umwälzungen im deutſchen Reichs- und Staatsweſen im demokratiſchen Sinne,
Möglichkeiten, die wir unter ſolchen Amſtänden für unausweichliche Ge—
wißheiten halten, würde ein nicht ſiegreich endender Krieg mit entſprechendem
Frieden das Deutſche Reich und Volk in einem Zuſtande der Auszeh rung laſſen,
deſſen Behebung unmöglich wäre. Auch dann, ſo iſt mit Sicherheit anzunehmen,
würde es weder möglich fein, die Wehrkraft zu Lande und zu Waſſer auf die er
forderliche Höhe zu bringen, noch auch wieder zu der wirtſchaftlichen und innerlich
nationalen Kraft zu gelangen, welche die Führung und den ſiegreichen Ausgang
eines neuen Verteidigungskrieges geſtattete. Unſere Feinde wiſſen das ſehr
genau und zwar ſchon lange. Wir haben früher wiederholt ſolche britiſchen
Stimmen angeführt, u. a. auch aus dem Buche ‚Vindication of England‘, zu dem
Lord Haldane Gevatter geſtanden hat.
Für das Deutſche Reich heißt es, wie man früher in der Heilsarmee ſang:
‚Heute rette deine Seel’, morgen iſt es ſchon zu ſpät!“ Alles Gerede, Deutſchland
könne gewiſſermaßen in zwei Abſätzen fein Kriegsziel erreichen, iſt Trugſchluß
und zwar ein gefährlicher. Beiläufig ſei im Zuſammenhange ſolcher Behauptungen
auch auf die Bundesgenoſſen hingewieſen und deren Verhältniſſe.
Anſere Feinde, das muß man jagen, haben wirklich ſich mit Sorgfalt und
allem Eifer beſonders während der letzten beiden Kriegsjahre angelegen ſein laſſen,
den Deutſchen ihre Flluſionen und Sentimentalitäten auszutreiben; es ſcheint
aber wirklich unmöglich zu ſein. Sie wollen uns vernichten und wir faſeln
von ‚Derftändigung‘ und von ‚ehrenvollem Schluß‘, wie Herr Scheidemann
jagt. Graf Czernin ſagte ſogar ‚höchſt ehrenvoll“. Das Ehrenvolle hilft uns gar
nichts und bedeutet nichts anderes als den Achtungserfolg eines Theater
ſtückes. Ein Dichter, der nur Achtungserfolge erzielt, verſchwindet von der Bühne,
und der Direktor wird ruiniert.
Vas das Deutſche Reich für feine Sicherung und Unabhängigkeit und Gedeih-
möglichkeit zu erreichen gezwungen iſt, das muß es in dieſem Kriege erreichen.“
Dieſem „kategoriſchen Imperativ“ halte inan gegenüber, was „das Oeutſche
Reich“ in Wirklichkeit ER durch die glänzendſten Siege in dieſem Kriege
erreicht hat. Von Breſt-Litowſk wollen wir für heute abſehen, aber der „Sieg-
friede“ von Bukareſt? Was hat der uns gebracht? Der Abgeordnete v. Graefc-
Goldebee bucht in der „Deutſchen Zeitung“ den Ertrag mit folgenden „Aktiv-
poſten“:
„Erſtens: Der Vertrag erklärt den offiziellen Verzicht auf Kriegsentſchädi⸗
gungen. Wem zuliebe? Doch nicht aus der militäriſchen Lage, ſondern nur aus
Zürmers Tagebuch 415
Rückſicht auf die Verzichtsreſolution der Reichstagsmehrheit vom
Juli 1917, obwohl dieſe Mehrheit ja gar nicht mehr geſchloſſen hinter dieſem trau-
rigen Produkt Erzbergerſcher Schiebung ſteht. Aber obendrein iſt die Erklärung
des Vertrages nicht einmal ganz aufrichtig; denn praktiſch ift ja durch den Ver-
trag das Prinzip des annexions- und entſchädigungsloſen Friedens abſolut
durchbrochen, — freilich faſt ausſchließlich zugunſten unſerer Verbündeten!
Die Größe der von Sſterreich- Ungarn ‚anneltierten‘ Grenzgebiete iſt noch immer
nicht genau feſtzuſtellen; es ſcheint aber doch eine Fläche zu ſein, die vielleicht
nicht kleiner iſt als Elſaß- Lothringen! Und die Holzbeſtände darauf werden
auf hohe Millionenwerte geſchätzt. Auch die Abtretung der Nord- Dobrudſcha
fällt unter den Begriff der „Annexion“, und endlich bedeutet auch die Nichtbezah-
lung der von uns und unſeren Verbündeten aus Rumänien importierten Waren
eine ‚Rriegsentihädigung‘, wenn auch eine als Entgelt für die von Rumänien
an uns vor der Kriegserklärung verübten Erpreſſungen ſehr minimale. Praktiſch
iſt alſo die Theorie vom Verzichtsfrieden abſolut über den Haufen geworfen worden,
aber trotzdem hat man dem Vertrage einen papiernen Verzichtsfriedensmantel
umgehängt, um den Verzichtlern eine goldene Brücke zu bauen; und wie gerne
haben fie dieſe beſchritten, weil der Vertrag ja zugleich den ſchönſten Geſchäfts-
frieden für die goldene Internationale, die Seele des Verzichtsfriedensrummels,
bedeutet! Infolge dieſer mutloſen Inkonſequenz hat man deutſcherſeits nicht ge-
wagt, eine bare Kriegsentſchädigung für uns zu fordern, die ſich freilich nicht für
die ſchämigen Verzichtsleute hätte verſchleiern laſſen, — und ſo ſchleppen nicht,
wie Staatsſekretär Helfferich einſt als ſelbſtverſtändlich bezeichnete, unſere Feinde,
ſondern wir ſelbſt das Bleigewicht der Williardenſchuld weiter auf unſerem eigenen
Buckel herum! Wahrlich kein Anlaß, um unſere Unterhändler mit theatraliſchem
Ehrenempfang bei ihrer Rückkehr aus Rumänien zu feiern!
Zweitens: Za aber, ihr wilden Überannexioniſten, beruhigt euch doch,
das Petroleumabkommen bringt uns ja dauernd eine hochanſehnliche Kriegs-
entſchädigung! „Uns?“ wer iſt das? Mag fein, den kapitaliſtiſchen Kreiſen, welche
die verſchiedenen Petroleumgeſellſchaften finanzieren werden; aber das Reich
lehnt es ja, wahrſcheinlich mit Recht, von vornherein ab, ſich ſelbſt mit nennens-
wertem Kapital oder überhaupt an dem „riskanten Unternehmen“ (sic!) zu
beteiligen. Wo ſoll da eine dem deutſchen Volke zugute kommende ‚Rriegs-
entſchädigung“ herauskommen? Wenn das Reich ohne Kapitalbeteiligung ſich
einen Gewinnanteil wirklich ſichern will, wie beſcheiden könnte der beſtenfalls ſein;
denn angeſichts etwa von vornherein amputierter Gewinnchancen werden unſere
Finanziers kein Kapital in ein riskantes Unternehmen“ zu ſtecken ſich bereit finden!
Das Geſchwätz von einer verſteckten Kriegsentſchädigung durch das Pe-
troleumabkommen iſt alſo reiner Schwindel; nur der rumäniſche Staat
hat durch die dreifachen Abgaben, die ihm ohne jedes Riſiko zugeführt ſind, feſte
Ausſichten auf erkleckliche Einnahmen, denen er dank der Inveſtierung deutſchen
Kapitals und deutſcher Intelligenz zur Erſchließung der Erdölquellen mit guten
Hoffnungen entgegenſehen darf. Und wenn der Coup gelingt, können ſich vielleicht
dermaleinſt auch gewiſſe Großbanken vergnügt die Hände reiben, — das deutſche
Volk wird aber nichis Weſentliches von dieſem Teil des Vertrages haben, als
414 Zürmers: Tagebuch
daß vorausſichtlich fein Petroleumbedarf gefichert fein wird, wofür es aber fein
gutes Geld, und das nicht zu knapp, zu bezahlen haben wird. Das heißt man dann
pfiffig eine Schlau durchgeführte ‚Rriegsentihädigung‘! Sonderbar!
Drittens: Das überſchüſſige Getreide haben unſere hervorragenden
Unterhändler uns aber doch zukünftig aus Rumänien geſichert, — für einen
Preis freilich, den man dem deutſchen Bauer als ‚Wucherpreis verjagt;
für den rumäniſchen Bauer hat man überhaupt ein verdächtig wohlwollendes
Verſtändnis, ‚er ſoll durch dieſe hohen Preiſe zu verſtärktem Anbau angeregt
werden“. Ja, bekommt denn der rumäniſche Bauer dieſen hohen, von uns gezahlten
Preis wirklich ſelbſt? Beileibe nicht! Denn die rumäniſche Regierung darf einen
beliebig hohen Aus fuhrzoll auf Getreide zu Laſten des Bauern erheben. Wer
die rumäniſchen Verhältniſſe kennt, wird nicht einen Moment zweifelhaft ſein,
daß die rumänifche Regierung von dem von uns zu zahlenden Getreidepreis einen
ſehr hohen Prozentſatz als Ausfuhrzoll einbehalten wird, ſo daß der Bauer nur
eine beſcheidene Vergütung für ſeine Produkte erhält, das übrige fließt direkt
in die rumäniſche Staatskaſſe. Das iſt allerdings eine fortlaufende „Kriegs-
entſchädigung“, die gezahlt wird, — aber leider von uns an die Ru
mänen!
Viertens: der Vertrag will ſich wiederum, getreu den Forderungen der
Reichstagsmehrheit, nicht in die inneren Verhältniſſe Rumäniens einmiſchen;
darum Finger weg von der Königsfrage, obwohl ſie doch in gewiſſer Weiſe
unſere Intereſſen ebenſo berührt, wie die rumäniſchen. Aber die ſtaatsbürgerliche
Stellung der Juden in Rumänien, die gilt auf einmal nicht als eine , innere
Angelegenheit‘? Difficile est satiram non scribere! Man beruft ſich dabei
auf die im Berliner Vertrage von 1878 übernommenen Verpflichtungen für die
rumäniſchen Juden. Nun, erſtens kannte man damals noch nicht das ſelbſtloſe
Dogma von dem Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker und der Nichteinmiſchung
in innere Angelegenheiten beſiegter Staaten. Für diejenigen, die es jetzt ſonſt
überall fordern, ſollte alſo logiſcherweiſe die damalige Einmiſchung doch nicht
mehr verbindlich fein, und wenn ſchon, dann doch höchſtens ſpäter beim allgemei-
nen Friedensſchluß in Gemeinſamkeit mit allen damaligen Garantiemächten.
Aber ebenſo, wie im innerpolitiſchen Kampf Gott, König, Junker, Agrarier, All-
deutſcher, Schlotbaron uſw. gröblichſt beſchimpft werden dürfen und nur der Zude
außerhalb der Kritik ſtehen ſoll, fo iſt er wohl auch in der internationalen Politik
ſakroſankt, — ſeine Angelegenheiten ſtehen über allen ſonſt ſo geheiligten Dogmen,
gewiſſermaßen jenſeits von Gut und Böſe!
Ich verzichte angeſichts des Raummangels noch auf die Fülle von weiteren
Einzelheiten einzugehen, die alleſamt den Bukareſter Friedensvertrag vor der
Geſchichte als ein Dokument brandmarken dürften, das die Namen ſeiner Väter
nicht gerade in die Liſten deutſcher Heroen einfügen wird, z. B. die mangelhafte
Feſtlegung für die Sühne der ſchamloſen Verbrechen an unſeren Ge—
fangenen, der ungenügende Schutz der Auslanddeutſchen, namentlich
in Beßarabien uſw. — Es mag das Vorſtehende genügen, um der vielfach völlig
irregeleiteten öffentlichen Meinung die Augen einigermaßen darüber zu
öffnen, was ſich bei einer ‚Offenfive der Wahrheit‘ gegen den Vertrag für jeden
Tuͤrmers Tagebuch | 415
herausſtellt, der ſehen will. Nicht aus Luft an fruchtloſer Kritik muß das dargelegt
werden, ſondern um der Gefahr willen, die darin liegt: „Noch ein paar ſolcher
Siegesverträge, und wir ſind verloren!“
* *
*
Kühlmanns Spuren! — Sie werden ſich ſo bald nicht verwiſchen laſſen,
wie wir uns denn überhaupt nicht darüber täuſchen wollen, daß ein gutes Stück
unſerer nationalpolitiſchen Zukunft durch die Unglaublichkeiten der Beth und
Kühlmänner mit ihrem Anhang bereits verbaut worden iſt! Rächt ſich jede
Schuld auf Erden, ſo die politiſche auf das ſchwerſte und nachhaltigſte. Die politiſche
Tat wächſt ſich im Guten und Schlimmen zu allen, auch ihren letzten Folgerungen
aus, die Geſchichte kennt kein Vergeſſen und Vergeben, ihr Spruch iſt unbarm-
herzig und unwiderruflich. Unter dieſen Geſichtswinkel wird man das Urteil
über die „Taten“ der Beth- und Kühlmänner zu ſtellen haben.
Darf man nun in der Entlaſſung Kühlmanns etwa einen Sieg der „All-
deutſchen“ und in dem neuen Staatsſekretär des Auswärtigen, Herrn von Hintze,
einen „Kandidaten“ dieſer „Alldeutſchen“ erblicken? Beſondere Beachtung ver-
dient hier, wie ſich die „Deutſche Zeitung“ zu der Frage ſtellt. „Natürlich“, meint
ſie, „wäre es uns durchaus erfreulich, wenn der neue Staatsſekretär des Aus-
wärtigen auch nur annähernd in dem Grade unſer Mann wäre, wie die gegne-
riſche Preſſe es verbreitet. Wir haben indeſſen bisher keinerlei Recht, anzu-
nehmen, daß dem wirklich fo iſt; an ſich erſcheint es auch nicht ſehr wahrſcheinlich,
daß eine Perſönlichkeit, die unſere Beurteilung unſerer Aufgaben im Weltkrieg
teilt, dafür zu haben fein würde, eingeengt z. B. durch die Payerſchen partei-
politiſchen Gebundenheiten, als Außenminiſter verantwortlich zu wirken und fein
perſönliches Anſehen dabei aufs Spiel zu ſetzen. Indeſſen ſei dem, wie ihm ſei;
in jedem Falle müſſen wir es einſtweilen ablehnen, uns in dem Sinne mit dem
bisherigen Geſandten in Chriſtiania verkoppeln zu laſſen, als ſei nunmehr einer
der Unſeren dazu berufen, darzutun, was ſich mit den von uns vertretenen An-
ſchauungen an außenpolitiſch führender Stelle im Reich praktiſch anfangen laſſe.
Nicht in Abrede ſtellen wollen wir dagegen, daß das, was über Herrn von
Hinkes bisheriges Wirken bekannt iſt, ihm einen Anſpruch auf unſere Zuneigung
gibt, und zwar alles in allem wohl aus ähnlichen Gründen, wie ſie die Feinde
der deutſchen Sache im Inland und im Ausland veranlaſſen, ihn mit einem
deutlichen Unbehagen an feinem neuen Platz erſcheinen zu ſehen. Herr von
Hintze ſcheint uns hiernach eine Perſönlichkeit zu ſein, die, auch wenn dies nicht im
ausdrücklichen Anſchluß an irgendwelche deutſch-wölkiſch gerichtete Vereinigungen
zum Ausdruck gekommen ſein ſollte, unbeeinflußt durch die Rückſicht auf Beliebt
heit oder Unbeliebtheit bei dritten oder auch durch die Stickluft der Berliner
Wilhelmſtraße rein vaterländiſch empfindet. So, wie er uns geſchildert wird,
iſt er im bismarckiſchen Sinne allezeit weder durch engliſche noch durch ruſſiſche
noch durch irgendwelche andere Vorlieben in ſeinem Eintreten für den Vorteil
des Reichs irgendwie beeinflußt worden. Die Seeluft, in jungen Jahren geatmet,
iſt der Entwicklung ſolcher Männer günſtig; günſtiger jedenfalls als Hofluft. Als
Seemann hat Herr von Hintze früh gelernt, mit Angehörigen fremder Nationen
416 Zürmers Tagebuch
und Raſſen ſo umzugehen, wie es ihrer beſonderen Art entſpricht. Jedenfalls
ſcheint er dem Fehler der meiſten Oeutſchen — leider auch der meiſten Deut-
ſchen von ſtaatsmänniſchen Anſprüchen — nicht zu unterliegen, in ſtammfremden
Leuten immer nur Leute des eignen Schlages zu ſehen. Nicht zu begrei-
fen, daß ſie meiſt ganz andere Anſchauungen hegen über das, was Rechtens oder
für ſie wünſchenswert iſt und was nicht, als wir, und — daß man ſie demgemäß
behandeln muß! Der neue Staatsſekretär des Auswärtigen iſt eine ungewöhnlich
vielſprachige Perſönlichkeit. Er ſpricht Engliſch, Franzöſiſch und Ruſſiſch mit allen
Feinheiten, — wie verſichert wird, genau fo gut wie feine Mutterſprache; an-
nähernd ebenſogut Spaniſch und hat z. B. in den letzten Jahren das Norwegiſche
ſo weit beherrſchen gelernt, daß er ſeit geraumer Zeit mit den Miniſtern des Landes,
bei dem er bisher beglaubigt war, ganz gut in deren eigner Sprache verhandeln
konnte. Für ſeine Energie und Findigkeit ſpricht eine ganze Reihe von Tatſachen,
die im Laufe der Zeit in die Öffentlichkeit gedrungen find. Erinnert ſei an die
Art und Weiſe, wie er während der ruſſiſchen Revolution von 1905 als deutſcher
Marinebevollmächtigter feinen Aufträgen am Zarenhofe gerecht geworden iſt,
oder an ſein Erſcheinen zu Kriegsbeginn in Deutſchland wie ſpäter in Peking.
Daß es ihm an dieſen Eigenſchaften auch bei der Wahrnehmung der beſonderen
Seiten ſeiner Stellung als deutſcher Geſandter im Ausland nicht gefehlt hat,
dafür zeugen eine Menge Geſchichtchen, die draußen im Umlauf und, wie z. B.
die nachſtehende, mitunter auch wirklich verbürgt ſind. In der Hauptſtadt eines
der Länder, in denen er in der letzten Zeit gewirkt hat, betritt Herr von Hintze
ein Geſchäft. Es iſt in einem der von England verhetzten Staaten; man welß
nicht, wer er iſt, aber man erkennt ihn als Oeutſchen. Er bringt fein Begehren
vor. „Wir bedauern! An Deutſche verkaufen wir nicht!“ wird ihm zur Antwort.
„Na, denn nicht!“ Nach der deutſchen Geſandtſchaft zurückgekehrt, begrüßt Herr
von Hintze einen Kreis von ihm geladener Gäſte. Dann nimmt er einen der jünge⸗
ren Herren der Geſandtſchaft etwas beiſeite. Er gibt ihm ſo, daß alle Welt es hört,
den Auftrag, ſofort zu dem Miniſter des Auswärtigen zu fahren und ihm zu be-
richten, das und das ſei dem deutſchen Geſandten widerfahren. Herr von Hintze
würde Wert darauf legen, noch im Laufe des nächſten Vormittags durch den Herrn
Miniſter Aufſchluß darüber zu erhalten, ob ſolche Stimmung allgemein verbreitet
ſei und was geſchehe, ihr entgegenzuarbeiten. Derartig energiſches Auftreten
machte den deutſchen Geſandten keineswegs unbeliebt. Wie es immer im Leben
iſt — wenn auch gerade die deutſche Diplomatie unter Berliner Einflüſſen viel-
fach anders darüber denkt —, trat regelmäßig genau die entgegengeſetzte Wirkung
ein. Das Haus ſeines Amtsvorgängers in Chriſtiania war unter dem Einfluß der
Ententediplomatie von den amtlichen Kreiſen der norwegiſchen Hauptſtadt nach
Möglichkeit gemieden worden. Unter Hintze hörte das ſchnell auf. Man erzähtle
ſich ſeither in Chriſtiania, daß jedesmal, wenn einer der Amtsvorgänger Hintzes
beim Miniſter des Auswärtigen geweſen war, beinahe in feſtem Herkommen der
engliſche Geſandte eine halbe Stunde ſpäter erſchienen ſei und fo das letzte Wort
behalten habe. Unter Hintze habe ſich das Verhältnis umgekehrt. Da ſei der
Engländer auf einmal ohne Kenntnis von den Beſuchen feines deutſchen Wett⸗
bewerbers geblieben; eine halbe Stunde nach ſeinen eigenen Beſuchen ſei aber
Eürmers Cageduch 417
nunmehr regelmäßig Herr von Hintze im Minifterium des Auswärtigen auf-
getaucht und habe ſeinerſeits das letzte Wort behalten.
Derartige kleine Züge find allerdings geeignet, für den neuen Mann eine
gewiſſe günſtige Voreingenommenheit in unſeren Kreiſen wachzurufen; fie klin
gen jedenfalls ganz anders, als z. B. was über Herrn von Kühlmann bei deſſen
Auftauchen in Berlin in Umlauf kam. Auch daß es Herrn von Hintze in gewiſſem
Sinne an den Eigenſchaften eines Originals mit dem Anſpruch auf Volkstümlich⸗
keit nicht fehlen ſoll, nimmt nicht gegen ihn ein. So wird man auf unſerer Seite
wohl geneigt fein dürfen, ihm ein gewiſſes Vertrauen entgegenzubringen und fei-
nem Wirken, deſſen Ergebniſſe im übrigen abzuwarten bleiben, ohne Voreinge⸗
nommenheit entgegenzuſehen. Er ſoll die Gabe haben, durchaus ſelbſtändig zu
ſehen und unbegründete Vorurteile, die man ihm beigebracht, ſeien ſie zugunſten
oder zuungunſten beſtimmter Dinge oder Menſchen, ſehr ſchnell hinter ſich zu
laſſen. Aus dieſem Grunde ſtört es uns nicht weiter, daß Herr von Hintze, vermut-
lich auf Grund amtlicher Darſtellung von Berlin her, vor vierzehn Tagen Auf-
faſſungen über allerlei hierher mitgebracht haben ſoll, die uns unhaltbar erſcheinen.
Derlei wird — nehmen wir an — ſeine Richtigſtellung ganz von ſelbſt finden. Herr
Erzberger war ihm z. B. als ein ſehr ordentlicher, fleißiger und wohlgeſinnter Volks-
vertreter geſchildert worden, dem lediglich Eiferſucht und ſtinkender Neid den hehren
Glanz des bekannten Ehrenſchilds zu rauben ſuche. Herr von Hintze wird Gelegen-
heit haben, den Herrn kennen zu lernen. Etwas anderes dagegen ſtimmt uns bis
zu einem gewiſſen Grade beſorgt. Der neue Mann ſoll perſönlich empfindlich ſein.
Das würde kein beſonders günſtiges Vorzeichen für feine Tätigkeit gerade im Aus-
wärtigen Amt abgeben. Bernhard von Bülow hatte nicht ganz unrecht, als er
meinte, ein Staatsmann müſſe mit der Haut eines Nilpferdes gewappnet ſein.
Als der Vorgänger Bethmanns das ſprach, hat er offenbar ganz unmittelbar an
die Verhältniſſe der Berliner Wilhelmſtraße gedacht.“
* *
*
Leicht wird es der neue Herr in der Wilhelmſtraße nicht haben. Noch bevor
er fein Geſchäft dort angetreten hat, findet er es mit einer neuen ſchweren Hypo-
thek belaſtet: der Erklärung des Reichskanzlers Grafen Hertling über die „Wieder-
herſtellung Belgiens“. Nach der amtlichen Veröffentlichung der Rede iſt es
verſtändlich, wenn die „Internationale Korreſpondenz“ behaupten konnte, daß
Graf Hertling in der belgiſchen Frage ſich dem Standpunkt der Sozialdemo—-
kratie weſentlich genähert und nicht nur dem Gedanken an Annexion gegen-
über Belgien, ſondern auch der Herabdrückung des Landes zu einem deutſchen
Vaſallenſtaat deutlich abgeſagt habe. Der Kanzler hat in feiner Erklärung gejagt,
daß er Belgien nur als Fauſtpfand für die künftigen Friedensverhand—
lungen betrachtet und nicht beabſichtige, Belgien in irgendeiner Form zu behalten.
Er hat ferner erklärt, daß das nach dem Kriege wiedererſtandene Belgien als felb-
ſtändiges Staatsweſen daſtehen und, keinem als Vaſall unterworfen, mit uns in
guten freundſchaftlichen Verhältniſſen leben müſſe. Die Erklärung des Grafen
Hertling geht alſo bedeutend weiter, als ſelbſt die Außerungen, die Herr
von Bethmann Hollweg über Belgien getan hat. Bethmann Dolwes hatte
Der Tuͤrmer XX, 21
418 Zürmers Tageduch
ſeinerzeit das Wort geprägt von den Einfallstoren im Oſten und Weiten, die wir
unſeren Gegnern nehmen müßten, und von den realen Garantien, die geſchaffen
werden müßten, um der Wiederholung eines Überfalles auf Oeutſchland, wie ihn
dieſer Weltkrieg darſtellt, vorzubeugen. Auf die Forderung ſolcher realen Garan-
tien gegenüber Belgien, wie fie ſeinerzeit der Zentrumsführer Spahn im Reichs-
tag formulierte, als er forderte, daß Belgien wirtſchaftlich, militäriſch und
politiſch feſt in unſerer Hand bleiben müſſe, hat Graf Hertling in feiner Er-
klärung vor dem Hauptausſchuß des Reichstages anſcheinend völlig verzichtet.
Man müßte denn ſchon den Satz, den er in anderem Zuſammenhang ſagt, daß
wir die notwendige Sicherung für künftige ſchwierige Verhältniſſe uns beim
Friedensſchluß ſchaffen müſſen, auch auf die belgiſche Frage beziehen.
Gegen die Richtlinien, die der Reichskanzler mit ſeiner Erklärung über die
belgiſche Frage aufgeſtellt hat, muß im Intereſſe der deutſchen Zukunft ſchärfſter
Einſpruch erhoben werden. Belgien iſt ſchon vor dem Kriege ke in unabhängiger
Staat geweſen, ſondern ſeine Politik wurde von Paris und London aus geleitet,
und wenn es noch eines Beweiſes bedurft hätte nach den Ereigniffen, die ſich in
den erſten Auguſttagen in Würfeln abſpielten, ſo haben die Berichte der belgiſchen
Geſandten den klarſten Beweis dafür erbracht, daß die belgiſche Regierung ſchon
lange vor Ausbruch des Krieges ſich ihrer Handlungsfreiheit begeben hatte. Würde
Belgien nach dem Kriege als völlig unabhängiger Staat wiederhergeſtellt, ſo iſt
es doch keinen Augenblick zweifelhaft, daß es völlig in ſeiner politiſchen
Haltung von England abhängig wäre. Die Belgier, zumal das belgiſche
Königshaus und die Regierung, find durch den Krieg zu noch unverſöhnlicheren
Feinden Deutſchlands geworden, als ſie es ſchon vorher waren, und ein ſelbſtändi⸗
ges Belgien würde zweifellos eine ausgeſprochen deutſchfeindliche Boli-
tik treiben. Was das militäriſch in einem künftigen Kriege bedeuten würde, ift
ſo oft dargelegt worden, daß es keines weiteren Wortes bedarf. Wollen wir uns
davor ſchützen, daß Belgien abermals das Einfallstor für unſere Feinde wird, und
zwar ein Belgien, das mit engliſcher Hilfe militäriſch weit beſſer für den
Kriegs fall gerüſtet iſt, jo müſſen wir darauf beſtehen, daß das Land militäriſch
feſt in unſerer Hand bleibt, daß insbeſondere die flandriſche Küſte, deren Wichtig
keit als Operationsbaſis für unſere U-Boote gerade die letzten engliſchen Angriffe
gegen Oſtende und Beebrügge gezeigt haben, unter deutſchem Einfluß bleibt.
Daneben muß auch politiſch der deutſche Einfluß in Belgien gewahrt bleiben.
In dieſer Beziehung hatte die deutſche Verwaltung, zögernd zwar, verheißungs
volle Anfänge gemacht. Die Verwaltungstrennung zwiſchen Vlamen und Wallo⸗
nen, die noch unter Bethmann Hollweg durchgeführt war, und die Unterſtützung,
die die Regierung den vlamiſchen Beſtrebungen zuteil werden ließ, ließen hoffen,
daß man in Berlin ſich entſchloſſen hatte, Belgien in zwei voneinander unabhängige
Gebiete zu teilen. Nach den Erklärungen Hertlings müßte man annehmen, daß
dieſer Plan jetzt fallen gelaſſen iſt. Damit würde man nicht nur ein ſchweres
ſittliches Unrecht gegen die ſtammesverwandten Vlamen tun, denen in mehr
fachen feierlichen Kundgebungen der Schutz ihres Volkstums zugeſagt
iſt, und die man im Falle eines völligen Verzichts auf Belgien der Rache der
> Zürmers Tagebuch | | f | 419
Französlinge ausliefern würde, ſondern man würde auch dieſen deutſchen
Stamm rettungslos in die Arme Englands treiben, bei dem alleine ſie
dann noch Schutz zu finden hoffen könnten. Die künftige Neuordnung in Belgien
müßte unter allen Umſtänden an der Teilung Belgiens in einen vlamiſchen
und einen walloniſchen Staat feſthalten, und zwar unter getrennten Herrfcher-
häuſern. Daß Deutfchland feine Hand dazu bieten ſollte, den König Albert auf
dem Throne zu halten, muß vom deutſchen Standpunkt aus als völlig aus-
geſchloſſen gelten.
Endlich: auch in wirtſchaftlicher Beziehung müßten wir beim Friedensſchluß
Belgien in unferer Hand behalten. Der Schaden, den ein wirtſchaftlich unabhängi-
ges Belgien durch Zollſchranken und andere wirtſchaftliche Maßnahmen dem deut-
ſchen Handel und der deutſchen Induſtrie zufügen würde, läßt ſich heute noch gar
nicht überſehen. Die Beſchlüſſe der Pariſer Wirtſchaftskonferenz deuten ja darauf
hin, welche Abſichten unſere Feinde in dieſer Beziehung verfolgen.
Es iſt alſo ein Unding, wenn man Belgien nur als Fauſtpfand für die künf-
tigen Verhandlungen betrachtet. Die Bedeutung, die die belgiſche Frage für die
Zukunft Oeutſchlands hat, iſt fo groß, daß fie in keinem Verhältnis zu den übrigen
Fragen ſteht, die beim Abſchluß des Friedens zu löſen ſind. Jede Regierung, die
den Krieg ſiegreich beenden will, muß es als die Hauptaufgabe beim Friedensſchluß
betrachten, daß Belgien politiſch, militäriſch und wirtſchaftlich feſt in unſerer Hand
bleibt. Bedeutet die Erklärung des Grafen Hertling wirklich, daß man auf Bel-
gien völlig verzichten will, [jo würden alle die Parteien, die auf einen deut-
ſchen Frieden hinarbeiten, in eine ſcharfe Kampfſtellung gegen die
Regie rung des Grafen Hertling treten müſſen. Es bleibt zunächſt zwar
noch immer die Möglichkeit, daß Graf Hertling die Worte von den notwendigen
Sicherungen auch auf Belgien bezogen wiſſen will, aber wir müſſen geſtehen, daß
unfere Hoffnungen in dieſer Beziehung nur noch gering find ...
Das iſt nicht die leichteſte Aufgabe für Herrn von Hintze, wie wir ihn über-
haupt nicht um das Erbe Kühlmanns beneiden. Ein ganzes Bündel ungelöſter
Fragen harrt feiner. Da iſt in erſter Linie die Polenfrage, bei der der vielgeprie-
ſene Czernin, Kühlmanns Meiſter, aus Anlaß des Friedens von Bukareſt uns in
aller Form hineingelegt hat. Der beſte Gradmeſſer für ſeine politiſche Fähigkeit
wird die Löſung dieſer Frage bedeuten. Es gibt eine preußiſch-polniſche, eine
ruſſiſch-polniſche Löſung der Frage, vielleicht auch eine dritte, aber es gibt keine
öſterreichiſch-polniſche Löſung, wenigſtens nicht für Oeutſchland. Herr
von Hintze muß die ruſſiſche Frage zu löfen verſuchen, die durch die ſchändliche Er-
mordung des Grafen Mirbach noch verwickelter geworden iſt. Es find die türkiſch⸗
bulgariſchen Zwiſtigkeiten zu überbrücken mit der ganzen Summe der damit zu-
ſammenhängenden Fragen, und es iſt vor allem unſere Politik einzuſtellen auf
den Endkampf mit England. ‚Die Politik iſt viel mehr Charakter als Geiſt',
jagt Thiers im Hinblick auf Napoleon, ein unbedingt wahres Wort, das ausſchlag⸗
gebend iſt für den deutſchen Staatsmann, der den Weltfrieden ſchließen muß.“
I
Kühlmann
De „Deutſche Tageszeitung“ hatte einmal
auf Herrn von Kühlmann ein Wort
Friedrichs des Großen angewendet: wenn
man näher zufähe, fände man „un grand
rien“ (ein großes Nichts). „Herr von Kühl-
mann“, ſchreibt das Blatt neuerdings, „hat
ſich noch in jeder ſeiner Dienſtſtellungen als
eine oberflächliche, an der eigentlichen Sache
weder intereſſierte noch zu intereſſierende In-
telligenz gezeigt, hielt ſich aber ſelbſt für ganz
hervorragend ſtaatsmänniſch befähigt und für
genial; daher feine Neigung zum Improviſie-
ren und zum Kokettieren eben damit. Seine
Neigung zu Redeblumen, die manchmal aller⸗
dings mißglückten, wurde unterjtüßt durch die
andere Neigung, geſchichtliche Kenntniſſe und
tiefe allgemeine Bildung zu zeigen, wo nur
oberflächliche Anſätze dazu vorhanden waren.
Auch in der Durchführung deſſen, was er feine
Politik nannte, herrſchte die Oberflächlichkeit,
außerdem Mangel an Ziel und Charakter, und
uͤber allem ſchwebte die Gleichgültigkeit
der Sache gegenüber. Dazu kam beherr-
ſchend das Beſtreben, populär im Sinne der
Reichstagsmehrheit zu fein, und die Nei-
gung, einem Anſchluſſe Deutſchlands an die
angelſächſiſchen Mächte alles zu opfern, außer
vielleicht Elſaß- Lothringen. Kühlmann ſtand
im Grunde auf dem Scheid emannſchen
Programm und auf der vom ‚Berliner
Tageblatte“ empfohlenen Methode des
Friedens ‚mit Hin- und- her- ſchieben“ . Er iſt
Internationaliſt. Da er fich hierzu, um
Staatsſekretär bleiben zu können, nicht be-
kennen konnte und deshalb nach Möglichkeit
nicht bekennen wollte, ſo war der im Grunde
ſchroffe Gegenſatz der Richtung, in der Kühl-
mann wollte und ſich treiben ließ, zu der Poli;
tik des Kanzlers für viele latent. Ebenſo viele
hatten größtes Intereſſe daran, daß dieſer
Gegenſatz latent bliebe. Sie hofften, und
Kühlmann auch, daß er als Exponent
der Verzichtmehrheit und mit ihr
ſchließlich maßgebend dem Reichskanz-
ler, der Heeresleitung und dem Deut-
ſchen Kaiſer entgegentreten würde. Da
Kühlmann ſich zu dieſem Programm nicht be;
kennen konnte, ſo war auch keine Lopalität
möglich. ... Die letzte Rede gab dann den
Ausſchlag. Wie der gute Homer der Über-
lieferung nach zuweilen einſchlummerte, ſo
war es hier Herrn von Kühlmann gegangen,
er plauderte ſich ſelbſt aus und betonte
den Gegenſatz zur Politik des Kanzlers, zur
Heeresleitung und den Gegenſatz feiner ge-
ſamten Anſchauung von dieſem Kriege gegen
den Deutſchen Kaiſer.“ Kühlmanns Tätig-
keit während des Krieges und vor allem als
Staatsſekretär war „eine ununterbrochene
Reihe von Minderleiftungen und Mißerfolgen.
Es ging immer erſt, wenn er felbft kräftig an ·
geleitet und geführt wurde, malgrö lui!“
Ein kleiner Rechenfehler
rm in Arm beſtätigen „Berliner Börfen-
zeitung“ und „Vorwärts“, daß Herr
von Kühlmann den Grafen Hertling zum
Kanzler gemacht habe. „Beide Blätter“, be-
merkt die „Oeutſche Zeitung“, „find die ge
treueſten Anhänger des entlaffenen Staats
ſekretärs, — ob ſie dem Geſtürzten damit
einen Gefallen getan haben, ift doch recht
fraglich. Denn es dürfte den Schilbträgern
Auf der Warte
Kühlmanns nicht unbekannt fein, aus wel-
chem Grunde ihr Freund ſich ſeinerzeit für
den jetzigen Reichskanzler eingeſetzt hat. Es
wird in der Kühlmannpreſſe jetzt nachdrücklich
betont, Herr von Kühlmann habe eigentlich
ein großes Opfer gebracht, als er das Dornen-
volle Amt übernommen habe. An ſeinem
Amte habe er nicht geklebt und es jederzeit
gern aufgegeben. Das ſtimmt, Kühlmann
klebte wirklich nicht an dem Staatsſekretärs-
poſten, weil ſein Sinn nach Höherem
ſtand. Er gefiel ſich in der Rolle des Ver-
trauensmannes der Demokratie und hoffte
auf die Nachfolgerſchaft Hertlings. Seine Ge⸗
treuen waren durchaus in Bilde, daher die
aus Anlaß jeiner Rede von ihnen ausgegebene
Loſung: Kühlmannkriſe gleich Kanzlerkriſe.
Dabei rechnete man, daß eine derartige Kriſe
mit dem Sturze Hertlings und dem Siege
Kühlmanns enden würde. Die Rechnung
war falſch und mußte nach Lage der Dinge
falſch ſein; damit war Kühlmann erledigt.
Das iſt die tatſächliche Unterlage der jetzigen
Vorgange. |
*
Ein verhängnisvoller Fehler
Wo dn ſich ohne Not eines Trumpfes be-
geben, ſtatt ihn wider den Gegner,
auszuſpielen? Leider hat ſich Graf Hertling
in feiner Erklärung über Belgien — wenig-
ſtens nach der Auffaſſung des größten Teiles
der Preſſe — zu einem ſolchen unglücklichen
Verzicht bewogen gefühlt. „Die Wirkung
auf das Ausland“ kann, wie u. a. die „Kreuz
zeitung“ bemerkt, „nur wieder die ſelbe ſein,
wie bei unſeren vielen früheren Friedens-
angeboten. Die feindlichen Staats-
männer haben ebenſo wie die deutſche
Sozialdemokratie ſchon lange das Be-
ſtreben gezeigt, der deutſchen Reichsleitung
eine offene Erklärung über den Ver—
zicht auf Belgien zu entlocken. Schon
dieſe Beſtrebungen hätten davor warnen
mũſſen, es zu tun. Und ſogar Herr von Kühl-
mann hat ſich wiederholt den Vorwurf ge-
fallen laſſen, daß er in der belgiſchen Ange-
legenheit zu unbeſtimmt ſei. Es wird nun die
Frage aufzuwerfen fein: Hat ſich die kriegs-
421
politiſche Lage jo geändert, daß es ſich emp-
fiehlt, die Zurückhaltung in der belgiſchen
Frage, die doch nur einen Teil unſerer weſt-
lichen Kriegsziele bedeutet, mehr oder weniger
aufzugeben oder nicht?“
Selbſtverſtändlich verneint die „Kreuz-
zeitung“ dieſe Frage und führt dann weiter
aus: „Man könnte mit der vom Grafen Hert-
ling gewählten bedingten Form einverſtanden
ſein, wenn dieſem Satz nicht klipp und klar die
Erklärung folgte: „Wir beabſichtigen nicht,
Belgien in irgendeiner Form zu be—
halten.“ Damit hat ſich die politiſche Leitung
eines ihrer beſten Trümpfe begeben.
Wenn ſich der Engländer an den Der-
hand lungstiſch ſetzt, weiß er alſo ſchon
ganz genau, wie der Gegenſpieler ſeinen
beſten Trumpf anwenden wird, während er
ſelbſt wohlweislich die Karten an ſich hält.
So ſtellt ſich die Bekanntmachung der Ranzler-
worte über Belgien geradezu als eine
Aufforderung an unfere Gegner dar,
ihr Angebot zur Rückgewinnung Belgiens
möglichſt hoch zu ſchrauben. Das iſt nicht
nur ein politiſcher, ſondern auch ein
pſychologiſcher Fehler.“
Ein geradezu verhängnis voller, wenn er
nicht wenigſtens noch in etwas gutgemacht
werden kann und wird!
Belgien als Zugeſtändnis an
die Sozialdemokratie?
lles andere als glücklich nennt die „Poſt“
die Erklärung des Grafen Hertling über
Belgien: „Wie die Dinge tatſächlich liegen,
bietet ein ‚nach dem Kriege wiedererſtandenes
Belgien‘, alſo ein Belgien in der alten Staats-
form und mit der alten Regierung, keinesfalls
eine Sicherung derart, wie ſie Deutſchland
fordern muß und wie ſie auch früher in der
Formel der ‚realen Garantien“ amtlich ge-
fordert wurde. Des Kanzlers Erklärungen
zeigen alſo doch immerhin andere Färbung
als der frühere amtliche Standpunkt. Sie
wirken wie ein Zugeſtändnis an die immer
heftiger andrängende Sozialdemokratie,
die den Kern des belgiſchen Problems nicht
begriffen hat und nicht begreifen will. Sie
422
ſind dazu in einer Stunde abgegeben worden,
die ganz deutlich den ſozialdemokrati—
hen Einfluß verrät, nämlich das Geſchrei
über den Fall Rühlmann; und fie werden
deshalb im Auslande wohl nicht anders ge-
deutet werden, als ein Zugeſtänd nis, daß
die deutſche Regierung nicht imſtande
ſei, eine folgerichtige und kräftige bel-
giſche Politik angeſichts der demokratiſchen
Quertreibereien im eigenen Lande durch-
zuhalten.“
%
Politik und Kriegführung
n ihrer letzten Wochenſchau (15. Juli)
ſchreibt die „Tägl. Rundſchau“:
Durch die Taten und Meinungen des
Staatsſekretärs von Kühlmann war von An-
fang an ein immer wieder peinlich ſich fühlbar
machender Gegenſatz zwiſchen der auf Tat und
Willen geſtellten Haltung unſerer Oberſten
Heeresleitung und der Geſchäftsgebarung
unſeres Auswärtigen Amtes gegeben. Immer
wieder mußte da eingerenkt und ausgeglichen
werden; immer wieder mußte der Säbel in
Ordnung bringen, was die Feder verdorben
hatte. Man erinnere ſich nur der Grotesken,
die Herr von Kühlmann in Breſt-Litowſk mit
Herrn Trotzki aufführte, und aus denen dann
ein anderer Wille als der ſeine, eine andere
Kraft als die ſeine nach unendlichen Irrungen
und Wirrungen das herausholen mußte, was
in dieſen Tagen ſeine Verteidiger als ſein
Verdienſt geltend machen wollten, um den
Anhaltbaren zu halten.
Mit dieſem peinlichen Gegenſatz dürfte
nunmehr durch Herrn von Hertling aufgeräumt
fein. Weithin fihtbar machte er in dieſen
Tagen, daß unſere politiſche Reichsleitung,
für die er und er allein die Verantwortung
trägt, ſich bewußt iſt, der organiſchen Einheit
mit der Heeresleitung unter allen Umftänden
zu bedürfen. Die Leute, die bei uns ſeit Jahr
und Tag die Heeresleitung unter die politiſche
Leitung und die politiſche Leitung unter einen
parlamentariſchen Stammtiſch von unter ſich
herzlich uneinigen Ehrgeizlingen beugen möd-
ten, treten zur Begründung ihrer Anſpruͤche
immer wieder die alte Wahrheit breit, daß
Auf der Warte
Kriegführung eine Fortführung unſerer Poli-
tik mit anderen Mitteln ſei. Daraus wollen
fie den Anſpruch herleiten, Heer, Heeres-
leitung und Kriegführung zu willenloſen Werl
zeugen bankerott gewordener Piplomaten-
und Parlamentarierkünſte zu machen. Selbſt⸗
verſtändlich iſt das Gegenteil das Logiſche: da
die Künſte der Diplomatie an der Aufgabe der
Wahrung unſerer berechtigten Intereſſen in
der Welt geſcheitert find, müffen jetzt im Krieg
und folange der Krieg dauert, eben die ande;
ren Mittel, die militäriſchen, durchaus ent-
ſcheiden und durchaus allem anderen voran⸗
ſtehen. Erſt wenn es ihnen gelungen iſt, unſere
Lage in der Welt ſo herzuſtellen, daß niemand
mehr wagen kann, ſie uns zu beſtreiten, erſt
dann können wir wieder den Verſuch machen,
der Diplomatie es zu überlaſſen, auf Grund
der militäriſchen Erfolge und Sicherungen,
und nur auf dieſer allein von der Heeres -
führung zu ſchaffenden Grundlage, mit ihren
Mitteln wieder zu wirtſchaften. Es iſt nicht
ſo, daß mit dem Krieg unſere Diplomatie ein
neues Werkzeug in ihren Dienſt nahm. Nein,
wir haben mit dem Griff zum Schwert von
der Unzulänglichkeit unſerer Diplomatie an
eine höhere zInſtanz appelliert. Dieſe
höhere Inſtanz hat ſich herrlich bewährt.
Sie muß von Gottes und Rechts wegen
Herr über den Verlauf des Verfahrens blei-
ben bis zum Ende ... Wenn einſt die Ge-
ſchichte des Grafen Hertling zu ſchreiben iſt,
dann wird es die ſchönſte Aufgabe des Dar-
ſtellers ſein, zu zeigen, wie ein Leben voller
Arbeit und voller Erfolge feine ſchöne Krö⸗
nung fand in der Erkenntnis, dazu berufen
zu fein, treu darüber zu wachen, daß dem
deutſchen Volke nichts von dem leichtſinnig
vertan und verſpielt werde, was es mit dem
Einſatz all feines beſten Blutes und Gutes
unter der Führung ihrer herrlich und einzig
in aller Welt erſtandenen Herzöge von Gottes
Gnaden ſich in diefem Ringen um Sein oder
Nichtſein gewonnen hat.
Wir haben in dieſer Woche allerhand er-
lebt: Kühlmanns Ende, Hintzes Anfang, die
Anmaßung, die Blamage der Zulileute, ihre
vergebliche belgiſche „Diverſion nach außen“
mit ihrem Fälſchungsverſuch und deſſen Rlar-
Auf der Warte
ſtellung. ... Aber an Anfang dieſer inhalts-
reichen Woche ſehen wir den Kanzler aus den
Großen Hauptquartier kommen, und an ihrem
Ende ſehen wir ihn wieder dorthin fahren.
Es iſt wie eine ſymboliſche Rahmenzeichnung
um das bunte Geſchehen dieſer Tage. Weit-
hin ſichtbar ſehen wir ihn in allen feinen Hand;
lungen und Entſcheidungen, in feinem Kom-
men und Gehen die organiſche Einheit zwi-
ſchen Reichsleitung und Heeres leitung vor der
Welt bekunden, ſehen ihn das Bekenntnis
leben, daß Entſcheidungen über unſeres Reiches
und Volkes Schickſale nicht anders geformt
werden dürfen als mit Hilfe des ſtärkſten Wil⸗
lens und der ſtärkſten Hände, die für uns wir-
ken. Das iſt, aus allem Vielerlei des Geſchehens
herausgeſchält, der politiſche Sinn der Ge-
ſchichte jüngſter Tage und ihr guter Gewinn.
Ein Propaganda ⸗Miniſterium
fordert der Reichstagsabgeordnete Siegfried
Heckſcher, einer von den völkiſch aufrechten
unter den Fortſchrittsmännern, in der „Voſſ.
Ztg.“ Das deutſche Verfahren, auf alle
Kundgebungen der feindlichen Staats-
männer zu ſchweigen, ſei nicht länger zu
ertragen. Für jeden, der die Wirkung der
Northelif fe- Propaganda im Auslande und bei
uns verfolgt, kann es nur eine Auffaſſung
geben, nämlich die, daß dieſes Schweigen
einem Verſagen der deutſchen Staats-
kunſt gleichkommt. „Mit meiſterhaftem Ge-
ſchick wird jede einzelne Rede der engliſchen
Führer nicht nur auf ihre Wirkung in England,
ſondern auch auf ihre Beeinfluſſung der öffent-
lichen Meinung bei den Neutralen und ganz
beſond ers auf ihre Wirkung in Deutſch-
land eingeſtellt. Man horche einmal im
Lande und ſelbſt an der Front herum, wie es
wirkt, wenn der einfache Mann die bilder-
reichen, von ſcheinbar echtem Idealismus er-
füllten Phraſen eines Lloyd George geleſen
hat, eines Balfour, eines Asquith oder eines
Wilſon, der die erprobten Methoden den Eng-
ländern mit Erfolg abgeguckt hat. HYundert-
tauſende Deutſche fragen ſich, wenn ſie eine
Kundgebung des Präſidenten der Vereinigten
Staaten geleſen haben, verzagt und erbittert,
425
was ſagt die deutſche Regierung? und
die Wolke des Unmuts, der Dumpfheit
und des Zweifels breitet ſich, zum er-
heblichen Teile dank dieſer Northeliffe-
ſchen Propaganda, weit und weiter
über das deutſche Volk. Vas verſchlägt
es dagegen, daß die Oberſte Heeresleitung ihre
ausgezeichneten Kommentare zu den amt-
lichen Heeresberichten veröffentlicht, was
hilft es, wenn der Admiralſtab ſeine geſchick⸗
ten Erläuterungen dem Bericht über die U-
Boot-Erfolge anfügt, was nützt es ſchließlich,
wenn das Wolffſche Bureau eine lebloſe,
nüchterne Bemerkung der Veröffentlichung
der engliſchen, amerikaniſchen und auch fran
zöſiſchen Miniſterreden anreiht!
Wir verſuchen unſer Land gegen feindliche
Spionage, gegen Agenten - und Halunkentum
hermetiſch abzuſchließen, wir laſſen es je-
doch mit offenen Augen wehrlos zu,
daß ein Strom vergiftender Reden ſich
über unſer Volk ergießt.
Nun geht es nicht an, daß feindliche Rund-
gebungen von irgendwelchem Gewicht unſerem
Volke vorenthalten werden. Es iſt aber für
unſer Volk notwendig wie das tägliche Brot,
daß der engliſch - amerikaniſch-franzöſiſchen Be⸗
einfluſſung die deutſche Auffaſſung entgegen-
geſetzt und die Gerechtigkeit und die Größe der
deutſchen Sache und des deutſchen Gedankens
in das volle und klare Licht gerückt wird. So⸗
weit die Verteidigung, aber damit nicht ge-
nug! Wir müſſen unſere Sache auch im An-
griff vor dem Forum der Kulturwelt ver-
fechten, Tag für Tag, ohne die bängliche,
pedantiſche Furcht vor Wiederholungen.
Meine Überzeugung von der eindringlichen
Wirkung der Northcliffeſchen Propaganda
geht fo weit, daß ich behaupte, der Staats-
ſekretär von Kühlmann hätte feine letzte, un-
glückliche Rede nicht gehalten, wenn nicht
auch er unbewußt unter den Ausſtrahlungen
der Northeliffefhen Mache ftünde.
Was ich ſeit Jahren verfechte, wiederhole
ich heute, daß mächtiger als die engliſche
Flotte, gefährlicher als das engliſche Heer
Reuter und die engliſche Nachrichtenpropa-
ganda ſind. Ein Volk, das, wie das deutſche,
auf eine vierjährige Kriegszeit von fo un-
424
erhörten Leiſtungen und Erfolgen zurüd-
blickt, hat wahrlich alles Necht, mit hellem
Stolz und Vertrauen in ſeine Zukunft zu
blicken. Soll dieſes Vertrauen, frage ich,
künſtlich unterhöhlt werden durch jene raf-
finierten Machenſchaften der Feinde im
Bunde mit der hilfloſen Untätigkeit deutſcher
Staats kunſt?“
Zur engliſch⸗nordamerikaniſchen
Verbrüderung
as einſt zwiſchen Engländern und
Nordamerikanern in blutigen Rämp-
fen ausgefochten wurde, in dem Unabhängig
keitskriege der nordamerikaniſchen Staaten
gegen Englands Tyrannei und die wilden
Indianer, die im engliſchen Solide ſkalpierten,
und in dem zweiten Kriege von 1812 mit
Zerſtörung Waſhingtons und engliſchen Greu-
eln, ſoll vergeſſen und vergeben fein. Win-
ſton Churchill, in Worten ſo prahleriſch und
rabuliſtiſch wie Lloyd George, nannte auf
dem engliſch-amerikaniſchen Bruderſchaftsfeſt
in London am 4. Juli 1918, am Jahrestag
der nordamerikaniſchen Anabhängigkeitserklã⸗
rung von 1776, dieſe Erklärung „eine der
großen Taten, auf denen die Freiheiten der
engliſchen Völker beruhen“. Demnach wäre
die Geſchichte der nordamerikaniſchen Un-
abhängigkeitskämpfe eine in Deutſchland er-
fundene Legende ſchlimmſter Art. Denn
nicht die Engländer führten nach der verbeffer-
ten Lesart Krieg gegen die nordamerikani-
ſchen Freiſtaaten, ſondern nur ihr König, ein
Deutſcher, der damals auf dem Thron ſaß.
Schon wird nach engliſcher Angabe in Nord-
amerika ein Schulbuch geſchrieben, das die
wahre Geſchichte des Krieges zwiſchen Eng-
land und den nordamerikaniſchen Freiſtaaten
von 1776 erzählt. Ein Oeutſcher trägt die
Schuld an dieſem Kriege. Die Engländer
kämpften immer nur für die Freiheiten ande-
rer Völker, auch 1776 und 1812, auch als fie
die Sklavenſtaaten im Buͤrgerkriege gegen
die Nordſtaaten unterſtützten.
Oxford, Cambridge und die Aniverſi-
täten der nordamerikaniſchen Anion wer-
den darangehen, die Weltgeſchichte von der
Auf der Warte
Verfälſchung durch die Deutſchen, die Welt
ſelbſt von dem Gift der Hunnen zu befreien.
Zu dieſem Zweck ſoll das engliſch-mordameri⸗
kaniſche Großkapital bereits bedeutende Geld-
mittel in Ausſicht geſtellt haben. Wer wagt
es noch, die Ehrlichkeit der englifch-nordameri-
kaniſchen Verbrüderung anzuzweifeln?
* P. DO.
Graf Mirbach, der Tod und das
„Berliner Tageblatt“
amals, als Graf Mirbach mit der Ver-
tretung des Deutſchen Reiches bei der
Sowjetrepublik in Moskau betraut wurde,
regten ſich jo manche Stimmen in verſchie⸗
denen Lagern, die mit viel Reſerve, ja, in
der Molltonart trüber Vorausſagen dieſe
Berufung beſprachen. Dieſem voreiligen Ge-
ſchwätz machte der Tod, als gutbezahlter
Dienſtmann der Entente, ein jähes Ende.
Den Grafen Mirbach hat man nun in ſeiner
Heimat zur letzten Ruhe getragen. Und
das Stirnrunzeln all' derer, die in feiner Be-
rufung voreilig einen Mißgriff der Regierung
ſahen, glättete vor einigen Tagen kein anderer
als Kerenski, der noch vor dem Tode des
Grafen dem „Petit Parisien“ mitteilte, daß
der perſönliche Einfluß dieſes Botſchafters in
jüngſter Zeit ein ſchrankenloſer geworden ſei,
daß er durchgreifende Reformen auf allen
Gebieten plane und aus dieſen Gründen die
Entente das höchſte Intereſſe daran habe,
ihm — dem Grafen — raſch entgegenzu⸗
wirken. Auch das Berliner Tageblatt findet
in dem Nachrufe für den ermordeten Bot-
ſchafter Worte, die dem Ausdruck geben, daß
der auf fo ſchmähliche Weiſe ums Leben Ge-
kommene „ſcheinbar nach beſten Kräften
und nicht ohne Erfolg bemüht geweſen iſt,
ſich den Verhältniſſen in Rußland anzupaſſen
und nützliche Beziehungen zu den Bolſchewill
anzuknüpfen“. — Aber — —, ja, das Ber-
liner Tageblatt kann ſich doch dieſen einen
ſchweren Vorwurf nicht erſparen, von einer
Schuld können ihn ſelbſt ſeine Freunde nicht
freiſprechen: Graf Mirbach war, fo konſta⸗
tiert das Berliner Tageblatt nachdenklich —
„ſehr blond!“ — Wie kann man aber auch!
O. Boettger Seni.
Auf der Warte
Ein Norweger gegen den
ſcheinheiligen Humbug“
in Norweger, der es wagt, wider die
Einheitsfront der norwegiſchen Preſſe
gegen Oeutſchland anzukämpfen, verdiente
ſchon faſt den bekannten Stern im Baedeker
als Auszeichnung für Sehenswürdigkeiten.
Einer dieſer ganz, ganz ſeltenen Norweger,
die den Mut haben, eine eigene Meinung in
der Offentlichkeit zu vertreten, iſt Dr. Her-
mann Harris Aall. Der bekannte Rechts-
gelehrte, berichtet die „Voſſ. Ztg.“ aus Chri-
ſtiania, hat ſeinen Landsleuten ſchon wieder-
holt mit derben Worten die Wahrheit geſagt.
gest veröffentlich Aall in „Ukens Nevy“
einen Aufſatz, in dem er mit dem Auslands-
leitartikler des norwegiſchen Ententeblat-
tes „Aften posten“ abrechnet. Er betont
darin, er brauche nicht die Zentralmächte zu
verteidigen. Dazu ſei das Verbrechen Eng-
lands und feiner Mithelfer zu himmel-
ſchreiend. Um das zu beweiſen, geht er auf
die Tatſachen ein, die zum Kriegsausbruch
geführt haben. „Dieſe Tatſachen ſind, daß
England, Frankreich und Rußland ſich foli-
dariſch zur Verteidigung des Verbrechens von
Sarajewo ſtellten, laut dem britiſchen Blau-
buch Nr. 12. Ich denke an Deutſchlands
Friedensbitte an Rußland, Frankreich und
England, die dieſe Staaten abſchlugen — die
britiſche Regierung ſo unbedingt, daß ſie ſich
ſogar weigerte, mitzuteilen, unter welchen
Bedingungen fie den Oeutſchen geſtatten
würde, am Leben zu bleiben (engl. Blaubuch
123). Oder ich denke an die Ausdehnung des
Krieges, wie Großbritannien einen neutralen
Staat nach dem anderen gelockt, bedroht und
ausgehungert hat, lauter Staaten, die keinen
Grund hatten, mit den Mittelmächten Krieg
zu führen —, bis jetzt die Kriegsflammen um
die ganze Erde zucken, entzündet durch die
Dämonen der Lüge, zum Beſten des britiſchen
Profitbegehrs, des Machthungers und des
Haſſes gegen den Tüchtigeren. Oder ich denke
an die Fortſetzung des Krieges, trotz inftän-
diger Aufforderungen der Mittelmächte an die
Entente, einen Verſtändigungsfrieden zu
ſchließen ...“ In dieſem Zuſammenhang geht
425
Aall auch auf den Brief des Kaiſers Karl ein,
den die Entente jedenfalls für authentiſch ge-
halten und „deshalb vor der Welt verjchwie-
gen hat, um keine Friedensſtimmung in ihren
Ländern zu erwecken ...“ And dann beweiſt
der Verfaſſer mit unangreifbaren Daten, daß
es zuerſt Eng land war, das die hohe See mit
Treibminen verſeucht hat, mit „dieſen ver-
fluchten Minen, die ſo vielen unſerer Seeleute
das Leben gekoſtet haben“. Er weiſt auf den
völkerrechtswidrigen Aushungerungskrieg hin,
auf die giftigen Gasbomben, die England
ſchon im Burenkrieg anwandte und die es ge-
meinſam mit Frankreich auch in dieſem Krieg
benutzte. „Schon im September 1914 jubeln
franzöſiſche Blätter über die wunderbaren Ne-
ſultate der Giftgaſe — ‚Aftenpostens‘ eigener
Pariſer Korreſpondent berichtet darüber —,
während die erſte deutſche Gasbombe von
Ententeſeite erſt am 24. April 1915 gemeldet
wird.“ And zum Beweiſe, daß auch die erſten
Luftangriffe auf unbefeſtigte Städte
von der Entente ausgeführt worden ſind, kann
ſich Aall ſogar auf das engliſche Fachblatt
‚Aeroplane‘ berufen, in dem es am 10. Oktober
1917 heißt: „Die erſten Fliegerbomben in die-
ſem Krieg wurden von britiſchen Marine-
fliegern auf Oüſſeldorf, Köln und Friedrichs-
hafen geworfen. Es kann einen ekeln bei die
ſem polternden Gefhwäß, daß wir Vergeltung
üben müßten. Das iſt nur ſcheinheiliger
Humbug.“
Es erſcheint dem deutſchen Leſer vielleicht
merkwürdig, daß man ſolche Einzelheiten
hervorheben muß. Aber Tatſache iſt, daß
z. B. die Leſer von „Aftenposten“ bis
heute nichts vom Suchomlinowprozeß
wiſſen. Und nicht beſſer ſteht es um die
Kenntnis von den Geheim verträgen der
Entente zur Zertrümmerung und Aufteilung
der Mittelmächte. Solche Dinge könnten zu
leicht das ſchöne, mühſam erarbeitete Bild von
dem räuberiſchen Deutſchland beeinträchtigen.
Blut und Leben fürs Vaterland
m gegen die neue Börſenſteuer zu de-
monſtrieren, beſchloß die Hamburger
Wertpapierbörſe jeglichen Börſenverkehr
426
einzuſtellen. Prompt gab darauf das Stell-
vertretende Generalkommando des 9. Armee-
korps die Antwort: es verfügte, da mit Ein-
ſtellung des Börſenverkehrs jede Voraus-
ſetzung für die Zurückſtellung der Firmen-
vertreter und Angeſtellten der Wertpapier-
börſe entfällt, daß die zurückgeſtellten
Wehrpflichtigen ſofort in den Heeres-
dienſt eingeſtellt werden. — Der Verein
Wertpapierbörſe trat daraufhin ebenſo „fo-
fort“ zu einer Verſammlung zuſammen und
beſchloß, „unter dem Zwang dieſer Verhält-
niſſe den Börſenverkehr unverzüglich wie-
der aufzunehmen“. Die Verfügung des
Generalkommandos fuhr auch den gleichen
Organiſationen der Berliner Börfe jo in die
Glieder, daß die Kursnotierungen der Ber-
liner Börſe am ſelben Tage wieder aufgenom-
men wurden. Was ſagen wohl unfere Männer
im Schützengraben zu ſolchem Verhalten?
Bezeichnend iſt, daß nur wenige Zeitungen
von obigen Vorgängen Kenntnis genommen
haben. Bl.
*
Zur Reform der Diplomatie
gehört auch die Abſtellung veralteter Vor-
rechte, die im 18. Jahrhundert bei damaligen
Reiſeverhältniſſen ihre Begründung hatten.
Gewiſſe altüberlieferte „Courtoisien“ werden
zum Unfinn und zur ſittlichen Verführung,
wenn der Perſonalſtand der Geſandtſchaften
in die drei- und vierſtelligen Zahlen ſchwillt.
Die Serben in Bern, die den diplomatiſchen
unbehelligten Warenſchmuggel en gros be-
trieben, hat man nun doch zur Rede geſtellt.
In franzöſiſchen Kurierkoffern wanderten
ſtändig hohe internationale Beträge herein
und heraus, um die Kursverhältniſſe der
Valuta verbeſſert auszunutzen. Kaum lernt
man eine der meiſtens nicht dummen, in den
Bureaus unentbehrlichen Damen kennen,
daß fie ſchon liebenswürdig den Rat erteilt,
jetzt müſſe man öſterreichiſche Kronen kaufen.
Zu den Bekleidungs- und Ernährungs verhält-
niſſen ihrer reſpektiven Heimatländer tragen
die Damen „verdienſtlich“ bei. Dieſe viel-
leicht unnötigen Dinge mögen erwähnt fein,
weil manche Blätter in Deutſchland leicht
Auf der Warte
über die Schweiz räfonieren, ohne zu willen,
wieviel Nachſicht und Geduld da gegen andere
geübt wird.
Zuweilen entſchädigt wohl auch ein
Humoriſtikum. Anterhaltend iſt die Bundes⸗
ſtadt. Die tibetaniſche Geſandtſchaft hatte zu
gewiſſer Zeit vornehmlich die Oirektive, ſich
jtart auf Kulturpropaganda zu verlegen.
Wohl weil das Hunnenreich da irgendwo in
der Gegend von Tibet feinen Urſprung ge-
habt haben ſoll, mußte ſie ſich jetzt noch die
Köpfe deswegen zerbrechen. Nun beſaß
einer der vielen jüngeren Tibetaner eine
belgiſche Freundin oder vielmehr er beſaß
ſie nicht, da ſie in der okkupierten Ferne weilte.
Sie konnten zuſammen nicht kommen, ſummt
das alte Volkslied, nach deſſen Weiſe auch
das andere tragiſch geht: „Es war eine ſchöne
Jüdin.“ Der lebhafte Umgang mit jungen
Jüdinnen gehört zum diplomatiſchen Ritus
der Buddhiſten. Bei dem qualvollen Beraten
über die Kultur blitzte dem jungen Herrn,
geſcheit wie Diplomaten manchmal ſind, der
Vorſchlag auf, die belgiſche Pianiſtin ſo und
jo könne Konzerte zur tibetaniſchen Propa-
ganda geben. Man hatte nie von ihr ver-
nommen, aber ſie kam, ſie ſah, ſie ſpielte,
das Reich Tibet, deren Lamabs ſich höchlich
beglückt bezeigten über die näheren Berfona-
lien, zahlte 500 Rupien für jedes Klavierſpiel
der propagandiſtiſchen Belgierin. Dann wurde
auf einmal dieſes eingeſtellt, als die Vorgeſetz⸗
ten der Legation, hochachtbare Leute, die Zu⸗
ſammenhänge als allzu gemuͤtvoll entdeckten.
Um auf die deutſche Diplomatie und
deren Reform zurückzukommen, ſo hat der
namentlich aus Hamburg empfohlene handels-
wirtſchaftliche Stab bei den Geſandtſchaften,
der jetzt wie alles Schöne proviſoriſch iſt,
noch mehr für ſich, wenn man die Entſagung
den Privatgeſchäften gegenüber dann auf
den Ehrenkodex ſetzt. Mutz
0
Ein verſchleuderter Schatz
as Vertrauen! — „Bethmann,“ ſchreibt
„Deutſchlands Erneuerung“ (Heft 6,
1918), „der, was die Ausnutzung der
politiſchen Schwächen des deutſchen Vol
Auf der Warte
kes zu ſeinen Gunſten anbetraf, entſchieden
ein Seelenkenner war, hat während ſeiner
Amtsführung im Kriege unzählige Male
Vertrauen erfleht, erbeten, verlangt, ge-
fordert, ertrotzt, ja geradezu amtlich an-
befohlen. Weite, durchaus geiſtig hoch-
ſtehende Schichten unferes Volkes, ſehr vor-
nehm denkende Menſchen haben ihm reſtlos
vertraut, und wie viele mögen auch jetzt noch
den Glauben an ihn und ſeine Beweggründe
bewahrt haben! Und doch hat es kaum eine
Zeit gegeben, in der das allgemeine Ver-
trauen des Volkes zu ſeiner Regierung und
die allgemeine Vorſtellung von ihrer Weis-
heit und Kraft fo ſchmählich enttäuſcht und
erſchüͤttert und untergraben worden iſt, als
gerade die Zeit der Bethmannſchen Regierung.
Als er ging, genoß er bei keiner einzigen Partei
mehr auch nur einen Funken Vertrauen.
Nicht nur in ausgeſprochen völkiſchen Kreiſen,
deren Mißtrauen er früh erweckt hatte, fon-
dern auch weit darüber hinaus in anderen
reichs- und kaiſertreuen Schichten war end-
gültig der Traum ausgeträumt, der Traum:
daß man beruhigt Berlin walten laſſen könne;
daß eine Schar von unermüdlichen, fachlich
dem Vaterlande dienenden, hervorragenden
Männern die Belange des Reiches nach
größten, geſchichtlichen und reindeutſchen
Geſichtspunkten mit Mut und Zielbewußtſein
wahrnehme; daß man jede Kritik hintan-
zuhalten und ſich lediglich des wachſenden
Wohlſtandes zu freuen hätte; daß man durch
unbed ingtes, blindes Vertrauen zu den Nach-
folgern Bismarcks und durch Einſtehn für ſie
ſtaatserhaltend wirke ..
Bethmann hat nicht für Deutfchland,
ſondern gegen Oeutſchland regiert. Wer es
nicht ſchon vorher wußte und feine Geiftes-
richtung am Falle Kapp erkannte, dem hat
wohl jetzt die Lichnowſkyſche Denkſchrift
die Augen geöffnet. Oder er leſe die unſagbar
törichte Bethmann ⸗Lebensbeſchreibung von
Hermann Kötſchke, bei der ſchon die Be-
ſtellung des Biographen das gleiche bare Un-
vermögen beweiſt wie die Beſtallung Lich
nowſkys zum Perſonalien Dezernenten und
Botſchafter. Doch täglich kann man noch
das wahrhaft erfhütternde Schauſpiel er-
427
leben, daß in Ehren ergraute Beamte oder
wiſſenſchaftlich hervorragende Männer erſt
jetzt von der grauenvollen Ahnung ge-
faßt werden, welch eine UAnſumme von
Unfähigkeit, Eitelkeit, Strebertum und
Unſach lich keit mit und unter Bethmann zu
unſerem Verderben am Werke geweſen iſt,
und welche aller Erfahrung und Ge—
ſchichte ins Geſicht ſchlagende Richt-
linien für deſſen Politik maßgebend waren.
Wenn erſt jetzt noch ſtumme Stimmen reden
werden, wird niem and mehr daran zweifeln.
Es iſt unſagbar viel Vertrauen gewiſſenlos
verſchleudert und verwirtſchaftet worden und
geht noch heute nachträglich verloren, was
ſeit Bismarcks Tagen ein köſtlicher Beſitz des
deutſchen Volkes war.
Darum mögen ſich jetzt alle, die an ſicht⸗
barer Stelle von Einfluß ſtehen, der Gefahr
bewußt fein, die eine weitere Einbuße an Ver-
trauen bedeuten würde. Dieſe Stellen mögen
ſich ſehr ernſt überlegen, ob es angebracht
erſcheint, die ausgeſprochenen Vertreter
des Bethmannſchen Syſtems und feiner
fo entſetzlich zuſammengebrochenen Piplo-
matie, deren Folgen wir mit teuerſtem
Blute bezahlt haben und noch bezahlen,
die Kühlmann, Bernſtorff, Lucius, Lur-
burg, Baron de Schoen, Riezler uſw.
uſw. noch in verantwortungsreichen
Stellen zu beſchäftigen. Es muß ganz
offen geſagt werden, daß man dieſe Weiter-
verwendung in den Kreiſen, die bisher ohne
politiſche Exrpreſſung auf der einen, Belohnung
auf der anderen Seite anſtandslos ihre vater-
ländiſche Pflicht treu bis zum Tode erfüllt
haben, dauernd als Schlag ins Geſicht
empfindet. .. Niemand hat jetzt noch eine
Entſchuldigung. Kein einziger deutſcher Mann
in der Heimat, der ſehn und hören kann, darf
ſich noch mit „Vertrauen“ und „Idealismus“
entſchuldigen.“
Pr
Der Engländer und der Japaner
er Berichterſtatter der „Daily Mail“ hat
den japaniſchen Miniſterpräſidenten
Grafen Terautſchi, hernach auch den früheren
Minifter des Auswärtigen Kato und den
428
gegenwärtigen Miniſter des Auswärtigen
Baron Goto mit der gleichen Zudringlichkeit
und Dreiftigleit einem Verhör unterworfen.
Sehr huͤbſch kennzeichnet Graf Reventlow die
ironiſch überlegene Haltung des Japaners
Goto dem Engländer gegenüber:
Dieſer Miniſter antwortet mit unzerſtör⸗
barer Ruhe und zuweilen mit ſtarker Fronie.
Als er z. B. fragend darauf aufmerkſam ge-
macht wird, wie es komme, daß der deutſche
Geiſt in der japaniſchen Armee und der „ger-
maniſierte Charakter der japaniſchen Kultur“
im Widerſpruche zur allgemeinen Verbrei-
tung der engliſchen Sprache in Japan ſei, er-
widert der Miniſter: die Frage ſei gut, ſo
etwas habe ihn noch nie ein Fremder ge-
fragt. Seiner Anſicht nach ſei dieſes eine
ſchöne Seite des japaniſchen Charakters.
Japan nähme Ziviliſation von jedem Volke
auf, bliebe aber dabei immer japaniſch und
laſſe ſich im Charakter nicht beeinfluſſen. Der
Minifter kommt dann auf ſich ſelbſt zu ſprechen
und tut den Ausſpruch: „Ich bin keineswegs
prodeutſch, ich bin nicht antiengliſch, ich bin
ganz Japaner.“ Der Zeitungsmann kommt
hier aus dem Konzept, unterbricht den Mini-
ſter: er habe nicht ganz folgen können, als der
Minifter ſagte, er ſei „nicht antiengliſch“.
Warum? Baron Goto ſetzte es ihm freund-
lich auseinander: er könne nicht prodeutſch
fein, weil Deutſchland ein Feind fei, und
nicht antiengliſch, weil man einem Freunde
gegenüber nicht unfreundlich ſei. Der Bericht;
erſtatter fragte nachher, ob Japan wirklich
nicht wie die anderen Verbündeten für ein
„Ideal“ kämpfe, ſondern nur für materielle
Zwecke? Oer Miniſter antwortet: Japan
habe ohne andere Gründe gegen Deutſchland
zu den Waffen gegriffen, nur um feiner Ver-
tragspflicht zu genügen. Darin liege Japans
Rechtfertigung. Der Berichterſtatter wendet
ein, dieſe Pflicht ſei kein Ideal geweſen, und
Baron Goto entgegnet, daß hinter der Pflicht
das Ideal geweſen ſei. Dem Engländer ge-
nügt dies alles nicht, und er hat das Gefühl,
der Miniſter habe zu wenig antideutſche
Ideale, deswegen ſagt er die alte Lüge: der
deutſche Kaiſer habe geſagt, die Japaner ſeien
Affen. Als Antwort ſpricht Baron Goto von
Auf der Warte
den 30 000 Gedichten des verſtorbenen
Kaiſers Meili, welche die ſchönſten Ideale
der Menſchheit enthielten.
Welcher Eng länder hätte vor zwei Jahren
und vor einem Jahre öffentlich an die japani-
ſchen Miniſter die Frage geſtellt, ob ſie an
einen Sieg der Verbündeten gegen
Deutſchland glaubten? — Baron Goto
antwortet wohlwollend: Gewiß, aber ihr müßt
euch Zeit laſſen, es iſt ein häufiger Fehler der
Menſchen, daß ſie nicht warten können
Die japaniſchen Staatsmänner wiſſen
genau, daß ihre Verbündeten ihnen nichts
vorſchreiben und ſie in nichts hindern
können. Sie wiſſen ebenfalls genau, daß,
abgeſehen von dieſer unmittelbaren Obn-
macht Japan gegenüber, die angelſächſiſchen
Miniſter jetzt jede Konzeſſion machen wür-
den, um Japan bei der Stange des Bünd⸗
niſſes zu halten. Sein Ausſcheiden oder nur
ein tatfächliches Sichzuruͤckziehen aus dem
Bündniffe würde unabſehbare Folgen für
die angelſächſiſchen Mächte herbeiführen,
für jetzt und für die Zeit nach dem Kriege.
London — Weltbankhaus ge⸗
weſen! .
ondon hat aufgehört, das Bank und
Wirtſchaftszentrum der Welt zu ſein!
Dieſe Betrachtung von deutſcher Seite wird
jetzt von einem engliſchen Fachmanne in
der Londoner „Pall Mall Gazette“ heſtätigt:
„Bei Kriegsausbruch war London der
Finanzmittelpunkt — das ſogenannte all-
gemeine Abrechnungshaus — der ganzen
Welt, durch das eine rieſige Menge inter-
nationaler Geſchäfte vermittelt und erledigt
wurden. Auswärtige Banken deponierten
bei dieſen Geſchäften ſtets große Geldſummen
in London. Jetzt ſehen wir täglich, daß dieſe
Geſchäfte direkt und nicht über London
abgeſchloſſen werden. Amerika und Japan
treiben Handel miteinander, aber die Ab-
ſchlüſſe nehmen nicht mehr ihren Weg
über London. Das gleiche gilt von Süd-
amerika und Spanien. Die großen Geld-
ſendungen Südamerikas an Spanien werden
jetzt direkt geſchickt und nicht, wie vor dem
1 X u — y un
Auf ber Warte
Kriege, durch Vermittlung der Londoner
Banken. Worauf deuten dieſe Dinge hin?
Es iſt klar, daß in England nach dem Kriege
große Veränderungen ſtattfinden werden.
Es wird nicht allein nötig fein, für die Wieder
herſtellung alter und die Errichtung neuer
Induſtrien große Geldſummen aufzutreiben,
ſondern wir werden gezwungen ſein, hart
zu kämpfen, um, wenn möglich, unſere
finanzielle Poſition wieder zu erlangen.“
„Wenn möglich!“ Ein beredtes Gejtänd-
nis, das hier dem tiefbekümmerten engliſchen
Geſchäftsgemüte entſchlüpft iſt. Selbſt fo
verachtete Staaten, wie die ſüdamerikaniſchen,
erfrechen ſich — —! Es iſt nicht auszudenken,
es iſt ſchon der Untergang der „Welt“! Und
des „Weltgewiſſens“.
*
Wie fie es machen
ürzlih ſtarb in Wien eine dortige drt-
liche Größe, der frühere Abg. Bieloh-
lawek, ein Gegner der Juden. Mit welchen
Mitteln er von der großen Wiener Tages-
preſſe bekämpft wurde, erzählte ohne Scheu
ein Mitglied dieſer Preſſe, Stefan Großmann,
in der Voſſiſchen Zeitung.
„Ich habe damals mit einigen jungen
Freunden in Wien den Kampf gegen Bielohla-
wet als innig gefühlten Spaß ein paar Jahre
lang betrieben. Wir nahmen ihm die Freude
an ſeinen verwegenen Coupletrefrains, in-
dem wir noch mehr erfanden als er. Wir
machten Bielohlawek durch eine Biolohlawel-
legende unſchädlich. Wir veröffentlichten
Schilderungen: Bielohlawek auf dem Hof-
ball, Bielohlawek über Ibſen, Bielohlawek
in Cronville, lauter Erfindungen, aber
mit beinahe echten Ausſprüͤchen, die ganz
ſo klangen, als ob er ſie geſagt hätte. Zu-
weilen waren unfere erfundenen Bielohlaweks
noch ſchlagkräftiger als feine echten. Er
ärgerte ſich ſehr, denn erſt an unſeren frechen
Bielohlawekerfindungen konnte er die Red-
heit, Unwiſſenheit, Roheit feiner eigenen
Kundgebungen erkennen. Sein Mutterwitz
aber, an dem er ſich mit einigem Recht er-
freuen konnte, wurde ihm durch unſere ſchock⸗
weiſe vorgebrachten Erfindungen verleidet.
429
Er ſtudierte das Preßgeſetz und berichtigte.
Aber dann lachten die Wiener erſt recht über
ihn, denn fie ſagten ſich: wie treffend müffen
dieſe Satiren fein, wenn Herr Vielohlawek
ausdrücklich feſtſtellen muß, daß ſie erfunden
und nicht Wirklichkeit find. Übrigens er-
fanden wir auch drollige Berichtigungen.“
Mit ſolchen Tricks verfolgt die große Wie;
ner Tagespreſſe jede Perſönlichkeit, die ihr
mißliebig iſt, und ſcheut ſich nicht, um mit
Großmann zu reden, die „frechſten Erfin-
dungen“ in die Welt zu ſetzen. Als vor
Jahresfriſt der neue Leiter des Hofburg-
theaters von Millen kowich feine Antrittsrede
hielt, verhieß er, „das chriſtlich-germaniſche
Schönheitsideal“ zu verwirklichen. Für die
Kenner der Wiener Tagespreſſe waren die
Tage dieſes Mannes gezählt. Planmäßig
fielen die Läſterzungen der Preſſe über ihn
her und dürfen jetzt ihren Erfolg bejubeln.
Herr von Millenkowich iſt zur Strecke gebracht
worden. Weshalb hat er auch die Kühnheit
gehabt, von einem chriſtlich-germaniſchen
Schönheitsideal zu ſprechen? Darin ſah die
international und interkonfeſſionell gerichtete
große Wiener Tagespreſſe eine Herausforde-
rung und beeiferte ſich, den Mann mit allen
Mitteln, auch mit Hilfe von Erfindungen, un-
möglich zu machen und ihm ſein Amt zu ver-
leiden. Paul Dehn.
%
„And dieſe Leute dirigieren
eine Millionenpartei !“
De „Köln. Ztg.“ veröffentlicht den Brief
eines org aniſierten Sozialdemokra-
ten an den Abgeordneten Meerfeldt. Der
Briefſchreiber iſt 1912 eigens von Paris nach
Köln gefahren, um dem Vorgänger Meer-
felds ſeine Stimme in der Stichwahl zu geben.
Er wendet ſich u. a. gegen die Erklärung der
Parteileitung, in der dieſe das Wort vom
„verkappten Annektieren“ ausſprach:
„ Die xealen Garantien, die wir
zum Schutz unſerer geographiſch fo ungünffi-
gen jetzigen Grenzen haben müſſen, kön-
nen eben in nichts anderem beſtehen, als in
einer unter möglichſter Schonung der
nationalen Anſprüche der Einwohner er-
450
folgenden loſen Angliederung an den
deutſchen Staatenbund. Wenn unſere
Parteileitung dieſe Aktion, die uns übrigens
kein unparteiiſch urteilender Ausländer ernft-
lich übelnehmen wird (und wenn ſchon ), mit
dem bösartigen Wort: „Verkappte Annexion“
belegt und gar dieſes verhängnisvolle Wort
in die Welt hinausſchreit, ſo daß es alle
offenen und geheimen Feinde hören, und gar
in dieſem Augenblick, wo es unſeren vor einer
ſo unendlich ſchweren Aufgabe ſtehenden
Unterhändlern dieſe Aufgabe noch unendlich
mehr erſchweren muß, ſo verdiente eine ſolche
ebenſo deplazierte wie törichte, ja ge-
radezu verbrecheriſche „Tat“, daß alle
urteilsfähigen Parteigenoſſen dem Vor-
ſtande ihre Mitgliedsbücher vor die
Füße werfen ſollten. Die Lorbeern der
„Unabhängigen“ haben augenſcheinlich unſere
Parteileitung nicht ſchlafen laſſen, ſie mußte
doch auch etwas tun, um ſich den ‚Maffen‘
wieder in Erinnerung zu bringen. Und
dieſe Leute dirigieren eine Millionen-
partei! Es wird einem angſt und bange,
wenn man ſieht, mit wie wenig Weisheit
nicht nur die Welt, ſondern auch eine große
Partei regiert wird! Wenn es auf dieſe Weiſe
weitergehen ſollte, ſo wird das Friedenswerk
in Breſt-Litowſk viel mehr durch unſere Par-
tei als durch die Alldeutſchen geſchädigt. Die
Alldeutſchen find eine ſehr kräftige
und nützliche Anterſtützung unſerer
Anterhänd ler, die dadurch den Nuffen ad
oculos demonſtrieren können, wie ſehr man
ihnen entgegenkomme, indem man ſo weit
von den alldeutſchen Forderungen abrücke.“
Weiter wendet ſich der Briefſchreiber
gegen die Auffaſſung, daß die Annexion
von Elſaß- Lothringen Frankreich in
den Krieg gegen uns getrieben habe.
„Nichts iſt verkehrter als eine derartige welt-
fremde Auffaſſung. Ich habe lange in Frank-
reich gelebt und darf mir wohl ein Urteil in
dieſer Sache erlauben. Der Kriegsgrund
der Franzoſen gegen uns gehört abſo-
lut ins pathologiſche Gebiet. Es iſt der
Haß des Kranken gegen den Geſunden,
der einem Gefühl der Angſt und Schwäche
gegenüber dem Starken entſpringt. Das ſich
Auf der Warte
nicht vermehrende 40 Willionenvolk ſieht ſich
neben dem mächtig wachſenden 70. Millionen-
volk und fühlt ſich nicht eher ſicher, als bis
dieſes, nach feiner Auffaſſung, jo unſchaͤdlich
gemacht iſt, daß es es nicht mehr zu fürchten
braucht.“ |
Bemerkenswert iſt auch die Anſicht des
Briefſchreibers, daß viele Anhänger der
Sozialdemokratie durch die traurigen Erfah-
rungen der zentraliſtiſchen Bewirtſchaf⸗
tung der Konſumartikel in den letzten Jahren
in ihrem Glauben an das Allheilmittel
des Sozialismus ſtark ſchwankend ge
worden ſind, und daß die Partei nach dieſer
Richtung hin ihr Prog ramm werde än-
dern müſſen.
Johannes Scherr über deutſchen
Chauvinismus
rohannes Scherr war ein Vorkämpfer aller
freiheitlichen Beſtrebungen, ein Demo-
trat, doch nicht weltbürgerlich, ſondern natio⸗
nal gerichtet, ein Mann, deſſen Worte heute
noch gehört zu werden verdienen. Zn ſeinen
„Blättern im Winde“ (1875) wandte er ſich
gegen die ſchon damals hervortretenden welt-
buͤrgerlichen Anwandlungen unter feinen
Geſinnungsgenoſſen. „Laſſet euch auch nicht
irre machen in der Beſchaffung eines ge⸗
ſunden Nationalegoismus, wenn da und
dort ein mehr oder weniger dummer Zunge
über deutſchen Chauvinismus ſchreit. In
einem Lande, das ſeit den Tagen Armins des
Cheruskers bis heute förmlich darauf ver-
ſeſſen war, einheimiſche Größen durch das
Verkleinerungsglas, fremde dagegen durch
das Vergrößerungsglas anzuſehen? Chau-
vinismus unter einem Volke, das von jeher
bis zur Stunde ſich gedrungen fühlte, ſogar
ſeinen fremden Todfeinden nicht etwa nur
Gerechtigkeit, ſondern auch Verehrung zu
zollen? Oeutſcher Chauvinismus! Das ift,
wie wenn der Millionenheimer (Ritter von
Ofenheim in Wien), den ſie 1875 irgendwo
laufen ließen, geſagt hätte: „Ich habe meine
galiziſchen Eiſenbahnen mit Katechismus
paragraphen gebaut.“ P. O.
*
1
t
Auf der Warte
Wer find die Leute?
| Dew „unſterblichen Kriegsorganiſationen“
widmet das „Größere Oeutſchland“
folgende Würdigung, der ſich der Türmer in
allen Stücken nur auf das nachdrücklichſte an-
ſchließen kann:
In der „Norddeutſchen Allgemeinen gei-
tung“ bekämpft Dr. Auguſt Weber, Mit-
arbeiter im Reichswirtſchaftsamt, das Ver-
langen nach möͤglichſt ſchneller Abſchaffung
aller Rriegsämter und Kriegsorganiſationen,
angeblich um die Allgemeinheit gegen die
Maßnahmen des freien Handels zu Ihüßen.
Zwar hat ſich in zwei Menſchenaltern der
deutſche Kaufmann mindeſtens ebenſogut be-
währt, als der Beamte, und theoretiſch ſingt
man bei jeder Gelegenheit ein Preislied auf
ſeine Tatkraft, Tüchtigkeit und weitſchauende
Klugheit. Aber in Wirklichkeit wird er ganz
anders bewertet; gewinnſüͤchtig, wie er nun
einmal ift, muß er durch den mit allen Vor-
zügen ausgeſtatteten Verwaltungsjuriſten er-
ſetzt werden. Wie ſchade, daß man dieſe all-
wiſſenden Herren dem deutſchen Volke nicht
ſchon vor Jahrzehnten als Lenker und Leiter
für ſeine Handelstätigkeit beſtellt hat; dann
hätte ſicherlich England keinen Grund gehabt,
auf unſere Handelserfolge eiferfüchtig zu fein.
Aber jetzt geben fie ja glüdliherweife in den
meiſten Rriegsämtern und Organiſationen den
Ausſchlag. Als dieſe ins Leben gerufen wur-
den, mußten natürlich Sachverſtändige zu-
gezogen werden, die „gehört“ werden ſollten.
