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Full text of "Der Türmer 28.1925-26, Band 1"

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Der Türmer 


Monatsſchrift für 
Gemüt und Geiſt 


Herausgeber: 


Profeſſor Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard 


Achtundzwanzigſter Jahrgang 
(Oktober 1925 bis März 1926) 


Stuttgart 
Derlagsanftalt Greiner & Pfeiffer 


AP 
30 
42 
7 28 


pl 


Oruck von 
Greiner & Pfeiffer in Stuttgart | 


Inhalts⸗Verzeichnis 


Gedichte 

Seite Seite 
Beaulieu: Ou ſagſe . 30 Lorenz: Wintermorgen 405 
v. Freytag-Loringhoven: Adel 284 Paulſen: Nächtlicher Wind 306 
Sayda: Gebe 219 Pilf: Todesahnunssss 111 
Geude: Die Schöpfung 15 Schellenberg: Die Flucht nach Agypten . 228 
— Tod und Leben 15 Schimmelpfeng: Herbitabend ......... 12⁴ 
— Irme lind 408 Sternberg: Nachtboot auf dem Rhein. 20 
Günther: Gott iſt nag 206 Tiedemann: Herbſtgnade 5 
Hadina: Hochzeitsmorgen 397 Wiſſer: Die Eiceete 127 
Rabe: Feierabenndid eee 384 — Sie Liebenden 493 
— Zwifden Pflug und Sud ......... 501 Wikleb-Fhle: Weihnachts legende 223 
Konig: Gottvaters Gericht. 128 Wolf: Trübe Landſch aft 135 
Leis: Der Oichteer ecceee 315 v. Wolzogen: Das letzte Licht. 313 
Lipp: Oer oſtpreußiſche Mann 482 — Was iſt die Welt?................ 471 

Novellen und Skizzen 
Albrecht: Vom Erleben des Todes 121 Langsdorff: Re quien 144 
Bülow: Am dämmernden Abend 306 Martens: Der Dämon des Lichts (Rem- 
Burdett⸗Burchard: Empfängnis 314 brandt-Roman) 6. 112. 207. 285. 385. 472 
Emit: Die Entführung 494 Meblis: Oer Tod der Künſtlerin 132 
Gäfgen: Herdgl uk 315 Moſer: Spaniſche Reife .............. 31 
Hartenſtein: Der Freund 125 Schneider Weckerling: Siebenzigmal ſieben 136 
Hogel: Spätfommergeipenft .......... 21 Siemers: Der Hufar .............006 406 
Hud: Das Lraumgefidt ............. 224 Topp: Oeutſche Weihnachten an Bord 
Jungnickel: Wunder im Buchladen 228 eines Kriegsſchiffes 231 
Kraze: Weihnadtsftimmung .......... 220 Weſthoff: Daheim .........----..000. 229 
Auffage 

Baud: Von der Baterlandsliebe ...... 2 Grothe: Großdeutſchland, fein Lebens- 


v. Berchem: Streitfragen des Weltkriegs 421 
Budde: Die neuidealiſtiſche Pädagogik 

der Gegenwart 
Dennert: An der Grenze des Stoffes .. 429 


Deutſche Grenzbau een 509 
Dürre: Gerd Schniew ind 530 
Euden: Das Einheitsſtreben in der 
neueren Philoſoph ieee 282 
Fuß: Ludwig Findkt˖˖ d 521 
Francé-Harrar: Das tote Syrakus 138 
v. Gleiden-Rugwurm: Die Runft der 
Ware oe 307 


raum und feine Grenzen 466 
Guthmann: Shakeſpeares Krankheit und 
S ͤ K 
Hammer-Webs: Ohne Märchen — ... 
Herſe: Die Staatengründungen der Nord- 


Mannen 316 
3.: Auf der Farm und im Buſch h 483 
Junker: Bom ungegebenen Gotte...... 48 
Kaiſer: Die deutſchen Grenglande ..... 322 


Kritzinger: Die Sterne, Goethe und wir 150 
Lienhard: Zugend und Alter im Lichte 
des Ideas . 378 