Das heißt, aus dem Amtsſtil in unſer gelieb-
tes Deutſch übertragen, fie fanden alle Vor-
bereitungsmaßregeln fertig vor und hatten
nur ja oder nein zuf agen. Wer aber nicht mit
dem Kopfe nickte, ſondern eine fachmänniſche
Meinung im Gegenſatz zu der papierenen
Weisheit kundgab, der wurde einfach nicht
wieder eingeladen. So war man die un-
bequemen Leute los und konnte ſich für alle
Verordnungen, mochten fie noch fo wider-
ſinnig ſein, auf die „einhellige Zuſtimmung
der beteiligten Kreiſe“ berufen. Welche Zu-
ſtände ſich daraus ergeben haben, weiß jedes
Kind. Oarum iſt es die allerhöchſte Zeit, in all
die unzähligen Amter und Kriegsgeſellſchaf⸗
451
ten, die oft geradezu gegeneinander arbeiten,
mit dem vollen Strahl der Öffentlichkeit hinein
zuleuchten, wie es der Reichstag verlangt. Wir
wollen endlich einmal genau wiſſen, mit wem
wir es zu tun haben, und das deutſche Volk
darf angeſichts ſeiner ungeheuren Opfer und
Entbehrungen zum mindeſten verlangen, daß
die Herren, die in den zahlloſen Kriegsſtellen
über feine Wirtſchaftsgüter verfügen, auch die
offene Verantwortung dafür übernehmen.
Denn auf die Dauer wirkt ihr Beſtreben, be-
ſcheiden im verborgenen zu blühen und ſich
hinter der Namenloſigkeit eines „Amtes“ zu
verſtecken, doch nicht gerade günftig, zumal
wenn man an die Klubſeſſel und Rieſen-
gehälter denkt, die mit dem Nutzen der Amts-
ſtellen in keinem Verhältnis ſtehen. Oder
ſollten vielleicht für dieſe Neigung zum In-
kognito beſondere Gründe vorhanden ſein?
®
Geſundes Volksurteil
n einem Berner Gerichtsverfahren wegen
Landesverrat und Nachrichtend ienſt zu-
gunſten von Frankreich mußte auch der
Ad vokat Dr. Brüftlein verurteilt werden. Er
kam ſehr glimpflich davon, mit Anrechnung
eines Spitalaufenthalts und der Erlaubnis,
da ihm der Arzt Arterienverkalkung beſchei⸗
nigte, auch den kleinen Strafreſt im Kranken-
haus zu verbringen. Das Gericht hatte die
bisherige Unbeſcholtenheit des angeſehenen
Mannes und Politikers in Betracht gezogen,
der aus Geſinnung ſich vergangen habe.
Dagegen lehnen ſich Zuſchriften an die
Preſſe auf. Bisher unbeſcholten ſind auch
viele einfache Leute, die wegen geringerer
Geſetzvergehen zu ganz anderen Strafen ver-
donnert werden. Gebildete und hochange⸗
ſehene öffentliche Wortführer ſeien deſto
mehr verantwortlich zu machen, wenn ſie
ſich um das Landeswohl und das Geſetz
nicht kümmern. Das Volk habe ein Recht,
in ſolchen Fällen „ein raſſiges Urteil“ zu
erwarten.
Auch in Deutſchland wird's nicht ſchaden,
das zu vernehmen. Ein gefürchteter Grafen
name erſteht da aus halbverklungenen Erinne-
452
rungen, wo Nix und Nöd ſich regt. Dort in
der Demokratie ſind es deren Privilegierte,
die Politiker, die ſich in ärztliche Wattierung
packen laſſen dürfen. Mutz.
„Rußland“ als Strafe
5 die Auffaſſung, die man jetzt im
neuen Oſtland von den Zuftänden in
Rußland hegt, iſt eine Bekanntmachung des
Revaler Stadthauptmanns bezeichnend. In
dieſer wird den Teilnehmern an Streiks an-
gedroht, daß ſie nach Rußland abgeſchoben
werden follen. Die Auswanderung nach
Rußland als Strafe, bemerkt die „Libauſche
Zeitung“, noch dazu für Streikende, deren
Herzen doch für die bolſchewiſtiſche Freiheit
ſchlagen müßten, — nichts kann die Sinnes-
wandlungen beſſer kennzeichnen!
>
Klarſtellung der Kanzlererflä-
rung über Belgien
ine bedauerliche Irreführung hat Arteile
über die Abfichten des Grafen Hertling
in der belgiſchen Frage hervorgerufen, die
dieſen nicht gerecht werden und ſich daher
ohne weſentliche Einſchränkungen nicht mehr
aufrechterhalten laſſen. Nur die Aus-
führungen des Reichskanzlers vom 12. Juli
waren veröffentlicht worden und konnten da-
her auch nur zugrunde gelegt werden; erſt
nachträglich entſchloß man ſich zur Bekannt-
gabe auch der vom 11. Juli. Mit Recht be-
tont die „T. R.“: „Wenn man ſich ſchon ent-
ſchloß, aus den ‚vertraulichen‘ Beratungen
des Reichstagsausſchuſſes öffentlich zu be-
richten, ſo mußte dieſer Entſchluß auch in
ſeiner Tragweite voll erwogen werden und
nicht der beſſere und wirkungsvollere
Teil der Stellungnahme des Reichskanzlers
zuruͤckgehalten und erſt verſpätet beinahe zu
ſpät, der Öffentlichkeit fo beiläufig und halb
hintenherum verzapft werden.
Auf der Warte
In der Erklärung vom 11. Zuli bindet
ſich der Reichskanzler nach allen Richtungen
hin in der belgiſchen Frage durch die Exlaute
rungen, die er dem Ausdruck „Fauſtpfand“
zuteil werden läßt. Es müſſen, fo heißt es
nunmehr, alle Gefahren ‚befeitigt‘ ſein,
ehe dieſes Fauſtpfand herausgegeben werden
kann. Oieſe Gefahren werden dann nach
ihrer militäriſchen und wirtſchaftspolitiſchen
Seite hin umſchrieben und ihre Beſeitigung
nur durch enge Beziehung“ und ‚Derftän-
digung“ mit Belgien als moglich hingeſtellt.
Eine Loslöſung Belgiens von der ihm von
England und Frankreich drohenden Gefahr iſt
die Grundformel jeder Verſtändigung mit
Belgien. Hiermit iſt geſagt, was gejagt wer-
den mußte.
Es bleibt nun noch übrig, die bedauerliche
Tatſache feſtzuſtellen, daß die zuerſt ver-
öffentlichte Auslaſſung des Kanzlers in Wirk-
lichkeit die zuletzt abgegebene und damit nach
allgemeinem Rechtsbrauch gültige iſt. Dieſe
Auslaſſung ſteht aber in Widerſpruch zu der
obigen Veröffentlichung. Der Kanzler hat
das Wort, um dieſen Widerſpruch aufzu-
klären .,.
Immerhin hat der Kanzler nicht nur dem
Sinne nach, ſondern auch mit ausd rücklichen
Worten, als ſelbſtverſtänd lich betont,
daß von einer Aufgebung unſeres wert-
vollſten Fauſtpfandes Belgien gar nie-
mals die Rede ſein könne, bevor nicht
die von uns als notwendig erkannten
Sicherungen unſerer zZntereſſen ge
ſchaffen ſeien, und zwar Sicherungen nicht
nur militäriſcher, ſondern auch wirtfchaft-
licher Art. Der Kanzler ſetzt bei alledem alſo
nicht nur auch militäriſche Sicherungen als
ſelbſtverſtänd lich voraus; er ſtellt fie vielmehr
allem anderen voran, auch den gewiß
wichtigen wirtſchaftlichen Intereſſen. Veſſen
Sache es aber ausſchließlich ſein wird, Art
und Maß militäriſcher Sicherungen für
Deutſchland zu beſtimmen, darüber kann in
Mitteleuropa und in aller übrigen Welt wohl
kein Zweifel ſein.“
Verantwortlicher und Hauptſchriſtlelter: 3. E. Freiherr von nn e Bildende Kunſt und Muſik: Dr. Rari Stoci
Alle Nuſchriſten, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Behlendort-Berlin ( aumſerbahn)
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
+ 665 B
%%, / N
e N
an I BG
6%
5:
ur
—
—
9 — —
——
—
II
9,
„„I.
|
0
Sibirien und das oſtaſiatiſche Problem
Von Dr. Freiherrn von Mackah 7
Pioniere! Pioniere! f
Hinter uns liegt das Vergangene,
Vor uns eine neue, weitere Welt, reizvollere,
Friſch und ſtark ergreifen wir ſie, Welt der Mühſal und des Marſches !
Pioniere! Pioniere!
7 n dieſen Verſen hat einſt Walt Whitman, der Dichter und Träumer
von der Zukunftsgröße des Sternenbannerreichs, den Geiſt des
Nordamerikanertums, ſeinen Tatendrang und ſeine Wanderluſt
erſten Rangs emporringt, auf Sibirien? Die tragiſche Geſchichte des großen
aſiatiſchen Länderblocks zwiſchen dem Aral und dem Ochotskiſchen Meer reicht,
in nur zu vielen Richtungen an die Art der Eroberung Amerikas durch die ſpaniſchen
Konquiſtadoren erinnernd, bis in das dunkelſte Mittelalter zariſcher Machtherr-
lichkeit. Die Petersburger Archive breiten tiefe Verſchwiegenheit über die Greuel
der erſten „friedlichen Durchdringung“ des Landes, als in deſſen weite Räume
ſich Heere von Verbannten in bunter Zuſammenwürflung, beſtehend aus Weiß“,
Rot- und Kleinruſſen, Seutſchen, Polen, Litauern, Eſten, Finnen, Kaukaſiern,
kurz allen Parteien der zariſchen Völkerherberge ergoſſen und in verzweifeltem
Der Türmer XX. 22 z “ | 28
> gekennzeichnet: paſſen fie heute, da die „Neue Welt“ bereits zu
altern beginnt, nicht beſſer auf ein Land, das in Aſien als ein anderes Amerika
ſich mitten in den Kriegsſtürmen zu politiſcher und weltwirtſchaftlicher Bedeutung
E
ur.
454 Maday: Sibirien unb das oftaflatifche Problem
Selbſterhaltungskampf teils die eingeſeſſenen Stämme verdrängten, teils ſich mit
ihnen vermiſchten. Die Wirkungen des Abſtoßungs- und Angleichungsprozeſſes
waren ſehr eigentümlicher Art. Die halbwilden Steppenvölker zogen ſich in un-
wirtliche Berggegenden zurück und nahmen in ihre Einſamkeit gleichſam als
veſtaliſche Herdglut nichts als tiefen Haß gegen das Moskowitertum mit. Das
zugeſtrömte Europäertum aber vertrat eine höhere Geſellſchaftsſtufe und Bildung
als das Großruſſentum; in ausgewechſelter Form wiederholte ſich die Geſchichte
des Chanats Kaſan, wo einſt die Wolgabulgaren eine Hochburg iſlamiſcher türkifch-
tatariſcher Geſittung ſchufen, deren Gewerbe- und Kunſtblüte wie wiſſenſchaft⸗
lichen Leiſtungen die Moskowiter nichts Gleichwertiges entgegenzuſetzen hatten.
Nach der erſten Umwälzung von 1905 begann zugleich mit der Stolipinſchen Agrar-
reform die ſyſtematiſche Anſetzung von Bauern in Sibirien, um dort, wie der Mi-
niſterpräſident ſich ausdrückte, eine „regierungstreue Landbevölkerung“ zu ſchaffen;
die Menge der Umgeſiedelten erreichte die Höchſtziffer von 664000 im Jahre 1908,
um dann ſchon 1910 auf die Hälfte zurückzuſinken, während die Zahl der Rüd-
wanderer ſeit 1905 von 3600 Köpfen unaufhaltſam bis zum Zwölffachen dieſer
Summe ſtieg. Schon dieſe Feſtſtellung iſt das lautredende Zeugnis der Tatſache,
wie wenig der ruſſiſchen Regierung eine bodenſtändige Feſtwurzelung der Um-
geſiedelten gelungen iſt. Das Endergebnis des mit fo großen Hoffnungen be-
triebenen Kulturwerks war tatſächlich kein anderes, als daß in Weſtſibirien ein
unter ärmlichen Verhältniſſen dahindämmerndes Arbeiterproletariat ſich zu-
ſammenballte, daß in Mittelfibirien dank der überlieferten weitflächigen Raub-
wirtſchaft des ruſſiſchen Bauern ſchon um die Jahrhundertwende kaum Siedelungs-
land mehr frei war und das Schreckgeſpenſt des Landhungers um ging, während
in Oſtſibirien nach dem mandſchuriſchen Krieg der japaniſche Koloniſt und vorab
der chineſiſche Kuli als überlegener Wettbewerber ſich erwies. Man kann ſich hier-
nach ohne weiteres denken, in welche Lage das großruſſiſche Kolonialland geriet,
als ihm mit dem Kriegsbeginn alle waffenfähigen Männer entzogen wurden und
dieſer „Generalſtreik der Arbeitsfähigen“ mit der Länge der europäiſchen Kämpfe
immer weiter ſich ausdehnte. Ein zuverläſſiger Boden für die Entwicklung vater-
ländiſcher Gefühle, ftaatliher Ordnung und Anhänglichkeit an das Mutterland
fehlte, dafür war ein Ackerfeld beſtellt, auf dem der anarchiſtiſch gefärbte Sozialis⸗
mus ebenſo gut gedeihen mußte wie im engeren Umkreis der Petersburger Macht-
haberſchaft. In Tomsk und Irkutsk bildeten ſich „nationale“ ſibiriſche Regierungen,
die aber nichts anderes ſind als Bauern- und Soldatenklubs nach dem Vorbild
der Petersburger Sowjets und mit dementſprechenden Leiſtungen: es wird viel
geredet und in ſozialiſtiſchen Theorien regiert, aber in der Praxis lediglich der
kümmerliche Reſt früherer Ordnung zerſtört und durch „fliegende Agrarkomitees“
das echte alteinſäſſige ſibiriſche Bauerntum, das niemals hörig war und ſich zum
Teil eine verhältnismäßig große Wohlhabenheit bewahrt hat, von Haus und Hof
getrieben. f |
Sibirien iſt fünfundzwanzigmal größer als Deutſchland; feine Bevölkerung
aber zählt nur 8,5 Millionen Köpfe, wovon die Hälfte in der Zeit ſeit 1905 einge-
wandert iſt, während es mit den landwirtſchaftlichen und induſtriellen Kräften
Mackay: Sibirien und das oftaflatifhe Problem ö 435
und Schätzen feines Bodens, gering gewertet, das Dreifache der Menſchenmaſſe des
Deutſchen Reichs ernähren könnte. Rußland ſteht vor dem endgültigen Fiasko
jeiner Politik, die dieſes Rieſengebiet zu einem geſchloſſenen, ganz Alien beherrſchen-
den Bollwerk ſeiner Machtherrlichkeit machen wollte; „ein großer Aufwand,
ſchmählich, iſt vertan!“ Aber auch der Yankee dürfte die Erfahrung machen, daß,
mag er mit noch ſo großer Betriebſamkeit feiner Kapitalgewalt als Bauunter-
nehmer, Bergwerksſpekulant und Händler ſich vordrängen, ſich politiſch ſeinem
Marſch dieſelben Widerjtände entgegenſetzen wie beim Zug über Panama nach
Südamerika. Wie dort aus Eingeborenen, den Reſten ſpaniſcher Herrſchaft und
dem Schwemmſand eines vielfältigen Einwandererſtroms eine neue lateiniſche
Raffe ſich geformt hat, die der allamerikaniſchen Gleichmacherei mit unbeugſamem
Selbſtbehauptungswillen des Blutes ſich entgegenſtemmt, ſo hat ſich in Sibirien
aus gleichartigen Kräften und Säften das Wurzelgeflecht eines Volkstums ent-
wickelt, das in ſeiner neuen Welt ein eigenes Daſein leben und ſein Schickſal ſelbſt
beſtimmen will, fo wie einſt in den Sezeſſionskriegen das nordamerikaniſche Mutter-
land ſich auf eigene Füße ſtellte.
Heute aber richtet noch eine andere Nation begehrliche Blicke nach dem
aſiatiſchen Amerika: Japan. Die Mittelmächte haben durch die Zertrümmerung
des einſtmals weltgebietenden zariſchen Staatsweſens mittelbar für das Mikado-
reich gearbeitet und ihm vorab durch die Bedingungen des Friedensſchluſſes, daß
das geſamte ruſſiſche Heer abzurüſten habe, freie Hand für feinen Eroberungs-
drang auf dem aſiatiſchen Feſtland geſchaffen. Zugleich iſt die oſteuropäiſche Kriſe
ein neues beredtes Zeugnis für die Tatſache, wie die Entente oder vielmehr der
Rumpfverband, der heute von dem Einkreiſungs-Vielverband noch übrig iſt, in
der Unverſöhnlichkeit der inneren Gegenſätze einem Queckſilbertropfen gleicht,
deſſen Beſtandteile durch zufällige Verſchiebung der Horizontale, auf der ſie ruhen,
ſich zuſammengefunden haben, aber ebenſo ſchnell wieder auseinanderrinnen,
wenn dieſe Lage neuerdings verändert wird. Im Dezember vergangenen Jahrs
hatten Truppen der chineſiſch-mandſchuriſchen Gouverneure Charbin auf Er-
ſuchen der dort anſäſſigen ruſſiſchen Kaufleute und mit Zuſtimmung Tokios zur
Vertreibung der dort plündernden Bolſchewiken beſetzt: das war der erſte Auftakt
der heutigen oſtaſiatiſchen Kriſe. In London und Paris griff man die ſcheinbar
günſtige Gelegenheit zur Verwirklichung der Idee auf, mit Hilfe japaniſcher Divi-
ſionen ein neues ruſſiſch-ſibiriſches Staatsweſen zu ſchaffen, das den Verpflich-
tungen des Ententebündniſſes treu bleiben und die Petersburger maximaliſtiſchen
Machthaber vom Rüden aus maͤttſetzen ſollte. In Tokio ſah man natürlich den
Plan mit ganz anderen Augen an. So wenig Oeutſchland an einen Alexanderzug
quer durch Sibirien nach der Mandſchurei hin denkt, um dieſes nach den Hirngeſpin-
ſten von Lord Cecil zu „germaniſieren“, ſo weit entfernt iſt man in Tokio von der
Torheit, auf den Wegen der ſibiriſchen Bahn bis zum Aral vorzudringen; man
weiß ſehr wohl, daß keine der müſlimiſchen Völkerſchaften im Herzen Aſiens, am
wenigſten jetzt, da ihr Selbſtbewußtſein ſtärker als jemals aufflammt, die heid-
niſchen Mongolen als ihre Retter und Schutzherren begrüßen, daß alſo Japan
durch die Herausforderung der nach Selbſtändigkeit ringenden ſibiriſchen Na-
3
436 N Maday: Sibirlen und das oftaflatifhe Problem
tionalitäten lediglich in ein Weſpenneſt ſtechen und in unabſehbare Verwicklungen
ohne Erfolgsausſichten ſich eindrängen, das heißt mit ſolchem napoleoniſchen Feld⸗
zug ſich lediglich um die Früchte des bisherigen maßvoll und ſyſtematiſch betriebenen
Machtaufbaus auf dem aſiatiſchen Feſtland bringen würde. Wenn Japan ſeine
mongoliſche Monroelehre der amerikaniſchen entgegenſtellte, ſo lag der tiefere
Sinn des damit gegebenen politiſchen Kurſes im Zweck und Ziel, an Stelle des
ſchwebenden, von Europa abhängigen Gleichgewichts, das die weſtlichen Mächte
durch Einflußſphärenbildung in Oſtaſien zu ſchaffen ſuchten, ein eigenſtändiges
aſiatiſches zu ſtellen, deſſen Anordnungskraft in Tokio ruhen ſollte. Wohl hat
immer wieder bald die eine, bald die andere der Ententemächte zu ſpekulativen
Zwecken die Freundſchaft der in den Vielverbandsring aufgenommenen oſtaſiati-
ſchen Vormacht gefucht, die aber doch immer wieder erkennen mußte, wie unab-
weisliche geographiſche, raſſenpolitiſche, kulturmoraliſche Geſetze, die Lage des
Staatsweſens abſeits des europäiſchen weltpolitiſchen Zentrums und die Gegen-
ſätze von Blut- und Geſittungsgrundlagen gleich zerſetzenden baſiſchen Säuren
gegen jedes aufrichtige Einvernehmen wirkten: dieſe Tatſache tritt heute deut-
licher denn je hervor. Kato, der einſtmalige Botſchafter in London und Privat-
ſekretär Lord Greys, bekennt offen, daß „für Japan keine Urfachen zu Streitig⸗
keiten mit Deutſchland beſtänden“ und daß Tokio „nur wegen des Bündniſſes,
das eine begrenzte Teilnahme vorſah, in den Krieg eintrat“. Alſo nicht nach Wilfon-
ſchen Phraſen um des Kampfes für Völkerfreiheit, ſondern lediglich um völter-
rechtlicher Verpflichtungen willen, deren Erfüllung tatſächlich mehr auf Koſten
der Bundesfreunde als des Scheingegners geſchah, hat Japan ſein Schwert in
die Schanze der Entente geſchlagen. Wenn ſo der Vater des britiſch-japaniſchen
Bündniſſes ſpricht, ſo kann man ſich denken, wie von anderer weniger parteiiſcher
Seite geurteilt wird. Der bekannte und beredte E. 3. Dillon wies, ſehr bezeichnend
für dieſe Verhältniſſe, jüngſt in einer von der Zeitſchrift „L’Europe Nouvelle“
veröffentlichten Unterfuhung der oſtaſiatiſchen Frage auf eine Außerung des
„Schin Nippon“ hin, der meinte:
„Wer kann im geringſten bezweifeln, daß wir eines Tages der Gegenſtand
des britiſchen Neides werden? Es iſt ſicher, daß Auſtralien, Neuſeeland und die
anderen britiſchen Beſitzungen öſtlich von Indien ſtrategiſch durch den wachſenden
Einfluß Japans bedroht werden. Die britiſchen Kolonien fühlen ſich heute unter
dem Druck unſerer Militärmacht ſehr unbehaglich und die Beteiligung Amerikas
am Krieg hat die Beziehungen der zwei angelſächſiſchen Völker noch inniger ge-
ſtaltet. So wird unſere Allianz mit Großbritannien enden. Das neue ſozialiſtiſche
Rußland wird den Frieden in Oſtaſien nicht mehr ſtören, und Großbritannien wird
die Hilfe Japans nicht mehr brauchen. Nach dem Krieg wird es in Übereinftimmung
mit den Vereinigten Staaten alle ſeine Kräfte auf den Kampf gegen die gelbe
Gefahr hin ſammeln. .. Die Raſſenvorurteile find unüberwindbar. Japaner,
Chineſen, Indier werden von den Angelſachſen immer als tiefſtehende Veſen
empfunden werden. Dieſe drei Völker müſſen daher einen Bund ſchließen.“
Und Dillon ſelbſt führt dazu warnend aus: Durch die Politik der Vereinigten
Staaten und der britiſchen Kolonien werde der Raſſengegenſatz auf das ſozial⸗
Madap: Sibirien unb das oſtaſiatiſche Problem | 437
wirtſchaftliche Gebiet übertragen, um hier, indem die Japaner, Chineſen, Hindus von
den Angelſachſen mit den niedrigſten Völkern auf eine Stufe geſtellt würden, ein
Feuer leidenſchaftlicher Gegenſätze zu entzünden, deſſen politiſche Folgen „bis ans
Ende der Dinge“ beharren würden. Dagegen ſtänden die Japaner in ihren ethiſchen,
politiſchen und ſtaatlichen Anſchauungen den Deutſchen unendlich näher als den
engliſch ſprechenden Nationen, daher es nur natürlich ſei, daß ſie immer wieder
bewundernde Blicke auf dieſes Deutſchland würfen, das heute gegen die Welt
ſiegreich kämpfe. Wie zutreffend dieſe Kritik iſt, zeigt ſich darin, daß, mit der Dauer
der Kriegskriſe die Zwieſpältigkeit der öſtlichen Politik des Vielverbands immer
größer wird. Die neue ſogenannte japaniſch-chineſiſche Militärkonvention richtet
im Grunde ihre Spitze ſehr viel weniger, wie amtlich angekündigt wird, gegen
Deutſchland als gegen England und die Vereinigten Staaten, die dadurch aus
ihren Einflußgebieten im Reich der Mitte hinausgedrängt werden ſollen. Frank-
reich will von dem Paktieren mit dem „verräteriſchen Rußland“ nichts wiſſen,
weil es keinerlei Vorteile davon ſich zu verſprechen hat. Wilſon möchte den Weifun-
gen Tafts folgen, der feierlich erklärte, „die Vereinigten Staaten müßten nach
Rußland gehen, um die Oſtfront wiederherzuſtellen“, kann aber für die praktiſche
Durchführung dieſes Plans zu keinerlei Einigung mit England kommen, das ſeine
eigennützige Politik an der Murmanküſte und in Perſien verfolgt und ſehr wohl
weiß, daß jedes Auftreten amerikaniſcher Macht auf aſiatiſchem Boden als Spreng-
mittel gegen das Vertragen mit Japan wirkt. So bleibt die Nemeſis den Entente-
Brandſtiftern wie in der Alten, ſo auch in der oſtaſiatiſchen Welt an den Gurten.
Die Behauptung, daß ein zerſchlagenes Rußland die Auslieferung Aſiens an unſere
Feinde bedeute und Deutfchland mit neuer Vereinſamung bedrohe, iſt ein Schlag-
wort, deſſen Wahrheitsgehalt bei näherer Prüfung ſich als ſehr gering erweiſt
und jedenfalls irgendwelche Wirklichkeitsbedeutung nur für denjenigen haben kann,
der kleingläubig nicht der gewiſſen Zuverſicht iſt, daß die errungene Rückenfreiheit
in Oſteuropa uns einen Sieg im Weſten und an der flandriſchen Küſte derart ver-
bürgt, daß an der entſcheidenden Stelle Breſche in die Alleinherrſchaft Albions
über die Meere gelegt wird. Wollte Japan bis tief ins Herz Inneraſiens vorrücken,
jo würde damit wohl England berechtigter Schrecken in der Sorge um Indien in
die Glieder fahren, könnten aber die Mittelmächte noch immer gelaſſen der Ent-
wicklung der Dinge zuſehen. Denn je mehr die japaniſche Macht ſich in der Tiefe
des aſiatiſchen Raumes verankerte, deſto ſchärfer müßte ſich der Gegenſatz zwiſchen
ihr und den übrigen Verbandsmitgliedern zuſpitzen, deſto mehr wäre fie in Rückſicht
auf dieſe wie auf die Verhältniſſe in China darauf angewieſen, in irgend einer
Form einen Vergleich mit den Mittelmächten anzuſtreben, um nicht gerade in der
Zeit ſchickſalsſchwerſter Entſcheidungen neuerdings der politiſchen Vereinſamung
anheimzufallen, deren Gefahren abzuwenden die ſtete, ſchwerſte und wie ein roter
Faden durch alle politiſchen Kriſen ſich ziehende Sorge Sotoſchiros ſeit der erſten
Berührung mit den abendländiſchen Mächten geweſen iſt. Japan kann nicht ver-
kennen, wie der Vierbund entgegen den Erwartungen der erſte Machtfaktor in
Weſtaſien mit unausbleiblichen Rückſtoßwirkungen nach dem fernen Oſten hin zu
werden auf dem Wege iſt: dieſe Tatſache wird Tokio zur weiteren Einſicht zwingen,
| 438 Koppin: Sommerſeele
daß die fo maßvollen Anſprüche Deutſchlands, mit dem gemeinſam es um die
Befreiung der Welt vom britiſchen Druck kämpft, zur Machtbehauptung wohl-
erworbenen Beſitzes in der Südſee als Stütze unſeres Handels und eines vernünfti-
gen Gleichgewichts im Bereich der pazifiſchen Machtſphäre Japans wohl ver-
ſtandenen Intereſſen nicht widerſprechen, ſondern förderlich ſind. Die große Linie
der Politik Deutſchlands freilich deutet nach wie vor nicht nach Tokio, ſondern nach
Peking. Jeder, der in Oſtaſien Lebenserfahrungen geſammelt hat, weiß, daß
entgegen dem Schein der gegenwärtigen Verhältniſſe in Wirklichkeit nicht das Reich
der zehntauſend Inſeln, ſondern China das oſtaſiatiſche Land der Zukunft iſt.
Unter den vielen Anſatzſchwächen der Taktik Tokios ſteht an erſter Stelle die grund-
legende Verkennung der Tatſache, daß große, in den Tiefen jahrtauſendlanger
Geſchichte, in altüberliefertem geſellſchaftlichem und kulturſittlichem Gemeinbürg-
ſchaftsgefühl verankerte Staaten vom Gepräge des Reichs der Mitte wohl Zeiten
der Ohnmacht haben, ſich aber von ſolchen Schwächeanfällen immer wieder, ihre
Gegner überraſchend und deren Leitſeil abſchüttelnd, vermöge der natürlichen,
nicht zu entwurzelnden körperlichen, politiſchen und moraliſchen Innenkräfte
erholen. Das als kranker Mann verſpottete osmaniſche Reich iſt ein lautredendes
Zeugnis deſſen, und China wird aller Vorausſicht nach in gemeſſener Zeit und —
hoffentlich! — in Stütze auf dieſelben Machthilfen, welche die Türkei emporge-
hoben haben, ein neues Beiſpiel dieſer Wahrheit werden.
s
en
Sommerſeele . Bon Richard O. Koppin
Blau hat der Himmel Seiden ausgeſpannt
And ſie mit Flimmer feſtlich überflutet,
Das Kornfeld flammt, von rotem Mohn durchglutet,
Und trunkne Träume taumeln durch das Land.
Die Königskerzen leuchten ſtolz und hehr,
Als trügen ſie das Land, darauf ſie ſtehen,
Schon ſeit Jahrhunderten zu Erb' und Lehen —
Und aus den Wieſen haucht es ſchwül und ſchwer.
Weich harft der Wind ein mittagmüdes Lied,
So märchenleis, oft traumhaft unterbrochen,
Und manchmal nur gemahnt ein fernes Pochen,
Wie Stund“ um Stunde aus dem Tag entflieht.
Und ſonnenſelig ſchließt ſich jeder Blick,
Und jede Seele ſchwillt zu reifer Fülle,
Und jede Sehnſucht ſenkt die letzte Hülle
Erwartungsvoll dem großen Sommerglüd.
v
Schmitt: Wie ich die Wunſchfee interviewte 439
Wie ich die Wunſchfee interviewte
Von Askan Schmitt
ie hübſche Hilfsfee, die mir auf mein Klingeln öffnete, erklärte zwar
2 beſtimmt, die Wunſchfee ſei für keinen Menſchen mehr zu ſprechen,
= 7 M aber ſo leicht läßt ſich ein Journaliſt, der interviewen will, nicht ab-
s weiſen. Ich ſagte etwas von einer außergewöhnlichen Veranlaſſung
und bat, wenigſtens meine Karte hereinſchicken zu dürfen.
Nein, war die Antwort, ſie dürfe leider auch keine Karten mehr annehmen.
„Ganz recht,“ antwortete ich, „ich kann mir ja denken, wie Ihre Herrin
unliebſam überlaufen wird. Aber ich bemerke, daß ich nicht als Privatbeſuch,
ſondern als Vertreter der Preſſe komme. Wollen Sie das wenigſtens beſtellen?“
„Tut mir herzlich leid, aber ich muß ausnahmslos jeden Beſuch abweiſen,
und wenn es Prinzen regierender Häuſer wären.“
„Alle Hochachtung vor Prinzen regierender Häuſer, aber immerhin: ſie ſind
doch nur Einzelmenſchen. Aber Vertreter der Preſſe, das iſt wohl etwas anderes.
Alſo bitte, liebes Kind, melden Sie mich ruhig an; ich übernehme die Verant-
wortung.“
Angemeldet wurde ich zwar immer noch nicht, hatte aber durch meine
Hartnäckigkeit zunächſt erreicht, die Wunſchfee wenigſtens zu ſehen zu bekommen.
Mit erzürnter Miene trat ſie aus dem Hintergrund und ſagte: „Sie ſcheinen ja
noch aufdringlicher zu ſein als die anderen. So hören Sie denn von mir ſelbſt,
daß ich grundſätzlich keine Wünſche mehr erfülle, grundſätzlich nicht, mein Herr.“
„Aber gnädige Frau,“ antwortete ich, „ich kam doch gar nicht, um einen
Wunſch auszuſprechen.“
Die Wunſchfee ſah mich verwundert an und ſchien zu denken: So etwas
iſt mir doch noch nicht vorgekommen. Ihre Neugierde war offenbar erregt. „Wenn
ich Sie nun wirklich vorlie ße,“ ſagte ſie, „könnte ich mich wenigſtens feſt darauf
verlaſſen, daß Sie es niemandem erzählten?“
„Aha,“ dachte ich, „ganz wie der Fleiſcher Stöweſand, als er mir neulich
gegen ſehr gutes Geld und ſehr gute Worte ein Pfund Speck markenfrei abließ“,
und verſicherte ihr meine vollkommenſte Diskretion. Mit einer anmutigen Geſte
lud fie mich darauf zum Nähertreten ein, zum offenbaren Erſtaunen der Hilfs-
fee über die Tatſache, daß es Sterbliche gab, denen mehr gewährt wurde als
Prinzen regierender Häuſer.
„Alſo Sie wünſchen?“ fragte die Wunſchfee, nachdem ich ihr gegenüber
in einem freundlich ausgeſtatteten Zimmer Platz genommen hatte.
„Vorſicht! — eine Falle!“ dachte ich. „Denn wenn ich jetzt ehrlich ſagte,
ich wünſchte etwas über das Wünſchen der Menſchen zu erfahren, dann hätte ich
ja entgegen meiner in der Tür gegebenen Verſicherung doch einen Wunſch ge-
äußert und wäre als Lügner entlarvt.“
Es blieb mir alſo nichts übrig, als der Höflichkeit Zwang anzutun, indem ich
einer Dame auf eine Frage überhaupt nicht antwortete, ſondern das Geſpräch
449 Schmitt: Wie ich die Wunfchfee interviewte
auf andere Bahnen zu lenken ſuchte. „Gnädige Frau find aber entzückend ein-
gerichtet“, ſagte ich, mich umblickend.
„Was Sie da ſehen,“ antwortete fie, „ſind meiſtens kleine Stiftungen dant-
barer Menſchen, die es ja auch noch gibt, wenn ſie auch in der ung der Un-
dankbaren verſchwinden.“
„Der Undank der Menſchen war ſicher der Grund, der gnädige Frau zur
Einſtellung Ihrer Tätigkeit brachte?“
„Ihr Undank nicht nur, ſondern wohl noch mehr mein Arger ger ihre
Torheit. Sie glauben gar nicht, wie töricht die Menſchen ſind.“
„0 doch“, antwortete ich.
„Aber wie töricht ſie insbeſondere beim Wünſchen ſind, davon tönnte ich
Ihnen eine ganze Reihe von Beiſpielen erzählen — wenn es Sie intereſſieren ſollte.“
ich erklärte, daß mir nichts angenehmer fein würde, innerlich frohlockend,
wie ſchnell ſich mein Wunſch, noch ehe er ausgeſprochen war, erfüllen ſollte.
„Da find zunächſt“, fagte die Wunſchfee, „die Leichtſinnigen, die unüber-
legt darauf los wünſchen. Wie jenes Ehepaar, bei dem die Frau zuerſt eine Wurſt
auf den Tiſch wünſchte, der Mann dieſe Wurſt darauf aus Wut über den ſo ſchnell
verlorenen erſten Wunſch der Frau an die Naſe wünſchte und nun den dritten
Wunſch opfern mußte, um ſeine Frau von dieſer Naſenverunſtaltung wieder zu
befreien.“
„Ja, das Märchen habe ich ſchon als Kind gehört“, fagte ich. „Das an-
gebliche Märchen“, fügte ich ſchnell hinzu, denn es ſchien die Wunſchfee nicht
angenehm zu berühren, daß ich ihren Bericht als Märchen bezeichnet hatte.
„Dieſe Wurſtgeſchichte“, fuhr fie fort, „war nur ein Beiſpiel für viele, wie
die Menſchen erſt lebhaft gewünſchte Dinge wieder fortwünſchen. Ein andermal
handelte ſich's um ein Haus, wieder ein andermal um eine Frau. Zch ſag's ja:
zu töricht ſind die Menſchen. Daß ſie gewöhnlich nicht richtig handeln können, iſt
ja allgemein bekannt, aber ich erfuhr außerdem fortwährend, wie ſie noch nicht
einmal richtig zu wünſchen verſtehen. Da gibt es neben den Übereilten auch ſolche,
die aus allzu großer Bedenklichkeit verkehrt wünſchen. Dann wieder andere, die
ſich ſelber gar nicht klar ſind über das, was ſie haben wollen, nachher eigentlich
etwas ganz anderes gemeint haben wollen, als ſie geſagt hatten, und mir wegen
angeblicher Nichterfüllung zugeſagter Gelöbniſſe mit Prozeſſen drohten.“
„Das iſt allerdings ein Gipfel der Unverſchämtheit“, warf ich ein.
„Ja, ich erlebte maßches. Noch ein Beiſpiel. Ein junger Mann hatte ſich
eine ſchöne, junge, reiche und liebenswürdige Frau gewünſcht und ſie auch be⸗
kommen. Gar nicht ſo ſehr lange danach ſuchte er mich auf und erklärte mir mit
impertinenter Miene, das wäre ja ein nettes Frauenzimmer, das ich ihm ge
liefert hätte: feine Frau wäre ihm ſchon untreu geworden. ch erinnerte ihn daran,
daß er ſich zwar eine ſchöne, junge, reiche und liebenswürdige Frau gewünſcht,
aber von Treue kein Wort geſagt hätte. Die Treue verſtände ſich doch von felber,
antwortete er darauf. „Wie Sie geſehen haben,“ entgegnete ich ihm, ‚ift das doch
nicht der Fall.“ Darauf wurde er wieder ungezogen und rief mir zu, ich ſchiene
ja reizende Grundſätze zu haben. Ich verſichere Ihnen, mein Herr, daß ich per⸗
Schmitt: Wie ich die Wunſchfee interviewte | 441
jönlich die Treue hochhalte und meinem Mann ſtets treu bleiben würde, wenn ich
verheiratet wäre. Aber was hat denn die einfache Feſtſtellung einer bedauerlichen
Tatſache mit meinen Grundſätzen zu tun?“
„Ich begreife jetzt, gnädige Frau, wie Ihre Erfahrungen Sie allmählich
zur Peſſimiſtin machen mußten“, ſagte ich hierauf.
Aber die Wunſchfee ſchien ſich doch nicht ohne weiteres auf eine peſſimiſtiſche
Weltanſchauung feſtnageln laſſen zu wollen, ſondern fuhr fort: „Ich will nicht un-
gerecht ſein, hier und da erlebte ich auch Schönes. Ich erinnere mich da eines
reizenden ſiebenjährigen Mädchens, das ich im Garten ſpielend traf. Ich kam
ins Geſpräch mit ihm und ſagte, ich wäre die Wunſchfee. Ein Erwachſener würde
vermutlich geantwortet haben, das könnte jeder ſagen und müßte erſt durch die Tat
bewieſen werden, ehe es geglaubt werden könnte. Aber das Kind glaubte mir
ohne weiteres auf mein ehrliches Geſicht. Ich ſtellte ihm drei Wünſche frei. Es
wünfchte ſich eine Puppe mit Rlappaugen, eine Tüte Pralinés und einen Laub-
froſch und ſtrahlte vor Glück, als es die Erfüllung ſeiner beſcheidenen Wünſche
vor ſich ſah. Das war einmal eine reine Freude. Leider war ſie nicht von langer
Dauer. Denn als ich das Kind nach kurzer Zeit wieder ſah, ſtrahlte es nicht mehr,
ſondern ſchien recht bedrückt.“ N
„Das kleine Mädchen hatte alſo auch ſeine Wünſche inzwiſchen bereut“,
ſagte ich. N |
„Sind Sie verheiratet?“ fragte die Wunſchfee.
„Bis jetzt noch nicht.“ | |
„Ich dachte es mir, wegen Ihres mangelnden Verſtändniſſes des kindlichen
Seelenlebens. Bereut hatte mein kleines Mädchen gar nichts. Im Gegenteil:
es hatte überall triumphierend ſein Glück verkündet. Aber törichte Menſchen hatten
ihm darauf den Erfolg ſeiner Begegnung mit mir verekelt. Zunächſt die lieben
Eltern. Die hatten es heftig ausgeſcholten, daß es ſie nicht erſt um Rat gefragt,
denn dann würden ſie ihm klargemacht haben, wie viele wichtigere und höhere
Dinge es im menſchlichen Leben gibt als Puppen, Naſchwerk und Fröſche. Dann
die älteren Geſchwiſter. Die hatten es ausgelacht, weil es ſich nicht viel Geld ge-
wünſcht hatte, dafür hätte es ſich doch einfach alles kaufen können, was es haben
wollte. Ich tröſtete das Kind, ſo gut es ging, und ermahnte es ernſtlich, von ſeiner
Erfahrung zu lernen und künftig in ſeinem Leben über erfüllte Herzenswünſche
möglichſt zu ſchweigen. — Wenn doch die Menſchen ſich immer nur um ihre eige-
nen Angelegenheiten kümmern wollten, anſtatt die anderer zu kritiſieren! — Eine
ähnliche Torheit iſt es auch, wenn man jemandem Wünſche freiſtellt und er dann
ſolche nicht für ſich, ſondern für andere ausſpricht.“
„Das kommt auch vor?“ fragte ich erſtaunt.
„Ofter, als Sie denken“, antwortete die Wunſchfee. „Was glauben Sie wohl,
was in der letzten Zeit allein den Engländern an Prügeln gewünſcht wurde. Es
war wirklich eine ganze Menge, mein Herr.“
„Das dürfen Sie den Deutfchen nicht fo übelnehmen, gnädige Frau.“
„Den Patriotismus der Oeutſchen in allen Ehren. Geſtatten Sie aber der Ob-
jektivität halber die Bemerkung, daß es auch Oeutſche gibt, die Prügel verdienen.“
442 Schmitt: Wie ich die Wunſchfee intervlewte
„Mir aus der Seele geſprochen, gnädige Frau. Gewiſſe — — —“
„Ach bitte nichts von Politik!“ unterbrach mich die Wunſchfee. „Übrigens,
Politik — Da kann ich Ihnen gleich wieder ein ärgerliches Beiſpiel aus meiner
Praxis erzählen. War da ein Mann aus guter Familie, begütert, gebildet, glüd-
lich verheiratet, hatte eigentlich alles, was ein Menſch ſich nur wünſchen kann,
auch viel freie Zeit, das war vielleicht fein Unglück. Alſo kurz und gut: der Mann
wünſchte ſich ein Reichstagsmandat. Was habe ich ihm abgeraten! Aber nein!
Ich hätte ihm nun doch einmal verſprochen, feinen Lieblingswunſch zu erfüllen,
und müßte nun mein Verſprechen auch halten. Was blieb mir übrig? Er kriegte
alſo ſein Mandat — —“
„Nun, und?“
„Seitdem grüßt mich der Menſch nicht mehr.“
„Je länger ich Ihnen zuhöre, gnädige Frau,“ nahm ich wieder das Wort,
„deſto erklärlicher wird es mir, daß Sie zur Einſtellung Ihres ſchönen bisherigen
Berufs kamen, ſo ſchmerzlich es auch für die Menſchheit ſein mag.“
„Nicht nur für die Menſchheit“, antwortete die Wunſchfee. „Sch leide ſelber
darunter. Denn eigentlich“ — und ein äußerſt anmutiges Lächeln verklärte ihre
Züge —, „eigentlich erfülle ich ſehr gerne Wünſche.“
„Aber wenn dem ſo iſt,“ ſagte ich, „ſollten ſich gnädige Frau doch nicht ſelbſt
ſtrafen und ſich wenigſtens die Spenderfreude nicht ſolchen gegenüber verſagen,
die einen weiſen Gebrauch von Ihrer Güte machen würden.“
„Und zu denen rechnen Sie ſich natürlich ſelber?“ fragte die Wunſchfee,
halb ironiſch und halb ermutigend lächelnd.
ich ignorierte das Froniſche und antwortete: „Gnädige Frau könnten ja
einmal einen Verſuch machen.“
Sie ſah mich an und ſagte: „Na alſo — natürlich nur der Wiſſenſchaft halber
und ohne jede Verpflichtung für mich —: was würden Sie denn wünſchen, wenn
Sie jetzt drei Wünſche frei hätten?“
„Ehe wir fortfahren, gnädige Frau, muß ich Ihnen ein Geſtändnis machen.“
„Ein Geſtändnis?“
„Ich habe Ihnen bereits die Erfüllung eines Wunſches abgeliſtet. Sch hatte
den Wunſch, etwas über das Wünſchen der Menſchen zu erfahren, und der wurde
mir ja jetzt in ſo liebenswürdiger Weiſe von Ihnen erfüllt.“
„And was würden Sie zum zweiten wünſchen?“
„Der zweite Wunſch wäre die Entbindung von einem Verſprechen. Ich
hatte gnädiger Frau verſprechen müſſen, von der Tatſache der heutigen Audienz
niemandem Kenntnis zu geben. Da ich es aber ſtets für gut halte, die Menſchen
zur Einſicht ihrer Torheit zu bringen, möchte ich ergebenſt darum bitten, von dem
heute von Zhnen Gehörten Gebrauch machen zu dürfen.“
Sie wurde nachdenklich und ſagte: „Hierauf einzugehn ſcheint mir nicht
wünſchenswert, denn ich würde bald wieder von neuem überlaufen werden,
wenn es herumkäme, daß ich Sie empfangen.“
„Aber dem könnte ja gerade ein Riegel vorgeſchoben werden, indem ich
in meinem Bericht gnädige Frau erklären ließe, Sie hätten mir als einem Ver⸗
Leffler: Einem Toten 445
treter der Preſſe dieſe ausnahmsweiſe Unterredung nur bewilligt, um die breitefte
Öffentlichkeit wiſſen zu laſſen, daß Sie Ihre Tätigkeit gänzlich und unwiderruf-
lich eingeſtellt haben.“
„Ja, das iſt aber auch wahr“, antwortete fie. „Alſo ich bin einverſtanden
mit Ihrer Abſicht, fie liegt ja ganz in meinem Intereſſe. Und nun der dritte
Wunſch! — Sie brauchen wohl etwas Zeit zur Überlegung?“ fuhr ſie fort, als
ich nicht ſogleich antwortete.
„Das eigentlich nicht. Nur — verzeihen Sie — ein kleines Bedenken, einen
Appell an Ihr Billigkeitsgefühl. Sie erklärten mir, die Bekanntgabe meines
heutigen Interviews läge in Ihrem Intereſſe. Wäre es da ganz gerecht, mit
der Erfüllung dieſes Wunſches mein Wunſchkonto zu belaſten?“
„Sie ſind ein unglaublicher Menſch. Alſo meinetwegen. Der Wunſch ſoll nicht
zählen. Tun Sie alſo jetzt den zweiten. Zetzt bin ich aber wirklich neugierig.“
Sie ſah bezaubernd aus in dieſem Augenblick. Ich wollte ſchon etwas ſehr
Kühnes wünſchen, entſchloß mich aber doch vorläufig zur Beſcheidenheit und ſagte
nur: „Daß ich einmal wiederkommen darf!“
„Gut. Sie ſollen Ihrem zweiten Wunſch entſprechend noch einmal wieder-
kommen dürfen. Und nun den dritten. Aber — die Zeit iſt ſchon etwas vorgerückt —
bitte keine allzulange Überlegung. Es kommt dadurch auch gar nicht immer das
Beſte heraus.“
„Den dritten Wunſch, gnädige Frau, werde ich mir erlauben Ihnen bei
dem mir gütigſt bewilligten neuen Beſuch zu Füßen zu legen.“
Damit erhob ich mich. „Auf Wiederſehen!“ ſagte die Wunſchfee. Ich küßte
eine feine Frauenhand. Die Audienz war beendet.
ich habe dann unmittelbar unter dem friſchen Eindruck des Gehörten den
Bericht niedergeſchrieben, den der geneigte Leſer im vorſtehenden vor ſich hat.
Hinzuzufügen erlaube ich mir noch, daß ich den neuen Beſuch bald machte, den
mir noch freiſtehenden dritten Wunſch äußerte und die gütigſte Gewährung fand.
Von einem näheren Eingehn auf dieſe Unterredung und ihre Folgen für mich
glaube ich jedoch abſehen zu dürfen, da an das Privatleben auch eines Zourna-
liſten die Offentlichkeit keinen Anſpruch hat.
Einem Toten Von Eliſabeth Leffler
Was du mir einſt geſagt, iſt längſt verrauſcht.
Sch habe viel werbenden Worten gelauſcht
Seither.
Doch keines hat ſo heiß, ſo ſchwer
Und ſo zwingend und dringend um mich geworben
Wie der flehende Blick, mit dem du geſtorben. —
ar
444 Gr.: Nervenzufanmenbrühe als Grundlagen deutſcher Politik
Nerbenzuſammenbrüche als Grund⸗
lagen deutſcher Politik
| Von F. E. Frhrn. v. Gr.
eeelle Schlaglichter in die Hohlräume unſerer Politik bis zum Auszuge
(_ IN \ > Kühlmanns wirft ein Aufſatz von Georg Cleinow in den „Grenzboten“
X )} 7 (19. Juli 1918). Um die darin geoffenbarten Schönheiten bis auf
— den Grund auszukoſten, muß man ihn mit dem aufmerkenden Ver-
ſtändnis des Kenners und nur langſam und beſinnlich ſchlürfen. Cleinow führt aus,
wie das Mißgeſchick unſerer Diplomatie vor dem Kriege fie doch nicht habe ver-
hindern können, auch nach dem Abbruch der diplomatiſchen Beziehungen einen
ſtarken Einfluß auf die Führung der Geſamtpolitik auszuüben; wie die Ara Falken“
hayn in der Oberſten Heeresleitung (1915) ihr eine den Kriegsverhältniſſen nicht
ganz angepaßte Ausbreitungsmöglichkeit gegeben habe; und wie dieſer erſt ein
Ziel geſetzt werden konnte nach neuen unzweifelhaften Mißerfolgen bei um ſo
einſchneidenderen militäriſchen Erfolgen:
„Dieſe Entwicklung, die durch die Verhältniſſe des Koalitionskrieges ſowie
durch die jahrelange Erziehung der Diplomaten zu einer taſtenden Methode
in der Politik eine naturgemäße Förderung erhielt, hatte nun im Gefolge, daß
das tatſächlich vorhandene gewaltige politiſche Kriegsziel, die Zertrümmerung
des feindlichen Ringes unter ihren Händen zu zerflattern drohte und ſich
an ſeine Stelle der Wunſch zu ſchieben begann, den Krieg ſo ſchnell wie möglich
zu beendigen. Unjere Maßnahmen in Polen und die einleitenden Sitzungen der
Friedensverhandlungen zu Breſt ſtanden unter dem Zeichen ſolcher Inkonſequenz.
Die diplomatiſche Auswertung der Siege im Oſten iſt durch die Friedensſchlüſſe
und die Schaffung neuer Staaten zwar eingeleitet, aber weder in Polen, noch
in Finnland, Rumänien, in der Ukraina und Moskau ſichergeſtellt: keiner der ge-
nannten Staaten iſt fo feſt in unferer Hand oder ſo eng mit unſerem Wohlergehen
verbunden, daß er genötigt wäre mit uns zu ſtimmen, wenn etwa morgen all-
gemeine Friedensverhandlungen beginnen ſollten. Schon 1916 wurden wichtige
Fauſtpfänder, die wir von Rußland in Polen erobert hatten, durch die berühmte
Novemberakte preisgegeben. Alles, was wir ſeitdem erreichten, ruht noch
auf der Spitze unſerer Bajonette.
Die ſcheinbare Fruchtloſigkeit der militäriſchen Erfolge in politiſcher Be-
ziehung führte im Sommer 1917, der überdies durch die Ernährungsfchwierig-
keiten ſtark belaſtet war, jenen Nervenzuſammenbruch in Berlin herauf,
der in der Reſolution der Reichstagsmehrheit vom 19. Zuli feinen un-
erfreulichen, die Kraft der Feinde belebenden Ausdruck fand. Hatte die Ver-
abſchiedung des Herrn von Bethmann Hollweg auch ſchon die Luft wohltuend
erfriſcht, ſo fand der Zerſetzungsprozeß an der inneren Front doch erſt ein Ende
durch den Rücktritt der Regierung Dr. Michaelis und die Übernahme des Reichs-
Gr.: Nervenzufammenbrüche als Grundlagen deutſcher Politit 445
kanzlergeſchäfts durch den alten Zentrumsführer und gewiegten Parlamentarier,
den Grafen Hertling.
In jener Übergangszeit von Bethmann zu Graf Hertling hat der damalige
Leiter des Auswärtigen Amtes, der Staatsſekretär Pr. von Kühlmann, eine
nicht zu unterſchätzende Vermittlerrolle zwiſchen der Regierung, der Oberſten
Heeresleitung und den Parteien des Reichstages geſpielt; er hat ſich dabei um ſo
mehr das Vertrauen der Linken erwerben können, als er ſich nicht ſcheute dahin
zu wirken, daß das ganze innerpolitiſche Programm Bethmann Holl-
wegs von der Regierung Hertling übernommen wurde. Ohne Frage hat
dieſe Taktik, wenn ſie lediglich unter dem einen Geſichtspunkt der vorläufigen
Befriedigung der Linken und der vorübergehenden Stärkung der inneren
Front betrachtet wird, gewiſſe Erfolge gezeitigt. Die Übernahme der Reichskanzler
geſchäfte durch den Grafen Hertling bedeutete für den damaligen Augenblick eine
ſtarke innerpolitifche Entlaſtung, und feine ruhige, vornehme, Vertrauen heiſchende
Geſchäftsführung hat ſich wiederholt bewährt. Die Feſtigung der inneren Front
ging um ſo leichter von ſtatten, als bald auch die großen militäriſchen Siege in
Italien die Stimmung allenthalben neu belebten und während des Winters
Ernährungsſchwierigkeiten, wenigſtens in Oeutſchland, nicht eintraten.
Herr Graf Hertling legte ſich damals, am 29. November, der Reichstags-
mehrheit gegenüber auf jenes Programm feſt, als deſſen Träger in den Augen
der Linken Herr von Kühlmann galt. Das war der Angelpunkt zu Kühl-
manns Stellung im Reichstag. Darum war es auch kaum zu vermeiden,
daß die Stimmung wieder abzuflauen begann, als die Friedensverhandlungen
in Breſt-Litowſk jene gewaltſame Korrektur erfuhr, die ſich äußerlich an den
Namen des Generals Hoffmann knüpfte; auch die großen militäriſchen Erfolge
des abgelaufenen Frühjahrs vermochten ſie nicht oder doch nur ſehr vorübergehend
zu beleben. Die Unerfreulichkeiten des Monats Zuni, die ſehr grelle Schlaglichter
auf die Verhältniſſe bei unſerem Bundesgenoſſen an der Donau warfen, ſchienen
ſie völlig umzuwerfen. Die nationalen Parteien waren empört durch die Art,
wie die Verhandlungen geführt wurden, die Linke dagegen beleidigt, daß wir
in Breſt-Litowſk nicht ohne weiteres alle von Rußland gewonnenen
Fauſtpfänder herausgaben und die von uns beſetzten Gebiete räumten;
ſie rief nach der Verpflichtung vom 29. November und verwies die Regierung auf die
Entſchließung vom 19. Juli, ‚eine Annexionen, keine Kontributionen!“ Die Furcht
tauchte wieder auf und wurde von der Linken von den Männern, die dem Staats-
ſekretär als befreundet galten, gefliſſentlich weitergetragen, daß die Breſter
Methoden niemals zum Frieden führen würden. Herr von Kühlmann verlor,
als man auf der Linken zu bemerken glaubte, daß er in Breſt-Litowſk eine Politik
gegen feine Überzeugung führte, an Vertrauen. Dann kam der Friede von Bu-
kareſt. Er iſt wohl der Geſamtheit des deutſchen Volkes unverſtändlich geblieben:
keine nennenswerte Kriegsentſchädigung als Strafe für den gemeinen Verrat
Rumäniens, keine Beſeitigung des willensſchwachen Königs! Herr von Kühl-
mann aber trat als Träger einer beſtimmten Richtung immer mehr in den Vorder-
grund. Natürlich umgeben von einer eigenartig nebligen Atmoſphäre, die die Luft
446 Gr.: Nervenzuſammenbrüͤche als Grund lagen deutſcher Politit
des Diplomaten iſt; fie läßt den Kämpfer ſelten in ſcharf umriſſenen Linien er-
ſcheinen, wo ſein Hauptverteidigungsmittel die Verſchleierung iſt. Kühlmann
erſchien auch ſeinen Freunden nicht als der heroiſche Vorkämpfer für den
Vorteil ſeines Landes, als den ſie ihn ſich gewünſcht haben, ſondern als ein
verſchmitzter und durchaus vorurteilsloſer Diplomat, der alle Verhältniſſe nur kalt
blütig benutzte, um ein eigenes, zunächſt nicht klar erkennbares Programm ſchließ⸗
lich durchzuſetzen, wenn es ſo weit ſein würde. Die Angriffe der alldeutſchen Preſſe
ließen das perſönliche Element in Kühlmanns Politik noch ſchärfer hervortreten.
Es war bald nicht mehr von der Politik des Reichskanzlers, ſondern von der Kühl-
manns die Rede, Graf Hertling ſchien für die auswärtige Politik abgedankt zu
haben, wenn er auch wiederholt Gelegenheit nahm zu betonen, daß er allein
verantwortlich für die Politik des Reiches ſei. Und dann geſchah das, was der
Diplomat unter allen Umſtänden vermeiden muß, ſolange er ſeinen Zweck nicht
erreicht hat: Herr von Kühlmann nahm feine Zuflucht zu einer Demon-
ſtration. In der Morgenausgabe der ‚Norddeutſchen Allg. Ztg.“ vom 24. Zuni
finden wir die Mitteilung von einem parlamentariſchen Abend beim Staats-
ſekretär des Auswärtigen Amtes, in der abgeſehen von hohen Beamten und Parla-
mentariern der Linken nur die Profeſſoren Meinecke, Troeltſch, Alfred
Weber, Hans Delbrück und Herckner, das find ſozuſagen die wiſſenſchaft—
lichen Träger des Peſſimismus in Berlin, aufgeführt ſind. Die Tagespreſſe
hatte wohl keine Zeit mehr, dieſe Kundgebung zu unterſtreichen; an anderer Stelle
iſt fie nicht unbeachtet geblieben. Am 24. Zuni deckte dann Herr von Kühlmann
ſeine Karten vollends auf, wie ſich nachträglich herausſtellte, ohne ſich darüber auch
nur mit einer dafür amtlich in Frage kommenden Stelle ins Einvernehmen geſetzt
zu haben. Die Fühlungnahme mit einem ſüddeutſchen Bundesfürſten, der die
Oberſte Heeresleitung unterrichtet haben mochte, genügte jedenfalls nicht. Der
Herr Reichskanzler wurde vollkommen überraſcht, der „Vorwärts“ Ai jenen
empörenden Flaumacher-Artikel.
Herr von Kühlmann iſt alſo nicht eigentlich das Opfer irgendwelcher Intrigen
und Gegenſätze zu, anderen Faktoren“, jagen wir offen heraus zur Oberſten Heeres-
leitung, ſondern ſeiner eigenen Fehler. Ob nun Ungeduld oder Erbitterung über
die Machtloſigkeit der Diplomatie oder andere Gründe Herrn von Kühlmann
beſtimmt haben, möge dahingeſtellt bleiben... Worüber der Staatsſekretär fiel,
iſt fein offenbarer Verſuch, den Willen der Zufallsmehrheit vom 19. Juli
1917 zum allein gültigen zu machen und mit dieſer gegen die wirkliche
Strömung im Lande, von der Graf Hertling ſich vorſichtig tragen läßt, zu
regieren.
Damit ſoll nicht geſagt ſein, daß Herr von Kühlmann zurücktreten mußte.
Sein Verbleiben oder Rücktritt war eine Nervenfrage, die er ſelbſt gegen ſich
entſchieden hat, vielleicht infolge der Erkenntnis, daß er die Kräfte, auf die er ſich
ſtützen wollte, überſchãtzte. Jedenfalls erweckt fein Rücktritt den Eindruck, als habe er
einen kühnen Handſtreich führen wollen und in feinem eigenen Zntereſſe läge es,
wenn dieſer Eindruck durch gewiſſe Ausſtreuungen aus dem Kreiſe feiner Umgebung
nicht noch verſtärkt würde! War ihm um die Sache, für die er zu kämpfen ſchien,
Gr.: Newenzujammendrüde als Grundlagen deutſcher Politik 447
jo viel zu tun, wie man nach feinem Auftreten glauben ſollte, fo mußte er ver-
ſuchen, ſich unter allen Umſtänden im Amt zu halten, wenn er ſich feine Stellung
auch ſchon außerordentlich erſchwert hatte. Nun Herr von Kühlmann auf ſeinem
ſofortigen Rücktritt beſtanden hat, erſcheint es mir von perſönlichen wie von po-
litiſchen Geſichtspunkten aus unpraktiſch, fein Verhältnis zur Oberſten Heeres-
leitung als Haupturſache in den Vordergrund zu rücken, während doch der wirk-
liche Grund in Kühlmanns Nervenzuſammenbruch unter dem Einfluß
der in der Großſtadtluft verkümmerten Stimmung der Kreiſe, mit
denen er ſich umgab, zu finden iſt. Man könnte glauben, daß Herr von Kühl-
mann, wie er die letzten Wochen ſich einem ungehemmten Peſſimismus hingab,
nun auch bezüglich feiner eigenen politiſchen Zukunft zuſammen mit dem ‚Berliner
Tageblatt“ und der „Frankfurter Zeitung“ à la baisse ſpekuliere.“
Aus den Erklärungen des Grafen Hertling im Hauptausſchuſſe des Reichs-
tages wurde deutlich, daß Herr von Kühlmann in dieſem Augenblicke nicht
gehen durfte, daß er vielmehr den Zeitpunkt ſeines Rücktritts dem Ermeſſen
des Reichskanzlers überlaſſen mußte. „Eine der wichtigſten Künſte, die der
Diplomat beherrſchen muß, iſt die, fein Tun zu verfchleiern, um für jede Bewe-
gung, die aus der Richtung der Politik herausſchlagen könnte, gedeckt zu ſein.
Darin hätte der geſchiedene Staatsſekretär ſeinen Regierungschef unterſtützen
müſſen. Herr von Kühlmann hat den Reichskanzler im Gegenteil ge—
zwungen, ſich noch einmal vor aller Welt auf jenes Programm feftzu-
legen, das, durch die militäriſchen Erfolge und die Notwendigkeiten
längſt überholt, Freund und Feind verlocken wird, die Friedensſchlüſſe
im Oſten als Proviſorien zu betrachten, die jederzeit umgeſtoßen
werden können. Die wiederholte Erklärung des Grafen Hertling über Belgien
hat ſolcher Auffaſſung beſonders kräftige Nahrung gegeben. So vorſichtig
ſie abgefaßt iſt, ſo klar in ihrer hypothetiſchen Form, ſie iſt dennoch geeignet, auf
die Stimmung in Belgien ungünſtig zu wirken und beſonders unter der vlamiſchen
Bevölkerung ein Stutzen hervorzurufen, während die Feinde jenſeits der Schützen-
graben in ihr eine Beſtätigung des Eindruckes von der wankenden inneren
Front, den Kühlmanns Reden am 24. und 25. Juni hervorriefen,
finden werden.“
Ein ſchärferes Urteil, als es ſich aus dieſen, überaus ſchonenden Darlegungen
ſelbſt herausſchält, kann über die „politiſche“ „Führer“ rolle der Reichstagsmehrheit
und ihres Geſchäftsführers und Vollziehungsbeamten kaum noch gefällt werden.
Klare ſachliche Richtlinien, Geſichtspunkte, die über den Kirchturm des Partei-
dorfs, über nebelhafte Hirngeſpinſte aus verwaſchenen, dazu nicht einmal ver-
dauten Theorien hinausreichten, laſſen ſich auch mit der Lupe nicht entdecken.
Dagegen feiern politiſches Spießer und Stammtiſchheldentum, kindiſche Recht-
haberei, emporkömmlinghaftes Auftrumpfen mit der Zufallsmacht einer Zu-
fallsmehrheit wahre Orgien, und die letzten Entſcheidungen über die Kriegsziele
des deutſchen Volkes im Weltkriege werden durch „Nervenzuſammenbrüche“
herbeigeführt, — die Frage, ob die Vertretung der deutſchen Auslandspolitik
den Händen ihres bisherigen Leiters überantwortet bleiben darf oder nicht, iſt
448 Bruch: Raft in der Mittagemwiefe
eine „Nervenfrage“! Weil aber eine Reichstagsmehrheit im Zuli 1917 „die Nerven
verloren hat“, wird der deutſche Reichskanzler im Juli 1918 gezwungen, „ſich
noch einmal vor aller Welt auf jenes Programm feſtzulegen, das, durch die mili-
täriſchen Erfolge und die Notwendigkeiten längſt überholt, Freund und Feind
verlocken wird, die Friedensſchlüſſe im Oſten als Proviſorien zu betrachten, die
jederzeit umgeſtoßen werden können“, und eine Erklärung abzugeben, in der die
Feinde eine Beſtätigung des Eindrucks aus Kühlmanns Reden „von der wanten-
den inneren Front finden werden“. Nervenzuſammenbrüche als Grundlagen
deutſcher Politik!
f e
n
Raſt in der Mittagswieſe Bon Margarete Bruch
Meine weißbeſternte Wiege,
Wieſe, wiege mich von hinnen,
. Bis ich ohne Seele liege,
Auf zu Wolken fliege.
Leichter ſchon als Vögel ſchweif' ich.
it das Tod?
Schmetterling und Fliege ſtreif“ ich
Leicht, von Zitterglut umworben,
Nun begreif’ ich: ö
Ja, ich bin gejtorben ...
Adlig ſteigen,
Mich mit Ehren zu beſtatten,
Beim Geläut der Grillengeigen
Ritterſporn und Türkenbund
Nieder von der Matten
Meine Stirne zu bekrönen,
Müht ſich eine wilde Nofe,
Noch voll Tau die Blütenfchale,
Zart wie Muttergottesfrau.
Und zwei dicke Kröten-Schweſtern,
Schön gekrönte Prachtgeſtalten
(Noch verhaßte Weſen geſtern),
Kommen nach der Frauen Weife,
Leichenſchau und Schwatz zu halten.
Aber golden an die Gräſer
Rührt zur Feier meines Todes
Pan, der große Zlötenbläfer ...
2
Holten: Pie Mutter | 449
Die Mutter
Legende von Elſe v. Holten
ine Seele verließ die Hülle des gebrechlichen Leibes und ſtieg durch
die Nacht empor. Alle Bande löſten ſich, Gram und Glück ſanken
0 blutlos zurück in die Niederungen der Erde. Die Seele tanzte wie
ein verwehter Schmetterling im Wirbel durch Luftſtrömungen und
fand ſich am Tor des Himmels wieder. Das ſtand azurblau in unermeßlicher Höhe
und Breite im Raum. Über dem erſten Tore wölbte ſich ein zweites, darüber ein
drittes, über dem entferntere aufblitzten, fo daß die Seele, geblendet von unermeß-
lichen Ausdehnungen, die Augen ſchloß.
„Vas begehrſt du?“ fragte eine Stimme neben ihr. „Mit welchem Rechte
ſuchſt du Zeitliche die Ewigkeit?“ Die kleine Seele forſchte nach einem inneren
Wert, nach einer glänzenden Gabe, die fie rechtfertigen könnte. Dann ſank fie
zuſammen und flüſterte verzagt: „Ich war nur eine Mutter.“
„Bauteſt du dir ſchon auf Erden in der Ewigkeit eine Heimat?“ forſchte die
unerbittliche Stimme weiter.
| „ah weiß es nicht. Ich hatte nie Zeit, daran zu denken“, ſprach die geängſtigte,
kleine Seele.
And ſie ſank am Tore des Himmels entkräftet und verbraucht zuſammen.
Als ſie ſich aufrichtete, ſchritt ein Zug himmliſcher Geſtalten an ihr vorüber
durch das Tor und grüßte ſie mit ſtillem Ernſt.
„Das ſind die Gebete an den Krankenlagern deiner Kinder“, ſprach der
Wächter. „Sie zeugen für dich.“ Andre folgten. Sie trugen Kleinodien in den
Händen und verneigten fi) vor ihr. „Das find die Schätze ſtillen Frohſinns, un-
erſchöpflicher Lebenskraft, die du Mann und Kindern gabſt. Sie ſtrahlen für dich“,
ſprach der Wächter mild.
Ein ſtarker Engel ſchritt aufrecht und allein. Er hielt eine Harfe, die mit
Blumen umwunden war.
„Das ſind deine ungeborenen Lieder, deine Träume, die du ohne Klage in dir
verſchloſſeſt, weil deine Pflicht dich zu anderem rief! Dein Genius, der ſie hütet,
legt ſie noch heute nacht in die Hände deines erſtgeborenen Sohnes, der an deinem
Sarge weint, als unſichtbare Gabe deiner Liebe. Denn du warſt eine .
im Reich der Träume“, ſprach feierlich der Wächter.
Glanz brach vor ihnen auf. Die Seele blickte auf eine Erſcheinung, die einen
weiten, ſchimmernden Mantel von unbeſtimmten Farben trug. Aus den Falten,
die von milden Lüften bewegt wurden, ſchienen ſie die geliebten Geſichter ihrer
Verlaſſenen anzulächeln. Sie ſchrie auf. — „Das iſt deine Entſagung,“ ſprach
der Wächter, „fie iſt die größeſte deiner Fürſprecher.“ Da wuchſen der Seele
der Mutter Schwingen, die ſie mit ſtarken Schlägen in das e Blau
trugen. —
W
Der Türmer XX, 22 29
a en LT 4 —
. 90
2405
. AH
lauſewiz
955 ver, och, der Entente-Generaliſſimus an der Weftfront, ſchrieb 1903: „Die Preußen
Win „% verſtehen den Krieg, ohne ihn zu führen, fie haben ihn eben ſtudiert.“ — „Wenn
Dein Sachverſtändiger fein halbes Leben darauf verwendet, einen dunklen Gegen-
ſtand überall aufzuklären, ſo wird er wohl weiter kommen, als einer, der in kurzer Zeit damit
vertraut ſein will. Daß alſo nicht jeder von neuem aufzuräumen und ſich durchzuarbeiten
brauche, ſondern die Sache geordnet und gelichtet finde, dazu iſt die Theorie vorhanden. Sie
ſoll den Geiſt des künftigen Führers im Kriege erziehen, oder vielmehr ihn bei feiner Selbſt⸗
erziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten.“ Dieſe Auffaſſung von der Be-
deutung und dem bedingten Werte der Thorie, mit der Karl von Clauſewitz die Militär-
wiſſenſchaft auf völlig neuen Boden ſtellte, gilt heute noch unverändert. Vor 100 Jahren etwa
erſtand als Niederſchlag der Erfahrungen der Napoleoniſchen Kriege ſein geniales Werk „Vom
Kriege“, das den Krieg nicht nur von feiner militäriſchen Seite, ſondern auch als ſoziale Er-
ſcheinung zu erfaſſen ſuchte; auf ſeinen Grundgedanken beruhten die Feldzugspläne Moltkes,
Blumenthals, und beruht noch unſere Heerführung im heutigen Völkerringen. Seine Auf-
faſſung des Krieges als eines „politiſchen Akts“ iſt für die moderne ſoziologiſche Betrachtung
von grundlegender Bedeutung geworden. e iſt die Bedeutung von Clauſewitz der
Allgemeinheit nur wenig bekannt.
Als Zwölfjähriger nimmt er 1792 an der verunglückten Campagne in Frankteich teil,
erlebt, ſelbſt tapfer kämpfend, die Schmach von Jena und muß als Adjutant des Prinzen
Auguſt von Preußen dieſem in die Gefangenſchaft nach Frankreich folgen. 1809 arbeitet er
unter Scharnhorſt, der ihm väterlich zugetqn iſt, im Kriegsminiſterium und beteiligt ſich in
ruſſiſchen und preußiſchen Dienſten an den Freiheitskriegen. Deutſchland, Frankreich, Belgien
lernt er fo aus eigener Anſchauung kennen. Das Jahr 1830 ruft ihn von dem unbefriedigenden
Verwaltungspoſten des Direktors der „Allgemeinen Kriegsſchule“ in das Lager der preußiſchen
Obſervationsarmee als Generalſtabschef zu ſeinem Freunde Gneiſenau nach Polen, wo beide
kurz nacheinander von der Cholera hingerafft werden. — Anlage, Schickſal, idealiſches Streben.
ſchufen ihn früh zum reifen Manne mit dem klaren Wirklichkeitsſinn und divinatoriſchem Blick,
dem Ernſte der Lebensauffaſſung und dem leidenſchaftlichen Herzen von ungewöhnlicher Tiefe
und Zartheit der Empfindung und voll quälender Sorge um Leben und Ehre ſeines Staates.
Aus feinem Schauen und Streben erwuchs ihm die Freiheit des Geiſtes, die ſich von den Er-
eigniſſen nicht überwältigen läßt, aus der „inneren Kultur der Seele“ (Gneiſenau) die Hoheit
wahren Geiſtesadels. Indes darf auch die flüchtigſte Andeutung ſeiner Weſensart der ihm
eigentümlichen Scheu vor der Öffentlichkeit, der leichten Verwundbarkeit feines Gemüts nicht
Elauſewitz 451
vergeſſen. Dieſe Naturanlage mußte ſich durch das Mißverhältnis zwiſchen dem Bewußtſein
eigenen Könnens und Schaffensdranges und ſeiner äußeren Stellung, die ihm niemals eine freie
Entfaltung ſeines Genies gönnte, noch ſteigern. Scheu vor breitſpuriger Philiſterplattheit,
lärmender und dabei geiſtig weit unterlegener Kritik, das Gefühl des „odi profanum vulgus“
hinderte ihn auch, mit feinen Werken vor die Öffentlichkeit zu treten. Manche Arbeiten, von
leidenſchaftlichem Wunſche eingegeben, auf das Chaos der öffentlichen Meinung klärend ein-
zuwirken, blieben als Rechenſchaftsablage für ſich ſelbſt liegen und kamen ſo auch nicht in die
Ausgabe ſeiner Werke, die ſeine ihm geiſtig und ſeeliſch ebenbürtige, in innigſter Liebe mit
ihm verbundene Frau nach ſeinem Tode herausgab.
Drei ſolcher politischen Denkſchriften finden ſich verſteckt in dem 1878 erſchienenen „Leben
des Generals von Clauſewitz“ von Karl Schwartz. Obwohl lediglich für das Tagesintereſſe
verfaßt, laſſen fie doch die „Hauptlineamente“ der hiſtoriſch-politiſchen Auffaſſung von Clauſe-
witz erkennen. Hans Delbrück nennt in feiner damaligen, ſpäter in die „Hiſtoriſchen Aufſätze“
aufgenommenen Beſprechung des Schwartzſchen Buches den erſten dieſer Aufſätze ein „Rabinett-
ſtück einer politiſch-hiſtoriſchen Abhandlung“. Dieſes Lob darf auch von den folgenden beiden
Arbeiten aus dem Jahre 1830 gelten, in denen Clauſewitz die Bedeutung der damals brennen-
den belgiſchen und polniſchen Frage für ſeinen Staat darzuſtellen ſucht. Die gewaltſame
Löſung Belgiens aus der unnatürlichen Verbindung mit Holland bedeutete im Grund einen
Sieg Frankreichs und Gewinn Englands. In der Regelung 1831 zahlte Preußen, welches
das 1815 feſtgeſetzte Beſatzungsrecht der Maasfeſtungen verlor, die Zeche. Überraſchend ſchnell
hatte ſich Frankreich nach 1815 erholt und die Expanſionspolitik des ancien régime und der
Revolution wieder aufgenommen. Der Teilungsplan Polignacs genügt als Beleg. Indes
wurden feine aggreſſiven Abſichten durch die werbende Kraft der politiſchen Ideale verdeckt.
England, das ſich im Kampf gegen Bonaparte eben die Weltherrſchaft geſichert hatte, hielt
offiziell an dem alten Gegenſatz gegenüber der franzöſiſchen Gefahr feſt; die öffentliche Meinung
dagegen neigte großenteils zu Frankreich. Vor allem aber ſtand das noch nicht gehaßte, dafür
verachtete, „in ſeiner politiſchen Einrichtung ſo äußerſt ſchwache, in ſeinen Richtungen ſo ſehr
geteilte deutſche Reich“ (Clauſewitz) den weſtlichen Einflüſſen offen. Der Vulgärliberalismus
bezog Ideen und Ideale aus Frankreich und überſah, daß in den deutſchen Mächten trotz aller
Lahmlegung der Kräfte „der eigentliche Schwerpunkt des europäiſchen Widerſtandes“ gegen
Frankreich lag, und daß die Geburt Belgiens den franzöſiſchen Gelüſten Tor und Tür öffnete.
Dieſelbe Verkennung der politiſchen Tatſachen ſpiegelt die Polenſchwärmerei der damaligen
Zeit. „Der Gedanke, daß durch die Herſtellung eines ſelbſtändigen polniſchen Reiches auch
Deutſchland in Mitleidenſchaft gezogen werden müſſe,“ ſagt Brandenburg in feiner „Reichs“
gründung“, „daß die zu Öfterreih und Preußen gehörigen Teile des alten Polen darnach
ſtreben würden, ſich dieſem Reiche abzuſchließen, daß dadurch die deutſche Oſtgrenze in er-
heblicher Weiſe gefährdet und auch das Deutſchtum an der unteren Weichſel und der Oſtſee
bedroht werden könnte, iſt den meiſten Liberalen nicht gekommen.“
Clauſewitz behandelt dieſe politiſchen Fragen rein politiſch und bietet mit feiner Auf-
faſſung den ſchlagenden Gegenbeweis gegenüber neueren, ſo von Endres in „Politik und
Krie rung“ unternommenen Verſuchen, eine Theorie von dem unvereinbaren Gegenſatz
3
zwiſchen „politiſcher und militäriſcher Denkweiſe, zwiſchen der langfriſtigen Kunſt in der Er-
faffung von Zuſtänden und der kurzfriſtigen militäriſchen Runft der Vaffentat“ herauszu-
Hügeln. Heute, wo unſer Blick auf die wenig erfreuliche Entwicklung der polniſchen Verhältniſſe
und die Grundfrage nach dem Schicksal Belgiens gerichtet iſt, verdienen die vergeſſenen Aus-
führungen von Clauſewitz die weiteſte Beachtung. Noch wichtiger als die reizvollen unmittelbar
in die Augen ſpringenden Parallelen zwiſchen dem Damals und Heute erſcheint uns der Hin-
weis auf die geſunde, geſchichtspolitiſche Auffaſſungsweiſe feiner Darftellung. Nicht an Wiſſen,
geſchichtlichen und politiſchen Kenntniſſen gebricht es ja unſerem politiſierenden Publikum,
452 | Clauſewlz
wohl aber an politiſchem Sinn, politiſcher Lebenserfahrung und Denkart. Sucht der eine
Teil voll Eifer, aber in kleinlichem und ſo ganz unhiſtoriſchem Bemühen die Geſchichte ohne
Kückſicht auf ihre Bedingtheit für die praktiſche Politik, gleichſam als politiſche Milchkuh aus⸗
zubeuten, fo deutet der andere feine Lauheit als Sachlichkeit oder überjieht in ſeiner ſich ſelbſt
jo ungemein großzügig, überlegen dünkenden Art, in äſthetiſch, ethiſch, humanitär⸗weltbürger⸗
lich gefärbten Nebelwolken die in Volkstum und Nationalſtaat wurzelnden Wirklichkeiten des
geſchichtlichen und politiſchen Lebens. —
Das Erlebnis des preußiſchen Exiſtenzkampfea mußte die politiſchem Weltbuͤrgertum
abholde Art von Clauſewitz, mußte ſein Verſtändnis für den Friederizianiſchen Machtſtaat
noch ſtärken. Andererſeits ſahen wir eingangs ein Hauptverdienſt ſeines Buches „Vom Kriege“
in der Forderung, in der Geſchichte eine Schule ſtrategiſcher Denkart, nicht aber ein praktiſches
Schluͤſſelbuch zu ſehen. Mehr kann die Geſchichte auch nicht dem Politiker bieten; denn fie
wiederholt ſich nie. Ein grundlegender Faktor ändert ſich indes in der Abwandlung des ge-
ſchichtlichen Lebens nur langſam: die geographiſchen Bedingungen und das mit dem Boden
erwachſene Volkstum. Seine Bedeutung mag der Hinweis auf „die Bismarck eigentümliche
Art, politiſche Fragen vor allem geographiſch zu betrachten“ dartun. (Haller, „Bismarcks
Friedensſchlüͤſſe“, 2. Aufl., S. 70.) Schon die Tatſache, daß Clauſewitz als ſtrategiſcher Denker
die jeweilige Bedeutung der phyſiſchen Grundlagen im Völker- und Staatenleben, damit alſo
die geopolitiſchen Geſichtspunkte mit in den Vordergrund ſeiner Betrachtung ſtellte, ſichert
ſeinen Arbeiten Lebensdauer. Er weiſt auf die unpolitiſche Taktik der Allierten 1815 hin, die
durch Verzicht auf Annexionen zu verhüten hofften, daß Frankreich der Nevanchegedanke ein-
geimpft werde. Denn ſelbſt das niedergeworfene Frankreich, meint Clauſewitz, behalte in ſeiner
Eigenſchaft als „ſehr homogenes, ungeteiltes, wohlgelegenes, gut begrenztes, reiches, kriege
riſches und geiſtreiches Volk“ ſeine innere Kraft ungebrochen.
Damit iſt indes nur eine Seite ſeiner geſchichtspolitiſchen Begabung angedeutet. Die
lebendige Erkenntnis der Geſchichte lehrt ihn im Staatsorganismus gleich Adam Müller „die
innige Verbindung der geſamten phyſiſchen und geiſtigen Bedürfniſſe, des phyſiſchen und
geiſtigen Reichtums, des äußeren und inneren Lebens einer Nation zu einem großen, energiſchen,
unendlich beweglichen und lebens vollen Ganzen“ zu ſehen, vom Willen zum Dafein, vom Triebe
zur Selbſterhaltung und Vergrößerung durchſtrömt. Oaher ſucht er die Gegenſätze der Völker
nicht etwa in Prinzipien, ſondern „in der ganzen Summe ihrer geiſtigen und materiellen Ver-
hältniſſe zueinander“. Bewußtes und unbewußtes Streben nach Gegengewichten erhält das
Staatenſyſtem im Gleichgewicht; „denn die ganze phyſiſche und geiſtige Natur wird durch
Gegenſätze im Gleichgewicht erhalten“. Dieſer philoſophiſch vertieften Auffaſſung des Prinzips
der „Mechanik der Macht“ (Hintze) entſpricht ſeine umfaſſende Betrachtungsweiſe, welche
die geſchichtlichen und politiſchen Ereigniſſe ſtets in den allgemeinen Zuſammenhang der ma-
teriellen und ideellen Macht- und Intereſſenkämpfe ſtellt. Daher fein Unmut gegenüber der
Philiſtermanier, dann endlich aufzuwachen und nach „Schuldigen“ zu ſuchen, wenn man ſich
ſelbſt unmittelbar in den Strudel geriſſen fühle, ſtatt daß man die Entwicklung der Ereigniſſe
verfolgt und ſich vorgeſehen hätte, daher auch feine Sronifierung des äſthetiſch gefärbten, un
politiſchen Doktrinarismus, für den die realen Machtverhältniſſe des Staatenlebens nicht be-
ſtehen, in deſſen Zdeologie etwa die reine Demokratie für ein „idylliſches Friedens verhältnis“
bürgt. „Politik“, ſagt Steffen in ſeinem neueſten Buch „Der Weltfriede und ſeine Hinderniſſe“,
„iſt Wille und Handeln. Und in der Politik wollen und handeln ſtets konkrete Menſchen — nicht
‚Beinzipe‘ oder, Syſteme“.“ — Die Geſchichte enthüllt Clauſewitz das Walten des Lebensgeſetzes
von Freiheit und Notwendigkeit, aber ſeine wahrhaft hiſtoriſche Denkweiſe ſcheut ſich, den Sinn
all der wahrnehmbaren Kräfte, unter deren Wirken der ſtets ſich erneuernde Vorgang des Wachs
tums und Vergehens der Staaten ſich vollzieht, den Sinn der Imponderabilien des geſchichtlichen
Lebens auszudeuten. In ihrem Wirken ſieht er gleich Ranke „das Geheimnis der Weltgeſchichte
Clauſewitz 2 453
So umfaſſend ſein Geſichtskreis, ſtets richtet ſich ſein Blick unwillkürlich und zielbewußt
auf die Frage nach der jeweiligen Bedeutung der politiſchen Gruppierungen und Wandlungen
für die eigene Nationalexiſtenz. Was Ranke als oberſten Grundſatz des Politikers hinſtellt,
„inmitten des Konflikts der Weltmächte, der idealen ſowohl wie der realen, die man nicht be-
herrſchen kann, das eigene Intereſſe zu wahren und zu fördern“, ſehen wir in der Nichtung
des Clauſewitzſchen Geiſtes verwirklicht. Die Ereigniſſe in Belgien und Polen regen den da-
mals dreißigjährigen Moltke zu lediglich geſchichtlich orientierten Arbeiten an. Clauſewitz hin-
gegen ſtellt an den Anfang feiner Aufſätze die Grundfrage: Welche Folgen haben dieſe po-
litiſchen Veränderungen für den eigenen Staat? Und bei der Beantwortung kommt ihm ein
ungewöhnliches Maß politiſcher Pſychologie und richtiger Einſchätzung der Faktoren zuſtatten,
handelt es ſich nun um Stärke, Eigenart der Gegner, um die Art des Verhaltens ihnen gegen
über oder um Wertung der Sympathien und Antipathien der öffentlichen Meinung. Von
ſeiten Rußlands befürchtet er keine feindliche Stellungnahme für die zwei nächſten Generatio-
nen, aber darüber hinaus läßt er jede Möglichkeit offen. Auch den Zerfall des europäiſchen
Rußland ſtellt er mit in Rechnung; Polen hält er für ziviliſiert in etwa hundert Jahren. Sehen
wir nicht den unbelehrbaren Franzoſen des Weltkrieges vor uns, der heute auf Pötain, morgen
auf Clemenceau und Foch ſchwört, wenn Clauſewitz ſchreibt: „Man glaubt nicht, wie hartnäckig
der Franzoſe an der Idee feiner Anüberwind lichkeit hängt, wie leichtgläubig er in den Händen
ſeiner Parteihäupter iſt, und wie toll dieſe, am Abgrund ſchwindelnd, das Letzte wagen.“ Aber
gerade dieſe außerordentlich feine politiſche Witterung, nicht die „Schlachtenfreudigkeit“ des
Militärs (Bismarck) ſagte ihm, daß der Staatsmann in gewiſſen Lagen den Willen und Mut
zeigen müſſe, an die ultima ratio der Waffen zu appellieren. —
Karoline von Humboldt ſchreibt 1813 an ihren Gatten: „Metternich hat wohl nicht die
großen Anſichten, die er haben ſollte, und mit denen allein er der Zeit gewachſen wäre... Du
eineſt mit dem hellſten Verſtande die Einſicht, die man nur durch das Gemüt er—
langt“, und fie ſpricht damit treffend eine allgemeine Wahrheit aus. Die kühle Verſtandes-
ſchärfe des gewiegteſten Politikers kriecht in großen geſchichtlichen Augenblicken am Boden,
ſein Wollen entbehrt der Kraftquelle, wo die auch dem Gemüt entſpringende Einſicht, wo der
Funke politiſcher Leidenſchaft fehlt. Leicht nehmen die Dinge in der Seele des handelnden
Staatsmannes die Geſtalt perſönlicher Gefühle und Leidenſchaften an. (Haller a. a. O., S. 65.)
Sie muß er niederhalten, ſoll feine Politik nicht in die Irre gehen. Oft verwechſelt aber die
Allgemeinheit die Bändigung der Leidenſchaften mit Leidenſchaftsloſigkeit und überfieht über
der berechtigten Bekämpfung der „Gefühlspolitik“ und chauviniſtiſcher Sentimentalität, daß
ohne die große politiſche Leidenſchaft nichts Großes geſchieht. Sie birgt als wahrhaft ſchöpfe⸗
riſche Urkraft in ſich die Fähigkeit hellſichtiger Phantaſie; ihr entſpringt das Aufgehen der
Perſönlichkeit in der Pflicht, die großen Zeiten einzig ebenbürtige Geiſtesverfaſſung, die Ent-
ſchlußkraft, in entſcheidenden Lagen alles einzuſetzen, zu ſiegen oder unterzugehen. „Groß,
unbeſchreiblich groß iſt die Zeit,“ ſchreibt der Verfaſſer der „drei politiſchen Glaubensbekennt⸗
niſſe“ 1808 an feine Braut; „von wenigen Menſchen wird fie begriffen; ſelbſt den vorzüglichſten
Gelehrten und Weiſen unter uns ift ſie ſelten mehr als ein Werkzeug, um irgend ein dünkel⸗
volles Syſtem durch ſie darzuſtellen; alles das iſt eitles Spiel von Kindern und Toren. Mit dem
Gemüte will die Zeit aufgefaßt ſein; ohne Vorurteil ſoll man fie anſchauen und betrachten.
Nur in einem Gemüte voll Tatkraft kann ſich die tatenreiche Zukunft verkündigen; unter ſteter
Berührung muß es ſein mit Gegenwart und Vergangenheit und unverloren in philoſophiſchen
Träumen.“ In dem „Stolz eines glorreichen Unterganges“ ſieht Clauſewitz das große be-
herrſchende Gefühl in der Natur Friedrichs des Großen und deutet damit gleich Rankes „Großen
Mächten“ auf das „innere, moraliſche, geiſtige Element ſeines Widerſtandes“ hin.
Th. Lindner ſagt von der Wiederaufrichtung Preußens, ſie ſei eine Lehre, was Willen
und Wiſſen im Verein vermögen. Das Schickſal hat es Clauſewitz verſagt, feine genialen ftrategi-
454 | Mel
ſchen Fähigkeiten und fein geſchichtspolitiſches Verſtändnis in größerem Maß durch die Tat
zu erproben. Sich in den Strudel „der unendlichen Konflikte an Intereſſen und Parteiungen,
die ſeinem Verſtand zuwider“ waren, durchzuſetzen, dazu war ſeine Natur wohl zu fein gebaut.
Dafür liegt aber in der organiſchen Verſchmelzung realpolitiſchen Denkens, Wollens, Fühlens
mit der Reiz, der von feiner ſympathiſchen Perſönlichkeit ausgeht. —
Dr. Ernſt Bender, z. Zt. im Felde
Adel
zie Alldeutſch!“ nennt ſich ein Buch von Richard Pretzell, das ſoeben erſchienen und
durch die Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher, Leipzig, zu beziehen iſt. Es
d iſt ein fo ganz eigenwüchſiges persönliches Buch, daß der Verfaſſer ſicher nicht auf
ungeteilte Zuſtimmung auch der feiner Geſinnung nächſtverwandten Kreiſe rechnen wird.
Aber ſoll es darum und weil es den Mut hat, auszuſprechen, was ihm nur viele Feinde, wenig
offene und aufrechte Freunde gewinnen kann, totgeſchwiegen werden? Nein, eben um ſeiner
Tapferkeit willen, der bei uns leider fo ſelten vertretenen „Zivilkurage“, ſei hier darauf hin-
gewiefen und als Probe für die Art des Verfaſſers das Stück über den Adel wiedergegeben —
ohne jedes Urteil für oder gegen. Es ſtammt aus dem Sommer 1916:
Zm Adel und im freien Bauerntum, die die gleiche Wurzel haben, ruhen Werte, deren
das Vaterland nicht entraten kann, ja an denen es ſich vielleicht noch einmal aufrichten und
erneuern kann. Nötig iſt aber, daß wir unſern Wert und Unwert richtig erkennen, uns reinigen
von dem Weſensfremden, was wir teilweiſe über uns haben Macht gewinnen laſſen.
Die urſprünglichen Tugenden des Junkers oder preußiſchen Adels find wohl weſentlich
folgende: Er hat fein eigentliches Intereſſe hinter dem des Staates und Volkes zurücktreten
laſſen und bei magerſten Gehältern und Penſionen die zuverläffigften Staatsbeamten, ja
Staatsmänner und Offiziere geſtellt. Wenn er dafür auch wenig Dank erntete, und ſehen
mußte, wie manche feiner Fürſten ſtiller Aufopferung und Pflichttreue die Anerkennung ver-
ſagten, er murrte nicht.
Aber es gab hier doch immer eine Grenze. Die hohen Eigenſchaften, die er betätigte,
waren die Zeichen des dem Könige ergebenen treuen deutſchen Dieners im Sinne des ritter;
lichen Gefolgmannes, der unter Umſtänden dem König gerade dann die treueſten Dienſte tut,
wenn er ihm widerſpricht und den Gehorſam verweigert auf Wegen, die König und Vater
land in den Abgrund führen. Wenn wir nach oben ſchauen, ſo können wir dies mit gutem Ge⸗
wiſſen nur dann, wenn wir in unſerer Weltanſchauung, unferer Tradition, unſerer Würde
ruhen. Es iſt nicht damit getan, daß wir uns als gehorſamſte Diener empfehlen. Oder fürchten
wir die Monarchie zu gefährden, wenn wir als freie deutſche Männer vor den König treten?
Sie iſt im Gegenteil dann gefährdet, wenn wir dem ſtarken und zielbewußten Willen, der hinter
unſeren Feinden, der Demokratie und der Internationale ſteht, nichts entgegenzuſetzen haben
als eine ſtumpffinnige, tatenloſe Königsgefolgſchaft, die dem Königswagen blindlings nach-
reitet, auch wenn fie ſieht, auf dem Kutſchbock ſitzen des Fahrens Untundige.
Wo waren denn bis jetzt unſere Verſuche, dieſe Fahrer vom Bocke herunterzureißen?
Der Landtag hat einmal angeſetzt zur Tat; aber als der Reichskanzler die Herren zu ſich befahl
und ihnen, wie ein Schweizer Blatt ſich ausdrückte, den Kopf wuſch, da ſanken fie zuſammen
und erklärten: die Reſolution ſei keineswegs als Mißtrauensvotum gegen ihn aufzufaſſen,
im Gegenteil, ſie ſei als Stütze für ihn gemeint geweſen.
Und wo war bis jetzt eine Aktion, in der der preußiſche Adel gemeinſam und geſchloſſen
vor feinen König trat: „Majeſtät, fo geht es nicht weiter !“? Mir iſt von einem einzelnen Schritt
a
0
A
* e Wr
Abel 455
bekannt: Die Eingabe des Fürſten Salm an den Kaiſer. Sie war von Bürgerlichen veranlaßt
und die Unterzeichner waren zu 60 % Bürgerliche.
Wenn der Adel vom völkiſchen Standpunkte aus als Element der Ruhe und Stetigkeit
zum Feſthalten des Typus beiträgt, fo darf dieſe Ruhe nicht zum indolenten Schlafe werden,
der zum Untergang führt: zumal in Zeiten demokratiſcher Hochflut. Die Pflicht des Königs-
dieners iſt beim Adel verbund en mit den Pflichten des Führers, Wächters und Rämp-
fers, des Vorkämpfers. Ein ſolcher wartet nicht immer auf den Befehl, der ihn ruft,
ſondern in Zeiten des Sturmes tritt er ungerufen hervor.
Wo bleiben die adligen Vorkämpfer unſeres Volkes in dieſer ſchweren
Zeit? ... Wenn noch einmal in der Weltgeſchichte dem deutſchen Adel Gelegenheit geboten
iſt, ſich als Führer der deutſchen Nation zu bewähren, ſo iſt es jetzt. Erweiſt er jetzt nicht ſeine
Exiſtenzberechtigung durch die Tat, verharrt er in feiner Paſſivität, dann gibt er den Demo-
kraten recht, die ihn ſchon lange als eine veraltete, der Exiſtenzberechtigung entbehrende Ein-
richtung hinſtellen; dann gräbt der Adel ſich ſelbſt ſein Grab, in das ihn hineinzulegen Hände
genug bereit find, auch Hände, die ſehr hohe Amtsſiegelringe ſchmüͤcken.
Was wird unſer Adel einft zu ſagen wiſſen, wenn ihn das deutſche Volk fragt: „... Ein
ſchwacher Staatsmann hat ſich die einzige wirkſame Waffe, die wir gegen unſeren ſchärfſten
Feind hatten, entwinden laſſen, und ihr habt ihm nicht gewehrt! Der einzige Mann der Re-
gierung, der eures Charakters war, wurde von Händlern angegriffen und ihr habt ihn nicht
geſchůtzt. Den einzigen Standesgenoſſen von euch, der mit feiner Geiſteskraft die herrliche Waffe
der Zeppeline geſchaffen hat, hat man zur Seite geſchoben, und ihr habt ihm nicht geholfen!“
„Za, wir haben doch nichts machen können!“ werdet ihr entgegnen. Wirklich? Habt
ihr alles getan, was ihr tun konntet? Seid ihr einmal vor den Reichstag getreten und habt
erklärt: „Wir können nicht verantworten, einen Milliardenkredit für die Kriegführung zu be-
willigen, ſolange wir eine Zivilregierung haben, von der wir glauben, ſie wird uns um alle
Früchte des mit dieſem Gelde zu erringenden Sieges bringen?“ Habt ihr den Mut gehabt,
je einem Miniſter den Etat zu verweigern, von dem ihr alle überzeugt ſeid, er iſt ſeinem Amte
in keiner Weiſe gewachſen? „Aber das hätte doch einen fürchterlichen Skandal gegeben!“
Seid ihr deſſen ſicher? Vielleicht hättet ihr die ganzen Nationalliberalen, die deutſche Frak-
tion und den adligen Teil des Zentrums mit euch geriſſen und wäret mit einem Schlage wieder
Führer des Volkes geworden. Seht, es lechzt nach einer befreienden Tat und nach Führern.
Und wenn es nichts als einen Skandal gegeben hätte; ihr hättet eure Pflicht getan. Zgit
Angſt vor einem Skandal, der ſich an Pflichterfüllung anknüpft, Sache des Adels?
„Aber unſer Parteiintereſſe hätte gelitten.“ Euer Parteiintereſſe? Es handelt ſich
um König und Vaterland! Iſt da Sorge um Parteiintereſſe Sache des Adels? Und wenn
die Partei darüber zugrunde ginge! Aber ſie würde es nicht tun; im Gegenteil, ſie würde
welte Kreiſe zurückgewinnen, die wegen ihrer nationalen Schlappheit und Vorſchiebung der
Partei? und Wirtſchaftsintereſſen von ihr abgefallen find, und nichts ſchädigt eine Partei
mehr als untätiges Verſagen. Es wäre ein ehrenvoller Untergang und kein allmähliches
Erſticktwerden im Sumpf der jüdiſchen Demokratie, in den ſie jetzt hineinſteuert.
Aber der Eindruck im Auslande! Und wenn er ungünſtig wäre, iſt Furcht vor dem
„Eindruck im Auslande“ Sache des deutſchen Adels, wollen wir König und Vaterland zu-
grunde gehen laſſen, daß das Ausland „einen guten Eindruck“ hat? Selbſtmord aus Furcht
vor dem Tode begehen?
Aber das Ausland würde dadurch den Eindruck der Uneinigkeit haben, „eines ſich zer⸗
fleiſchenden deutſchen Parlaments, und das würde die Sache des Vaterlandes ſchädigen“.
Zum Teufel noch einmal! Laßt doch das Ausland „Eindrücke“ haben, wie es mag! Entweder
wir ſchlagen unſeren Feind oder wir ſchlagen ihn nicht. Jeder andere „Eindruck“ als der der
Waffen iſt gänzlich gleichgültig; wegen unſerer angeblichen „Einigkeit“ ſchließen ſie keinen
456 | Abel
Tag früher Frieden... Kein Menſch im Auslande glaubt an Einigkeit zwiſchen Weftarp und
Liebknecht, Heydebrandt und Müller-Meiningen. Jedes Kind im Auslande weiß von den
großen Parteien der Annexioniſten und Antiannexioniſten, in die Deutſchland geſpalten iſt.
Bis jetzt iſt der Eindruck im Auslande: Die Deutſchen haben wackere Feldherren, gute Sol-
daten, vorzügliche Techniker und im übrigen iſt ſich die Bevölkerung in nichts einig als in un-
ergründlicher Schwͤchlichkeit gegenüber dem Auslande und der eigenen Regierung.
Um nun von den großen Mitteln der Etats- und Kreditverweigerung zu den kleineren
überzugehen: Warum tritt der Adel und ſeine Vertretung nicht für Abſchaffung der politiſchen
Zenſur ſein? Aus Angſt vor der Sozialdemokratie? Varum ſetzt er ſich nicht mit aller Kraft
für Freigabe der Kriegszielerörterung ein? Wiederum aus Angſt vor der Sozialdemokratie
und dem Eindruck im Auslande?
Darf Angſt das Leitmotiv für den deutſchen Adel ſein? Weiß er nicht, daß die gand⸗
habung diefer Zenſur des Burgfriedens, des Kriegsziels und der Kritikverbote nur der Sozial-
demokratie und der Internationale zugute kommt?: Daß er ſich mit der Unterſtützung der Re-
gierung in dieſen Fragen mitſchuldig macht, wenn die Kriegsziele der Sozialdemokratie und der
Internationale Wirklichkeit werden und Oeutſchland in der dann kommenden roten Flut ertrinkt?
Um es wieder und wieder zu betonen: König und Vaterland find in Gefahr! In aller-
höchſter Gefahr! Warum treten die Konſervativen nicht hervor mit dem Antrag, die politiſche
Zenſur aufzuheben? Der halbe Reichstag, wenn nicht der ganze, würde ihnen folgen. Es iſt eins
der wenigen noch verfügbaren Mittel, um den immer ſchneller dem Abgrund zurollenden Wagen
aufzuhalten. Gewiß wird ein erbitterter Kampf im Innern des Landes ausbrechen. Aber iſt
es beſſer, den Wagen kampflos „in Einigkeit“ abſtürzen zu laſſen, als noch in letzter Stunde —
ſoweit find wir — das Außerſte zu verſuchen, ihn zu retten? Seit wann iſt es die Art des
deutſchen Adels, den Kampf zu ſcheuen? Tut er es, ſo geht er mit Recht zugrunde, und er
wird der erſte ſein, den die rote Flut ertränkt. Für lendenlahme Kompromißanträge in der
U-Boot- und Zenſurfrage, die das Papier nicht wert find, darauf fie geſchrieben, ſollte ſich
der deutſche Adel und ſeine Partei zu gut ſein!
Mich überkommt jedesmal ein tiefes Schamgefühl, wenn ſich Reichstags vertreter
unſeres Standes beklagen, ſie ſeien in ihrer Wirkſamkeit durch die Zenſur gehemmt. Warum
wehren ſie ſich nicht? Sie tun ja nicht einmal das, was unter Geltung der Zenſur geſchehen kann!
Vor mir liegen das Liebigſche Buch, die Marinebriefe, die Schäferſchen Eingaben,
liegen Dutzende von unter der Hand verbreiteten Kriegsſchriften, die faſt alle aus anderen
Lagern ſtammen, als aus dem unſern. Wo bleibt da die Führerſchaft des Adels? Vo
ift feine Unterftügung mit Geld und anderen Mitteln? Über das ganze Reich haben ſich heute
ſchon Organiſationen verbreitet, die im vertraulichen Kreiſe die Kriegsziele erörtern — was
wird darin unter uns geleiſtet? Der Bund der Landwirte iſt ja an einer der eee
beteiligt; aber ausgegangen iſt auch dieſe nicht von ihm.
Abgeſehen von der eigenen Tätigkeit iſt es Pflicht jedes verantwortungsbewußten
führenden Adels, die Kräfte im Volke, die in gleicher Richtung arbeiten, herauszufinden und
zu unterſtuͤtzen, ſich zu verbinden mit den Deutſchen, mit unſeren eigentlichen Brüdern, die
jonft in unſerem Volke leben und an feinem Heile arbeiten. Da er ſich im Vergleiche zu ihnen
meiſt in unabhängiger und freier Lage befindet, erwächſt ihm die vermehrte Pflicht zur Arbeit
für die Allgemeinheit, zu um fo furchtloſerem Eintreten für das, was wir als Männer und
Deutſche als recht und richtig erkannt haben.
Außer dem Stande der Zunker gibt es nur noch einen in Oeutſchland, der ſich gleicher
Ungnade des B-Syſtems und gleicher Anfeindung des Berliner Tageblattes und der Frank-
furter Zeitung erfreut wie er: der Alldeutſche Verband. Die gleiche Feindſchaft allein, mit der
man ihm begegnete, hätte uns auf ihn aufmerkſam machen müfjen. Wir waren empört und
entruͤſtet über die Verleumdungen der Zunker, die jene Blätter täglich brachten; aber die
Adel 457
Verleumdungen des Alldeutſchen Verbandes haben wir ruhig auf uns wirken laſſen. Es ſitzen
dort keine verſtiegenen Phantaſten, ſondern kluge, real denkende Männer, die allerdings keiner
Clique angehören, dafür aber e ins über alles ſtellen: die Wahrung der deutſchen Ehre, die
bei vielen, die ſich Realpolitiker nennen, jeden Kurs verloren hat.
Warum haben wir ihn nie unterſtützt; warum unterſtützen wir ihn heute noch nicht?
Gehört nicht auch das zu den wichtigſten Aufgaben des echten Adels, das Wertvolle zu fördern,
wo immer er es findet? In allen den Vereinen, die vom jüdiſchen Großkapital unter Führung
einiger Regierungs vertreter gegründet werden, finden ſich ſeine Namen zahlreicher als in
den unabhängigen nationalen Vereinen.
Der Junker ſieht und erkennt nicht die ſtarken und tiefen idealen Strömungen unſeres
Volkes. Hindern ihn vielleicht daran die bisher freieren, abgeſchloſſeneren Verhältniſſe des
Land lebens, in denen er feine natürlichen Inſtinkte, fein Rüdgrat, feinen Stolz beſſer wahren
konnte, wie mancher vom modernen Leben vielfach abhängige Stadtbewohner oder Beamte?
Aus der Freiheit, die er jetzt noch beſitzt, ſollte er den Antrieb herleiten und die ehrenvolle
Pflicht, eine Brücke zu ſchlagen zu ſeinen kämpfenden Brüdern. Von dieſem gemeinſamen
Kampfe wird dann viel, ſehr viel abhängen für das Wohl des Vaterlandes. Er hat alle ihm
an ſich naheſtehenden „Intellektuellen“ allzulange von ſich ferngehalten; teils
aus Hochmut, teils aus falſch verſtandenem Eigennutz. Seine Macht wäre heute ſchon infolge
des Mangels an intellektueller Stütze erſchöpft, wenn ihm nicht die wirtſchaftlichen Elemente
im Bund der Landwirte einigen Erſatz zugeführt hätten. Doch unter dem wirtſchaftlichen
Geſichtspunkt allein kann man auf die Dauer weder eine Partei erhalten, noch
Politik im großen Stile treiben. Und beides brauch heute der Adel, wenn er eine
Macht bleiben will. Die Macht an ſich iſt nicht böſe. Wer zu ihr berufen iſt, ſie aber nicht zu
behaupten, ja nicht einmal um ſie zu kämpfen wagt, der wird ſchmachvoll zugrunde gehen;
und das mit Recht.
Wenn wir unfere Herrenrechte behaupten wollen, ſo müſſen wir mit ihnen die Ent-
wicklung unſerer Herrentugenden verbinden in dem Bewußtſein, für die leibliche und ſeeliſche
Beſchaffenheit unſeres Volkes, ſowie für ſeine Erziehung verantwortlich zu fein. Wo zeigen
ſich dieſe Tugenden heute in Krieg? Täte unſer Adel feine Pflicht, fo müßten fie ſich,
gerade in der Politik, klarer zeigen als je vorher. Dem objektiven Beobachter muß
das ganze politiſche Leben dieſer Tage den Eindruck eines eintönigen Grau erwecken, in dem
Konſervatismus, Nationalliberalismus, Zentrum, Freiſinn, Junkertum, Bürgertum, Zuden-
tum und katholiſche Kirche ineinander verſchwimmen. In ö Kompromiſſen ſtecken
auch noch Scheidemann und Liebknecht. g
Durch Paktieren mit den Feinden, durch Verſuche der a an ihn verlieren
wir nicht nur Würde und Ehre, ſondern auch die Macht, die in unſere Hand gehört, ſolange
wir an ſie den ſittlichen Maßſtab legen und ſie maßvoll handhaben. Wenn man ein Gebetbuch
in ein Butterpapier wickelt, wird nie das Butterpapier fromm, ſondern das Gebetbuch fleckig,
hat einmal Panizza geſagt.
Mögen wir rechtfertigen, was Nietzſche ſagt — wer kennt fein Werk unter uns? —:
„Die Zukunft der deutſchen Kultur ruht auf den Söhnen der preußiſchen Offiziere. Bauern-
blut iſt noch das beſte in Deutſchland und der märkiſche und preußiſche Adel und der Bauer
gewiſſer norddeutſcher Gegenden enthält gegenwärtig die männlichſten Naturen, und daß
die männlichſten Naturen herrſchen, iſt in der Ordnung.“
Sie müſſen ihre Männlichkeit aber auch betätigen. Ein großer Teil der altpreußiſchen
Lande iſt in ſeinen Händen, und der von ihm beeinflußte Teil der Bevölkerung iſt der einzig
wirklich zuverläſſig königstreue im alten Sinne des Wortes. Heute noch.
Heute iſt der Adel noch eine Macht. Er gebrauche ſie; noch ein kleines, und es wird
zu jpät fein!
AD
458 Die Berliner Akademie der Wiſſenſchaſten und Bismard
Die Berliner Akademie der Wiſſenſchaften
und Bismarck
ID
(N auf Erſuchen des preußiſchen Kultusminiſters hat die Berliner Akademie der Wiſſen⸗
f 22 N ſchaften ein Gutachten zu den Verdeutſchungen im preußiſchen Staatshaushalt
El Roerſtattet. Dieſes Gutachten läuft auf eine Verteidigung des Fremdworts hinaus.
Die Akademie beruft ſich für ihre Stellungnahme am Schluß ihres Gutachtens u. a. auch auf
Bismarck mit der Behauptung, er ſei „puriſtiſchen Beſtrebungen wenig geneigt geweſen“.
Dieſe allgemeine Wendung, die durch Belege nicht erläutert wird, nimmt ſich in einem wiffen-
ſchaftlichen Gutachten ſeltſam aus. Vielleicht meint die Akademie, Bismarcks bekannte Aus-
druckswelſe ſei genügend Beweis für ihre Behauptung von Bismarcks Stellung zu „puriſtiſchen
Beſtrebungen“. Dem iſt aber nicht fo. Auch hier iſt leider wie jetzt jo oft im politiſchen Mei-
nungskampfe Bismarck als Schwurzeuge angerufen worden, ohne daß man für nötig gehalten
hat, ſich mit ihm vertraut zu machen. In einem Geſpräch mit feinem wackern Schild knappen
Hermann Hofmann über die Puttkamerſche Rechtſchreibung kam die Rede auch auf die Fremd-
wörter: „Etwas anderes“, fuhr Bismarck da fort, „iſt es, Fremdwörter zu überſetzen oder
durch ein deutſches Wort auszudrücken. Sc ſelber kann mich zwar nicht mehr daran gewöhnen,
aber ich gebe bereitwillig zu, daß es nichts Auffallendes oder Störendes hat, wenn man z. B.
ſtatt Kuvert Briefumſchlag ſagt.“ Wie kann man angeſichts dieſer Außerung behaupten, Bis-
marck ſei „puriſtiſchen Beſtrebungen wenig geneigt geweſen“? Oeutlich hört man aus dieſen
Worten vielmehr fein Bedauern heraus, daß es für ihn zur Überwindung einer Angewohnheit
zu ſpät war. Hofmann ſpricht noch an einer andern Stelle von Bismarcks auffallender Vor;
liebe für Fremdwörter; und er meint, daß Pismarck viel Fremdwörter gebrauchte, „lag nicht
nur an den Gewohnheiten des diplomatiſchen Amtes, ſondern auch daran, daß er wie alle
ſeine Zeitgenoſſen eine Erziehung hatte, die auf den Gebrauch fremder Sprachen und Aus-
drücke, namentlich der franzöſiſchen, hinleitete. Was man in der Zugend immer vor Augen
und Ohren gehabt, das bleibt einem als Gewohnheit bis zum ſpäden Alter anhaften.“ Man
geht wohl nit fehl in der Annahme, daß Hofmann hier Gedanken wiedergibt, die Bismarck
ſelbſt — vielleicht öfter — geäußert hat.
Man kann alſo der Akademie der Wiſſenſchaften, genauer dem für die Abfaſſung jenes
Gutachtens verantwortlichen Herrn den Vorwurf nicht. erſparen, daß Bismarck recht leicht
fertig als Schwurzeuge zitiert worden iſt.
Es iſt ja gewiß ſehr hübſch und löblich, daß man ſich heute Bismarcks mehr erinnert
als früher und lebhafter das Bedürfnis empfindet, ſich auf feine Autorität zu ſtützen. Aber
dann ſoll man ſich auch die Mühe nehmen, den Mann, ſein Werk und ſeine Worte, kennen
zu lernen, ihn zu ſtudieren. Sonſt mißbraucht man ſeinen Namen und „blamiert“ ſich.
Hans Haefde
W
Roch ein Zeſue · Oratorium 459
Noch ein Jeſus⸗Oratorium
an wird es als ein Zeichen der Zeit anſehen dürfen, das Ausſicht auf Überwindung
des künſtleriſchen Tiefſtandes der letzten Jahrzehnte gibt, wenn jetzt mehrere
Muſiter ſich an die künſtleriſche Behandlung des Lebens Zefu wagen und mit
dieſen Werken Beachtung finden.
Nachdem im erſten Maiheft auf das bedeutſame Werk Gerhard v. Keußlers hingewieſen
worden iſt, ſollen die folgenden Zeilen zur Beſchäftigung mit dem Oratorium „Jeſus“ (Vor-
ſpiel und zwei Teile) von Paul Gläfer anregen, das bei C. F. Kahnt in Leipzig erſcheint.
Das Werk iſt ein erfreuliches Zeugnis dafür, daß in den ſächſiſch-thüringiſchen Kantoren,
die ſeit den Zeiten der Reformation dem deutſchen Volke die größten Meiſter evangeliſcher
Kirchenmuſik geſchenkt haben, der alte Schöpfergeiſt noch lebendig iſt, daß das Vorbild Bachs
in ihnen weiter wirkt und daß der geiſtige Zuſammenhang mit der alten Kunſt, der in dieſen
Kreiſen nie zerriſſen worden iſt, die rechte Grundlage für eine entwicklungsfähige Zukunft
geſchaffen hat.
| Mit Recht hat ein ernſthafter deutſcher Kritiker jüngſt bei der Beſprechung einer Auffüh-
rung neuer Kirchenmuſik betont, daß trotz aller Weiterbildung der Kunſt gerade in der kirchlichen
Muſik der Aufbau auf einem feſten Grunde überaus wichtig ſei. Luftſchlöſſer find nirgends
weniger am Platze als da, und etwas Ordentliches gelernt zu haben it die erſte Vorausſetzung
für das Gelingen großer kirchlicher Werte.
Gelernt hat Paul Gläſer, der als Kantor in dem ſächſiſchen Mittelſtädtchen Großenhain
wirkt, alles, was ein Kirchenmuſiker braucht. Seine muſikaliſche Satzkunſt iſt ausgezeichnet,
feine Behandlung der Solo- und Chorſtimmen geradezu ideal. Wenn man erlebt, wie ſündhaft
moderne Komponiſten mit den Singſtimmen umgehen, um nur zu erreichen, daß die Geſchichte
dann doch nicht klingt, kann man nicht genug rühmen, wie geſangmäßig Gläſer ſchreibt und
wie herrlich dieſer natürliche Geſangſtil klingt. Das Sopran; und Baritonſolo des Werkes
gehören zu den Aufgaben, um die ſich geſunde Stimmen reißen werden wegen der herrlichen
Wirkungen, die fie damit erzielen können. Und für Chöre gibt es kaum Oankbareres zu fingen
als dieſes Oratorium. Daß auch der Orcheſterklang blühend und reich und natürlich iſt, ſei
nur erwähnt.
Die Hauptſache iſt: das Ganze iſt echte Kirchenmuſik. „Was iſt echte Kirchenmuſik?“
fragte der bereits erwähnte Kritiker. Ohne Gläſers „Zefus“ zu kennen, gab er darauf eine
Antwort, die gleichzeitig als treffendſte Kennzeichnung der Gläſerſchen Muſik gelten kann.
Er antwortete: „Eine Muſik von innerer Kraft, die Kunſt und Volkstümlichkeit verbindet,
überzeugend durch Ungewolltheit im Ton und im Können, kernig und gemütsreich im Aus-
druck.“
Wie ſchwer die Verbindung von Kunſt. und Volkstümlichkeit iſt, beweiſt uns die Tatſache,
daß es je länger je mehr an neuen Werken auf allen Gebieten fehlte, die dieſe Forderung er-
füllen. Wie glänzend Gläſer ſie erfüllt, wird jede Aufführung feines Werkes von neuem be-
weifen.
Die evangeliſche Kirchenmuſik iſt der Heimatboden, auf dem er erwachſen iſt, und er
ſchuf ſein Werk aus innerer Notwendigkeit. Darum, daß es leben wird, braucht uns demnach
nicht bange zu fein; aber daß es fo bald als möglich überall zu klingendem Leben erweckt werde,
das wäre wünſchenswert. Denn die Beſchäftigung mit dieſer Muſik kann in vielen Tauſenden
von Sängern, die dies Oratorium in Choraufführungen mitſingen, wieder das rechte Gefühl
für wahrhaft geſunde deutſche Muſik wecken helfen, kann das Verlangen nach einer Kunſt ſtillen,
die den ganzen Menſchen erfaßt und in den Tiefen des Gemüts Kräfte erweckt, die leider viel;
fach geſchlummert haben und abgeſtumpft worden ſind.
460 | Oeutſcher Kunſtſchuz 7.
Daß das Werk dazu imſtande iſt, dankt es nicht nur ſeiner Mufit, ſondern vor allen Dingen
ſeiner ganzen Anlage, ſeinem Aufbau.
Auch das Bauen, das Gliedern, das man in früheren Jahrhunderten können mußte,
wenn man überhaupt als Künſtler gelten wollte, und deſſen Geſetze jedem von Zugend auf in
Fleiſch und Blut übergingen, haben unſere Modernen in allen Künſten ja gründlich verlernt.
Aber all dem Geſchwätz von Impreſſionismus und Expreſſionismus und ähnlichen Tagesphraſen
hat man vergeſſen, daß alles, was nicht umfallen foll, auf feſten Beinen ſtehen und wohl ge-
gründet ſein muß, und muß nun oft erleben, daß alle die ſogenannten Kunſtwerke, die man
in kindiſcher Unbeholfenheit zuſammenleimt und ⸗kleiſtert, keinen Halt haben und vom erſten
Sturm der Wirklichkeit über den Haufen geblaſen werden.
Gläſer iſt altmodiſch. Er hat einen Plan, er hat Grundſätze und Stilbewußtſein. Er
wählt von den verſchiedenen Möglichkeiten, Jeſu Wirken in einem großen muſikaliſchen Kunſt⸗
werk darzuſtellen, eine aus und bleibt dann feſt auf feinem Wege ohne Stil manſcherei und
Flickwerk.
Nicht nur, um den Vergleich mit Bach zu vergneiden, verzichtet er auf einen Erzähler.
Weil er ein geborener Dramatiker iſt, nimmt er an Stelle des epiſchen Berichts eine raſche
Folge von Szenen, in denen alle Perſonen unmittelbar handelnd auftreten, und fügt zwiſchen
die einzelnen Abſchnitte (etwa nach Art der Trauerſpiele der alten Griechen) Ruhepunkte ein,
die lyriſche Betrachtungen zur Vertiefung der angeſchlagenen Stimmungen geben.
Bei der ganzen Anlage ſeines Oratoriums zeigt er überall das natürliche Gefühl für
Sicherung und Wirkung des Aufbaus. Man ſteht vor dem Geſamtkunſtwerk wie vor einem
Bauwerk aus der alten Zeit, deſſen Teile im rechten Verhältnis zueinander ſtehen und ſich
gegenſeitig ſtützen und ſteigern.
Ich muß, um nicht unnötigerweiſe koſtbares Papier zu verbrauchen, darauf verzichten,
meine Behauptungen im einzelnen zu beweiſen. „Unnötigerweiſe“ glaube ich ſagen zu dürfen,
da ich hoffe, daß, wer Verlangen nach einem neuen kirchlichen Kunſtwerk hat, ſich veranlaßt
ſehen wird, meiner Worte Richtigkeit durch Vergleich mit dem eigenen Eindruck des Werkes
zu prüfen.
Gerade unter den Leſern des „Türmers“ werden wohl viele das Werk lieb gewinnen
und dafür ſorgen, daß es in den deutſchen Städten heimiſch werde.
Es iſt auch kleinen Städten zugänglich und ſollte vor allen Dingen da ſich feſt einbürgern,
wo ſich von Werken wie Bachs Paſſionsmuſiken doch nur unzulängliche Aufführungen ermög-
lichen laſſen. Ich möchte aber mit dieſer Bemerkung ja keine Unterſchätzung des Werkes als
eines etwa nur für Kleinſtädte geeigneten veranlaſſen.
Selbſt der hervorragendſte Chor in den deutſchen Großſtädten wird ſich der (übrigens
ungemein dankbaren) Aufgabe, dieſes Werk in aller Pracht erklingen zu laſſen, nicht zu ſchämen
brauchen. Dr. Georg Göhler
2
Deutſcher Kunſtſchutz ?!
ei den letzten Beratungen des Kunſthaushalts im preußiſchen Abgeordnetenhauſe
iſt des breiten über den Schutz des in Oeutſchland vorhandenen Nunſtbeſitzes
gegen Abwanderung verhandelt worden. Nur ungern verzichtete man auf ein
Geſetz, das ſogar den privaten Beſitz erfaſſen ſollte. Um jo überraſchender und peinlicher wirkt
unter dieſen Umftänden die Nachricht, daß gerade jetzt ein Stockholmer Sammler ein Meifter-
werk aus Rembrandts ſpäter Zeit, das Frauenbildnis mit dem Hunde, das dem Kolmarer
Muſeum gehörte, erworben hat. Es iſt alſo da eines der ſchönſten Werke Rembrandts, das
Oeutſcher Kunſtſchutz 2. . 461
man in öffentlichem deutſchem Beſitz ganz ſicher glaubte, verhandelt worden. Die „Runft-
chronik“ bemerkt zu dem Fall: „Es hätte wohl in einem ſolchen Falle, wenn denn zwingende
Gründe vorgelegen haben ſollten, zum Verkaufe zu ſchreiten, der Verſuch gemacht werden
mũſſen, das Werk für Deutfchland zu erhalten. Man hat gejehen, wie in England durch öffent-
liche Subfkription Meiſterwerke beſonderen Ranges vor der Abwanderung nach dem Auslande
bewahrt wurden, und es hätten ſich wohl auch in dieſem Falle Mittel und Wege finden laſſen,
einen unerſetzlichen Rembrandt für Oeutſchland zu retten. Diefes Bild iſt aber nicht das einzige
Stück, das die Stadt Kolmar aus ihrem Kunſtbeſitz veräußert hat, da gleichzeitig das ausgezeich-
nete Spedfteinrelief Friedrich des Schönen von der Pfalz, ein Hauptwerk von Dauher, ver-
kauft wurde. Als Käufer wird der Kronprinz Rupprecht genannt. Dies gibt vielleicht den
Schluͤſſel dafür, daß die bayeriſche Regierung, die ſeit Zahresfrift die Rolmarer Kunſtwerke in
ihrer Pinakothek gewiſſermaßen in Schutzhaft hat, die Erlaubnis zur Herausgabe des Rembrandt
aus der Pinakothek gegeben hat. Das Dauher-Relief iſt wenigſtens in Deutſchland geblieben;
weshalb machte aber der Statthalter von Elſaß- Lothringen, ohne deſſen Erlaubnis die Stadt
nicht verkaufen durfte, weshalb machte die bayeriſche Regierung nicht zur Bedingung, daß
der Rembrandt wenigſtens nur an ein öffentliches Muſeum in Deutſchland verkauft werden
durfte? Den Statthalter und vielleicht ſelbſt die Stadtverwaltung hat man wohl dadurch zu
dem Verkauf bewogen, daß ein Paar kleine Holzfiguren, die zum Iſenheimer Altar gehörten,
von dem Käufer des Rembrandt im Tauſch angeboten wurden. Aber was bedeuten dieſe
beiden derben Hirtenfiguren, die keineswegs etwa Arbeiten von Grünewald ſind, neben einem
Rembrandt, obendrein einem Hauptwerk des Künſtlers! Wenn unſere Behörden mit ſolchem
Beiſpiel vorangehen, wie konnten ſie daran denken, ein Kunſtausfuhrgeſetz in Ausſicht zu
nehmen!“
Nachträglich veröffentlicht die Korreſpondenz Hoffmann eine Erklärung der Direktion
der Kgl. Bayeriſchen Staatsgemäldeſammlungen, der zu entnehmen iſt, daß die Kolmarer
Stadtvertretung das Bild auf Grund des Angebots einer Münchener Kunſthandlung ver-
äußerte. Das Bild ſei erſt um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Kolmar gekommen, fei
in der rein elſäſſiſchen Sammlung wenig am Platz geweſen und der jetzige Verkauf habe die
Erwerbung einer geſchloſſenen Sammlung elſäſſiſcher Altertümer möglich gemacht, deren Ab-
wanderung zu befürchten war. Von dem Verkauf des Rembrandt Bildes nach Stockholm habe
man erſt viel ſpäter Kenntnis erhalten, es war beabſichtigt, das Bild in Oeutſchland unter-
zubringen. | Zu
Ob die in Frage kommenden amtlichen Stellen diefe Erklärung wirklich als eine Ent-
ſchuldigung für das unbegreifliche Vorkommnis auffaſſen? Wie konnte man dem Händler die
Möglichkeit zu einer fo heimlichen Abſchiebung laſſen? Überhaupt! Man betont ſonſt überall
die Verantwortlichkeit der Behörden gegen die Öffentlichkeit. Muſeen find ein Volksbeſitz,
ſelbſt wenn die Eigentumsverhältniſſe in einzelnen Fällen anders liegen ſollten. Zugegeben,
daß bei Ankäufen eine vorherige öffentliche Behandlung ſchädlich fein könnte, Verkäufe wich-
tiger Kunſtdenkmäler dürften keinesfalls heimlich vorgenommen werden. St.
| UA RX 7
0 it AN ( N N x N
ANA IA) NEE
— 77
Der Krieg
N 77 uch die nachtrã liche Veröffentlichung der Ausführungen des Grafen
8 . 9 555 N . *
7 N: Hertling vom 11. Zuli über Belgien haben nicht vermocht, die ſchädi⸗
4 gende Geſamtwirkung der hoch- amtlichen Kundgebung aufzuheben.
DIA Daran kann heute leider nicht mehr gezweifelt werden. Wohl findet
ſich in dieſen Ausführungen der Satz: „Wir müſſen uns in den Friedensbedingungen
dagegen ſichern, daß, wie ich es ſchon früher ausgedrückt habe, Belgien nicht wieder
das Vormarſchgebiet für unſere Feinde wird, nicht nur in militäriſchem Sinne,
Sur mers Oe
a,
ſondern auch in wirtſchaftlichem. Wir müſſen uns dagegen ſichern, daß wir nicht
nach dem Kriege wirtſchaftlich abgeſchnürt werden.“ So richtig das iſt, — doch
zeigt ſich hier, wie die „Deutſche Tageszeitung“ leider feſtſtellen darf, wieder der
alte, in unſeren Kriegszielbeſtrebungen ſo häufige Zwieſpalt und Viderſpruch:
„Das Ziel wird richtig bezeichnet, aber die Mittel, durch die allein es erreicht
werden kann, werden entweder abgelehnt oder bleiben unklar. Belgien
wird ſich in dieſe für das deutſche Ziel erforderlichen Bedingungen nur fügen,
und gar auf die Dauer, wenn es muß. Nicht als Vormarſchgebiet für unſere
Feinde im militäriſchen und im wirtſchaftlichen Sinn zu dienen, weder direkt noch
indirekt, das ſind Bedingungen, und zwar ſolche, welche den belgiſchen Neigungen
und Abſichten und der ſchon vor Kriegsbeginn befolgten Politik Belgiens ſtrilte
zuwiderlaufen. Wenn Graf Hertling darauf hinweiſt, das alles läge im belgiſchen
Intereſſe und die beſte Sicherung ſei eine Verſtändigung mit Belgien in wirtſchaft⸗
lichen und politiſchen Fragen, ſo klingt das ſehr hübſch, aber es ſind nur Worte, für
deren Verwandlung in wirkliche Akte und Zuſtände keine Möglichkeit, geſchweige
denn eine Wahrſcheinlichkeit beſteht. Auffallend iſt, wie daneben bemerkt werden
muß, daß der Reichskanzler auch dieſes Mal die maritime Seite der Frage
völlig außer acht läßt. Die Wiederherſtellung des ſogenannten Belgiens und
das Aufgeben der flandriſchen Küſte würde die deutſche Seemacht und Seegeltung
auf einen Bruchteil, ſogar ihres jetzigen Maßes, zurückführen und die „Freiheit
der Meere‘, die ‚freie Luft für die Entwicklung unſeres Volkes“ zu einer leeren
Phraſe machen. Wir möchten auch bei dieſer Gelegenheit in aller Beſcheidenheit
Türmers Tagebuch . | 465
zu bedenken geben, daß es der Sache nicht dienen kann, wenn vom Regierungs-
tiſche aus ſolche Luftſchlöſſer und Illuſionen gezaubert werden. Belgien wird ſich,
wie geſagt, nur verſtändigen, in dem vom Reichskanzler bezeichneten Sinne,
wenn es unbedingt muß. Wenn es aber auch geneigt und dabei ‚unabhängig‘
wäre, fo würden die Weſtmächte es beherrſchen und als willenloſes Ob-
jekt auf ihren Bahnen leiten.
Die jetzigen Auslaſſungen des Kanzlers aber werden bei den Belgiern und
ihrer Regierung und bei ihren Vormündern, nämlich den das Oeutſche Reich ver-
nichten wollenden Großmächten die gegenteilige Überzeugung hervorrufen,
daß nämlich der Kanzler bereit ſei, Belgien aufzugeben und dieſe Ab-
ſicht nur durch einige Redewendungen verſchleiert habe, einmal um
ſeinen Rückzug nicht zu ſichtbar zu machen, dann, um die deutſche Bevölkerung
glauben zu machen, das deutſche Ziel laſſe ſich auch ohne Mittel erreichen. Man
wird bei unſeren Feinden in den Darlegungen des Kanzlers vor allem in der
Tatſache ihrer Veröffentlichung wohl die Anbahnung des Entſchluſſes
zum Rückzuge und den Ausdruck vollendeten Zweifels an der Mög—
lichkeit einer für Deutſchland ſiegreichen Ausnutzung des Krieges
erblicken. Unſere Feinde werden nicht töricht genug fein, ihrer Zufriedenheit
Ausdruck zu geben, ſondern das Gegenteil betonen, ſchon um der deutſchen
linken Preſfſe das nötige Futter zu geben.
Die „Germania“ und Blätter der Linken erklären bereits, daß die deutſche
Verwaltung in Belgien ſich der Politik des Kanzlers nunmehr anpaſſen müſſe,
das bedeutet die Forderung des Aufgebens einer getrennten Dlamen-
Politik und Wallonen-Politik. .. In der Tat würde es ziemlich zwecklos fein,
jene getrennte Politik der Vlamen und der Wallonen zu treiben, wenn man nachher
ein Belgien herſtellen will, welches unabhängig — gegen Selbſtändigkeit
Flanderns und Walloniens haben wir nichts, wie geſagt — wäre. Jene „Un-
abhängigkeit“ würde lediglich Abhängigkeit von unſeren Feinden
bedeuten und zwar eine ſchon jetzt von Belgien erſehnte und erſtrebte
Abhängigkeit. Ein ſelbſtändiges Flandern und Wallonien iſt aber
nur unter deutſchem Kurs denkbar, darüber mögen ſich Vlamen und Wallonen
keinen Illuſionen hingeben, vor allem aber wäre es außerordentlich töricht, wenn
Deutſche es glaubten. Der belgiſche Staat und die jetzige Oynaſtie ſind im Laufe
des Krieges zu einer Verkörperung, zu einem Symbol des Zufammen-
ſchluſſes unſerer Feinde geworden und nebſt ihren Anhängern mit Haß und
Rachſucht angefüllt. Dem kann nur durch Teilung und durch die Entfernung
der Oynaſtie und durch paritätiſche Pflege und Entwicklung der beiden
Stämme unter deutſchem Schutze begegnet werden.
Der Reichskanzler hat in feiner Rede vom 11. Zuli auch gejagt: „dieſes
Fauſtpfand gibt man alſo nur heraus, wenn dieſe Gefahren befeitigt find‘. Auch
damit kann man an und für ſich einverſtanden ſein, wenn die Begriffe der Gefahren
und ihrer Beſeitigung nicht durch die nachfolgenden Sätze wieder ö zum
mindeſten fraglich und utopiſch gemacht worden wären.
Die Ausführungen des Kanzlers beider Tage und die Tatſache, daß ſie
464 | | Zürmers Tageduch
gemacht, vor allem, daß fie veröffentlicht Sue ind durch den Oruck der
Sozialdemokratie und die Furcht vor ihr hervorgerufen worden. Das
iſt der eigentliche Kernpunkt der ganzen Sache. Dieſe Angſt ſcheint in Oeutſch⸗
land alſo nunmehr unveränderlich den maßgebenden Einſchlag der politiſchen
Weltanſchauung und Ziele bilden zu ſollen. Man wird weit damit kommen. Die
fortwährende Berufung des Kanzlers auf die Oberſte Heeresleitung wird am
Endergebnis nichts ändern.“
> *
* i .
Die Furcht iſt ein ſchlechter Berater. Im bürgerlichen Leben mag ſich der
einzelne mit'dem Schaden, der ihm aus feiner übergroßen Angſtlichkeit erwächſt,
abfinden, wie er will und kann; im politiſchen aber müſſen die Völker für ihn
haften und opfern. Das erleben wir nicht nur im Reiche, ſondern auch an der uns
verbündeten Monarchie. Dort war (und iſt!) die Furcht eine zwiefache: die vor
der roten Internationale und die vor den (jlawifchen) „Nationalitäten“. Zetzt ſcheint
die Erkenntnis zu dämmern, daß man ſich durch dieſe Fürchte nur noch tiefer in
die Neſſeln geſetzt, nur noch in größere, in unmittelbare Lebensgefahr geſtürzt hat.
„Nach den zwei beamteten Männern der Monarchie,“ ſchreibt die „Tägl. Rund-
ſchau“, „nach Burian und Seidler, der nicht mehr beamtete, der Mann, der offiziell
von der politiſchen Bühne abgetreten iſt, aber hinter den Kuliſſen wohl um ſo
ſtärkeren Einfluß hat, Graf Czernin. Neulich erſt von Kaiſer Karl empfangen
und von der Wiener pazifiſtiſchen ‚Neuen Freien Preſſe“ hoffnungsvoll wieder
als Mann der Zukunft empfohlen, deſſen Audienz dann auf einmal lediglich pri-
vaten Charakter hatte und der an allerhöchſter Stelle, ſo ſollten wir es glauben,
natürlich nur über rein nichtpolitiſche Fragen geſprochen hatte. Aber Graf Czernin,
der in den Friedensfragen die Führung übernommen und zu Bethmanns Zeiten
der Wortführer der Mittelmächte geworden war, iſt nicht der Mann, der auf ſeinem
Gute Ackerbau und Viehzucht triebe, er iſt auch jetzt noch der Diplomat, der den
Ehrgeiz hat, die Politik des Ballplatzes, der Wilhelmſtraße zu beeinfluſſen, und
bei dem die Welt aufhorcht, wenn er ſpricht. Dieſer perſönlichen Vorliebe hat
der offizielle Nachrichtendienſt Rechnung getragen und uns die Rede des Grafen
Czernin im Wortlaut vorgeſetzt. Ihre tatſächliche Bedeutung entſpricht ihrem
Umfange, und man wird ſich in ihrem innerpolitiſchen Teil im Anſchluß an die
auf den gleichen Ton geſtimmten Darlegungen Burians und Seidlers als den
Notſchrei eines Mannes anzuſehen haben, der zur Einſicht gekommen iſt, daß
Oſterreich- Ungarn in dem von der Entente angerührten Strudel untergehen müffe,
wenn nicht eine gründliche und dauernde Anderung des Kurſes eintritt, der die
Deutſchen Sſterreichs benachteiligte und die Tſchechen und ſonſtigen Feinde der
Monarchie verhätſchelte. Graf Czernin ſieht die Gefahr darin, daß man in Deutſch⸗
land aus dem Kurſe, der namentlich ſeit der Thronbeſteigung Kaiſer Karls betrieben
worden iſt, und der ſich, unglückbringend am 2. Juli 1917, alſo vor mehr denn
FJahresfriſt, darin äußerte, daß Kaiſer Karl anläßlich der Geburt eines Sohnes
Tauſende von flawiſchen, hauptſächlich tſchechiſchen, Hochverrätern begnadigte,
die Auffaſſung herleiten müſſe, in Zukunft würden dieſe Elemente in Wien in
Regierung und Hofburg die Hauptrolle fpielen, und Sſterreich- Ungarn müſſe
K
Zürmers Tagebuch 465
demnach der Feind Deutſchlands werden, weshalb es deutſcherſeits Pflicht fei,
mit Mißtrauen dieſer Politik gegenüberzuſtehen. Graf Czernin hat am 2. April
vor den Mitgliedern des Wiener Gemeinderates den Wahnſinn dieſes Tſchechen-
kurſes mit klaren und deutlichen, unmißverſtändlichen Strichen gezeichnet, und den
Finger an die Wunde gelegt, an der Öfterreich leidet. |
Die Folge war, daß Graf Czernin, als er mit Clemenceau die Auseinander-
ſetzungen hinſichtlich des Kaiſerbriefes hatte, durch tſchechiſche Intrigen in der
Hofburg zu Falle kam. Seine Gegner, deren verräteriſches Treiben er bloßgelegt
hatte, waren ſtärker geweſen als er, und der Kaiſer Karl, der mit der Wandlung
der Tſchechen gerechnet hatte, konnte ihn nicht halten. Nun hat Herr v. Seidler
jetzt eine Anderung des Kurſes angekündigt und ſich wieder auf den deutſchen Kurs
beſonnen, derſelbe Herr v. Seidler, der nach feiner am 23. Juni 1917 er-
folgten Berufung zum Minifterpräfidenten am 2. Juli 1917 den tſchechiſchen
Begnadigungsakt unterſchrieben und gutgeheißen hatte und der durch
Berufung eines mit dem CTſchechentum verwachſenen Ukrainers und der Be—
rufung des ſloweniſchen Sektionschefs Dr. Jvan Zolger und des tſchechiſchen
Herrenhausmitgliedes Grafen Silva-Tarouca ſeinem Miniſterium eine bedroh-
liche Zuſammenſetzung gegeben hatte. Begreiflich, daß man in deutſchen und
bündnistreuen Kreiſen Sſterreichs dieſem Minifterpräfidenten fkeptiſch gegen-
überſtand. Als Herr v. Seidler im Abgeordnetenhauſe ſeine Rede gehalten, hatte
er zwar von den überraſchten Deutſchen ſtarken Beifall und die Verſicherung der
Unterftüßung gefunden, aber im Herrenhauſe war man kalt geblieben. Seidler
hatte ſeine gleiche Rede ohne ein Zeichen des Beifalls wiederholen müſſen; man
konnte und wollte ihm nicht vergeſſen, daß er, wie die „Neue Freie Preſſe“ ſich
ausdrückte, noch immer der Miniſterpräſident der Amneſtie, taſtender Ver—
faſſungspläne und duldſamen Gewährenlaſſens bei den politiſchen Ausſchreitungen
der Tſchechen war, ein Mann, der feine Linie nicht gefunden hat. Sollte Seidler,
im Begriffe ſich zu wandeln, jetzt durch das Herrenhaus fallen, hatte man in Wien
beſorgt gefragt, und dabei an den Einfluß des Herrenhauſes gedacht. In dieſem
Augenblick iſt Graf Czernin für Seidler eingetreten und hat erklärt, wenn der
Miniſterpräſident wirklich den Weg gehe, den er gehen wolle, dann würde man
ſich unbedingt hinter ihn ſtellen müſſen. In der äußeren Politik ſei es der deutſche
Kurs, den Sſterreich- Ungarn gehe, der innere Kurs müſſe auch der deutſche fein
und bleiben, denn nur dann ſei eine geſunde Politik möglich, jeder andere Weg
ſchädige den europäiſchen Einfluß der Monarchie.
Das iſt für Czernin der ſpringende Punkt. Wie könne man europäiſche
Politik machen, wenn man das Vertrauen Deutſchlands nicht beſitze, deshalb nicht
habe, weil die Wege der Monarchie unklare ſeien, und gerade dieſen Einfluß auf
die europäiſche Lage wünſcht Czernin für Oſterreich-Ungarn. Woraus hervorgeht,
daß Berlin der Wiener Politik die Führung bis zu einem gewiſſen Grade wieder
abgenommen hat und daß man dieſen Zuſtand in Wien mit Beſorgnis ſieht. Des-
halb wirbt Graf Czernin um unſer Vertrauen in einer immerhin beachtenswerten
Form und iſt in ſeiner Verurteilung des Tſchechenkurſes diesmal von beiſpielloſer
Schärfe, die die ſeiner Rede am 2. April um ein Weſentliches übertrifft. De ver-
Der Türmer XX, 22
466 Türmers Tagebuch
urteilt er zugleich die Hofpolitik, die durch ihren Einfluß der Monarchie den Weg ins
Freie verbaue und die Friedens- und Bündnispolitik der Mittelmächte erſchwere.
Denn, fo meint Czernin, wo ſoll der Friede herkommen, wenn der Friedensver⸗
mittler fehle, der Oſterreich- Ungarn doch fein könne, Oeutſchland Wien aber ab-
lehne? Wo ſoll der Friede herkommen, wenn das Ausland zu der Erkenntnis
gelangen müſſe, dank der Macht der Tſchechen und Slawen ſei der Ab-
fall der Monarchie vom Bündnis nur eine Frage der Zeit? Alles das
ſagt Graf Czernin in der Hauptſache nach oben, es ſoll aber auch in Berlin und
im Ausland gehört werden. Man ſoll ſich in Berlin des Freundes an der nicht
immer blauen Donau erinnern, der weniger unbeliebt ſei als der große Bruder
an der Spree, der keine direkten Reibungen mit England habe, und der in ſeinen
Anſprüchen „beſcheidener“ fei, ‚freier von Wünſchen nach Ländererwerb“ als der
große Bruder an der Spree. Herr Graf Czernin beliebt zu ſcherzen. Hfter-
reich- Ungarn fühlt ſich ziemlich frei von Wünſchen nach Ländererwerb? Man
kann jo etwas leicht ſagen, nachdem man geſättigt vom Tiſche aufge
ſtanden iſt und reichlich Landerwerb in Rumänien erhalten hat und
vielleicht nur noch in Serbien und an der italieniſchen Grenze Berichtigungen
verlangen wird, und nicht nur nicht abgeneigt iſt, vielmehr die Forderung
ſtellt, ganz Polen unter Habsburger Schutz zu ftellen, während der deutſche
Bruder bisher alle Hände voll zu tun hatte, fein Haus — und das ſeiner Bundes-
genoſſen — zu ſchützen. Oder würde Graf Czernin uns ſagen können, wo wir
nur einen Zoll Neuland mit dem Oeutſchen Reiche vereinigt haben? Graf Czernin
verſichert, daß die Monarchie die deutſchen Intereſſen genau ſo vertreten wolle wie
die eigenen, und deshalb eben wolle man die erſte Violine im Friedens-
konzert ſpielen. Der Wunſch iſt verſtändlich, und daß Sſterreich- Ungarn unfere
Intereſſen genau ſo vertreten wolle wie die ſeinigen, iſt bundesgenöſſiſch gedacht
und zugleich ſelbſtverſtändlich, denn auch wir haben auf den Schlachtfeldern die
Intereſſen des Freundes zu den unſeren gemacht, ohne vorher zu fragen, welche
Kriegsziele der Bundesgenoſſe beſitze, haben auch nicht beſorgt gefragt, ob deſſen
„Ziele defenſiver oder offenſiver Natur ſeien. Graf Czernin ſagte in dieſem Zu-
ſammenhang: für Eroberungsziele eines „fremden Staates“ würden die Völker
Sſterreichs den Krieg nicht führen, ‚diefe Zumutung“ allein müßte das Bündnis
ſprengen.
Man ſollte meinen: nach den wiederholten klipp und klar ausgeſprochenen
Erklärungen des Kanzlers, die im Namen und im Einverſtändnis mit der deutſchen
Oberſten Heeresleitung abgegeben worden find, ſollte Graf Czernin wiſſen,
daß Deutſchland, der ‚fremde Staat‘, keine „Zumutung“ an die Monarchie geſtellt
hat, für deutſche ‚Eroberungsziele‘ den Krieg fortzuführen, daß wir nur unſer
Leben ſichern wollen und müſſen. Graf Czernin möchte den Frieden auch jetzt
anlocken, wie er es während ſeiner ganzen Amtszeit vergeblich getan hat, aber er
ſollte bedenken, daß er letzten Endes gegen den Frieden arbeitet, wenn er
die Sprengung des Bündniſſes an die Wand malt und die Gegner in dem
Glauben beſtärkt, Deutſchland hätte Kriegsziele, die auf eine Unterjohung der
Welt hinauslaufen. Ein deutſcher Sozialiſt, Dr. Paul Lenſch, hat neulich in der
Zürmers Tagebuch 467
‚Siode‘ beklagt, daß infolge der mangelnden Initiative der deutſchen Staats-
männer im Auslande der Glaube möglich geworden iſt, die Freiheit und die
menſchliche Kultur würden vernichtet, wenn Oeutſchland nicht vernichtet würde.
Solche Reden wie die des Grafen Czernin über die deutſchen
Eroberungsziele müſſen dieſen Glauben vertiefen und den feind—
lichen Vernichtungswillen ſtärken. Das liegt nicht im deutſchen Intereſſe,
deren Vertretung Graf Czernin uns in Ausſicht ſtellt. Wir haben in Oeutſchland
volles Verſtändnis für ſeine Beſtrebungen, den Frieden herbeizuführen, aber dies
zarte Gewächs will vorſichtig mit zarten Händen angefaßt werden, ſonſt gedeiht es
nicht. In dieſer Hinſicht waren die Reden des Grafen Burian und des Herrn
v. Seidler die zweckmäßigeren, fo ſehr wir es begrüßen, daß auch Graf Czernin
ſich dafür einſetzt, daß Sſterreich- Ungarns Politik auf den deutſchen Kurs feit-
«
gelegt werde, N 5 4
Ungelöfte Fragen, Probleme, Hinderniſſe und Hemmungen, wohin wir nur
ſchauen. Und, was das Bitterſte, zu einem guten Teile ſelbſtgeſchaffene, felbit-
heraufbeſchworene. Das neueſte — Litauen! Wie waren die Litauer froh,
daß ſie nur befreit wurden und ſich unter deutſchen Schutz ſtellen durften! Und
heute ? „In Litauen,“ jo wird dieſes Skandalon in der „Unabhängigen National-
korreſpondenz“ vorgeführt, — „in dem durch deutſches Blut befreiten, durch
deutſche Großmut zu neuem nationalen Leben erwachten, dem noch unter deut-
ſcher Militärverwaltung ſtehenden, in Litauen wandelt man polniſche Wege,
konſtituiert ſich im Teil der Taryba, des Landesrates, aus eigener Machtvoll-
kommenheit, über den Kopf der deutſchen Verwaltung und Regierung hinweg zum
Staatsrat — nicht einmal in Varſchau beſaß man ſolche Dreiſtigkeit —, und bietet,
als erſte Amtshandlung, abermals über den Kopf der deutſchen Regierung hin-
weg, dem Herzog von Urach die Krone des Landes an. Es genügt, den offiziöſen
Kommentar zu leſen, der dieſer Erſtaunlichkeit mit auf den Weg gegeben wird.
Da wird die Übergehung der Reichsregierung feſtgeſtellt, dem Staatsrat die Kom-
petenz ſamt dem Recht, ſich zu konſtituieren, beſtritten, erklärt, daß Litauen nicht
das Recht zugeftanden werden könne, in der Thronfrage eine ſelbſtändige Ent-
ſcheidung zu treffen, ohne daß dabei den deutſchen Intereſſen entſprechend Rech-
nung getragen werde. Der mit der Kronantragung Bedachte ſei infolgedeſſen
peinlich berührt und habe nicht angenommen. Schön und gut ſoweit. Ins-
beſondere die endliche deutliche Hervorkehrung der deutſchen Intereſſen. Nur
ſteht der Durchſchnittsmenſch wieder vor der Frage: wie konnte es überhaupt
wieder einmal ſoweit kommen, wo kommen wieder einmal dieſe impertinenten
vollzogenen Tatſachen her? Die Regierung iſt nicht unſchuldig, wenn auch die
Hauptſchuld anderswo liegt. Es war ein grundlegender Fehler, daß man
die Tabyra, den Landesrat, feinerzeit feine Unabhängigkeitsaktion vom
Stapel laſſen, die damalige Erklärung als Grundlage für die weitere Entwicklung
paſſieren ließ, ſtatt energiſch und deutlich den Unterfchied zwifchen, vom Stand-
punkt der deutſchen Intereſſen, unmöglicher An abhängigkeit und zuzugeſtehen⸗
der Selbſtändigkeit klarzumachen. Zetzt, wo ſich der Landes- bzw. Staatsrat
27 best WERL *
468 | Türmers Tagebuch
Rechte anmaßt, die aus Unabhängigkeit allerdings reſultieren würden, betont man
die deutſchen Intereſſen. Damals hat man geſchwiegen, den Erzberger und
Genoſſen zuliebe. etzt reifen die Früchte. Denn es find Früchte Erzberger-
ſchen Wirkens, die uns dieſe Sommertage verſchönen. Der Herzog von Urach
iſt bekanntlich des Buttenhäuſers heißer Favorit im Rennen um die Krone Gedy-
mins. Und der Königsmacher hat alle Künſte ſpielen laſſen, um die Litauer für
ſeine Pläne zu gewinnen. Gekirrt hat er ſie vollends, indem er ihnen Schutz und
Schild war, ſamt feiner Reichstagsmehrheit, in allen Fragen, die fie in Widerſtreit
mit deutſchen Intereſſen brachten. Es braucht ja nur von irgendwo her jemand mit
Beſchwerden gegen deutſche Verwaltung und deutſche Regierung aufzutauchen,
ſo findet er im Reichstag das Gremium der Erzberger, Haußmann, Haas, David
bereit, eine fürchterliche Muſterung über Regierung und Militärbehörden abzu-
halten und in ſchöner Argloſigkeit auf das heilige Recht der Fremden gegen—
über den deutſchen Intereſſen zu ſchwören. Dann werden in einem Konferenz-
zimmer am Königsplatz die Köpfe zuſammengeſteckt, dann wird ‚Material‘ über⸗
reicht, dann geht der Tanz im Hauptausſchuß und im Plenum los, und alles iſt
zufrieden. Die Herren aus Polen oder Litauen oder der Ukraine, weil, ſie ſolch
mächtige Schützer gefunden haben, die ihnen die Bruſt mit neuer Impertinenz und
Aufſäſſigkeit ſchwellten, die Herren der Volksvertretung, weil fie erſtens wieder
etwas zu regieren und zweitens einen Grund haben ſich zu wundern, was ſie doch
eigentlich für Mordskerle find. Und fo wäre alles in Ordnung; die deutſchen
Intereſſen freilich, die ſind beim Teufel. Soll ſich eine Reichstagsmehrheit,
die alle Monate aus einer anderen Ecke Frondeure unter ihren ſchützenden Mantel
zu nehmen hat, auch noch um deutſche Intereſſen kümmern?
Das Endergebnis ſolch echt Buttenhäuſer Abderitenſtreiche haben wir vor
Augen. In dieſem Frühjahr Höllenlärm gegen die Militärverwaltung Litauen,
weil fie die Herren von der Taryba nicht nach allen Richtungen der Windroſe
fahren läßt, Nackenſteifen aller Aufſäſſigen: wir von der Mehrheit ſorgen ſchon,
daß euch kein Haar gekrümmt wird. Zuverſichtlicher Glauben der mit ſolcher Gunſt
Beehrten. Drei Monate ſpäter ſieht ein Kind, daß die Militärverwaltung im Recht
war, die Dinge richtig beurteilte, die deutſchen Intereſſen zu wahren ſuchte. Was
damals durch Geltendmachen der deutſchen Stellung im Wege der Verſtändigung
hätte erreicht werden können, das muß jetzt im offenen Konflikt erzwungen
werden: die Angleichung zwiſchen deutſchen Intereſſen und litauiſchen Wünſchen.
Wo ſchiedlich-friedliches Vertragen zu gegenſeitiger Wertſchätzung geführt hätte,
da muß jetzt Unterwerfung des einen Teils eintreten, die ihn verbittert und ent-
fremdet. Warum? Weil parlamentariſche Schildbürger unter Voran
tritt des unvermeidlichen Herrn Erzberger den letzten Reſt kühler
Aberlegung aus den Köpfen der von ihnen Beſchützten vertrieben,
ihnen einen Teil ihres Größenwahns eingeimpft haben. etzt erhält der litauische
‚Staatsrat‘ feine Abfuhr vor aller Öffentlichkeit, und der Herzog von Arach i
‚peinlich berührt“. Sie mögen ſich beide mit Herrn Erzberger auseinanderſetzen,
der ihnen ſolch minder erfreuliche Situationen ſchuf. Aber damit ſind doch die
Dinge nicht erſchöpft. Der Schaden für das Reich, der Eindruck im Aus
Türmers Tagebuch 469
lande, die beiderſeitige ſcharfe Verſtimmung, das ſind doch empfindlichere
Realitäten. | |
Wie lange ſollen ſolche Dinge noch fortgehen? Wie lange die Erz-
berger und Genoſſen ein Monopol auf Schädigung der deutſchen Intereſſen
an allen Ecken und Enden genießen? Herr Erzberger, der in ſeinem vorzüg-
lichen Ernährungszuſtande einen geradezu hervorragenden Landſturmmann ab-
geben würde, iſt kürzlich vom Auswärtigen Amt wieder weiter reklamiert worden,
nachdem feine Zurückſtellung vor einiger Zeit abgelaufen war. Der mit Laien-
verſtand Begabte begreift nicht, daß man den trefflichen Schwaben ſo von der
Erfüllung ſeiner vornehmſten Bürgerpflicht abhält. Begreift es erſt recht nicht
angeſichts des Unheils, das er an allen Enden anrichtet. Man kann geſpannt fein,
ob nach dieſer neueſten Frucht Erzbergerſcher Quertreiberpolitik in der
Wilhelmſtraße auch weiterhin ſeine Unentbehrlichkeit empfunden wird. Das
deutſche Volk aber verbittet es ſich, daß feine Intereſſen, für die es Gut und Blut
opfern muß, durch die Großmannsſucht einzelner in derart ſchwerer
Veiſe geſchädigt werden, wie es durch die Konventikelpolitik im Reichs-
tage geſchieht.“ |
Frieden?
Wi wir uns den Weg zu ihm ſelbſt
verrammelt haben, wie die Schafe
verrammeln lie ßen durch „Staatsmänner“,
deren politiſche Inſtinktloſigkeit und Unfähig⸗
keit nur noch durch eine deutſche Neichstags-
mehrheit überboten werden konnte! „Jedes
Jahr,“ hebt Prof. Dr. Fritz Kern in der
„T. R.“ hervor, „haben wir irgendeine grobe
Torheit begangen, welche den Eindruck unfe-
rer Siege verwiſchte und den Feinden den
| Entſchluß zu einem neuen Kriegsjahr er⸗
möglichte. Es ſcheint nunmehr feſtzuſtehen,
daß die Feinde auch zum Kriegsjahr 1919
entſchloſſen find. Die inneren Wirren Öfter-
reichs, der durch uns nicht verhütete Maritza⸗
ſtreit, die von uns dem rumäniſchen Thron
erhalten gebliebene Ententedynaſtie, weit
über all das hinaus aber die Ungeſchicklich⸗
keiten deutſcher innerer Politik beſtärkten, wie
es ſcheint, wieder einmal ihre Einbildungen.
Und wir ſelbſt find es, die durch unſere
unpolitiſchen Außerungen den Feinden unſere
Kraft und unſeren tiefſten Willen zur Selbft-
behauptung beſſer verſchleiern, als es irgend;
ein Spionageabwehrdienſt vermöchte. So-
lange Bethmann regierte, wußte England,
daß es immer noch einen guten Frieden be-
kommen konnte. Es hatte alſo keine Eile,
ihn zu erlangen. Solange der Krieg währte,
war dann ja das Riſiko Deutſchlands viel
größer als das Englands. Als dann Beth-
mann ging, übernahm die Reichstagsmehrheit
das Geſchäft, die Feinde zu verſichern, daß
ſie bei endloſer Verſchleppung des Krieges
nichts riskierten. So wütet ſie nur aus
politiſchem Ungeſchick gegen ihre eigenen
guten Abfichten. .
Unſere Feinde haben zu viel in den
Krieg hineingeſteckt, als daß ſie ihn mit
einer halben Löfung beendigen wollen. Sie
wollen uns ruinieren, ſie wollen ſich nicht
mit uns verſtändigen. Das iſt heute eine
Tatſache. Das Einzige, aber auch Aller-
einzige, was der Menſchheit den Frieden
wiederbringen kann, iſt der Glaube an
den Stern Oeutſchlands. Würde jeder
Deutſche ihn ſich des Morgens und Abends
erflehen, dann hätten wir vermutlich den
Frieden ſchon längſt. Denn auch der Welt-
bund der Feinde kann nur dadurch ver-
anlaßt werden, an feinem geringeren Riß
zu verzweifeln, daß ſich ihm der Glaube An
den Stern Oeutſchlands aufdrängt, wie denn
dieſer zum Beiſpiel auch über die politiſche
Entwicklung in Oſteuropa ſchließlich ent-
ſcheiden wird.
Ein Staatsmann, der nicht an Oeutſch⸗
land glaubt, iſt in gegenwärtiger Stunde in
Deutſchland undenkbar. Statt deſſen aber
hat Kühlmann auf die Notwendigkeit po-
litiſch-diplomatiſcher Verhandlungen hinge
wieſen. Ja, worüber ſoll man denn unter-
handeln? Über Wilſons Phraſen, die nur
dazu dienen, die deutſche Demokratie gegen
eine eingebildete Annexioniſtengefahr aufzu-
putſchen und zum angelſächſiſchen Gimpel zu
machen? Wollte man hierüber unterhandeln,
dann würde man ſehr bald auf den Punkt
kommen, wo Deutſchland alle Viere
von ſich ſtrecken müßte. Es gibt eben nichts
zu verhandeln, ſolange die Feinde noch eine
deutſche Niederlage für möglich halten und
hoffen können, daß der Unglaube vielleicht
Auf der Warte
den Deutſchen noch verderben und mit der
angelſächſiſchen Weltherrſchaft wettbewerbs-
unfähig machen wird. Die Angelſachſen
haben bisher noch jeden Gegner beſiegt, der
mit ihnen angebunden hat. Sie haben nie
den Glauben an ſich ſelber verloren,
ihr jeweiliger Gegner ſtets. Wer mit den
Angelſachſen Krieg hat, mache ſich dies
bis in alle Folgen hinein klar.
gebt haben wir einen neuen Staatsſekre-
tär, von dem, auch bevor man ihn kennt, an-
zunehmen iſt, daß er an Deutſchland glaubt.
Sonſt hätte er ſich doch nicht auf dieſen Poſten
ſetzen laſſen! Er wird den Angelſachſen viel-
leicht die Augen öffnen über die Einmütigkeit
unſeres Glaubens und damit unſerer Kraft.
Allſofort aber erhob ſich deutſcher
Philiſterſinn aufgeregt und forderte naiv
und ungeſchickt (als ob der Feind nicht Honig
aus jeder Blüte ſaugte), daß der gute Ein-
druck des Miniſterwechſels ſofort aufge-
wogen werde durch eine neue Verkündi⸗—
gung des Kleing laubens .
Zn Wahrheit hat ſchon die bloße Nachricht
von Kühlmanns Entlaſſung das deutſche An⸗
ſehen in Holland und Skandinavien ausge-
ſprochen geſtärkt. Der Nieuwe Rotterdamſche
Courant aber erklärte: ‚So erhalten denn die
Deutſchen endlich auch ihren Lloyd George
oder Clemenceau. Zt dies ein Schlag für
den Frieden? Auch die ſogenannte Ver-
ſöhnungspolitik opn deutſcher Seite hat den
Frieden nicht gebracht.“ Der Vergleich mit
Lloyd George und Clemenceau hinkt. Aber
daß v. Hintze die Tür zum Frieden ſich ebenſo
durch Verſöhnungsungeſchicklichkeiten werde
verrammeln laſſen wie ſein Vorgänger, iſt
allerdings nicht wohl anzunehmen.“
*
Sin Taſtverſuch des Grafen
Czernin
Gez fo ſetzt ſich die „Oeutſche Tages-
zeitung“ mit der letzten Rede des Grafen
Czernin abſchließend auseinander, — „gewiß
hat der frühere k. k. Außenminiſter die Ab-
ſicht, im Auslande gehört zu werden. Aber
für fo naiv halten wir den Grafen nicht, als
daß er ſich an den Markt ſtellt und ohne
471
Nebenabſichten ruft: „Wir Öfterreicher find
gute Leut', wir laſſen mit uns reden, und
weil wir mit uns reden laſſen, müßt ihr auch
ſo geſcheit ſein und auch mit dem Bruder
Preuß reden‘. Wenn man ſich das vor Augen
hält, verſteht man, daß dieſe Ausführungen
zum mindeſten ebenſogut auf Berlin be-
rechnet waren, ja daß dies ihre Hauptabſicht
geweſen iſt. Schon in Berlin, unmittelbar
vor ſeinem Rücktritt, hat Graf Czernin mit
der pazifiſtiſchen Strömung einer ge-
wiſſen Preſſe in Sſterreich gearbeitet.
Damals geſchah dieſe Arbeit nicht in der
breiten Offentlichkeit wie jetzt. Für dieſe
pazifiſtiſche Preſſe iſt der Satz von der Ge-
fährdung des Bündniſſes berechnet, für ſie
iſt auch der Satz berechnet, ‚aus dieſem Di-
lemma wäre doch ein Ausweg zu finden,
wenn jede der beiden Mächte ihre Friedens-
vorſchläge ſchriftlich einer neutralen Macht
übermitteln würde‘. Es iſt das ein Gedanke,
der in Öfterreih bis in die allerhöchſten
Kreiſe hinein ſehr reichlich propagiert wird,
und deſſen hauptſächlichſte Träger in deutſch⸗
nationalen öſterreichiſchen Kreiſen als die
drei ſchlimmen L... bezeichnet werden. So
iſt dieſer Vorſchlag einer Vermittlung
der Friedensvorſchläge an eine neu-
trale Macht über das pazifiſtiſche Preffe-
geſchrei hinaus ein Taſt verſuch nach der
höheren und höchſten Richtung in Öfter-
re ich.“
*
„Deutſch und charakterlos“
ie rumäniſche Regierung hat bekanntlich
einen Prozeß gegen Bratianu und Ge-
noſſen eingeleitet, und in dieſer Liſte der
Angeklagten ſteht auch Take Jonescu. Die
Tatſache, daß dieſer ſchlimmſte der rumäniſchen
Kriegshetzer aber den Moldauſtaub von ſeinen
Füßen geſchüttelt hat, macht den Prozeß zur
Farce, wie ja fo vieles von den rumänifchen
Hoffnungen Deutſchlands zur Farce ge-
worden iſt. |
Der Mann, ftellt die „Deutſche Tages-
zeitung“ feſt, ſitzt heute mit deutſcher Hilfe
in der Schweiz, gewährt Unterredungen,
hetzt gegen uns, und wir dürfen ⸗ uns von
472
Deutſchen im Auslande und wohlgeſinnten
Neutralen beſtätigen laſſen, daß das
deutſche Verhalten, das einen ſolchen
Kriegshetzer in das neutrale Ausland
habe befördern helfen, unbegreiflich
ſei, und man nächſtens das ſchöne Wort:
„Deutſch ſein, heiße Charakter haben“, in das
andere umbiegen müſſe: „Deutſch und
charakterlos“. Dieſe und ähnliche Auße⸗
rungen ſind in der deutſchen Schweiz und
darüber hinaus laut geworden, und man darf
ſich nicht einmal darüber wundern. . .
Wir haben uns über Northeliffes Arbeit
entrüftet, Wir ſprechen von Lügenpropa-
ganda. Aber dieſe Entrüſtung und dieſes
Sprechen hätten genügen ſollen, und es
wäre nicht nötig geweſen, daß man der
Entente noch beſonders wirkſame und
fähige Agenten zur Verfügung ſtellt.
Daß Take Zonescu ſofort feine Tätigkeit auf-
nehmen würde, wenn er neutralen Boden
betreten hatte, war zu erwarten. Daß er in
maßloſer Weiſe gegen Deutſchland hetzen
würde, war ebenſo zu erwarten. Oder wollte
man auch an ihm den Zuſammenbruch der
berühmt- berüchtigten deutſchen politiſchen
Güte erweiſen, die einen Mephiſto zugleich
mit dem Fauſt erlöſen möchte?
Profeſſor Delbrück
n den Erörterungen, die durch die Er-
J klärungen des Reichskanzlers über Bel-
gien hervorgerufen wurden, iſt ja reichlich
viel politiſche Narrheit zutage gefördert wor-
den. Aber den Preis, — ja den Preis ſpricht
Graf Reventlow Herrn Profeſſor Hans Del-
brüd zu, und wer wollte ihn der Ungerechtig⸗
keit zeihen, wenn er bewundernd zu der
Leiſtung des Herrn Profeſſors emporſchaut?
„In Erklärungen, die er dem Berliner
Vertreter des ‚Neuen Wiener Journals“ ge-
geben hat, ſagt der Herr Profeſſor u. a.:
„Belgien iſt nicht bloß eine deutſche Frage
und ein deutſches Intereſſe, ſondern iſt ein
Weltproblem. Selbſt Amerika hat, wie
wir nicht leugnen dürfen, das höchſte
Intereſſe daran, daß Belgien unabhängig
bleibt. Denn eine auch nur indirekte Herr-
Auf der Warte
ſchaft Deutſchlands in Belgien würde Frank-
reich und England eine Stellung geben,
daß man ſie nicht mehr als Großmächte
betrachten könnte, und das wäre eine Situa-
tion, welche die Welt nicht akzeptieren kann.
Prof. Delbrück dürfte, wie ſchon manchmal,
mit ſeinen Worten unſeren Feinden eine
Freude machen. Er tritt ſo wacker für die
angelſächſiſchen Mächte und gegen die
Zukunft des Deutſchen Reiches ein,
daß er einen warmen Händedruck des
Fürſten Lichnowſky verdiente. Seine
Sorge iſt: England und Amerika dürfen
ihre Großmachtſtellungen nicht verlieren. So
rührend dieſe Sorge iſt, fo töricht iſt fie als
politiſcher Beweisgrund. Ein Belgien, felb-
ſtändig im Innern, nach außen hin unter
deutſchem Einfluß, ſichert dem Deutſchen
Reiche Großmachtſtellung und Gleich-
berechtigung in der Welt. Da Prof. Del-
brüd der Anſicht iſt, daß ein gleichberechtigtes
Deutſches Reich die angelſächſiſchen Mächte
zu ſehr beeinträchtige, jo müſſen wir freilich
verzichten. Ein abhäng iges Oeutſchland
wird gewiß von allen Deutichen mit Freuden
ertragen werden, wenn nur Belgien ‚un-
abhängig“ wird, alſo unter den Einfluß unſerer
Feinde gerät. Kurz, Herr Prof. Delbrück hat
ſich einmal wieder ein Denkmal geſetzt.
Nicht minder wertvoll iſt das, was er über
die Vlamen ſagt: Sie brauchten uns am
allerwenigſten Sorge zu machen: ‚Sie
wären ja eine ganz elende Geſellſchaft
und nicht wert, daß man für fie einen Finger
krümme, wenn fie ſich bei fo günſtigen Be-
dingungen nach dem Kriege nicht ſelbſt zu
helfen imſtande wären.“ Wie ſchade, daß
Prof. Delbrück nicht Vlame werden kann,
um der elenden Geſellſchaft zu zeigen, wie
ſie es machen ſoll!“
*
Herr von Hintze
in Außenſeiter, ſo umreißt ihn Georg
Cleinow in den „Grenzboten“: noch
dazu aus einem Reſſort hervorgegangen, das
in erbittertſter Rivalität gegen das Auswärtige
Amt durch ein Jahrzehnt und länger der
auswärtigen Politik des Reiches die von
Auf der Warte
ſeinen Leitern als notwendig erkannte Rich-
tung zu geben trachtete. Herr v. Hintze iſt
von Haus aus Marineoffizier, der ſeine
diplomatiſche Begabung ſchon als junger
Flaggoffizier nachzuweiſen Gelegenheit hatte.
Er wuchs auf und bildete ſeinen politiſchen
Charakter an den poſitiven Aufgaben, die
dem Admiralſtab und dem Reichsmarineamt
ſeit Beginn der großzügigen und weitbliden-
den Flottenpolitik Kaiſer Wilhelms des Zwei⸗
ten geſtellt waren. Das Auswärtige Amt
hat eine ſolche Erziehung ſeinem jungen
Nachwuchs im allgemeinen nicht angedeihen
laſſen können. Der Charakter ſeiner Politik
war dazu verdammt, paſſiv zu fein; es mußte
die ſtarken Individualitäten unter ſeinem
Nachwuchs unterdrücken und zurüddämmen,
und nie iſt es darin rückſichtsloſer vorgegangen,
als zur Zeit der Reichskanzlerſchaft des
Fürſten Bülow. Dennoch wird der neue
Chef manch eine hervorragende Kraft unter
feinen Mitarbeitern finden und auch Charak-
tere, wie ſie die Zeit benötigt. Es gilt, ſie
zu finden und ihnen den ihnen gebührenden
Platz anzuweiſen. Doch wie dem auch ſei:
mit Herrn von Hintze zieht in jedem Falle ein
neuer Geiſt in das alte Gebäude in der
Wilhelmſtraße. Ob er darin wird heimiſch
werden können, das hängt von der Art ab,
wie er ſich und dem Amt die großen politiſchen
Aufgaben ſtellt. Bleiben ſie wie bisher
defenſiver Natur, und ſtehn ſie nicht im
Einklang mit dem mächtigen Aufwärtsſtreben
der Nation, das ſich in der Entwicklung
unſerer induſtriellen und ſonſtigen Unter-
nehmungsluſt ebenſo offenbarte wie ſeit
vier Jahren in den gewaltigen Leiſtungen
von Heer und Flotte, ſo wird auch Herr
von Hintze nicht imſtande ſein, neues Leben
in die Diplomatie zu bringen, und er wird
ſich, wie ſeine Vorgänger, in Reſſortkämpfen
und Parlamentsmiſeren zerreiben. Kann
aber die Diplomatie freier als bisher und
ungehindert durch die Berliner Stimmungen
an die militäriſchen Erfolge anknüpfen, und
ſich unbeirrt durch ſchwachherziges Philoſo-
phieren und Aſthetentum der großen Auf-
gabe, den diplomatiſchen Ring um uns zu
zerbrechen, widmen, mit einem Vort, wird
415
Herr von Hintze die Kraft haben, Deutſchland
durch die zwar noch enge Breſche zu führen,
die Hindenburg und Ludendorff ſchon jetzt
zur Freiheit geſchlagen haben, dann wird
er auch der von uns allen erſehnte Mann
am Steuer ſein, und in der Geſchichte der
großen Politik des Deutſchen Reiches könnte
dann vielleicht ein wichtiger Abſchnitt ſehr
wohl heißen: von Bethmann zu Hintze.
Propaganda ⸗WMiniſterium
u der Forderung des Abgeordneten Heck-
ſcher, ein Propaganda-Miniſterium zur
Abwehr der engliſchen Lügenarbeit zu Schaffen
(vgl. Heft 21, S. 425), wird der „D. T.“ ge-
ſchrieben:
Gar zu ſehr läßt ſich in der Tat die deutſche
Regierung von dem Grundſatz leiten „qui
s’excuse, s’aocuse“ oder „Schweigen iſt Gold,
Reden iſt Silber“. Das iſt ein Standpunkt,
der ſeine Berechtigung finden würde, falls
deutſche Politik in der Welt bei der großen
Mehrheit über allem Zweifel erhaben auf-
gefaßt und Verſtändnis finden würde. Das
iſt aber keineswegs der Fall. Vielmehr iſt
die Verblendung und Subjektivität der Maſſen
in allen feindlichen und manch einem neutralen
Lande fo ungeheuerlich groß, daß die Behaup-
tung nahe liegt, der Krieg wäre längſt
zu Ende, ja hätte vor allem niemals
dieſen Umfang angenommen, wenn
die feindliche Propaganda nicht mit fo
unerhört durchgreifenden Mitteln ge—
arbeitet hätte. Somit iſt auch das Wort
Dr. Heckſchers von der ſiegreichen engliſchen
Feder nicht unberechtigt. Zweifellos hat die
Entente, an ihrer Spitze England, trotz all
der niederſchmetternden militäriſchen Miß
erfolge, ſich in erſter Linie mit der Feder
über Waſſer gehalten.
Da heißt es endlich, ein Gegenmittel
finden. Wie gegen die engliſche Blockade uns
der U-Boot Krieg nicht erſpart bleiben durfte,
jo gebietet die Stunde, geboten die Verhält⸗
niſſe ſchon längſt, den geiſtigen Kampf,
den Propagandakrieg durchgreifend zu
organiſieren und durchzuführen, wenn
wir nicht um einen großen Teil der Früchte
474
unſerer Opfer, Leiden und Taten gebracht
werden ſollen. .. Unſer Volk, das bereit-
willigſt fo viel Kräfte für das Heer zur Ver-
fügung geftellt hat, wird auch manchen Mann
in den Dienſt der z. Zt. überaus wichtigen
Stelle im Auswärtigen Amte hergeben,
wenn damit erreicht wird, daß der Sieg, den
wir auf den Schlachtfeldern erringen, auch
auf den Kampf mit geiſtigen Waffen über-
tragen wird. Für die derart erſehnte Aus-
dehnung des Auswärtigen Amtes wäre wohl
in erſter Linie die Schaffung eines Propa-
ganda⸗Miniſteriums die erſprießlichſte Stütze
und Entlaſtung, die Zeit und Stunde ge-
bietet.
*
„Die Zeit des Bettelns iſt vor⸗
über“
en „Berliner N. Nachr.“ wird geſchrieben,
daß jetzt auf allen Tagungen der Deut-
ſchen Böhmens naturgemäß die Verord-
nung über die Kreiseinteilung eingehend
behandelt werde. „Dabei wird, der gefchicht-
lichen Wahrheit entſprechend, hervorgehoben,
daß die Verordnung den ſtaatlichen Inter-
eſſen entſpricht und den Deutſchen keine
Vorteile bringt. Vor allem ſteht ja noch
gar nicht feſt, welcher Art die Beamten ſein
werden, die an die Spitze der Kreiſe berufen
werden ſollen. Immer wieder bricht die
Stimmung der deutſchen Maſſen in den Ver-
ſammlungen durch, die ein Redner in die
Worte kleidete: ‚Die von den Deutſchen ge-
brachten Opfer ſind ſo groß, daß es Pflicht
der Regierung iſt, ſie anzuerkennen und die
Forderungen der Deutſchen zu erfüllen. Die
Zeit des Bettelns iſt vorüber.“ In der
Tat iſt nicht daran zu denken, daß deutſche
Abgeordnete ſich der Regierung ohne be-
ſtimmte Gegenleiſtungen dieſer zur Ver-
fügung ſtellen dürfen. Sie würden unbarm-
herzig von ihren Wählern abgetan werden.
Das wiſſen auch die Abgeordneten genau. Die
Stimmung der Deutfchen iſt fo gereizt, weil
fie erkannt haben, daß ihre bisherige Loya-
lität ihnen nur zum Nachteil ausgefchla-
gen iſt. Andererſeits nehmen die Ernährungs-
verhältniſſe in Deutſchböͤhmen eine ſolche Ge-
Auf der Warte
ſtalt an, daß es unmöglich noch länger fo weiter
gehen kann. Politiſche und Ernährungsfragen
wirken alſo zuſammen.“
Auch die Ernährungsfragen werden aber
für unſere deutſchen Brüder in Öfterreich
weſentlich, wenn nicht entſcheidend, von den
bekannten politiſchen Rüdfichten beſtimmt.
Es wird nun alles darauf ankommen, daß ſie
ihre Erkenntnis von dem „Dank“, den ſie für
ihre Opfer geerntet haben, auch in Tat en
umſetzen und ſich nicht wieder durch ſchöne
Worte und leere Verſprechungen einfangen
laſſen; daß fie rückſichts los auf ihren
nationalen Forderungen ſtehen blei- -
ben. Dann, aber nur dann werden ſie das
große Wunder erleben, daß man auch in
Wien anders kann, wenn man — muß.
| Gr.
Wie werden wir daſtehen?
3 den „Berliner Neueſten Nachrichten“
veröffentlicht Eberhard Kraus eine Reihe
von Aufſätzen über „Die Gefahren vom
Oſten“. Manche ſeiner Betrachtungen ftim-
men doch recht nachdenklich. „Wie werden
wir daſtehen“, fragt er an einer Stelle, „wenn
das allein die Einhaltung der bisher ab-
geſchloſſenen Verträge verbürgende deutſche
Schwert wieder in die Scheide geſtoßen
iſt und die von ihm geſchnittene Frucht auf
offenem, ungeſchutztem Felde liegen bleibt?