IV 
Seite 


Loffen-Frentag: Foſeph Haas, ein deut- 
ſcher Rünftler .... nennen" 550 
Oehler: Oas alte Heer und die Kultur 419 
Pflügl: Oeutſch Südtirol und wir. 518 

Raetzer: Leben und Kultur der alten 

Etrus ke...... 
Reini: Zwei Oberlinbrietre. 16 
Roſenkrauz: Weihnachtskult und Kultſtil 235 
Schäfer: Germanentum und Ackerbau. 514 


Inhalte-Derzeichnis 
Geite 


Geifert: Urwelt, Sage und Menſchheit 44 

v. Selle: Malwida von Meyſenbug an 
Heinrich von Stein 

Sſymank: Der deutſche Hochſchuleing 

Steinmüller: Jeſu Evangelium und die 
deutſche Seele 

Sternberg: Das Haus der Brentano zu 
Winkel im Rheingau 

v. Uxkull: Die Eleuſiniſchen Myſterien . 98 


415 


20² 


Schlie pmann: Schnipſelkultuutet 319 Wachler: Savits, der Vorkämpfer eines 
Schorn: Karl Peters. 502 volkstümlichen Nationaltheaters 52⁵ 
Schröer: Bauern not. 506 Willrich: Zuden und Ale xandriner in dem 
Seeliger: Die deutſche Bauernhochſchul⸗ neugefundenen Brief des Kaiſers 
bewegung 32⁵ Claudiuunnsss .. 237 
Beſprochene Schriften 
Altmüller: Deutſche Klaſſiter und Ro- Oeutſches gnabenbuch und Oeutſches 
mantiter. Unſterblichkeitsproblem. Mädchen buch. 250 
Höchfte Lebenswerte „.....:."" 373 Die Zukunft 83 
Barnum: Die große Trommel 347 Oresdener: Schwediſche und Norwegiſche 
Bate: Voſſiſche Hausidylle, Briefe von Runft feit der Renaiſſanſde 
Erneſtine Voß an geinrich Chriſtian Oreyer: Das Symnaſium von St. Jurgen 174 
und Sara Boie . 345 Engelbrecht: Ludwig Fahrenkrog 
Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit 62 Edardt: Fr. L. Jahn, Eine Würdigung 
Baumgart: Die Nordgermanen 514 ſeines Lebens und Wirkens 348 
— Die Adergeräte ... nen" 515 Fehling: Briefe an Cotta .... 1. 347 
— Die Südgermanen 515 Fehr, Die Märzoffenſive 1918 428 
— Die Urheimat der Landwirtſchaft aller Finch: Roſendokt en nnenn® 522 
indogermaniſchen Völker 515 — Reife nach Tripstrilll .. 522 
Bertelli: Max Butziwackel, der Ameijen- — Rapunzel 522 
kaiſe r 250 — Bodenſe her. 522 
Berwin: Friedrich Hölderlin 218 — Zakobsleitee uu. 522 
Beyer: Rorddeutſche gotiſche Malerei. 255 — Biskra aaa. 523 
Binding: Aus dem Krieg 349 — Geetdnig und Gras pfeiffer. 525 
Brauwald: Berufsſtand und Staat 19 — Ahnenbüch lein . 52³ 
Brodhaus: Die Kunſt in den Athosklöſtern 79 Folberth: Stürmen und Stranden, Ein 
Boymann: Marburg als Nunſtſtadt . . 252 Stephan · Ludwig · Roth Buch e 348 
Budde: Noologiſche Pädagogie 35 Gerhardt: Der junge Wichern 348 
— Was fordern wir für die Neubildung Goedſche-Reteliffe: Biarritz 547 
der höheren Schulen 41 Haack: Führungen und Erfahrungen 348 
Burdhardt: Der Cicerone +--+ °° 7 252 Hadina: Advent:: 458 
Dacqus: Eine naturhiſtoriſch · metaphyſi⸗ — Alltag und Weigihe 436 
ſche Studie % — Die graue Stadt — die leichten Frauen 438 
Damafdhte: Aus meinem Leben . . 249. 319 — Heimat und Seele 437 
Oeißmann: Paulus.. 19 — Lebensfeie e.. 437 
Der große Rrieg 1914—18 ....-----: 422 — Maria und Myrrha „cn nn 438 
Der Weltkrieg 1914-18... nn" 421 — Nächte und Steme „nennt 436 
Oeutſche Boltheit ..---- ee 248 — Sturm und Stille.. 437 