Manches Verſäumnis, manches Ungeſchick in
der Oſtpolitik iſt ja, dank dem Starrſinn und
der Torheit unſerer Gegner, nachträglich auf
allerhand merkwuͤrdigen Umwegen doch wie-
der ausgeglichen worden. Einen ungewöhn-
lichen Eindruck aber muß es doch auf alle
unſere Nachbarn gemacht haben, daß wir
die reiche Ernte unſerer Siege im Oſten,
ſtatt ſie auf vollbeladenem Wagen in unſer
Scheunentor zu fahren, erſt nach und nach
auf kleinen Handwägelchen und Schubkarren
heranbrachten und dann in Feimen längs
der Umzäunung aufſtapelten.
Wird unſer freies, friedliches Schaffen
wirklich allein dadurch geſichert werden, daß
wir unſere Umzäunung erweitern und in
Geſtalt möglichſt ſelbſtändiger kleiner Puffer-
ſtaaten Müll- und Paliſadenreihen gegen
Auf der Warte
den rieſenhaften Nachbar im Oſten aufrichten?
Dann ſorgen wir vor allem doch dafür, daß
die Paliſadenreihen nur nach außen und
nicht auch nach innen ſtehen können!
Ein kraftvolles, ſelbſtbewußtes Volk müßte
für jede Gefahr eine Abwehr, für jeden
Schaden ein Heilmittel finden können. Wir
haben bereits Feinde wie Sand am Meer
innerhalb wie außerhalb der Umzäunung
und die bösartigſten und verbiſſenſten, die
Tſchechen, ſitzen mitten im deutſchen Sprach-
gebiet. Wer ſich freilich nicht dazu entſchließen
kann, Schwären und Beulen zu beizen oder
anzuſtechen, der wird ſich niemals von ihrem
Gift befreien. Wir gewahren in hellem Ent-
ſetzen, daß wir von allen benachbarten Völkern
gehaßt, aber von keinem gefürchtet
werden, oder vielmehr, daß die Furcht vor
uns lediglich unſeren gewaltigen Kultur-
ſchöpfungen, nicht etwa unſerer völkiſchen
Entſchloſſenheit und Schlagkraft gilt.
” A
Für wen kämpfen wir?
Ein. weitere nachdenkliche Betrachtung
aus der genannten Aufſatzreihe von
Eberhard Kraus:
„Anjere vom ruſſiſchen Zoch erlöſten
deutſchen Stammesbrüder haben in zahl-
loſen Kundgebungen ihre Freude und Dank-
barkeit zum Ausdruck gebracht. Von ihren
Sorgen und Befürchtungen ſchweigen ſie.
Welches iſt nun ihre größte Sorge? Daß in
den neuentſtehenden Staatsgebilden unter
deutſchem Schutz die Gefahr ihrer
Entdeutſchung größer werden könnte
als einft unter der zwar mißgünftigen, aber
doch wiederum läſſigen Herrſchaft der Ruſſen.
Daß eine ſolche Sorge ſich überhaupt feit-
ſetzen und Boden gewinnen konnte, iſt wohl
der beredteſte Beweis dafür, daß wir während
des Weltkrieges eine Politik geführt haben,
die nützlich für andere Völker, nützlich viel-
leicht auch für den Geſamtbegriff Mittel-
europa war, aber dem deutſchen Volke
bisher noch keinen geſicherten Gewinn
eintrug, ſondern eher neue Schwierigkeiten
und Gefahren bereiten half. a
Ein großer Teil unſerer Reihstagsmehr-
475
heit trägt mit an der ſchweren Sündenlaft
der Verantwortung für dieſen unerfreulichen,
ja widernatürlichen Verlauf der Dinge.
Noch heute iſt der deutſche Bauer der beſte,
der tüchtigſte Kulturpionier der ganzen Welt;
denn der Tſcheche, der Pole, die mit ihren
geringeren Bedürfniſſen, ihren urfprüngliche-
ren Gewohnheiten gegen das Werk ſeiner
Hände vordringen, ſind gar keine Koloniſten,
ſondern bloße Landnehmer. Siedler und
Befruchter iſt nur, wer ſich aus dem Nichts
ein Neſt zu ſchaffen weiß, nicht wer ſich
in ein fertiges hineinſetzt. Nun ge-
winnen wir im Baltenlande endlich für an-
ſiedelungsluſtige Deutſche einen dünnbevöl-
kerten, ellenbogenfreien Raum, den die
ruſſiſche Menſchenflut deshalb noch nicht zu
überſchwemmen vermochte, weil der ruſſiſche
Bauer in den vorgeſchrittenen Wirtſchafts-
formen des Abendlandes nicht zu beſtehen
vermag. Die letzte Stunde zur Ausbreitung
unſeres Volkstums in Europa hat geſchlagen;
laſſen wir ihren mahnenden Klang ungenutzt
verhallen, dann fällt die Wachstums-
ſperre wie ein eherner Schlagbaum für
immer dröhnend vor uns nieder. Und doch
gibt es deutſche Volksvertreter, Gelehrte,
Tagesſchriftſteller, die keinen ſehnlicheren
Wunſch haben, als dieſe blutig erkämpften
Gebiete wieder in die Mordbrenner-
fäuſte ruſſiſcher Anarchiſtenhorden zu-
rückzuliefern. Wie würde ſolchen Leuten
wohl. in England, Frankreich, Italien mit-
geſpielt werden!“
2.
Die Folgerichtigkeit der deut⸗
ſchen Staatskunſt
an denke daran, erinnert die „Deutſche
Zeitung“, wie ſorgfältig das Deutſche
Reich darauf bedacht war, auch nur den An
ſchein zu vermeiden, als ob die Geſchicke
der deutſchen Volksgenoſſen in Öfter-
reich- Ungarn es irgend etwas angingen.
Das Verbleiben des rumäniſchen Königs-
hauſes wurde von Czernin-Kühlmann zu
einer inneren Angelegenheit Rumäniens
erklärt, in die ſich die Mittelmächte nicht ein;
zumiſchen hätten. Dagegen bemerkt die
476
„Norddeutſche Allgemeine Zeitung“ vom
8. Mai 1918 zu dem Zudenparagraphen
im deutſch- rumäniſchen Friedens vertrag,, die
Mittelmächte hätten es für ihre kulturelle
Pflicht gehalten, dieſe Frage verbindlich zu
löſen; der bisherige Zuſtand habe ſich weder
mit den zntereſſen Rumäniens noch mit
den Forderungen der im Oſten Europas
durch den Krieg heraufgeführten neuen
Zeit vertragen.“
Die bethmann“-halboffiziöſe „Frankfurter
Zeitung“ (Nr. 353) ſchrieb ſchon am 21. De-
zember 1916 in einer Reihe vielbeachteter
Kriegszielaufſätze: eins der Ziele im Oſten
ſei ein „geſichertes“ Rumänien. Die Siche-
rung Rumäniens hat als erſte Voraussetzung
zu erfüllen „die Vollendung der Bauern-
befreiung und die Neuregelung der Rechte
der „Fremden“ in Rumänien“. „Die Frage
des Fremdenrechts deckt ſich faſt mit der
Frage der Zuden.“
Die beſondere Feinheit dieſer kühlen deut-
ſchen Staatskunſt wird erſt deutlich, wenn
man die Zudenpolitik der deutſchen Staats-
männer in Polen damit vergleicht. In
Polen wollen die dortigen Zuden nicht nur
Gleichberechtigung als Staatsbürger, fon-
dern Anerkennung als eigene Nation; mit
Recht; ſie bilden dort eine ſcharf abgeſonderte
Nation unter der übrigen Bevölkerung. Die
polniſchen Zuden begrüßten den Einmarſch
der Deutſchen mit großer Freude, und ihre
Anerkennung als Nation hätte uns einen zu-
verläſſigen Bundesgenoſſen und ein Gegen-
gewicht gegen die deutſchfeindlichen Polen ge-
ſchaffen. Aber die Abgeſandten des Herrn
v. Bethmann predigten den polniſchen Juden
als deutſcher Weisheit letzten Schluß, ſie möch-
ten ihre Träume von einer eigenen Nationali-
tät ſchleunigſt aufgeben und ſich der bürger
lichen Gleichberechtigung würdig zeigen, in-
dem ſie zu überzeugten Polen würden.
Die offiziöſe deutſche Judenpolitik erfüllt
alſo die Wünſche der Juden, wo fie Oeutſch-
land ſchaden, und erfüllt ſie dort nicht,
wo fie Oeutſchland nützen können; ſie ent-
behrt inſofern nicht einer gewiſſen Folge-
richtigkeit.
**
Auf der Warte
Ein weltwirtſchaftlicher Genera⸗
liſſtsmus | |
M dem üblichen Tamtam melden die
Pariſer Blätter eine neue Großtat
des Präſidenten Wilſon. Um die Kriegs-
anſtrengungen des Verbandes unter Führung
der nordamerikaniſchen Union und Englands
wirkſamer zu geſtalten, hat Wilſon einen
Oberleiter ſämtlicher Kriegsinduſtrien der
Vereinigten Staaten ernannt und ihn mit
dem Oberbefehl über alle induſtriellen Kräfte
betraut. Dieſer neue Mann ſoll weitgehende
Vollmachten zur Regelung der Erzeugung
und Feſtſetzung der Preiſe aller notwendigen
Waren auch für den Bedarf des bürgerlichen
Lebens erhalten. In der ganzen Weltwirt-
ſchaft würden dadurch Umwälzungen hervor-
gerufen werden, wie ſie noch nicht dageweſen
ſeien. Denn der neue weltwirtſchaftliche
Generaliſſimus werde nicht nur in den Ver-
einigten Staaten von. Nordamerika Erzeu-
gung und Ankauf regeln, ſondern als Ver-
treter von 26 Regierungen alle Geſchäfte in
allen Teilen der Erde, abgeſehen von dem
Gebiet der Mittelmächte, zentraliſieren.
Der neue Generaliſſimus, ein Günftling
Wilſons, iſt der Neuporker Börſenmakler
Bernard M. Baruch, der Anfang 1916
bedenklich von ſich reden machte, als ſich
herausſtellte, daß gewiſſe Neuyorker Börſen⸗
ſpekulanten durch ihre vorzeitigen Kennt-
niſſe von Wilſons damals bevorſtehender
Friedensnote große Beträge verdient hatten.
Die Empörung darüber war ſo weitgehend,
daß auf Antrag des Kongreßmitgliedes Word
eine Unterfuhung über die Vorgänge an der
Börfe und über die Beziehungen führender
Börſenleute zum Präſidenten Wilſon und
feiner Umgebung eingeleitet wurde. Da-
mals geſtand der Börſenmakler Baruch, daß
er an der Börje zwiſchen dem 10. und 23.
Dezember 1916 zwei Millionen Mark ge-
wonnen habe, weil er Papiere verkaufte, als
die Friedensrede des Herrn von Bethmann
Hollweg erſchien. Varuch beſtritt zwar, vor-
zeitig Kenntnis von Wilſons Friedensnote er-
halten zu haben, doch wurden feine vertrau-
lichen Beziehungen mit den leitenden Diplo-
Auf der Warte
matiſchen Kreiſen in Waſhington feſtgeſtellt.
Nach ſeiner Kriegserklärung ernannte Wilſon
den Börjenmaller Baruch zum Leiter des
ſtaatlichen Ausſchuſſes für Rohſtof fe, Erze und
Metalle, und nunmehr ſoll dieſer Spekulant
als weltwirtſchaftlicher Generaliſſimus für
26 Regierungen den angekündigten Wirt-
ſchaftskrieg gegen die Mittelmächte vor-
bereiten! P. D.
**
Kleiſts Grab und Franzoſen⸗
gelder
u den peinlichen Begleiterſcheinungen der
Aufführung von Molieres „Bürger als
Edelmann“, die Herr Reinhardt im ver-
floſſenen Winter zu veranſtalten für eine un-
abwendbare nationale Pflicht hielt, gehörten
auch die wahnwitzig hohen Preiſe, die dem
Publikum am Abend der erſten Aufführung
abgefordert wurden. Im vierten Fahre des
engliſchen Hungerkrieges ſollten in den erſten
15 Parkettreihen 30 Mark für den Platz, in
den hinterſten, die ſich im Dunkeln unter
dem übergebauten erſten Rang verlieren,
immer noch 20 Mark bezahlt werden. Man
fragte ſich befremdet, ob Herr Reinhardt
wirklich nur mit den Kriegsgewinnlern des
plutokratiſchen Weſtens rechnete und ob es
empfehlenswert ſei, daß eine wenigſtens
äußerlich vornehme Bühne dem Kriegs-
wucher einen Billettwucher an die Seite ſetzte.
Daß die Phantaſiepreiſe zu allem übrigen für
ein franzöſiſches Stück gefordert wurden,
vermochte die Bitterkeit der ganzen An-
gelegenheit ſelbſtverſtändlich nur zu erhöhen.
Moliere iſt gewiß nicht ohne Grund ein be⸗
rühmter Dichter; gerade dieſes Stück aber ift
veraltet und dem lebenden Geſchlecht voll-
kommen gleichgültig. |
Das Befremden des urteilsfähigen Pu-
blitums, das am Abend der erſten Auf-
führung allgemein war, ſcheint ſich am
nächſten Tag auch der Direktion mitgeteilt zu
haben. In einer Notiz, die zur Beruhigung
an die Preſſe verſandt wurde, las man, daß
die unglaublichen Billettpreiſe lediglich aus
einem ſchönen Gefühl der Pietät gefordert
477
worden ſeien. Mit den auf dieſe Weiſe er-
zielten Überjhüffen wolle Herr Reinhardt
dem Kleiſtgrab in Wannſee eine dauernde
Pflege angedeihen laſſen. Wer an dem frag-
lichen Abend blutete, blutete alſo nicht zu-
gunſten ſchnöder Gewinnſucht, ſondern aus
fehr ehrenwerten literarhiſtoriſchen Gründen.
Ob dieſe nachträgliche geiſtvolle Erklärung
für die ſchmerzvoll Betroffenen ein linderndes
Pflaſter geweſen iſt, wiſſen wir nicht, be-
ſtimmt aber wiſſen wir, daß fie von der Ber-
liner Preſſe niemals fo kritiklos hätte hin-
genommen werden dürfen, wie es leider der
Fall geweſen iſt.
Zunächſt: Wenn Herr Reinhardt einem
einzelnen Theaterbeſucher dreißig Mark oder
zwanzig Mark zugunſten des Kleiſtgrabes
abfordert — — warum ſagt er das nicht
gleich? Die literarhiſtoriſche Abſicht wäre
für ihn doch ſo etwas wie eine Empfehlung
geweſen und ſelbſt die intimſten Freunde
dieſes betriebſamen Mannes pflegen einzu-
räumen, daß er ſich eine Gelegenheit der
Selbſtempfehlung ſo leicht nicht entgehen
läßt. Warum alſo bringt er ſich in den un-
angenehmen Verdacht, daß die Beſucher
ſeinem Privatſäckel dienen, während fie tat-
ſächlich dem Kleiſtgrab in Wannſee eine
Ehrung erweiſen? Warum erfuhr man von
den edlen Abſichten erſt etwas, als am anderen
Morgen die lauwarmen Rezenſionen bereits
vorlagen und die Durchführung der fenfatio-
nellen Preiſe unmöglich erſchien? Warum
mußte die philanthropiſche Erleuchtung in ſo
peinlicher Weiſe mit der ſinkenden Geſchäfts-
konjunktur zuſammenfallen? Der Laie wird
nie verſtehen, daß eine Bühne vom Rang des
Deutſchen Theaters nicht ſofort am Abend der
erſten Aufführung ihre literarhiſtoriſche Men-
ſchenfreundlichkeit dem ergriffenen Publikum
enthüllte.
Selbſt aber wenn man loyal annehmen
will, daß das Deutſche Theater von Anfang an
von der genannten edlen Abſicht beſeelt war,
ſteht man vor einer überaus peinlichen Situa-
tion. Wenn der Leiter eines Theaterbetriebs,
in dem Willionen feſtgelegt ſind, wirklich für
die Pflege des Kleiſtgrabes etwas zu tun
wünſcht, ſoll er freundlichſt ſeine Hände in die
478
eigene Taſche ſtecken. Eine Pietät, die das
Publikum brandſchatzt, um ein Dichtergrab
zu pflegen, hat einen ſonderbaren Bei-
geſchmack. „Seht, wie ich Kleiſt liebe“, ſagt
Herr Reinhardt, „ich verſchenke zu ſeinen
Gunſten die Gelder, die ich vorher anderen
abgenommen habe.“ Soll es in der Ber-
liner Preſſe wirklich Sitte werden, derartige
Taktloſigkeiten ohne Widerſpruch paſſieren
zu laſſen?
Vor allem aber: Hat niemand die Läſt e-
rung empfunden, die darin liegt, daß Kleiſts
Grab aus den ſenſationellen Preiſen eines
franzöſiſchen Stückes gepflegt werden ſoll?
Hat darum Kleiſt die „Hermannsſchlacht“
gegen das Franzoſentum geſchrieben, daß
man ihm Kränze franzöſiſchen Urſprungs
aufs Grab legt? Hat er ſeinem wilden Haß
gegen Paris nur Worte geliehen, um jchließ-
lich unter die Patronage eines Pariſer Dich-
ters geſtellt zu werden? Uns will ſcheinen,
als ob dieſe Kleiſtehrung einer Blasphemie
zum Verwechſeln ähnlich ſehe und darum
möchten wir fie nicht ohne Widerſpruch hin-
gehen laſſen. Das nationale Taktgefühl der
Berliner Direktoren iſt ſo wie ſo nicht ſtark
entwickelt. Schweigt die Preſſe bei jo pein-
lichem Anlaß, können wir leicht eine völlige
Verwirrung der Begriffe erleben.
E. Schl.
*
Aug’ um Auge, Zahn um Zahn
B': den Naſſeverhältniſſen in unſerer
deutſchen Preſſe ſollte man eigentlich
erwarten, daß wenigſtens bei ihr dieſe alt-
teſtamentliche Loſung ausgiebig befolgt würde.
Es ſcheint aber nur für innere Politik zu
gelten. Wo es gegen Deutſche geht, gibt es
keine Schonung. Anders liegt der Fall, wenn
es ſich um unſre Herren Feinde handelt. Da
wird eine Schonung und Zurückhalutng ge-
übt, die von unſerem Volk längſt nicht mehr
begriffen oder, was viel ſchlimmer iſt, gründ-
lich mißverſtanden wird. Der „Türmer“ hat
jo oft auf das Gefährliche dieſer Haltung hin-
gewieſen, daß er des ſteten Wiederholens
begreiflicherweiſe müde wird. Aber dann
Auf der Warte
zeigt irgendeine Zuſchrift, daß auch in dieſem
Schuͤtzengrabendienſt das zähe Durchhalten
oberſte Pflicht iſt. So liegt mir ein Brief vor,
in dem ein im Lazarett liegender Krieger
ſeinem Herzen Luft macht: „Unſere Gegner
führen ihren Preſſefeldzug nicht, weil ſie die
Deutſchen wirklich für Barbaren halten,
ſondern weil ſie ſicher ſind, allmählich auf die
Deutſchen ſelbſt Eindruck zu machen. Um
jo mehr, als bei uns die Abwehr ſehr unzu-
länglich und lau geführt wird. Wenn bei
uns heute viele Leute daran glauben, daß
wir am Kriege ſchuld ſind, liegt es nur daran,
daß bei uns die ſchlau berechneten Reden
der Gegner lang und breit ohne jede eigene
Bemerkung abgedruckt werden. Auch daß
viele unſerer Arbeiter meinen, es wäre für
ihr Auskommen gleichgültig, ob ſie deutſch
oder engliſch wären, beruht auf der von der
Preſſe verſchuldeten Unwiſſenheit. Unſere
Preſſe beſchuldigt zwar oft unſere Regierung,
in der Abwehr der Feinde nicht ſcharf genug
zu ſein; ſie verabſäumt trotzdem ihre Pflicht,
nun erſt recht in die Breſche zu treten. Im
Gegenteil: wie ernſthaft werden alle die
Phraſen wiedergegeben und beſprochen, mit
denen unſere Feinde ihre einzige wahrhafte
Abſicht bemänteln, das deutſche Volk zu ver-
nichten. Wie wenig werden die Gelegen-
heiten ausgenutzt, dieſe Verlogenheit unſerer
Gegner gebührend vor aller Welt zu brand-
marken!
Vor allem aber, welche Schwäche in der
tatſächlichen Abwehr der feindlichen Maß⸗
nahmen! Da wird gegen das deutſche Volk
ein erbarmungsloſer Aushungerungskrieg ge-
führt. Die zehn Millionen feindlicher Ein-
wohner im beſetzten Gebiete Belgiens und
Nordfrankreichs wiſſen nichts von Hunger.
Es werden ihnen Nahrungsmittel zugeführt
und fie dürfen ihren Boden für ſich ausnutzen.
Warum nimmt Oeutſchland für ſich nicht
wenigſtens die Hälfte?! Wie es unſere Feinde
halten wurden, ſieht man an ihrem Benehmen
gegen die Neutralen.“ —
Ich weiß nicht, ob die Bewohner der be-
ſetzten Gebiete ſo ganz von Not frei ſind, wie
der Briefſchreiber annimmt. Aber ich bin
überzeugt, England wäre im gleichen Falle
Auf der Warte
mit Belgien folgendermaßen verfahren. Es
hätte ſeinem Feinde erklärt: Du ſuchſt mich
mit allen Mitteln auszuhungern. Ich befinde
mich dagegen in der Notwehr. Ein Hilfsmittel
iſt für mich die Vermehrung des bebauungs-
fähigen Landes und die Verminderung der
Eſſer. Ich ſtelle eine Friſt von drei Tagen.
Wird innerhalb derſelben die Blockade nicht
aufgehoben, die Einfuhr von Lebensmitteln
für meine Zivilbevölkerung nicht freigegeben,
bin ich gezwungen, Belgien von feiner Be-
wohnerſchaft gewaltſam zu räumen und dir
dieſe Millionen zur weiteren Verköſtigung
auf deinem Boden zuzuweiſen. Belgien
ſelbſt brauche ich für mich. Goddaml, dieſe
Sprache würde drüben verſtanden werden.
St.
Verpöbelung
s war vorauszuſehen, daß der rieſige
Gelderfolg der Schändung Schuberts
im „D reimäderlhaus“ alle Schmeißfliegen
des Geſchäftslebens gierig nach ähnlicher
vogelfreier Beute äugen laſſen würde. Das
Kino zumal darf ſich da nicht lumpen laſſen.
Schon iſt ihm der „Parſifal“ zum Opfer ge-
fallen, nachdem zuvor Wagner ſelbſt herum
gezerrt worden iſt. Jetzt hat auch Beethoven
daran glauben müſſen. Ein Antündigungs-
blatt fanfart in großen Tönen:
„Der Film erfüllt immer mehr feine Auf-
gabe, Gegenwart und Vergangenheit im
Lichtbilde feſtzuhalten. So ſtellt ein in Wien
aufgenommenes Filmdrama ‚Der Mär-
tyrer feines Herzens“ den großen Ton-
heros Ludwig van Beethoven in den Mittel-
punkt einer Handlung, die treffend als Beet-
hovens Lebensroman bezeichnet wird. Der
Film, der von dem bekannten Wiener Schrift-
ſteller Emil Kolberg verfaßt und von dem
renommierten Regiſſeur Emil Zuftig — wir
nennen abſichtlich die Namen dieſer edlen
„Künſtler“. O. T. — inſzeniert wurde, hält
die trauten hiſtoriſchen Stätten des alten
Wien im Bilde feſt und zeigt uns neben
Beethoven auch ſeine Zeitgenoſſen Haydn,
479
Schubert und andere in verblüffend porträt-
getreuen Masken. Auch Beethovens ‚un-
ſterbliche Symphonie“ erſcheint im Film,
der in eine ergreifende Apotheoſe ausklingt,
der das Thema ‚Seid umſchlungen Millionen‘
zugrunde liegt. Beethoven ſelbſt wird von
Fritz Kertner von der Volksbühne dargeſtellt.
Der Film, der, was Ausſtattung, Inſzenie⸗
rung, Darſtellung und photographiſche Aus-
führung anbelangt, die heimiſche Induſtrie
auf einer ſtaunenswerten Höhe zeigt, dürfte
eines der größten künſtleriſchen Ereigniſſe
dieſes Jahres werden.“ ö
Wollen die Behörden denn nicht endlich
gegen dieſe Schändung heiligſten Herzens
beſitzes unſeres Volkes vorgehen? Zede
kleine Beleidigung des Angehörigen eines
dynaſtiſchen Hauſes wird ſtrafrechtlich ver-
folgt. Sind dieſe Majeſtätsbeleidigungen der
Herrſcher im Reiche des Geiſtes nicht ſchlim⸗
mer?! Jede Verhöhnung einer religiöſen
Einrichtung wird beſtraft! Iſt unſere Ver-
ehrung des Großen und Heldenhaften nicht
ein ebenfalls heiliger Volksbeſitz? Jeder
Meyer, Müller und Schulze, der da noch
atmet im roſigen Licht, wird gegen die Hervor-
zerrung, geſchweige denn gegen die Ver⸗
zerrung und Verleumdung feiner Lebens-
führung geſchützt. Sollen bloß die Edleſten
und Beſten unſeres Volkes von jeder ſchmutzi⸗
gen Hand betaſtet, jeder dergeilten Phantaſie
verſchmuddelt werden dürfen?! Wie fümmer-
lich wirkt alles Gerede von Kunſtpflege in
Parlamenten und Kultusminiſterien, wenn
ſich keine Hand hebt gegen die geldgierigen
Tempelſchänder! K. St.
*
Der heilige Snob
&; ſcheint in dieſem Kriege fo unſterblich,
wie der heilige Bure aukratius. Wir haben
doch die ſtrenge Papierverteilung, dank der
manches ernſte Werk nicht erſcheinen kann.
Aber ſeinem heiligen Vetter Snob tut St.
Bureaukratius natürlich nichts zuleide. Zeuge
deſſen einige neue Zeitſchriften, die im Krieg
überhaupt erſt entſtehen konnten. Ich will
480
nicht Partei ſein und zitiere deshalb die „Neue
Zürcher Zeitung“: „Man hätte gedacht, fol-
chen literariſchen Unternehmungen blühe jetzt
der Weizen nicht mehr. Zeitſchriften von ver-
ſchwenderiſcher Fülle, von makelloſem Papier.
Auf herrlichen Flächen werden mit den fchön-
ſten Lettern Gedichte zelebriert. Nie hat ſich
die Kunſt koſtbarer zu geben gewußt. Ein
Jahrgang des „Marſyas koſtet nur fechs-
hundert Mark. Wer wagt ſolche Griffe in
die Börſe, als jene Reichen, von denen Franz
Blei ſpricht, ‚die, wo was zum Hängen lieben“
und nun auch gerne was hinlegen möchten?
Es iſt alſo die Zeitſchrift der Kriegsgewinner,
und wie man's auch deute, Dichter, wie Karl
Sternheim, veräußern ſo ihre geiſtigen Werke
an die Geſellſchaftsſchicht, die ſie ſeit dem
„Snob“ andauernd ſchildern. Die Geſchichte
des Emporkömmlings iſt ja zweifelsohne jetzt
die fette Weide für Darſteller vom Schlage
Sternheims. Wollen aber dieſe Dichter, die
ſo ſehr mit ihrer geiſtigen Sendung prahlen,
ihren Beruf üben, für viel Geld ihren Ab-
nehmern den verdienten Spiegel vorzu-
halten? Ein gefährlicher Spiegel für die
Dichter ſelber. — In München iſt ſoeben das
erſte Heft einer Zeitſchrift ‚Die Dichtung‘
erſchienen. Im Grunde hat auch ſie keine neue
Phyſiognomie, als daß ſie in der Zeit der
Papiernot den Geiſt durch den Papierprunk
betont. Feierlicher und ernſter kann ſich der
Dichter nicht nehmen als hier. Damit ſei
nicht gejagt, daß nicht ernſte literariſche Ge-
ſinnung dieſe Blätter beherrſcht, aber auch
dieſe Zeitſchrift erweckt den Eindruck eines
ſehr jungen Luxus, der die Vornehmheit
edler Einfachheit nicht erlernen kann.“
St.
*
Zur Strecke gebracht
ein, es iſt kein fröhliches Halali, das durch
den Blätterwald hallt. Man muß das
Gehör dafür bekommen haben, um zu merken,
wie die hundert Einzelſtimmen im Grunde
zu einem Triumphorcheſter zuſammenklingen.
Auf der Warte
Sie haben es wieder einmal erreicht, wie ſie
es immer erreichen, und Michel merkt es nicht
oder hilft am Ende gar noch mit, um ja nicht —
wie ſagte doch Goldſtein! — antiſemitiſch zu
erſcheinen. Der Direktor des Wiener Burg-
theaters iſt gefallen. Er war von der „maß-
gebenden“ Preſſe verurteilt, ſeitdem er es
gewagt hatte, ſich zur chriſtlich- germaniſchen“
„Weltanſchauung zu bekennen. Seither war
die Meute hinter ihm her und verbellte, was
er tat oder nicht tat. Zm Waldgebiet des
juͤdiſch⸗deutſchen Parnaſſes iſt ein „chriſtlich⸗
deutſcher“ Theaterdirektor Freiwild.
Vor mir liegt der (nicht an mich gerichtete)
Brief einer Dame der Wiener Geſellſchaft:
„Die jüdiſche Preſſe hat ein Jahr lang gegen
Millenkovich in der gemeinſten Weiſe gehetzt
und gefhürt. Jedes Stück, das er angenom-
men hatte, mußte durchfallen. Endlich iſt's
erreicht — Millenkovich gibt feine Demiſſion,
die ſofort angenommen wird. Jetzt gehen die
gemeinſten Artikel durch die Blätter. Als
Vereinsmeier und Wirtshausbrüderl wird er
behandelt, jeder Schimmer von Rünftlertum
wird ihm abgeſprochen, — nun iſt er ja ge-
gangen. Das genügt aber dieſen Zeitungs-
helden nicht. Sie werfen ihm nach, was ſie
finden; die Artikel nehmen kein Ende. Zetzt
heißt es: er iſt nicht freiwillig gegangen, er
mußte gehen. — Und keine Stimme er-
hebt ſich für den Mann, der doch vormals fo
beliebt war. Alles drängte ſich zu feinen Vor;
trägen, — er war als Menſch beliebt.“
Das iſt der ſpringende Punkt: keine
Stimme erhebt ſich für den Mann. Jetzt
nicht für den Geſtürzten, aber vorher auch
nicht für den noch auf ſeinem ausgeſetzten
Poſten Stehenden. Es fehlt bei uns die
Zivilcourage. Wenn alle jene, die ſich nach
Blut und Weltanſchauung zur chriſtlich;
germaniſchen Kunſt hingezogen fühlen müßten,
auch offen und mutig dazu bekennen wür-
den, jo könnten die Maulwürfe noch fo viel
wühlen und nagen. Wir könnten ihrer
lachen, ſo freilich ſind ſie ihres Erfolges
immer ſicher. St.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Runft und Muſik: Dr. Karl Store
Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf⸗Berlin (Wannſeebahn)
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
u
17
* 1
N
12
ie
Mi}
12
5
28.
4
14
Karl
' —, 27 Adi
— 7 ö N
u
Vaſe mit Blumen A. König
(Beilage zum Türmer )
m. Goog le
NNO7EIROZO |
EN
“ BU 9
A
F
25
\O
Say
a
7
47
K N
n \\
—*. , Y
N Y_
In
17
\
a
y D '
14) N
7 W,
> 2 W
5 ri
0 7
N Sy, KLAR)
=
7
A 5
5
.
Krisgsunsgub 2
Herausgeber: J. C. Freiherr von Grotthup
— — 3 —
—— — —
FE n
— 2 — — —
—— —— tn man
3
—
sum
ZI. Jahrg. Erftes Septemberheft 1918 2. Belt 23 5
Die Wohlweislichen
Von H. Schäff
nter denen, die umgehen in verſchiedenſter Geſtalt, unſer Volk zu
S verwirren und zu veruneinigen, ſind auch die Verehrer und Ver-
breiter der Wohlweisheit, es ſind jene, die die Armut ihres Wollens
und Könnens hinter einem überragenden Standpunkt verbergen und,
indem ſie ſich der Höhe des Himmels nahezu gleichſtellen, mitleidig herabſehen
zu dürfen glauben auf Tag und Stunde und auf alles, was ſich den Bedürfniſſen
des Zeitlichen und Räumlichen verpflichtet fühlt, und ſie ſagen, wir ſeien allzumal
Schuldner und hätten die jetzige Weltkataſtrophe gemeinſam verdient. Gewiß iſt
kein Volk ſo makellos, auch das anſtändigſte nicht, um ganz außer Vergleich mit
den andern geſtellt und vom Schickſal ausgenommen zu werden. Auch das unſrige
nicht. Denn obwohl die Raffenfeele unſrer Gegner einen augenſcheinlichen Nieder-
gang in ſich aufweiſt, läßt ſich doch zu ihrem Lobe nicht Weniges ſagen. Wenn auch
nicht ihre Geld- und Ländergier, fo haben doch ihre Vaterlandsliebe, ihr nationales
Ehrgefühl, ihr Glaube an den Sieg ihnen bewunderungswürdige Kräfte verliehen
und fie uns zu überraſchenden Gegnern gemacht. Sie biſſen im Dulden und Aus-
harren die Zähne zuſammen und ihr Inſtinkt, von dem wir noch viel zu lernen haben,
ließ ſie nicht vergeſſen, daß man dem Feind ſein Herz nicht verraten darf.
* *
*
1
2
Oer Türmer XX, 25
482 | Schüßf: Die Woßlweislichen
Wir ſind allzumal der Sterblichkeit und ihrem Tribut untertan, und kein
Deutſcher, der unbefangen denkt, wird unſer Volk dort ſchadlos halten wollen,
wo ihm ſein gerütteltes Maß verdientermaßen zukommt, gleich all den andern.
Zieht man aber auf allen Seiten die gemeinſamen Verfehlungen ab, ſo bleibt
doch vom Soll und Haben für uns Oeutſche ein Überſchuß, der uns außer Zweifel
ſetzt, weshalb wir nicht bloß gegen uns ſelber, ſondern auch gegen eine ganze Welt
um uns her und zwar ohne Phariſäertum kämpfen dürfen und zu kämpfen haben.
Nun fagen die Wohlweislichen, es handle ſich in dieſem Weltringen nicht
um einen Zweikampf zwiſchen Beſſer und Schlechter, ſondern lediglich um einen
Zuſammenſtoß von Intereſſen. Eine ſolche Gleichſtellung der Gegenſätze verrückt
aber den Schwerpunkt der Wahrheit ins unwahre. Mit dem dogmatiſchen Sprüd-
lein vom allſeitigen Unrecht, welches dies Mehr oder Winder nicht berühre, ift
es nicht getan. Dieſer Unterſchied kann nur zugunſten unſrer Widerſacher gering-
ſchätzig übergangen werden. Es will auch nicht viel heißen, daß unſre Wohlweislinge
zwar einen gewiſſen Unterſchied zwiſchen hüben und drüben gelten laſſen, wenn
ihnen dieſer Unterfchied fo unweſentlich erſcheint, daß fie ihn nicht der Mühe wert
finden, ihren grundſätzlichen Abſtand aufzugeben und ihren Platz innerhalb des
Geſchehens auf jener Seite einzunehmen, wo, wie ſie ſelbſt zugeben, ein kleineres
gegen ein größeres Übel im Streite liegt. In Wirklichkeit ift dieſer Unterſchied
groß genug, um auch die erhabenſten Ausflüchte zu entwaffnen. Mögen die Rämp-
fenden es alleſamt verdient haben, nicht leichten Kaufes von dieſer Weltkataſtrophe
loszukommen — und dieſer Krieg hält ja auch alle mit eiſerner Fauſt feſt —, ſo
iſt doch eines unbezweifelbar: die Sache, die wir zu verfechten haben, iſt eine beſſere.
Und um ſo unverzeihlicher iſt es von uns, wenn wir ihr nicht jene Entſchloſſenheit
und Selbſtüberwindung leihen, die unſre Gegner ihrer ſchlechteren Sache zu ſchenken
wiſſen. 1 4
*
Die Wohlweisheit hat aber noch einen weiteren Trumpf in den Händen,
indem fie mit dem Anerforſchlichen Geſchäfte zu machen ſucht, indem fie ausruft,
es komme doch alles, wie es kommen werde: deshalb ſei es das Beſte, nichts zu
wollen und ſich vor jedem Uberſchwang der Seele und allen Verſuchungen des
Gehirns fern zu halten. Ein ſchlaues Verſteckſpiel fürwahr, um die eigene Nichtig-
keit zu verhüllen. Wohl vermag auch das lebendigſte Rechtsbewußtſein nicht vor
den dunkeln RNatſchlüſſen des Himmels zu ſchützen. Wohl muß dem Unerforſch-
lichen gegenüber nicht nur der Einzelne, ſondern auch ein ganzes Volk auf die
Irrationalität des Geſchehens gefaßt fein. Kein Volk, und fei es auch das nach-
denklichſte, beſitzt ſich genug und kennt den Wert, den es in den Augen der Vor-
ſehung einnimmt. Mögen wir uns im Vergleich mit andern für noch ſo viel beſſer
halten dürfen, wer weiß denn, ob unſer Mehr dem Einſatz entſpricht, den die Ent-
wicklung der Dinge zur gegebenen Friſt benötigt? Sind wir doch in der Hand der
Allmacht nur das Mittel eines unüberſehbaren Weltvorgangs, vor dem keine noch
ſo naheliegende Selbſteinſchätzung bewahrt. Das darf uns aber nicht hindern,
den uns zugewieſenen Platz einzunehmen, um ihm auf jede Möglichkeit hin gerecht
Bauer: Beftärtung 483
zu werden. Mag auch alles in der Hand des Geſchehens ſchon vorherbeſtimmt fein,
mag keinerlei Recht und Aufwand vor Fehlſchlägen bewahren, ſo erlaubt doch dieſe
Einſicht niemanden, ſich von den Grenzen unſrer Menſchlichkeit zu entfernen,
welche vor allem die Grenzen unfres Volkstums und unfres Blutes find. Und in
dieſem natürlichen Ausmaß, das unfre beiten Kräfte birgt, heißt es ſich halten und
entfalten, wie immer auch die Würfel fallen. Das iſt jenes Lebensgeſetz, welches
Glauben und Treue verlangt, ſobald es den Namen Vaterland trägt.
* *
Alles, was das Daſein der Welt und alle ihre Anforderungen von uns wollen,
iſt letzterhand doch nicht dieſe oder jene Frage an das Geheimnis der Dinge, ſondern
der tapfere Entſchluß, in jeder Lage das Los derer mitzutragen, denen wir von Hauſe
aus zugeteilt ſind, mit denen uns dieſelben Weſenswurzeln verbinden, die gleich
uns derſelben Lebensſcholle tief innerlich geweiht find. Dieſes Bewußtſein macht
ſchickſalsfrei und ſchirmt uns vor den Anfechtungen des Unerforſchlichen. Uns
bleibt nur, an unſer gutes Recht zu glauben, nicht bloß im ſtillen Kämmerlein,
ſondern mit Hand und Fuß und Schuß und Schlag. Mag dann über uns hinweg-
gehen, was immer, unſer Glaube, unſre Treue und unſre Ehre iſt der Sterblichkeit
nicht untertan und bleibt auch vor dem Unerforſchlichen beſtehen, wie alles, was,
und ſei es auch in der vergänglichſten Form, in ſich ewig iſt.
— 2
ä
9 =
Beſtärkung; Von Hans Bauer Champagne)
Ourchwühlt von bangen Fragen
Marſchieren wir in ſchwerem Schritt.
Ein fernes Rollen ſchreitet mit
And klingt, als würd' ein Kreuz geſchlagen.
Das nachthell überſternte
Gezelt des Himmels brennt und loht,
Wir fühlen uns wie Saat vorm Tod,
Die unreif iſt zur Ernte.
Da ſchrickt's durch Nacht und Sorgen
Wie heißer Mut von Mann zu Mann,
Da ſpringt uns neu ein Glaube an:
Wir ſind das Volk von morgen!
In Sturm und Todgegrolle
Ver bläſt uns doch kein Sterbewind,
Weil wir nicht Saat und Blüte ſind, 9
Nein, Grund und Ackerſcholle.
W
484 Schlaitzer: Her alte Voß
Der alte Voß
Aus dem Leben eines Daheimgebliebenen
Von Erich Schlaikjer
zitten im Dunkel feines Arbeitszimmers ftand der alte Voß. Der
E hohen, ſtraffen Geſtalt merkte man nichts an; aber die feſten, un-
3 4 ) erbittlihen Stahlaugen, die unter den grauen, buſchigen Augen-
e brauen hervorblickten, waren bekümmert. Sie ſchauten durch die
Stämme der Linden hindurch, die draußen vor dem Haus ſtanden und ihren Schat-
ten ins Zimmer warfen. Sie ſchauten in das bleiche Licht des Sommerabends hin-
aus, der draußen auf der Landſtraße lag, aber fie fanden keine Rettung.
Oer große, ſtarke Mann machte einen nachdenklichen Gang durch das Zim-
mer, und in den Möbeln des kleinen, ſtillen Raumes knackte es unter ſeinem ſchweren
Tritt. Er ſtrich mit der Hand über das gelichtete Haar des mächtig gearbeiteten
Schädels. Er ließ feine Gedanken mit der äußerſten Anſtrengung arbeiten, aber
eine Rettung wollte nicht kommen.
Der alte Voß war ein oſt-holſteiniſcher Schulmeiſter von der kernhaften
Sorte, die auch den Erwachſenen des Dorfes ihren Willen aufzwingt. Auch wenn
die Bauern ihm längſt ihre Kinder ſandten, blieb er die feſte moraliſche Autorität,
vor der fie Rechenſchaft abzulegen hatten. Ihre Nacken waren ſteif, aber feine
Fauſt war ſtark, und er hatte manchen ſtarren Sinn zur Anerkennung feiner Men-
ſchenpflicht gebeugt. Gefühlvoll war er nicht. Seine Grundſätze waren unerfchütter-
liche Dogmen. Die feſtgefügte Welt der überkommenen Ordnung mußte ſiegen.
Wer damit in Konflikt geriet, ging zugrunde. Das war nicht zu ändern. Er war
ſo etwas wie ein rauher Soldat des Lebens, der alte Voß.
An dieſem dunklen Abend aber fiel es ihm ſchwer, die unerbittliche Härte
zu bewahren. Immer wieder glitt ſeine Hand durch den kräftigen militäriſchen
Schnauzbart und ſtrich um das feſte, energiſche Kinn. Nach ſeinen Grundſätzen
war die Sache vollkommen klar. Er wußte aber, daß in dieſem Fall ein junges
Herz dabei zerbrechen würde. f
Die blonde Magd, die dort am Türpfoſten auf dem Stuhl ſaß und in Scham
und Tränen vergehen wollte, war einmal ſeine Lieblingsſchülerin geweſen. Er
ſah ſie noch deutlich vor ſich, wie ſie am Bankende ſaß und mit gläubigen blauen
Augen zu ihm emporblickte. Er ſah die Nachmittagsſonne, die ſich durch die Linden
hindurchſtahl und einen goldenen Schein um ihren blonden Scheitel wob. Und
nun war das alte Elend da: ein Kind unterwegs und keine Möglichkeit zu heiraten.
Ein im verborgenen geſtohlener Traum von Glück und nun ein Weg in Einfam-
keit und Schrecken hinaus. |
Stine zitterte auf ihrem Stuhl unter fortwährenden Schauern der Angſt
und der Reue. Vor dieſer Stunde hatte ſie ſich gefürchtet, wie vor dem Weltende
und dem letzten, unvermeidlichen Zuſammenbruch. Sie kannte jeden Stuhl in
dieſem Raum und jede Photographie an den Wänden. Sie kannte die Schwarz-
wälder Uhr, die nun in die unheimliche Stille hineintickte, und der feuerfeſte Geld-
Schlaitjer: Der alte Voß 485
ſchrank der Sparkaſſe, die vom alten Voß verwaltet wurde, war ihr immer als
der Inbegriff aller irdiſchen Macht erſchienen. Sie hatte ſo oft in dieſem Zimmer
geſtanden und hatte für ſich und ihre arme Mutter Rat und Beiſtand geholt. Immer
war ſie dankbaren Herzens weggegangen. Nun aber war ſie auf ewig ausgeſtoßen
und durfte nie mehr die Augen erheben.
„Wie weit biſt du?“
„Im dritten Monat“, hauchte ſie.
Ein Ruck von Zorn und Grimm ging plötzlich durch die Geſtalt des
alten Voß. |
„Dein geliebter Heinrich war immer ein Jammerburſche“, knirſchte er durch
die Zähne.
„Herr Voß!“ kam es bittend vom Stuhl der Scham und des Leidens.
„Ach was! Gutmütig war er in der Schule ſchon. Aber ohne Feſtigkeit in
den Knochen. Nichts von einer Fauſt und einem Kerl. Alles Unglück kommt von
dieſen ſchwachen Naturen.“
„Seine Mutter hält ihn ſo ſtreng.“
Seine Mutter!
Der alte Voß blieb auf einem Gang durch das Zimmer jäh ſtehen, und ihre
Stirne ſenkte ſich unter ſeinen grauen, unerbittlichen Stahlaugen.
„Haſt du ſie am Nachmittag in ihrem gepolſterten Lederſtuhl am Fenſter
ſitzen ſehen?“
Sie nickte.
„Mit der Adlernaſe und den kalten, funkelnden Augen eines Raubvogels.“
Sie nickte.
„Willſt du mir glauben, daß ſie eher dein rotes, warmes Herz mit ihren
mageren Krallenfingern aus der Bruſt reißt, als daß ſie eine arme Magd als Frau
auf den Erlenhof nimmt?“
Stine ſagte nichts, aber ihre Geſtalt zitterte, wie unter einem unbarmherzi-
gen Schickſal.
„Iſt dir bekannt, daß du als lediges Mädchen mit deinem Kind in die Ein-
ſamkeit hinaus mußt?“
„da.“
„Siehſt du wohl! Und das iſt es, was ich deinem Windhund zum Vorwurf
mache. Ihr Weibsleute habt keinen Verſtand, wenn's unter dem Mieder warm
zu werden beginnt. Er aber iſt ein Mann, und wenn ein Mann keinen Verſtand
und keinen Willen hat, holt ihn der Teufel beſſer heute als morgen.“
Schwer und zornig ging ſein Schritt durch das Zimmer.
„An die dreißig Jahre iſt der verfluchte Junge nun ſchon alt geworden, und
noch immer hat ſeine Mutter keine Fauſt von ihm geſehen. Noch immer ſchlägt
fie den Mägden ins Geſicht, als ob er nicht im Haufe wäre. Ein Waſchlappen, der
ganze Lumpenheinrich. Auf dem Heuboden beim Mädchen: ja, da geht's. Da
helfen ihm ſeine blauen Augen und ſeine blonden Haare. Heiraten kann er dich
nicht. Das iſt richtig. Er wird nicht einmal wagen, den Gedanken zu denken. Aber
das ſage ich dir: Wenn er mir in dieſer Angelegenheit nicht endlich zeigt, daß ein
486 | | Schlaitjer: Oer alte Voß
Kerl in ſeiner Hoſe ſteckt, dann ſchlage ich ihn mit meinen Fäuſten zuſammen und
werfe ihn zum Zimmer hinaus.“
Eine faſt ungebändigte Wut ging in dieſem Augenblick durch feinen g
tigen Körper.
„Herr Voß! Ach, Herr Voß!“
Stine wand ſich unter ſeinen Worten. Auch wußte ſie, daß er durchaus der
Mann war, derartige Drohungen in die Wirklichkeit umzuſetzen. An eine derbe
Beweisführung hatte er ſeine Bauern gewöhnt. Das verſtanden ſie am beſten.
„Komm her!“ ſagte er plötzlich. |
Sie kam auf geräuſchloſen Strumpfſocken zu ihm hinüber. Die Holzſchuhe
hatte ſie reſpektvoll draußen vor der Tür ſtehen laſſen.
Er faßte ſie unters Kinn, und ihr tränengefülltes blaues Auge lag ſo offen
vor ihm wie ihre Seele.
„Zu einer Heirat kann ſelbſt der leibhaftige Gottſeibeiuns die Alte nicht
zwingen. Du mußt unbedingt vom Hof herunter. Ich will die Krallen der Megäre
nicht erſt in deinem Geſicht ſehen. Wohin du kommſt, muß ich mir überlegen. Das
Kind ſoll bei dir bleiben. Ich bringe dich bei gutmütigen Leuten unter und ſetze
mein Wort dafür ein, daß dir nichts geſchieht. Auf dem Stuhl an der Tür hat
manche vor dir geſeſſen. Du bleibſt in meinen Augen ein braves Mädchen. Mach'
dich auf ſchwere Jahre gefaßt und ſchicke mir morgen deinen Windhund.“
In Stine quoll es plötzlich heiß auf. Es war wieder wie einſt in der Religions-
ſtunde. Sie ergriff ſeine Hand mit beiden Händen und küßte ſie inbrünſtig.
2. *
*.
Am nächſten Abend ſaß Heinrich auf demſelben Stuhl und drehte die Mütze
verlegen in der Hand. Es gab ſonſt eine feſte Rangordnung im Dorf. Die Bauern
und Bauernſöhne behielten die Holzſchuhe an. Die Oienſtboten ließen fie vor der
Tür. Diesmal aber hatte Heinrich fie draußen gelaſſen. Hochmut war nicht an-
gebracht.
Eine lange, bange Stunde verging. Wenn der alte Voß einmal in tiefen
Gedanken ſtill ſtand, tickte die Schwarzwälder Uhr ſo unheimlich laut. Es lag etwas
Unbarmherziges und Hartes in ihrem ewigen gleichmäßigen Ticken. Sein und
Stines Glück wurde in dieſer dunkeln Stunde begraben. Wie konnte ſie da nur
ſo kalt und gleichgültig die Minuten zerhacken? Es war, als wenn die Uhr jedesmal
auf ſeine aufgeregten und zerriſſenen Nerven geſchlagen hätte.
Mitunter ſandte er den Blick durch die Stämme der Linden hinaus. Ein
friedlicher Sommerabend lag auf der Dorfſtraße. Wer in dieſem Licht atmete,
der war glücklich. Der konnte frei von Schuld und Fehle ſeines Weges ziehen.
Der war von einem freundlichen Tag umſpielt. Hier in der Dämmerung aber
waltete die Schuld, und daheim im gepolſterten Lederſtuhl ſaß mit kalten, funkeln
den Augen die Rache.
Der alte Voß ſtand mitten im Zimmer und ſchloß feine Rede fo: „Vas ich
von deinem Heldenſtück halte, iſt dir jetzt bekannt. Wer einem ordentlichen Mãd⸗
chen etwas einbrockt, ohne ſie vor Schande bewahren zu können, nimmt eine ſchwere
Schlaikjer: Der alte Voß | 487
Verantwortung auf ſich. Dir hat's wieder einmal am feſten Willen gefehlt. Ich
möchte endlich einmal ſehen, daß du ein Mann wirſt, der das Leben in ſeine Hand
nimmt und meiſtert. Glaubſt du, daß ich das jemals erlebe?“
Heinrichs Geſicht war mit dem Feuer der Scham übergoſſen. Er wagt
nichts zu verſprechen.
„Die Suppe iſt aber nun einmal angerührt und muß ausgelöffelt werden.
Das Mädchen muß zunächſt vom Hof herunter. Ich glaube, die Augen deiner
Mutter wären imſtande, das Kind unter ihrem Herzen zu töten.“
„Sie kann erſt auf Oktober kündigen“, warf Heinrich zaghaft ein.
„Dann muß ſie ungeſetzlich aus dem Dienſt laufen. Ich nehm's auf mich.
Geld dürfen wir von der Alten nicht verlangen. Wer ihr auch nur einen Taler
nehmen will, iſt in ihren Augen verflucht. Und du haſt es wohl immer noch nicht
ſo weit gebracht, daß du über irgend etwas ſelbſtändiger Herr biſt?“
Heinrich ſenkte den Blick. In dieſer langen, ſchweren Sekunde war es ihm,
als müßte er vor Scham in den Erdboden ſinken.
„Hab' mir's gedacht. Mit den alten Weibsbildern iſt ſchwerer fertig zu wer-
den, als mit den jungen. Stine muß ſich mit ihrem Kind alſo allein durchbringen.
Sie iſt eine tüchtige Dirn und kann das auch. Du etablierſt die umgekehrte Welt.
Der Vater ſetzt den Balg in die Welt, und die Mutter verſorgt ihn. Das Weib
muß ſtark ſein, damit der Mann ſchlapp ſein kann. Aber na! Wenn deine Mutter
über Stines Verſchwinden raſt, ſchickſt du ſie zu mir. Wenn ſie durch das Gerede
der Leute von dem Kind erfährt, ſchickſt du ſie ebenfalls zu mir. Ich habe ſie für
deinen Vater mehr als einmal gebändigt. Ich kann auch dir den Dienſt erweiſen.
Im Oktober wird ſie ſiebenundſechzig.“
„Achtundſechzig.“
„Am fo beſſer. Schließlich kommt die Stunde, in der fie ſtirbt. Wir wollen
wenigſtens zu Gott hoffen, daß die Natur mit ihr keine Ausnahme macht. Dann
biſt du der Herr auf dem Erlenhof, und Stine und dein Kind halten ſich für dieſen
Tag bereit. Die Verwandten werden ſchnattern und die anderen Bauern im
Dorf werden murren. Sie haben ſelber Töchter, die ausgezeichnet auf den Erlen-
hof paſſen würden. Das eine wie das andere brauchſt du nicht zu fürchten. Ich
zerbreche es unbarmherzig. Ich trete es unter die Füße, wo es ſich hervorwagt.
Du biſt von heute ab ein verheirateter Mann und warteſt auf den Tag, wo du
dein Weib redlich machen kannſt. Verſagſt du in dieſem Punkt, haſt du mein Zim-
mer zum letzten Male betreten, und ich werde der ganzen Welt ins Geſicht ſagen,
daß der Erlenhof auf einen Spitzbuben gekommen iſt.“
Was war das? Als Heinrich auf die Oorfſtraße herauskam, meinte er plöß-
lich, über die kleine, ſtrohgedeckte Kate hinwegſpringen zu können, die auf der
anderen Seite lag. Der alte Voß wollte Bauernſohn und Magd zufammenbrin-
gen? Oer alte Voß wollte die Mutter bändigen und den Haß der anderen Bauern
niedertreten? Nun war es auf einmal wieder hell geworden, und er konnte ſo
leicht wie ein Vogel in die Zukunft hineinfliegen.
Als die Frau mit der Hakennaſe und den funkelnden Raubvogelaugen be-
reits ſchlief, waren Heinrich und Stine in der Sommernacht hinter dem Stall
488 Schlaither: Der alte Voß
zuſammen. Heinrich lag auf den Knien und weinte vor N in den ſchwangeren
Schoß hinein.
„Weißt du, was ich glaube?“ ſagte Stine, und ihre e Augen
blickten träumend vor ſich hin.
„Nun?“
„Ich glaube, daß der alte Voß der redlichſte Menſch auf der ganzen Erde iſt.“
„Das glaube ich auch“, ſagte Heinrich.
* *
*
Was auf den Höfen umher ſaß und was auf den Feldern der Bauern arbei-
tete, war auf der Schulbank des alten Voß groß geworden. Dreißig Jahre hatte
er nun ſchon in der Gemeinde gearbeitet und war zum Vertrauensmann aller
Einwohner geworden. Die Sparkaſſe wurde von ihm verwaltet. Hatte jemand
kein Geld, kam er zu ihm. Hatte jemand ſo viel, daß er etwas davon anlegen wollte,
kam er auch zu ihm. Die Schriftſätze des Gemeindevorſtehers an die Behörden
gingen durch ſeine Feder. War man mit der Feuer- oder Viehverſicherung nicht
zufrieden, ſo ſah man ſich mit ſeiner Hilfe nach einer anderen um. Haperte es mit
dem Verſtändnis eines Artikels im landwirtſchaftlichen Fachblatt, brachte man
ihn zu ihm. Kannte man ſich in der Politik nicht mehr aus, holte man feinen Rat.
War jemand mit einem Zwiſchenhändler in ein Geſchäft hineingeraten, das er
nicht mehr überblickte, ging er zum alten Voß. Wollte ein Sohn nicht gut tun oder
drohte ein Mädchen auf Abwege zu geraten, mußten ſie ſich auf den Stuhl ſetzen,
wo Heinrich und Stine geſeſſen hatten. Im Sterbehaus ſaß er am Sarge und bei
den Hochzeiten ſaß er zu oberſt an der Tafel. Alle menſchlichen und alle geſchäftlichen
Fäden des Dorfs liefen in ſeiner Hand zuſammen. Konnte man ſich über das
Erbe nicht einigen, wurde er gerufen, und wenn ſeine hohe, mächtige Geſtalt in
der niedrigen Bauernſtube ſtand, war es ihnen immer, als fülle Gott-Vater ſelber
den Raum, und als müßten nun alle heimlichen ſchlechten Gedanken ſich ver-
kriechen. Von ſeiner unbeugſamen Redlichkeit ging es wie Religion und Weihe
aus. Man ſchämte ſich der eigennützigen Gier, und wer zu ſchlecht war, ſich zu
ſchämen, den bannten ſeine grauen, unerſchrockenen Stahlaugen und fein unzer-
brechlicher Wille. Der Beſitzteufel krümmte fi unter feiner feſten Fauſt, aber er
duckte ſich immer. Wer beim alten Voß den Reſpekt verloren hatte, war in der
Welt des Dorfes ein gezeichneter Mann.
* **
Wenn im letzten Schuljahr die Kinder ſich anſchickten, ins Leben hinauszu-
treten, gab es eine Religionsitunde, die niemand vergaß, der beim alten Voß
auf der Schulbank geſeſſen hatte. Sie kam immer unerwartet, aber wenn ſie
plötzlich aus dem Alltag des Unterrichts heraufſprang, ging ein heiliger Ernſt
durch das Klaſſenzimmer. Dann ſprach der alte Voß über die menſchliche Redlich;
keit. Dann war jedes Wort wie Hammerſchlag, und hinter jedem Satz lag ein
ganzes gelebtes Leben. Jede Schuld konnte mit Tränen und Reue abgewaſchen
werden. Zeder Fehltritt konnte verziehen werden. Zede ſchlechte Aufwallung
konnte man vergeſſen. War jemand aber erſt ein unredlicher Menſch geworden,
war er ſchlechter als das Tier auf dem Felde. Die Tiere waren unſchuldig, aber er
Sälaitjer: Oer alte Voß 489
war ein gefallener Mann. Keine Verachtung war jo tief und herb, daß ein unred-
licher Menſch ſie nicht verdiente. Sein bloßes Dafein verpeſtete die Luft für andere.
Er war wie jemand, der ſich vom offenen, ehrlichen Kampf losgeſagt hatte, um
dem Gegner aus dem Hinterhalt mit einer vergifteten Waffe in den Rücken zu
fallen. Jede Berührung mit ihm befleckte. Durch jeden Händedruck erniedrigte
man ſich. Sein Geld war Schmutz. Wer ihn in ſein Zimmer ließ, gab die Ehre
des Hauſes preis. An der Redlichkeit ſollte ſich alle Religion erweiſen. In dieſem
einen hing das ganze Geſetz.
Die tiefe Stille einer atemloſen Andacht lag im Zimmer. Von den Kindern
wußte jedes, daß man den Mann dort auf dem Katheder in Stücke reißen konnte,
daß man ihn aber nie zu einer unredlichen Handlung würde zwingen können.
Die große Stunde war da, die ſie als das Bekenntnis des alten Voß ins Leben
mit hinausnehmen ſollten. Sie erlebten jetzt, was auch ihren Vätern ſchon mit
einem heiligen Schauder über den Rücken gelaufen war. Nie würden ſie dieſe
Stunde vergeſſen. ri 4
*
Aber hart konnte er fein, der alte Voß, unerbittlich hart. Ein ſtrenger Pflicht-
begriff beherrſchte ſein Leben und beherrſchte durch ihn auch die andern. Gefühl-
vollen Erwägungen war er wenig oder gar nicht zugänglich. Wenn das Herz
einmal mit der Pflicht in einen unauflöslichen Streit geriet, hatte das Herz zu
leiden oder zu brechen. Das ließ ſich nicht ändern. Feſte Ordnung mußte ſein,
und nur durch treue Pflichterfüllung konnte ſie aufrechterhalten werden. Was
ſollte werden, wenn jedermann ſeiner Neigung folgen wollte? Vom „Recht der
Perſönlichkeit“ hielt der alte Voß nicht viel. Er betrachtete das Leben als eine
Aufgabe, die jedem einzelnen geſtellt war, und die jeder einzelne in ehrenwerter
Weiſe zu löſen hatte. Der eigentliche Inhalt des Lebens war ihm darum die
Arbeit, und die Hauptfreude war das Wohlgefallen am Segen der Arbeit. Wer
nichts tat, wer keine Pflicht zu erfüllen hatte, war in den Augen des alten Voß
ein Kadaver, der gar nicht früh genug eingeſcharrt werden konnte.
Es lag in ſeiner redlichen Natur, daß die Härte ſich nicht nur gegen andere,
ſondern vor allem gegen ihn ſelber richtete. Drei Söhne hatte er, und alle drei
wurden von feinem ſchmalen Schulmeiſtereinkommen auf höheren Schulen unter-
halten. Der älteſte ſtudierte Medizin, der zweite Theologie, der dritte beſuchte
ein Schullehrerſeminar. Das wollte verdient ſein und wollte es um ſo mehr,
als er, trotz unerbittlich durchgeführter Sparſamkeit, ſeinem Anſehen im Dorf
doch niemals etwas vergab. Er hätte weder ſich noch ſeiner Frau noch ſeinen
Söhnen Läſſigkeiten im Anzug oder Auftreten vergeben, die nach ſeiner Anſicht
nun einmal nicht ſein ſollten. Mit der nebenamtlichen Verwaltung der Spar-
kaſſe war da allein nicht durchzukommen. Seine Stellung als ewig geſuchter
Ratgeber hatte dazu geführt, daß er ſich in alle öffentlichen und rechtlichen Ver-
hältniſſe hineingearbeitet hatte, die in das Leben der Dorfbewohner eingriffen.
Ob es ſich nun um die Militärpfliht handelte oder um eine Frage der Arbeiter-
verſicherung oder um die Regelung einer Hypothek: man klopfte beim alten Voß
niemals vergeblich an, und ſeine unbeugſame Rechtlichkeit entſchied nicht nur
490 Schlaitjer: Oer alte Do
nach dem Buchſtaben, ſondern auch auf Grund einer ehrenwerten Geſinnung.
Faſt jedes wichtige Schriftſtück des ganzen Kirchſpiels ging durch ſeine Feder, und
ſein Arbeitstag ſchloß erſt, wenn er nachts um elf Uhr die Lampe auf feinem Arbeits-
tiſche ausblies und ins Bett ging. Geſchenke wurden ihm oft angeboten, aber auch
wenn ſie gut gemeint und redlich verdient waren, wurden ſie zurückgewieſen. Er
hatte zu oft geſehen, wie Amtskollegen durch Freundlichkeiten der Bauern in
Abhängigkeit geraten waren. Sein war die Aufgabe, die er ſich geſtellt hatte,
ſein war die Arbeit und ſein die Genugtuung über das Gelingen. Außerdem
hatten die Tagelöhner und ihre Kinder in ſeinen Augen den erſten Anſpruch auf
ihn. Die aber hatten nichts zu verſchenken.
* *
x
Seine Frau war die Tochter eines Großbauern aus einem Nachbardorf.
Die Familie gehörte zu den ganz Alteingeſeſſenen und war in der Gegend von
jeher führend geweſen. Der Hof aber hatte in der Agrarkriſis der achtziger Jahre
ſchwer gelitten, und ſo waren die materiellen Verhältniſſe recht ſchwierig. Außer-
dem waren drei Söhne vorhanden, die jeder in ſeiner Art reichliche Aufwendungen
verlangt hatten. Nach Geld hatte er nicht geheiratet, der alte Voß.
Vas ihn damals angezogen hatte, war die ſeeliſche Vornehmheit des jungen
Mädchens geweſen. Sie hatte etwas ausgeſprochen Zartes und Keuſches, das ſie
den Männern gegenüber zu einem ſcheuen, flüchtigen Reh machte. Voß aber hatte
ſich ihr Vertrauen und ihre Gunſt erworben, und wenn ſie ihn mit ihren reinen
blauen Augen anſah, war ihm, als wäre ihm ein unendlicher Schatz zuteil geworden.
Ihr Leben in der Ehe aber war ein einziger Aufblick zu ihm. Er ſtand ſo feſt
und unerſchütterlich am Steuer ihres Lebensſchiffes, daß die Zuneigung ihres
Herzens ewig warm blieb. Sie brauchte wie keine andere den Stolz auf ihren
Mann. Sie hätte nicht leben können ohne dieſen Stolz und war glücklich, daß er
ihr fo reichlich geſchenkt wurde. Wenn fie an einer Hochzeitstafel in ihrem feſt⸗
lichen Kleid neben ihm ſaß, lag eine ſtille, bezwingende Würde ihn ihrem Ausſehen.
Alle Würde aber war nur der Widerſchein des Stolzes, daß er ihr Mann gewor-
den war.
Dabei wußte fie trotz aller Hingabe doch im Haus ihre eigene Selbftändig-
keit zu wahren. Der alte Voß war ihr gegenüber von einer altfränkiſchen Ritterlich⸗
keit. Er hatte immer das Gefühl, daß er ſie zerbrechen könnte, wenn er ſie mit
ſeiner ſtarken Kraft zu ungeſtüm anfaßte. Darum war er nie zarter und weicher,
als wenn er mit ihr ſprach. Oft genug war fie ihm in den Arm gefallen. Oft ge-
nug hatten ihre ſchlanken Frauenfinger einen Knoten entwirrt, den er mit einem
raſchen Hieb durchzuhauen entſchloſſen war. Im Dorf wußte man ganz genau,
ob man in einer beſtimmten Angelegenheit zu ihm gehen ſollte oder ob man beſſer
den Weg über fie legte. Wenn fein eiſerner Starrkopf einmal mit einem bäueri-
ſchen Starrkopf zuſammentraf und kein Ausweg ſich öffnen wollte, legte ſie ihm
den weichen Arm um den Hals. Und dann beugte ſie den ſteifen Nacken wie den
eines Kindes.
* *
Schlaltjer: Oer alte Voß 491
Die Söhne waren bald fertig. Alle drei befanden ſich im letzten Jahr ihrer
Ausbildung. Aber Schulden waren entſtanden. Selbſt bei der äußerſten An-
ſpannung der Kräfte hatte ſich das nicht vermeiden laſſen. Die Studienzeit jedes
einzelnen war ſozuſagen mit einer Schlußhypothek belaſtet. An der Tilgung würde
der alte Voß zunächſt noch mitarbeiten müſſen. Es war nicht zu verlangen, daß
die Jungens als neugebadener Arzt, Paſtor und Schulmeiſter gleich ſollten Schul-
den abtragen können. Eine Reihe von Jahren würde die Hauptlaſt noch auf ſeinen
Schultern liegen, aber dann würde er frei werden. Dann konnte er anfangen, für
einen anſtändigen und ſorgloſen Feierabend zu arbeiten. Die Söhne würden ja
wohl auch ein Weib nehmen und ein Heim gründen. Die Frau träumte ſchon
jetzt von kleinen blonden Enkelkindern. Dann kam die Zeit der Ernte. Dann ſollte
er ſich freuen dürfen über den willensſtarken Fleiß, mit dem er das Feld ſeines
Lebens beackert hatte. Dann durfte das arbeitſame Schulhaus vom Beſuch froher
Menſchen und von heiteren Feſten widerhallen. Dann hatten die ſtarken Schultern
der Söhne die Hauptlaſt auf ſich genommen. Am langen Lebenstag die Arbeit
und am Abend die Gäſte. So war es der Lauf der Welt und jo war es gut.
* *
*
Als der Krieg ausbrach, gab ſich der alte Voß einen Ruck und warf alle
Träume hinter ſich. Nun galt es ſtark zu ſein. Nun war im Grunde die Zeit ſeiner
Lebensanſchauung gekommen: die Zeit, wo jeder wußte, daß man um der Pflicht
willen lebte und auch die härteſte Pflicht auf ſich nehmen mußte. Nun brauchte
man Männer und Eifen.
Die drei Jungens gingen alle freiwillig mit. Das taten ihre Studientame-
raden auch. Von der Seminarklaſſe des Jüngſten ſchieden nur zwei aus, die beide
verkrüppelt waren. Das war vollkommen in der Ordnung. Wenn der alte Voß
den einen nach dem andern an die Bahn brachte, war er nicht traurig, ſondern
ſtolz. Alle drei waren grade, ſtarke Burſchen. Alle drei hatten fein leidenſchaft-
liches Ehrgefühl geerbt. Alle drei waren in ſtrenger Pflichterfüllung erzogen und
brannten darauf, ihre Muskeln und Nerven zu ſpannen. Wenn der alte Voß vom
Bahnhof zurückging, ſummte er ein Soldatenlied vor ſich her. Die Zeit der Kraft
war gekommen, und er hatte drei tüchtige Söhne als lebendiges Kapital hinein-
geſteckt. Auch ſeine Arbeit und ſeine Lebensauffaſſung kämpften draußen auf
den Schlachtfeldern mit.
Straff und aufrecht ſtand der alte Voß auf dem Katheder und zog die Nutz-
anwendung des Krieges. Was würde jetzt aus dem Land werden, wenn das Volk
in Wohlleben erſchlafft wäre? Was für einen Sammeranblid würden wir bieten,
wenn nicht jeder zum ſchwerſten Opfer bereit wäre? Was ſollte man nun mit den
lebendigen Leichen anfangen, die keine Pflicht und keine Ehre im Leibe hätten?
Die Frauen weinten. Das ließ ſich nicht ändern. War von jeher ſo geweſen. Im
Krieg weinten die Frauen. Die Männer aber hatten ſtolz zu ſein und zu kämpfen.
Straff und aufrecht ſtand er vor der Klaſſe, und ſeine Worte waren feſt gehämmert.
Wenn er aber am Nachmittag nach der letzten Schulſtunde ſeinen gewohnten
Spaziergang machte, war es, als ſähe man einen in harter Zucht geſtählten Sol-
daten des Lebens durch die Gaſſe ſchreiten. Dann und wann ſauſte ſein Rohrſtock
492 Schlaither: Oer alte Voß
mit ſtartem Schwung durch die Luft. Dann konnte man ſicher fein, daß feine
Gedanken draußen auf dem Schlachtfeld waren.
* *
*
Der Mediziner fiel vor einer engliſchen Kugel in Flandern. Er fing den
Todesreigen an. Die andern im Dorf waren noch alle lebendig. Seine Mutter
weinte ihre leidenſchaftlichſten Tränen. Der alte Voß ſtand ihr bei; aber er weinte
nicht. Im Krieg ſtarben Menſchen. Das wußte man von vornherein. Es würden
im Dorf noch mehr fallen. Was follte daraus werden, wenn alle ein großes Zlen-
nen anſtellen wollten? Der Krieg war da. Es galt, ihn aufrecht zu tragen.
Als er in der Nacht in feinem Arbeitszimmer allein war, öffnete er die alte
Schatulle und holte vorſichtig und mit großer Feierlichkeit eine ſchlichte Mappe
hervor. Auf der inneren Seite des Umſchlages ſtand mit ſeinen eigenen, ſteilen,
kräftigen Schriftzügen: e
„Dokumente und Zeugniſſe für Friedrich Karl Voß.
Geboren am 10. November 1889.“
Mit ſeiner ordnungsliebenden Hand fügte er hinzu: „Gefallen im Oktober
1914 als Kandidat der Medizin vor einer engliſchen Kugel in Flandern.“
In der Mappe waren alle Schulzeugniſſe aufbewahrt, von den erſten, die
er ſelber geſchrieben hatte, bis zu den letzten. Nun legte er das Band des Eiſernen
Kreuzes hinein und ſchloß die Rechnung. Als er aber im erſten Zeugnis des fehs-
jährigen Knaben von feiner eigenen Hand die Bemerkung las: „Kann nicht ſtill⸗
ſitzen“, brach plötzlich ein Schluchzen aus feiner Bruſt. Er ſah den kleinen, zapp-
ligen Flachskopf vor ſich, der durchaus nicht begreifen konnte, daß er nicht wie
ſonſt ſeinem Vater aufs Knie krabbeln durfte. Er ſah die erſtaunten blauen Augen,
die zum erſtenmal in Pflicht und Leben hineinblickten. Faſt war es geweſen, als
erſchrecke er vor all dem Neuen und ſehne ſich nach dem Kinderzimmer zurück. War
eine unbewußte Ahnung in ihm geweſen, daß das Leben ihm ſo rauh mitſpielen
würde? Nun war der blonde Kopf von damals von einer Kugel durchbohrt und
ſchlief in der flandriſchen Erde. Nun brauchte er keine tadelnde Anmerkung ins
Zeugnis mehr. Nun war er ſtill.
Es war Mitternacht vorüber, als der alte Voß die Lampe löſchte und ins
Schlafzimmer ging. Seine Frau lag wach und weinte in die Kiſſen hinein.
„Du kommſt ſpät.“
„Die Arbeit zog ſich ſo lange hin“, ſagte Voß.
Dann ging er ſtill ins Bett.
* *
5 |
Der Tod forderte viele Opfer im Kirchſpiel. Immer wieder zuckte fein
Strahl in ein ſtrohgedecktes Bauernhaus hinab. Wie bange Gewitterſtimmung
lag es über allen. Es war eine ſchwere Zeit. —
An einem kalten Januartag mit grauem Winterrauch über den Feldern
kam ein Telegramm, daß der Schulamtskandidat im Weſten gefallen ſei. Er hatte
eben fein 21. Lebensjahr vollendet. Die Frau war bei Nachbarsleuten auf Be
ſuch. Als ſie den Poſtboten zu ſo ungewohnter Stunde ins Haus gehen ſah, kam
ſie unruhvoll nach Hauſe. Es war die fünfte Stunde am Nachmittag.
Schtaitzer: Der alte Voß | 495
„Mein Gott, ſo jung!“ ſagte ſie, als Voß ihr mit einem traurigen Blick das
Telegramm hinhielt. Dann brach ſie ſtill und ohne Klage zuſammen.
Voß trug ſie auf ſeinen ſtarken Armen ins Bett und wachte bei ihr bis zum
nächſten Morgen. Sie kam auch wieder auf die Beine, aber ſie wankte nur noch
wie ein bleicher Schatten durchs Haus und weinte viel vor ſich hin.
In einer Dämmerſtunde ſtand ſie weinend am Fenſter des Wohnzimmers,
das aufs freie offene Feld hinausführte.
Voß trat von hinten auf ſie zu, beugte ihr den Kopf zurück und ſtreichelte
ihre Wange.
„Ihr Männer ſeid hart“, ſagte ſie mit zuckenden Lippen. „Wir Frauen
würden keine Kriege machen.“
„Kriege macht man nicht. Sie kommen wie das Schickſal über ein Volk.“
Voß ſagte es ſchonend und ließ das Thema ſofort fallen. Sie vertrug neuer-
dings nicht, daß er den Krieg verteidigte. Still und ſchweigſam gingen fie neben-
einander durch die Räume. Wurden lärmende Stimmen auf der Straße hör-
bar, zuckte die Frau zuſammen, als wenn ein bloßliegender Nerv getroffen wäre.
Voß legte ihren Kopf an ſeine Bruſt und küßte ihr die Stirn.
„Ich begreife nicht, wie die Leute ſo laut ſein können,“ ſagte ſie dann mit
ihrer matten Stimme, „ſie wiſſen doch, daß wir zwei Leichen im Hauſe haben.“
„* 5 **
*
Dann aber kam der ſtrahlende Zulitag des Jahres 1915, an dem der Brief-
träger Wilhelm Lührs den ſchwerſten Gang ſeines Lebens machen mußte.
„Als wenn du im Wald eine Eiche fällſt,“ erzählte er ſpäter, „ſo war es, als
ich ihm das Paket hingab. Wenn ich ſo etwas oft beſtellen ſollte, wollte ich lieber
tot fein.“
Man kannte dieſe Pakete im Ort fe gut. Sie enthielten Ahr, Börſe, Brief-
taſche und ſonſtige Habſeligkeiten der Gefallenen. In dieſem Fall lag auch noch
ein Zettel dabei, den der dritte Sohn des alten Voß auf der Bruſt getragen hatte.
Es ſtand darauf:
„Lieber Vater und liebe Mutter! Nun iſt auch der Letzte von Euch gegangen.
Dieſe Zeilen treffen Euch nur, wenn ich falle. Wir drei Brüder wollen nun im
Himmel beiſammen ſein und an Eure große, unendliche Liebe denken. Ich wäre
ein ſchlechter Paſtor geworden, wenn ich nicht zu ſterben wüßte. Trauert nicht
um mich. In der Welt habt ihr Angſt, aber ſeid getroſt, ich habe die Welt über-
wunden. N In heißer Liebe ewig Euer Gotthold.“
Die Frau überwand es nicht. Sie wurde aufs Krankenlager geſtreckt und
fiel wilden Fieberphantaſien zum Raub. Der alte Medizinalrat aus der Kreis-
ſtadt kam und ſchüttelte den Kopf. Hier war ſeine Kunſt zu Ende. Die Seele
war krank, und für die Seele hatte er keine Medizin. Er verordnete kalte Umjchläge
um den Kopf und ſtellte alles übrige dem lieben Gott und der Zeit anheim. Beim
Abſchied drückte er dem alten Voß lange und warm die Hand.
Der Briefträger hatte recht: der alte Voß war wie eine Eiche, die von einem
furchtbaren Axthieb bis ins Mark getroffen war. Der ſtarke Mann bebte und
zitterte und wurde von Tränenſchauern gerüttelt. Die Sorge um die Kinder
„ 4
un. er
494 Schlaitjer: Der alte Op
wurde von der heißen Sorge um die Frau völlig in den Hintergrund gedrängt.
Er lag an ihrem Bette auf den Knien und flehte zu Gott um ihr Leben. Wenn ſie
ihn auch verließ, war alles um ihn verſunken. —
Sie verließ ihn nicht. Der Anfall wich, und das Bewußtſein kehrte langſam
zurück. Matt und namenlos leidend lag ſie in ihrem weißen, ſauberen Bett. Die
Hände waren gefaltet, und der Blick ſtierte in dumpfer Ergebenheit geradeaus.
Es war, als ob noch ein Reſt des Fiebers in ihrem Gehirn hockte und nicht weichen
wollte. Sie erkannte ihren Mann wohl, aber ſie blieb vollkommen gleichgültig.
Sie antwortete auch nicht auf feine Fragen. Ihre Augen hatten eine dunkle, un-
ſtete Färbung angenommen und blickten immer geradeaus ins Leere.
Nur einmal ſagte ſie etwas. Als er am Nachmittag an ihrem Bett ſaß und
ihre Hand ſtreichelte, fingen ihre Lippen an, ſich zu bewegen. Er ſtreichelte ihre
Stirn, als könnte er damit alle Hinderniſſe hinwegſtreichen. Wenn ſie nur erſt
ſprechen wollte! Wenn nur die Seele ſich in Worten entladen könnte! Er hatte
auf dieſen Augenblick gehofft, wie auf die Rettung ſeines eigenen Lebens.
Mühſam bewegten ſich ihre Lippen, und ihre Augen irrlichterten ratlos wie
geängſtigte Vögel im Zimmer umher. Es war, als könnte fie durchaus nicht den
Satz zuſtande bringen; als müßten alle Seelenkräfte kreißen und gebären, um ein
paar arme Worte herauszubringen. Schließlich aber hatte fie die Bruchſtüͤcke
zuſammengebracht, die ſie in ihrem Gedächtnis ſuchte. Es war die Erzählung vom
Züngling zu Nain, die in ihr lebendig geworden war. Langſam und wie aus einem
fernen Traum heraus ſagte fie: „Und er war der einzige Sohn ſeiner Mutter.“
Dann zuckten ihre Lippen, aber ſie weinte nicht und ſagte auch nichts mehr.
* =
*
Als fie aufkam, ſaß fie teilnahmlos in ihrem Lehnſtuhl. Wenn fie überhaupt
etwas ſagte, wiederholte fie jenen Satz aus dem Jüngling zu Nain. Es war, als
ob alle Kräfte ihrer Seele ſich in dieſem einen Satz erſchöpften. Im Garten blüh-
ten die Roſen. Die Roſen waren in jedem Jahr die ganze Freude ihrer reinen
Seele geweſen. Der alte Voß ſtellte ihr herrliche, friſch erblühte Roſen auf den
Tiſch; aber ſie bemerkte es gar nicht.
Als er ſie am Abend wie ein Kind entkleidete und ins Bett legte, ſagte ſie:
„Und er war der einzige Sohn ſeiner Mutter.“
0 |
4
Dann mußte Voß an einem Nachmittag über Land. Eine Bäuerin hatte
ihren Mann verloren, und er ſollte ihr bei der nötig gewordenen Regulierung der
Beſitzverhältniſſe helfen. Abends um acht Uhr kehrte er durch den freundlichen
Sommerabend zurück. Es hatte ihn erleichtert, auf einige Stunden die Gedanken
anderer denken zu dürfen.
Als er aber vor ſeinem Haus ankam, durchfuhr ihn ein jäher Schreck. Die
Haustür war bekränzt, und weiße Roſen waren in das Grün gemiſcht. Wit zit⸗
ternder Hand öffnete er und trat ein. Sein Arbeitszimmer war unter Rofen fait
verborgen. Der Flur war mit Roſen überladen. Der ganze Garten mußte ge
plündert ſein. Ein überſtarker Geruch ging durch das Haus.
„Gott im Himmel, hab' Mitleid mit mir! Was ſoll das bedeuten?“
I BEIM, Per DF
Schlaitjer: Der alte Voß 495
Er ſtand ſchwer atmend ſtill und blickte vom Flur in die Küche hinein.
Auf einmal öffnete ſich die Küchentür, die in den Garten hinausführte, und
ſeine Frau kam mit einem Arm voll Roſen herein.
Als ſie ihn ſah, ſchwang ſie eine Handvoll Roſen über dem Kopf und lachte laut.
„Sie kommen!“ rief ſie. „Heute kommen ſie!“
Dabei tanzte ſie mit der Leichtigkeit eines jungen Mãdchens in der Küche umher
und ſtreute überall ihre Roſen hin. Und ihr krankes Lachen ging durch das ſtille Haus.
Da war es, als ob etwas in dem alten Voß zerbrach, das ihn bisher aufrecht
gehalten hatte. Da bat er Gott aus einem heißen Herzen, ſeine arme Frau zu ſich
zu nehmen. f
Als fie ihre Roſen verſtreut hatte, flog fie ihm um den Hals und küßte ihn.
„Sie kommen!“ ſagte fie. „Heute kommen fie.“
Dann weinte ſie laut auf und glitt an ſeinem Körper auf den Fußboden
herunter.
Ende Juli brachte der alte Voß fie in die Provinzial-Irrenanſtalt nach
Schleswig. = Mi
de
Er begann ſich in der Einſamkeit ſeines Arbeitszimmers zu fürchten. Im
September nahm er Stine und ihr Kind ins Haus. Das würde auf dem Erlenhof
wie eine Herausforderung empfunden werden; aber das ſchadete nichts. Heinrich
war im Anfang des Sommers als ein froher Urlauber im Dorf gewefen. Er hatte
jeinem alten Schulmeiſter in die Hand geſchworen, daß er nunmehr ein Mann ge-
worden ſei und daß er bei ſeiner Rückkehr auf dem Erlenhof andere Zuſtände
ſchaffen wolle. Mochte die Megäre alſo immerhin wiſſen, daß er für Stine und
ihr Kind Partei nahm. Er brauchte jemand um ſich, der ihn liebte. Und daß Stine
ſich für ihn würde totſchlagen laſſen, das wußte er.
Als im Oktober die dunklen Herbſtabende kamen, dachte er viel über ſein
Schickſal nach. In einer ſtillen Nachtſtunde meinte er, klar zu ſehen. Auf dem
Arbeitstiſch brannte die grünbeſchirmte Lampe. In tiefen Gedanken ging er
auf und ab. In den Möbeln knackte es unter feinem ſchweren Tritt.
Dann blieb er plötzlich ſtehen und meinte ein bleiches Licht der Erkenntnis
zu erblicken. Er war zu reich geweſen. Er vermochte es erſt jetzt zu ſehen, wo
ihm der Reichtum genommen war. Drei wohlgeratene Söhne und eine über alles
geliebte Frau. Ein Leben voll geſegneter Arbeit. Das war zu viel geweſen.
Aber warum hatte er dann nicht die Frau behalten dürfen? Warum durfte
er nicht mit ihr Hand in Hand gehen und an die Kinder denken? Warum ſollte er
ſo einſam ſein bis an ſein Grab?
Über dieſen Gedanken kam er nicht hinaus. Nie hörte irgend jemand von
ihm ein Wort der Läſterung über den Krieg. Nie duldete er, daß in feiner Gegen-
wart von anderen eins geſprochen wurde. Die Not des Landes war eine heilige
Sache. Wer daran rührte, der vergriff ſich am Willen Gottes. Er hatte ſeine
Pflicht getan wie alle anderen. Nur daß er auch ſeine Frau hingeben mußte: das
war hart. Das wollte in ſeinen eiſenharten Schädel nicht hinein, und er ward
nicht müde, im Gebete um die Geneſung der Frau zu ringen.
%
*
496 | Bruch: An eine Abendwolle
Gott erhörte ſein Gebet: der Frieden brachte ihm ſeine Frau zurück. Sie
war blaß und faſt überirdiſch zart geworden; aber das Licht ihrer blauen Augen
war wieder erwacht. Sie gingen wieder Hand in Hand und bekränzten gemein-
ſam die Erinnerungen an ihre lieben Toten. Sie wanderten treu und geduldig
und harrten auf den Tag, wo ſie ſich mit den Vorangegangenen in einer anderen
Welt treffen ſollten. Wenn der alte Voß nach Schulſchluß ſeinen gewohnten Spa-
ziergang machte, ſchritt wieder ein ſtraffer, erprobter Soldat des Lebens durch
die Gaſſe. Feſt und aufrecht bekannte er ſich wie immer zur Pflicht und zur Pflicht-
erfüllung. Nicht ein Atom ſeiner Lebensanſchauung hatte er geändert.
Nur ſchweigſam war er geworden, jo unendlich ſchweigſam.
N Er, — un RACKS = a man
An eine Abendwolke Bon Margarete Bruch
Wolke, die voll Gluten ift,
Wandelnd über dumpfer Welt,
Allem Sternentum geſellt:
Niemand ſieht, wie ſchön du biſt.
Ob du Lilienkleider trägſt,
Ob du glühnde Löwenpranken
In die blauen Himmel ſchlägft,
Niemand ſieht, wie ſchön du biſt.
Denn: Der Menſchen Werk und Wille
Flieht der Seele reine Stille,
Die der Gottheit Spiegel iſt.
Volke, graue Schwänin nun,
Sterne ſchon in Veilchenflügeln
Trägſt du. Über Tannenhügeln
Scheinſt du läſſig auszuruhn.
Aber immer drängt es dich,
Alter Form dich zu entwinden,
Dich zu ſuchen, dich zu finden
Alſo in Geburt und Tod
Wandelnd über Menſchenſtraßen,
Die dein Göttliches nicht faſſen:
Schöne Wolke, wie du einſam biſt.
22
Mehr Vertrauen! 497
Mehr Vertrauen!
n der „Deutſchen Politik“ wendet ſich Paul Nohrbach gegen eine
gewiſſe Übung, dem Volke Beruhigungspulver zu verabfolgen, wenn
einmal auch in der militäriſchen Kriegführung nicht alles ganz nach
2
N
die ſich der allzu verwöhnte Heimkrieger leiſten zu dürfen glaubt. Die Betrach-
tungen Rohrbachs enthalten in ihren Grundzügen (abgeſehen von unangebrachten
Seitenhieben auf die „Alldeutſchen“) des Erwägenswerten genug, um auch den
Türmerleſern unterbreitet zu werden.
Ohne Zweifel, meint Rohrbach, hätten wir in den erſten Tagen des Rück-
ſchlages gegen unſere Offenſive in Frankreich in Gefahr geſchwebt: „Es iſt gleich-
gültig, wie uns der Rückſchlag erklärt wird. Jeder Mangel an Erfolg hat ſeine
natürliche Erklärung. Daß es nicht ſchuldhaftes Verſehen war, das wiſſen wir bei
unſerer oberſten Heeresleitung. Sind Hindenburg und Ludendorff Götter? Können
ſie keine Fehler machen? Liegen etwa die Zukunft und die Abſichten der Feinde
ohne Hülle vor ihnen und ihren Gehilfen? Soll ein nicht gelungener Offenſipſtoß
nach jo vielen gelungenen ſchon genug fein, um ihnen ein Stück Vertrauen beim
deutſchen Volk zu rauben? Warum hat man uns denn angefangen zu behandeln,
als ob wir Franzoſen oder Italiener wären? Wozu gab man die beſchönigenden
Erklärungen und die Berichte aus, die des Vertrauens auf den Mut des Volkes ent-
behrten? Das Volk, die Gebildeten und auch die Maſſe, iſt bei uns militäriſch zu
gut geſchult, um nicht die Abſicht zu merken: mit ſolchen Wendungen ſoll ‚beruhigt‘
werden; alſo ſcheint man Beruhigung für nötig zu halten!
Es gibt keinen ſichereren Weg, Beunruhigung hervorzurufen, als eine ge-
wiſſe Art, beruhigen zu wollen. Das gilt namentlich einer Öffentlichkeit gegen-
über, wie der unſrigen. Die Engländer geben ihre offiziellen Kriegsberichte nach
Mißerfolgen, deren ſie ja bisher eine ziemliche Menge zu buchen haben, gewöhnlich
auch in einer Form, bei der die Nachteile möglichſt verſchleiert werden. Die halb-
offiziellen Kommentare bei ihnen tun das aber nicht; die ſind offen, manchmal
rückſichtslos offen. Sie ſind das mit Abſicht, weil die militäriſche und politiſche Lei-
tung in England das engliſche Volk kennt. Wer ſich ſtark fühlt, den ſpornt ein
Mißerfolg und ſelbſt eine Kette von Mißerfolgen zu verſchärften Anſtrengungen
und um ſo zäherem Willen an. So und nicht anders ſoll man auch zu uns
ſprechen. Man ſoll offen ſagen, wie es ſtand und ſteht: das Vorhaben gelang nicht,
wir haben Verluſte gehabt, der Feind Erfolge; keine entſcheidenden und keine billig
erkauften, aber immerhin nennenswerte Erfolge; es gilt jetzt Ruhe und Mut zu
behalten, die Feſtigkeit zu verdoppeln, neue Anſtrengungen zu machen. Noch
hat ſich kein deutſcher Fürſt und kein deutſcher Heerführer vergeblich an die be-
ſonnene Entſchlußkraft und Opferwilligkeit unſeres Volkes gewendet. Was das
Volk aber verlangt, das iſt vertrauensvolle Offenheit. Es will ſehen, daß ſeine
Führer Mut haben und daß ſie ihm vertrauen; dann gibt es alles her, was nötig
iſt, aber ‚beruhigt‘ will es nicht werden... Niemand von uns denkt daran, zu ver-
Der Türmer XX, 25 ö 32
498 Mehr Vertrauen i
zagen, wenn einmal auch dem Feind ein Erfolg blüht. Wir haben unſere Heerführer
und die Kraft, die Überzeugung unſerer Feldgrauen: es geht ums Ganze. Daraus
ſchöpfen wir unſeren Mut. Bekommen wir aber Berichte, wie neulich, ſo iſt es
ſchwer, die Miesmacher und Angſtmeier, die auch bei uns een auf den Mund
zu ſchlagen.
Dazu noch etwas anderes. Man ſage doch auch offen Ferse daß die Ameri-
kaner in Frankreich jetzt eine ſtarke und kampfkräftige Macht bilden und daß weitere
amerikaniſche Verſtärkungen fortgeſetzt über den Ozean transportiert werden.
Als es ſich darum handelte, ob der Krieg mit den Vereinigten Staaten kommen
werde oder nicht, da hieß es andauernd, erſt daß England gezwungen ſein würde,
nachzugeben, bevor nennenswerte amerikaniſche Truppen nach Europa gelangen
könnten, und dann, es werde überhaupt nicht möglich ſein, große amerikaniſche
Streitkräfte aufzuſtellen, auszubilden, herüberzutransportieren und zu verpflegen.
Das waren auch Beruhigungspulver, die nicht hätten verabreicht werden Sollen... .
Der Bericht des amerikaniſchen Kriegsminiſters in der ‚Times‘ beziffert die amerika-
niſche Armee auf etwas über eine Million Mann und die Verluſte bei der Überfahrt
auf wenige Hundert. Das eine wird nach oben und das andere nach unten übertrieben
ſein, aber feſt ſteht, daß genug amerikaniſche Soldaten gegen uns kämpfen, um uns
den Sieg ſpürbar zu erſchweren, und daß die amerikaniſchen Transporte nicht haben
verhindert werden können. Gewiß iſt ihnen Abbruch geſchehen, aber nicht genug
Abbruch, um ſie als eine erheblich ins Gewicht fallende Kampfkraft auszuſchalten.
Was haben nun alle jene ‚beruhigen‘ ſollenden Verſprechungen und Berechnungen
für einen Zweck gehabt? Wie feſt wurde an das Verſprechen geglaubt, im vorigen
Sommer werde es mit Englands Widerſtandskraft zu Ende ſein! Die Enttäuſchung
kam und ſie wurde überwunden. gebt iſt die Rechnung mit den Amerikanern als
falſch erwieſen, und die innere Widerſtandskraft unſeres Volkes wird auch damit
fertig werden. Wir haben nicht verzagt, als wir den Zweifrontenkrieg zu führen
hatten, wir haben den Niederbruch Rußlands erlebt, und wir werden jetzt im Weſten
auch die Amerikaner auf uns nehmen. Hindenburg, ſein Stab und unſere Truppen
werden auch für fie reichen. Es gibt noch Nachwuchs in Deutſchland, und wer da
glaubt, wir hätten keine Kraft mehr herzugeben, wenn es ums äußerſte geht, der
ſoll nur kommen, der wird ſeine Hiebe ſpüren. Aber bitte keine Beruhigungen
weiter! Nur dann wird es möglich fein, alle Verzagtheit niederzuringen, alles
vaterlandsſchwache Gefühl, wo es ſich zeigt, zu überwinden, wenn wir hart und
klar von unſerer Regierung und unſerer oberſten Heeresleitung die Dinge fo be-
nannt und hingeſtellt bekommen, wie ſie ſind. Ein ſtarker Feind muß ein ſtarker
Feind heißen, Gefahr Gefahr und begangener Irrtum ein Frrtum. Was haben
wir davon gehabt, daß uns Dinge vorgemalt wurden, die ſchön geweſen wären,
wenn ſie nicht auf einer Reihe von Selbſttäuſchungen beruht hätten? Auf dieſe
Weife erſchüttert man nur das Vertrauen. Wir Deutſche gewinnen keine Kraft,
keinen Aufſchwung aus ſolchen Reden. Wir gewinnen Kraft nur aus dem eigenen
Einblick in die Tatſachen und aus dem Vertrauen in unſere Führung.
Nur jetzt keinen Ton von Friedensentſchließung und Friedens-
bereitſchaft! Damit ſtärken wir den Feind und verſchlechtern unſeren moraliſchen
und materiellen Kredit in der Welt. Schlecht genug iſt er ſchon infolge der entſetz⸗
Mehr Vertrauen! a 499
!
—
lichen, durch vier Fahre bewieſenen Unfähigkeit unſerer Regierung zur moralifch-
politiſchen Angriffsſtrategie und Taktik. Ein Fehlſchlag an der Kampffront ſtärkt
beim Gegner vor allen Dingen die Kriegstreiber, und das iſt gut, denn fo erfährt
es jedermann, daß unſere Vernichtung das Ziel iſt. Schon vor unſerer letzten Offen-
ſive wurde hier geſchrieben, daß es niemals einen Frieden mit Lloyd George,
den Northeliffeleuten, Clémenceau, Poincaré geben wird, niemals! Dieſe wollen
nicht den Frieden, ſondern die Demütigung Deutjchlands, ſeine Verkleinerung
und Ausſchaltung aus Weltpolitik und Weltwirtſchaft. Sie ſind jetzt hoch und werden
ſchärfer als je ihren Willen verfolgen. Bedeutete die Friedenspartei beim Gegner
vorher wenig, ſo iſt ſie jetzt erſt recht kraftlos. Für uns gibt es jetzt nur eine
Friedenspolitik: weiterfechten und wieder ſiegen. Wer uns etwas
anderes rät, der iſt unſer Freund nicht. Sollen wir daran zweifeln, daß auch
der Schlachtenſieg ſich wieder zu uns wenden wird, ſolange wir Hindenburg,
Ludendorff und unſere unerſchütterte Front im Weſten haben? Was iſt uns an-
deres geſchehen, als was Franzoſen und Engländern ſehr viel öfter geſchehen iſt?
Haben die darum aufgehört, an den Sieg zu glauben? Nur den Luxus von
Friedensreſolutionen nach dem bisherigen Schema dürfen wir uns jetzt
im Augenblick noch weniger geſtatten als früher. Der Mißerfolg auf dem
Schlachtfelde kann leichter wieder gutgemacht werden als ein ſtarker Fehler in
der Politik. ... Auf jeden Fall iſt gegenwärtig an Frieden weniger zu denken als
zu irgendeinem Zeitpunkt ſeit Beginn unferer Offenſive. Alle Inſtinkte der Ver-
nichtung gegen Deutſchlands Zukunft haben momentan einen neuen Antrieb emp-
fangen. Es wäre noch ſehr viel ſtärker der Fall, wenn die Feinde es fertig ge-
bracht hätten, nicht nur unſere Offenſive zurückzudrängen, ſondern auch die ihrige
vorzutragen und ähnlich in unſere Front einzubrechen, wie wir es dreimal gegen ſie
fertig gebracht haben.
Folgt nun aus dem allen, daß wir Sorge um den Ausgang des Krieges
haben müſſen? Muß etwa damit gerechnet werden, daß wir den Krieg verlieren?
Wenn unſere Regierung dabei bleibt, der Armee die ganze Kriegsarbeit alle in
zu überlaſſen, ſelbſt aber ihre Pflicht zu verſäumen, wird ohne Zweifel der Krieg
ins Endloſe verlängert werden. Es iſt eine ganz wahnſinnige Zdee, die Ar-
mee ſoll den Krieg führen, die Regierung aber mittlerweile zuſehen,
ob ſie nicht Friedensanknüpfungen zuſtande bringt. Die Regierung
ſoll, genau fo wie die Armee, alle ihre Kraft zuſammennehmen, um den Feind zu
ſchlagen, nicht auf militäriſchem, ſondern auf politiſchem Gebiet. Darin beſteht
ja die Überlegenheit unſerer Gegner im ganzen, daß fie den Krieg nicht nur mit
militäriſchen, ſondern auch mit politiſchen Mitteln führen, und daß ſie es beſſer
als wir wiſſen: auf dem Schlachtfelde allein iſt dieſer Krieg nie zu gewinnen, weder
für den einen, noch für den anderen Teil. Das hat der Staatsſekretär v. Kühlmann
auch gejagt, aber er hat trotzdem geirrt, denn für ihn waren das Gegenftüd zu den
Kämpfen — Verhandlungen. Irgendeinmal kommen die Verhandlungen
ſicher, die Zeit dazu iſt ſolange noch nicht reif, wie die feindlichen Völker
noch unter der Herrſchaft ihrer Kriegshetzer ſtehen. Bis dahin iſt es die Aufgabe
der Politik, nicht die Offenſive des Schlachtfeldes mit dem Gezirp und Geflöte
der Verhandlungsſehnſucht, ſondern mit dem Trommelfeuer der politiſchen
—
500 gauck: Abend
Offenſive zu begleiten, das ebenſo überwältigend geleitet werden und wirken
muß wie das der Geſchütze. Die Diplomatie der Entente führt Krieg gegen uns,
Krieg mit allen Mitteln, Krieg mit dem Höchſtmaß von Lüge, Verleumdung und
Roheit, aber auch mit dem Höchſtmaß der Geſchicklichkeit und des Erfolges — die
unſere erſchöpft ſich aber in Beteuerungen, wie gern ſie Frieden haben
möchte. Die feindlichen Heeresleitungen haben wunderbare, ausgezeichnete,
erfolgreiche Helfer an ihrer Diplomatie, die unſere hat fo gut wie gar keine Hilfe
von der politiſchen Seite her, und die Aufgabe zu ſiegen, laſtet allein auf ihr.
Dieſen Zuſtand bei uns drücken die Engländer höhniſch aus, wenn ſie ſagen: die
Deutſchen mögen alle Schlachten gewinnen, den Krieg werden wir doch gewinnen.
Käme es eines Tages ſo, ſo wäre bei uns ſicher nicht das Militär ſchuld, ſondern die
Regierung. Wir haben es ſchon oft geſagt und werden es ſo lange wiederholen,
bis das Ende auf die eine oder die andere Art da iſt: eine Armee, wie die deutſche,
unter Führern, wie wir ſie haben, iſt imſtande, Siege auf dem Schlachtfelde zu
gewinnen, auch wenn ſich die Welt gegen fie zuſammenballt. Aber fie iſt nicht im-
ſtande, eine Welt zu beſiegen, die an ihr Recht und an Deutſchlands Unrecht glaubt.
Dieſer Sieg kann nur gewonnen werden, wenn zugleich mit der militäriſchen die
politiſche Offenſive vor ſich geht, und wenn dieſe ebenſogut geleitet wird wie jene.
Wir können nicht nur geſchlagen werden, ſondern wir werden geſchlagen wer-
den, wenn unſere Regierung es weiter ſo wie bisher an Einſicht und an Mut fehlen
läßt. In der Tat, es handelt ſich nicht nur um Einſicht, ſondern auch um Mut,
ja faſt könnte man ſagen, daß der Mut noch vor die Einſicht gehört. Dem Mutigen
iſt der Geift des Angriffs eingeboren. Es iſt eine dumme Redensart, zu
jagen, wir ſtänden zu hoch, um uns auf Verleumdungen und Beleidigun-
gen zu rechtfertigen. Es kommt hier nicht aufs Rechtfertigen an, ſondern aufs
Angreifen. Die beſte Deckung iſt der Hieb — fo wie Hindenburg es macht, und
wenn wir ſein Rezept nicht auch in der politiſchen Offenſive befolgen, ſo heißt das,
gegen Überlegenheit nur mit einem Arm fechten wollen. Wer auf den Feind los
will, der findet auch die Mittel, ſchafft ſich die Kenntniſſe, das Material und die
Hilfskräfte, um zu ſchlagen. Anſerer Diplomatie aber fehlt der Angriffsgeiſt,
darum ſitzt fie ewig in der Defenſive und war bisher ihrer Aufgabe fo wenig ge-
wachſen ...“
Abend Von Ernſt Hauck
Nun lockt der Amſel Flötenſpiel um eins ſo traut
Als hoch im lichten Tag.
Wie dunkle Dome ſtehn die Wälder aufgebaut,
Aus Waſſerſpiegeln letzte Sonnenliebe ſchaut.
Mud fällt ein Glockenſchlag
Schon will am Himmelsrand ein ſilbern Sternlein brennen —
Und aus den Tiefen ſteigt ein ſchweigend Gottbekennen.
%
Peter .
* ie letzten Worte des letzten Buches, das der Alte von Krieglach aus ſeinen gütigen
Händen gab — Heimgärtners neues Tagebuch war dieſer eee — klangen
mit ter a auch des Herzens Unruß' hinweg und Schließe einen Sonderfrieden mit mir ſelber.“
Vom 31. Auguſt des vorigen Jahres find dieſe Worte datiert. Und nun, da wieder der
Sommer verloht und der Auguſt hingeht, iſt zur Wahrheit geworden, was durch das gütevolle
Lächeln des Weiſen und Verſöhnten als bange Ahnung durchklang. Er hat für immer die Feder
hingelegt, und er, der ſo gern verkündigte: „Euer Ziel ſei der Frieden des Herzens“, hat den
letzten und tiefſten Frieden gefunden, nachdem ſich längſt vor ſeinen Ohren alle Mißklänge
gelöſt und vor ſeinen gütigen und ſchalkhaften, leiderfahrenen und doch weltgläubig hellen Augen
alle Wirrniſſe zu klären begonnen hatten. Nur wenige Wochen vor ſeinem 75. Geburtstag, am
26. Juni, iſt Roſegger ſtill und heimlich hinweggeſchlichen — faſt mit einer feiner kleinen Ulk
launen und Liſten, zu denen er ſo bäuerlich verſchmitzt und doch ſo tiefherzlich ſchmunzeln
konnte. Er war kein Freund des Gefeiertwerdens, und ſeine Popularität, die ihm ſo viele
Sommertage verdarb und immer neue naſeweiſe Frager und Verhimmler zuführte, war oft
eine ſchwere Laſt für den Kränkelnden, die er freilich mit Humor und Güte trug, wie alle Laſten
ſeines Lebens. Aber gern entſchüpfte er ſeinen Peinigern, war plötzlich unſichtbar und auf
Reifen, und freute ſich königlich der gelungenen Lift und der paar freien Atemzüge. So iſt
er auch jetzt knapp vor der Feier auf Reiſen gegangen, hat alles Sichtbare verlaſſen und im
Anſichtbaren, Un vergänglichen, wo fein Herz längſt die Heimat wußte, ewige Einkehr gehalten.
Mit ihm iſt nicht nur einer der eigenſtärkſten und einflußreichſten Dichter der Gegen-
wart, ſondern auch einer der wenigen Ganzdeutſchen und Tiefdeutſchen von uns genommen
worden. Ein Mann, der die geſammelte Offenbarung deſſen verkörpert, was wir in idealifieren-
den Bildern unſeres Volkstums ſehen möchten. Eine Geſtalt wie Peter Roſegger iſt die er-
greifendſte Apologie unſeres Volkes. Aus Bauern- und Handwerkerſtand iſt er gekommen,
aus Wald und Bergluft und Einſamkeit. Ihnen hat er die Treue bewahrt, als die Welt ihn
umfing und umſchmeichelte, aus ihnen ſog ſeine Künſtlerſchaft die klare, nie verſiegende Kraft.
Und doch hat er ſich klug und hell durch dieſe Welt geſchlagen, die ihm zuerſt ſo fremd und
fern rauſchte, hat ihre Hemmniſſe überwunden, ihre Lockungen überhört, iſt aufrecht und ziel-
ſicher und doch in einfältiger Demut ſeinen Weg gegangen, immer er ſelbſt geblieben, hat
immer getan und geſprochen, was Herz und Wille in ihm ſchöpferiſch formten, furchtlos, ob
heute dieſe, morgen jene Gruppe feiner Getreuen enttäuſcht und unwillig mäkelte. Im Grunde
war er ihrer doch immer ſicher, ſoweit ſie ehrlich und treu waren, denn der Zauber ſeines reinen,
502 | Peter Rofegge
bergbachklaren Menſchentums hielt alle im Bann. Und wie ſeine Liebe zur heimatlichen Natur,
wie ſein Weltleben und die Wahrhaftigkeit ſeines Weſens, war deutſch auch ſein Sehnen und
Ringen nach dem Göttlichen und Uferlos-Großen wie feine rührende Liebe zu allem Kleinen
und Hilfloſen, zu den Kindern, denen ſeine reichſte, verſtehendſte Guͤte galt, und zu den Tieren
der Erde, deutſch ſein ſtolzes Bekenntnis zum eigenen Volke, dem er durch Wort und Tat zum
größten Wohltäter der Gegenwart wurde, wie fein gläubiger Aufblick zu heiligen, verbrüdern-
den Menſchheitszlelen, an denen ihn auch dieſer Krieg nicht irre machte. Und deutſch war ſein
Arbeits- und Pflichtgedanke, ſeine Gläubigkeit und doch das ſtolze lutherhafte Feſthalten am
Kriterium des eigenen Urteils und eigenen Gewiſſens, ſein Humor, der aus den tiefſten Quellen
ſeiner Weltweisheit herzbefreiend aufquoll, und ſeine mit ſtreitbarer Tatkraft gepaarte Liebe
zu allem Lebendigen, ſein Sehnen nach Frieden und Freiheit der Seele.
Darum iſt auch Noſegger in dieſem Volke „populär“ geworden, darum hat er über dieſes
Volk hinaus bei Franzoſen und Engländern, Schweden und Norwegern, Dänen und Hollän-
dern in ihrer Mutterſprache Freunde geworben. Vor allem aber im eigenen Volke, wo ſeine
Schriften in Hunderten von Auflagen, in Millionen von Einzelbänden lebendig find. Nicht
immer ſind hohe Auflagen ein Ehrenzeichen für den Dichter. Namentlich heutzutage. Wo
aber jeder Hauch von Senſation fehlt, wo nur der Wald der Heimat rauſcht, in deſſen Schatten
die Schickſale ringender Menſchenherzen einfach und naturgewaltig Geſtalt gewinnen, wo Güte,
Kraft und tiefſte Menſchlichkeit lauter und rein ſchimmern und fröhlich machen, da iſt Populari-
tät nur das laute Bekenntnis, daß wir alle aus den Irrungen und Wirrungen moderner Kunſt
und Kultur mit fliegenden Fahnen in das Lager eines Sängers eilen, deſſen Lied die Urklänge
des Göttlich-»Menſchlichen in mütterlich trauten Heimatweiſen aufrauſchen läßt. Es iſt das
erquickende Zeichen, daß noch nicht alles krank, halb, ungläubig und undeutſch in uns iſt, daß
nur der Prophet reden muß, und die Jünger erwachen aufs neue. Darum hat Karl Buſſe
recht, wenn er am Verewigten noch zu ſeinen Lebzeiten rühmte: „Immer hat er das Herz des
Volkes geſtärkt, gelabt und tapfer erhalten. Nichts hat er geſchrieben, was dieſes Volk hätte
verwirren, unſicher machen oder gar entmutigen können. Das muß ein ſchönes Bewußtſein
in der Abenddämmerung ſein — doppelt heute, wo die Nation der härteſten und blutigſten
Prüfung unterworfen wird. Wenn der alte Peter nun ſieht, wie ſie die Prüfung beſteht, dann
darf er ſtolz empfinden, daß auch er dazu geholfen hat. Es gibt nur ſehr wenig lebende Oichter,
die Gleiches von ſich ſagen dürfen.“
* *
*
Zu der Höhe dieſer Wirkfülle und Allbeliebtheit iſt ein langer Weg vom Rluppenegger-
haus in Alpl bei Krieglach, das noch heute ſteht wie hundert Jahre vor der Geburt feines be-
rũhmteſten, nun heimgegangenen Sohnes. Das Dach freilich iſt anders geworden, die Gtal-
lungen ſind verſchwunden, und über das urbar gemachte Land rauſcht näher und näher der
neugeforſtete Wald, als wolle er über dem Heinen verlaſſenen Anweſen wieder zufammen-
ſchlagen, um den Kreislauf irdiſchen Werdeganges wieder einmal zu ſchließen. Auch der Oichter,
der hier ſeinen Ausgang nahm, iſt im Tode wieder ganz heimgekehrt — nur von Wald und
Kindern umkränzt, von ſeinen nächſten Heimatgenoſſen geleitet, ohne Prunk, Gebärden und
Rede ſtill zu den Vätern gegangen. Zunge Stimmen klangen an ſeinem Grabe, junge Augen
füllten ſich angeſichts des Todes mit Staunen und Tränen. Kein verlaſſener Waldſchulmeiſter
konnte einfacher die letzte Straße gehen. Roſegger wollte wieder ganz der Sohn ſeiner engſten,
treugeliebten Waldheimat ſein. Auch hier hat ſich ein Kreis geſchloſſen.
Aber zwiſchen Aufgang und Niedergang liegen hier 75 reiche, köſtlich geſegnete Jahre.
Da iſt in Arbeit und Mühen feine dämmernde Kindheit erwacht — und doch fo ſchöͤn wie ein
Waldmärchen, von dem er berichtet: „Als ich mich auf dieſer Erde fand, war ich ein Knabe
auf einem ſchönen Berge, wo es grüne Matten gab und viele Wälder, und wo, ſoweit das Auge
trug, andere Berge ftanden.“ Da hat er bei Vieh und Pflug mithelfen wollen, um einſt ein
eter Roſegger 503
braver Bauer zu werden und das Leid der erſten Enttäuſchung erlebt: er war zu ſchwach zum
Beruf ſeiner Väter. So ging er 17jährig zum Dorfſchneider in die Lehre, mit dem er von
Haus zu Haus zog und an 67 Bauerntiſchen arbeitete. Dazwiſchen aber keimte und glühte
die heilige Saat, der kränkliche Schneiderlehrling las halbe Nächte hindurch laut im Prediger
ton, was Volkskalender und alte, ſeltſam-phantaſtiſche Zejus- und Heiligenbücher ihm boten,
und begann ſelbſt zu ſinnen, zu träumen und zu ſchreiben. Mit 21 Jahren lenkt er durch eine
Einſendung von Manufkripten die Aufmerkſamkeit des Redakteurs der Grazer Tagespoſt Spo-
boda auf ſich, er wird durch Gönner und Freunde Handelsakademiker in Graz und hat fünf
Jahre ſpäter mit feinen Dialektgedichten „Zither und Hackbrett“, zu denen Hamerling ein freund-
liches Vorwort ſchrieb, einen ſo durchſchlagenden Erfolg, daß ſein Leben entſchieden iſt.
Nun geht ſein Weg raſch hinan, Erfolg reiht ſich an Erfolg, aber auch künſtleriſch hebt ſich
ſeine Kraft. Vom Dialektdichter, vom liebenswürdigen Fabulierer, den er nie ganz ablegt,
wächſt Roſegger mit dem „Gottſucher“, dem „Ewigen Licht“ und dem Jeſusroman „J. N. R. J.“
zu reifſter Künſtlerhöhe. Zeichnen die erſten beiden Bücher die Tragödie des Wahrheitsſuchers,
die via dolorosa des Sdealijten, jo hören wir im Zefusbuch die ſymboliſch verhüllte Weisheit,
wie wir begnadigt werden können: indem wir in der Haſt unſeres Erdenwandels, jeder ſtill
für ſich, an unſerem Chriſtus dichten. Und ein zweiter Dreibund unvergänglicher Meiſterwerke
find die „Schriften des Waldſchulmeiſtere“, mit deren gütiger, ſonniger Waldarbeit und Wald-
fröhlichkeit der Dichter die widerſtrebendſten Herzen bezwingt, dann „Jakob der Letzte“, dieſe
tiefe Tragödie modernen Bauerntums, und „Erdſegen“, beide voll hoher Hymnen auf Wald
und Kornfeld und Ackerliebe. Daneben ſteht etwas einſam die Erzählung vom bäuerlichen
Wahrheitshelden „Peter Mayr“ aus Tirol. Aber außer dieſen Hauptwerken, den Pfeilern
ſeiner Unſterblichkeit, hat Nofegger auch alle übrigen Gebiete erzählender Kunſt umſpannt,
die luſtige Oorfſchnurre ſowohl wie die ernſte Novelle und tagebuchartige Proſaweisheit, die
er faſt ſämtlich zunächſt ſeiner 1876 gegründeten Zeitſchrift „Heimgarten“ anvertraute. Von
Bühnenftüden errang nur das Volksſchauſpiel „Am Tage des Gerichts“ einen namhaften Er-
folg. Im ganzen hatte er ſelbſt vor der Bühne eine begreifliche Scheu. Auch bekannte er
offen: „Ich entdeckte in mir weder dramatiſchen Beruf noch Luſt, mein ruhiges Leben mit
Aufregungen der Theaterwelt zu vertauſchen.“ Er fühlte ſelbſt, daß ſein unbeſtrittenes Feld,
wo er reichſter König war, das epiſche bildete.
Klar, einfältig und lauter wie der Dichter und Menſch iſt ſeine Sprache. Man hört
ihn ſprechen, plaudern, ſchmunzeln und kichern — und dann wieder zur Höhe des durchglühten
Predigers aufflammen. Auch ſein Hochdeutſch hat eine Fülle mundartlich gedachter Wendungen
und Zierate aufgenommen, wodurch es fo friſch, geſund und ozonreich wirkt. And weil er aus
der Anſchauung dichtet, weil er klar ſieht, was er ſchildern will, ſo formt ſein Erzählen oft mit
patriarchaliſch einfachen Mitteln die wunderbarſte Plaſtik. Er iſt temperamentvoller, ſprudeln-
der, problemdurchkämpfter, auch ſchöpferiſcher, als der ſtille Stifter, aber in ihrer Naturkunſt
und feinen, durchſeelten Waldfreude find ſie Brüder. Wald und Bauerntum bleiben der heilig-
feſte Grund, wenn Roſeggers Gottſucherweh auch zu den Sternen ſteigt oder in den tiefſten
Schächten der Rätſel gräbt.
Wald und Bauerntum, beiden hat der Oichter die ehrfürchtigſten Kränze gewunden.
Seine Stimme kann prophetenhaft werden, wenn er ſie preiſt. Das Prieſterliche, Weihevolle
des Erdbeſtellers, der mit Himmel und Grund in altheiligem Bündnis lebt, ergreift ihn immer
ſelbſt aufs neue, wenn er ihn ſchildert. „Zuerſt der Gottſchöpfer, und gleich unterhalb ſein
Handlanger, der Bauer“, heißt es im „Erdſegen“. Und im ſelben Buch an anderer Stelle:
„Die Menſchheit ſteht nirgends ſo feſt gegründet als im Bauerntum, und dieſes nirgends ſo
tief als in den Bergen.“ Und die Heimat des Bauern, des Menſchen überhaupt iſt der Wald.
Immer wieder rauſcht ſein tiefgrünes Zelt um Noſeggers Geſtalten und Schickſale, bald hell
und kulturzeugend, voll werbender Freude, dann wieder drohend, ſchwer und voll unergründeter
.
504 Peter Rofegger
Geheimniſſe. Vom Wert und Troſt des Waldes hat der Dichter goldene Wonte gejproden.
Nur zwei feien hier. genannt: wie man ihm nahen und wann man ihn ſuchen ſoll. „Nur der
Einſame findet den Wald; wo ihn mehrere ſuchen, da flieht er, und nur ſeine Bäume bleiben
zurück.“ „Die wildeſten Konflikte des Herzens löſen ſich nicht in Tränen und nicht in Blut,
ſondern nur im reinen Tau des Waldes.“ — Dieſer reine Waldtau, er liegt aber nicht nur unter
Fichten und ſchimmerndem Laubdach, ſondern klar, ſtark und tröſtend auf allen Worten und
Werken des Sängers.
And Rofeggers Werke erſchöpfen ſich nicht in Lied und Schrift. Nur halb kennt und
ſchätzt man ihn, fo Anſterbliches er als Dichter erſchuf, wenn ſein ſchlichtes, heilbringendee
Menſchenwirken nicht genannt wird. Sein Künſtlertum und fein Menſchentum find ebenbürtig
große Kräfte und Wirkzentren. Nur die augenfälligſten Schöpfungen dieſes Mannes, der ein
Schãtzer und Wohltãter der Menſchheit war wie jener Zofef, den er als Kind einſt ſuchen ging und
über deſſen Tod er bittere Tränen vergoß, ſeien hier erwähnt: die evangeliſche Heilandskirche
in Mürzzuſchlag, für die er 88000 Kronen warb, und der Wiederaufbau der kleinen katholiſchen
Kirche in St. Kathrein am Hauenſtein; das heitere Waldſchulhaus ſeines Heimatsortes, das den
bedrohten Ort neu feſtigt und feiner Jugend all das bietet, was Roſegger ſelbſt jo bitter ent;
behren mußte; die Oreimillionenſammlung für den deutſchen Schulverein und neuerdings
noch der Plan eines Erholungsheims für leidende Volksſchullehrer, wofür er ſchon vor einem
Jahr 150000 Kronen zuſammengebeten hatte. Doch neben dieſen großen, ſichtbaren Zeichen
leben von jedem Tag feines Oaſeins fo unendlich viel Förderungen, Troſtworte, Freundestaten
und kleine, im verborgenen faſt ſchamhaft gewirkte Liebeswerke, daß der Strom von Güte und
Segen nicht zu erfaſſen iſt, der von dem einen ſtets kränkelnden Menſchen ausging. Dabei
hielt er immer ſelbſt Ausſchau nach neuen Freunden, die ihn brauchen könnten, denen auch er
neue Anregungen verdanken wollte. So ſehr ihn Zudringliche quälten und marterten, er hatte
noch immer Zeit und Luſt, die Stillen zu finden, die ihn nicht zu ſuchen wagten. Ich habe
einſt jahrelang in Graz neben ihm gelebt, ihn faſt täglich in der Sonne des Stadtparks geſehen,
ohne ihm zu nahen. Später druckte er einmal einen kleinen Kunſtwartaufſatz von mir in feinem
„Heimgarten“ ab. Und wieder vergingen Fahre, da freute ihn einer meiner Artikel in der
Oſterreichiſchen Rundſchau, in dem ich Einfachheit, Echtheit und Schönheit des Lebens forderte,
jo ſehr, daß er mir als Erſter die erſte herzlichliebe Karte ſchrieb. So iſt mancher zu Nofegger
gekommen, oder richtiger: der Meiſter kam zu ihm, und es gab immer neues Leben um den
Ewigjungen.
Darum war er auch ein Meiſter der Fröhlichkeit und Weltgläubigkeit — trug er doch in ſich
die beſte Gewähr eines Sinnes der Welt, einer lebendigen Güte und Kraft. Die Welt ſah er
dabei durchaus nicht idealiſiert und roſarot, er fand bittere Worte für ihre Härte, ergreifende
Tragödien für die zerſchmetternde Wucht ihrer Konflikte und Kämpfe. Aber die Güte baut
immer wieder empor, das machte ihn fröhlich und ſchaffensſtark. „Das ſchwere Leben iſt am
leichteſten zu tragen, wenn man ſich ſchwere Aufgaben ſtellt“, lautet einer ſeiner mannhaften
Weisheitsſprüche. Und darum fand er wie Goethes Türmer, was je die glücklichen Augen ſehen,
doch ſchön, und mitten im Krieg rief er den Kinderloſen erſchütternd zu: „Das Leben iſt ſchön —
weckt Kinder auf!“
Edel ſei der Menſch, hilfreich und gut — nicht bald iſt ein Menſchenleben zu finden, das
ſo reich und hingebend dieſe ſchlichten Goetheworte befolgte wie Roſegger. Darum gelten auch
vor allem für ihn jene anderen, verherrlichenden Worte unſeres Größten:
„Alle Tag' und alle Nächte
Rühm’ ich fo des Menſchen Los:
Denkt er ewig ſich ins Rechte,
Sit er ewig ſchön und groß!“
*
*
"=; N * Denn 3 W 9 nn
Peter Noſegger 505
Zwei heilige Borne gibt es, aus denen die Menſchheit, aus denen namentlich unſer
Volk und feine Beſten je und je ſchöpfen: Antike und Chriſtentum, edle Selbſtbehauptung
und Selbſthingabe, Schönheit und Sittlichkeit, fröhlich-ſtarke Erfaſſung des Diesfeits und
gläubige Ahnung einer geiſtigen, tiefinnerlichen, unſichtbaren Welt. Nicht alle Geſchlechter
greifen zu den Urquellen zurück, aber die Krüge mit dem heiligen Waſſer wandern von Ge-
neration zu Generation. In Humanismus und Reformation quoll es wieder aus Artiefen
ſchöpferiſch auf, die beiden Kräfte klärten, ergänzten und bereicherten ſich gegenſeitig und haben
in ihrer Verbindung das Edelſte unſerer klaſſiſchen Dichtung geſchaffen. Auch in der Gegen-
wart blüht die beſte Kraft idealiſtiſcher Welt und Kunſterfaſſung aus dieſem Bund, ſo in der
Philoſophie des Zenenfers Eucken und in dem literariſch-menſchlichen Idealismus Friedrich
Lienhards, der den Weg nach Weimar, den Weg zu einem inneren, kunſt- und perſönlichkeit-
verklärten Deutſchland weiſt. In dieſer Luft, in dieſer Sehnſucht, im Reichtum dieſer neu-
lebendigen Schätze aus Antike und Chriſtentum, klaſſiſcher Dichtung und klaſſiſcher Philoſophie
leben und atmen und ſind wir Modernen.
Peter Rojegger iſt fern von all dieſer reichen, anregenden Atmoſphäre groß und er ſelbſt
geworden. Er wußte nur zu gut, was ihm damit verloren ging. Die lebendige Berührung mit
der Antike blieb ihm verſagt, auch zur klaſſiſchen Dichtung fand er erſt in ſpäteren Zahren als
Gaſt und ehrfurchtsvoller Fremder. Und das Chriſtentum fand er, mit Aberglauben und einer
Art Götzendienſt vermiſcht, lediglich im engen Katholizismus feiner Bauern vor. Aus eigener
Kraft mußte er auch hier ſeinen Weg bauen, mußte ſich und ſeinem Gewiſſen ein neuer Luther
werden, bis er aus der von Kindheit an geliebten überlieferten Zeſusgeſtalt jenen „ſtarken,
tatkräftigen, gottfrohen Mann, mit dem ſich's ganz unmittelbar und freundſchaftlich leben ließ“,
geſchaffen hatte, der ihm dann zur ſegnendſten Leuchte feines Lebens wurde und alles er-
ſetzen mußte. Natürlich ließ ſich jene zeit- und kulturfremde Einſamkeit des Ungeſchulten nie
ganz verwiſchen, namentlich im Religiöſen, im Ringen um Weltanſchauung und Klarheit iſt
es oft ergreifend zu ſpüren, daß der Dichter und Sucher von unten an neu anfangen mußte,
daß ihm von der Arbeit von Vergangenheit und Gegenwart wenig zur Verfügung ſtand. Daher
ringt er oft mit Problemen, die uns keine mehr find, und beſchwert fein Suchen mit alten Be-
griffen und Vorſtellungen, die auch uns das Folgen ſchwerer machen. Oft bleibt er im Kon-
feſſionellen ſtecken, ja er hat eigentlich nicht einmal aus dem katholiſch-evangeliſchen Konflikt
herausgefunden und für den modernen Proteſtantismus kein Verſtändnis aufgebracht. Andrer-
ſeits aber hat dieſe köſtliche Freiheit von Schule, Gedächtnisdrill, Sekkatur — die in der Schule
nie ganz fehlt — und all den tauſend Exanien ihm eine wundervolle Fülle ungebrochener Energie
und Arſprünglichkeit bewahrt, alles, was er dann errang und beſaß, war wirklich ſein, war
geworden und erkämpft und nicht erlernt, und gleichzeitig ſchützte ihn die weitherzige Toleranz
jeder ehrlichen Überzeugung gegenüber vor der Gefahr der Enge und Verſchloſſenheit.
So hat Peter Roſegger auf eigenen, ſelbſtgebauten Wegen bis zu den Höhen hinauf
gefunden, wo er unſern Größten nahekam. Als Dichter und als ſuchender Menſch. Er hat
ſich einen poetiſch verklärten Realismus zurechtgelegt, der gleich weit entfernt war von natura-
liſtiſcher Kunſtloſigkeit wie von unwahrer Phantaſterei. Kunſt und Dichtung ſollen ſchöner
ſein als das Leben, ſie ſollen ſtiliſieren, ausheben und das Allzuvergängliche abſtreifen, das
hat er immer gelehrt und danach getan. Und wie Hans Sachs hat er den Schwank und die
Schnurre verſtanden, in denen plötzlich ſo viel irdiſche und göttliche Weisheit aufleuchtete, und
hat mit Gott, Chriſtus und den Heiligen bei aller tiefen Ehrfurcht oft recht familiäre Töne an-
geſchlagen. Wie Leſſing forderte er vor allem praktiſches Chriſtentum, trat unbeirrt für den
Schwachen und Terroriſierten ein, wurde von engherzigen Kirchenmenſchen bekämpft und
verfolgt und hat von der Kanzel ſeiner Dichtung aus immer Duldung und Liebe gepredigt.
Wie Schiller rang er in ſiechem Leib und in prieſterlicher Auffaſſung feiner Dichterwürde nach
ſittlichen Zielen, predigte und erzog und liebte Volk und Menſchheit mit ganzer, ſelbſtaufopfern-
506 Ä Goethe als Regierender
der Hingabe. Und wie Goethe war er fo glüdlich, fein Leben aus einem Guß zu leben, ohne
Bruch und Umkehr, wie er glaubte er daher an die Stetigkeit der Entwicklung, an eine Gött-
lichkeit und Führung der Welt, wie er lehrte er ſtrenger Pflichten tägliche Bewahrung als
ob erſter Lebensaufgabe, wie er und fein Fauſt ſtand er mitten im Leben und ſozialen Wirken,
ſchuf Neuland für tauſenderlei Arbeit, freien Grund für freies Volk und konnte auch von ſich
ſagen: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aonen untergehen.“ Immer ſtrebend
bemüht, als Menſch und Kämpfer, war er, wenn je ein heutiger Menſch, auf dem Weg der Er-
löſung. Doch auch die „Gnade“ hat er empfunden, die geheimnisvolle Kraft, die jeden Guten
und Ehrlichen ſtärkt und trägt, die „von oben“ teilnimmt an dem Strebenden. „Je weiter der
Weg, deſto größer die Gnade“, ſagt ganz im Geiſte Goethes eines feiner tiefſten Worte.
And doch: bei mancher Berührung mit unferen Größten war RNoſegger anders, ſchlichter,
kindlicher, heiterer und märchenhafter. Oer Heiland, die Kinder und die Tiere geleiten feine
Wege. Wie eine wundervolle Legende floß ſein Leben hin, im Bunde mit allem Heiligen und
Kindlich-Reinen. Und apoſtoliſch klang immer wieder mahnend und gottfröhlich die alte Weis“
heit auf: Die Liebe iſt das ewige Licht! Laſſet uns von Liebe reden! And: Euer Ziel ſei der
Frieden des Herzens!
So war er ſelbſt, je weiter er ging, eine immer größere und reichere Gnade für uns
alle. Und dieſe Gnade wird bleiben und ihre unerſchöpfliche Segensfülle für Volk und
Menſchheit. Prof. Dr. Emil Hadina (Wien)
Goethe als Regierender
Eine zeitgemäße Betrachtung
N gelen. die nur von dem Genie gemeiſtert werden können. Gleichviel dann, woher
N05 es konimt, ob zünftig oder nicht, ob durch die Schule gegangen oder lehrerlos: fo-
bald wir nur den erſten genialen Griff ſpüren würden, würden wir nach keinem Woher mehr
fragen — ſelbſt wenn es das als fo weltfremd verſchriene Land der Dichter und Denker wäre.
Vor nicht ganz eineinhalb Jahrhunderten, da trat in Klein- Deutſchland, wie das Thü
ringer Ländchen ſpöttiſch geheißen wurde, einer auf, der mit der bloßen Gottesgabe im Kopfe
und dem Tatendrang im Herzen es unternehmen wollte, den Staat zu regieren: einer, der aus
dem Land der Dichter und Denker kam, ein „gewiſſer Dr. Goethe“, wie man ſich in den Weimarer
amtlichen Kreiſen mit Vorliebe ausdrückte. Allerdings, Amtszeugniſſe hat er feinem Freund,
dem Herzog, nicht vorlegen können, aber dafür hat dieſer ſeit früheſter Jugend gelernt, Geift
und Perſönlichkeit zu ſchätzen, und daraufhin wird es von ihm gewagt. Nicht glatt freilich geht
es bei den nun folgenden amtlichen Ernennungen ab, denn die Zünftigen ſetzen Widerſtand
entgegen, wo ſie nur können. Weimars hervorragendſter Beamter, der Miniſter v. Fritſch, der
die Geſchicke des Herzogtums 14 Fahre lang geleitet hat, reicht infolge der „Veränderungen,
die der Herzog in dem geheimen Conſeil, d. i. dem Miniſterium, plane“, fein Entlaffungs-
geſuch ein.
Darin warnt er den Herzog beſonders, den ſchöngeiſtigen Frankfurter Advokaten, wenn
auch genialen Dichter, Dr. Goethe, in den geheimen Rat aufzunehmen. Er, Fritſch, ſei fo ſehr
von dem Fehlerhaften dieſes Schrittes überzeugt, daß er nicht in einem Kollegio ſitzen könne,
deſſen Mitglied gedachter Dr. Goethe werden ſolle. Der Herzog wird das bei feiner raſch auf-
lodernden Gemütsart wohl kaum ruhig hingenommen haben, hegte außerdem ſchon lange den
Wunſch, Fritſch loszuwerden. Trotzdem antwortet er ihm erſt nach 16 Tagen und bittet ihn,
im Amt zu bleiben. Es iſt kaum anders möglich, als dieſe große Mäßigung dem Einfluß Goethes
Goethe ais Regierender | 507
zuzuschreiben, zumal wir wiſſen, daß er andere Schreiben an Fritſch ſelber durchgeſehen und
Schärfen darin gemildert hat. Und es legt ein gutes Zeugnis für ihn ab, daß er den Vert eines
erfahrenen Beamten erkennt und ihn nicht leichtfertig in ſeinem Intereſſe opfert. Der Brief
des Herzogs aber iſt ein kleiner Katechismus der Fürſtenweisheit:
„Ich habe Fhren Brief, Herr Geheimer Nat, vom 24. April richtig erhalten. Sie ſagen
mir in demſelben Ihre Meinung mit aller der Aufrichtigkeit, die ich von einem fo rechtſchaffenen
Manne wie Sie ſind, erwarte. Sie fordern in demſelben Ihre Dienſtentlaſſung, weil, ſagen
Sie: Sie nicht länger in einem Kollegio, wovon der Dr. Goethe ein Witglied iſt, ſitzen können.
Dieſer Grund ſollte eigentlich nicht hinlänglich ſein, Sie dieſen Entſchluß faſſen zu laſſen.
Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Ent-
ſchluß billigen, Goethe aber iſt rechtſchaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren
Herzen. Nicht alleine ich, ſondern einſichtsvolle Männer wünſchen mir Glück, dieſen Mann zu
beſitzen. Sein Kopf und Genie iſt bekannt. Sie werden ſelbſt einſehen, daß ein Mann wie
dieſer nicht würde die langweilige und mechaniſche Arbeit in einem Landeskollegio von unten
auf zu dienen, aushalten. Einen Mann von Genie nicht an dem Ort zu gebrauchen, wo er ſeine
außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt denſelben mißbrauchen. Was den Punkt
anbetrifft, daß dadurch viele verdiente Leute, welche auf dieſen Poſten Anſprüche machten,
zurückgeſetzt würden, fo kenne ich niemanden in meiner OSienerſchaft, der meines Wiſſens
darauf hoffte; zweitens werde ich nie einen Platz, welcher in ſo genauer Verbindung mit mir,
mit dem Wohl und Wehe meiner Untertanen ſteht, nach Anciennität, ſondern nach Vertrauen
beſetzen. Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe
in mein wichtigſtes Kollegium ſetze, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Profeſſor, Kammer-
oder Regierungsrat war, dieſes verändert gar nichts; die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich
aber und jeder, der ſeine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm zu erlangen, ſondern um
ſich vor Gott und ſeinem eigenen Gewiſſen rechtfertigen zu können und ſuchet auch ohne den
Beifall der Welt zu handeln. Nach dieſem allen muß ich mich ſehr wundern, daß Sie, Herr
Geheimer Rat, die Entſchließung faſſen, mich jetzt zu verlaſſen, wo Sie ſelber fühlen müſſen
und gewiß fühlen, wie ſehr ich Ihrer bedarf. Wie ſehr muß es mich befremden, daß Sie, anftatt
ſich ein Vergnügen daraus zu machen, einen jungen fähigen Mann, wie mehrbenannter
Dr. Goethe iſt, durch Ihre, in einem zweiund zwanzigjährigen treuen Dienſt erlangte Erfahrung
zu bilden, lieber meinen Dienſt verlaſſen, und auf eine, ſowohl für den Dr. Goethe, als, ich
kann es nicht leugnen, für mich beleidigende Art; denn es iſt, als wäre es Ihnen ſchimpflich,
mit demſelben in einem Kollegio zu ſitzen, welchen ich doch, wie es Ihnen bekannt, für meinen
Freund anſehe, und welcher nie Gelegenheit gegeben hat, daß man denſelben verachte, ſondern
vielmehr aller rechtſchaffenen Leute Liebe verdient.“
Trotz dieſes Briefes brauchte es noch die Vermittelung der Herzogin Amalia, um Fritſch
zum Bleiben zu bewegen — ein Beweis, wie groß die Kluft zwiſchen Naturgenie und an-
erzogener Befähigung iſt.
Darauf begann Goethe ſeine Beamtentätigkeit, auf nichts angewieſen als ſein geſundes
Urteil und die Gaben feines Geiſtes. Und wenn er im Lauf der Zeit fo ziemlich alles in die
Hand bekommt, was einem Staatsmann nur zugemutet werden kann, ſo muß ſein Einfluß
noch weit über ſeine Reſſorts hinaus als entſcheidend angeſehen werden, da der Herzog kaum
irgend eine Angelegenheit ohne den Rat ſeines Vertrauten entſchied. Goethe kann mit vollem
Recht der Mitregent des Herzogs genannt werden. Als Reſſorts erhielt er die Leitung der
Wegebaukommiſſion und der Kriegskommiſſion, beides Amter, die er in völlig verwahrloſtem
Zuſtand antraf; und kaum hatte er ſie zur Zufriedenheit geregelt, da wartete ſeiner ſchon das
noch ſchwierigere Amt der Finanzkommiſſion. Zwar iſt es ein Augiasſtall, aber das Reinigungs-
werk gelingt, wenn auch nach harter Mühe. Daneben gibt es kaum eine Kleinigkeit, die nicht
Goethes Aufmerkſamkeit auf ſich zieht und zu den heilſamſten Reformen Anlaß gibt. Er befaßt
508 Goethe als Regierender
ſich mit Leihhausordnungen, mit Tuchmanu faktur- Reglements, ſtellt eine Feuerlöſchordnung
her, entwirft eine Konkurskonſtitution, nimmt Bewäſſerungsfragen in die Hand, ſucht einen
Bergbau einzuführen, verbeſſert die Armenhauspflege, trägt ſein Teil zur Löſung der auch
damals ſchon beſtehenden ſozialen Frage bei, kurz, bringt es dahin, daß das kleine Weimar
bald als eines der beſtregierten Ländchen und als vorbildlich für ganz Deutſchland gilt. Denn
die Reformen ſtehen durchaus nicht etwa nur unerprobt auf dem Papier, ſondern werden mit
aller Tatkraft durchgeführt — was erſt die wahre Probe für den Staats mann iſt. Dieſe ganze
Rieſenaufgabe, ſonſt der Inhalt eines Menſchenlebens, wird in 8 bis 10 Fahren gelöſt. Aber
was konnte dem Lebensſtrom widerſtehen, der von dieſem jungen begeiſterten Mann ausging!
Schaffen wollte er; und was gibt es Schöneres als den Schaffensdrang an die wirkliche, lebende
Welt zu wenden, anſtatt den Kopf mit Phantaſieträumen anzufüllen! Das Mißtrauen, mit
dem die Weimarer nach dem Herzogsſchloß ſahen, war groß genug, als es hieß: da regiert der
Herzog mit dem Dr. Goethe zuſammen. Aber das Erſtaunen wuchs und wuchs, als es ſo ganz
anders kam. War das der junge Mann, von dem man nichts als Tollheiten erwartet hatte?
Man hatte tatſächlich alle Urſache, dem Herzog zu feinem Freunde Glück zu wünſchen. „Goethe
lebt und regiert und wütet und gibt Regen und Sonnenſchein und macht uns glücklich, er mache,
was er will.“ So ſchreibt Wieland.
Auch die ſchwerſte Probe ſtaatsmänniſchen Könnens ſollte Goethe ablegen, die in der
hohen Politik. Im Siebenjährigen Kriege hatte man in Weimar erfahren, daß das Herzogtum
im Falle eines Konflikts zwiſchen Preußen und Sſterreich nicht unbeteiligt bleiben könnte.
Als nun im Jahre 1778, alſo gleich in den erſten Fahren feiner Weimarer Tätigkeit, dieſe Gefahr
in die Nähe rückte, galt es einen Entſchluß zu faſſen, denn ſchon ſtellte der preußiſche König
das Anſinnen, in Weimar Werbungen vornehmen zu dürfen, und preußiſche Huſaren ſtanden
eines Tages auf dem Marktplatz. Dadurch aber mußte notwendigerweiſe auch das Eingreifen
Oſterreichs hervorgerufen werden. In der allgemeinen Natloſigkeit des Konſeils fand Goethe
den einzigen der Lage angemeſſenen Ausweg: er ſprach den Gedanken eines Zuſammenſchluſſes
der kleineren Fürſten Mitteldeutſchlands aus. Der Zweck des Zufammenſchluſſes ſollte die
Wahrung der Neutralität nach beiden Seiten hin ſein, doch gab Goethe unverhohlen ſeiner
Meinung Ausdruck, daß die größere Gefahr für den Beſtand eines auch innerlich ſtarken Deut-
ſchen Reiches von Oſterreich ausgehe. Dementſprechend hatte der Fürſtenbund, der bald darauf
unter Einſchluß der ſüddeutſchen Fürſten gegründet wurde — die zahlreichen Fürſtenbeſuche
des Herzogs und Goethes anläßlich ihrer Schweizerreiſe waren dieſem Zweck gewidmet —
eine ſtarke Neigung zu Preußen, jo daß Friedrich der Große ihn bald ganz feinen Plänen dienft-
bar machen konnte. So iſt alſo in Goethes Kopf der erſte Keimgedanke zu einem neuen deut-
ſchen Reich unter Preußens Führung zu ſuchen. Denn alle ſpäteren Fürftenbünde gründen
ſich mehr oder weniger auf das Beiſpiel dieſes erſten Bundes, der von Weimar angeregt und
unter Führung Badens verwirklicht wurde. Auch Preußen gegenüber wußte Goethe übrigens
die Selbſtändigkeit feines kleinen Staates trotz des Eintritts in den Fürſtenbund wohl zu wahren.
Er erreichte als der einzige, daß Weimar ſich nicht wie die anderen Staaten zu unbedingter
militäriſcher Hilfeleiſtung zu verpflichten brauchte. Wenn der Herzog nun allerdings an den
Fürſtenbund gleich die Hoffnung auf eine Neubelebung des deutſchen Reiches knüpfte, ſo
blieb Goethe im Gegenſatz zu ihm recht kühl in ſeinem Urteil, und die Folgezeit hat ihm auch
hierin recht gegeben.
Die Regelung des Verhältniſſes zum Fürſtenbund war Goethes letzte politiſche Tat.
Schon längſt hatte er feinen Tatendrang von dieſer Seite her befriedigt und verſpürte das
Bedürfnis, ſeine Perſönlichkeit nach anderer Richtung hin auszugeſtalten. Nur die Sorge
um das Geſchick des Herzogtums bewog ihn, die Bürde jo lange zu tragen, bis er die Politik
in feſte Bahnen geleitet hatte. Der junge ſchöngeiſtige Advokat und Dichter war in zehn Jahren
ein Staatsmann geworden, dem der Landesherr keinen ebenbürtigen folgen laſſen konnte.
Clauſewitz zur polniſchen und belgiſchen Frage 509
„Tauſenden wurde durch Goethe die Glückſeligkeit bewahrt“, ſchrieb der Herzog an Goethes
Mutter. In der Tat, Tauſende, nein, Willionen erhalten durch ein einziges Genie nicht nur
die Glückſeligkeit, ſondern auch das Leben! Dr. Erich Klein
A
N ZN rſtaunt horchten die Abgeordneten der Paulskirche bei der Polendebatte des Zuli 1848,
@ 2 wie ihnen aus der überragenden Rede Wilhelm Jordans ein ungewohnter Klang
— entgegenhallte. Die „rührenden Zeremiaden über die verſchiedenen Nationalitäten,
die der Wucht des deutſchen Stammes erliegen mußten“, hieß er „ſchwachſinnige Sentimentali-
tät“. „Sie jagen,“ rief er in die Derfammlung, „die politiſche Klugheit rate, die Gerechtigkeit
fordere, die Humanität gebiete die Herſtellung eines freien Polens. Ich ſage: die Politik, die
uns zuruft: Gebt Polen frei, es koſte was es wolle, iſt eine kurzſichtige, eine ſelbſtvergeſſene
Politik, eine Politik der Schwäche, eine Politik der Furcht, eine Politik der Feigheit. Es iſt
hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen aus jener träumerifchen Selbſtvergeſſenheit,
in der wir ſchwärmten für alle möglichen Nationalitäten, während wir ſelbſt in ſchmachvoller
Unfreiheit darniederlagen und von aller Welt mit Füßen getreten wurden, zu erwachen zu
einem gefunden Volksegoismus, um das Wort einmal geradeheraus zu fagen, welcher
die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen obenanſtellt. — Dasſelbe politiſche
Ethos klingt als Grundton in den beiden Arbeiten, die ſchon achtzehn Jahre zuvor in der Stille
des Arbeitszimmers Karls von Clauſewitz' entſtanden waren, und auf die unſer Aufſatz über
den ſtrategiſchen und politiſchen Denker hinwies. Aber ſchon ihre Überſchriften „Die Verhält-
niſſe Europas ſeit der Teilung Polens“ und „Zurückführung der vielen politiſchen Fragen,
welche Deutſchland beſchäftigen, auf die unſerer Geſamtexiſtenz“ verraten, wie ſich bei Elaufe-
witz auf dieſem Grundton die Harmonie allſeitiger Betrachtung aufbaut, die politiſche Fragen
nur in ihrem größeren Zuſammenhang, in Abhängigkeit und Wechſelwirkung zu erfaſſen ſtrebt.
Im folgenden bieten wir einen gedrängten Auszug, gemiſcht aus den beiden Oenkſchriften
Clauſewitzens. Rechtſchreibung und Zeichenſetzung find moderniſiert.
Clauſewitz führt u. a. aus: Wenn jetzt eine ganze Menge von Menſchen ſelbſt in Deutfc)-
land die Wiederherſtellung Polens bloß aus moraliſchen Gründen wünſchen und ſich wegen
der politiſchen bei dem Gedanken beruhigen, daß Polen ja ehemals dageweſen ſei, ohne
Deutſchland zu gefährden oder zu bedrängen, ſo iſt es, weil ſie den Zuſtand von Europa nicht
ins Auge faſſen. .. And wie ſteht es nun mit den moraliſchen Gründen, aus welchen die Wieder-
herſtellung Polens gewünſcht wird? Wollen die philoſophiſchen Politiker unſerer Tage eine
Reviſion aller Völkerprozeſſe vornehmen und Rechenſchaft fordern, warum ſo viele Völker,
die auch ſelbſtändig waren, als ſolche untergegangen ſind und ſich in andere verſchmolzen haben,
dann müſſen fie die Vorſehung ſelbſt vor ihren Nichterſtuhl ziehen. Und wenn das eine Ab-
ſurdität iſt, warum wollen ſie gerade mit dem polniſchen Reiche anfangen, und warum wollen
ſie die Teilung dieſes Landes und ſeinen Untergang als Staat aus moraliſchen und nicht aus
politiſch-hiſtoriſchem Geſichtspunkte betrachten? Und wie ſteht es nun mit den moraliſchen
Gründen, aus welchen die Wiederherſtellung Polens gewünſcht wird? Es iſt dieſe Tendenz
der öffentlichen Meinung nichts als eine Modeanſicht, welcher mehr ein äjthetifches als ein mora-
liſches Prinzip zugrunde liegt. Man gefällt ſich in dieſem Enthuſiasmus, wie man ſich in dem
vom Trauerſpiel erregten Schmerz gefällt, und die Leute geben ſich dieſer Erholung hin, weil
ſie glauben, es koſte ihnen nichts, weil ſie immer nur zwei Schauſpieler ſehen, Ruſſen und
Polen, die durch das Proſzenium von ihnen getrennt ſind, weil ſie nicht ahnen, daß fie mit-
510 Clauſewitz zur polniſchen und Beiglichen Frage
ſpielen, ja, daß ſie das ganze Schauſpiel zu bezahlen haben werden.. Rein verſtändiger Menſch
kann in Abrede ſtellen, daß es Torheit iſt, ... mit Zdeen zu ſpielen, an welche die höchſten
Intereſſen des Vaterlandes geknüpft find, und ſich in einem falſchen Enthuſiasmus zu ver-
beißen, um Darüber des wahren unfähig zu werden... Hier in Polen will ein ſehr fähiges Volk.
uns gern glauben machen, daß es eine heilſame Mittelmacht gegen Rußland bilden würde.
Zu einer heilſamen Mittelmacht würde ein in den Polen ſelbſt liegendes, befreundetes Verhältnis
zu den Oeutſchen gehören. Nun gibt es aber kein Volk, gegen welches die Polen mehr Gering-
ſchätzung zeigten als gegen das deutſche, hauptſächlich weil es keines gibt, was einen ſtärkeren
Gegenſatz zu ihrer National-Eigentümlichkeit bildet. Ferner gibt es kein Volk, mit welchem
Polen permanentere feindliche Intereſſen hätte als Oeutſchland, nämlich Preußen. Es hat
einmal die Länder bis zur Oſtſee beſeſſen; bis dahin wird z. Z. noch ſeine Sprache geredet;
dort findet es den natürlichen Ablauf ſeiner rohen Produkte; ſelbſt das deutſche Oſtpreußen
war einſt fein Lehensträger. Nun find aber die Polen, wie jeder weiß, ein eitles und nament-
lich gegen uns ſtolzes Volk; ſie würden alſo nichts mehr auf dem Herzen haben als ihre erſte
unabhängige Stellung zu benutzen, um ihre materiellen und moraliſchen Intereſſen auf unſere
Ankoſten zu befriedigen, und wenn fie dies je mit Erfolg können, jo wird nichts natürlicher
ſein als die Tendenz, nach und nach das ganze Bett des flawiſchen Völkerſtroms wieder ein-
zunehmen, welches bekanntlich bis an die Elbe reichte und in den wendiſchen Völkerſchaften
noch Trümmer feines ehemaligen Daſeins zeigt. Wir fragen, ob es einen natürlicheren Feind
für uns gibt als dieſes Polen, und ob es nicht im höchſten Grad abſurd wäre, uns lieber Ruß⸗
land als einen ſolchen zu denken, was halb nach Aſien hingewendet iſt und deſſen Herrſchaft
auf zwei Generationen hinaus den unſrigen als eng verbunden betrachtet werden könnte.
Wehe uns, wenn Rußland in den Fall kommen könnte, die Krone Polens aufzugeben und
feine polniſchen Provinzen Litauen, Wolhynien wieder abzutreten. .. Rußland, einmal zu
dieſem Opfer gezwungen oder vermocht, würde dann ſeinen Blick ganz von dem Weſten Eu-
ropas abwenden, von dem es weder zu hoffen noch zu fürchten hätte, würde Deutſchland vor
der Hand ſeinem Schickſal überlaſſen, und Polen und Franzoſen würden ſich an. der Elbe die
Hand zu reihen ſuchen. .. Der natürliche Verbündete Frankreichs iſt Polen; Oeutſchland fteht
zwiſchen den Polen und Franzoſen mit feiner beiden Völkern fremdartigen Nationalität inne...
Jeder Krieg, den Oſterreich und Preußen mit Frankreich hätten, würde von einem Kriege mit
den Polen begleitet fein, die durch franzöſiſches Geld, franzöſiſche Intrigen jedesmal dazu an-
geregt ſein würden. Wenn wir uns dieſes neue Polen als nicht ſehr mächtig und dabei immer noch
von Rußland bedroht denken, fo wird es doch imftande fein, auf beide Staaten einen Drud
auszuüben, welcher einen Teil ihrer Kräfte dem Kriege gegen Frankreich entzieht und die freie
Muskelbewegung lähmt. .. Auf dieſe Weiſe iſt es, daß die polniſche Frage wie die belgiſche
und italieniſche (für Oſterreich) unſeren höchſten und heiligſten Intereſſen nahe tritt, ſich an
die Frage unſerer Geſamt-Exiſtenz knüpft.“ —
„Selbſt das entwaffnete, niedergeworfene Frankreich hört in ſeiner Eigenſchaft als
ein ſehr homogenes, ungeteiltes, wohlgelegenes, gut begrenztes, reiches, kriegeriſches und
geiſtreiches Volk niemals auf, die Mittel in ſich zu bewahren, welche feine Selbſtändigkeit und
Unabhängigkeit für die Dauer ſichern, daß es dieſe, wenn es ſich zu törichten Unternehmungen
verleiten läßt, auf einen Augenblick verlieren kann, aber immer gewiſſermaßen von ſelbſt wieder
dazu gelangen wird. Der Angriffsluſt Frankreichs gegenüber bedarf Oeutſchland eines Vor⸗
werks, Belgiens. Auf belgiſchem Boden haben ſich die franzöſiſche Eroberungspolitit Ludwigs
XIV. und der folgenden Zeit ausgetobt. Nicht eher iſt von einer bleibenden Eroberung in
Deutſchland die Rede geweſen, als bis Sſterreich dieſe Länder aufgegeben hatte. Von dem
Augenblick an, nämlich 1794 iſt das linke Rheinufer gefallen und die Staaten Süddeutſchlands
find von franzöſiſchen Heeren zertreten worden. Der Verluſt Belgiens an Frankreich muß un-
mittelbar die Eroberung des linken Nheinufers nach ſich ziehen. Alles, was die Franzoſen von
Der Treppenwitz der d Weltgeſchichte 511
natürlichen Grenzen ſagen, und worunter ſie jetzt die Schelde und Maas und Rhein verſtehen,
ſpäter vielleicht die Weſer und Elbe verſtehen werden, bezieht ſich nicht im mindeſten auf die
Sicherheit ihres Staates, ſondern auf die Sicherheit ihrer Oberherrſchaft. .. Dagegen iſt freilich
nicht zu leugnen, daß wenn Frankreich durchaus über Europa herrſchen ſoll, wie es in den
dreizehn erſten Jahren dieſes Jahrhunderts getan hat, es den Rhein wieder haben muß; nur
um jene Frage handelt es ſich noch. — Aber Belgien war nicht bloß ein Außenwerk Oeutſch-
lands und Europas, ſondern es war auch der pied & terre (Fußſchemel) der Engländer, wenn
fie dem bedrängten Kontinent beiſtehen wollten... Der General Richemond hat es le camp
retranch6 de l’ennemi (feindliches Militärvorwerf) genannt, und ſo iſt es in der Tat... Wie
wir uns auch die künftige Geſtaltung (Belgiens) denken möchten, dieſen Punkt unferes eigenen
hochwichtigen Intereſſes ſollten wir nie aus den Augen, nie aus dem Herzen verlieren.“ —
„Was iſt das Reſultat unſerer ganzen Betrachtung? Daß es Zeit iſt, an uns ſelbſt zu denken
und nicht mit unnützen, und fern liegenden Fragen auf eine ſolche Art zu ſpielen, daß dadurch
eine gediegene nationale Geſinnung untergraben werde. .. Mögen fie (die Franzoſen) ſich
ihren Illuſionen ihrer exaltierten Eitelkeit hingeben; fie werden, wenn wir Deutfche unſere
Pflicht tun, ſehen, daß ihre hochfahrenden Pläne zu nichts führen, daß jie in dem Elende der
Völker verſinken werden, die der Fuß des Krieges zertritt. Wir aber, wir Oeutſchen alle, müſſen
gefaßt fein, dieſem Dämon zu begegnen, und dazu bedürfen wir der Kraft eines edlen Selbft-
gefühles, alſo neben der Treue gegen unſere Fürſten, gegen unſer Vaterland auch die Treue
gegen uns ſelbſt. Dr. Ernſt Bender, z. Zt. im Felde.
Der Treppenwitz der Weltgeſchichte
ie neue (9.) Auflage des von W. L. Hertslet begründeten Werkes „Der Treppen-
witz der Weltgeſchichte“ (bei Haude & Spener in Berlin) bezeichnet der jetzige
Herausgeber Hans F. Helmolt als „durchweg verbeſſert und vermehrt“. Mit
Recht! Denn außer dem ganz neuen Kapitel „der Weltkrieg“ enthält dieſe Auflage mindeſtens
vierzig „Neuheiten“. Andrerſeits iſt zwar auch manches, was die 8. Auflage noch enthielt,
weggelaſſen worden. Es handelt ſich dabei aber um mehr oder weniger belanglofe Dekorations-
ſtücke der Weltgeſchichte.
Der Weltkrieg iſt ja für manchen bislang brav in den trüben Gewäſſern des Kosmo—
politismus plätſchernden Deutſchen zu einem Damaskus geworden. Sehr erfreulich! Minder
erfreulich aber war es, wenn ein ſolcher moderner Paulus nicht nach dem Vorbilde des alten
ſich zunächſt eine Zeit der Zurückgezogenheit „in Arabien“ auferlegte, ſondern ſich berufen
fühlte, fofort als Prophet des Deutſchtums, des Englandhaſſes uſw. vor die Öffentlichkeit
zu treten. Denn nur zu leicht drängte ſich angeſichts ſolches Wandels der Verdacht der Aus-
nutzung der Konjunktur auf. Der Treppenwitz hat ein ſolches Damaskus nicht erlebt, weil
er es nicht nötig hatte. Vielmehr hat hier ſchon vor dem Kriege deutſche Objektivität wirklich
einmal auch „die anderen“ kritiſch unter die Lupe genommen. So wurde bereits vor dem
Kriege die Magna Charta, das „Bollwerk der engliſchen Freiheit“, auf ihre wahre Bedeutung
zurückgeführt, wurde bereits damals den Engländern ihr Anſpruch auf größere Wahrheits-
liebe beſtritten; wurde bereits damals den Franzoſen beſcheinigt, daß ſie „gewiſſermaßen nur
auf der Bühne leben, nur in der Arena atmen“ könnten, ſo daß bei ihnen „der Treppenwitz
der Weltgeſchichte von Dagobert an bis auf Eugenie eine Vielſeitigkeit und einen Prunk wie
bei keinem andern“ Volke entfaltet habe. Andrerſeits iſt die bei einem ſolchen Werke ja vor-
nehmlich verneinend gerichtete Kritik hier doch nicht ſo umſtürzleriſch entartet, daß ſie nicht
512 Oer Treppenwitz der Weltgeſchichte
auch „rettend“ eingriff. Des zum Beweiſe ſei nur hingewieſen auf die faſt begeiſtert zu nennende
Charakteriſierung Friedrich Wilhelms I. Wenn Helmolt übrigens des Königs Vorliebe für
die „langen Kerle“ mit einem Hinweis auf die darwiniſtiſche Anſchauung verteidigt oder für
unſere Zeit verſtändlich zu machen ſucht, ſo braucht man darin keineswegs ein Hineintragen
neuzeitlicher Anſichten in die Vergangenheit zu ſehen. Denn der König ſah es gerne, wenn
ſeine „langen Kerle“ ſich auch mit Mädchen von gleichem Wuchs verheirateten.
Von dem vielen Neuen, was die 9. Auflage bringt, hat manches „aktuelles Intereſſe“.
So ſteht Huttens Wort „o Zahrhundert! o Wiſſenſchaften!“ in unmittelbarer Beziehung
zu den uns ſo nahe gerüdten Rokitnoſümpfen. Dieſe waren nämlich damals ſoeben an Stelle
eines bis dahin angenommenen Gebirges als Quellgebiet zahlreicher großer Ströme ent-
deckt worden. Und im Hinblick auf das damit beſeitigte Vorurteil, daß große Flüſſe nur auf
hohen Gebirgen entſpringen könnten, hat Hutten jenes Wort geſchrieben. — Unmittelbar
veranlaßt durch die Ehrabſchneidereien unſerer Feinde ſind die Richtigſtellungen, die ſich mit
der Menſchenfreſſerei und der Vielweiberei der Deutſchen des 17. Jahrhunderts befaſſen. —
Für jene Lügen können ſich unſere Feinde leider ebenſo wie Gerard für ſeine Darſtellung der
Plünderung Roms im Fahre 1527 auf deutſche Geſchichtswerke berufen. Hoffentlich laſſen
ſich unſere Hiſtoriker ſolche Vorfälle eine Warnung ſein. Wie tief ſich ein einmal zugelaſſener
Irrtum einfreſſen kann, zeigt ja namentlich ein Schandfleck in unſerer Sprache: Vandalismus,
gegen den der „Treppenwitz“ und der im gleichen Verlage erſcheinende Büchmann nun ſchon
ſeit Fahren kämpfen. Leider macht Helmolt bei dieſer Gelegenheit dem engliſchen Sprach-
gebrauch ein Zugeſtändnis, das doch wohl zurückgenommen werden könnte. Denn mit einem
Hinweis darauf, wie Alarichs Weſtgoten im Peloponnes gehauſt haben, iſt das engliſche
„Gothism“ doch wohl kaum zu retten. Alarichs Zug ſollte ein Rachezug fein für eine ähnlich
teufliſche Germanenhetze, wie wir fie ſeit dem Jahre 1914 in den verſchiedenen Ententeländern
erlebt haben. Sonſt find die Goten nie jo aufgetreten. Will man alſo chroniſche Zerftörungs-
wut mit Hilfe eines Volksnamens bezeichnen, fo bieten ſich ganz andere Völker als Paten dar,
z. B. die Römer, die Franzoſen, die Engländer uſw. Auch die Wendung Helmolts: „Anderſeits
muß man den alten Germanen keine zu hohe Kultur zuſchreiben“, iſt für Laien irreführend.
In dieſen Kreiſen ſchätzt man die Kultur unſerer Altvordern wohl eher zu niedrig ein. Was
weiß man da, um nur dies Beiſpiel anzuführen, von den Luren?
Zn dem Endkapitel „Geſuchtes“ ſtellt Helmolt 24 Fragen, fordert alſo weithin zur
Mitarbeit auf. Und der Mitarbeit weiteſter Kreiſe bedarf der Herausgeber eines ſolchen Werkes,
damit endlich einmal mit den zahlloſen, zum Teil recht albernen Märchen aufgeräumt wird,
die zum Teil auch an den ſchiefen und völlig verkehrten Urteilen ſchuld find, die uns im po-
litiſchen Leben unſers Volkes begegnen. So wäre ſehr angebracht ein Hineinleuchten in die
Arſachen der franzöſiſchen Revolution, ferner eine Beleuchtung der Taten und Leiſtungen
der Engländer und der Franzoſen im Dienfte der Kultur, insbeſondere der Koloniſation. Auch
dem Schlagwort von dem Pazifismus der Anion könnte der Boden entzogen werden durch
einen Hinweis auf die Art und Weife, wie das Riefengebiet dieſes Staates aus dem verhältnis
mäßig kleinen Raum zwiſchen dem Atlantifhen Ozean und den Alleghanys- ſich entwickelt
hat. Hinſichtlich der deutſchen Geſchichte aber empfehlen wir der Aufmerkſamkeit des Heraus-
gebers eines der vielen Phantaſieprodukte des an Einfällen ſo reichen Herrn Delbrück. Wir
meinen Bismarcks „Staatsſtreichpläne“, einen der ſchlechteſten Treppenwitze, die je gemacht
worden ſind. Prof. Hans Haefcke
W
—
*
0 il
In N 0 \ 0
en AN A
| Ne N =
\ Ni
EM
— u
e 2 IS
£ N.
—
v7,
303
E- Ourmers ©:
—ũ— ͤ—-—-ẽ . U U 2 ——_ m _ 2 — ͥ
>
Der Krieg:
>“ .
ET Sauen Sie in jene gärende Welt des Oſtens und Südoſtens!
N N / \ Es wäre nach meiner Meinung das gräßlichſte Unglück, das unfer
2) Hcutſches Reich und alſo die europäiſche Gefittung treffen könnte,
wenn jenes alte Öfterreih zuſammenbräche. .. Aber wiſſen wir
denn, ob das Schickſal dieſen ehrlichen Wunſch für den Fortbeſtand des Nachbar-
reiches erhören wird? Wollen wir uns denn ſelbſt die Augen verbinden, daß dort
ein Raſſenkampf im Anzuge iſt, der früher oder ſpäter uns felber mit
hineinreißen kann 'in feinen Strudel? Können wir uns verbergen, daß im
letzten Kriege durch unſere großen Erfolge in allen Nachbarvölkern ein ungeheueres
Kapital des Haſſes ſich angeſammelt hat gegen das ſieggekrönte Oeutſchland?
Es geht heute durch die Welt wie eine dunkle Ahnung, daß auch dem Deutſchen
Reiche, wie einſt dem preußiſchen Staat, fein Europäiſcher Krieg, fein Sieben-
jähriger Krieg, nicht erſpart bleiben wird...“ |
Heinrich von Treitſchke ſprach dieſe Prophetenworte in einer Reichstags-
rede vom 29. November 1871. Heute iſt nicht mehr die Frage, ob wir früher oder
ſpäter in den Strudel jenes Raſſenkampfes hineingeriſſen werden, ſondern wir
ſind bereits in ihn hineingeriſſen, ob wir's auch nicht wahr haben wollen, ob wir
uns auch noch immer in der Überlegenheit des unbeteiligten Zuſchauers gefallen,
der ſich in die „inneren Angelegenheiten“ der verbündeten Monarchie „nicht ein-
zumiſchen“ habe. Als wenn's nach unſeren Wünſchen, nach unſerem Ruhebedürf-
nis ginge.
Wie wenig iſt dieſer Krieg, der die Maſſen doch immer wieder in Eilzugs-
geſchwindigkeit von einem Winkel Europas in den anderen trug, ſelbſt unſeren
Seeresangehörigen zu einem Lehrmeiſter politiſcher Geographie geworden! Mit
Bedauern ſtellt Dr. Richard Bahr in der „Deutſchen Politik“ dieſe Erfahrungs-
tatſache neuerlich feſt: „Auch die Gebildeten unter ihnen ſahen nur Berge, Städte,
Dörfer, Weiler — die Menſchen ſahen fie nicht. Sie kamen in Galizien, auch in
manche, nicht madjariſche Teile Ungarns und ſtießen dort auf Verrat, Verwahr-
loſung, auf mangelnde Ordnung und Diſziplin. Sie zogen daraus nicht etwa
Der Türmer XX, 23 N 39
514 | Türmers Tagebuh
den für Akademiker und Offiziere am Ende nicht ſo ganz fernliegenden Schluß:
wie unendlich ſchwer müſſen es unſere öſterreichiſchen Blutsbrüder haben, in ſolcher
Umwelt überhaupt noch etwas zu ſchaffen. Sie hatten auch keinen Blick für das
Martyrium, das jeder dieſer kernhaften Alpler, dieſer hochkultivierten Deutfch-
böhmen Tag für Tag erduldet, wenn er, um ihr Gehalt zu geben, ſie einigermaßen
wetterfeſt und zuverläſſig zu machen, mit ſlawiſchen Analphabeten in die nämliche
Truppeneinheit gefügt wurde. Sie hielten ſich an die gleichen Kappen, die gleiche
Brüder decken müßten, und alles galt ihnen bald als eine einzige Schlamperei.
Sie trafen häufig auch auf eine unfähige Führung, auf leichtlebige, ſtellenweis
ſchon leichtfertige Offiziere, über die nirgends härter geurteilt wird als in den
ernſten Kreiſen Deutſchöſterreichs. Aber ſie überſahen ganz, wie Anſehnliches,
Tüchtiges, jeden Preiſes Würdiges daneben gerade von den aus dem deutſchen
Akademikerſtand hervorgegangenen öĩſterreichiſchen Reſerveoffizieren in Waffen-
handwerk, Technik und Organiſation geleiſtet wurde. Sie differenzierten ſchier
grundſätzlich nicht, fällten hart, ungeheuer ſelbſtſicher und lauter, als es die Akuſtik
des Bündniskrieges verträgt, ihre Sprüche, und nun erwies ſich, daß der gemein-
ſame Heeresverband bis zu einem gewiſſen Grade auch verbindet, die ſonſt aus-
einanderſtreben. Bei Tſchechen und Südflawen wären derlei Empfindungen
ſchwerlich aufgekeimt. Aber dieſen Deutſchen war es, wennſchon die dynaſtiſchen
Gefühle merklich erkalteten, doch noch immer die K. und K. Armee, unter deren
Fahnen Väter und Großväter fochten und ſtarben. Schließlich mochten ſie wohl
auch finden, daß mitunter auch anderswo mit Waſſer gekocht wurde und nicht jeder
Offizier, der irgendwo in der galiziſchen oder rumäniſchen Etappe inappellabel,
mit geſpreizten Herrengebärden gebot, ſchon der Hindenburg oder Ludendorff in
Perſon ſei.
Derweil war aber auch daheim, im Hinterland, eine unbehagliche
Stimmung aufgekommen. Eine, die nicht ſo ganz berechtigt, aͤber immerhin
menſchlich begreiflich war. Auch Oeutſchland war wirtſchaftlich mangelhaft vor-
bereitet in den Krieg gegangen. Aber dann hatte es, geſtützt auf den immer noch
beiten Beamtenapparat der Welt, die gröbſten Unterlaſſungsſünden einigermaßen
wieder gutgemacht. Das war in Sſterreich gar nicht möglich. Denn wenn auch in
der Zentrale der ehrlichſte Wunſch beſtanden hätte (er war nicht immer vorhanden),
das deutſche Beiſpiel bis aufs i-Tüpfelchen nachzuahmen, es fehlte an den aus-
führenden Organen. Man kann mit flawiſchen Bezirkshauptleuten die Erzeugung
des ſlawiſchen Landmanns nicht rückſichtslos erfaſſen, ihn nicht zur Belieferung
des verhaßten deutſchen Nachbars zwingen. Man wird das auch im kommenden
Erntejahr nicht zuwege bringen, wennſchon mit allem Recht von den Herren Mini-
ſtern etwas mehr Dampf verlangt werden muß. Es handelt ſich hier eben in erſter
Reihe um einen Konſtruktionsfehler, und der liegt in dem Beamtenaufbau des
Staates ſelbſt. Nun hat man vom Reich aus ja immer wieder ausgeholfen. Aber
man hat es dabei mit der Sonne gehalten, die auch über Gerechte und Ungerechte
ſcheint. Hat unterſchiedslos geholfen und — unterſchiedslos geſchimpft. Mit
Vorliebe juſt auf die deutſchen Stammesgenoſſen, denen, wenn der Hunger
ſie zu verzweifelten Bittgängen über die Grenze trieb, man den geiſtreichen Rat
Zünmess Tagebuch 515
gab, fie möchten ſich doch zunächſt an ihre ſlawiſchen Peiniger wenden. Daß ihre
Not von Tſchechen und Slowenen gewollt, auch ein Kampfmittel, vielleicht das
vornehmſte, in ihrem inneren Krieg gegen die Deutſchen, denen bei der Beſied-
lung der habsburgiſchen Erblande das Schickſal die unfruchtbaren Alpen; und
Waldgegenden zuwies, war ſelbſt politiſch ſonſt geſchulten Köpfen ſchwer begreiflich
zu machen. Damit aber neben dem Spott auch der dreiſte Hohn nicht fehle, er-
ſtanden zu gleicher Friſt in vielgeleſenen, leider nicht ganz einflußloſen reichs
deutſchen Blättern warme Fürſprecher des Tſchechentums. Das ſei im
Grunde gar nicht deutſchfeindlich. Zum mindeſten dem im Reich zujammen-
geſchloſſenen Großteil der Nation nicht abgeneigt. Nur die einſeitig gegen
Rußland gekehrte Politik Habsburgs wäre ihnen gegen Herz und Verſtand ge-
gangen, und aus ſolchen Stimmungen und Verſtimmungen heraus die Verräterei
und Sabotage der Kriegsanfänge zu erklären. (Als ob dieſe Verrätereien nicht bis
auf dieſen Tag fortdauerten und die Tſchechen ſich nicht auch heute noch als Ver-
bündete der Entente fühlten.) Für die Zukunft aber könnten, wofern wir nur die
ewig Herbſtzeitloſen mit ihrem Traum vom „deutſchen“ Sſterreich preisgäben,
Tſchechen und Slowenen gerade uns zu wertvollen Weggefährten werden: Brücken
zum wiedererſtarkenden Rußland, Helfer am Wunderbau des neuen Rontinental-
bundes ...
Kann man ſich wundern, wenn in Sſterreich, wo man die Verüber folchen
Unfugs nicht fo von Angeſicht kennt, wie wir fie kennen, wo die große Firma auch
den dilettierenden Schwätzer und den grundſatzloſen Streber deckt, derlei Gerede
geradezu wie eine bewußte Herausforderung wirkte? Die beklemmende Empfin-
dung ſtärkte, daß Oeutſchöſterreich auf ſich allein angewieſen bliebe, in feiner
Schickſalsſtunde auf Hilfe vom Reich nicht zu rechnen habe? Dabei habe ich noch
nicht alle Quellen aufgezeigt, aus denen bei unſeren Stammesgenoſſen das Un-
behagen floß und annoch fließt. Über manches, wie über die herriſche, betont un-
liebenswürdige Art, in der unſere Unterhändler, Zivil wie Militär, ſich bei den
zwiſchenſtaatlichen Verhandlungen gefallen ſollen, läßt zurzeit ſich nicht gut reden.
Anderes wird erſt in Zukunft, nach dem Krieg, offenbar werden. Das Reich wird
beim Neuaufbau der öſterreichiſchen Wirtſchaft zu helfen haben und wird ſich ganz
ſelbſtverſtändlich dafür feine Prozente berechnen müſſen. Dabei aber werden
die gemeinſamen Feinde alles deutſchen Weſens, die zugleich die geſchworenen
Feinde des Bündniſſes ſind, nicht ganz unvorbereiteten Boden finden, wenn ſie
der kurzſichtigen Eigenſucht einreden, Sſterreich ſei einfach in Deutſchlands Hand,
ſeine wirtſchaftlichen Kräfte könnten überhaupt nicht mehr ſelbſtändig ſich regen.
Auf dieſe Entwicklung dünkt mich, ſollte man bei uns ein wenig Acht zu haben
anfangen. Wie immer der Krieg ausläuft, wir werden arm aus ihm herausgehen.
Arm an Zuneigung und Vertrauen in der Welt. Über einen kühlen Reſpekt werden
auch die bis zuletzt neutral Gebliebenen nicht herauskommen und ſelbſt da, wo wir
befreit, beſetzt und, ſicher nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen, „Ordnung geſchafft“
haben, werden unſeren abziehenden Truppen und Beamten vielfach Erbitterung
und Feindſchaft folgen. Als Freunde für Leben und Sterben werden uns nur die
bleiben, die Natur zu ſolchen uns ſchuf: die Stammesgenoſſen, die durch
516 Zürmers Zogshuc,
Sprache, Kultur, durch eine lange Reihe gemeinſamer geſchichtlicher
Erinnerung uns Verbundenen. Mit dieſem Gut ſorglich und pfleghaft um-
zugehen, iſt kluge, im beiten Sinn vorausſchauende Politik. Gewiß,.es find nur 10,
12, wenn man Balten. und. aus Rußland rückwandernde deutſche Kaloniſten hin
zurechnet, höchſtens 14 Millionen. Aber es ſcheint mir leider nicht ausgeſchloſſen,
daß dieſe 12—14 Millionen eines Tages noch, mit der Wiener Nationalökonomie
zu reden, Grenznutzen bekommen können ...“
Das Verſtändnis für die öſterreichiſchen Fragen wirdedem Reichsdeutſchen
auch dann, wenn bereits die Teilnahme geweckt, eine erſte Kenntnis vermittelt iſt,
bekanntlich ſehr oft noch dadurch erſchwert, daß er unwillkürlich. Zu- und Ab-
neigungen, die er aus dem reichsdeutſchen innerpolitiſchen Leben bezieht,
auf fein. Verhältnis zu den öſterreichiſchen Fragen überträgt. Dabei verfällt
er notwendigerweiſe je nach ſeinen Parteibegriffen der einen oder anderen per-
ſpektiviſchen. Täuſchung. Wer durch die konſervative Brille. ſchaut, gelangt leicht
dazu, die Anforderungen, die er an den geſchloſſenen und einheitlichen Na-
tionalftaat ſtellt, auch dem Nationalitätenſtaat zuzumuten; die Folge
davon iſt oft ein an Hochmut ſtreifendes Verkennen der Schwiorigkeiten, welche
dein. Volksdeutſchen, der nicht Reichsdeutſcher iſt, im Nationalitätenſtaate ent-
gegenſtehen. Es läßt ſich aber immer wieder beobachten, bemerkt Hermann Ull-
mann im 10. Heft der deutſchröſterreichiſchen Monatſchrift „Oeutſche Arbeit“, daß
dieſem Fehler viel leichter abgeholfen werden kann als den Irrtümern der liheral.
Bebrillten. „Dieſe können ſich beim beſten Willen nicht vorſtellen, daß es ſich im
Nationalitätenſtaate nicht um eine Auseinanderſetzung von Genoſſen eines Volkas,
eines Blutes, einer Kultur über die Staatsform handelt, wobei doch immer,
von der alleräußerſten Linken abgeſehen, wenigſteus jetzt während des Krieges
als ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung das uneingeſchränkte Bekenntnis. zum ge-
meinſamen Staate und Volke galt; daß ſich vielmehr. Menſchen grundverſchiedener
Herkunft, verſchiedener Sprache und Kultur, Völker, die ſich ſeit Jahrhunderten
bekämpfen, in SOſterreich gegenüberſtehen. Dabei ift dieſen Völkern insgeſamt
mit der einzigen Ausnahme des deutſchen ihre Nationalität wichtiger
als der Staat, in dem fie leben. Das iſt der entſcheidende Unterſchied.
Fit es wirklich fo ſchwer, ſich vorzuſtellen, daß Menſchen, die jenſeits von Raudnitz
wohnen, imſtande ſind, etwas vollſtändig anderes anzuſtreben, als der biedere
deutſche Reichsbürger, der ſeit der Begründung des Reiches nicht mehr über fein -
ſtaatlich ſicher umhegtes Daſein hinausgeblickt und nur noch die Sorge um den Aus-
bau ſeines von Bismarck errichteten Hauſes gekannt hat? Faſt möchte man glauben,
daß dem Reichsdeutſchen vor lauter lobenswertem Staatseifer jeg—
licher Sinn für eigentlich völkiſches Streben, aber auch der Blick für die
Wirklichkeit, die ihn außerhalb feines feſten Neichsgebäudes umdroht, verloren
gegangen iſt. Die Erlebnisenge, das geringe Maß von Wirklichkeitsſinn, die
Genügſamkeit, mit der man ſich immer wieder darauf beſchränkt, Erlebniſſe, die
man mit dem Volksgenoſſen gemacht hat, verwäſſert und gemildert auf den völlig
anders gearteten Nachbar und Feind zu übertragen, grenzt ans Unbegreifliche.
Der ‚Auslandsdeutfche‘, der im Verkehr mit Fremden und Feinden oder auch
Zürmers Tagebuch 517
mit nur andersigeavteten Nachbarn aufgewachſen ift oder ſich gebildet hat, könnte
nicht fertig werden mit Predigen und Warnen, wenn er erſt einmal im
reichsdeutſchen Leben Umſchau gehalten hat. Ich kenne ‚Auslandsdeutſche“
aus allen Teilen der Welt, mit den verſchiedenſten Erfahrungen und Erlebniſſen,
die dieſer gegen das Deutſchtum entfeſſelte Weltkrieg in der Hauptfeſtung, im
Reich, zuſammengeführt hat: fie find völlig einig indem maßloſen Erſtaunen,
das je nach dem Temperament ſich humorvoll oder in Ekbitterung entlädt, über
dieſe⸗ Weltfremdheit des Reichsdeutſchen mitten in feinem ſchwerſten
Dafeinstampfe.“
Angeſtraft, unbeanſtandet darf in großen deutſchen Blättern der'hunds-
gemeine Rat gegeben werden, die Deutſchen in Böhmen den Tſchechen zu opfern,
denn dieſe hätten ja gegen „uns“, die Reichsdeutſchen, nichts und würden unſere
beſten Freunde werden, ſofern wir ihnen nur unſere deutſchen Brüder in Böhmen,
an Händen und Füßen gefeſſelt, ausliefern. Von der völkiſchen Schurkerei eines
ſolchen bezahlten Verrates um des Zudaslohnes willen einmal abgeſehen, — der
Judaslohn würde nicht einmal ausgezahlt. Die Tſchechen denken auch nicht im
Traume daran, mit den Oeutſchen Brüderſchaft zu ſchließen, und ſeien dieſe ſchon
Reichsdeutſche, und bettelten fie noch fo rührend mit dem wedelnden Schwänzchen.
War das tſchechiſche Volk mit feiner unerhörten Frechheit ſchon Jahrzehnte
vor dem Kriege der ſchlimmſte Hetzer unter den „Nationalitäten Oſterreichs —
jo hat es,“ unterſtreicht Johannes Hering in der „Unabh. Nat. Korreſp.“, „dieſem
nicht nur für das deutſche Volk, ſondern für ganz Europa gefährlichen Treiben
damit die Krone aufgeſetzt, daß ſeine Führer die Hauptſchürer des Weltbrandes
waren. Und im Kriege? Regimenterweiſe ſind tſchechiſche Mannen zum
Feinde übergelaufen und kämpfen an deſſen Seite gegen uns. Viele
Tauſende von Deutfhen mußten wegen der in der verlaſſenen Schlacht-
front entſtandenen Lücken ihr Leben laſſen. Doch nicht genug damit,
Tſchechen kaufen die Bauernhöfe der gefallenen Deutſchen auf und laſſen
obendrein auch noch die Deutſchen in Böhmen abſichtlich hungern, wenn
es geht, verhungern.
Auch in Zukunft werden ſie jede Schwäche des deutſchen Volkes ausnutzen
und mit jedem Feinde gegen uns ſtehen. Werden die fiebenhunderttaufend
tſchechiſchen Verräter wieder aus Rußland hereingelaſſen, ſo dürfen
wir ſicher ſein, daß ſie nur auf eine Gelegenheit warten, unter den wehrlofen
Deutſchen in Böhmen ein Blutbad anzurichten, wie es nur mit der Bartho-
lomäusnacht verglichen werden kann. Aber auch ohne ſolche Gewalttat werden
fie die Deutfchen vernichten, wenn es den Tſchechen in der bisherigen Weiſe weiter
möglich bleibt, das deutſche Volk in Böhmen überall zurüdzudrüden. Der deutſche
Wall im Norden des böhmiſchen Keſſels würde verſchwinden, wenige Jahrzehnte
‚genügten dazu, und dann werden dieſe Elemente unmittelbar Grenznachbaͤrn
von Bayern, Sachſen und Preußen werden.
Sollten alle dieſe Ausſichten noch immer keinen Anlaß geben, das wie jedes
in der Übertreibung törichte Prinzip der Nicht Einmiſchung in die inneren
Verhältniſſe anderer Staaten aufzugeben, wo doch Volksnotwendig—
518 Ä Zürmers Tagebuch _
keiten es von uns verlangen? Sollten die Hohenzollern und Habsburger während
des Weltkrieges noch nicht eingeſehen haben, daß ihre Throne ausſchließlich
von den treuen Oeutſchen geſtützt werden?
Man hat die tſchechiſchen Hochverräter in bemerkenswertem politiſchen
Optimismus begnadigt. Sollen auch die Verräter, die jetzt als der Kern der
tſchecho-ſlowakiſchen ‚Banden‘ in Rußland wüten, wieder ins Habsburger Reich
zurückgelaſſen werden?“
Ich bezweifle nicht im geringſten, daß auch die hier vorgebrachten Wirklich-
keiten vom deutſchen Reichsphilifter mit überlegenem Achſelzucken als „Über-
treibungen“, „Gefühlspolitik“ oder dergl. Tiefſinn beiſeite geſchoben werden.
Nun laſſe man aber einmal die folgende Mitteilung des Reichsratsabgeordneten
Regierungsrates Hartl in der „Reichenberger Zeitung“ auf ſich wirken. Danach
hat dieſer mit Rückſicht auf die ſteigende Beunruhigung der deutſchböhmiſchen Be-
völkerung bereits anfangs Juni dem Minifterpräfidenten Dr. v. Seidler darüber
berichtet, daß die Tſchechen ſeit Wochen Lebensmittel nur gegen Waffen
und Munition hergeben, und ihn auf die große Gefahr aufmerkſam gemacht,
die ſich hieraus entwickeln könne. Ferner habe er unter An führung be—
ſtimmter Fälle ſowohl an den Miniſterpräſidenten wie an den Miniſter des
Innern und den Statthalter eine Eingabe gerichtet, welche mit folgenden Sätzen
ſchloß: „Die Tatſache ſteht jedenfalls feſt, daß die Tſchechen in der an-
gegebenen Weiſe ſich ſelbſt mit Waffen und Munition verſorgen und
uns Deutſche davon entblößen. Sch halte dieſe Tatſache für höchſt bedenklich
und fühle mich verpflichtet, die Aufmerkſamkeit der zuſtändigen Stellen darauf zu
lenken. Bemerken muß ich aber, daß bloße Weiſungen an die tſchechiſchen
Bezirkshauptleute, in ihren Bezirken Erhebungen einzuleiten und
die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, nach allen bisherigen Er—
fahrungen erfolglos bleiben dürften. Hier muß in anderer Weiſe ein—
gegriffen werden!“ Von den angeführten Zentralſtellen wurde die Zuſicherung
gegeben, daß man der Angelegenheit mit dem gebotenen Ernſte nachgehen werde.
Aber das hinderte die Wiener Zenſurbehörde nicht, der „Oſtdeutſchen Rundſchau“,
die zweimal den Verſuch machte, den Abdruck der Mitteilung aus der deutjch-
böhmiſchen „Reichenberger Zeitung“ zu verbieten, trotzdem ſie bereits von der
ganzen deutſch-böhmiſchen und alpenländiſchen Provinzpreſſe gebracht worden
war. Erſt auf den dritten Anhieb gelang es der „Oſtdeutſchen Rundſchau“ die
nun in ganz Oſterreich bereits allbekannte Notiz durchzudrücken. Wo fängt eigent-
lich in Oſterreich die ſlawiſche Orientierung an und wo hört fie auf?
* *
a
Aber was geht dieſe deutſche Not der Brüder jenſeits des Kreideſtrichs den
Spießer im Reiche an? Er hat ja in den letzten Wochen mit ſich ſelber und ſeinen —
Büren genug zu tun gehabt. Es war ein erbärmliches Schauſpiel, das ein
nicht gerade geringer Teil unſerer wortgewaltigen, ſonſt aber nur wehleidigen
Heimkrieger einer feindlichen Welt zum beſten gaben. Und warum? |
„Weil,“ fo reibt es ihnen der bekannte Abgeordnete W. Bacmeiſter in feinem
„Größeren Oeutſchland“ verdientermaßen unter die Naſe, „weil die deutſche Oberſte
Türmers Tagebuch ö 519
Heeresleitung in gewiſſen Augenblicken des gewaltigen Ringens es für notwendig
gehalten hat, einzelne Stellungen zu räumen; weil die franzöſiſchen Heeresberichte
aus jenen Tagen als Erfolg der gewaltigſten Kraftanſtrengung, welche die fran-
zöſiſche Armee je gemacht ha, die Gefangennahme von 20000 Oeutſchen meldeten
und die Erbeutung von einigen hundert deutſchen Geſchützen. Vergeſſen wurde,
daß die Erfahrungen von drei Jahren einen gewiſſen Anfangserfolg jeder groß-
zügig eingeleiteten Offenſive mit faſt mathematiſcher Sicherheit vorausſehen laſſen;
vergeſſen wurde, daß drei deutſche Offenſivſtöße über 200000 Gefangene ein-
brachten und 3000 Geſchütze. Vergeſſen wurde, den Erfolg der franzöſiſchen Offen-
ſive zu meſſen an dem Einſatz, den die feindliche Heeresleitung dafür verbraucht hat;
vergeſſen wurde, die erſten beiden Tage des dann elend ſteckengebliebenen Foch-
ſchen Vorſtoßes ſinngemäß hineinzuſtellen in den Rahmen des großen Geſamt—-
geſchehens. Und, was ſchlimmer iſt als alles das, vergeſſen wurde auch, daß wir
Laien daheim ein Urteil über den ungeheuren und ſo ungemein ver—
wickelten militäriſchen Vorgang der dritten Juliwoche des Jahres 1918 un-
möglich ſelbſtändig finden können. Anſtatt aus Einzelheiten, die im Rahmen
des Ganzen Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten find, vorzeitige und ſchiefe Beur-
teilungen zu ziehen, hätte das deutſche Volk in jenen Tagen die Pflicht gehabt,
in Treue das Vertrauen zu bewahren, das ſich Hindenburg und Ludendorff,
das ſich die deutſchen Generale und das geſamte Offizierkorps, das ſich die deutſche
Armee ſo reichlich verdient haben.
Was mußten wir ſtatt deſſen erleben? Eine Fülle von törichten Gerüchten
ging durch das Land. Die feindlichen Heeresberichte, die mit rühmenden
Reden doch fo Schnell bei der Hand find, wußten nicht annähernd ſo Furchtbares
zu melden, wie es in Oeutſchland von Mund zu Mund getragen wurde.
Es waren Feſttage für die alten Weiber beiderlei Geſchlechts. Eine Welle
von Hyſterie kam über uns. Nervöſe und Miesmacher wetteiferten in Albern-
heiten, mit denen fie bei dummen und Schwachen nur zu viel Glauben fanden.
Das Ganze war ein trauriges Bild. Man hörte in Oeutſchland, im Eiſen-
bahnwagen und ſonſtwo Kerle ruhig, ja, gläubig an, die, wären ſie Franzoſen und
ſprächen fie jo in Frankreich, von den Zuhörern verprügelt und dann den Ge-
richten ausgeliefert werden würden. Man hatte vielfach offenbar gar keine Emp-
findung dafür, daß, ſelbſt wenn ihre dummen Erzählungen wahr geweſen wären,
ihr Weitertragen ein Verbrechen am eigenen Volke war. Man fühlte das Fehlen
einer ſo ausgeprägten nationalen Geſinnung, wie man ſie in England,
Frankreich und Italien findet, wo man auch Miesmacher hat, wo man ſich aber ein
ſolches Treiben im Zorn des nationalen Selbſterhaltungstriebes zu verbitten
verſteht. |
Es wird Zeit, daß das deutſche Volk in der Heimat ſich auf fich ſelbſt beſinnt,
an dem Siegeswillen ſeiner Armee ſich ein Beiſpiel nimmt, ſich klar darüber wird,
daß ohne den Sieg ein großes und ſtarkes, freies deutſches Volk nicht ſein wird,
daß der Sieg aber nur von dem erkämpft wird, der an ihn glaubt, zuver-
ſichtlich, uneingeſchränkt, felſenfeſt glaubt. Gewiß, die Politik, die wir
unter dem ewig zweifelnden Bethmann erlebt haben, die Politik, die den 19. Juli
520 Zürmere Tageduch
1917 mit feinem Nervenzuſammenbruch erzeugte und die zu einer Kühlmannrede
führte, war wenig geeignet, das deutſche Volk in der Heimat mit dem nationalen
Inſtinkt und mit dem Siegeswillen zu erfüllen, die das erſte Erfordernis
der Zeit ſind. Solange ſelbſt die amtliche deutſche Politik einen Weſensbeſtandteil
ihrer Aufgaben darin ſieht, das deutſche Volk vor überzeugtem Nationalbewußtſein
zu bewahren, ſolange wird es dieſem Volke wahrlich ſchwer genug gemacht,
die nationalen Notwendigkeiten zu erkennen und fie. über alles andere zu
stellen. Iſt die Hoffnung berechtigt, daß die amtliche Politik ihren Auf-
gaben in Zukunft beſſer gerecht wird?“
* *
*
Alle dieſe und ähnliche Erſcheinungen ſchießen letzten Endes aus dem ſewen
Boden empor, aus „deutſcher Humilität und Bedientenhaftigkeit“, wie Pfarrer
Karl Spieß-Dörſcheid das unerſchöpfliche Kapitel benennt:
In den baltiſchen Ländern lebt ein altes Deutſchtum. Es iſt die dort herr-
ſchende Klaſſe, die für die Kultur dieſer Länder viel geleiſtet hat. Die Entſcheidung
der Waffen hat dieſe Länder in deutſche Hand gegeben. Welcher deutſche So-
zialiſt wagt es, auch nur eine loſe Angliederung dieſer Gebiete an das
Reich gutzuheißen?
In Elſaß-Lothringen lebt eine Bevölkerung, die zu neun Zehnteln kern-
deutſch iſt. Das Land wurde einmal gewaltſam als erobertes Land dem fran-
zöſiſchen Reich angegliedert. Deutſchland gewann es wieder zurück. gebt ſetzt
Frankreich das Leben von Millionen ſeiner Männer dafür ein, es wiederum mit
Gewalt an ſich zu bringen. Wo iſt der franzöſiſche Sozialiſt, der den Ver—
zicht auf dieſes Land auch nur anzudeuten wagte?
Großbritannien fiel über die Burenrepubliken her. Es hatte nicht einmal
einen Schein des Rechts auf ihr Gebiet. Die engliſchen Arbeiter blieben die-
ſem offenen RNaubkrieg gegenüber gleichgültig.
Es gehört zu den älteſten Überlieferungen der deutſchen Demokratie, die
nationalen Beſtrebungen der Finnen, Letten, Litauer und Polen mit warmer
Teilnahme zu begleiten. Ein ſozialiſtiſcher Schriftſteller hat ſich ſogar einmal für
die unantaſtbare Souveränität der Marokkaner begeiſtert. Das Selbitbeitimmungs-
recht der Bondelzwarts und Hereros fand ſtets bei deutſchen Arbeitern warmherzige
Verteidiger. Dagegen kann ſich ein „Demokrat“ durch nichts ſo leicht ver-
dächtig machen als durch Betonung deutſcher Rechte und Anſprüche.
Was für franzöſiſche und engliſche Arbeiter ſchlechthin ſelbſtperſtändlich iſt, iſt
für uns — beinahe — das Gegenteil.
Dieſe bitteren Wahrheiten finden ſich nicht etwa in einem Blatt „all-
deutſcher Machtpolitiker“ oder einem „Unternehmerorgan“. Der ſie ausſpricht,
iſt ein waſchechter Sozialdemokrat, und ſie ſtehen in der ſozialiſtiſchen
Wochenſchrift „Die Glocke“ (Nr. 1 vom 6. April d. 3.). Das gibt ihnen ihre Be-
deutung.
Wir reihen ihnen eine andere Stimme aus demſelben Lager an. Oer ſozial-
demokratiſche Reichstagsabgeordnete Lenſch ſpricht in feinem Buch „Drei Zahre
Weltrevolution“ von der „gewaltigen geſchichtlichen Miſſion“, die Deutichland in
7 7
Türmers Tagebuch 521
dieſem Krieg zu erfüllen habe. Die deutſche Sozialdemokratie habe dieſe Miſſion
nicht erkannt. Warum nicht? Daran hinderte fie nach Lenſch „die deutſche Humili⸗-
tät“, das Niedrigkeitsgefühl, dieſes üble Erbteil deutſchen Elends. Deutſchland und
eine beſondere geſchichtliche Aufgabe! Ja, was wäre denn da, aus der internatio-
nalen Brüderlichkeit geworden? Und wenn deutſche Sozialdemokraten von einer
hiſtoriſchen Aufgabe Deutſchlands in adieſem Krieg geſprochen hätten, wäre das
nicht auf eine „Aberhebung“ und damit auf einerfzepelhafte Verletzung der Ge-
fühle „unſerer gusländiſchen⸗Brüder“ hinausgelaufen? Wie bitter und wie wahr!
Aber ſeien wir gerecht! Wir finden dieſes „beträchtliche Manko unſerer
politiſchen Kultur“, wie es die „Glocke“ bezeichnet, keineswegs nur in der Arbeiter-
ſchaft. Wir finden es in den breiteſten Schichten unſeres „demokratiſchen Bürger-
tums“; wir ſtoßen tagtäglich in den Spalten der „Frankfurter Zeitung“ und des
„Berliner Tageblatts“ auf dieſes ſelbe Manko. Ja es macht ſich in den höchſten
Kreiſen breit, dort wo die Geſchicke unſeres Volkes entſchieden werden. Wir⸗brau-
chen nur die Namen Lichnowſky und Kühlmann zu nennen. Dieſes ſchwach ent-
wickelte, vielfach ſogar völlig verkümmerte Empfinden für das gute Recht
unſeres Volkes iſt ein böſes Erbteil, der Fluch der deutſchen Vergangenheit.
Wir haben die ſozialdemokratiſchen Stimmen angeführt, um zu beweiſen, daß
man kein „Alldeutſcher“ zu ſein braucht, um das zu erkennen.
Wir wollen uns nicht in Klagen erſchöpfen, ſondern lieber fragen: Wie
kann es beſſer werden? Ein geſchichtliches Erbe wird man nicht von heute auf
morgen los, dazu bedarf es jahrzehntelanger geduldiger Erziehungsarbeit. Aber
dieſe Arbeit kann nur unter einer Vorausſetzung Erfolg haben: Wenn wir eine
ſtarke zielbewußte politiſche Leitung haben. Solange ſich eine Regierung
in demütigen Friedensangeboten, in Entſchuldigungen über deutſche Siege —
auch das iſt bekanntlich vorgekommen! —, in verächtlichen Anbiederungsverſuchen
ans Ausland wegwirft, ſolange ſie trotz unſerer militäriſchen Machtentfaltung
in verſchüchterter Haltung vor den Feinden daſteht, ſolange kann kein geſundes,
kräftiges und ſtolzes Gefühl für unſer gutes Recht im Volke aufkommen. Man muß
immer, um den Jammer und Wahnſinn unſerer politiſchen Zuſtände zu begreifen,
die Frage ſtellen: Was würden unſere Feinde machen, wenn ſie in einer militäriſch
ſo günſtigen Lage ſtünden wie wir? Welche Sprache würden ſie führen! Und wie
würden fie die Fragen der öſtlichen Nandſtaaten, des Baltikunis, Belgiens mit
dem Recht des Siegers löſen! Für dieſes Recht hat die Welt ein ſehr gutes
Verſtändnis. Wie wenig nutzen wir das aus! Statt deſſen hören wir die öligen
Phraſen von „Verſtändigung“, „Verſöhnung“, „Völkerbund“. Sollen wir die
„deutſche Bedientenhaftigkeit“, den Fluch unſerer Geſchichte, nie loswerden?
—j— —
polen will
Be zeichnen für die engliſche Auffaſſung
der polniſchen Frage äußert ſich ein
Leitaufſatz der „Morning Post“ vom 12.
Juni 1918:
In Oeutſchland wird Rußland jetzt als
deutſches Hinterland betrachtet. Finnland
und die anderen baltiſchen Provinzen Ruß-
lands werden bereits germaniſiert, und durch
dieſe Ausdehnung Deutjchlands nach Oſten
iſt Polen für Oeutſchland wichtiger als je ge-
worden. Die öſterreichiſche Löſung der polni-
ſchen Frage iſt Deutſchland nicht mehr genehm.
Die deutſchen Kaufleute lenken ihre Blicke zu-
rück zu den Tagen der Hanſa, in denen der
ruſſiſche Handel in Nowgorod von den preußi-
ſchen Städten ſtreng monopolijiert war; fie
denken nicht daran, den ruſſiſchen Handel mit
Oſterreich zu teilen und beſtehen daher darauf,
daß Polen in deutſchen Händen bleibt. Öfter-
reich ſoll jo geſchwächt und in eine fo unter-
geordnete Stellung gebracht werden, daß es
künftig zu ſelbſtändiger Aktion ebenſo unfähig
wird wie Bayern oder Sachſen.
Deutſchland beabſichtigt dazu das aller-
wirkſamſte Mittel anzuwenden, die Zollunion.
Oſterreich, auf dieſe Weiſe wirtſchaftlich an
Deutſchland gefeſſelt, wird nicht länger in
der Lage ſein, eine unabhängige polniſche
Politik zu treiben. Alle wahren Freunde
Polens — und Polen hat mehr falſche als
wahre Freunde — müſſen ſich gefreut haben
über die neueſte Erklärung der Weſtmächte,
daß fie den Verſuch machen wollen, ein un-
abhängiges Polen mit freiem Ausgang
zur See bei Danzig zu ſchaffen. Ge—
Warum England ein Groß-
—
92
2...
lingt das, ſo. wäre es aus mit dem Po—
panz Mitteleuropa. Ein unabhängiges
und völlig wieder vereinigtes Polen würde
Europa und die Welt von der drohenden
preußiſchen Herrſchaft befreien. Es würde
die baltiſchen Nationen und vielleicht auch
Rußland retten. Böhmen könnte mit einem
ſolchen Nachbarn wieder einmal an ſeine
Freiheit denken und würde ſicherlich die Un-
abhängigkeit Italiens und der Balkanſtaaten
ſtützen. Man bedenke, was es für das baltiſche
und öſtliche Europa bedeuten würde, wenn
eine ſtarke freie Nation ſich zwiſchen Deutſch⸗
land und Rußland einſchiebt. Alle Schwär-
mer für Freiheit und freies Selbſtbeſtim⸗
mungsrecht der Nationen würden dabei auf
ihre Rechnung kommen. Vir für unſer Teil
ſind für die Wiederaufrichtung Polens aus
keinem erhabeneren Grunde, als weil
wir ſie für ein britiſches Intereſſe hal-
ten. Sie würde zur Wiederherſtellung des
europäͤiſchen Gleichgewichts beitragen und
die militäriſche Macht Preußens [hwä-
chen, die zum großen Teil auf Schleſien,
Poſen, Oſt- und Weſtpreußen beruht, und
auch Preußens wirtſchaftliche Kraft
würde in Schleſien und dem Weichſeltal ge-
troffen werden. Es würde ein mit dem
deutſchen rivaliſierendes politiſches und wirt-
ſchaftliches Syſtem entſtehen. All das liegt
im Intereſſe Großbritanniens, das jetzt
von der deutſchen Herrſchaft und Kontrolle
über Europa bedroht wird und jede Waffe ge-
brauchen ſollte, um dieſe Gefahr zu ver-
mindern. —
Dieſe Äußerungen des engliſchen Blattes
ſind auch inſofern ſehr bezeichnend, als ſie uns
diejenige Handlungsweiſe Sſterreich,
Auf der Warte
Rußland, Finnland uſw. gegenüber zumuten,
die England an unſerer Stelle ohne allen
Zweifel in der Tat anwenden würde. In-
ſofern find fie alſo ein engliſches Bekennt⸗
nis. Daß daneben auch die Gelegenheit
wahrgenommen wird, uns mit den genannten
Staaten und Völkern zu verhetzen, iſt ja
nur ſelbſtverſtänd lich.
*
Profeſſor Delbrücks Pathologik
rof. Delbrück bemüht ſich, in einem
Flugblatt Stimmung für das Weiter-
beſtehen der Friedensreſolution zu machen.
Er begründet die angebliche Notwendigkeit
mit folgender Pathologik:
„Mit einer feierlichen Zurücknahme ſeiner
Friedensreſolution würde der Oeutſche Reichs-
tag nicht nur den Kriegswillen des Feindes
ſtärken, ſondern auch den deutſchen Kriegs-
willen ſchwächen, denn die ſehr große
Mehrheit des deutſchen Volkes, oder wenn
jemand das beſtreiten will, jedenfalls ſehr
große Teile des deutſchen Volkes beſtehen
nach wie vor darauf, daß ſie nicht gewillt ſind,
ſich für angebliche Sicherungen () zu
ſchlagen, deren Notwendigkeit oder auch nur
Nützlichkeit beſtritten iſt.“
Daß die Aufhebung der Refolution gerade
im Ausland als Zeichen unſerer Kraft gelten
würde, vermag Herr Prof. Delbrück natürlich
nicht einzuſehen, vielmehr ſagt er, ihre Zurück-
nahme würde im Auslande den „falſchen
Eindruck erwecken, daß fie im Juli 1917 aus
bloßem Kleinmut gefaßt worden iſt“.
Falſchen Eindruck? fragt die „T. R.“. Die
ganze Welt weiß, daß die Reſolution nur aus
Angſt und aus einer ſchweren Nervenkriſe
heraus entftanden iſt, aus mangelndem Ver-
trauen zu Hindenburg und Ludendorff.
Dann ſchreibt Herr Delbrüd:
„Es iſt ſchon ſehr viel verſäumt worden,
indem die politiſche Leitung des Reiches
die Agitation gegen die Reſolution nicht
kräftig und entjchieden genug zurüdgewiefen
hat. Die große ſtrategiſche Offenſive hätte
begleitet und unterftüßt werden müſſen durch
eine ebenſolche politiſche Offenſive, die die
Heimatfront unſerer Gegner in derſelben
523
Weiſe bearbeitet hätte, wie Hindenburg mit
feinen Feldgrauen die Schüßengrabenfront.“
Nach Delbrück, meint die „T. R.“, ſollte
alſo das Volk noch weiter und noch mehr zer-
klüftet werden, als es durch die Reſolution
ohnehin ſchon zerriſſen worden iſt.
*
Lloyd George oder — „Bor-
wärts“?
Tr für Tag ſchallt uns aus den feind-
lichen Blättern entgegen, der deutſche
Sieg wäre der Untergang aller Ziviſation,
die Pruß Boches ſeien Verbrecher, Banditen,
Blutſäufer, Anbeter der brutalen Gewalt,
Anterdrücker der kleinen Völker, ſie raubten
und plünderten mit Vorbedacht im eroberten
Lande, fie gingen darauf aus, ſich Sklaven
raſſen für den preußiſchen Militarismus zu
unterjochen uſw. Alle dieſe Ausbrüche geifern-
den Haſſes könnten uns, meint die „D. T.“,
eigentlich kühl laſſen. „Aber die Schlagworte
vom Militarismus, von Junkerkaſte und unter-
drückter Freiheit, von Kampf der Demokratie
gegen die Autokratie ſind uns merkwürdig
vertraut: es ſind die ſelben Ausdrücke,
mit denen unſere demokratiſche Preſſe
Tag für Tag die eigene Regierung be—
kämpft. Wer heute lieſt, daß die preußiſchen
oder baltiſchen Junker das Volk knechten, daß
ein deutſcher Friede die Vergrößerung der
Macht der deutſchen Wilitärkaſte und die
Sklaverei für die übrige Welt bedeutet, daß
die Oenkſchrift des Fürſten Lichnowſky die
Schuld Deutſchlands am Ausbruch des Krie-
ges beweiſt, daß Deutſchlands Endziel die
Aufrichtung eines alldeutſchen Gewaltreiches
vom Atlantiſchen Meer und der Oſtſee bis
zum Perſiſchen Golf iſt, vermag nicht zu
entſcheiden, ob ſolche Außerungen aus
dem „Vorwärts“ ſtammen oder aus
dem Munde des Herrn Lloyd George.“
Nachrichtendienſt
Me dagen über große, für die Deut-
ſchen höchſt verzweifelte Aufſtände
in der Ukraine ergoſſen ſich wochenlang über
uns, geſchmuͤckt mit der Abdankung des Het-
524
manns und ähnlichen Einzelheiten. Teils
waren die bekannten Agenturen der Entente
und ihre verkappten „neutralen“ Korre-
ſpondenzbureaus die Übermittler, teils ward
auch von Krakau aus allerlei geleiſtet, hierin
wie anderweitig. Ein ſchweizeriſcher höherer
Offizier, Major Brockmann, der aus der
Ukraine „über Kijew“ heimkehrte, erfuhr
hier verwundert dieſe Nachrichten und ſandte
der „N. Zürcher Zeitung“ eine Schilderung,
die gedruckt am 29. 7. erſchien: daß die
Ukraine ganz ruhig ſei, das Land ſehr gut
beſtellt, die angeblich aufſtändiſche Land-
bevölkerung vollauf mit der recht guten Ernte
beſchäftigt, froh, daß Krieg und Revolution
ein Ende hätten. Die deutſchen und öſter⸗
reichiſchen Beſatzungstruppen, über das ganze
Land zerſtreut, lebten in ſehr gutem Ver-
hältnis mit den Bewohnern, von „Bedrän-
gungen“ ſei keine Rede. Dieſe Richtigſtellung
durch einen neutralen Beobachter machte
ſtarken Eindruck, da ſie überraſchend war. —
Am 1. Auguſt erfuhr man in Oeutſchland und
umliegenden Ländern endlich dann auch
durch das Wolffbure au im üblichen dürftigen
Dementiton, daß der ukrainiſche Bauern-
aufſtand in keiner Weiſe den Tatſachen ent-
ſprechend ſei. ed. h.
Eine „innere Angelegenheit“
Rumäniens
Der Zoller“, das geleſenſte Tageblatt
„Hohenzollerns und offiziöſe Organ des
fürſtlichen Hofes in Sigmaringen, berichtet
in Nr. 167 an auffälliger Stelle folgendes:
Der frühere rumäniſche Miniſter
Antoneſcu, der bekanntlich vor einiger
Zeit — in öſterreichiſchem D-Zug mit
amtlicher deutſcher Erlaubnis — nach
der Schweiz reiſte, ſchreibt im Pariſer
„Temps“:
Die Königin Maria beſucht in den
Karpathen die Oörfer, die an Sſterreich—
Ungarn abgetreten werden müſſen. Sie
küßt die Kinder und verteilt an die Bauern
Kleider und Lebensmittel. Die Bauern
üſſen ihr die Hände und rufen: Auf bal-
diges Wiederſehen!
Auf der Warte
Dazu bemerkt „Der Zoller“: „Man
braucht nur daran zu erinnern, daß die Kö-
nigin von Rumänien mit die treibende Kraft
bei dem Bündnisverrat des Landes war und
aus ihrer ausgeſprochenen Vorliebe für die
Feinde der Mittelmächte nie ein Hehl ge
macht hat, um ſich die Antwort auf die Frage,
was fie mit ihren Beſuchen in den abge-
tretenen Gebietsteilen bezweckt, von ſelber
geben zu können.“
Begreift man nun, wie recht unſere
Friedensunterhändler hatten, als ſie die
Frage, ob die Familie der Königin Maria
dem rumäniſchen Throne und Volke erhalten
werden ſolle, für eine „innere Angelegenheit“
Rumäniens erklärten?
*
Die „Verantwortung“
1 eine der vielgeſchwungenen ſchillern⸗·
den Phraſen, die als „Erſatz“ für po⸗
litiſche Taten in den Handel gebracht werden.
Graf Cgzernin hatte bekanntlich wiederholt
erklärt, daß er für die Sendung des Flügel
adjutanten Kaiſer Karls, des Oberſten Rande,
zum König von Rumänien die „volle Ver ⸗
antwortung“ übernehme. Kaltlächelnd er
widert darauf die „Deutſche Tageszeitung“:
Wir wüßten nicht, was gleichgültiger wäte
als die Frage, ob Graf Czernin die volle Der-
antwortung „übernimmt“ oder nicht. Im
Laufe des Krieges iſt die Phraſe von der
Verantwortung eine mit großer Vorliebe be
ſonders von hochbeamteten und beamtet ge
weſenen Rednern gewefen. Herr v. Beth
mann Hollweg und Herr v. Kuhlmann haben
oft feierlich und mit edelſtem Mannesmute
von ihrer Verantwortungsübernahme 9%
ſprochen und im Tone der alten Propheten
verkündet, daß unſere Feinde für dies oder
das einmal die Verantwortung oder die
Verantwortung vor der „Geſchichte“ (wet it
„die Geſchichte“ꝰ), oder wenn Herr von Beth⸗
mann Hollweg den Augenblick, melodramatiſch
zu werden, gekommen ſah: „Vor Gott und der
Geſchichte“, zu tragen hätten. Mit der vor
geſchriebenen tragiſchen Empfindung der
Furcht und des Mitleids lieſt man folde
Worte, kann ihnen aber gewöhnlich nicht ent
Auf der Warte
nehmen, daß der Held ſterben wollte, ſondern
im Gegenteil, daß ſeine Seele nach Fortdauer
feines amtlichen Daſeins oder nach Auf-
erſtehung in dieſem Sinne ſchrie. So war
es immer bei Herrn von Bethmann und ſo
iſt es heute beim Grafen Czernin. Ob ſolche
Herren erklären, die „Verantwortung über-
nehmen“ zu wollen oder jie irgend wohin
abſchieben, ändert an den Tatſachen und
an deren Gange, ebenſo an ihren Fehlern und
ihrer Schuld nicht das geringſte. In Deutich-
land aber macht ſie noch immer Eindruck,
dieſe Seifenblaſe der Verantwortung.
Franzöſiſche Patrioten
ir leſen in dem Antwerpener Vlamen-
D blatt „Het Vlaamsche Nieuws“ fol-
gende hübſche Zuſammenſtellung:
Der große Patriot, der Caillaux der Flau-
macherei beſchuldigt und einer der beſten
Pariſer Theaterdichter, heißt — Bernſtein!
— Francis de Croiſſet mit ſeinem adeligen
franzöſiſchen Namen; eigentlich ſollte er
Wiener heißen, und er iſt der Sohn eines
Brüſſeler Juden!
Doch wer leitet denn die Pariſer Pa-
triotenpreſſe, die immer von „la douce
France“ ſpricht?
Marcel Hutin, der bekannte Bericht-
erſtatter des katholiſch-konſervativen „Echo
de Paris“, heißt Moritz Hirſch. Fordyce,
der früher am „Journal“ und heute am
L'Quvre“ arbeitet, heißt Aarohnſon. Adrien
Vely, der Chroniſt des ariſtokratiſch-katholi⸗
ſchen „Gaulois“, an dem Meyer das Zepter
ſchwingt, heißt Levy. Paul Louis, der Leiter
der Abteilung „Ausländiſche Politik“ am
„Petit Parisien“, heißt Paul Louis Levy.
Noziere, der bekannte Mitarbeiter des Temps,
heißt Weill. Louis Foreſt vom „Matin“ heißt
Guegenheim. Weiß man ſo in der Preſſe
lange nicht immer, ob die Leute wirklich ſo
heißen, wie ſie zeichnen und wie auf ihrer
Beſuchskarte ſteht, in der literariſchen Welt
war dies vor dem Krieg ſchon ebenſo arg.
Erneſt La geuneſſe hieß Cohn!
Und ſo kann man eine endloſe Reihe
nennen. Hirſch, Aarohnſon, Meyer, Levy, =
525
Weill, Guegenheim, Cohn! Das ſind die
hervorſtechendſten Pariſer, die Schriftleiter
vom „Matin“, „Journal“, „Petit Parisien“,
„Gaulois“, „Temps“, „Eeho de Paris“!
8 W.
Die Schweiz — unabhängig?
in Schweizer iſt es, der dieſe Frage in
der „Zürcher Poſt“ ſchon in der Aber—
ſchrift ſeiner Ausführungen aufwirft, um
ſie dann unmißverſtändlich zu verneinen.
Profeſſor Burckhardt, Staatsrechtslehrer in
Bern, erklärt u. a. — und zwar aus Anlaß
des Schweizer Nationaltages —, die Schweiz
ſei heute dem wirtſchaftlichen Einfluß
der Entente bereits erlegen. Die Be-
dingungen dieſer mächtigen Staatengruppe
ſeien für die Schweiz geradezu beſchämend.
Wohl werde eine ähnliche Kontrolle auch vor: -
deutſcher Seite ausgeübt, aber die deutſche
Kontrolle über die Verwendung von Kohlen
und Eiſen greife viel weniger weit um
ſich und würde ſofort dahinfallen, wenn die
Entente die ihrige aufgeben würde. Die
Entente wolle Deutſchland wirtſchaftlich iſo⸗
lieren, nicht umgekehrt, und die Schweiz müffe
gehorſam mithelfen zum Schaden der
ſchweizer Freiheit. Ein Land, deſſen Handel
und Gewerbe ſich in ſolcher Weiſe vom Aus-
land kontrollieren laſſen müſſe, ſei nicht mehr
frei. Die Schweiz müſſe zuerſt dafür Sorge
tragen, dieſe Feſſeln abzuſchütteln, dann
könne fie das Freiheitszeichen am National-
tage wieder leuchten laſſen; jetzt habe die
Schweiz kein Recht dazu.
Ein künftiger Botſchafter des.
Deutſchen Reiches
as zweite Morgenblatt der „Frankfurter
Zeitung“ vom 28. Zuli d. 3. bringt
folgende Anzeige:
Freund unſerer Familie,
At tach in hoher Poſition, mit größter
Zukunft, große, elegante Erſcheinung,
30 Jahre alt, freidenkend, geſund, aller-
erſte Familie, Vater Exzellenz, ſucht,
da keine Geſellſchaften ſtattfinden, auf
dieſem Wege eine Lebensgefährtin
526
aus beſter Familie, deren Bermögen
es geſtattet, die Frau eines zukünf—
tigen Botſchafters zu werden. Ge-
genſeitige Diskretion Ehrenſache. Ver-
mittler ſtreng verbeten. Um ausführ-
liche Anträge erſucht gefälligſt poſt-
lagernd Invalidendank, Berlin, unter
Chiffre „Glück 1888“.
Dieſe Anzeige des künftigen Botſchafters
des Deutſchen Reiches bei einer auswärtigen
Großmacht in der demokratiſch-pazifiſtiſchen
„Frankf. Ztg.“ iſt, ſo meint die „T. R.“,
typiſch für den Geiſt mancher Diplomaten,
die Deutſchland, die deutſche Sache, die
deutſche Kultur im Auslande an hervor-
ragender Stelle vertreten ſollen und wollen.
Es iſt begreiflich, wenn ſolche deutſchen Ver-
treter nicht das richtige Verſtändnis für das
aufbringen, was uns draußen nottut, und man
begreift die vielfachen Klagen unſerer draußen
um ihr Deutſchtum kämpfenden Landsleute
über das mangelnde Verſtändnis der amt-
lichen deutſchen Vertreter. Bedauerlich zu-
gleich, daß der diplomatiſche Nachwuchs
ſolche Wege — durch die „Frankf. Ztg.“ —
beſchreiten muß, um vorwärts zu kommen.
Man dotiere einen Botſchafterpoſten ſo, daß
er mit einem tüchtigen Mann beſetzt werden
kann, der hierfür geeignet iſt, damit ınan
nicht eine Perſönlichkeit heranziehen muß,
die ſich einmal auf den Exzellenz Vater und
dann auf die reiche Frau, gefunden
durch die „Frankf. Ztg.“ und aus deren
bekanntem Anhang, berufen kann, um
damit die Eignung für dieſen Poſten nach-
zuweiſen. Ein Botſchafterpoſten iſt der
höchſte im Auslande zu vergebende, und
ſein Inhaber vertritt den Monarchen — —!
**
Alſo!
ie Austauſchtransporte von Zivil- und
Kriegsgefangenen auf Grund des Ber-
ner Abkommens ſind zwiſchen Frankreich
und Oeutſchland nun endlich in Gang ge-
kommen. Monat lich kehren nunmehr 10000
gefangene Soldaten und 3000 Zivilgefangene
aus Frankreich nach Deutſchland zurück;
die kriegsgefangenen Offiziere dürfen zwar
Auf der Warte
noch nicht nach der Heimat zurückkehren,
werden aber in der Schweiz interniert.
Auf dieſer Grundlage werden im Monat je
400 Offiziere ausgetauſcht. Deutſche Vor-
bedingung für das Inkrafttreten des Berner
Abkommens war die Herausgabe der ſeitens
der Franzoſen verſchleppten Elſaß-Loth-
ringer.
Die Erfüllung dieſer Forderung iſt den
Franzoſen ſehr ſchwer gefallen; auch die
Ausſicht auf den Beginn des Gefangenen-
austauſchs hat fie noch nicht herbeigeführt.
Vielmehr mußte zu Zwangsmaßnahmen
geſchritten werden. Es ſind 600 Männer
und 400 Frauen in geeigneter gefell-
ſchaftlicher Stellung aus den von uns
beſetzten franzöſiſchen Gebieten in Vergeltung
des franzöſiſchen Verhaltens den Reichs-
ländern gegenüber ihrerſeits aus ihrer Heimat
fortgenommen worden, und zwar wurden
die Männer nach Rußland in die Ge—
gend von Wilna, die Frauen nach Holz-
minden gebracht. Das hat denn endlich
gewirkt. Man ſieht, folgert die „Deutſche
Zeitung“ aus dieſen Angaben, auf welcher
Verkehrsgrundlage man mit der Klaſſe von
Feinden, die uns gegenüberjteht, allein auf
Ergebniſſe zu rechnen hat.
*
Franzöſiſche Gefangene in die
2. Klaſſe — Deutſche Bürger
in die 3. Klaſſe!
o geſchehen im vierten Kriegsjahre,
Juli 1918, wobei beſonders zu betonen
iſt, daß der Fall keineswegs vereinzelt Da-
ſteht, vielmehr allein ſchon auf der erwähnten
Strecke mehrfach beobachtet worden iſt, und
daß er auch auf anderen Strecken des Reiches
mit veränderten Umſtänden ſich als deutſcher
Brauch eingebürgert hat:
„Die Reiſenden, welche den Vormittags
zug Berlin —Güſten benutzen wollen, er-
lebten einmal wieder eine recht unangenehme
Überrafhung. In dem einzigen Wagen des
Zuges, welcher 2. Klaſſe führt, und der
täglich ſchon immer überfüllt zu fein pflegt,
war das eine Abteil mit drei jungen Kriegs-
Auf der Warte
gefangenen (franzöſiſche Offiziere) be—
ſetzt, die in Begleitung von ebenſoviel deut-
ſchen Landſturmleuten ſich in den Polſtern des
Abteils breit machten und mit ironiſchem
Lächeln dem Andrang der Mitreifenwollen-
den zuſahen. Die deutſchen Herren und
Damen mit Fahrkarten 2. Klaſſe wurden
von dem Zugperſonal höflichſt eingeladen,
es ſich in der 3. Klaſſe fo bequem wie mög-
lich zu machen. Der deutſche Staatsbürger
iſt ja mit der Zeit daran gewöhnt, alle mög-
lichen Zumutungen der Behörden ſtill—
ſchweigend und ergeben über ſich ergehen zu
laſſen. Wenn er aber mitanſehen muß, wie
unſern Feinden die beſten Plätze ein-
geräumt werden und er ſelbſt im eigenen
Lande den Gefangenen gegenüber zu—
rückg eſetzt wird und dabei einen Vergleich
mit der Behandlung deutſcher Gefangener in
Feindesland zieht, fo iſt das eine das vater-
ländiſche Gefühl in einer Weiſe verletzende
Behandlung, daß es nur zu verwundern iſt,
daß die Außerungen des Wißfallens und
Argers, die man zu hören bekam, ſich noch
immer in parlamentariſchen Grenzen hielten.“
Sagen wir: zu bedauern, nein, als eine
offene Schande zu brand marken iſt,
daß deutſche Hund ede mut ſich dergleichen
überhaupt bieten läßt!!
*
Das Rührmichnichtan des
Großkapitals
aum iſt die erſte Zuckerſendung aus der
Ukraine eingetroffen, da ſteht's ſchon
wieder zu leſen: endlich, endlich wird auch
die Süßigkeitsinduſtrie in dem zu Anfang des
Wirtſchaftsjahres vorgeſehenen Umfang be-
liefert werden können! (Ein Seufzer der
Erleichterung wird ſich allen bonbonhung-
rigen Backfiſchen entheben.) Und nebenbei
wird vielleicht auch noch der Einmachzucker
ein wenig vermehrt werden können. Ganz
nebenbei wird endlich den Bundesregierungen
etwas zur Verfügung geſtellt werden können,
um ihre Untertanen für die ausgefallene
Brotmenge zu entſchädigen. Es ſollte dem
unbefangenen Staatsbürger jedoch ſcheinen,
527
daß in dieſem Falle gerade die umgekehrte
Reihenfolge am Platze wäre. Wenn das
Volk kein Korn aus der Ukraine bekommt,
dann hätte es wenigſtens auf den Zucker An-
ſpruch, aber nicht in Form von Bonbon und
Süßigkeiten, die zu unerſchwinglichen Phan-
taſiepreiſen und außerdem meiſt nicht auf
dem allgemeinen Verkaufswege in das Pu—
blikum gelangen. Es wäre doch lehrreich zu
vernehmen, in welchem Verhältnis den obigen
drei Zwecken entſprochen wird; aber die
Reichszuderjtelle ſchweigt ſich über die In-
duſtriebelieferung aus, während für die beiden
anderen Zwecke die Zahlen gegeben werden:
3500000 Doppelzentner Einmachzucker, und
150000 Doppelzentner für die Zwecke der
Bundesregierungen. Warum das Schwei—
gen? In welchem Umfange iſt denn die Be—
lieferung der Süßigkeitsinduſtrie vorgeſehen?
Muß es nicht ſeltſam berühren, wenn die
meiſten Reichsſtellen allen tatſächlichen An-
gaben über ihre Stellungnahme zur Induſtrie
ſo beharrlich auszuweichen ſuchen? Das Volk
legt ſich das auf feine Weife aus und ſpricht
von dem Rührmichnichtan des Großkapitals.
*
*
Starker Tabak!
De Preiſe für orientaliſche Tabake haben
eine ungeheure Höhe erreicht. Woran
liegt das? Im Lande ſelbſt find die Produ-
zentenpreiſe niedrig, alſo muß man anderswo
ſuchen. Da lüftet nun die Fachpreſſe für
Tabakhandel den Schleier an einem Zipfel,
und nun fällt ein helles Licht auf Machen-
ſchaften, die jeden zum Verwundern bringen
mußten, wenn man ſich heutzutage überhaupt
noch über etwas verwunderte. Es hat alſo —
ſo teilt die „Münch. Poſt“ mit — die Firma
Kiaſſim Emin — Mitinhaber Baron Michel-
Raulino — ſich ſelbſt im Orient billig mit
rieſigen Maſſen Rohware verſehen; dann
hat ſie bei den Bauern angefragt, ob ſie
kleine Pöſtchen von Tabak zum Preiſe von
1 Lewa (= 80 9%) zu verkaufen hätten.
Natürlich wollten die Bauern nun keinen
mehr billiger abgeben. Die Firma Kiaſſim
Emin bot ihren Tabak, den fie für 3—5 Lewa
528
gekauft hatte, zu 30 Lewa aus und konnte
ſich darauf berufen, daß ſie ihre Ware unter
dem Marktpreis abgebe! Doch noch mehr!
Unter den Zigarettenfabriken, welche die
Herſtellung billiger Mannſchafts zigaretten für
das Feldheer unter Berufung auf ihren Man-
gel an billigen mazedoniſchen Tabaken ver-
weigerten, gehörte die Hofzigarettenfabrit
Zuban in Dresden — Mitinhaber Baron
Michel-Raulino! Der Generalanzeiger für
den Tabakhandel fragt nun, warum die
Firma Zuban keine billigen Tabake hatte
und antwortet zugleich darauf: „Weil die
Wucherfirma Kiaſſim Emin (Inhaber Baron
Michel und Kiaſſim Emin) der Hofzigaretten-
fabrik Zuban (Hauptinhaber: d ieſelben) ihre
billig eingekauften Tabake zu Wucherpreiſen
berechnete.“
Dabei war dieſer Baron Geſchäftsführer
der Zigaretten und Tabakeinfuhrgeſellſchaft
Dresden. Allerdings hat ihn nach dieſen
Enthüllungen das Reichswirtſchaftsamt tele-
graphiſch aufgefordert, abzudanken.
Ebenſo ſtark iſt der Tabak, der den biederen
Frankfurtern, ohne daß die ſtädtiſchen Be-
hörden einſchreiten, vorgeſetzt wird. Das iſt
der unter der Marke Schlawiner von Zoh.
Peter Raulino & Co. in Bamberg — auch
hier ſpukt wieder ein Raulino! — zu 50 9
für das Paketchen vertriebene Knaſter, der
aus 70 Prozent Buchenblättern und 20 Pro-
zent Hopfen beſteht, dieſelbe edle Miſchung,
die von der geeres verwaltung verboten
worden iſt. Wenn unſere ſtämmigen Mannen
an der Front das Zeug nicht vertragen konn-
ten, wie follen all die D. U. und Schwäd)-
linge hinter der Front damit fertig werden?
B
* 0
Wanderflegel und Wander-
vögel |
n der letzten Zeit häufen fich die Be-
ſchwerden über eine zunehmende Ver-
wilderung der wandernden Zugend. Ein
Naturliebhaber ſchildert mit gerechter Em-
pörung dieſe geckenhaft aufgeputzten jungen
Auf der Warte
Leute, die mit Spielhahn- oder Faſanenfeder
am Hut durch Stadt und Dorf ihre bunt-
geſchmückte Zupfgeige ſpielen.
„Um noch mehr aufzufallen, kehren fie
am Abend derart mit Grün geſchmüͤckt zuruck,
daß fie wie wandelnde Sträucher ausſehen.
In einem Ausflugsort der Umgegend trafen
wir Sonntag mehrere, welche ſich darin ge-
fielen, große Büſche blühenden Weißdorns
meterhoch aus dem Ruckſack herausſtehen zu
laſſen. Ebenſo lächerlich fanden wir den von
zarter Hand geflochtenen Eichenkranz um
die Schläfe des barhäuptigen ‚Arions“.“
In einer Zuſchrift an die „Köln. Ztg.“
wird ſogar Klage darüber geführt, daß Ur-
lauber aus dem Weiten zurüdbleiben mußten,
weil ganze Horden dieſer aufgeputzten Wan-
derflegel die Abteile füllten. In dieſer Zeit,
wo die Wagennot zur größten Einſchrän kung
zwingt, ſollte Leutchen ſolchen Schlages von
vornherein der Zutritt zu den Bahnſteigen
verſperrt ſein.
Bedauerlich iſt, daß eine an ſich geſunde
Bewegung, wie ſie der „Wandervogel“ dar-
ſtellt, durch ſolcherlei Auswüchſe in Mißkredit
gerät. Wie ſoll das Publikum die Echten
von den Falſchen, die Wandervögel von den
Wanderflegeln unterſcheiden? Das Bundes-
organ der Wandervögel wendet ſich ſelbſt
gegen dieſe Banauſen der Natur, „die ledig-
lich die Außerlichkeiten des Wandervogels
übernommen haben und dieſe verzerten und
übertreiben. Sie verwechſeln Ruppigkeit
mit Natürlichkeit, Gröhlerei mit Fröhlichkeit,
wiſſen ſich nicht zu benehmen, wenn ſie mal
ohne Aufſicht ſind, verſchmutzen den Wald,
den ſie doch eigentlich wegen ſeiner Schönheit
aufſuchen, und laufen dem Bauer über die
Saat, bei dem ſie womöglich Gaſtfreundſchaft
genoſſen haben.“
Immerhin ſollte der Bund, damit
die reinliche Scheidung jedem allzeit erſicht⸗
lich bleibt, einer Anregung des „Hann.
Kurier“ folgen und feine Mitglieder ver-
pflichten, auf ihren Wanderfahrten ein ein-
heitliches Abzeichen zu tragen.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Runft und Muſik: Dr. Rarl Stord
Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmers, Zehlendorf ⸗Berſin (Wannſeebahn)
Druck und Verlag: Greiner. & Pfeiffer, Stuttgart
14 x een
WEN Dar
Ro N
ir —
|
9
wa
|
|
wer r gens: .
eber: J. C. Rreiherr von Srottung
II. Jahr. Zweites . ima Brft 24
Deutſchlands größte Gefahr
Von 8. G. Freiherrn von Grotthuß
AR ie droht, trotz einer Welt von Feinden, nicht von außen, fie droht von
8 N innen her! Wie eine dunkle, verhängnisſchwere Wolke hängt ſie
28 über unferem Haupte. Wir haben ihre Schatten erſt jüngſt herauf-
2 2 ziehen ſehen, als erbärmlicher, frevelhafter Kleinmut und Undant
behoſte Waſchweiber mit ſchlotterndem Gebein, irren Gebärden und wirrem
Geſchwätz wie einen aufgeſtörten Ameiſenhaufen mit Achzen und Krächzen, köpf-
lings und rücklings wild durcheinanderwirbeln ließ, und das, weil ſie, zu Tode
erſchrocken, die fürchterliche Entdeckung — einer glatten Selbſtverſtändlichkeit
machen mußten! Daß es nämlich bei Schlägen nicht ganz ohne Rüdfchläge herzu-
gehen pflegt; daß auch die größten Feldherrengenies aller Zeiten den Erfolg nicht
ausſchließlich für ſich allein in Pacht genommen hatten; und daß noch nie ein
Krieg, auch der ſiegreichſte nicht, geführt worden iſt, in dem nicht auch der Sieger
dann und wann Niederlagen, ſchwere und ſchwerſte ſogar, erlitten hätte. Und
dabei konnte hier nicht einmal von Niederlagen die Rede ſein. Es waren Schlappen
mit folgenden planmäßigen, ſchon im voraus für den eintretenden Fall in Rech-
nung geſtellten militäriſchen Zweckhandlungen, über deren entſcheidende Gründe
und ferneren Zielſetzungen die guten Leute im Lande nur mehr oder weniger
ins Blaue hineinſchwätzen, nicht aber Urteile e können, die auch nur ernit-
hafte Beachtung verdienten.
Ser Türmer XX, 24 54
550 | SGtotthuß: Oeutſchlands größte Gefahr
Wie war bei dieſer Lage der Singe dieſer moraliſche Zuſammenbruch, wenn
auch ſelbſtverſtändlich nicht des deutſchen „Volkes“, fo doch gerade genügend zahl-
reicher Heimkämpen nur möglich? Nun, — aus eben der ſelben „Stimmung“
heraus, die den weltberühmten Nervenzuſammenbruch der Reichstagsmehrheit
vom 19. Juli 1917 mit ihrer nicht minder berühmten „Friedensreſolution“ herbei-
führte. Bei ihrer unvermeidlichen, nun längſt Geſchichte gewordenen kriegs-
verlängernden Wirkung hätte ſie auch der weiſeſten Abderitenverſammlung
alle Ehre gemacht. Aber wie wurde ſolche „Stimmung“ möglich?
Hier dürfen wir nicht auf der Oberfläche haften bleiben, hier gilt es tiefer
zu ſchürfen, auf den Grund zu kommen, auf dem ſolches Gebilde wachſen konnte.
Mit ſcharfem, hartem Spaten unternimmt es Karlernſt Knatz in der „Voſſiſchen
Zeitung“, und was er zutage fördert, iſt, wenn auch — Gott ſei's geklagt! — in
feinem Urbeſtande das alte deutſche Erbübel, jo doch von fo unabſehbarer Trag-
weite auch und gerade für den Ausgang dieſes Krieges, für ſieghafte Selbſt⸗
behauptung oder ſchwächlichen Zuſammenbruch des deutſchen Volkes, daß es
mir geboten erſcheint, dem von aller Überfchwenglichkeit freien, aber darum
nicht minder ergreifenden Warnerrufe, ſonſtiger Gepflogenheit entgegen, an
dieſer bevorzugten Stelle Gehör zu verſchaffen. Es iſt — wohlgemerkt — ein
freiſinniges Blatt, das ihm ohne jeden Vorbehalt den leitenden Platz
in feinen Spalten eingeräumt hat! — Sm folgenden nimmt der e ſelbſt
das Wort.
N
Selbſt wenn Rückſchläge noch viel ernſterer Natur einträten, als die,
die wir augenblicklich an der Weſtfront ſehen, ſo müßten wir ſie mit Gleichmut
tragen. In entſcheidenden Augenblicken des Einzellebens wie des ſtaatlichen
Dafeins find es oft nicht fo ſehr die Ereigniſſe ſelbſt, die die endgültigen Folgen
beſtimmen, als der ſeeliſche Untergrund, auf den die Ereigniſſe geſchleudert
werden. Auch einem Volk leuchten ſeines Schickſals Sterne in der eigenen Bruſt.
Zwar machen Geſchehniſſe das, was man die „Stimmung“ nennt, aber die
Stimmung lenkt auch die Geſchehniſſe, formt, verändert, vernichtet ſie,
geſtaltet ſie um. Zwiſchen beiden iſt eine Wechſelwirkung, und da von beiden die
Stimmung das ſeeliſche, das geiſtige Kräfteglied iſt, ſo ziemt ſich für den Menſchen
als geiſtiges Weſen, den Willen bei der Stimmung anzuſetzen.
Als die Stimmungswettermacher des Xerxes, ganz im Wilſon Northcliffe⸗
Stil, ſchon vor zweieinhalb Jahrtauſenden, Leonidas und fein Häuflein durch die
Ankündigung zu erſchüttern ſuchten, die Pfeile des perſiſchen Heeres würden durch
ihre Maſſe die Sonne verfinſtern, gab der Grieche die gleichmütige Antwort:
Nun, ſo werden wir im Schatten fechten. Der griechiſche Vorhutführer wußte,
daß das zwar ein allzu blühendes perſiſches Bild war, aber er wußte auch, daß
furchtbare Wirklichkeit dahinter ſtand. Dieſer Leonidas aber war erfüllt von der
politiſch-völkiſchen Unbeirrbarkeit feines Griechenſtaates. Die gleiche Eigen-
ſchaft haben die Franzoſen, die Engländer, ſelbſt die Italiener. Es ſcheint, daß
fie von allen europäiſchen Völkern allein den Deutſchen und den Slawen fehlt.
Es iſt traurig, daß man die Frage ſtellen muß, aber es iſt notwendig: Würde
A 2 rn. Ne 3 r
Grotthuß: Oeutſchlands größte Gefahr 531
das deutſche Volk mit der gleichen wütenden, aber bewundernswerten
Beharrlichkeit ſtandhalten, feine Söhne opfern, immer wieder an-
laufen, mit ſtählernem Herzen das eigene geliebte Land in wüſte
Trümmer ſtürzen ſehen, immer neue Hilfsmittel den letzten Rräfte-
kammern des Beſitzes, des Körpers, der Seele entpreſſen, wie die
Franzoſen, wenn die feindlichen Heere ſeit drei Jahren etwa auf einer
Linie ſtünden, die von Aachen über Frankfurt nach Heidelberg liefe?
Vnſelig hat ſich unſere Geſchichte mit tiefſten Eigenſchaften unſerer völkiſchen Art
verſchwiſtert, um uns ſchwächer als andere zu machen in einem Wichtigſten: in
dem Bewußtſein und Willen zur Ewigkeit, Unverwechjelbarteit mit anderen, zu
felſenfeſter Selbſtbehauptung unſeres Volkes gegenüber allen andern. Vielmehr:
wie in allen Dingen zwiſchen Himmel und Erde, ſo iſt auch hier das eine die Urſache
des andern, die deutſche Geſchichte die Folge der deutſchen Art, und dieſe Art
wiederum erhalten und geſteigert durch die Geſchichte. Von jeher lag das, was
das Deutſchtum zuſammenband, es als etwas Einheitliches erſcheinen ließ, ledig-
lich im luftigen Bereiche deſſen, was man — auch das iſt bezeichnend —
im Deutſchen nur mit dem Fremdwort „Kultur“ benennt. Die Einzel-
leiſtungen deutſcher Dichtung, deutſcher Kunſt, deutſcher Muſik, deutſcher Denk-
arbeit, fie waren es, die, oft recht gewaltſam zuſammengebündelt, die Gemeinſam-
keit des Deutſchtums darſtellten. Was wir nie befaßen und noch immer nicht be-
ſitzen, iſt die derbere Grundlage aller dieſer Herrlichkeiten, das dem Arttrieb des
Tieres verwandtere Gefühl der völkiſchen Einheit ſchlechthin. Jeder Fran-
zoſe, ohne Ausnahme, jeder Engländer iſt im Beſitze dieſes Artriebes. Dieſes
Triebes, der gar nicht zu denken, gar nicht lebensfähig iſt, ohne eine gewiſſe Blind-
heit gegen die Schwächen des eigenen und die Tugenden der anderen Völker,
der nur möglich iſt, wenn er allein auch über Recht und Unrecht entſcheidet. In
der volkstümlichſten aller britiſchen Weisheiten, in dem „Right or wrong — my
country“ wurzelt auch des Engländers ſtärkſte Kraft.
Es iſt wie ein Geheimnis, daß bei Romanen, Angelſachſen und Nordländern
das völkiſche Bewußtſein ſehr früh in der Geſchichte ſich mit dem mehr zufälligen
des politiſchen Einheitsgefühls vermählte, daß beide ganz und gar ineinander
verwuchſen, und daß dieſes nun aus zwei Quellen zuſammengeſtrömte, unendlich
ſtarke Gefühl über alle Stammesunterſchiede ſiegte und noch ſiegt, die doch in
allen Breiten bis in den Teilbegriff des Landſtriches veräſtelt ſind. Fühlte ſich
der Belgier nicht als Romane, faſt als Franzoſe? Und mir ſcheint die Gewähr
noch nicht gegeben, daß er es nicht auch künftig tun wird. Zit der Korſe je
weniger „Italiener“ geweſen als der Florentiner? Und England vollbrachte das
Angeheure, den Titel eines „engliſchen Bürgers“ über die halbe Welt unter-
jochten, ausgeplünderten oder liſtig betrogenen Völkern als eine Bezeichnung
der höchſten Ehre voll aufzuzwingen. Würden bei uns die Geſchichtsſchulbücher
nicht jahrzehntelang ſo jämmerlich gefälſcht worden ſein, ſo würde heute jeder
mannbare deutſche Jüngling wiſſen, daß bei uns von einem politifch-völtifchen
Einheitsgefühl noch nie geſprochen werden konnte. Noch immer find wir „Brüder-
ſtämme“, gut zwei Dutzend (die, in allen inneren Fragen zum mindeſten, jederzeit
552 Srotthuß: Heutſchlands größte Gefahr
bereit find, fich gegenſeitig Backzähne auszuſchlagen), aber ein Volk, ein Reich
von der Art wie die franzöſiſche Republik oder wie das britiſche Imperium, in
denen beim leiſeſten Hammerſchlag an die äußerſten Grenzen ſofort das Ganze
in wildeſte Bewegung gerät, von dieſem Gefühl haben wir noch immer
kaum einen Hauch.
Nur dieſes Gefühl aber iſt die feſte Grundlage einer Stimmung, die wohl
Wellenberge und Wellentäler, Entſpannung und Hochdruck kennt und aushält,
die aber nie auch nur einen Augenblick im Widerſtand gegen den Feind be-
irrbar iſt. Man gebe den Franzoſen Elſaß- Lothringen, und fie werden in ſpäteſtens
einem Jahrzehnt beide Provinzen, die Deutſchſtämmigen in ihnen eingeſchloſſen,
zu verbiſſenen Anhängern der franzöſiſchen Republik gemacht haben! Aber
freilich — um das zu können, muß man ein politiſches Volk ſein, muß man
blinde Stärke für nützlicher im Daſeinskampf der Völker halten, als ſehende, alles
„gerecht“ prüfende Schwäche, muß man auch haſſen können, wo noch zu
lieben Verderben bedeutet, muß man Eigenliebe und Selbſtſucht beſitzen,
muß man empfindlichſten völkiſchen Stolz mit Bewußtſein hegen und
pflegen, weil man fühlt, daß man ohne dieſes alles aufhört, ſelbſt im unver
äußerlichen Bezirk feiner Art, noch ſelbſt zu fein. Mit welcher göttlichen
Unbekümmertheit, der der deutſchen in die tiefſte „Gerechtigkeit“ emſig bohrenden,
überfeinerten Gedanklichkeit als ſchaudervolle Sittenverwilderung, ſchamloſe Ge
meinheit erſcheint, brauchen Engländer, Franzoſen, Staliener, Amerikaner neben-
einander den Stachel des Haſſes und den ſanften Wedel der Völkerbeglückung
und der Weltſittlichkeit! Sie beſpeien uns als den Abſchaum der Erde und reden
uns gleichzeitig wie Kindern zu, deren „guter Kern“ noch der Beſſe—
rung fähig iſt. Wie brauchen ſie jedes Mittel, und ſei es auch das widerwärtigſte,
wenn es nur zu dem einen dient, auf das es in der Tat allein ankommt: den Feind
zu ſchädigen.
Wir können das alles nicht, haben das alles nicht, wagen das alles nicht.
Wir leiden an völkiſch-politiſcher Blutarmut. Nur deshalb konnte auch Oeutſch⸗
land ſchon vom zweiten Kriegsjahr an — es iſt kaum faßbar bei einem Staate
weſen, das von einem Dutzend ſtarker Gegner mit völlig eindeutiger
Vernichtungsabſicht berannt wird — der Tummelplatz aller möglichen
Arten von „internationalen“ Gefühlen und Beſtrebungen werden. In
England, Frankreich und Italien warfen die Sozialiſten nach den erſten Schlachten
das „Internationale“ köpflings über Bord — in Deutſchland griffen
dieſe ſchönen, aber im Blutſchweiß der nächſten Tage höchſt unbrauchbaren Leit-
ziele ſogar in bürgerliche Kreiſe mit währendem Kriege immer weiter
über. Und doch war es der deutſche Kant, der nüchtern als weſentliche Begriffs
eigenſchaft des „Ideales“, des Hochzieles feine Unverwirklich barkeit feſtſtellte.
Der Weltſtaat iſt unmöglich, wie es der Bolſchewismus für den DVolteftaat if.
Der Oeutſche aber kann ruhig die Hälfte feines weltbürgerlichen Fühlens als
ſchädlich zum Teufel jagen, und er wird noch immer in feiner Seelengrundſtim⸗
mung fo überſtaatlich und grenzenfrei fein, wie Engländer, Franzoſen und Ztalienet
zuſammen es nicht find. Wilſon und Lloyd George erfinden ſich einen „Völker
Soderer: Nachtgefühl | 535
bund“, der ihnen ſelbſtverſtändlich nichts anderes iſt als ein Rriegs-
mittel gegen Oeutſchland — in eben dieſem Oeutſchland erörtert man
ernſthaft, was wohl von dieſem Völkerbund zu halten ſei. In Frank-
reich ſchimpft die Arbeiterpreſſe genau ſo auf die Boches wie die bürgerliche — in
Deutſchland wird in einem breiten, „demokratiſchen“ Flügel tagaus, tagein mit
Eifer unterſucht, was etwa doch Liebenswürdiges an unſeren Feinden
zu finden ſei. i
Stimmung? Wundert man ſich noch, daß jeder im unvermeidbaren Hin und
Her eines Entſcheidungsringens von uns aufgegebene Kilometer Bodens — noch
immer feindlichen Bodens, wohlgemerkt — bedenklichere Folgen für die
deutſche Stimmung haben kann, als Frankreichs Stimmung unter
fürchterlichen Schlägen Hindenburgs oder die Englands unter U-Boot-
Verderben und ſelbſt unter indiſchen Aufſtänden je leiden kann?
Wir leiſteten viel, und wir können noch mehr. Aber wenn uns auf die Dauer
die ſinnliche Inbrunſt des Empfindens als politiſches Volk ſchlechtweg, das nur
mächtig und ſich ſelbſt allein beſtimmend lebt oder — nicht mehr lebt, verſagt
bleibt, ſo werden „Stimmungen“ zunichte machen können, was körperliche
Tüchtigkeit und geiſtiges Vermögen gegen jede Übermacht hielten.
Wan kann jede Politik machen. Man kann ſie mit Liſt machen und mit
Wahrheit, mit Vorſicht oder mit Tollkühnheit, „moraliſch“ oder „unmoraliſch“,
„weſtlich“ oder „öſtlich“, weil eben dieſe Begriffe für den Einzelnen wohl rihtung-
gebend, für einen Staat, ein politiſches Volk aber nur Zweckmäßigkeits fragen
ſind, untergeordnet dem Oberbegriff des bedingungsloſen Willens, den
Lebensraum zu erkämpfen, den es braucht. Das iſt die Stimmung, die unver-
änderlich bleiben muß im Sieg wie in der Niederlage. Fehlſchläge, Mißerfolge
ſind für ein ſtarkes politiſches Volk nur Peitſchenſchläge, unter denen Nerven
und Sehnen ſich mächtiger ſpannen. Hindenburgs Art iſt im Rückſchlag faſt
noch größer als im Siege: er beſchönigt jenen nicht, wie er dieſen nie übertrieb.
Er meldet dieſen wie jenen und geht über den Tagesbericht zu neuen Taten über.
Es iſt dieſe Stimmung des Hauptquartiers, die das ganze politiſche Oeutſch-
land brünſtig verſuchen muß, ſich zu eigen zu machen.
N
Nachtgefühl Von Otto Doderer
Das große Dunkel hüllt mich ein.
Die Pulſe pochen fern wie fremde Klänge,
Und unbedrückt von aller Erdenenge
Quillt mein geheimſtes, tiefſtes Sein
Zu mir herauf
Und iſt voll Frieden ſtill und ſtet
Und ſchwebt hinauf
Und löſt ſich auf
In einem ſeligen Gebet.
.
534 | Scridel: Fürs deutſche Vaterland
Fürs deutſche Vaterland!
Von Leonhard Schrickel 6. 8. im Felde)
9
: in trüber, nebeliger Herbittag hing draußen in Fetzen an den naſſen,
kahlen Aſten des Parks, der ſchweigend durch die hohen, in tiefe
Niſchen eingelaſſenen Fenſter des alten Schloſſes ſtarrte. In dem
O geräumigen, behaglich durchwärmten Zimmer, das mit altehr-
würdigem, bei aller Schlichtheit koſtbarem Hausgeſtühl ausgeſtattet und mit teil-
weiſe ſchon verblaßten Bildern tüchtiger, in ihrer handwerklich derben Art
meiſterlicher Maler geſchmückt war, ſaßen fünf junge Offiziere, die, mancherlei
verheilende Wunden unter den Verbänden tragend, neuen Kämpfen entgegen-
genaſen.
Stumm und in ſich gekehrt, ließen ſie die Stunden vorüberwandern und
die Abenddämmerung über ſich kommen. Nur das Kniſtern der im gewaltigen
bis zur Decke reichenden Kachelofen brennenden Holzſcheite und das gleichmäßige
Ticken der geſchnitzten und vor Alter tiefſchwarz gewordenen Kuckucksuhr unter-
brachen die Stille. Keiner der Offiziere ſchien eine Unterhaltung zu wünſchen;
ſie ſannen in ſich hinein oder ſannen hinaus in die Welt, wer weiß wohin — —
Im Alter ungefähr gleich, waren ſie im Ausſehen doch grundverſchieden.
Der eine, in der Uniform der ſächſiſchen Gardereiter, dem ein Schuß die Linke
zerſchmettert hatte, ſaß in der Fenſterniſche tief in einen Lehnſtuhl geſchmiegt
und hing mit den Blicken an dem letzten verblaſſenden Fetzen des ſchwindenden
Tags ſo feſt, als hefte er feine ganze Seele an dieſen Reſt, mit dem er ja wohl
am liebſten auf und davon gegangen wäre. Ihm gegenüber ſtand, an den Fenfter-
balken gelehnt, ein hoher, ſchlanker Bayer, der gedankenverloren eine langſam
verſchwelende Zigarette zwiſchen den Lippen hielt und, in den ins Dämmern
hinabſinkenden Park hinausblickend, ſicherlich nichts von allem Sichtbaren ſah,
ſondern in ſich hineinlauſchte, wo ſich manches Geweſene lieblich und grauſam
in buntem Wechſel entrollen mochte. Tiefer im Zimmer, am breiten, mit einer
ſchweren, gewirkten Dede belegten Eichentiſch ſaßen zwei Leutnants eines rheini-
ſchen Regiments, vor ſich die halb geleerten Römer, die ſie vergeſſen zu haben
ſchienen, und am Ofen ſtand ein kleiner, rundlicher Artilleriſt, der mit feinen Ge-
danken offenbar draußen bei ſeiner Batterie war, die jetzt gewiß wieder harte,
heiße Arbeit verrichtete. Er war es auch, der ſchließlich das Schweigen brach,
unbewußt einen kurzen Befehl ausſtoßend, der alle Blicke auf ihn lenkte und vor
dem er als vor einer unliebſamen Störung des tiefen, tagmüden Friedens ſelber
erſchrak.
Der Bayer lächelte leiſe. a
„Gemach, Herr Kamerad, gemach .. .“, beruhigte er den verlegenen Ar-
tilleriſten.
„Noch draußen?“ frug der Gardereiter und wandte, ſich aufrichtend, den
Kopf nach dem Störenfried, der jetzt eine Entſchuldigung ſtammelte, die aller-
ſeits ſchmunzelnd aufgenommen wurde.
Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 555
Er war erſt zwei Tage vom Feldlazarett herein, der Leutnant Wild, und
noch nicht heimiſch geworden in dem freundlichen Aſyl für Erholungsbedürftige,
was ſein Hinüberverlieren ins Kampfgewühl verſtändlich machte. Aber da das
Schweigen nun einmal gebrochen war, fand ſich, wenn auch zögernd vorerſt, Wort
zu Wort und allmählich kam gar eine Unterhaltung in Fluß.
„Wo ſtanden Sie zuletzt, Wild?“ frug der Rheinländer einer. Und als der
Gefragte antwortete: „Im Oſten“, war das Zeichen zum Reden gegeben. Auch
die beiden rheiniſchen Offiziere hatten ja monatelang gegen Rußland im Felde
gelegen; der Sachſe war Anno 1914 Adjutant beim Stabe Madenfens geweſen,
und der Bayer wußte, daß er nach feiner Geneſung einem vor Dünaburg liegenden
Regiment zugeteilt werden würde. So ging denn alsbald ein Fragen und Berichten
an, daran ſich alleſamt in ihrer ruhigen, ſachlichen Art beteiligten, wobei denn
manches verwegene und manches luſtige Stücklein zur Sprache kam. Auch Er-
fahrungen anderer Art, die man abfeits des Kampfes gemacht, wurden mit-
geteilt und dabei auch der deutſchen Koloniſten in Ruſſiſch-Polen gedacht, auf
die man ſo oft und oft unvermutet geſtoßen war. Keiner der Offiziere hatte ſich
vor dem Kriege je träumen laſſen, daß jenſeits der Reichsgrenze ſo viele Deutſche
ſäßen, Bauern und Handwerker, Kaufleute und Lehrer, Pfarrer und Künſtler.
Man gab offen zu, daß man baß erſtaunt geweſen, dieſe Volksgenoſſen in ſo großer
Zahl da drüben im Nuſſiſchen zu finden, von deren Dafein man nie etwas gewußt,
um die man ſich nie auch nur im mindeſten gekümmert. Zetzt, obgleich vorher
vergeſſen und unbeachtet, kamen fie den deutſchen Truppen brüderlich und hilf-
reich entgegen, taten, was in ihren Kräften ſtand, Soldaten und Offizieren das
ſchwere Kriegshandwerk erträglicher zu machen, und jede Begegnung mit den
Verſprengten, ſeit Urgroßväter Zeiten in Rußland Eingeſeſſenen ward immer
zu einem neuen Feſt, das [hen mit dem erſten Gruß in treu bewahrter Mutter-
ſprache anhob.
Freilich hatte mancher der grauſam heimgeſuchten und bitter unter den
Kriegsnöten leidenden Koloniſten auch ſeinen Groll ſich vom Herzen geredet, den
er gegen die unmütterliche, ihrer Söhne ſo völlig vergeſſende alte Heimat im
Innerſten hegte. Und es war unter den fünf Offizieren keiner, der jetzt nicht offen
den Preisgegebenen zugeſtimmt hätte.
„Sie haben ein Jahrhundert lang und länger für das Deutſchtum auf Poſten
geſtanden in ſchweren, ſtürmiſchen Zeiten, unerſchüttert und treu, und wir haben
es ihnen weder gelohnt, noch haben wir es auch nur beachtet und geſehen. Sie
waren Für uns ausgelöſcht aus dem Gedächtnis des Volkes oder galten uns
als Fremde. Wir haben ſchmählich an ihnen gehandelt und dennoch haben
fie ihr Volkstum, ihre Sprache und ihren Glauben gehütet und gehalten gegen
alle Bedrückung und Bedrohung und offene Feindſchaft der ruſſiſchen Gewalt-
herren.“ |
„Gewiß,“ ſtimmte der Artilleriſt dem ſächſiſchen Reiter zu. „Aber es find
uns durch unſere Schuld auch viele, viele verloren gegangen.“
vdch glaub's nicht,“ wehrte ein Rheinländer und der Bayer ſtimmte ihm
bei: „Oeutſch bleibt deutſch.“ ö
556 . Schrickel: Fürs deutſche Vaterland
„Sie waren verlaſſen und ohne jede Hilfe, ohne jede Hoffnung auf Hilfe
durch ihr Vaterland, und die ruſſiſche Fauſt lag ſchwer auf ihnen. Da mußte
mancher ſich beugen, mancher zuſammenbrechen und fo fein Oeutſchtum ver-
lieren, wenn er es nicht gar verleugnete und — verachten lernte.“
Doch das wollte keiner Wort haben. Da meinte Leutnant Wild, der Ar-
tilleriſt:
„Ich hab's erfahren.“
Horchten alle auf. Mit zuſammengezogenen Brauen ſaßen fie und ſchauten
durchs dämmerdunkle Zimmer nach ihm hin, der unbeweglich am Ofen am
und in eine trübe Vergangenheit zurückzublicken ſchien.
„Erzählen Sie,“ forderte der Bayer ihn plötzlich auf, und auch die andern
bedrängten ihn. |
„Gern,“ willigte er ein. „Wenn Sie Geduld genug haben, die... nun...
ſehr unbedeutende Geſchichte anzuhören, die Ihnen neben Ihren eigenen Kriegs-
erlebniſſen freilich ſehr ſimpel vorkommen wird — —“
„Angefangen!“ unterbrach ihn einer der Rheinländer und ſchob ſeinen
Stuhl an den Ofen vor den kleinen Diden, was ihm die übrigen ſogleich nach-
taten, fo daß ſich im Augenblick ein Kreis tief in die behäbigen Lederſeſſel zurück-
gelehnter Zuhörer um ihn gebildet hatte. Einen auch ihm angebotenen Stuhl
lehnte Wild ab.
„Ich muß geſehen werden; danke.“
„Hochmut?“ ſcherzte der Sachſe.
„Vorſicht,“ bekannte Wild. „Im Stuhle könnt' ich unter den kleinen dicken
Lederknopf geraten.“
Man lachte. Der Bayer ſtrich ein Zündholz an und ſetzte flink noch eine
Zigarette in Brand, was man mit der gebührenden Achtung ſich erſt vollziehen
ließ, dann rückte inan ſich noch einmal zurecht.
„Nun losgeſchoſſen.“
Und Wild begann:
„Wir hatten drei Tage hinterm Serwetſch im Sumpf geſteckt und ſozuſagen
ins Blaue hineingefunkt, denn auf dem Lande, das keinen Baum und keinen
Hügel hervorbrachte, ſondern endlos öde und flach dalag, braute ein dichter
Novembernebel, ſo daß eine Beobachtung nicht möglich war. Auch die Flieger
konnten uns keinerlei Auskunft über die feindliche Stellung und unſere Feuer
wirkung bringen. Trotzdem ſchoſſen wir abwechſelnd aus allen Geſchützen, um
uns die Ruſſen vom Leibe zu halten und unſere etwas ſchwierige Lage nicht merken
zu laſſen. Da tauchte in der dritten Nacht ein roter Schein vor uns im Dunſt auf;
kaum ſichtbar, ſchwamm das dünne Lichtgerinnſel wie ein verwaſchenes Blutmal
durch den Nebelbrodem. Wir nahmen's für ein Signal, das die Ruſſen in der
Nebelnot zu eigenen Zwecken anzuwenden genötigt ſein mochten, da ſie natürlich
ebenſo unter dem unſichtigen Wetter zu leiden hatten wie wir, ſprachen es zugleich
aber als willkommenes Ziel an. Ich ließ meine Batterie auf den roten Stern
halten. Nach dem dritten Schuß war er erloſchen, was uns veranlaßte, die Gegend
kräftiger zu befeuern. Eine Stunde etwa ſchoſſen wir noch und da ſich inzwiſchen
Sceldel: Fürs deutſche Vaterland! 537
der Nebel endlich gehoben hatte und nun der Mond molkig durch die Schwaden
ſickerte, ging die Infanterie zum Angriff über. Gegen Morgen war die etwa zwei
Kilometer entfernte, von ihren Verteidigern ſchleunigſt geräumte ruſſiſche Stellung
erreicht, worauf unſere Bataillone weiter vorſtießen. Auch wir überwanden
ſchließlich den Sumpf und fuhren feindwärts. In einem faſt völlig zerſchoſſenen
Dorf, von dem anzunehmen war, daß wir es unter Feuer gehabt, mußten wir
haltmachen.
Ich ſaß ab und ging, mich nach einem wenn auch nur halbwegs brauch-
baren Ausguck umzuſehen. Aber es lag alles in Schutt und Aſche; nur kümmerliche
Mauerreſte und etliche brandgeſchwärzte Schornſteine ragten noch aus dem Wuft
heraus. Auch die Kirche war niedergelegt, und meine Hoffnung, am Ende doch
noch die Turmruine als Auslug benutzen zu können, wurde getäuſcht. Ich fand
neben einer zerbröckelten Mauer nur noch einen dem Einſturz nahen Turmreſt
und dahinter einen wüſten Trümmerhaufen, auf dem als wie ein Grabkreuz ein
hohes Kruzifix ſteckte. Etwas verwundert trat ich näher, — und gewahrte neben
dem Kruzifix einen Mann lang hingeſtreckt auf dem noch rauchenden Schutt-
haufen liegen, das Geſicht auf den Armen. Zuerſt hielt ich ihn für tot; als ich
jedoch dicht bei ihm ſtand, merkte ich, daß er lebte und rief ihn an, meine Piſtole
lockernd. Da hob ſich ein blutleeres, verzerrtes Geſicht und zwei ſeltſam geweitete,
aber wie erloſchen dreinſtarrende Augen richteten ſich ſuchend auf mich. Haar
und Bart des Fremden waren wirr, die Kleider beſchmutzt, doch nicht eigentlich
ärmlich, wie denn das fahle, hagere Geſicht Geiſt und Bildung verriet, wenn es
jetzt auch von Schmerz zerwühlt war. Daß der etwa 36jährige geweint hatte und
heftig litt, war offenſichtlich; aber ſobald er ſich meiner Anweſenheit bewußt ge-
worden und ſich an mir gleichſam wieder in der Welt zurechtgefunden hatte, zwang
er alles innerliche Gewühl nieder und gab ſich äußerlich gefaßt und ruhig. Er
verſtand es durchaus, ſeinen Schmerz zu verbergen und bot mir alsbald einen
höflichen, etwas erſtaunten Gruß. Das Erſtaunen war jedoch ſogleich an mir,
denn der Mann ſprach deutſch!
Seinen von ihm verleugneten Zuſtand mit Fleiß überſehend, frug ich ihn
jetzt, was ich zu wiſſen für nötig hielt; erfuhr, daß die Ruſſen fluchtartig abgezogen
waren und ſo bald nicht wieder haltmachen würden, es ſei denn, daß neue Truppen
zu ihnen ſtießen und die Flüchtigen mit Gewalt zum Stehen brächten. Einen
Ausguck gab es nicht, ein Unterkommen, vermutete er, auch nicht mehr. Indeſſen
ſahen wir uns gemeinſam danach um und fanden freilich alles zerſchoſſen und
zerfallen, was zu Kloſter und Kirche gehört hatte. Nur ein Kellerraum ſchien
noch einigermaßen erhalten, und da er von der Seite her einen noch gerade paj-
ſablen Eingang hatte, ſtiegen wir hinab. Das ſchmale, niedrige Gelaß war zum
Glück trocken und hell und barg — o Wunder und Segen! — einen kleinen Vorrat
an Milch und Käſe; da ſich auch noch ein paar leere Holzkübel fanden, die ſich um-
ſtülpen und trefflich als Sitzgelegenheiten benutzen ließen, hob ich ſchließlich auf
Einladung meines zwar wortkargen, aber nicht eben unfreundlichen Wirtes zu
tafeln an, was mir nicht übel von der Hand ging, da es während der zwei letzten
Tage im Sumpf außer Sauer- und Stickſtoff und dergleichen Naturprodukten
558 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland!
nichts gegeben hatte. Auch er langte auf mein Zureden hin ein ganz klein wenig
mit zu, ließ ſich auch, die guten Zigarren verſchmähend, meine letzte Zigarette
aufnötigen, und dann währte es nicht mehr lange, bis wir ein wenig ins Geſpräch
kamen. Ich frug nach den Mönchen und Prieſtern, nach Kirchen- und Klofter-
geſchichte und erhielt gemeſſene Antwort; frug nach dem Kruzifix, das ſo ſeltſam
auf dem Trümmerhaufen ſtand, und da gab er ſtückweiſe und allmählich ſeine
Geſchichte preis.
Er war Lehrer, Kantor und Küſter in einer Perſon. Seine Urgroßeltern
waren vor etwa 100 Jahren aus Süddeutſchland ausgewandert; wahrſcheinlich
nicht aus meinem königlichen Württemberg, ſondern aus dem Elſaß; Genaues
wußte er nicht. Als Handwerker hatte der Urgroßvater hübſches Geld in Ruß
land verdient; der Vater aber, als kleiner, ſtolzer Beamter, hatte es wieder
draufgehen laſſen müſſen, zuerſt um ſeine in lächerlichem Ehrgeiz erſtrebte Stelle
zu bekommen und dann, um ſich in ihr zu erhalten. Natürlich war der Großvater
ſchon, von feiner alten Heimat völlig abgetrennt und von den Verhältniſſen ge
zwungen, ruſſiſcher untertan geworden. Der Lehrer ſelbſt hatte in Moskau feine
Schule beſucht, dann in Kiew eine Stellung erhalten und war endlich nach Bol
Gorodiſchtſche geſchickt worden, wo noch etliche 60 deutſche Koloniſten in Wohl-
habenheit unter den ruſſiſchen Bauern wohnten. Dieſe Koloniſten endlich vollends
von ihrer Überlieferung, ihren alten Gewohnheiten und Gebräuchen abzuziehen
und zu ruſſifizieren, hatte man ihm aufgegeben, und da er dank der Umgebung,
in der er herangewachſen war, und dank der genoſſenen Erziehung, aber auch
wegen gewiſſer übler Erfahrungen und widriger Zufälle der Geſinnung na 9
ein vollkommener Ruſſe geworden war, hatte er ſich wohlgemut und entſchloſſ en
an die ihm geſtellte Aufgabe gemacht, unterſtützt von der Regierung, die ihm
einen anſtändigen Sold zahlte — ich hätte, ihn verbeſſernd, ſagen mögen: Judas
lohn! — und ihm mit allen jenen Mitteln gefällig war, die für ſolche Zwecke bereit
gehalten zu werden pflegten.
Zu einem guten Teil war ihm ſein Unternehmen bereits gelungen, als der
Krieg ausbrach. Und da er nun, ohne jede innere und äußere Verbindung mit
Deutſchland, durch feine Behörde, die orthodoxe Geiſtlichkeit, durchziehende Sol
daten und die ruſſiſchen Zeitungen nichts als Scheuſäligkeiten von der deutſchen
Kriegführung hörte und furchtbare ihnen zugeſchriebene Grauſamkeiten in aller
Munde waren, entflammte er wie ein echter ruſſiſcher Muſchik in wildem
Haß gegen die „Barbaren“ und lechzte förmlich danach, fie zu vernichten. Was
Wunder, wenn er ſich eines Tages ohne Zaudern bereit finden ließ, dem ruſſiſchen
Herrn Spionendienſte zu leiſten und trotz der nahenden Gefahr und des Abzugs
der geiſtlichen Herren und der Bauern mit Weib und Mutter im Oorfe zurüd-
blieb, die Deutfchen erwartend, um fie dann im abgekarteten Spiel an feine Auf-
traggeber zu verraten.
Nachdem die Oeutſchen die Gegend zu beſchießen angefangen hatten, ohne
jedoch infolge des Nebels die Ortſchaft zu treffen oder den einige Werft davor
im Graben liegenden Ruſſen allzuviel Schaden zuzufügen, kamen eines Abends
unvermutet Koſaken in das mit allerhand Truppen belegte Oorf. Ein ihren Ar
Schrickel: Fürs beutfche Vaterland! 5 539
ſprüchen genügendes Unterkommen nicht mehr findend, ſtürmten fie kurzerhand
zum Kloſter, trotz des beſtehenden Verbots, das alle Klöſter vor ſolchen Gäſten
ſchützen ſollte, zerſchlugen das Tor und verbreiteten ſich über den Hof, drangen
in alle Gänge und Gelaſſe, räuberten im Keller, was ihnen anſtand und fielen
lärmend in die Kirche ein. Da ſie Wein und Schnaps, ſo ſie vorgefunden, nicht
ſchonten, ſtieg ihre Munterkeit höher und höher und veranlaßte fie, auf neuen
Streifzügen durch das Kloſter ſich nach weiteren Schätzen umzuſehen.
Seine junge, ihm ſeit knapp fünf Monaten verbundene Frau und ſeine
weißhaarige Mutter, die der Lehrer vor dem Gelüſt der Horde nicht ſicher glaubte,
verbarg er in einem abgeſchiedenen Kellerraum. Eben noch rechtzeitig, denn
kaum hatte er den Schlüſſel abgezogen und ſich auf den Rückweg gemacht, als
ein durchdringendes Gezeter den Kreuzgang erfüllte. Er eilte die Treppe hinauf,
durchhaſtete einige Zimmer und trat auf den Hof, — da brachte das wilde Rudel
die Magd geſchleppt, die, halbnackt und ſchon halb zu Tode geſchunden, wehrlos
dem wüſten Haufen preisgegeben war. Unter Lachen, Flüchen und ſchmutzigen
Späßen ſtießen und zerrten ſie das aufſchreiende Opfer über den Hof in die Kirche,
wo unterm Portal ſchon der Hetmann und etliche feiner Kumpane auf dieſe neue,
ungeduldig begehrte Beute warteten. Im Tumult ging's durch den Chorraum
und hinter den Altar ins Sanktuarium, wo unter lautem Hallo und Gepolter
ausgemacht wurde, die kraftlos Zuſammengebrochene fürs erſte einzuſchließen
und für eine ſpätere Stunde aufzubewahren, zumal man jetzt zu Pferde mußte,
um draußen ein wenig Dienſt zu tun und ſich den Aufpaſſern wieder einmal zu
zeigen.
Als ſie davon waren, eilte der Lehrer, der unentſchloſſen, erſchrocken und
von hundert quälenden Gedanken und Sorgen um die Seinen gemeiſtert, tatlos
alles Geſchehen ſich hatte vollenden laſſen, an die kleine verſchloſſene Eichen
pforte.
Im Sanktuarium war es totenſtill. Leiſe klopfte er und flüſterte den Namen
der Magd. Da hörte er, wie ſich ein Körper mühſam vom Boden aufzurichten
ſuchte, und merkte, daß die Gerufene lauſchte.
„Herr .. ., kam es wie aus atemloſer Bruſt.
„Ich bin's, Matke. Sprich“, forderte er die völlig Zerbrochene auf.
Da ſchleifte ſich der arme Körper drinnen über den Boden zur Tür und
halberſtickte Rufe klangen auf.
„Helft ... Helft . .. Macht auf, um Gottesbarmherzig ... barmherzigkeit
willen... Ich. .. Heiland ..., die Stimme löſchte aus und irre Finger taſteten
nach der Klinke.
Stand der Lehrer mit gerinnendem Blut und fand kein Wort des Troſtes
und keins der Abwehr, urplötzlich ſeine Ohnmacht und ſchlimme Lage gewahr
werdend und faſt bereuend, daß er feinem törichten Mitgefühl nachgegeben und
die Magd angerufen hatte. Nun freilich kam dieſe Reue zu ſpät und er fand
ebenſowenig die Kraft, wieder davonzulaufen und die einem ſchweren Geſchick
Preisgegebene ſich ſelbſt zu überlaſſen. Und alſo vor der Pforte ſtehend wie hin-
gebannt, mußte er alsbald die bettelnde Magd anhören, die, ob ſeines Schweigens
540 Scäridel: Zürs deutſche Vaterland
von fteigender, verzehrender Angſt überflutet, ſich näher an die Tür rückte, die
Lippen gegen das Getäfel preßte und mit haſtigen, bettelnden Händen an der
Pforte wie ſchmeichelnd auf und nieder glitt.
© „Herr helft ... Helft !! . .. Laßt mich nicht wieder an fie fallen. Um
alles, Herr ... Hört Ihr? hört Ihr? Macht mir die Tür auf. Der Nachſchlüſſel
hängt in Eurer Stube, Herr. Erbarmen ...“ und ließ ermattet die Stirn ſchwer
gegen die Pforte fallen.
Er aber ſtand, von eiſigen Schauern überrieſelt und mit Flammen im Hirn
und wußte nicht ein noch aus.
„Betet !... mehr brachte er an Rat nicht zuſammen. Aber die Magd achtete
dieſes Rates ſo wenig als ſie Faſſung genug gehabt hätte, ihn zu befolgen.
‚Der Schlüſſel, Herr ..“ wimmerte fie wie ein wundes, verendendes
Tier. „Rettet .. . oder tötet mich!“ flog es jach von ihren Lippen, und es war
zu hören, wie ſie ſich ſtraff auf die Knie erhob, und ihre Stimme klang ſtark und
ſicher, als fie von neuem forderte: ‚Gebt mir ein Meſſer, ein Beil, einen Hammer.
Gebt mir einen Strick, Herr, daß ich mich erwürge, ehe fie kommen. Eilt...
Aber das weigerte er ihr.
Was willft du da von mir ..., und wußte doch ſelber keinen anderen Aus-
weg. Da brach ſie in lautes, gellendes Weinen aus und die Hände klatſchten auf
den Boden, als wäre fie vornübergefallen. Riet er ihr in blinder Haft aufs Gerate
wohl, das Fenſter zu erklimmen. Es war hoch, gewiß, aber wenn fie den Tiſch
an die Mauer rückte und einen Stuhl darauf ſtellte, vielleicht daß fie die Fenſter⸗
bank erreichte. Es war freilich auch vergittert, aber ſo Gott half, war der Stäbe
einer vielleicht locker, alſo daß ſie ihn herausbrechen oder zur Seite biegen und ſo
entſchlüpfen konnte. Nein, er glaubte im nächſten Augenblick ſelbſt nicht mehr
daran, aber ſo unſinnig der Rat ſein mochte, im erſten Auftauchen ſchien er ihm
Rettung zu verheißen. Und die Magd befolgte ihn.
Er hörte fie auf die Füße ſpringen, von neuer Kraft durchſtrömt; hörte, wie
ſie den Tiſch an die Mauer ſchob, in der Haſt allerlei Gerät herunterſtoßend,
daß die Scherben flogen; dann hob fie einen Stuhl auf den Tiſch ... und
wieder klirrten Flaſchen oder Gläſer zu Boden... und nun ... nun ſtand fie
wohl oben.
Mit angehaltenem Atem lauſchte er ... Sie ſchien die Stäbe erfaßt zu
haben und ſich emporzuziehen. Keuchend. Keuchend und dabei mit verſagender
Stimme Gott anrufend ... Umſonſt ... Die Kräfte reichten nicht aus und fie
glitt wieder herab.
Jetzt betete fie inbrünſtig; ihr Atem flog, das Weinen ſtieg in ihre Stimme
und jetzt klomm ſie wieder an der Wand empor, ſetzte die Füße ein, daß der Mörtel
fiel, ſtemmte die Knie gegen die Mauer und biß knirſchend die Zähne aufeinander,
alle Kraft aufbietend ... Da, ein wilder, wunder Schrei: „Maria !! und dann
glitt ſie abermals kraftlos herab; der Stuhl ſtürzte um und ſie fiel auf den Tiſch.
„Matka. . .
Weh mir ... und aus der Tiefe einer zertrümmerten Seele dringendes
leiſes Wimmern.
Schrickel: Furs deutſche Vaterland! Sal
Planlos lief der Lehrer ein paar Schritt in die Kirche, eilte zur Pforte zurück,
lauſchte wieder und ſah ſich um, als müßte von irgendwoher Hilfe kommen. Auch
er begann zu beten.
Es half nichts, und die Zeit rann dahin. Aber was konnte er tun? Schloß
er die Tür auf und verhalf er der Eingefangenen dergeſtalt zur Flucht, ſo war
ihm der Tod ſicher, auch wenn die Räuber ihn nicht bei feinem Helferswerk er-
tappten. Ja, ſelbſt wenn es ihnen beikam, daß er unſchuldig fei, ſie würden ihre
Rache und Wut trotzdem an ihm kühlen, ihn vorfordern und nach der Magd fragen
und dann erſchlagen. Bei Gott, er fürchtete den Tod nicht. Aber fein jung’ Weib
und ſeine Mutter lagen da drüben in Angſt und Not im Kellergelaß. Und die
Horde würde alles nach der Magd durchſuchen; nicht raſten, bis jeder Winkel
durchleuchtet, jede Tür aufgebrochen war. Und dann — —
Er mußte ſein Leben erhalten und Matka mußte bleiben. Er durfte ihre
Flucht nicht fördern. Mehr! Er mußte ſie verhindern!
Aber da war noch ein anderes, um das ſie bat: der Tod. Doch ſie töten
oder ihr den Tod in die Hände drücken, das lag ganz außer feiner Macht. Der-
gleichen vermochte er kaum zu denken, geſchweige denn zu tun. Wie auch hätte
er mit ſolcher Schuld vor ſeinem höchſten Richter beſtehen ſollen?
So war er machtlos gegen das ſich unaufhaltſam Vollendende, wandte
ſich ab und taumelte in die abendlich durchdämmerte Kirche.
Da klangen Schritte und Stimmen heran. Lärmend wälzte ſich die Rotte
über den Hof. Er ſah fie durch die einbrechende Dunkelheit auf das Portal zu-
kommen, beladen mit Wein- und Schnapsflaſchen, die ſie irgendwo zuſammen⸗
geſtohlen oder erpreßt haben mochten. Ihre Geſichter, von dem ewigen Lämpchen
am Turmgang beleuchtet, glühten, ihre Schritte waren ſchwer und unſicher.
Mit ihnen zu verhandeln, war ausſichtslos. Die Magd war unrettbar an ſie
verloren.
Mit einem Sprung brachte er ſich zur Seite und barg ſich hinterm Chor-
geſtühl, um den wüſten Zug vorüberzulaſſen und dann ungeſehen durch die
Seitentür aus der Kirche zu ſchlüpfen und in das Nebengebäude zu eilen, Wache
zu halten für alle Fälle, daß ſich keiner der trunkenen Geſellen etwa in jene ab-
gelegenen Räume verlöre und dann von ungefähr an die Falltür geriete, hinter
der Frau und Mutter ſchlimme Stunden verbrachten. Aber die Rotte machte
unverſehens an der Kirchtür Halt, redete eifernd miteinander und ſchlug ſich dann
ſeitwärts in den Kreuzgang, wo ſie für ihr wüſtes Gelage und Geſchrei mehr
Platz hatte.
Auch die Magd mochte den Lärm hören, der ihr die Anweſenheit ihrer
Peiniger ankündigte, denn jetzt warf fie ſich mit der ganzen Wucht ihres Körpers
gegen die Tür und riß mit aller Gewalt an der Klinke, in höchſter Todesnot nach
dem Lehrer rufend. Entſetzt ob dieſes verzweifelten Tuns und drohend klingenden
Schreies lief der wieder aus ſeinem Verſteck hervor und eilte an die Pforte, die
ſinnlos Tobende zu beſchwichtigen.
‚Still doch! Du rufſt fie ja nur. Schweig und fie werden dich ln
Aber taub gegen ſeine Mahnung, raſte fie wider ihn.
542 Schrickel: Furs beutſche Baterand!
‚Öffnet oder tötet mich! Ich will nicht wieder unter fie fallen! Helft, ſag
ich, oder ... oder ... — und nun ſchrie ein wilder Haß aus ihr —: ‚ich verrate
ihnen Euer Weib!“
Das traf ihn wie ein Keulenſchlag und taumelnd ſank er gegen den Pfoſten.
Als er aber ſtumm blieb, wollte ihm die Zunge doch nicht mehr gehorchen, fing
die Magd von neuem ihn zu beſtürmen an:
‚Hört Ihr? Zch ſchwör's bei meiner Mutter Seligkeit und Marias Krone:
wenn Ihr nicht helft, jetzt, gleich, verrat' ich Euer Weib an die Koſaken, das viel
ſchöner ift als ich und jung und von weißer Haut und voller ..
„Matka!“ And als ſtünde fie erreichbar vor ihm, hob er die Fauſt, fie zu
ſchlagen. Dann fing er an, mit fliegender Zunge auf fie einzureden, ihr alle Strafen
der Hölle ankündigend, wenn ſie ihren fluchwürdigen Vorſatz durchführe, ihr alle
Reichtümer der Erde verheißend, wenn ſie ihn aufgäbe; beſchwor ſie und redete
ihr vor, daß die Gefahr vorüber ſei oder doch vorübergehen werde. Aber ſie ließ
ſeine Worte nicht bis zu ſich, wehrte ſie ab und wiederholte ihre Drohung oder
beſtürmte ihn mit wilden Bitten um Hilfe. Und wie er noch ſo ſtand und gegen
ihre Worte focht, ſtieß ihn jählings eine Fauſt zur Seite.
Der Hetman, der ſein Opfer ſuchte.
„Zum Teufel, Schuft, was ſtehſt du da?“
Lallend ſtieß es der graubärtige Niefe heraus, der, auf unſicheren Füßen
ſtehend, ihn mit dem ſtieren Blick des Trunkenen anfeindete. Doch wenn auch
erſchrocken, jetzt wich der Lehrer nicht, ſondern behauptete ſich, ſo gut es gelingen
wollte, und fing ein haſtiges, unterwürfiges Bitten an, die Magd loszubetteln.
Aber mit wenig Glück.
„Vas, du Hundſohn!“ brüllte der Hetman, und das rot aufgedunſene Geſicht
erglühte noch tiefer in Ärger und Wut. ‚Willſt du das Rebhuhn für dich?“ und
ſuhr ihm mit der Fauſt an die Gurgel. Ohne ſich zu wehren, ließ ſich der Lehrer
abſchütteln und zu Boden werfen, dann am Boden liegend, ſuchte er des Gewalt-
tätigen Füße zu küſſen.
‚Um Gottes Erbarmen willen fleh' ich Euch an, Herr ... Ein Fußtritt
machte ihn verſtummen und ſchleuderte ihn beiſeite. Mit einem böſen, heiſeren
Lachen ſchloß nun der Hetman die Pforte auf, trat ein und warf ſie hinter ſich zu.
Jetzt erſt packte den Lehrer die Angſt; er ſprang auf, griff nach der Klinke,
gewaltſam ins Sanktuarium nachzudringen, ſchauderte zurück, von auflodernder
Angſt um die Seinen, die er mit feinem Unternehmen einem furchtbaren Schickſal
auslieferte, jählings überwältigt, und ſtürzte davon, ſich vor dem hochaufgerichteten
Marterkreuz Chriſti niederwerfend. In ſtummen Gebeten rang er um Hilfe und
Gnade und ſchrie lautlos aus ganzer Seele zu dem Gekreuzigten empor. Da gellte
ein alles durchdringender Schrei durch die dunkle Kirche und traf ihn wie ein Fauſt⸗
hieb. Matka ... In höchſter Not ſchlang er die Arme klammernd um das hoch-
ragende Kruzifix und ſtürmte lauter und lauter auf den Gemarterten ein, — aber
das Geſchrei der Magd übergellte feine Stimme, hallte durch den weiten Chor
und brach ſich an den Gewölben, riß ihn empor und, ehe er ſich's bewußt geworden,
gepeitſcht von Verzweiflung und Staufen, packte er das ſchwere, eichene Kruzifix,
Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 843
hob's aus den Eiſenringen und lief mit der gewaltigen Laſt gegen das Sank-
tuarium, das Heiligtum hoch in den Händen tragend, nicht um es als Heiligtum
dem raſenden Tier beſchwörend vorzuhalten, ſondern um es als Waffe zu ge-
brauchen, die Pforte damit einzurennen und den Trunkenen zu zerſchmettern.
Ein paar Schritte gelangen, dann wankte er, die Kraft der Arme verſagte, und
krachend ſchlug das Kreuz zu Boden, daß er in wildem Entſetzen zurückfuhr vor
dem Angeheuerlichen, fo er da feinem Heiland angetan; dann, wie von den
Furien der Hölle gehetzt, jagte er in langen Sätzen davon.
An der Falltür, die in das Kellergelaß zu den Seinen führte, hielt er an
und brach in die Knie. Heller Schweiß rann ihm von der Stirn und Froſtſchauer
fuhren ihm durch die Adern. Es war Totenſtille rundum. Als ob die Nacht über
Ungeheuerlichem brütete; als ob der Pulsſchlag der Welt ſtockte ob unausdenkbar
Fürchterlichem.
— Ob die Magd ſein Weib verriet —? Ob fie, ſich vor Grauſigſtem zu retten,
ſich aus den Klauen des Todes zu ringen, jetzt, im haſtenden Augenblick, das Tier
und mit ihm das ganze Nudel auf fein Weib hetzte und auf feine Mutter ...
Und noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht, erfüllte neuer Tumult
den nächtigen Hof, und kreiſchendes Gelächter und wutheiße Flüche brauſten heran. —
Sie waren auf der Spur. — Er wußte: jetzt kam das Ende. Jetzt kam das Unaus-
denkliche, denn — da war kein Zweifel mehr! — die Magd hatte ſein Weib an
die Horde verraten und führte die Schar am Ende ſelber herbei. Noch hatte er
Zeit, einen Stein vom Boden zu raffen, der immer bereit lag, um die geöffnete
Falltür zu ſtützen, dann wälzte ſich der trunkene Haufe polternd hinter einer voran-
leuchtenden Laterne daher. Ohne Beſinnen warf er ſich den Nahenden entgegen
und gebot ihnen Halt, drohend den Stein zum Schlage erhebend. Aber ein wildes
Gelächter war die Antwort, und dann war er von Fäuſten und Füßen zur Seite
geſchleudert und lag ächzend und wehrlos am Boden, während die Rotte an ihm
vorbeidrängte und die Tür erbrach. Mit einem Freudengeheul ſtürmten ſie in
das Gelaß hinein. —
Ihm vergingen ſchier die Sinne. In ſeine Ohren dröhnten Sturmglocken,
ſein Blut quoll ihm in die Augen, daß es ihm war, als ſtünde die Erde bluttriefend
ringsum; feine Adern ſchienen zum Zerplatzen überfüllt — und wie von einem
Dämon gehetzt, ſprang er durch das nächſtbeſte Fenſter ins Freie, lief quer über
den Hof, riß im Vorüberraſen das rotleuchtende ewige Lämpchen, das neben
dem Turm vor einem Marienbilde hing, aus den dünnen Ketten und eilte die
Stufen in den Turm hinauf. Oben bei den Glocken ſprang er in eine der Schall-
Luken, beugte ſich weit hinaus und ſchwenkte die Lampe durchs Dunkel der Nacht.
Er rief die „Barbaren“ zu Hilfe. Daß er ſie haßte und verachtete, hatte
er vergeſſen; unter der Wucht des alles zerſtörenden Grauens und der ſich über-
ſtürzenden Ereigniſſe trieb ihn eine unbeſtimmte, unabweisbare Hoffnung, Er-
löſung und Beiſtand bei jenen zu ſuchen, die er zu verraten gekauft war. Es war
nichts in ihm, das wie alte, urgroßväterliche Erinnerung geweſen wäre; nichts,
das einem blutsbrüderlichen Gefühl, einem Erwachen zum Bewußtſein ſeines
Deutſchtums ähnlich geweſen wäre; nein. Lediglich das übermannende, grenzen-
544 Schrickel: Furs beutſche Vaterland!
loſe Entſetzen vor den ruchloſen Frauenräubern, vor dem ſeinem Welbe und feiner
Mutter drohenden, an ihnen in dieſen Sekunden vielleicht ſchon ſich vollziehenden
Schickſal ließ ihn ohne Überlegen und ohne Wahl das ewige Lämpchen in die Nacht
hinausſchwingen. Die Blicke der wachſamen Feinde wollte er herbeilenken und
ihre Hilfe rufen, und bedachte nicht, was ihm widerfahren würde, wenn er zu-
gleich von den ruſſiſchen Spähern geſehen ward.
Sekt wurde unten im Hof das mit ihrer Beute zur Kirche zurückkehrende
Rudel wieder laut; wie Wolfsgeheul klang's, wie das Gebell tollwütiger, brünſtiger
Hunde ... Dazwiſchen klagte eines Weibes qualdurchloderte Stimme — —
Höher und wilder ſchwang er die Lampe an den Kettenreſten und bohrte
mit aller Anſpannung die Blicke ins Dunkel, wie um die Retter mit den Augen
zu rufen, wo die Stimme ſie nicht erreichen konnte; ging Gott mit ſtürmiſchen,
faſt herb fordernden Worten an, das Seinige in dieſer fürchterlichen Stunde zu
tun und die Gerufenen anzufeuern, ihre Sinne und Seelen ihm zuzuwenden.
Da hob in den Lüften ein Sauſen an, ein Heulen, Gebrüll, Getöſe, daß er jubelte.
Das war Gottes Stimme! ... Und dann barſt die Erde unter ihm, daß der Turm
wankte. Ein Heer von Flammenfäuſten fuhr empor und riß dicht an der Kirche
die Mauerkrone herunter, und eine ſchwere Wolke ſchwarzen Rauchs ſchlang ſich
um den Turm wie eine todverkündende, mächtige Fahne.
Der erſte Schuß hatte geſeſſen.
Eh’ er's zutiefſt gefaßt, dröhnte die Nacht von neuem, als ftürze die halbe
Welt zuſammen, und mitten aus der Kirche quoll Rauch und Feuer in dicken
Schwaden. Und faſt gleichzeitig ſtieß ein Sturm und Donner den Turm um;
die Glocken gellten ſchrill auf, die Füße glitten ihm ins Leere und er ſank ins boden;
loſe Dunkel hinunter — —
Als er gegen Morgen zu ſich kam, fand er ſich unter Trümmern halb ver⸗
graben und ringsum war nichts als Schutt und Aſche ..., ein einziges Grab
alles
Nachdem er ſich hervorgewühlt, ohne Ziel und rechten Willen, und dann,
auf den Trümmern hockend, die Kräfte mählich wiederkehren fühlte, begann et
das halbverkohlte Gebälk und die Stein- und Mörtelmaſſen wegzuräumen, nach
ſeinem Weibe ſuchend. Denn daß er ihnen hier ein Grab getürmt, das war er
allzu ſicher.
Ein paarmal brach er über der Arbeit nieder, von feinem Weh und feiner
Gewiſſensnot überwältigt, aber er raffte ſich doch immer wieder auf, ſich vor⸗
ſprechend, daß es ſo gut ſei, wie es ſei, und daß er die Toten bergen und noch im
Grabe von den wilden Tieren ſcheiden müſſe, denen er fie entriſſen.
EA, Entriſſen“, daran klammerte er ſich.
Und fo grub er zu. Fand da einen Koſaken, dort einen Koſaken. Dann den
Hetman und nahe bei ihm fie, die er mit tauſend Sehnſüchten ſuchte, nach der
alle feine Schmerzen ſchrien und über der er nun doch kraftlos und ſtumm zu
ſammenbrach. —
Als er ſich wieder gefunden, deckte er das Grab ſtill wieder zu; nach ſeiner
Mutter grub er nicht mehr. Oben auf das von den Trümmermaſſen gehäufte
„ 2 cn Zu Zn „ ĩð[1 , ĩ on in „25 *
Schrickel: Fürs deutſche Vaterland! 545
Riefengrab ſetzte er das nur wenig beſchädigte, offen daliegende Kruzifix, mit
dem er den Hetman am Abend zuvor hatte erſchlagen wollen. Und neben dem
Gekreuzigten ſank er nieder, aller Hoffnung, aller Freude und Kraft beraubt,
zu Boden gedrückt trotz allem von einer heimlich gefühlten, himmelan getürmten
Schuld und von unſagbarem Leid zerriſſen.
So fand ich ihn.“
Leutnant Wild ſchwieg. Eine Weile war es ganz ſtill im Zimmer, gleich
als ſtünden die Offiziere mitſammen an jenem ſeltſamen Grabe. Nur die Uhr
tickte. Dann ſog plötzlich der Bayer, als wollte er ſich dem Bann gewaltſam ent-
winden, krampfhaft an ſeiner inzwiſchen erloſchenen Zigarette, ſtand wie ärgerlich
auf, trat an den Tiſch, fie in den Aſchenbecher zu legen, und frug dabei aus ſicherer
Entfernung:
„Na und?“
„Tja . . “ machte Wild, „damit iſt die Geſchichte eigentlich aus, denn ich
wollte Ihnen ja von einem erzählen, der ſeine deutſche Heimat vergeſſen hatte,
wenn nicht gar verachtete.“
„And folgt gar nichts mehr?“
„Doch. Und ich will es nicht unterſchlagen.“
„Alſo ...“ ermunterte ihn der wieder herangetretene bayriſche Offizier,
dem der ſächſiſche Gardereiter um das Verfahren abzukürzen, ein Zündholz für
die neue Zigarette reichte, ihn alsdann ſanft wieder in den Stuhl drückend.
„Das Allernächſte“, fuhr der Artilleriſt fort, „wiſſen Sie ja ſchon: ich ging
mit ihm oder er mit mir, wir fanden Milch und Käſe und er erzählte ſtückweiſe,
was ich Ihnen da ſoeben im ganzen berichtet habe. Was ich dazu ſagte und dachte,
iſt nebenſächlich; genug, ich ſprach ihm, ſo gut ich's konnte, Mut zu, ſchüttelte ihm
verſchiedene Male die Hand, nötigte ihm noch glücklich eine Zigarre auf und trollte
ſchließlich wieder ab.
Aber etwa eine Stunde ſpäter ſaß ich ſchon wieder bei ihm, denn ich konnt's
einfach nicht, den Mann fo ſich ſelber überlaſſen. Ich wollte ihn dem Leben wieder-
gewinnen und ihm fo nebenher zeigen, daß wir ‚Barbaren‘ denn doch nicht das
waren, als was uns die engliſchen Schächer in der Welt ausſchrien. Kurz und
gut, ich redete ihm weidlich zu, den Kopf hochzunehmen und ſich wieder ins tätige
Leben einzuwurzeln. Erſt wollte er natürlich nicht. Was ſollte er noch da?
„Ich kann's ja doch nicht ſchleppen.“
„Warum denn nicht? Verſuchen Sie's! riet ich und fing an wie ein gelernter
Paſtor ihn zu bearbeiten mit einem Eifer und einer wirklich aufrichtigen Hingabe,
daß ich mich noch jetzt darüber wundere. Seine Frau ... das war ein herber Ver-
luſt; aber — und darauf wies ich ihn nachdrücklich hin — wie viele Frauen in
Deutſchland haben gleich ſchwere und noch viel, viel ſchmerzlichere Verluſte zu
tragen. Und tragen ſie! Und manch einem der Unſern — fügte ich bei —, die hier
im Felde ſtehen, ſtarb daheim das Weib ... und er mußte auf ſeinem Poſten
bleiben. And blieb! Und dann wies ich ihn auf feine Schulkinder hin. Im Orte
waren etwa drei Dutzend deutſche Kinder vorhanden geweſen, denen er die
Würzelchen, die ſie an die alte Heimat banden, een ſich bemüht hatte.
der Türmer Xx, 24 | 85
„3 ed —
546 Schrickel: Fürs deutſche Vaterland!
Jetzt waren ob der Kriegswirren und nach der rückſichtsloſen Verſchleppung der
Koloniſten durch die Ruffen vielleicht noch fünf, ſechs deutſche Kinder im Dorf
oder in deſſen Nähe verborgen. Gut. Da gab's Arbeit für ihn. Auf ſie wies ich
ihn alſo hin. An ihnen konnte er gutmachen, was er etwa gefehlt. Durch das
Leben dergeſtalt die Schuld ſühnen, wenn er ſich dergleichen aufgeladen. Als
Menſchenbildner ſollte er Gutes tun; ſollte an den Herzen der Kinder horchen,
in denen das Blut der Vätex noch leiſe ſang; wo der Keim Deutſchheit ſeine feinen
Wurzeln noch immer trieb; all das ſollte er hegen und pflegen und ſo ſich ſelber
wieder in ſeine geiſtige Heimat zurückfinden. Solcherart konnte er Glück ſäen
und Segen ſchaffen jenen und ſich ſelber.
Er gab mir keine Antwort, aber er widerſprach nicht. Und als ich ihm fchließ-
lich zum Abſchied die Hand gab und ſagte: „Sie haben nicht an ſich, nicht an uns
mehr geglaubt, weil wir euch hier draußen vergeſſen hatten; aber von neuem
werden wir euch nicht mehr vergeſſen, des dürft ihr gewiß fein‘, blieb er zwar
noch ebenſo verſchloſſen und düſter, aber in ſeinem Blick glomm ein ſchwaches,
doch ſpürbares Leuchten tief innen.
Gegen Abend rückten wir mit unſeren Geſchützen vor und ſchlugen uns
in der Folge an die drei Monate mit den Ruſſen herum, die mir ſchließlich eins
auswiſchten, ſo daß ich mich auf den Schub mußte bringen laſſen.
Beim Rücktransport fuhr der übel ratternde Panje- Wagen durch Bol Goro-
diſchtſche. Da fand ich neben den Kirchtrümmern einen kleinen Holzbau, der mir
einladend zur Raſt nach der beſchwerlichen und miſerablen Fahrt winkte. Ich
ließ halten, mich vom Wagen heben und in das Haus tragen, wo mir — der Lehrer
entgegentrat. Das war eine wunderhübſche Überraſchung, die mir in doppelter
Hinſicht angenehm war. Er ſorgte denn auch aufs allerbeſte und eifrigſte für mich
und tat, was nur immer in ſeinen und der ihm anhangenden Kräften ſtand, mir
die Lage zu erleichtern. Anhänger hatte er nämlich. Zunächſt 9 Kinder und damit
deren Eltern. Lauter Oeutſche, die inzwiſchen wieder zum Vorſchein gekommen
waren. Das Haus aber hatten ihm deutſche Soldaten gebaut; es war zugleich
die Schule. Er machte die Nebentür auf und ließ mich in das zweite Zimmer
blicken. Da ſaßen juſt die Buben und Mädel bei der Arbeit, ihm mit glänzenden
glückhaften Augen entgegenſchauend, und es war zu ſehen, wie ihre Luſt und
Freude ſich in feinen Blicken widerſpiegelte. An der Wandtafel ſtanden einige
Sprüche und darüber, wie für die Dauer hingeſchrieben, in feſten Schriftzügen
die Worte: „Ans Vaterland, ans teure, ſchließ dich an,
Das halte feſt mit deinem ganzen Herzen,
Hier find die ſtarken Wurzeln deiner Kraft...
Er fühlte wohl, daß ich heimlich von meinem Stuhl aus ihn anſah, denn
er ſagte, ohne daß ich meine Frage ausgeſprochen, mit leiſer, wie in Scheu und
ſpäter Scham verhaltener Stimme:
„Ich lehre fie das Heiligſte verſtehn.“
Da nahm ich wortlos feine Hand. — — Er aber ſchloß die Tür wieder und
wandte den Kopf zur Seite; mochte ſein, daß er Tränen verbarg oder bekämpfte.
Weiß- v. Nuckteſchell: Ernte 547
Ein paar Stunden ſpäter fuhr ich, im reichlich mit Stroh und ſogar einem
mir von einer Bäuerin gewaltſam aufgedrungenen großen Federkiſſen ver-
ſehenen Wagen meine Straße weiter. Im Schritt natürlich. Nebenher marſchierte
der Lehrer. Das wollte er ſich nicht nehmen laſſen, und er ſchritt rüſtig dahin,
friſch und voll wachſenden Lebensmutes, wie in leiſe jubelnder Zuverſicht und
ſelbſtſicherer Kraft.
N Und immer neben mir ... gen Oeutſchland.
Als wir endlich voneinander ſchieden, drückte er mir, ſchon im Davongehen,
noch ein kleines Briefchen in die Hand und war dann fort, ehe ich's mich verſah.
Es war, in ein Papier eingeſchlagen, das Bild feiner mädchenhaft jungen, wirklich
lieblichen Frau, die da nun unter dem Trümmergrabe lag, und auf der Rückſeite
des Bildes ſtand in großer, ſtraffer Schrift:
„Fürs deutſche Vaterland.“
Da wußt' ich, daß er ſich gefunden. Als ich mich nach ihm umſah, ſtand er
ſchon weit dahinten und winkte mit beiden Armen noch lange . lange...
So grüßte er ſeine ferne, ihm wieder erſtehende Heimat.
«
Sea,
Ernte Bon Alice Weiß- v. Ruckteſchell
Wie war der Abend klar und rein,
Als wollte alle Welt
So ſtill, ſo hell, ſo friedlich ſein
Wie unſer Erntefeld.
Wie hat der Himmel goldenrot
Ob unſerm Dorf gelacht. i
Und irgendwo herrſcht Weh und Tod
And geht die blut'ge Schlacht..
Doch über ſtilles Ernteglüd
And über Kriegsgebraus
Sieht Gottes ew' ger Sonnenblick
Und löſcht die Feuer aus.
Die Stunde kommt, die Stunde naht,
Und ſei fie noch fo weit.
Es reift zur Ernte jede Saat, —
Und Gott kennt ſeine Zeit!
W
548 Riegelsberger: Ein Schandmal auf der deutſchen Erde
Ein Schandmal auf der deutſchen Erde
Das Turenne⸗Denkmal in Sasbach bei Achern
Von Profeſſor J. Riegelsberger
7 eit Beginn des Weltkrieges nehmen die Feinde Beſitz von unbeweg-
lichem deutſchem Eigentum in ihrem Lande. Aus Rom kommt die
Nachricht, daß der deutſche Proteſtantenfriedhof in Nom der Madt-
22 befugnis der „Barbaren“ entzogen und der Hut der Römer über-
antwortet werden ſoll. Die franzöſiſche Preſſe hat leidenſchaftlich die Forderung
erhoben, daß ſogar die Grabdenkmäler auf den deutſchen Kriegerfriedhöfen in
Frankreich entweiht und entfernt werden. Der „boche“ habe höchſtens ein Recht
auf ſechs Schuh Tiefe, die Engelsköpfe mit den Stieraugen, die von den „geſchmack⸗
loſen Barbaren“ gebildet wurden, müßten unbedingt beſeitigt werden. |
Wie verhalten wir Deutſche uns angeſichts dieſer Tatſachen gegenüber fran-
zöſiſchem Grimdbeſitz mit einem Denkmal, das als höhnendes Sinnbild einſtiger
deutſcher Schwäche und Schmach uns wie ein Pfahl im Fleiſche ſitzt? Wir meinen
den franzöſiſchen Boden mit dem Turennedenkmal in Sasbach bei Achern in
Baden.
Von der Landſtraße, die Baden von Baſel bis Weinheim durchzieht, führt
unmittelbar am ſüdlichen Eingang des Dorfes rechts ein ſchnurgerader, langer
Zugangsweg in einem breiten Raſenteppich, eingeſäumt mit verſchnittenen Hecken
und Bäumen und einem Gitter, zum Denkmal. Der Eingang wurde kurz vor dem
Kriege mit Ketten gegen Fahrzeuge abgeſperrt. In der Mitte der Anlage bringt
ein Rondell aus Tannen etwas Abwechſlung in die Eintönigkeit der Garten-
anlage im Stile von Lenötre, die in ihrer Symmetrie und Geziertheit lebhaft an
Verſailles erinnert. Ein zweites Rondell aus Linden umgibt das Denkmal am
Ende der Anlagen. Daß der franzöſiſche Wächter die ganze künſtleriſche Garten-
anlage durch das Hineinpflanzen von Frühzwetſchgenbäumen verfchandelt hat,
iſt wohl nur auf ſeinen den Geſchmack verderbenden Aufenthalt im Lande der
„Barbaren“ zurückzuführen. Das Denkmal iſt ein großer Obelisk aus Granit
aus dem Achertal, angefertigt vom Bildhauer Friedrich aus Straßburg im Jahre
1829, Das Ganze iſt im Empireſtil gehalten mit dem klaſſiziſtiſchen Palmetten⸗
ſchmuck. Die Vorderſeite zeigt den Kopf Turennes in Relief. Darüber prangt
die Inſchrift in Goldlettern: La France à Turenne. Die linke Seite enthält den
Todestag: Ici Turenne fut tu6 le 27 Juillet 1675. Die Rückſeite ſchmückt Turennes
Wappen. Darüber iſt das Jahr der Errichtung verzeichnet: Erige en 1829. Pie
linke Seite verherrlicht die Siege des Feldherrn: Arras, Les Dunes (Niederlande),
Sinsheim (Baden), Entzheim, Türkheim (Elſaß). Die Kriegskunſt hat Turenne
übrigens von einem deutſchen Feldherrn, von Bernhard von Weimar, gelernt.
Als Symbol des Kriegers umgibt ein Gitter aus Lanzen und Hellebarden das
Denkmal. Ein alter dreiſciliger Oenkſtein links vom neuen Denkmal enthält die
drei Inſchriften: Joi fut tus Turenne. Hier iſt Turennius vertoetet worden. Hie
Deoidit Turennius Die 27. Julii Anni 1675. Weiter links ſteht noch heute det
Riegelsberger: Ein Schandmal auf der deutſchen Erde 549
Strunk des Nußbaumes, unter dem der tote Turenne vom Pferde genommen
wurde. Ein neuer, efeuumrankter Nußbaum iſt aus der verwitterten Wurzel des
alten herausgewachſen. Außerhalb der Anlage auf der linken Seite befindet ſich
das Haus des franzöſiſchen Wächters. Dort findet man nach zeitgenöſſiſchen fran-
zöſiſchen Quellen das Geſchichtliche über Turennes Tod und die Schlacht bei Sas-
bach, wodurch die immer wieder aufgewärmte Legende widerlegt wird, eine Kugel
habe einen Aſt von dem Nußbaum heruntergeriſſen, unter dem Turenne ſich auf-
hielt, und der herabfallende Aſt habe den Feldherrn getötet. In Wahrheit ſtarb
Turenne gar nicht unter dem Nußbaum, den man mit aller Sorgfalt und Ehr-
furcht bis heute zu erhalten ſuchte. Nachdem er unter dem Nußbaum gefrühſtückt
hatte, ritt er in öſtlicher Richtung gegen die Vorhügel des Schwarzwaldes, da
man ihm verdächtige Bewegungen der Kaiſerlichen an den Hängen des Schwarz-
waldes gemeldet hatte. Kaum waren ihm die frohlockenden, ſiegesgewiſſen Worte
entfahren: „Diesmal ſollen ſie mir nicht entwiſchen“, als eine feindliche Kugel
feinem Adjutanten den Arm wegriß und ihn in den Magen traf. Ein zeitgenöſſi-
ſcher Stich im Gaſthaus zum Sternen in Sasbachwalden zeugt für die Richtigkeit
dieſer Darſtellung. Das Pferd Turennes, die „Elſter“, ſprengte mit dem toten
Körper zurück zum Nußbaum, wo man den Leichnam vom Pferde nahm. „Die
„Elſter“ wird uns zum Siege führen!“ riefen die führerloſen franzöſiſchen Offiziere,
aber des Kaiſers tüchtiger Feldherr Montecuculi wies den Franzoſen den Weg
über den Rhein zurück. Der Körper Turen ies wurde nach der damaligen Methode
nach Herausnahme der Eingeweide einbalſamiert und nach Frankreich gebracht.
Die Eingeweide wurden in der St. Nikolauskapelle in Achern beigeſetzt.
Da Sasbach im alten Reich zum Bistum Straßburg gehörte, ſo war es für
die dortigen Biſchöfe, die feilen Französlinge aus dem Hauſe Fürſtenberg und
die franzöſiſchen Hofbiſchöfe aus der Familie Rohan, ein leichtes, ein Gelände
zu erwerben und dem gefallenen Franzoſen einen Oenkſtein zu ſetzen. Unbegreiflich
iſt es aber, daß das heutige prunkvolle Denkmal zur ewigen Schmach Deutſch⸗
lands nach den Freiheitskriegen 1829 errichtet werden konnte. Unbegreiflich iſt
auch, daß ein großes Stück des Geländes, das den Anſchluß an die Landſtraße
herſtellt, erſt im Fahre 1840 mitten aus dem Sasbacher Pfarrgut herausgeſchnitten
wurde und durch Kauf in franzöſiſchen Beſitz überging. Etwa fünfzig Schritte
vor dem Denkmal iſt der Weg durch eine Gittertür abgeſperrt. Dahinter ſteht eine
Tafel mit der Warnung: „Das Abſingen von Liedern und Aufſpielen von Muſik-
ſtücken ſowie das Halten von Reden iſt in dieſem eingefriedigten Raume ohne Er-
laubnis des Wächters verboten. Bürgermeiſteramt.“ Zt es nicht zu verwundern,
daß ſich eine deutſche Behörde findet, welche unter dieſe freche franzöſiſche An-
maßung in deutſchem Lande noch ihr Siegel drückt? Wie konnte ſich der badiſche
Oberamtmann in Achern zu ſo etwas hergeben! Kann man denn die Ruhe des
Toten ſtören, der ja in Frankreich begraben iſt? Die Warnungstafel erinnert uns
an die ſchlimmſten Zeiten vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende der Freiheits-
kriege, in denen ſich der OSeutſche von den übermütigen Franzoſen alles gefallen
ließ. Wäre in Frankreich ein Denkmal eines auf franzöſiſchem Boden gefallenen
deutſchen Feldherrn überhaupt möglich? Wir aber dulden heute noch nach den
550 | Anger: Nächte im Felde
ſchlimmſten Erfahrungen des Weltkrieges, in dem unſere wehrloſen gefangenen
Brüder in Frankreich auf das niederträchtigſte behandelt werden, das Denkmal
eines franzöſiſchen Eroberers, der im Dreißigjährigen Krieg und in den folgenden
Raubkriegen Ludwigs XIV. Deutſchland aufs unſäglichſte mißhandelte und den
Krieg mit der unerhörteſten Härte und Grauſamkeit führte. Nachdem 1648 überall
im deutſchen Lande der Friede verkündigt war, ließ Turenne durch ſeine abziehende
wilde Soldateska deutſche Städte, die dem Frieden trauten, ausplündern und
in Aſche legen, unter andern das Benediktinerkloſter Neresheim und die unglüd-
liche Reichsſtadt Weil. Turenne befahl die unmenſchlichſten Schandtaten oder
ließ ſie zu. So ließ er den deutſchen Grafen von Solms, der ſich zur Teilnahme
am franzöſiſchen Nachekrieg gegen Holland 1672—78 nicht zwingen laſſen wollte,
totprügeln. Kurfürſt Karl Ludwig von der Pfalz ſah in demſelben Kriege von
ſeinem Schloſſe Friedrichsburg aus ringsum Städte und Dörfer brennen, die
der Mordbrenner Turenne aus bloßem Mutwillen anzünden ließ. In edlem
Zorn forderte ihn der Kurfürſt zum Zweikampf, aber Turenne entſchuldigte ſich
mit ſeiner gewöhnlichen Ausflucht, im Kriege gehe es eben nicht anders her.
Und dieſer Mordbrenner wird mitten in Deutſchland durch ein Denkmal
verherrlicht! Wann werden wir Oeutſche uns endlich aufraffen, den franzöſiſchen
Grundbeſitz in Sasbach zu enteignen, den für jeden echten Deutfchen Stein des
Anſtoßes, dieſen Schandfleck auf deutſchem Boden, das Denkmal Turennes, ent-
fernen? Einen armen deutſchen Kriegsbeſchädigten könnte man mit dieſem fran-
zöſiſchen Grundſtück und Haus in einer der geſündeſten, ſchönſten und fruchtbarſten
Gegenden Deutſchlands zu einem glücklichen, wohlhabenden Manne machen.
Is PER
0 iR x a: 2617 42 TER KIN N. 22 85 Aa 7
Mächte im Felde Von Hellmuth Unger
Nächte gibt es, da ſind wir euch ſeltſam nah
Und können träumend hundert Meilen durchfliegen,
So oft unſern Wünſchen heimliches Wunder geſchah,
Sternenketten zur Erde hernieder ſich biegen,
Bilden Brücken und Stege mit flimmerndem Schein,
Führen aus allen Landen zur Heimat hinein.
Vom Wolgaufer, vom Dnjeſter, aus Polen,
Wo in Sümpfen braakige Holzſtämme kohlen,
Aus Rußland und Welſchland, vom Kreuze des Südens her,
Alle wandern zur Heimat, die kämpfen zu Lande und Meer.
Und die nicht träumen dürfen, weil fie fern auf Poſten ſtehn,
Zu denen Frauenſchritte und Kinderfüße gehn,
Gleitend und trippelnd. Die Sternenbrücke hält aus,
Führt vom vorderſten Graben bis zum Vaterhaus.
Wr
Grotthuß: Unſere „moraliſche Offenfive" 551
AUnſere „moraliſche Offenfibe⸗
Von 9. E. Frhrn. v. Grotthuß
o iſt es denn auf vielfeitiges Verlangen endlich Ereignis geworden:
ein deutſcher Minifter iſt in die Schranken getreten, um auf die
ſyſtematiſchen und nichts weniger als erfolgloſen moraliſchen An-
würfe unſerer Feinde Rede und Antwort zu ſtehen. Der Kolonial-
Kantefetvetär (ohne Kolonien) Dr. Solf hat gegen Lord Balfour feinen Mann
geſtellt und iſt unſererſeits zur „moraliſchen Offenſive“ übergegangen. Wir ſind
ja nicht verwöhnt, dürfen daher den Mund ſchon etwas vollnehmen und eine
„Offenſive“ nennen, was im Grunde doch wieder nur eine Defenſive war, wenn
man die jedem Vorſtoße vorausgegangenen weitgehenden Zugeſtändniſſe und
Rechtfertigungen in Rechnung ſtellt. Der Wille war gut, die Abſicht lobenswert, —
ſoweit es ſich um die Abwehr allzu robuſter Lügen handelte, auch geſchickt und
gelungen. Eines außergewöhnlichen Aufwandes bedurfte es dazu freilich nicht,
weil die Beweismittel billig wie Brombeeren waren und ſo handgreiflicher Natur,
wie die Lügen auch. Der Erfolg —? Ihn brauchen wir nicht erſt abzuwarten,
denn er wird nicht eintreten. Viel eher darf man von einem der Gegenpartei
in den Schoß geworfenen Erfolge reden, denn ſo ſtarke Bindungen, wie z. B.
durch die Erklärung über Belgien („Wiederherſtellung“ ohne Umſchweif,
ohne Vorbehalt), hat ſich unſere Kriegszielpolitik von Amtes wegen bisher noch
nie, ſelbſt unter Bethmann nicht, auferlegt, und das will viel, wenn nicht alles ſagen.
Außerhalb der politiſchen Kinderſtube „Deutſchland“ kann und wird die
„moraliſche Offenſive“ Dr. Solfs bei allen real Dentenden nur einen Eindruck
hinterlaſſen: es muß den Deutſchen doch heftig auf den Nägeln brennen. Sie
haben im Weiten militäriſche Schlappen erlitten und wollen ſich nun mit ver-
mehrter Geſchwindigkeit aus dem Kriege herausziehen. Mit offenen Friedens-
angeboten dürfen ſie ſich aber aus ſattſam bekannten Gründen nicht mehr und
gerade jetzt nicht hervorwagen. In ihrer Verlegenheit find fie nun auf den Aus-
weg verfallen, eine maskierte Friedensoffenſive zu unternehmen, indem ſie ſich
eine Löwenhaut umwerfen und ſo tun, als wollten ſie dem Gegner grauſam auf
den Leib rücken. Aber die Löwenhaut hält nicht dicht und ſoll es auch nicht. Denn
bei allen großen Worten kommen ſie doch in der Sache ihren Feinden ſo weit
und ſo unverhüllt entgegen, wie dieſe ſelbſt es kaum erwartet haben werden. Was
kann da anders hinterſtecken, als eben die alte Übung, nur in neuer Aufmachung?
So werden, von den Feinden gar nicht zu reden, auch die ehrlich Neutralen
unſere „moraliſche Offenſive“ auffaſſen, wenn es auch nicht immer in ihrem
Intereſſe liegen wird, das offen auszuſprechen. Denn auch fie haben keinen fehn-
licheren Wunſch, als daß der Krieg je früher um ſo lieber ein Ende nehme und
werden alle Anknüpfungspunkte zur Aufnahme neuer Verhandlungen begrüßen.
Es wird daher von dieſer Seite auch nicht an freundlichen Stimmen fehlen, aber
die dürfen uns nicht über den wirklichen Eindruck und Erfolg dieſer amtlichen
deutſchen Kundgebung täuſchen. Selbſttäuſchung wird uns, je länger der Krieg
552 Grotthuß: Unſere „moraliſche Offenſtve“
dauert, zu um ſo größerer Lebensgefahr und ſchließlich zum Selbſtmord. Wer
die Gefahr erkennt, ihr mit offenen Augen begegnet, der kann ſie überwinden;
wer die Augen vor ihr verſchließt, iſt rettungslos verloren und hat es nicht beſſer
verdient, denn er iſt ein Narr oder moraliſcher Feigling. Für beide hat eine Welt,
in der mit eiſernen Würfeln um das Höchſte und Letzte geſpielt wird, keinen Raum.
Der ganze Vorgang hat ſich wieder — es war ja auch unter den gegebenen
„gottgewollten Abhängigkeiten“ kaum anders zu erwarten — in typiſcher deutſcher
Weiſe abgeſpielt, typiſch ſchon wegen des gewählten Augenblicks. War ausgeſucht
dieſer Augenblick der „pſychologiſche“ zu einer ſolchen Offenſive — faſt un-
mittelbar nach den bekannten militäriſchen Ereigniſſen im Weiten? Wohl hätte
er glücklich, genial gewählt ſein können, wenn die „Offenſive“ ſelbſt eine glückliche,
geniale geweſen wäre. Dann hätte ſie aber ganz anders ausſehen müſſen. Mo-
raliſch gebrandmarkt, geſchunden hätten die blutrünſtigen Kriegstreiber aus ihr
hervorgehen müffen, die ſcham- und gewiſſenlos ihre Völker mit allen teufliſchen
Künſten zur Schlachtbank peitſchen, jeden natürlichen Aufſchrei der gepeinigten
Kreatur in ihren eigenen Reihen mit erbarmungsloſer Henkersfauſt erwürgen, des
Blutſaufens kein Ende finden können, und ginge die ganze Menſchheit darüber
zugrunde und bevölkerten dieſe in Jahrmillionen erkämpfte und bebaute Erde
nur noch Tiere, die einander zerfleiſchen, nur weil das andere Tier auch leben
und ſich ſeines Daſeins erfreuen will. Was waren da auch politiſch noch für
Rüdfichten zu nehmen? Mit den Balfour, Lloyd George, Clemenceau und Spieß
geſellen werden wir doch zu keinem auch nur den beſcheidenſten Anſprüchen eines
freien und unabhängigen, wirtſchaftlich lebensfähigen Volkes gelangen, jedenfalls
nicht nach den von uns unbelehrbar geſchwungenen Methoden.
Aus dem gleichen Metall hätte unſere Erklärung zur Friedensfrage ge-
ſchmiedet werden müſſen: daß es Srrfinn ſei, von uns zu wähnen, wir ließen uns
durch irgendwelche militäriſchen Rückſchläge, wie fie in jedem Kriege nur felbit-
verſtändlich und unvermeidlich ſind, auch nur einen Augenblick lang in unſerer
Zuverſicht beirren oder erſchüttern; daß wir, wie der ganzen Welt kundig, uns
jederzeit zum Frieden bereit finden ließen und auch fürder würden bereit finden
laſſen; daß aber die erſte, bedingungsloſe Vorausſetzung dazu ſei: eine feierliche
und verbürgte Verzichtleiſtung auf allen und jeden Vernichtungswillen. Dann
erſt könnten wir es mit unferer Ehre, Freiheit und Sicherheit vereinbaren, ernit-
haften Friedensverhandlungen näher zu treten. Schmach und Schande über
den Wicht, der ſich mit einem Gegner an einen Ciſch ſetzt, der ihm offen ins Geſicht
ſchleudert, daß er für ihn ein verächtliches, ſchmutziges Tier ſei, das er bei nächſter
Gelegenheit zu erdroſſeln und auf den Schindanger zu werfen feſt entſchloſſen
ſei. Wenn die Feinde ſich das erträumten, dann ſollten ſie ein Wecken erleben,
daß ihnen zu ſolchen Träumen für lange die Luſt vergehen würde. Man ſpotte
zwar über deutſche Schwäche und Gutmütigkeit, und wir Deutſchen ließen uns
das gefallen, aber nur im Bewußtſein unſerer Stärke. Wer uns auf die letzte
Probe ſtellen will, der ſoll noch in einem fünften oder ſechſten oder ſiebenten Kriegs
jahre fein blaues Wunder an uns erleben, das Wunder unverwüftlicher deutſcher
Kraft und Selbſtbehauptung, das unſer Herrgott noch nie ſeinen deutſchen Kindern
Srottyuß: Unſere „morallſche Offenfive“ 553
verſagt hat, wenn der Feind ihnen an Leben und Freiheit, an ihr Heiligſtes und
Teuerſtes wollte! Wohlan denn, wenn ihr's nicht anders wollt, laßt's darauf
ankommen! Uns werdet ihr bereit finden! Auch ihr ſeid ſterblich, auch eure Hilfs-
mittel erſchöpfen ſich —: wir werden es abwarten, bis ihr genug habt! Nun wißt
ihr, woran ihr mit uns fein! Wählt!
In dieſem Gedankengange etwa hätte ſich die moraliſche Offenſive bewegen
ſollen. Aber dazu hätte ja unſere Regierung erſt die Genehmigung einer hohen
Reichstagsmehrheit einholen müſſen, und die wäre ihr wohl verſagt worden.
Die Rede Solfs wurde denn auch mit ehrfürchtigen moraliſchen Augenaufſchlägen
zu den Thronen der herrſchenden Parteien geſprochen, um von den Mienen
der Gewaltigen abzuleſen: Nicht wahr, ſo iſt's doch richtig?
Der Knüppel lag wieder einmal beim Hunde, und der Hund an der Kette.
Wie ſoll eine auswärtige Politik Erfolg haben, die ſich das „Geſetz des Handelns“
von den Vertretern innerpolitiſcher Parteiintereſſen vorſchreiben läßt? Neigt
doch ein großer Teil unſerer Volksvertreter — bewußt oder unbewußt — auch
heute noch dazu, ihre innerpolitiſchen Parteiintereſſen über die Fragen der aus-
wärtigen Politik zu ſtellen: jene ſeien doch letzten Endes wichtiger. Der Krieg
müſſe ſo oder fo einmal ja doch fein Ende finden, und dann käme alles auf die
Stärke und den Einfluß der lieben Partei an — ein wenig wohl auch auf den des
Mandatinhabers. Oder nicht?
War es nötig, die „moraliſche Offenſive“ gegen unſere Feinde mit einer
ſolchen gegen die eigenen Volksgenoſſen und gerade den Teil zu verquicken, an
dem doch der völkiſche Sieges und Selbſtbehauptungswille feinen feſteſten Halt
und ſeine ſtärkſte Stütze findet? Dieſe doch immer als treue und ehrliche Diener
der deutſchen Sache bewährten Volksgenoſſen den Feinden auszuliefern, ſie als
Opfer auf dem Altare einer — „Friedensoffenſive“ darzubringen? Muß nicht
gerade dieſe Abſchüttelung und Auslieferung der „Alldeutſchen“ (ein Wort, das
nur den Begriff „bewußtes Deutſchtum“ umſchreiben, verſchleiern ſoll) den Ein-
d ruck verſchärfen, daß in der Tat nur eine Friedensoffenſive, eine Rückzugskanonade
unternommen wurde? Kann ſich die engliſche Bulldogge ein größeres Feſt er-
warten, als wenn der deutſche Simſon ſich ſelbſt die Locken abſchneidet, die ihn
unüberwindlich machten —: „So iſt's recht von euch, ihr braven deutſchen Kind-
lein! Zerbrecht nur erſt euer eigenes Rückgrat und dann kommt vertrauensvoll
mit uns verhandeln. Vir werden euch ſo liebevoll in die Arme ſchließen, daß ihr
aus eurem Vertrauen gar nicht erſt zu erwachen braucht!“
Aber die Abſchüttelung und Preisgabe der „Alldeutſchen“, oder, wie Dr.
Rohrbach ſich ausdrückt, der „große Trennungsſtrich“ zwiſchen dieſen und der
Regierung, war ja die von gewiſſen bekannten Seiten vorgeſchriebene Bedingung,
ohne deren gehorſamſte Erfüllung jede „moraliſche Offenſive“ ſcheitern müſſe. Erſt
die Exponenten des Selbſtbehauptungswillens ſtreichen, dann muß ja die Rechnung
ſtimmen! Auf wunderliche Pferde wird im „Deutſchland“ des fünften Kriegsjahres
gewettet, und alle find fie — Steckenpferde. Derweilen geht unter den flammen-
ſtiebenden Hufſchlägen raſenden Geſchehens eine Welt in Trümmer. O Deutſch-
land, du große Kinderſtube ...
.......
‚eo. .
rr err æ⸗
“ 2 3
„„
ame,
EIN
ne
1 D
en
1 ES, u. a
| 2 IN ,
R 9 RE
FRE; UN DIT
_ Rumafhau —
— —h-1p —
Deutſchtum im alten Polen
sit nahezu ſiebenhundert Jahren haben die Deutſchen in Polen Siedlungsrecht.
Nachdem ſchon im 11. Jahrhundert unter Kaſimir J. deutſche, beziehungsweſſ
9 FR
*
168
.
5
—
} % er)
ö ATI.
— — — — —
in der Nähe Krakaus belegenen Abtei, zu der hundert Oörfer gehörten, eine umfangreiche
kulturelle Wirkſamkeit, insbeſondere Bautätigkeit entwickelten, nachdem dann zu Ende des
11. Jahrhunderts durch Judith, die zweite Frau des Herzogs Ladislaw Hermann, Tochtet
Heinrichs III. und deren ſchwäbiſchen Hofkaplan und Baumeiſter Otto erneut Same deutſcher
Kultur geſät wurde, waren es die Oeutſchen, die nach dem fürchterlichen Mongolenſturm von
1241 das gänzlich vernichtete geiſtige und wirtſchaftliche Leben Polens in Blüte brachten.
Deutſche Arbeit und deutſches Kapital verwandelten die troſtloſen Brand- und Trümmerftätte
des Landes wieder in regſame Städte. Polens Adel und Geiſtlichkeit beeilten ſich, überd
deutſche Kolonien zu gründen. Man war damals der deutſchen Hilfe froh.
In kurzem entwickelte ſich das allgemeine Leben auf der Grundlage der im römiſchen
Reich deutſcher Nation ſtatthaften Verhältniſſe. In Krakau und vielen andern Orten galt
deutſches (Magdeburger) Recht; herrſchte Deutſch als Amtsſprache. Die krakauiſchen
Stadtbücher, Rechtsurkunden, Zunftordnungen wurden deutſch — nur ein kleiner Teil latei-
niſch — geſchrieben. Dies währte vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. Eine der erſten wirtſchaft
lichen Schöpfungen der deutſchen Koloniſten war die Einführung des Bargeld verkehrs,
der fortan an Stelle des polniſchen Tauſchhandels trat.
Als Krakau, vordem ein Dorf, 1257 Stadtrecht erhielt, ſtanden ihm drei Vögte vor.
Zwei davon deutſche: Ditmar Wolk und Zakob, „der einftige Richter von Neiße“. Die auf
blühende Reſidenzſtadt war vorwiegend von Oeutſchen und zwar in der Mehrzahl von Schle⸗
ſiern bevölkert. Unter den Vögten finden ſich fortan nur wenig ſlawiſche Namen. Die Vögte
ſpielen eine politiſche Rolle. Zweimal, Ende des 15. und Anfang des 14. Jahrhunderts ſetzten
fie ſich für die Wahl eines deutſchen Kandidaten des polniſchen Throns, Heinrich IV. von Bres
lau und Boleslaw von Oppeln ein. Trotz blutiger Parteinahme für die ſchleſiſchen Fürſten
blieb Krakau unter den polniſchen Königen Reſidenzſtadt. Die reichen, deutſchen Ratsherren
der Stadt wurden die Gläubiger des Hofes.
Mächtig entwickelte ſich Krakau als Amſchlagsplatz des Welthandels. Hier ftapelte det
flandriſche wie der ungariſche, der venezianiſche wie der ruſſiſche Kaufmann feine Waren.
Die krakauiſchen Handelsherren erſchienen zu Lübeck auf den Hanſatagen. An dem weltüber
ſchattenden Baum der deutſchen Hanſa war Krakau dank deutſchen Anternehmungsgeiſtes
ein fruchtſchwerer Zweig. Glücklich gelegen an der Kreuzung großer Straßen nach Ptag,
Deutfhtum im alten Polen | 355
Breslau, Thorn, über die Rarpathen nach Ungarn, über Rußland nach dem Schwarzen Meer,
liefen hier von und nach allen Teilen des Kontinents die Warenkarawanen ein und aus. Hier
brachten die ungarn Vein und Getreide, brachten die Ruſſen Pelze, Honig, Wachs, Metalle,
brachten die Niederländer ihre berühmten Tuche, brachten die Schleſier Leinwand, brachten die
Weſtfalen Salz, brachten die Ztaliener Seide und Südfrüchte, brachten die Orientalen ihre
Gewebe und Waffen. Polen ſelbſt lieferte Holz, Felle, Leder, Blei. 1410 gründet die Kra-
kauer Kaufmannſchaft eine eigene Gilde.
Der Niedergang der Hanſa im 15. Jahrhundert hatte auch für den polniſchen Handel
ſeine Folgen; um ſo mehr als in dieſer Zeit durch die politiſchen Vorgänge im Südoſten, die
Eroberung Konſtantinopels durch die Türken, die orientaliſchen Handelsverbindungen einen
Abbruch erfuhren. Doch wußten die deutſchen Kaufleute damals die ſchon ſtets lebhaften
Beziehungen zu Prag zu ſtärken und nach dem mächtig erblühenden Nürnberg auszudehnen,
das wiederum Verbindung nach dem Rhein und Flandern erſchloß, ſo daß ſich an Stelle des
hanſeatiſchen Rundfahrweges um Europa — Weichſel, Oſtſee, Nordſee, Atlantiſcher Ozean,
Mittelmeer — jetzt eine kontinentale Binnenlinie oſtweſtlicher Richtung öffnete. Und Krakau
lag hier wiederum an der Straße.
Im ſtädtiſchen Patriziat häuften ſich bedeutende Vermögen. Ein gewiſſer Seyfried
Betmann, aus dem Elſaß gebürtig, ſeit 1464 Krakauer Bürger, ſpielte hier eine ähnliche Rolle
wie die Fugger in Augsburg. Als er 1515 ſtarb, hinterließ er eine Reihe Häuſer, darunter ein
Badhaus und ein Malzhaus; ferner außer der Stadt mehrere Gutshöfe und in Olkuſch ein
Hüttenwerk. Andere berühmte Großbürger waren die Schweidnitzer, die Ketzinger, die zu
Hofämtern gelangenden Boner. Die Töchter aus dieſen großbürgerlichen Familien heirateten
vielfach in den Landadel ein.
Neben der Kaufmannſchaft ſpielte auch das Handwerk ſeine nicht geringe Rolle. Auch
hier begegnen uns durchweg deutſche Namen. Die Bäcker, die Schneider, die Sattler, die
Glockengießer find faſt lauter Deutſche. In vielen Zünften war den Meiſtern die Aufnahme
von nichtdeutſchen Lehrlingen nicht geſtattet. Die Verhältniſſe lagen hierin ähnlich wie in den
Hanfaftädten. Ausnahmen bildeten in Krakau das Goldſchmiede- und das Schuſtergewerbe,
in dem viele Polen arbeiteten und auch als Meiſter vertreten waren. Das Siegel der Gold-
ſchmiedezunft jedoch war deutſch, und zwar eine verkleinerte Nachbildung des Siegels der Bres-
lauer Zunft. Es zeigte den hl. Eligius auf einem Thron ſitzend und an einem Becher arbeitend.
Am 1500 war die Zunft ſehr anſehnlich. Wir finden an deutſchen Namen: Georg Brenner,
Chriſtoph Brunsberg, Niklas Conraden, Paul Crauſe (Krauß ?), Hannes Zimmermann, Martin
Czinke, Menzel Czipſer, Hannes Gloger, Jakob von der Brudergaſſe, Joſt, Mathys Kochen-
dorff, Hans Koler, Hannes Konig, Merten Konig, Niclas Kugler, Hannes Kurz, Paul Monfthel-
berg, Gregor Nephoff, Nicolaus, Nozler, Preyß, Jörg Seyddenhaffter, Paul und Hannes
Selzer, Matis Stoß, Sweysgolt, Weidenholzer, Weynrich, Weyspaul, Paul Wunſchelberg.
Stoß trug ſich im Zunftbuch folgend ein: „Matis Stoß der Schwab als man mych nent hyr zu
Lant“. Schwab war im Ausland nicht ſelten ein Sammelbegriff für den Süddeutſchen, wie
heutzutage etwa Preuße für den Norddeutſchen. Die Stoß, Matis und ſein berühmterer Bruder
Veit, der Bildſchnitzer, ſtammten aus Nürnberg. Matis kam 1488, Veit bereits 1463 nach
Krakau, wo ſie reiche Aufträge fanden. Von Veit Stoß iſt der berühmte prächtige Hochaltar
in der Marienkirche, ein mehrflügeliger Schrein mit einer kribbeligen Fülle von Reliefs und
Freifiguren, ein echter Typus jener ſpätgotiſchen Altarwerke, die vor dem Beſchauer wie auf-
geſchlagene Nieſenbilderbücher ſtehen. Von Stoß iſt der Ölberg auf dem Marienplatz; von Stoß
iſt das Grabmal Kaſimirs IV. in der Kreuzkapelle des Domes, deſſen Ausführung in Marmor
Jörg Huber aus Paſſau oblag. Die Stoßſche Werkſtatt entwickelt einen ins Große gehenden
Betrieb. Sie hatte die Führung in der krakauiſchen Kunſtentwicklung. Zahlreiche Werke der
Plaſtik und des Kunſtgewerbes gehen auf fie zurück. Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
556 Oeutſchtum im alten Polen
hunderts vom Weſten herüberflutende Strömung geſchäftlichen Lebens trägt auf ihren Wellen
Blüten der Kunſt. Voran kommen Künſtler von Nürnberg. Der Nürnberger Stil verdrängt
den böhmiſchen, in deſſen Bahnen ſich vordem die polnischen Rünftler bewegten. Die Königin
Eliſabeth, eine Habsburgerin, als eifrige Förderin der Künſtler berühmt, läßt für die Kreuz⸗
kapelle des Domes ein großes Altarwerk von Hans Pleydenwurff malen. N
Im 16. Jahrhundert mehren ſich die Namen deutſcher Künſtler. Albrecht Dürers
Bruder Hans läßt ſich in Krakau nieder und tritt 1529 in königliche Dienfte. Er und ein
Maler Blaſius führen im neuen Schloß Wandgemälde aus. Zo ach im Libman aus Dresden
iſt ebenfalls für den Hof tätig. Hans von Kulmbach, durch die reichen Boner, eine der
führenden Familien der Stadt, herbeigerufen, malt für die Marienkirche den wundervollen
Cyklus des Martyriums der hl. Katharina. Für dieſelbe Kirche arbeitet auch Michael Lentz
aus Kitzingen. Aus Nürnberg kommt Sebald Singer. Zahlreiche Werke der Peter Viſcher⸗
ſchen Gießhütte, bronzene Grabplatten, Epitaphien und größere Denkmäler, wandern nach
Krakau. Zu beſonderem Glanz entfaltet ſich das Kunſtgewerbe, wovon die Schatzſamm-
lungen der Kirchen und Muſeen einen ungefähren Begriff geben. Auch hier ſteht wiederum
deutſche Arbeit voran. Da find die köſtlichen Werke der Gold ſchmiedekunſt, die getriebenen
und emaillierten Kelche, die mit Edelſteinen und Gravüren gezierten Vortragskreuze, die in
Silber und Gold gefaßten Elfenbeinſchnitzereien, die Pokale von orientaliſchem Glas mit
figurengeſchmückten Silberfüßen, die überaus herrlichen Reliquiare, an denen alle Techniken
des Emails, Metalls, der Bronze- und Elfenbeinplaſtik vertreten find. Wir haben oben ge-
ſehen, wie viele Goldſchmiede um die Wende des 15. Jahrhunderts in Krakau tätig waren.
Wir finden, wo wir in die Zunftbücher blicken, Scharen von Malern, Schnitzern, Stickern,
Töpfern, Tiſchlern, Buchbindern, Gürtlern, Medailleuren. Ein Heer, in ſteter Waffenübung
für den Ruhm einer glänzenden Kultur! In der von Schätzen ſtrahlenden Sigismund kapelle
im Dom ſteht ein Hauptwerk nürnbergiſcher Kleinkunſt, der von Sigismund I. nach dem
Siege von 1558 über die Tataren geſtiftete ſilberne Flügelaltar mit den Holzreliefs von Peter
Flötner nach Oürerſtichen, dem Bronzeſchmuck von Pankraz Labenwolf und der getriebenen
Silberarbeit von Melchior Bayr. Um dieſe Zeit iſt us ein Bruder Dürers, der Goldſchmied
Andreas Dürer in Krakau tätig.
Neben den Künſten blühen die Wiſſenſchaften. Die von Kaſimir dem Großen begründete
Hochſchule iſt eine wichtige Filiale deutſcher Gelehrſamkeit. Hier lehrt 1411 Petrus von Landau,
1489—91 Konrad Celtes. Im 16. Jahrhundert ſammelt ſich ein ſtattlicher Schwarm deut-
ſcher Humaniſten: Johann von Sommerfeld, Georg Schmid aus Meißen, Laurenz Rabe-
Corvinus aus Neumarkt, Bartholomäus Stein aus Brieg, Erasmus Beck aus Krakau, Bern-
hard Feyge aus Breslau, Michael von Sternberg aus Ellguth, Valentin Eck aus Lindau, Se-
baſtian Steinhofer aus Hall. Thomas Murner, Johann Aventin und Rudolf Agrikola.
Mit den Gelehrten erſcheinen auch Buchdrucker, die in Krakau ihre Offizinen eröffneten: Mel-
chior Frank, Schweigold Fiol aus Franken — vielleicht ein Mitglied der gleichnamigen Frank-
furter Malerfamilie —, Florian Ungler, Kaſpar Hochfelder aus Meb, Hieronymus Victor,
Mathias Scharffenberg, Johann Beyer, Wolfgang von Pfaffenhofen und vor allem Zo hann
Haller aus Rothenburg, der in der Nähe Krakaus eine eigene Papiermühle hält.
Die polniſche Neſidenz iſt im Mittelalter und weit darüber hinaus eine durchaus deutſche
Stadt. Die Gelehrten, die Künſtler, die Handwerker bilden nicht etwa nur Kolonien. Der
ganze Charakter der Stadt iſt deutſch. Man braucht nur die alten Gaſſennamen zu leſen. Da
iſt die Breite Gaſſe, die Burggaſſe, die Brudergaſſe, die Spittelergaſſe, die Sugaſſe (Saugaſſe),
die Zſchugaſſe (Schuhgaſſe), der Hünermarkt, das Newetor, die Bleiche. Da iſt an öffentlichen
Gebäuden und Zunfthäuſern: das Rathaus, Dinghaus (Gerichtsgebäude), Zayghaus, Rauff-
kammer, Gerbhaus, Korſchnerhaus, Melzhaus, Cimmerhoff (Zimmerleuthaus), Vleiſchbank,
Kutelhoff, Brotbank, Brenngadem (Gold- und Silberſchmelze), Schergadem und Feldkammer
Her Mord im Dienfte unſerer Feinbe ö 557
(für Tuchfabrikation), Walkmole (Walkmühle), Eyjenwage, Bleiwage, Wachswage. Für die
bürgerlichen Anweſen find die Bezeichnungen Hof und Hofſtat allgemein. ** 5
Erſt Ende des 16. Jahrhunderts tritt in der polniſchen Königsſtadt das Polentum in
den Vordergrund. Aber wie ſich die Poloniſierung vollzieht, beweiſt die Sprache, die für lange
hinaus ein poloniſiertes Deutfch bleibt. So nennen fi die Ringmacher noch 1637 in ihrer
Zunftordnung „ringmacherowie“. Die Steinmetzzunft nennt ſich 1618 „cech ſtamecki“. Hütte
heißt Huta, Stahl ſtaly, Schloſſer ſluſarz, Riemer rymarz, Maurer murarz, Meifterftüd maiters-
ſztyk, Wochenlohn wochlon. Manche Zünfte, wie die Kordelmacher, wehrten ſich energiſch
wider die Einführung des Polniſchen. Erſt im 17. Jahrhundert ſetzte es ſich allgemein durch.
Dennoch finden ſich bis gegen das 18. Jahrhundert gelegentlich noch deutſch verfaßte Amts-
erlaſſe, alſo bis zur Einverleibung in den öſterreichiſchen Staat!
Als Geſamtbild, wenn wir die Entwicklung von Jahrhunderten verfolgen, ergibt ſich
eine ſtarke und glückliche Befruchtung der polniſchen Kultur durch die deutſche. Polen tritt
faßbar ins Licht der Geſchichte im 10. Jahrhundert als deutſcher Vaſallenſtaat. Seine große
Zeit unter dem aus Litauen ſtammenden Geſchlecht der Jagellonen, 1386—1572, iſt durchſetzt
von deutſcher Kultur. In Kunſt, Wiſſenſchaft, Handel, Gewerbe, in allen Adern des polniſchen
Staatsorganismus pulſt deutſches Blut. Der moderne polniſche Chauvinismus ſollte nicht
vergeſſen, was Polen dem Oeutſchtum ſchuldet. Mela Eſcherich
AB
Der Mord im Dienſte unjerer Feinde
u Beginn und im Verlaufe des Weltkrieges hat ſich eine Reihe von Morden und
Anſchlãgen zugetragen, als deren letztes Opfer wir den Feldmarſchall von Eichhorn,
O einen unſerer Beſten, beklagen müſſen. Noch heute, ſchreibt die „Oeutſche Tages-
N fragt man nach den intellektuellen Urhebern aller dieſer Geſchehniſſe und nach dem
tieferen Zuſammenhang, der ſie alle in die Rubrik des Mordes zu politiſchen Zwecken einreiht.
Beſteht nicht eine Verbindung zwiſchen der Untat in Seraje wo, die ſich am 27. Juni zum vier-
ten Male jährte, und der Ermordung des franzöſiſchen Kriegsfeindes Faurés, zwiſchen dem
Anſchlag auf Sir Roger Caſement und der Ermordung Rasputins u. a.? Am 31. Juli 1914
wurde Jaurès im Café Croiſſant am Boulevard erſchoſſen, der „Kriegsfeind“, der, wie Au-
burtin in ſeinem ſehr leſenswerten Buche ausführt, ſo oft „von den Freundſchaften der Völker
geſprochen hat“. Der Mörder aber iſt nicht zu finden, ſoll nicht gefunden werden, wird der
Gerechtigkeit entzogen, und die, ach ſo mächtige Sozialiſtenpartei Frankreichs tut, als ſei ihr
von der ganzen Geſchichte nicht das geringſte bekannt. Dann und wann fliegt einmal eine Ente
hoch, wird fo getan, als wolle man unterſuchen, aber dieſes Getue iſt derart plump, daß nie-
mand darauf hineinfallen kann. An einen Prozeß gegen den Mörder Zaures glaubt heute in
Frankreich niemand mehr und am allerwenigſten der Mörder ſelber. Vielleicht denkt man
ſogar, daß dieſer plaudern kann, wie Sir Roger Caſement geplaudert hat. Den engliſchen
Geſandten in Chriſtiania, den ehrbaren Mijter Find lay, hat der erſchoſſene FJrenführer in
einem offenen Schreiben an die ganze Welt des Anſchlages bezichtigt und feine Urheberſchaft
an dem Mordverſuch erwieſen. Was tat's? Der Hof in Chriſtiania weiß den Londoner Ge-
ſandten — an ſeine Abberufung dachte und denkt niemand — offenbar nicht nur über die Ode der
Stadt, ſondern auch über die Beſchuldigung hinwegzuführen. Es wäre einfach lächerlich, wenn
man noch an eine Beſtrafung oder auch nur geſellſchaftliche Rüge dieſes Mannes glauben wollte.
Word und Brandſtiftung gehören zuſammen, auch unter den politiſchen Kampfmitteln
der Entente. Als der König Konſtantin ſich ſtandhaft weigerte, ſein Land in den Weltkrieg
558 Zum Tode Peter Gaſts
reißen zu laſſen, brannte der Wald von Tatoi ab, und es war beinahe ein Wunder, daß das
königliche Schloß nicht mit ſämtlichen Inſaſſen vernichtet wurde. In Athen wies man mit
Fingern auf den Täter, und der franzöſiſche hohe Kommandant Jonnart und der ehrbare Ad-
miral Fourner werden wohl noch heute einigermaßen um dieſe Dinge Beſcheid wiſſen. Aber
unterſuchen, verurteilen, damit hat es gute Weile, und Herr Venizelos weiß ſich wirklich mit
der Entente angenehmeren Dingen zu beſchäftigen.
Vielleicht denkt er daran, den Balkan als Vetterwinkel Europas zu erhalten. Inwie⸗
weit er darin vor allem mit der Königin Maria von Rumänien Hand in Hand gehen kann
und wird, bleibt abzuwarten. Die Königin Maria dürfte da auch in der Lage ſein, Auskunft
über jenes auf dem Balkan ſehr gebräuchliche Gift zu geben, deſſen Wirkungen den ſehr ge-
legen kommenden Tod König Karols hervorgerufen haben. In die Reihe der politiſchen
Morde gehört der Tod dieſes Mannes zweifellos; nur daß ſich die Entente diesmal anderer
Werkzeuge bediente.
Inwieweit aber Graf Witte demſelben Gift zum Opfer gefallen iſt, ſteht nicht feſt.
Schließlich kommt es ja auch weniger auf die Natur, als auf die Wirkung des todbringenden
Mittels an. Diejenigen, die über das Verſchwinden ſeiner Tagebücher und Briefe etwas wiſſen
— und die ſind doch wohl noch am Leben —, dürften auch über die Todesurſache dieſes Mannes
Auskunft geben können.
Dem Tode Wittes gegenüber bedeutet der andere politiſche Mord auf ruſſiſchem Boden
nur eine fenfationelle Epiſode, weil man das Opfer doch nicht ganz in der ihm zugelegten Rolle
zu ſehen vermag. In den erſten Tagen des Januar 1917 wurde Ras put in ermordet, weil er
den Zaren zum Frieden beſtimmen wollte. Damals wurde ſofort der Fürſt Felix Zuffupow
als der Mörder bezeichnet; kurz darauf wurde bekannt — und damit war die Eiferſuchtsſzene
erledigt —, daß auch der damalige Minifter des Innern Choſtow und der Fürſt Llow, der nach-
malige Vorſitzende der erſten proviſoriſchen Revolutionsregierung, ihre Hand im Spiele hatten.
Dieſe Namen wieſen auf den engliſchen Botſchafter Sir Buchanan, und in der Tat
wußte ganz Petersburg, daß der Mord in jeder Weiſe ſein Werk war. Buchanan
indeſſen blieb und — machte die ruſſiſche Revolution, wie er heute die Gegenrevolution macht.
Die Herren Kerenski und Kornilow aber jagten noch einen Sommer hindurch ruſſiſche Sol-
daten für die Entente in den Tod.
2
Zum Tode 3
Leſer irgendwie bekannt vorkommen. Wer ſich eingehender mit Nietzſche 8
tigt hat, kennt ihn vom Titelblatt einiger Briefbände und vor allem als Empfänger
einer großen Zahl Briefe Nietzſches. Aber es iſt noch ein anderes um Peter Gaſt; die Namen
von „Herausgebern“ pflegen ſich den Laien nicht einzuprägen. Dieſes andere iſt etwas ge-
heimnisvoll. Zuweilen konnte man Andeutungen über ihn hören, als von einem „heimlichen
König der Muſik“, einem verkannten, boshaft unterdrückten muſikaliſchen Genie. Auch das
geht auf Nietzſche zurück, der immer erneut auf Gaſt als den Führer in das gelobte Land einer
neuen deutſchen Muſik hingewieſen hat und ſelber für die Gaſtſche Muſik begeifterungs-
trunkene Urteile im Übermaß bereit hielt. Wer ſich dann eingehendere Kenntnis zu verſchaffen
bemühte, machte merkwürdige Erfahrungen. Nur wenige Kompoſitionen waren gedruckt —
von den Opern nur „Oer Löwe von Venedig“ im Klavierauszug — und dieſe Werke zeigten
eine einfache, liebenswürdige Muſikernatur von melodiſcher Artung und gebildetem Geſchmack,
aber ohne jedes Anzeichen beſonderer Eigenart, überragender Größe oder auch packender
Zum Tode Peter Gaſts 559
Luſtigkeit. Auch beim freundwilligen Suchen vermochte man nirgends den Funken des Genies
aufblitzen zu ſehen. So wurde einem aus der Frage nach Peter Gaſt unvermerkt ein Rätfel
Nietzſche. Dieſem Rätſel jetzt bei Peter Gaſts Tode etwas nachzuſpüren, rechtfertigt nicht nur
die allgemeine Bedeutung Nietzſches, ſondern mehr noch die Tatſache, daß hier doch einige
Stimmungen und Ahnungen zugrunde liegen, die ſich bei der weiteren Entwicklung der Mufit
als bedeutſam erwieſen haben und uns für manche Frage des gegenwärtigen Muſiklebens
aufklãrend unterſtüͤtzen.
Zuvor noch einiges über den äußeren Verlauf der Beziehungen zwiſchen Peter Gaſt und
Nietzſche, womit wir dann gleichzeitig des erſteren Lebenslauf kennenlernen. Als Quelle
dient uns das „Thematikon“, das ein anderer aus Nietzſches Briefwechſel wohlbekannter Mu-
ſiker, Karl Fuchs in Danzig, 1890 zu Peter Gaſts Oper „Die heimliche Ehe“ — das der ur-
ſprüngliche Titel des „Löwen von Venedig“ — herausgegeben hat. Dieſem „Thematikon“
gehört eine Sonderſtellung in der „Führer“ Literatur; umfaßt es doch nicht weniger als zwei-
einhalb hundert Seiten. Die erſten 58 kommen auf eine allgemeine Einleitung, 200 Seiten
dienen der mit 240 Notenbeiſpielen unterſtützten Analyſe des Werkes. Noch niemals iſt um
ein harmloſes Kunſtwerk ein folder Wall muſikaliſcher Gelehrſamkeit und philoſophiſch-äſtheti-
ſchen „Tiefſinns“ aufgetürmt worden. Er bringt es denn auch unbedingt ſicher fertig, daß
kein Leſer dieſes Führers bis zu dem Werke gelangt, zu dem er führen will.
Machen wir einen möglichſt kurzen Auszug aus dem Biographiſchen, fo iſt Peter Gaſt der
Deckname für Heinrich Köſelitz, der am 10. Januar 1854 zu Annaberg im ſächſiſchen Erzgebirge
geboren iſt. Als Sohn einer wohlhabenden Familie konnte er ſeinen Neigungen nachgehen,
die ihn 1872 zur Aufgabe der Forſtlaufbahn und zum Übergang zur Muſik beſtimmten. Er
oblag gründlichen Studien bei dem bekannten Theoretiker und Thomaskantor C. F. Richter.
Bald aber führte ihn der Weg zu Nietzſche an die Univerfität Baſel. Das war durch Nietzſches
Wagner verhimmelnde Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiſte der Muſik“ (1872)
bewirkt worden. Gaſt hat mit Nietzſche die ganze Begeiſterung für Wagner und den Abfall
von ihm mitgemacht, war 1876 bei den Feſtſpielen in Bayreuth, hat 1878 bis 91 meiſtens
in Stalien gelebt, hat ſich dann menſchenſcheu in feinem Geburtsort Annaberg vergraben,
bis er 1900 ans Nietzſche-Archiv in Weimar überfiedelte und dort, wie ſchon erwähnt, an der
Herausgabe der Werke Nietzſches bedeutſamen Anteil nahm. Als Komponiſt hat er 1879
die ganz auf Wagners Bahnen ſich haltende Oper „Willram“ geſchrieben, während die zwei
Jahre ſpäter liegende Vertonung des Goetheſchen Singſpiels „Scherz, Lift und Rache“ be-
reits die Abkehr von Wagner ankündigt. Von den auf eigene Texte geſchaffenen Opern
„König Wenzel“ und „Orpheus und Dionyſos“ iſt der Offentlichkeit wohl nichts bekannt ge-
worden. Nietzſches Briefe beziehen ſich meiſtens auf die 1891 vollendete Oper „Die heim-
liche Ehe“, deren Klavierauszug zehn Jahre ſpäter unter dem Titel „Der Löwe von Venedig“
erſchien. Der Text iſt eine deutſche Bearbeitung von Cimaroſas einſt viel geſpielter „heim-
licher Ehe“. Dazu kommen noch eine Sinfonie „Helle Nächte“, aus der ein „Nokturno“ zu
den Lieblingsſtücken Nietzſches gehörte, ein Streichquartett, einige Liederhefte und Chöre,
und noch vor wenigen Monaten ſind mir vier Heeresmärſche und eine Vertonung des Gedichtes
der Zfolde Kurz „Oeutſches Schwert 1914“ zugegangen. Öffentlich zu hören war von dieſen
Werken faſt nichts. Die Oper „Der Löwe von Venedig“ iſt wohl nur in Danzig, dem Wir-
kungsorte von Karl Fuchs, aufgeführt worden, ganz vereinzelt ſtand einmal eines ſeiner Lieder
auf einem Konzertprogramm. |
Das iſt nun zwar kein Wertmaßſtab. Unſere Konzertſänger halten ſich mit Vorliebe
an eine geringe Zahl dem Publikum vertrauter Lieder, ſo daß viel Wertvolles überhaupt nie
öffentlich aufgeführt wird. Aber in dieſem Falle beruht das Schweigen doch wohl zu einem
guten Teile auf der ſtolz-beſcheidenen Zurückhaltung des Komponiſten, der nach allem, was
wir von ihm hören, ein echtes „Original“ war, dabei ein Mann von ganz ungewöhnlicher
560 gum Sode Peter Gaſts
Geiſtesbildung. Doch iſt ihm wohl nichts über ein geruhſam heiteres Leben gegangen, zu
deſſen Erhaltung er ſich unſerem lärmenden und verzehrenden öffentlichen Muſikbetriebe
tunlichſt fernhielt. N
Nietzſche ſelbſt hatte eine gute muſikaliſche Bildung. Wir beſitzen von ihm eine Reihe
Kompoſitionen, und feine Randgloſſen zu Bizets „Carmen“ beweiſen die Fähig keit der
muſikaliſchen Analyſe. Daß ſeine Werke in äſthetiſcher Hinſicht eine Fülle feiner Bemerkungen
über Muſik enthalten, iſt bekannt; bekannt auch, daß er, der in den beiden Schriften „Die Ge⸗
burt der Tragödie aus dem Geiſte der Muſik“ (1872) und „Richard Wagner in Bayreuth“
(1876) das tiefſt Schürfende über Wagners Kunſt geſagt hat, nachher im „Fall Wagner“
(1888) und „Nietzſche contra Wagner“ (1889) mit den ſchärfſten Kampfſchriften über den
früher ſo hoch Verehrten hergefallen iſt. Dieſe beiden Werke erſchienen unmittelbar bevor er
der Nacht des Wahnſinns verfiel. Der „Abfall“ von Wagner kündigt ſich aber viel früher an.
Schon im Winter 1884/85 ſchreibt er an den oben genannten Dr. Karl Fuchs: „Es vergehen
Jahre, in denen mir niemand Muſik macht, ich ſelbſt eingerechnet. Das letzte, was ich mit
gründlich angeeignet habe, iſt Bizets Carmen“ und nicht ohne viele zum Teil ganz unerlaubte
Hintergedanken über alle deutſche Muſik, über welche ich beinah ſo urteile, wie über alle
deutſche Philoſophie; außerdem die Muſik eines unentdeckten Genies, welches den Süden
liebt, wie ich ihn liebe und zur Naivität des Südens das Bedürfnis und die Gabe der Melodie
hat.“ Daß er damit Peter Gaſt meint, erhellt aus einem wenig ſpäteren Brief an Karl von
Gersdorff (9. April 1885), in dem er ſeine Abreiſe nach Venedig ankündigt: „... iſt der einzige
Muſiker dort, der jetzt Muſik macht, wie ich ſie liebe, nämlich unſer Freund Peter Gaſt, weißt
Du wohl, was den goldigen Glanz des Glücks, was echte Naivität, was Meiſterſchaft im Sinne
alter Meiſter betrifft, fo iſt dieſer Gaſt jetzt unſer erſter Romponift.“ Unſere Zeit ſei durch bie
„prätenziöſe und übertreibende Theatermuſik“ Richard Wagners arg verdorben. So iſt auch
das in dieſelbe Zeit gehörige Gedicht „Muſik des Südens“ auf Peter Gaſt gedacht:
„Nun wird mir alles noch zuteil;
Der Adler meiner Hoffnung fand
Ein reines, neues Griechenland,
Der Ohren und der Sinne Heil —
Mozart, Roſſini und Chopin —
Aus dumpfem, deutſchem Tongedräng —
och ſeh' nach griechiſchen Geländen
Das Schiff dich, deutſcher Orpheus, wenden.“
Die früheſte Stelle aber findet ſich in einem Briefe an Peter Gaſt ſelbſt (17. November 1880):
„Wahrlich, alles Gute der Muſik muß ſich pfeifen laſſen; aber die Deutſchen haben nie fingen
gekonnt und ſchleppen ſich mit ihren Klavieren: daher die Brunſt für die Harmonie.“ Ins
Ende des Jahres 1887 fällt dann die andere Stelle: „Man muß dem bornierten , deutſchen
Ernſt“ in der Muſik das Genie der Heiterkeit entgegenſetzen... Sie müſſen in rebus musicis
et musicantibus die ſtrengeren Prinzipien wieder zu Ehren bringen, durch Tat und Wort
und die Deutſchen zu dem Paradoxon verführen, daß nur heute paradox iſt: daß die ſtrengeren
Prinzipien und die heitere Muſik zuſammengehören.“
Das iſt ſchon ganz die Sprache des „Falles Wagner“, paßt zur Gegenüberſtellung
von Bizets ſüdlich wilder Oper gegen Wagners Muſikdrama und zu dem Satze: II faut
mediterraniser la musique. Auf Gaſt aber geht hier die Stelle: „Ich kenne nur einen Muſiker,
der heute noch imſtande iſt, eine Ouvertüre aus ganzem Holze zu ſchnitzen.“
Hören wir noch eine Briefſtelle an Erwin Rohde aus dem Jahre 1887, die uns wohl
die tiefſte Aufklärung gibt: „Man wird alt, man wird ſehnſüchtig; ſchon jetzt habe ich, wie jener
Zum Tode Peter Gaſts N 561
König Saul, Muſik nötig — der Himmel hat mir zum Glück auch eine Art David geſchenkt.
Ein Menſch, der mir gleichgeartet iſt, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit
Wagneriſcher Muſik aushalten. Wir haben Süden, Sonne um jeden Preis, helle, harmloſe,
unſchuldige Mozartſche Glücklichkeit und Zärtlichkeit in Tönen nötig. Eigentlich ſollte ich auch
Menſchen um mich haben, wie dieſe Muſik iſt, die ic liebe: ſolche, bei denen man etwas von
ſich ausruht und über ſich lachen kann.“
Alſo Erholung ſoll ihm, dem „Tieftraurigen“, die Muſik bringen; der Denker will
Stunden, in denen er nicht mehr denkt; er will eine Kunſt, die auf „ſtrengeren Prinzipien“
(natürlich der Form) aufgebaut iſt, fo daß dieſe Formgeſetze gewiſſermaßen von ſelbſt die Gliede⸗
rung des Kunſtwerkes und feinen Aufbau ergeben. Der Hörer braucht dann nicht, wie bei
Wagners „unendlicher Melodie“, angeſtrengt ſelber erſt das innere Lebensgeſetz dieſer Kunſt
zu ergründen. Wir haben alſo bei Nietzſche das Seitenſtück zu Goethe und Schopenhauer.
Goethe, der ſo manche wunderfeine Bemerkung über Muſik gemacht hat, lehnte Schubert ab
und hielt ſich an Zelter, nachdem er ſchon früher zwar zu Mozart, aber nicht zu Beethoven
ein Verhältnis gefunden hatte. Schopenhauer, der das Tiefſinnigſte über das Weſen der
Muſik offenbart hat, die uns nicht gleich den andern Künſten bloß Abbilder der Idee, ſondern
dieſe Idee ſelbſt vermittle, fand den höchſten muſikaliſchen Genuß bei Roſſini und ſpielte für
ſich ſelbſt die Flöte. Ein gleiches Erholungsbedürfnis entfernt Nietzſche von Wagner und der
deutſchen Muſik ſeit Beethoven und führt ihn im Grunde zurück zur altitalieniſchen Oper.
Ob er Verdi gar nicht gekannt hat? Faſt möchte man es glauben. Unſeres Peter Cornelius'
„Barbier von Bagdad“ hat er ja nicht hören können.
Nun werden ſich heute viele finden, die dieſes Verlangen Nietzſches als Vorausſchauung
unſerer Muſikentwicklung hinſtellen. Die „Entzauberung“ von Wagner iſt von einer gewiſſen
Seite mit einer in der neueren Kritik ja leider ſchon gewohnten Boshaftigkeit feſtgeſtellt und
der Ruf „Zurück zu Mozart!“ zu einer Loſung erhoben worden. Die Rückkehr zu den „ſtrenge⸗
ren Prinzipien“ ergibt ſich dabei faſt von ſelbſt. Freilich, was bisher an „Mediterraniser de
la musique“ geleiſtet wurde, iſt wenig erfreulich. Die Mittelmeerdramatik der Mascagni,
Puccini und bei uns d' Alberts iſt nichts weniger als heiter.
Zuinnerſt liegt dieſem Verlangen dieſelbe Urſache zugrunde, wie bei Nietzſche. Unſere
ganze Zeit war eigentlich „profondement triste“, müde, traurig, zu kraftlos für eine wirklich
ſtarke Kunſt, andererſeits aber auch zu feige, um in ſich ſelbſt die Urfache zu ſuchen. So wird
dann die Kunſt begeifert, ſtatt daß man ſich ſelbſt an die Bruſt ſchlagen müßte. Aber weil
gerade dieſe innere Traurigkeit und Müdigkeit am Verdruß und Aberdruß für die große Muſik
ſchuld iſt, wird auch der Wunſch nach der heilenden, leicht beſchwingten Frühlingskunſt un-
erfüllt bleiben. Die wird nicht aus Müdigkeit geſchaffen, ſondern in fröhlichem Rraftüber-
ſchwang oder jugendlicher Unbekümmertheit. Und wie ſich Nietzſche bitterlich täuſchte, als er in
der Beſchränktheit eines kleinen anmutigen Talents die weite, neue Kunſt erblickte, ſo ſind
auch jene getäufcht, die in all dieſem abſichtlichen Zurückſchrauben einer im bewußten Gegen⸗
ſatz zu Wagner oder auch Beethoven geſchaffenen Kunſt das Heilmittel erblicken.
Karl Storck
v
ich
e
8 *
N
Der Ziismee XX, 24 530
wen
UN
48
W
0
N
N
N
)
)
a
Zug
27
DT
—
5 \ =
N
'
E Sum buch
Der Krieg
ſchnell, nur zu. ſchnell hat meine Auffaffung von dem Eindrude, den
die „moraliſche Offenſive“ Dr. Solfs hervorrufen werde (vgl. S. 551),
ihre betrübende Beſtätigung erfahren. War ſchon die ungemiſchte
O Freude, ja Begeiſterung des „Vorwärts“ ein klaſſiſches Zeugnis,
ſo wird die Rede jetzt auch von der Wiener „Arbeiterzeitung“ ſchlankweg eine
„Friedensrede“ genannt. „Das“, ſtellen die „Berliner Neueſten Nachrichten“ feſt,
„It ungefähr die ſchlechteſte Zenſur, die ſich in dieſem Falle denken läßt. Aus
allgemeinen, aber auch aus beſonderen Gründen. Steht es doch hinlänglich feſt,
daß uns alle unſere Friedensverſuche zum Nachteile ausgeſchlagen ſind. Das haben
nicht nur unſere führenden Staatsmänner ſelbſt, ſondern auch die meiſten unſerer
Verſöhnungspolitiker zugegeben, wie ſeinerzeit die Maſſenflucht aus dem Lager der
Zulirefolutions-Anhänger mit aller wünſchenswerten Deutlichkeit ergeben hat.
Nach dieſen Erfahrungen hätte man erwarten dürfen, daß ſchon der
Schein vermieden werden würde, als ob wir noch weiter die Pfade ſchwäch-
licher Verſöhnungspolitik wandelten. Das war um fo notwendiger, als uns gerade
jetzt im Hinblick auf die Ereigniſſe an der Weſtfront jedes Entgegenkommen als
Zeichen der Schwäche ausgelegt werden wird. Wenn wir auch unlängſt auf den
0
2
7
‘
4
franzöſiſchen Schlachtfeldern einen Rückſchlag erlitten haben mögen, fo ift er doch
nicht derart, daß ſich unſerer irgendein Zweifel an dem glücklichen Ausgang der
Entſcheidungsſchlacht zu bemächtigen brauchte. Das Gleichgewicht iſt an den
gefährdeten Stellen längſt wiederhergeſtellt, und die kriegeriſchen Ereigniſſe
nehmen den von unſerer Oberſten Heeresleitung gewünſchten Verlauf. Es ent-
ſpricht aber der deutſchen ‚Ehrlichkeit‘, daß die vorübergehenden Mißerfolge
möglichſt dick unterſtrichen werden. Der geiſtige Hochmut, der uns in
der Beurteilung unſeres Organiſationstalents und unſerer Volksſtimmung ſchon
ſo manchen böſen Streich geſpielt hat, iſt uns auch hier in den Kücken gefallen
und hat uns ſchwer geſchadet. In dieſer Hinſicht könnten wir uns ein Beiſpiel
an den Franzoſen nehmen, die den Krieg ſeit über vier Jahren im Lande haben
und ihn mit allen feinen Schreckniſſen bis auf die Hefe auskoſten müſſen.
—
8 . 5
} 2 = k
‘ ; ‚& — 5 5 S
5 N 1 — 11 — 7
0 9 \ nd h 7 y
rd { 925 2 —— ı ;
Ni . la 1 5 2 8 =: 8 ;
* N nns Ip 9 — — 5 5 * 8
a RUN 77 . " 7 0 ——— £ 91
\ 2 1 6 8 / U — — 9 , -
\ 7, 9 1 — 7
fi 3 U
ur 7 - fi
Zürmers Tagebuch 565
Trotzdem kämpfen ſie mit hoch anerkennenswerter Zähigkeit bis zum Weiß-
bluten weiter, nehmen die ſchwerſten Schläge mit Faſſung auf und laſſen ſich
durch den kleinſten Erfolg zu neuen Hoffnungen tragen. Bei uns iſt es gerade
umgekehrt. Bei uns werden die bedeutendſten Siege als Selbſtverſtänd—
lichkeit hingenommen, und jeder Wißerfolg ruft.die gedrüdtefte Stim-
mung hervor. Auf dieſen Rangel an geiſtiger Widerſtandskraft brauchen
wir uns wahrlich nichts einzubilden. Er könnte ſogar als ein Zeichen dafür aus-
gelegt werden, daß wir letzten Endes doch nicht das Volk find, mit dem ſich Eng-
land in die Herrſchaft zu teilen hat. Völker, die ihren Platz an der Sonne ein-
nehmen ſollen, müſſen aus anderem als fo weichem Holze geſchnitzt fein. Wir
wollen aber die Flinte nicht ins Korn werfen und nicht an unſerem Volke ver-
zweifeln, weil jetzt wieder einmal der äußere Schein gegen es ſpricht. Wir müſſen
bedenken, daß das Konto der Flau- und Miesmacher gerade in der letzten Zeit
wieder bedenklich angeſchwollen iſt. Die von ausländiſchen Einflüffen ver-
ſeuchte unmännliche Denkungsart, die immerfort Zllufionen nachjagt und
unter dem Druck der harten Tagesereigniſſe winſelt, hat unter uns arge Ver-
heerungen angerichtet. Nur wo der Wille zum Sieg und der Wille zur Aus-
nützung des Sieges vorhanden iſt, nur da iſt an den Sieg überhaupt zu denken.
Daß dieſe Anſätze und Keime weltpolitiſchen Strebens in unſerem Volke erſtickt
worden ſind, iſt zum guten Teil auf die wirkſame Arbeit der feindlichen Propaganda
zurückzuführen. Gegen fie muß ſich darum die Vortoffenſive unſerer Staats-
männer richten.“
x *
*
Nun kann man es ja, wie auch Paul Ernſt in den folgenden trefflichen Dar-
legungen („Berl. Lok. Anz.“) ohne weiteres einräumt, einem wirklich intelligenten
Diplomaten und deutſchen Regierungsvertreter auf das tiefſte nachempfinden,
daß es ihn anwidert, in die Banalitäten engliſcher und amerikaniſcher Ge-
dankengänge hinabzuſteigen. Aber was hilft's? Die Arbeit muß getan werden:
„Vaten Sie, meine Herren, ruhig Tag für Tag in Selbſtverſtändlichkeiten; unſere
Brüder draußen waten täglich in Schlamm und Staub und Blut; das
iſt viel unbequemer und namentlich gefahrvoller. Und die Gedankengänge der
Dummheit aufdecken und dieſer Dummheit auf ihren eigenen Wegen mit nieder-
ſchmetterndem Lichte begegnen: das, meine Herren, iſt auch eine Klugheit, eine
feinere Klugheit als aller Snobismus, und iſt eine Kunſt, die durchaus Ihres
Schweißes wert iſt. ‚Wir hämmern uns durch! hat Herr Lloyd George kürzlich
triumphierend ſeinen Hörern zugerufen. Er dachte dabei an die Weſtfront. Dort
wird es ihm nicht glücken; aber durch die Schädel der Dummköpfe aller
Nationen haben er und ſeine Freunde ſich mit glänzendem Erfolge durch-
gehämmert. Die unabhängige Dummheit iſt bereits feſt davon überzeugt, daß
jenſeits der deutſchen Grenzen die Menſchen und die Politiker aus anderem Stoff
gezeugt ſind als diesſeits, daß jenſeits unſerer Grenzpfähle die wahre Liebe
zum deutſchen Volke, die herzinnige Sorge für unſere Freiheit und unſer Wohl-
ergehen beginnt. Ich mache die deutſche Regierung darauf aufmerkſam, daß
die freiwillige und die unfreiwillige Northeliffe- Propaganda in den
564 Türmere Tagebuch
geiſtig dunkelſten Schichten unſeres Volkes eine furchtbare Wühlarbeit
vollführt und Erfolge erzielt. (Kann ich auch aus perſönlicher vielfacher
Erfahrung beſtätigen! D. T.) Sch bemerke aber nichts von einer politiſchen
Pädagogik unſerer Regierung.
Ein deutſcher Reichstagsabgeordneter hat noch vor kurzem fein Miß
fallen ausgeſprochen über das Wort des deutſchen Kaiſers von dem „‚Götzendienſt
des Geldes‘ bei unſern Feinden, dieſes Wort habe bei unſern Gegnern ſehr
unfreundliche Kommentare gefunden. Er hatte erwartet, der Gute, daß Eng-
land und Amerika ſich angenehm berührt zeigen würden. Oder es ſchmerzte ihn,
daß man den Hütern der Volksfreiheit, die in den Höhlen von Vhitechapel die
Menſchen zu Hunderttaufenden erbarmungslos verfaulen laſſen, weh getan hätte.
Solche Köpfe feiern nicht; ſolche Köpfe reden auf der vornehmſten Tribũne
unſeres Reiches; ſolche Köpfe machen uns Geſetze. Und auf ſolche und die vielen
Millionen gleichgebauter Köpfe im In- und Auslande gilt es zu hämmern, meine
Herren, ohne jeden Anfall von Müdigkeit. Wir haben doch hoch und vielſeitig
gebildete Männer in der Regierung: ſie ſollen nur jeden Tag dem deutſchen Volke
eine Stunde lang engliſche Geſchichte erzählen; ſie ſollen die Mammonsdirne
jenſeits des Kanals Tag für Tag an den Pranger ihrer Vergangenheit ſtellen;
es wird ſeine Wirkung tun. Sie ſollen vor den Augen der Mörder immer wieder
und immer wieder die blutigen Häupter Wittes, des öſterreichiſchen
Thronfolgerpaares, Jaurès, Caſements, Mirbachs, Eichhorns auf
tauchen laſſen, wie vor Richard Gloſter, auch einem Engländer, im Lager von
Bosworth die Häupter feiner Opfer erſcheinen. Sie ſollen auch die hübſche Ge-
ſchichte von der ‚Maine‘ erzählen, die amerikaniſche Schufte, als fie Kuba ſtehlen
wollten, im Hafen von Havanna in die Luft ſprengten, um dann den Spaniern
die Schuld zu geben, und einen Anlaß zum Kriege zu haben. Vielleicht iſt ſie
dent Profeſſor Wilſon ganz neu. Amerikaner haben es ſpäter feſtgeſtellt und zu-
gegeben, daß die Sache mit der ‚Maine‘ fo verlaufen ſei. Aber Kuba haben fie
behalten. Ja, meine Freunde, nach Friedensſchluß werden ohne allen Zweifel
edle, objektive Hiſtoriker in England und Amerika aufſtehen und erklären, daß vieles
während des Krieges über Deutſchland Geſagte doch wohl nicht wahr geweſen,
daß Deutſchland doch wohl am Kriege nicht ſchuld geweſen ſei; aber von unſeren
Kolonien, wenn ſie ſie bekommen haben, werden ſie uns kein Sandkorn,
jedenfalls kein Goldkorn zurückgeben.
ich weiß nicht, warum wir verzichten auf das wunderbarſte Verteidigungs-
material, das ein Volk der Welt beſitzt: auf die Berichte der belgiſchen Ge—
ſandten in Petersburg, Paris und London an ihre Regierung über die Ein-
kreiſungs- und Brandſtifterpolitik Englands. Wöchentlich einmal würde England
ſolche Berichte hervorholen und ausſchlachten.
Sch weiß nicht, warum wir nicht ſolche glänzend gemachten, in ihrer Kürze
und Aberredſamkeit meiſterhaften Aufrufe an das ruſſiſche Volk ergehen laſſen
wie die Entente.
Sch weiß nicht, warum wir nicht wie unſere Feinde in hunderttauſend Kinos
kurze, ſchlagende, leuchtende, mitreißende, aufklärende, aufrichtende Worte auf
den Schirm werfen laſſen.
Lürnmers Tagebuch 565
dich weiß nicht, warum wir keinen Generalfeldmarſchall des geiſtigen
Krieges haben; er braucht ja nicht aus der Region des Herrn Northeliffe herauf-
geholt zu werden.
Das deutſche Volk will einen Anwalt haben; es will verteidigt werden;
aber weit entfernt ſei es von uns, daß wir uns nur verteidigten: wir wollen
angreifen.
Die letzte Inſtanz des Rechts iſt noch immer die phyſiſche Gewalt. Wenn
nicht ſtarke Arme da wären, die mich ins Gefängnis oder aufs Schaffot führen
können, ſo könnte ich ungehindert ſtehlen und morden; ein Richterſpruch tötet nicht.
Auch der Spruch eines internationalen Schiedsgerichts tötet nicht; er bedarf dazu
einer Exekutionsarmee oder eines Hungerboykotts oder ſonſt einer Gewalt-
maßregel. Der Krieg iſt die Zuflucht der Maſſe zur phyſiſchen Gewalt der Maſſe.
Er iſt im großen genau dasſelbe, was ein ernſter Ringkampf, ein Kampf auf Tod
und Leben zwiſchen zweien, die ſich bei der Gurgel packen, im kleinen iſt. Sollte
es denkbar fein, daß ſolch ein Ringkämpfer offenſiv mit dem Leibe und defenfiv
im Geiſte, daß er feindlich mit der Fauſt und friedlich im Gemüte wäre? Nicht
wahr: in demſelben Augenblicke, in dem feine Seele friedlich wird, muß unfehl-
bar auch die Fauſt friedlich werden? Die Ruhe der Seele wird augenblicklich in
die Fauſt überſtrömen und fie erſchlaffen. Wenn einer dieſer Ringenden plötzlich
ſagt: „Ich möchte mich mit dir verſtändigen!“ — was wird der andere ganz
unfehlbar denken? ‚Er kann nicht mehr!“ Und das wird feinen Mut ganz
wunderbar beleben, und er wird ſchnell um ſo feſter zupacken.
Wir wunderlichen Deutſchen haben dieſes ſeeliſche Unding, dieſes Zwitter-
weſen eines verſöhnlichen Kämpfers auf Tod und Leben für möglich gehalten,
als wir die monumentale Dummheit der Friedensreſolution aufrichteten.
Anſer ſchlimmſter Feind hätte uns keinen böſeren Streich ſpielen können. Und
wir haben hinterher noch unzählige Male unſere Friedensbereitſchaft verſichert
und haben damit folgerichtig jedesmal den Gegner zu größerer Keckheit ermutigt
und den Krieg um ein tüchtiges Stück verlängert. Ich habe oben geſagt, daß
man in dieſen Zeiten den Mut haben müſſe, auch Plattheiten auszuſprechen und
zu wiederholen. Die platteſte der Plattheiten: daß ein Volk lieber Frieden als
Krieg hat, die brauchen wir bei Gott nicht auszuſprechen. Es iſt ja ein wahres
Wunder, daß die deutſche Fauſt noch nicht entnervt iſt durch den Wankelmut
der deutſchen Seele, daß unſere Helden noch nicht entmutigt ſind durch die Reden
unſerer Politiker. Aber man begreift die bittere Ungeduld unſerer großen Feld-
herren, wenn ſie in die Heimat zurückrufen: „Hört auf mit euren Friedensreden!“
Ich bin feit meinen Zünglingsjahren Anhänger der Friedensbewegung
und werde es bleiben trotz meiner tiefwurzelnden Zweifel an der Wirkſamkeit
aller bisherigen praktiſchen Vorſchläge des Pazifismus. Ich wünſche internationale
Schiedsgerichte, ſobald ich weiß, wo man unintereſſierte Richter findet, wie ich
fie als Bürger im Gerichtsſaal finde. Ich würde den Völkerbund mit aufrichtig
ſter Freude begrüßen, wenn er nicht das ſein würde, was er unfehlbar ſein
würde: eine Fortſetzung der Entente unter dem Deckmantel des Friedens,
Es iſt möglich, daß es „Segnungen des Krieges“ gibt; aber der Fluch des Krieges
566 Zürmers Tagebuch
iſt mir augenblicklich unvergleichlich gewiſſer. Alſo auch ich erſehne und erſtrebe
den ewigen Frieden. Aber wenn man einmal an die Gewalt appelliert hat,
dann iſt es ein heilloſer Anſinn, plötzlich eine andere znſtanz anzurufen,
bevor die Gewalt entſchieden hat. Man kann nicht gleichzeitig das Recht und die
Gewalt anrufen. Wenn das Recht entſcheiden ſoll, wenn man hoffen darf, daß
ſeine Stimme gehört werde — wozu dann noch einen einzigen Schuß abgeben?
Wenn aber Gewalt entſcheiden muß, wenn das Recht der Gewalt bedarf, um
ſich durchzuſetzen — wie kann man dann ſo verblendet ſein, die eigene Gewalt in
ihrem Laufe aufzuhalten? Das und nichts anderes iſt unſer Fall, wenn wir
den Feind mit der einen Hand ſchlagen und mit der anderen ſtreicheln.
Es iſt kein körperlicher Krieg denkbar ohne einen ſeeliſchen. Es gibt ein Wort,
das heißt: „Wenn du den Frieden willſt, bereite den Krieg“; es wird von manchen
Leuten angezweifelt. Aber nicht anzuzweifeln iſt der Satz: „Wenn du im Kriege
biſt und den Frieden willſt, ſo führe Krieg, führe ihn in jeder Hinſicht und in
jedem Augenblick! A la guerre comme à la guerre — unfere Feinde wiſſen's!
Zeder Schlag mit Arm und Geiſt rückt den Frieden näher; jedes verſöhnliche Wort
rückt ihn weiter in die Ferne. Darum wollen wir nicht nur abwehren, ſondern
zuſchlagen; wir wollen nicht nur unſere Feinde mit ihrer Schande brandmarken;
wir wollen ſie in ihrem Tiefſten treffen, in ihrer Habgier, und wollen fordern.
Gott weiß es: Deutſchland war zufrieden mit ſeinem Beſitz; aber ich mag mit
meinem Haus und Hof noch ſo zufrieden ſein; wenn ich mich Tag und Nacht von
Räubern umlagert ſehe, dann rücke ich den Schutzwall meines Beſitztums
weiter hinaus. Gewiß führen wir einen Verteidigungskrieg; aber noch immer
iſt der Hieb die beſte Parade. Darum, wenn die Feinde Elſaß-Lothringen fordern:
fordern wir das beſetzte Frankreich; wenn ſie unſere Kolonien fordern: fordern
wir ein reichliches Quantum der ihrigen; wenn ſie uns ihre Häfen ſperren wollen:
fordern wir Aufgabe aller ihrer ‚ Stützpunkte“ im Fleiſche fremder Staaten; wenn
ſie Deutſchland von den Hohenzollern befreien wollen: fordern wir Beſeitigung
ihrer ſämtlichen Oberhäupter und Kabinette vor Beginn der Friedensverhand⸗
lungen, wenn fie Abtrennung der polniſchen Oiſtrikte im öſtlichen Deutſchland
verlangen: fordern wir die vollkommene Loslöſung Irlands, Indiens, Marokkos,
Tonkins uſw. von ihren Tyrannen; ſtellen wir dieſe Forderungen auf in aller
Form der Friedensbedingung! Keine dieſer Forderungen geht weiter als
die frechen ‚Mindeftforderungen‘, die uns die Feinde noch täglich zu ſtellen wagen.
Was von ſolchen Forderungen durchzuſetzen iſt, ſteht letzten Endes immer bei
den Tatſachen. Ein Sieger kann auch weiſe Mäßigung üben; er kann es ſich viel-
leicht ſogar leiſten, großmütig zu fein — nachdem er geſiegt hat. Aber ſchon
die Aufſtellung dieſer Forderungen würde in London, Paris, Va—
ſhington einen ausgezeichneten, einen unvergleichlich günſtigeren
Eindruck machen als jede Friedensgeneigtheit. Der politiſche Rüpel iſt
nicht anders als der private: eine rückſichtsvolle Behandlung verſteht er nicht, und
nichts imponiert ihm mehr, als wenn der Mann, dem er auf den Fuß treten will,
ihm zuvorkomnit.
Als wir noch keinen Krieg mit Amerika hatten, ſchrieb mir ein Yantee: Es
Zürmers Tagebuch 567
ift die Tragik Deutfchlands, daß es ſtumm iſt.“ Möge der Allmächtige ihm
die Zunge löſen, wie er die Zunge des Zacharias löſte. Dazu gehört allerdings,
daß die deutſchen Minifter ſich, wie die engliſchen, in jedem Augenblick als freie
Bürger fühlen, die von der Leber weg reden dürfen, nicht nur als Beamte,
als Untergebene, die etwas jagen könnten, was ins Reſſort des Kollegen über-
greift, was dem Vorgeſetzten nicht gefällt, oder was der Reichstag tadeln könnte,
weil es die Höflichkeit gegen England verletzt. Dazu gehört alſo, daß die ſchöne
deutſche Freiheit, die ja vorhanden iſt, nicht im bureaukratiſchen Schleim erſtickt,
und daß die Regierung die Kriegsrüſtung anziehe gegen die Feinde
draußen und drinnen, gegen die böswilligen wie gegen die wohl-
meinenden. |
Ich mag nicht zweifeln, daß unſere Regierung „k. v.“ ift. Aber es wird die
höchſte Zeit, daß ſie's beweiſt.“
N x *
N 1
Es ift traurig, das ausſprechen zu müſſen, und es koſtet mich einige Über-
windung, aber ich fürchte: die Offenſive, zu der ſich die Regierung Herrn Dr. Solfs
als Sprachrohr bediente, wird der deutſchen Sache eher Wunden ſchlagen, als
unſeren Feinden, die ſie überhaupt nicht ernſt nehmen werden, und wenn ſchon
einige „ſo tun“ ſollten, dann eben nur zum Schein, aus taktiſchen Gründen, um
uns in dem Irrtum, auf der richtigen Fährte zu ſein, zu beſtärken und noch weiter
herauszulocken. Da war einmal der Huſarenritt gegen die „Alldeutſchen“, denn
nur die konnten bei der bewußten Abſchüttelung gemeint ſein, und es muß immer
wieder die Tatſache unterſtrichen werden, daß die Anwendung dieſes Wortes
ſich keineswegs mehr auf den „Alldeutſchen Verband“ beſchränkt, ſondern auf
alle Deutjchen ausgedehnt wird, die ſich bewußt als Deutſche fühlen und be-
kennen und den Zielen der — andersgeſinnten deutſchen Staatsbürger im Mege
ſtehen. Ja, noch darüber hinaus: der eine „internationale“ deutſche Genoſſe
nennt den andern heute ſchon einen „Alldeutſchen“, wenn dieſer andere ſich „nicht
entblödet“, ſchwache Lebenszeichen deutſchen Gemeinſchaftsgefühls von ſich zu
geben und zu beantragen, daß die Deutſchen doch ſozuſagen auch ein Volk, eine
Nation ſeien, und was der einen Nation recht ſei, der anderen billig ſein müſſe.
Dann aber die Kundgebung über Belgien —: wie muß die wohl auf die Vla-
men gewirkt haben und weiter wirken, wenn nicht bald — es könnte gar nicht
ſchleunig genug geſchehen! — von ſichtbarſter Stelle und mit weiteſter Hör-
wirkung eine ergänzende, das Ausgerenkte wieder einrenkende Erklärung folgt.
Iſt es ſchon kläglich genug, daß dem Bruderſtamme der Vlamen — Niederſachſen
des ſelben Blutes, wie die Weſtfalen auch, mit deren Platt fie ſich ebenſo leicht ver-
ſtändigen, wie die Weſtfalen mit dem lippiſchen oder mecklenburgiſchen Platt —
ſo ſtierhaft ſtumpfe Gleichgültigkeit und Verſtändnisloſigkeit entgegengeſetzt wird,
ſo kommt dieſes völlige Verſagen in einer ſolchen Frage, dieſes Ignorieren eines
ganzen Brudervolkes allerdings einer „Offenſive“ gleich: nicht nur gegen die
Vlamen, ſondern auch gegen wichtigſte deutſche Lebensintereſſen, die es
darum nicht minder ſind und bleiben, weil ſie als ſolche nicht begriffen werden.
Es ſind noch wichtigere Lebensintereſſen auch von ſehr maßgebenden Stellen
568 Türmers Tagebuch
nicht begriffen worden! — So aber werden Saaten, die fröhlich zu ſprießen und
zu grünen beginnen, reiche Ernte, wenn auch nicht von heute zu morgen, ver-
ſprechen, vom Säemann ſelbſt wieder untergepflügt. Warum? — Vielleicht weil
der Säemann nicht gewußt hat, was er ausgefäet, weil er nicht aus eigener für-
ſorglicher Abſicht freudig geſäet hatte, ſondern durch die Umftände geſchoben und
geſtoßen, vermeintlicher Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Ein ganzes
Buch ließe ſich über dieſes Thema allein aus den letzten Jahrzehnten, nein, ſchon
aus den vier Kriegsjahren anfüllen! Wer ohne Liebe einen Garten beſtellen will,
dem verdorrt die Pflanze unter der Hand, der taugt nicht zum Gärtner.
„Noch immer“, klagt bitter Profeſſor G. v. Below in den „Berl. N. Nachr.“,
„gibt es viele deutſche und darunter wohllöbliche Neichstagsabgeordnete, die
ſich wohl rege für die Befreiung und Stärkung des Polentums und ſonſtiger
fremder Stämme intereſſieren, die es aber für den Gipfel politiſcher Klugheit
halten, den germaniſchen Stamm der Vlamen links liegen zu laſſen oder gar unfe-
ren Feinden auszuliefern und damit zugleich dieſe als unſere unmittel-
baren Grenznachbarn heranzuziehen.
n einer geradezu abſtoßenden Art hat ſich kürzlich wieder Prof. Hans Del
brüd (einem Wiener Journaliſten gegenüber) über die vlamiſche Frage nach jener
Richtung hin geäußert; man müßte ihm danach jede Spur von nationalem Ge-
fühl abſprechen, wenn dieſe ſeine neuen Außerungen nicht von neuem den Beweis
lieferten, daß ſeine Gedanken durch eine nahezu pazifiſtiſche Verzichtformel ganz
und gar gebannt ſind.
Eine ſolche Gleichgültigkeit gegenüber der vlamiſchen Frage aber müſſen
wir in dem ſelben Augenblick erleben, in dem es — wie mir ein mitten in den belgi-
ſchen Dingen ſtehender Kollege dieſer Tage ſchrieb — ‚in Flandern lichterloh
brennt‘. Wenn man ſich doch endlich davon überzeugen laſſen wollte, daß es
ſich bei der vlamiſchen Bewegung um eine durchaus geſunde, kräftige und für
Reichsdeutfche und Vlamen in gleicher Weiſe unendlich wichtige Angelegenheit
handelt! Anſere Reichsleitung hat wahrlich nichts getan, um fie zu fördern. Daß
Bethmann nur mit größter Mühe dazu zu bringen war, die Verwaltungs-
trennung in Belgien nicht abzulehnen, daß fie ihm erſt förmlich abgerun-
gen werden mußte, darüber klagen ſogar volksparteiliche Politiker. Nicht er-
muntert, ſondern eher von ſich geſtoßen hat man die Blamen. Wie oft
find fie durch offizielle Erklärungen (nicht bloß durch ſolche von Kühlmann) ent-
täuſcht und abgeſtoßen worden! Und dennoch hat ſich die deutſchfreundliche
vlamiſche Bewegung entwickelt und zunehmend gekräftigt. Darin liegt ein
höchſt greifbarer Beweis für ihre Kraft. Es iſt endlich an der Zeit, daß das deutſche
Publikum ſich über den wahren Stand der vlamiſchen Angelegenheiten gründ-
lich unterrichtet, daß man die Gleichgültigkeit fallen läßt und dafür eintritt, daß
den Vlamen ihr Recht werde. Einer der beſten Kenner der gegenwärtigen Zu-
ſtände Belgiens hat ſoeben in der Wochenſchrift ‚Die deutſche Wacht“ (Nr. 31)
einen bemerkenswerten Aufſatz über die Forderungen der Vlamen veröffentlicht.
Er teilt darin einen bisher in Oeutſchland noch nicht bekannten flandri-
ſchen Aufruf mit, aus dem hier einige bezeichnende Sätze mitgeteilt ſeien:
Türmers Tagebuch 569
„Wir wenden“ — heißt es dort — ‚uns an das deutſche Volk und an feine
Vertreter mit der Frage, ob das deutſche Volk bereit iſt, für unſere uralten ge-
ſchichtlichen Rechte einzutreten im Bewußtſein, damit einem Brudervolk die
Hand zu reichen. Wir betonen, daß mit einer Rückkehr des früheren Zu-
ſtandes, auch dann, wenn die walloniſchen Länder von Flandern ge-
trennt bleiben, durch neue Neutralitätsverträge und internationale Abmachun-
gen wir das Beſte des Erlangten einbüßen würden. Nicht viele Bürgen,
ſondern einen brauchen wir, und dieſer eine kann nur das Deutſche Reich fein.
. . . Vir verlangen nicht, deutſche Staatsbürger zu werden, ſondern wollen als
freie Vlamen unter eigener Regierung leben; aber wir find bereit, alle jene
Zugeſtändniſſe zu machen, die, ohne der Selbſtändigkeit Flanderns zu ſchaden,
es dem Deutſchen Reich ermöglichen ſollen, uns zu ſchützen in enger Gemein-
ſchaft der Außenpolitik und Handelspolitik und uns unſere gemeinfchaft-
lichen Belange in der Zukunft zu verbürgen. Wir bitten das deutſche Volk,
uns eine klare Antwort zuteil werden zu laſſen, in der Hoffnung, daß unſere
Wünſche ſich erfüllen mögen. Denn wir würden ... um eine bittere Enttäu-
ſchung reicher ſein, wenn das deutſche Volk uns ohne zwingende Not von ſich
ſtie ße ... Wir vertrauen zu Gott, daß dieſes Mal die Entſcheidung des Kriegs
ſowie der Friedensunterhandlungen dem ſo lange geknechteten vlamiſchen
Volksſt amm die völlige Befreiung bringen wird.“
Es handelt ſich um eine gewaltige nationale Angelegenheit, bedeutungs-
voll ebenſo für die Vlamen wie für uns. Wird jetzt die Gelegenheit ver-
ſäumt, fo kehrt fie nie wieder. Wenn die Blamen ſelbſt die Wiederherſtellung
des früheren Zuſtands für verhängnisvoll erklären, wenn ſie ſelbſt dringend
den Anſchluß eines freien Flanderns an das Oeutſche Reich fordern,
ſo ſollte man doch in Deutſchland nicht die Augen gegenüber der großen Sache
verſchließen, ſondern die Regierung nötigen, das zu tun, was der Augen-
blick fordert.“
Kein Wort iſt hier zu viel geſagt. Man lege ſich einmal Rechenſchaft darüber
ab, wie die Dinge liegen und um was es ſich handelt. Das wird mit gutem Ge-
wiſſen wohl niemand beſtreiten, daß, wenn Belgien, alſo der Zuſtand Belgiens
vor dem Kriege, „wiederhergeſtellt“ wird, daß dann dieſer Zuſtand nicht mehr
der Zuſtand vor dem Kriege ſein wird und ſein kann, daß dann auch die letzte
dürftige Spur von Belgiens „Neutralität“ verſchwindet und dieſer Staat nichts
anderes wird als ein franzöſiſch-engliſches Einfallstor, einfacher und ge—
nauer ausgedrückt: ein engliſcher Vaſallenſtaat nicht einmal mit dem kleinen
Reit unſchädlicher Selbſtändigkeit, den England den Buren in Südafrika aus
klugen Rückſichten noch gönnt. Nach einer „Wiederherſtellung“ Belgiens wird
aber bei der belgiſchen Regierung „des Schickſals Stimme“ auch „der Zug des
Herzens“ fein. Auch darüber wird alſo kein Zweifel obwalten, daß die äußere
und innere Politik Belgiens blind ergeben im franzöſiſchen Kielwaſſer ſchwimmen
wird. Da aber Frankreich ſeinerſeits gehorſam im engliſchen Kielwaſſer ſchwim-
men wird, ſchon weil es gegen den angelſächſiſchen Bund (England und Amerika)
ohnmächtig iſt, bliebe Belgien darum doch politiſch und militäriſch engliſcher Be-
570 Türmers Tagebuch
ſitz. Damit wäre England unmittelbar an unſere Grenzen vorgerüdt.
Auch militäriſch unterlegen, hätte es glänzend geſiegt! Anſere Stellung als
Großmacht wäre dann eine ruhmreiche Erinnerung von geſtern abend, für die
kein Holländer oder überhaupt irgendein Staat noch eine Pfeife Tabak geben
würde. Die engliſche Fauſt ſchwebte dann dauernd über uns; dieſer Drohung
würden wir nach einem ſolchen politiſchen Zuſammenbruch nicht lange wider-
ſtehen, und es könnte ſchon dahin kommen, daß England feine allgemeine Wehr-
pflicht wieder abſchaffte, weil es ja über genügend zahlreiche und tüchtige —
deutſche Söldner verfügte; die deutſchen Arbeiter aber hätten die nächſte
Anwartſchaft auf dieſen engliſchen Kanonenfutterdienſt. Oder ſollten fie
wirklich wähnen, daß die engliſchen Genoſſen ihnen hilfreich zur Seite ſpringen
würden? Freuen würden ſich die, von ganzem Herzen freuen, daß ſie nun ſelbſt
nicht mehr ihre Haut zu Markte tragen müſſen und außerdem noch die verhaßte
„deutſche Konkurrenz“ losgeworden find. Phantaſien —? Dann müßte die Welt-
geſchichte die größte Phantaſtin ſein. Iſt es denn nicht ſchon ſo geweſen? Was
aber einmal war, kann wiederkommen.
Nun dürfen und wollen wir nicht den letzten Entſcheidungen vorgreifen.
Die volle Zuverſicht, daß ſie zu unſeren Gunſten ausfallen, haben wir und müſſen
wir haben, — wiſſen können wir es nicht. So müſſen wir mit den bereits in
unſere Hände gegebenen Mitteln uns und unſere Zukunft als Volk ſo weit ſichern,
wie fie für dieſen Sicherungszweck ausreichen. Dafür aber reichten fie ſchon lange
aus: durch Aufrichtung eines freien Flanderns mit gegenſeitigen Bin-
dungen uns einen Grenz- und Schutzwall zu ſchaffen, der eine ſolche
„Viederherſtellung“ Belgiens, wie fie England ſich nicht idealer wünſcht und
wünſchen kann, und wie ſie auch von ſeiten der deutſchen Regierung auf keinen
ernſtlichen Widerſtand mehr zu ſtoßen ſcheint, unter allen Umftänden und
ohne eine Spur von „Annexionsgelüſten“ zu verhindern. — Man erwäge
nur, daß bis 80 der „belgiſchen“ Armee Vlamen find! Wir brauchten ja nur
den von feindlicher Seite ausgeſpielten Trumpf vom „Selbſtbeſtimmungsrecht
der Völker“ in die eigene Hand zu nehmen und in aller Unbefangenheit und
Selbſtverſtändlichkeit die vollendete Tatſache zu ſchaffen. Der Champagner
ſtand da, — doch du trankſt ihn nicht!“ —
Bitter not tut uns eine entſchloſſene, rückſichtsloſe moraliſche Offenſive
gegen den äußeren Feind, und ſoweit ſie dieſer Forderung gerecht werden, ſind
auch Kundgebungen wie die durch den Mund des Herrn Dr. Solf, grundſätzlich
zu begrüßen und zu unterftüßen. Aber noch bitterer not tut uns eine moraliſche
Offenfive gegen den inneren Feind, und den glaube ich auch ohne weitere Er-
läuterungen im Zuſammenhange dieſer Ausführungen deutlich genug gekenn-
zeichnet zu haben. Des Übels Kern ſitzt aber weniger im Nicht-ſehen- können, als
im Nicht-ſehen- wollen. Es iſt weniger eine Schwäche des Intellekts als des Cha-
rakters. Das macht den Kampf ſo ſchwer, ſo bitter! Nur klare, entſchloſſene
Führung kann hier helfen. Wir harren ihrer, — und es iſt das fünfte Kriegsjahr!
W
g De V.,
Politiſcher Beruf und politifche
Zurechnungsfähigkeit
s iſt ein häßlicher Auswuchs deutſchen
DPWeſens, über niemand lieber herzu-
fallen, als über den eigenen Bruder, den
Volksgenoſſen; mit Argusaugen auszuſpähen,
ob und was ſich ihm etwa anhängen ließe;
bei ihm, dem Bruder, als ſchweres Ver-
ſchulden zu verurteilen, was den Fremden
zu hohem Ruhme gerechnet wird. Neuer-
dings melden ſich Stimmen, die den deutſchen
Balten den Beruf zu ihrer geſchichtlichen
Stellung in ihrem Heimatlande abſprechen,
in göttlicher Anbekümmertheit darum, daß
dieſer Beruf ſich in ſieben Jahrhunderten
bewährt hat, daß ohne ihn von Deutſch-
tum und deutſchen Balten in Baltenland
heute keine Rede wäre, wir aber in dieſem
Kriege auf eine geſchloſſene ruſſiſche Be-
völkerung dort geſtoßen hätten. Die Letten
und Eſten, die man doch „verſöhnen“ wolle,
— ſo läuft der Tiefſinn — würden es übel-
nehmen, wenn ihre deutſchen Heimatgenoſſen
in nennenswerter Anzahl und an beftimmen-
der Stelle an der Verwaltung des Landes
beteiligt würden, darüber hinaus erkennt
ein Berliner Profeſſor den deulſchen Balten
Weitblick und Begabung für die politiſchen
Geſchäfte überhaupt ab — Beweis dafür,
daß auch deutſches Profeſſorentum nicht
immer vor Unkenntnis oder zweifelhaftem
Urteilsvermögen ſchützt.
„Verſchieden nach Zeit und Amſtänden“,
belehrt Dr. Richard Bahr in einer — un-
verdientermaßen — längeren Auseinander-
ſetzung ſolche „fröhliche Wiſſenſchaft“, „ſind
die Aufgaben, die dem Politiker geſtellt ſind.
Die Aufgabe der Oeutſchbalten war un-
endlich groß, die Mittel, die ihnen zur
Verfügung ſtanden, im Grunde lächerlich
klein. Sie waren ein Sandkorn im Meer
der Völkerfamilien des Zarenreiches, ein
machtloſes Häuflein angeſichts der inappellabel
und unkontrollierbar mit Galgen und Nad,
mit Einkerkerung und ſibiriſcher Verſchickung
arbeitenden ruſſiſchen Despotie. Alle lauten
Formen der Oppoſition kanten, als ſchlechthin
ausſichtslos, nicht in Betracht. Den Balten
blieb nur eines: fie mußten lavieren. Auf
dieſem, durch den unerbittlichen Zwang der
Umftände, nicht durch eigenes Zutun
beſchränkten Felde, haben fie ein nicht all-
tägliches Geſchick und eine reife Kunſt der
Menſchenbehandlung erwieſen, von der mir
einſtweilen noch zweifelhaft iſt, ob ſie allen
deutſchen Stämmen in gleicher Weiſe eignen.
Die Deutſch-Balten argwöhniſch von dem
Aufbau und der Verwaltung ihres Landes
auszuſchlie ßen, würde, wie ich glaube, darauf
hinauslaufen, das deutſche Volk, das an
politiſchen Talenten ja nicht übermäßig reich
iſt, künſtlich ärmer zu machen. Dabei ſehe
ich von allen ſentimentalen Erwägungen wie
Dank für geleiſtete Dienſte, Treue um Treue
und dergl. mehr grundſätzlich ab. Nur um
die ganz nüchterne, ſachliche Frage handelt
es ſich hier: wäre es zu verantworten, einen
Volksſtamm, der in 700, ähriger nicht immer
leichter Arbeit gezeigt hat, daß er zu bauen
und zu verwalten verſteht, der in dieſer
langen Friſt gerade auf ſeinem ſpeziellen
Gebiet eine Unfumme von Erfahrungen ge-
ſammelt hat, die auch dem geſchickteſten
von auswärts bezogenen Verwaltungstech-
niker nicht ſofort anfliegen, wie den bekannten
572
Mohr beiſeite zu ſchieben? Die Frage ift —
fie iſt auch jo geſtellt — vom Reichsintereſſe
aus und dem des Geſamt-Deutſchtums zu
beantworten.“
Sich dafür ins Zeug zu legen —, daß das
deutſche Element aus der Verwaltung und
Führung eines an Deutſchland anzu-
gliedernden Landes, das dieſem und nur
dieſem Element ſeine deutſche Kultur und
jein äußerſtes und verlaſſenes Bollwerk
nach Oſten durch ſieben Jahrhunderte ver-
dankt, — ausgeſchloſſen werde, das iſt
eine Leiſtung, die uns kein Volk der Erde
nachmacht, kein Volk bei Zurechnungs-
fähigen auch nur begreift. Eine Nation,
die dergleichen Früchte anzuſetzen ſich er-
lauben darf, mußte ja einmal von der
ganzen Meute überfallen werden! Gr.
*
Wohlverdient
iner unſerer Diplomaten ward gelobt.
In ſeiner blindwütigen Rede gegen die
abgedankten Minifter Czernin und Seidler
erkannte der Tſcheche Dr. Stranſky an, daß
der Wiener deutſche Botſchafter ſich zur Na-
tionalitätenfrage viel „loyaler“ als jene
beiden geftellt habe. Einer bei dem Botfchaf-
ter erſchienenen deutſchböhmiſchen Abordnung
— aber ſind die Leute dort naiv! — habe
dieſer erklärt: „Ihr müßt euch mit den
Tſchechen verſtänd igen!“
Neu iſt uns dieſes Männerwort der Hoch-
beamteten ja nicht. Originell würde es nur
noch, wenn nächſtens auch die Schutzleute
den Überfallenen anheimgäben, ſich mit den
Mördern und Einbrechern zu verſtändigen.
h.
%
Warum greifen die Engländer
an?
TDaäglich, ſchreibt Profeſſor Krückmann
I (Müniter i. W.), erzählen die engliſchen
Staatsmänner dem engliſchen Volk, aber
nicht zuletzt auch den deutſchen Angſtmeiern,
daß ſie wegen des unermeßlichen amerikani-
ſchen Heeres den ſicheren Sieg in der Hand
hätten. „Es kann uns gar nicht fehlen“,
ſo tönt es in tauſend Melodien an das Ohr
Auf der Warte
der verängſtigten Deutſchen, damit nur ja
die blaſſe Furcht in deutſchen Landen um-
gehe, Herr Angſtmeier und Herr Haſenfuß,
die alles, aber auch alles beſſer wiſſen als
Hindenburg und Ludendorff, Scheer und
Tirpitz, die Oberhand bekommen. Die enge
kleine Haſenſeele des deutſchen Philiſters
wird bearbeitet mit Worten, denen aber
die Taten der Engländer ſchnurſtracks
widerſprechen. Warum greifen die Eng-
länder an? Sie haben es ja „gar nicht
nötig“! Aber fie tun es merkwürdiger
weiſe doch! Täglich erzählen ſie uns, daß
ſie eigentlich im Grunde nur die Daumen
umeinander zu drehen brauchten, um die
große amerikaniſche Völkerwoge ab zuwar⸗-
ten und uns dann einfach zu erdrücken,
— derweilen aber greifen ſie haſtig ein
über das andere Mal an. Bisher haben.
ſie derartiges nicht zum Vergnügen getan.
England zumal ſpart bekanntlich ſeit jeher
mit Blut und verſteht die Kunſt ausgezeichnet,
mit fremden Truppen Krieg zu führen. Aber
plötzlich iſt es ſo ganz anders. England greift
an! Warum wohl greift der Engländer an,
ohne auf den Amerikaner zu warten?
Sollte er es doch eilig haben, eiliger, als
gewiſſe Leute in Oeutſchland in ihrer kindiſchen
Angſt ſich dachten und denken? Es wäre ja
gar nicht auszudenken.
*
Frankfurter Zeitung“ und freie
Meinungsäußerung
Der frühere Marineattachö in den Ver-
einigten Staaten, Kapitän zur See
v. Boy -Ed, hatte kürzlich geäußert, die
Amerikaner würden auch ohne Erklärung
des uneingeſchränkten U-Boot-Rrieges unter
allen Umftänden in den Krieg eingegriffen
haben. Dieſe freie Meinungsäußerung eines
Mannes, der es wiſſen kann, hat die frei-
geſinnte „Frankfurter Zeitung“ mächtig in
Harniſch gebracht —: wie kommt der Mann
dazu, eine Überzeugung auszuſprechen, die
der „Frankfurter Zeitung“ nicht genehm iſt;
um ſo weniger genehm, als ſie ſich auf eigene
Kenntnis und praktiſche Beobachtung gründet
und alſo ernſter genommen werden muß und
8 K Tri 2 3 "vn — 1 — A 28
Auf der Warte
wohl auch wird, als die unter einem be-
ſtimmten Geſichtswinkel vorgefaßten „Urteile“
des Frankfurter Blattes? Der ſchlimmſte
Vorwurf gegen den offenherzigen Seemann,
der die Aufgabe und genügend Gelegenheit
hatte, auch den Kurs der politiſchen Ent-
wicklung in den Vereinigten Staaten aus
nächſter Nähe zu ſichten, liegt aber darin:
„Soll es in der Tat Herrn Re ventlow
nach den Erfahrungen von vier ſchweren
gahren erlaubt fein, mit ſeiner Richtung
dadurch zu brillieren, daß er ſich vor das
Volk hinſtellt und den Irrſinn (1) verbreitet:
es war eben zu ſpät, — im Frühjahr 1916
wäre der richtige Augenblick geweſen.“ Alſo:
weil der Meinung des Grafen Reventlow, die
nicht die Meinung der „Frankfurter Zeitung“
ist, in dem früheren Marineattachö in den
Vereinigten Staaten ein berufener und
glaubwürdiger Zeuge erſteht, ſoll dieſer
Zeuge ſich einen Maulkorb umbinden oder
etwa ihm ein ſolcher umgebunden werden?
Aber es iſt ja nicht das erſte und ſicher
auch nicht letzte Mal, wo die „Frankfurter
Zeitung“ eine Anfehlbarkeit und jelbftherr-
liche Autorität für ſich in Anſpruch nimmt,
der gegenũber jede abweichende Meinung
(weil „Irrſinn“) zu ſchweigen habe. Das
hat denn doch ſchon, ganz abgeſehen von der
Anziehungskraft dieſer Reliquie eines an-
betungswürdigen „Liberalismus“, einen hef⸗
tigen Stich ins Lächerliche, oder, wenn die
„Frankfurter Zeitung“ das lieber hört, ins
Groteske. Gr.
«
Zur Metallbeſchlagnahme
s mehren ji die Fälle, daß die Bürger-
ſchaft einzelner Städte gegen die Be-
ſchlagnahme von Denkmälern Einſpruch er-
hebt. Der gute Wille, dem Vaterlande zu
geben, was es in der Stunde der Not braucht,
darf in dieſen Fällen nicht bezweifelt werden.
Wie ich aber aus mehrfachen Zuſchriften
entnehme, fehlt vielfach das Vertrauen, daß
bei der Auswahl der Denkmäler die rechten
Geſichtspunkte gewahrt werden. Zu den
beiden Grundſätzen des Geſchichtlichen und
des Kunſtwertes muß auch der des Gemüts-
575
wertes hinzugenommen werden. Für den
letzteren laſſen ſich keine feſtſtehenden Geſetze
aufſtellen. Für eine kleine Stadt kann ihr
Denkmal einen großen Lebenswert bedeuten,
das Anbeteiligte hinſichtlich feines gefchicht-
lichen und künſtleriſchen Wertes einer Rang-
ſtufe einordnen, die in größeren, mit Denk-
mälern nur allzureich geſegneten Städten
ohne weiteres preisgegeben werden kann.
Dasſelbe gilt auch von den Glocken. Im
Lärm der Großſtadt hat das Glockengeläute
kaum mehr einen Wert, für ein Dorf kann es
geradezu die Seele ſein.
Für den geſchichtlichen Wert der Denk-
mäler ſollte die Perſon des Dargeſtellten
nicht ausſchlaggebend fein. Ich hege Liebe
und Bewunderung für unſern alten Kaiſer,
aber unter den ihm allzu betriebsmäßig er-
richteten Denkmälern iſt eine beträchtliche
Zahl künſtleriſch wertlos, und für das ge-
ſchichtliche Andenken bliebe durch die wenigen
wertvollen immer noch genügend geſorgt,
auch wenn er ſich nicht im Herzen des deut-
ſchen Volkes ein Denkmal „aere perennius“
errichtet hätte. Der Künſtlerausſchuß, der zur
künſtleriſchen Bewertung eingeſetzt worden
iſt, ſcheint mir etwas ſchwach beſetzt und da-
durch von der Gefahr der künſtleriſchen
Parteilichkeit nicht frei.
In jedem Falle ſollten die Beſchlüſſe der
eingeſetzten Ausſchüſſe ſo früh veröffentlicht
werden, daß die Offentlichkeit dazu noch
rechtzeitig Stellung nehmen und auch ihrer;
ſeits mit Vorſchlägen hervortreten kann. Es
wird ſich dabei zeigen, daß manches Denkmal,
das vom Kunſtausſchuß vielleicht hoch ein-
geſtellt wird, dem Volke ganz gleichgültig
geblieben iſt, und da die Geſamtheit hier das
Opfer bringt, muß fie auch mitreden dürfen.
Endlich wollen die Stimmen nicht ver-
ſtummen, die behaupten, daß im beſetzten
feindlichen Gebiete noch eine Maſſe von un-
genutztem Metall vorhanden ſei. Man ſollte
eigentlich nicht erſt betonen müſſen, daß,
ſolange im beſetzten Feindesland noch eine
Glocke und eine Meſſingklinke iſt, in der
Heimat keine genommen werden dürfte. Aber
bei uns muß man ja das Selbſtverſtãndliche
immer erſt recht laut ſagen. K. St.
574
Valuta
us einer ſchweizeriſchen Zuſchrift an
die Neue Zürcher Zeitung: „Der
Staat, der die Preiſe für alle Gebrauchs-
artikel normiert, könnte ſchließlich auch den
Baiſſiers an der Börſe Vorſchriften machen
und ihrem Vernichtungsd rang nützliche
Schranken ſetzen. Es bedarf heutzutage
keiner ſehr großen Transaktionen mehr, um
auf die Börſe Eindruck zu machen. Die
ſprunghaften Kursſchwankungen, die in die-
ſem Kriege ſo häufig ſind, kommen ſtets nur
einzelnen zuſtatten. Eine Annäherung von
hüben und drüben wäre unſerm ganzen
Erwerbsleben förderlich, weil die unſicheren
Geldverhältniffe, wie wir fie ſchon lange
haben, allerorts lähmend auf die Kaufluſt
wirken und ſo ihr Teil beitragen zur Teuerung
und Verdienſtloſig keit.“
Kundige wiſſen, daß die erwähnten
keineswegs großen Transaktionen gutenteils
auf die Zürcher Bahnhofſtraße reichen. Durch
jene fremdartigen, geſtikulierend ganz ins
Agentengeſchäft verlorenen Geſtalten, die
tatſächlich auf die Valutaverſchlechterung den
regſten Einfluß üben und mit einem Tages-
gewinn im Durchſchnitt von 50 Fr. in ihre
Herbergen verſchwinden. F.
Deutſche Kulturpolitik
ein Zweifel, ſchreibt Dr. Sch., in der
Tägl. Rund ſchau“, man hat ſich große
Mühe gegeben, unſere militärpolitiſchen
Freundſchaften kulturell zu befeſtigen. Zn
Sofia veranſtalten deutſche Profeſſoren mit
klingendem Namen Vorträge, eine türkiſche
juriſtiſche Studienkommiſſion kommt nach
Berlin. Täglich faſt dringen Nachrichten dieſer
Art an unſer Ohr, aber ſie tönen nur von
ferne, Wirkungen bis in die breitern Schichten
der Gebildeten gehen von dieſen Dingen
nicht aus. Und das liegt daran, daß ſolchen
Veranſtaltungen faſt immer eine zeremonielle
Abgeſchloſſenheit anhaftet. Von den Vor-
trägen in Sofia etwa konnte man leſen, daß
daran die Hofkreiſe, das hohe Offizierkorps,
die Diplomaten und Parlamentarier teil-
Auf der Warte
nahmen. Alſo eine geſellſchaftliche An-
gelegenheit, eine Formſache. Es gehört
nicht viel Scharfſinn dazu, um ſich zu ſagen,
daß ſolche Kulturbündniſſe vom erſten
Gegenſturm umgeblaſen werden. Kommt
ein türkiſcher Dichter oder ein vlamiſcher Ge-
lehrter nach Berlin, fo ſpricht er vor den ge-
ladenen Herrſchaften der erſten Geſellſchaft,
und hinterher findet ein Eſſen bei Adlon ſtatt.
Erfolgreiche Kulturpropaganda müßte ſich
alſo auf der Mitwirkung einer weit-
geſchichteten Maſſe unſerer bürger-
lichen Intelligenz aufbauen.
Man unterſchätze indeſſen nicht die Tat-
ſache, daß die Kulturkreiſe unſerer Ver-
bündeten uns bis zum Kriege recht fern
ſtanden. Wir hatten mit Frankreich und
Italien viel mehr geiſtige Berührungspunkte
als mit den Türken, den Bulgaren, den Un-
garn. Daraus ergeben ſich für ein Kultur-
bündnis des Vierbundes Schwierigkeiten,
ohne deren Kenntnis der kulturelle Bund
auf ein ganz falſches Gleis geſetzt werden
könnte. Mit einem Verbrüderungs-
hymnus im Stile Naum anns wird
man nichts erreichen.,
Wir Deutſchen haben ja die verhängnis-
volle Neigung, uns mit den Fernerſtehen⸗-
den geiſtig eher anzubiedern als mit
den Volksverwandten. Der Engländer
wird natürlich ſtets und überall für den un-
bedingten Kulturtriumph der angelſächſiſchen
Raſſe eintreten, der Deutſche ſorgt ängft-
lich dafür, daß er ſich doch gegenüber
den Bildungsbedürfniſſen der Frem—
den ja recht loyal verhalte. Es wäre doch
bei uns vielen Leuten höchſt pe in lich, wenn
etwa jetzt in der Warſchauer Aniverfität
ein deutſches Wort geſprochen würde.
Wir geben den Polen das Beſte, was wir
an geiſtigem Inhalt und geiſtiger Or-
ganiſationsform beſitzen, ohne Kück⸗
verſicherung, werden es aber wohl bald
erleben, daß dieſe von uns geſchulte
Generation der polniſchen Gebildeten
unſere Kultur mit Füßen treten wird.
Saß ſich die Hauptkraft unſexer Kultur
propaganda vor allen Dingen auf die Oeut⸗
ſchen außerhalb der Reichsg renzen er-
Auf der Warte
ſtrecken muß, ſollte ſich eigentlich von ſelbſt
verſtehen. Zn bezug auf die Oeutſchen Oſter-
reichs hat man das aber während des Krieges
ſehr vernachläſſigt. So beſtanden beifpiels-
weiſe vor 1914 zwiſchen der reichsdeutſchen
und deutſchöſterreichiſchen Akademikerſchaft
herzliche Beziehungen, die während dieſer
vier Jahre ſehr gelitten haben. Das iſt an
ſich zu begreifen, mißzubilligen iſt nur, daß
keine offizielle Stelle in Deutſchland zur
Neuanknüpfung dieſer alten Bande ermuntert
hat. Es iſt vorgekommen, daß deutſchen Stu-
denten, die in öſterreichiſchen Bibliotheken
für ihre Diſſertation arbeiten wollten, der
Paß verweigert wurde! Mit ſolcher Kultur-
politik kommen wir natürlich nicht weiter.
Ein altes Geſchichtchen
& war vor dem Krieg, da wollte einmal
auf Veranlaſſung deutſcher Muſikfreunde
in Rom Zoachim mit feinem Quartett einige
Konzerte in Rom geben. Um einen guten
Saal zu bekommen, wandte man ſich an die
deutſche Botſchaft und bat um Überlaſſung,
natürlich gegen eine entſprechende Miete,
des dazu ſehr geeigneten Saales des Bot-
ſchafter⸗-Palaſtes auf dem Kapitol. Lange
kam keine Nachricht, endlich kam ein amtlicher
Beſcheid, daß nach einer Kabinettsordre aus
dem Jahre X (ich glaube, es war 1852) die
Benützung des Saales für Nichtmitglieder
der Botſchaft nicht geſtattet ſei. Inzwiſchen
hatte der franzöſiſche Boſchafter Barrere,
der ein großer Feind der Deutſchen im all-
gemeinen, aber ein großer Freund der deut-
ſchen Muſik im beſonderen war, gehört, daß
Joachim einen Saal ſuchte und ſtellte ihm
für ſein Konzert ſofort koſtenlos einen ſolchen
in ſeiner Botſchaft zur Verfügung, und ſo
kam es, daß einer unſerer größten Muſiker
Beethovenſtücke im Palazzo Farneſe dem
internationalen Rom-⸗Publikum vorſpielen
und Propaganda für deutſche Muſik machen
konnte. Vielleicht hat der Krieg nun doch
wenigſtens das Gute gehabt, daß derartige
alte Kabinettsordres ſo verſchwinden, daß
ſie bei paſſender Gelegenheit nicht wieder
hervorgeholt werden können.
575
Das Lob der nationalen Armut
hat der Dr. Michaelis in einer Anſprache am
Harz geſungen, Ahnliches Paul Ernſt in der
„Nordd. Allg. Ztg.“ ausgeſprochen. Beide
Aberzeugungen ſind uns unantaſtbar, um ſo
mehr, als ſich perſönliche, geſchichtlich ge-
wonnene Darlegungen längſt auf ähnlicher
Linie bewegten. Aber die Lehre iſt nicht an-
wendbar im Machtſtaat der Plutokratie. Mit
dem verarmenden Zurückbleiben der ſtamm-
haften Römer begann das Verderben Noms,
in geſetzgeberiſcher und ſittlicher und jeder
anderen Beziehung. Keine der bei gleicher
Verteilung oft günſtigen Folgen kommt
dort zur Erſcheinung. Fehlt dieſe, ſo werden
derartige Hinweiſe auf das ſittliche Gluck der
Begnügſamkeit leicht zur mißbräuchlichen Be⸗
quemlichkeit für ſchlechte Diplomatie oder für
eine einſeitige Politik, die die Laſten der
Kriegsabfchlüffe dem Volke aufbürdet und die
erreichbaren Vorteile beſtimmten Kreiſen zu-
ſchanzt. |
Da liegt denn doch eine beſſere Nachdenk⸗
lichkeit in dem, was Napoleon im Jahre 1810
den ihn begrifflos anſtarrenden Hamburger
Senatoren fagte: das Glüd Geſamteuropas
würde ſein, wenn dieſes auf die Stufe der
Völkerwanderung — d. h. zur Naturalwirt-
ſchaft — zurückkehren könnte. ed. h.
. *
Ideale Geſinnung, tadelloſer
Ruf
n der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. Zuli
J 1918 (Morgenblatt) ſtand folgendes:
„Heiratsgeſuch.
Großkaufmann, 27 Zahre, ev.-luth.,
Akademiker, ehemaliger Couleurſtudent, aus
erſter Familie, große, imponierende Erſchei-
ſcheinung, weltgewandt, von tadelloſem Ruf,
vielſeitig künſtleriſch begabt und von idealer
Geſinnung, vollkommen geſund, Mitinhaber
und Chef eines bedeutenden, altangeſehenen
Großhandelshauſes in deutſcher Reſidenz-
großſtadt, mit einem in raſchem Steigen be-
griffenen Einkommen von jetzt zirka Mark
40000.— jährlich, ſucht, ungeachtet ſeiner
ausgedehnten Beziehungen zu allererſten
576 -
Geſellſchaftskreiſen, auf dieſem Wege die
Bekanntſchaft einer vornehmen, muſiklieben-
den, jungen Dame von ſchöner Erſcheinung
mit einer Mitgift von mindeſtens Mark
500000. Anknüpfung der Beziehungen durch
Eltern oder Verwandte erwünſcht. Strengſte
Verſchwiegenheit wird zugeſichert...“
Es iſt alſo möglich, daß ein 27jähriger
junger Mann, obwohl „vollkommen ge-
ſund“ und von „großer, imponierender Er⸗
ſcheinung“ nach 4 Jahren Weltkrieg noch zu
Haufe ſitzt, während feine oft viel weniger
geſunden Altersgenoſſen in den Schüßengrä-
ben verbluten. Wäre der junge Mann im
Felde, ſo könnte er nicht „jetzt“ ein jährliches
Einkommen von 40000 Mark haben. Es iſt
möglich, daß dieſer vollkommen geſunde, alſo
kriegstaugliche Mann in der Heimat Kriegs-
gewinne einſchiebt, die für die meiſten gleich-
altrigen Feldgrauen ein Vermögen bedeuten
würden. Denn: an welchem andern Unter-
nehmen als am Krieg könnte man jetzt 40000
Mark jährlich verdienen? Vor allem aber iſt
es möglich, daß dieſer vollkommen geſunde,
junge Kriegsgewinnler „aus erſter Familie“
ſich nicht bloß feiner Dienſtpflicht entziehen,
ſondern noch Anſpruch auf eine „ideale Ge—
finnung“ machen und einen „tadelloſen
Ruf“ beſitzen und fin „alle rerſten Geſell—
ſchaftskreiſen“ verkehren kann.
Ja, das iſt's eben: Daß das möglich iſt!
* H. O. R.
Das Gewiſſen der deutſchen
Literatur —
o iſt es? Wer iſt es? Ein „Führer“
der Nation, Gerhart Hauptmann,
gibt uns Antwort. Er, der ſelten in Tages-
blättern ſchreibt, tut ſeinen Mund auf und
nennt in der „Voſſ. Ztg.“ — Moritz Hei-
mann das „Gewiſſen der deutſchen Li-
teratur“ !
Es iſt nicht anders. So ſteht's da. Die
Aberſchrift lautet: „Moritz Heimanns 50. Ge-
burtstag“. Und er beginnt: „Moritz Heimann
feiert ſeinen 50. Geburtstag. Als einer
Auf der Warte
ſeiner älteſten Freunde 0 ich ihn von
Herzen, den gleichen Gruß empfängt er
heute von ſehr vielen. Wenn ein Fran-
zoſe die Oeutſchen das Gewiſſen der
Welt genannt hat, kann man Heimann,
mit demſelben Recht, das Gewiſſen
der deutſchen Literatur nennen. In
dieſem Sinne hat er mit vollem Verantwort-
lichkeitsgefühl vornehmlich gewirkt.“
Iſt das nicht ein unerhörtes Geſchwätz !
Fehlt da nicht vollkommen der optiſche Ab-
ſtand? Der Artikel geht in einen Hymnus
über, worin Heimann, der Berater der Firma
S. Fiſcher, ein „Schutzheiliger“ genannt
wird, „deſſen allgegenwärtiges Auge
zur letzten Gewiſſenhaftigkeit und
Lauterkeit verpflichtet“. Man unter:
ſchlage dieſen Artikel nicht, wenn man einmal
Hauptmanns geiſtige Fähigkeiten zu beur-
teilen hat! Hier bekundet ſich, wie dieſer
Mann durch Berlin W vollſtändig den Blick
verdunkelt und die Urteilskraft verblödet be-
kam, ſo daß er wagen durfte, öffentlich zu
ſolchen Bildern und ee zu greifen.
— 1 —
Von den Wiener Hoftheatern
n einem Fachblatte leſe ich über den
Generalintendanten der Wiener Hof-
bühnen Freiherrn von Andrian Warburg,
daß er ſich literariſch bislang nur ſeit zwanzig
Fahren durch eine empfindſame Novelle
„Garten der Erkenntnis“ bekannt gemacht,
im übrigen feine Vorbereitung im diplomati-
ſchen Dienſt gewonnen habe. Da der letztere
ſonſt nicht gerade die hohe Schule für einen
künſtleriſch ſo bedeutſamen Poſten iſt, könnte
man über die freundliche Aufnahme des
neuen Herrn erſtaunt fein, wüßte die Mit⸗
teilung nicht gleichzeitig zu berichten, daß er
ein Sohn der Tochter Meyerbeers iſt. Er iſt
alſo muſikaliſch vielleicht etwas erblich belaſtet,
ganz ſicher aber frei von dem Verdachte einer
chriſtlich-germaniſchen Weltanſchauung, deren
offenes Bekenntnis Herrn von Willenkovich
ſo übel bekommen iſt. St.
Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: 3. E. Freiherr von Grotthuß Bildende Kunſt und Mut: Dr. Karl Stotd
a Einſendungen uſw. nur an die Schriftleitung des Türmerd, Zehlendorf-Berlin (WBannjeebahn)
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart
1 5 5 „ x — 85 2 — * . 8 5 4 F „ 5 „ 5 * 1 - .
B u 8 8 * = = . ‚ bo = 2 = B 5 F 5 0
2 > „ EZ 4 ? 5 5 8 5 8 7 ve „ . —— . 5 „ * ’ 2 *
! 5 3 8 5 8 f u 5 5 „ „ * er 77 . ng .
& 8 i 2 1 ; * — — 7 . ' a
! 5 * ö " * N Ei x z a „ * " a - ! 2 5 5 [4 - er *
— = E . 5 . 2 „ & . f “ - i 7
5 5 5 8
— 4 = 5 . = 7 = „ 0 * — Pen 2 * . = . . —— a ” 5
—— 13 . N es 5 5 2 . g ’ I 5 ; 5 -
j t m. Zu . ng = 5 7 A ! . 5 . > * = * 8 N 8 = - 5 . B
I ı „ “ x 8 8 . . 3 2 = 2 Er „ Ä 5 3%, - FAN 8 N \ * 8 — BZ .
— 1 8 0 5 % J * . Fr! 8 2 * = Re 2 . 8 5 * 8 2 8 . 5 . ®
- 7 ee 5 „ 5 zu N 5 ler N 8 N N = e
. . = s 5 - “ = 5 2 N 5 = * ’ .
g 8 2 j en, j 8 > . . : i 5 „ N 35 3
j A ” A - Ser 8 . e 1288 g N ü . u EB . eh $
5 N © . x — 8 a 8 5 5 8 . un — . ® \
\ 155 . ä * = 5 8 =: u 5 — — 8 — . = * 1 . vr 5 .
5 . x [ \ 4 * e — a: — € x % = - 8 8 \
. 8 . ER: > 2 8 f E — \ 5 - 2 8 2 8 „ — . 8 5 e a . Ba
! N u \ ’ } Zi ; . ö — u . 5 e 5 15 — " x Fe) a
1 5 \ \ j ö 4 g 5 € = 5 * 1 . Se 8 5 . A R Zu
0 . x 5 2 — 2 * . B
8 ‘ i 5 5 } _ \ SE ei i „ \ 2 BE KEN: er ii FR . . ; ’ : a . 5 x
’ f 8 ge - — 1 mr 5 3 25 — . 5 5 “ . 8 „ 5 8 8 P 2 x = 3
a — 8 . „ 265 B 2 E > 3 ; = — „
1 „ 8 i ” 2 2 A * * 1. 9 „ pe ER >. „ e 7 2 1 * = 8 ' "fr A 5 ’
; 5 7 x “ - n 2 £ . ” 8 2 5 Fe: 2 8 f 5 N . C
N En: N = 4 5 g N „ Sn 5 8 5 8 8 5 f ER ß f 9 i N 7 ö
ce R - — 1 „ Ca - _ - * 5 * f PR - - = Ex 5
B ve 2 8 1 a 8 8 8 9 2 * 8 2 3 f . N x a x 0 — 2 . 5 9 2
“ Ne on * 22 5 e 9 ON DE e a — — } i ee e e
N z - eo „ 32 Zu — 272 „ el 2 & „ . — 2 8 RR Fi N Nor
ou = z . “ Ri 8 2 ö
2 > - j . 8 am x 5 5 * . i 8 8 un . Ka 1 5 . ö x .
. 3 4 a 5 a 2 E 5 BER, 8 A re a . 5 = 4 5 5 pr — N „ „ ‚ 5 . \
* fi 1 — - . - * 5 5 - = 5 . 5 5 . 8 5 8 “ )
2 . — 5 ! 5 — = .. 5 * N 5 — 5 7 7 —
5 \ . IE RE 5 .\ 2 75 2 x = . 1 ai 8 — . a x
ee - = — - Sc 0 Zu 5 8 5 : 5 i . : g
, i 1 „„ , x — * ‘ IE vn 25 - — = ’ s - j
x . 8 5 „ 1 — „ B - = » = hir 5 \
* \ N e ‚ ; ; 24 a 8 = 2 - x 2 a . 8 7 . 5 = r . N . 5 „ 8 . 5
x e 2 EN 5 P r 9 & . g 8 7 N „ — 5 © 2
. ‚ x „ 5 5 „ : — 2 a 2 x ; a \ R * \
ES 7 \ . 55 r . r . — — N . 2 N = 5
2 Se 5 * z 8 . 5 . , ur . ger an # . \ N : 5 a
- EN 3 = 5 * 8 ’ „ . . Se 25 1 2 85 3 - 5 5 . a = 0 11
8 — = : 5 4 — N x ER . = - 7 „ 0 8 x 2 ze 8 1 .
ns 8 8 5 5 8 — 4 . . ne 8 2 he ö „ 5 = 5 > ö * \
® 85 \ = \ UN 1 . * 8 5 5 a 4 37 j 3
f N N Fuer ® b * 8 5 8 5 . 5 a 2 = LS 5 . 5 8 „ 5
7 x . a 8 v - a u vi Ei 5 . * A 4 * * 9 . N 25 2
N N 5 - 2 = „ N 7 — 2 a u !
„ „ 5 . . — „ * ; Re 2 8 . um Be
; Fer 8 5 1 a = ee f \ „ — = 5 a
9 2 5 0 — „ ” „ ’ un Du A DEN = — De 8 . * x 2 — = 5 1
8 * an . 5 7 5 - == 8 5 7 8 ya 1 — r x
. + 0 5 8 „ 8 * 8 ‘ - ji . ** 8 5 8 N rs * *. . .
2 ach 8 „ a R . S 2 7 0 — & F , ne ah
8 „ 8 n — 4 A 2 Ss a „ . „ u = - a: oo. .
3 * f * 2 ! oo. 7 — = 1 5 - „ 5 \ 5 . . — > 5 f e r .
BEN . [ ' E N s 7 2 ' x N . sr 5 u ö ; 0
f 1 1 f 1 . = is. N Se . — — . * * 8 8 5 8 , x
B . 8 en A = z . Re — ” = ‘ . 2
Er f i \ £ 9 y 4 | & 3, . 2 1 1 AR N . x 2 1
mr „ 5 0 8 . ‘ 5 . . = i N * u * * LE
* 2 5 5 . — * j r. Ru N 8 8 N # 1 55
8 = 3 De a N Zu 2 5 oo 2 7 . ie. . , — 2 8 , u . 2 8
2. 8 * g FL: Er „5 5 1 - 8 R \ . a, er 5 oo. 7 8 \ x 8
EHE 5 oo. | N = . > = Zu: 8 5 . E ' 8 . . 5 „ 1 N * ' ! \ nahe 1
. + 7 * 1 * * Be 7 Pi = * — * . 8 N - . der 5
5 f . A I . 2 N 2 5 2 x * * * = — . * . "
: i ö 5 8 x h f 1 5 = : . 8
8 . ; . . 2: .. 5 4 ‘ 3 - f 2 Ei
= - ei f 5 2 u „ 2 5 . ö 5 x wg \ x 0 Ei 5 — ‚ „
5 — ' „ 5 ® 8 * . ' * * * — => 1 N 5 85 . * 5 2 i r 5 *
\ = IE: 2 Pr . 8 . a, ne j 8 . Et
* Ns 1 Pa 1 . 8 ri I: * = - . 2. . 5 u N 2 . 8 | 2 1 ‘ 1 -
se 3 4 £ . N 7 1 5 \ 2 — 5 . 2 2 5 25 Bi 5 . 8 ' k de „ . 8 2 8 * \ 2 n .
N ua 5 * . 5 IN er 2 * 2 * 5 — 5 oo. > f ee . EN 5 0
„ 5 N 4. = — a . - 5 x 8 , . 5 ER Gr. A — — r 33 r
. . A 135 . ‚ 2 . IE \ 8 5 , Br; = 5 Fr Erg = N a 3 r
PER 5 ve 8 - Br 4 Pr 2 * ed . = 8 , es = * * . ven “ = .
775 i 2 4 2 — = r 1 - 3 8 = . & 5 N 5 - . . u
g * \ » . 5 . rn ren > > N u x ” '
N 5 „ = = 8 5 3 . 8 2 „ N * * 5 Dr: * BE x
PA r ® 5 82 8 . N h 75 - — 8 5 8 0 . 8 8 “ u 5
5 5 . 5 ‘ 5 3 Pa * 8 = = © ! --- A 8 . .
8 L 92 „ 8 8 „ 05 = 175 5 2 2 — 5 . ) 5 8 7 Er 2 ‘
- er . —* = 4 * - * * 3 - * A en 2 —
* . . a a 2 - . 8 . 2 = 5 20 — — 0
. „5 \ 5 1 . Er E 2 : R 2 sh = . „ eo. 9% . 5 — 5 — a 2 ; or
5 B - —— . 2 - 84 8 U . — — ar 5 x A “ EIN. „
! \ } ” 5 008 e nd Be „ . > = . { = ” * ‘ . ee f 8
’ . ı . . 8 5 — f f 2 B 2
5 0 \ i ° ; ö on 1 2 = = Pe ah Fe — 4
1 . * \ 8 5 7 . x nn = 8 oo. Br „ u ; vr ' £
\ x . l . . e ee - er ; au e .
5 ‘ . 5 \ N = . =, 2 8 — . 8 . 8 Be TEN ON ass 2 2. 8 m 5 . 1
\ ' X „ , 5 2 2 8 x » 2 7 — 87 8 8 \ - i — ‚ \ 4 \
. 5 2 8 > - 2 . “ N & „3 z 2 8 7 8 8 — 85 Pe 8 g 8 8 8
v h x 2 . ö * 5 en N ; es ’ — St . s : * zen Se: . i \ —
8 .. — a — a . = — 8 9 2 > 4 N “> 1 82 — 7 E 5 2 9 . . Ri
3 “ 5 : . a 8 4 un ” — EZ ‘ Ss H we “> ä =
3 a 8 . Ei . a 8 — } 2 8 0 75 ji + . — E , - u — 5 . 5
8 . 8 . = - ‚ ö - „ .
— . “ & — bu ie ee . . * — . 4 \ . 1 „ 9
N a N . * 1 Sr . 8 se 5 7 % r u ’ 8 8 . 4 5
=» * 5 — — 1 5 . 2 2 . 4 — 8 3 * 8 — a - - 5 oo. .
re N — 2 0 . 5 2 4 ; 2 5 . 2 8 0 — — 2 A 4
„ g — a 8 ö ö 2 * — > | 4 — 5 2 au . 5 Fi - R * |
’ 5 x „5 N . . . g 8 ” 25 * = © . . — z ji R 5 .. * £ re 7
. — . 8 £ 3 x 8 - 8 2 . — ı 2 .
4 . . \ ; 5 : En \ 5 1 1 oe EEE Ta RE . 5 1 x A \ 3
: N . . * . R Ban = — ' 8 5 5 5 - 3 ; 8 1 5
— ‘ Er 25 — £ = — — 8 8 Lo — e 2 2 - x 5 - — A
8 \ 7 8 4 \ RER. 0 0 A x 4 . 8 * n 8 5 8 * 5 - » i j 5
5 er. * & = ee eee 1 — 1 f 5 er R . . ; 5
1 8 ‚ 1 * 5 + A. 2 * . . 8 . - — x ne x r . - . * 5
- „ , . * . > 5 SR: a 8 8 x ur 2, 2 2 . . „
D £ 2 ö * ! : 8 BE — —. - om . 88 1
Br 5 25 3 4 — 5 1 u . x . —— 8 3 9 8 2 [ 0 3 in ’ 5 vi 2 . „ ne 5
pr — 3 8 * 8 1 \ 15 2 875 2 D 5 . = 2 0 1 ‘ 7 „ = 2 2
nen, \ 5 A Er 8 A 1 „ 5 12 5 — 8 8 sr, , . EN. r
x : * 0 5 5 ; * 5 — e - ” . 5 * = = r * . 8 ei | + .
N A 2 B * . „ 7 He ER = 5 — ö 5 > ! —— 2
ee 5 * — 7 \ * ® 5 1 „ . Be = u Er .. „ 8 „ fi N 7 N 5 . 2 1 r 8 1
— 2 * SE - 8 Kay „ N - x $ we . 25 * 2 . . > x 1 = Ka 5
„ , 8 N me 5 j , ’ 2 Mon MR Br: x EL 72 BER 8 E j nn NER 2 i
= 8 5; * x * 3 * — 8 8 - = - I Peg m B 5 a 2 8 5
5 . N Fr s 5 * * * 8 . = 5 j ä x 8 ei m = 1 9 U .
25 . Ei — 2 B ö 8 — u „ = 5 — R TR fi ö „ ur
7 * ; = 5 5 “ er j 8 „ * en E = ! Pen 1 ar NER 5
. A x 5 . 7 . — N 2 N 4 = ’ A 1 I . u = 1 5 P \ Dun Paz =. 5 * |
ra Aug: vr er 2 3 en Ve . Ur, „ u g l * a = 7
5 Y } ce . . 5 1 er „ 8 ER * „ — * a . 5 s „ „ 4 .
Harte + a x B 3 * u Weg . ! 8 „ = \ ‘ 2 =
2 gr € 5 * — x . 8 0 4 . - „ „ 0 — \ - ” .
12 f en * 4 . 7 \ Fe Pr En ’ = * 2
N # . £ 2 = 5 Az ‘, — 5 . ** „ . 1 2 Ba „ os K . A x i 7
8 1 f Br a2 „ . nr 8 85 ER . * © Re DR = 5 1 & 5 FR N . N \ E
j 1 - 0 . — — . BEL i . 7 5 m 5 „ 2 ex = . 8 8 . 5 2
85 . 8 „ - 5 5 1 — 1 8 0 Pi — —— „ .
* 5 „ 8 vor -, 2 Ser j 5 e 1 5 F J 8 DER R 2 28 N , 8 >
2 - „ 5 2 7 2 = B
* e 7 7 1 2 7 , 8 x . — Pa . 7 58 8 5 Eng EIERN . 8 \
8 85 5 1 „ * x ee e 2 2 ee 2 5 . 2 N N i
7 8 F Be | 5 5 * 2 .n 2 ® 2 1 5 „ N 5 aeg x 8 „ j ; ; 1
\ « = N \ — x — > = - Pi f 2 ” . — ; 2 - — ‘ . x 5 3 2 * *
— 1 — I 2, 7 9 5 1 N a 5 N 7 —— * 8 = Sn . 5 un 2 BE + RR * 8 „
— u “ * z 8 ı - 5 - „ 4 + - . - x 8 ! ' 8
5 8 N 2 * 5 * 5 „ . nr u Re .. 5 R 7 8 x PO *
e „ \ a 2 8 , . 5 1 ’ 5 . 5 . ae 4 x 5 5 £ — .. 3 E
* e 0 e = ' eh ! - 2 Fe 2 5 - une = : 4
5 25 N 3 - ® 1 5 a 2 . x > 2 8 8 5 „ . » = . 5
, * A ‚ 3 5 5 — j x 8 . Be = 84 - — — fr * 8 8 8 „ N 5 Bi f ö
Fe e A 8 j 5 1 7 3 . 5 5 5 . — — . [ > N 8 B „ . ö „ h .
5 8 8 5 \ 8 123 N . ! 2 8 N „ . wir; 8 8 = x 5 a She, Pe, i
. x 9 5 5 . 2 N en 5 3 . . 3 * 8 . 2 28 . N * > ! 5 5 sn
72 * 5 ‚ A u en 3 0 . 8 N 2 „ 8 = DR - 8 5 — ars u:
ö x = 9 15 0 N * x J s . 5 288 EG — Pi .. 7 5 8 2 8 - 2 | 5 \ „ ji
h 1 . N an 8 ur" „ 1 5 2 * 5 „ D er
. 55 7 2 2 1 5 „ \ er 5 * —— — ' — — 5 . x . U
. \ N . 5 - a BIER 825 Eu . N —— 1 8 N 2 . 8 5 5 — 17 x
. 3 . 5 5 5 5 23 e ir 825 N , 7 . N g 5 = „ . i
x „ 7 > 2 Be Sn. ze i 75 , EN 8 Se ' A x Er 77 5 5
8 \ - BER , er — 2 - va! 5 Be — 2 - | * 8 „
e E = 1 ‚ 8 2 . 2 = 17 . 1 55 . 2 NE D. 5 — 8 91 225 5 ze ı 8 - 1 . 82 N “ . — Bi
® 5 7, U mes 2 8 85 3 . . . 8 De 5 ER N — 5 = H, PB R x l i . - 5
ee a 5 . — 2 we e 8 re Se 1
5 \ ei ZN „ 2 8 5 a gi 5 8 n > 2 . —
- 5 . — 0 1 8 2 . 5 4 . . * 2 , f 2 „ 8 . & ev 5 5 2
Ka 1 2 5 an N „ . ir BE ER be Ne . 7 = „ ee ME > ur z 5 5 Be
2 7 2 5 F = 2 Er Kuss * N —— 2 7 » * * 8 0 = 8 v Su, > =
1 . 7 | * 2 . „ “ - Per * 1 oe Ni or „ 2 — . 5 5 ; 1
a 5 . 5 A F ; . - 5 N e Er ö
8 Pr A — * . \ . e . . - 5 — : 8 x 5 2 — = -
„ ö / . BEER ee . 5 ; ri = E ‘ ; Ben . * . - Br:
N x , Pe : f 1 3 =. ’ e en . ER 5 ee Sr = 0 9 8 7 a oo.
a * > „ x " 2 8 x ä N 2 un ee: . - „ - . a
g ; e „ ! PR ee „ e 8 85 . N ; 5 1 . 5 * - M „ 5
j Ze I g Br „ „„ ' . 5 - ! — „ . f 5 21 ' ; „ 5
Fu „ ! 5 7 5 2 x ange le: „ N RS: 0 5 i er 3 5 . E 5 „ * g 8
. £ 5 5 2 = 3 ne 5 5 i „ 8 3 9 r 5 2 ; x 8 2 . = f . .
P = „. N 3 . „ 8 * ee } 5 * N 1 7 4 7. . — 1 \ * 8 8 5 ' en 1 - —— 75 5
D > PL „ EN nn 5 5 x — . 2 MR we 5 . 2 , 2 5 8 : . 2 Aue . a 5 . 8 A 5 b
8 = 2 8 in F B R * 2 * Ks 5 E = „ x . 2 „ 8 . € a 0 *
x - g 0 f 8 — en: 2 5 # . 8 u „ 8 * 8 5 5 5
„ — La 7 * = 3 „ — = 3er . NK . * a 3 = 2 . . * AR a j x 5 R . 2.
R 5 5 1 . 8 Pen . 5 A . 5 . - 8
W A \ x A ee EN ut „ 8 * i ; * 9 .
1 * 8 165 i : j 8 , — x 5 3 8 >
5 % 1 * 4 . * . } ee } 1 A 1 8 0 7 . e * ei = 1 Ns
. x - . . — 5 * 8 r l
. * Ene + Pan 5 ag 2 2 8 ’ = £ & ‘ . 5
un r 4 * 7 8 1 2
e
rn
u
* 1 = \ .
n E
* wo
Kirn teaag n
* reine *
— eee. au}
_ und u
14 „
„„en *
A.