Inpalts-Derzeichnie 


Hadina: Suchende Liebe ............. 438 
Hamann: Die Eliſabethkirche zu Marburg 
und ihre kuͤnftleriſche Nachfolge . . 252 


Hammer: Abraham Pürninger ....... 348 
Herder: Die Zrühlingsreife .......... 250 
Hartung: Gottfried Reller ........... 347 
Heyd: Der Zeitgenoſſ u 174 
Hoffmann: Der Krieg der verfäumten 
Gelegenheiten 425 
gohlbaum: Der Zrühlingswalger ..... 280 


v. Hötzendorf: Aus meiner Dienftgeit 
Höver: Vergleichende Architekturgeſchichte 251 


1900 /nͤ/cꝙhH/ %ꝙAè] ꝙ KT 422 
Huna: Die Verſchwörung der Pazzi .. . 175 
Hunnius: Mein Weg zur Runft ...... 347 
Jantzen: Deutide Bildhauer des 13. Jahr- 

hundert᷑ N 252 
Kabiſch: Streitfragen des Weltkriegs.. 423 
Keyſerling: Das Ehebuc h 663 
Kilian: Aus der Theaterwelt, Erlebniffe 

und Erfahrungen 347 
König: Der Dombaumeiſter von Prag. 

Ums Heilige Gra 250 
Rolbenheyer: Oer Schatzgräber. Brei Le- 

genden. Nein Rega u. aa 342 


— Giordano Bruno. Die Bauhütte .. 345 
— Ein Gruß vom Wege — Eurem Wege 344 


— Gimpligiffimus .................. 344 
Rriginger: Myſterien von Sonne und 
See 8 158 
v. Rügelgen: Gerhard v. Rügelgen, ein 
Malerleben um 18ʒ· 347 
Kurz: Der Deſ poet 175 
Kunkel: Das große Jahurr 159 
Lange: Johann Strauß, Roman. Joſeph 
Lanner und Zohann Strauß 279 
Larfen: Der Stein der Weiſen 176 


Lennemann: Saat und Sonne. Auge 
um Auge, Zahn um Zahn. Das Ge- 
heimnis der alten Bibel 276 

v. Liebert: Aus einem bewegten Leben 249 

Liders: Minna Eauer, Leben und Werk 349 

Meißner: Rahel und Alexander von der 


Marwitz in ihren Briefen 346 
Meyer: Gefamtausgabe ............. 249 
v. Moſer: Ernſthafte Plaudereien über 

den Weltkrieee gg 42⁴ 
Möller: Von Bach bis Strauß 280 


Much: Rings um Serufalem ......... 252 


V 


Selte 

Naunyn: Erinnerungen, Gedanken und 
MeinungenNlnsNðNdddndndnn 348 

Nebe: Aus der Brautzeit eines beutſchen 
Gelehrten 1788—1791 ............ 348 
Negle: Fräulein Mozart ER 175 

Parker: Aſtrologie und ihre Verwertung 
fürs Leden bees 158 
Paſtor: Rembrandt. 255 
Paulſen: Die kosmiſche Fibel 551 


Peters: Vom mutigen Leben. Strahlende 
Kräfte. Menſchen in der Ehe. Frauen 
leben — Frauenliebe. Glücks kräfte 
Der ieee ewes 278 

Poſtl: Nationale Charatteriftiten ...... 547 

Ries: Briefe der Elife von Türkheim .. 345 

Saitſchick: Menſchen und Kunſt der ita- 


lieniſchen Renaiffance ............ 366 
Salburg: Böhmiſche Herren .......... 548 
— Hofadel in Ofterrelh .............. 548 
— Wilhelm Friedhof w 548 
— Zudas im Herrn 548 


Savits: Von der Abſicht des Dramas. 526 
— Ghalefpeare und die Bühne des Dra- 


m̃)0%“fsfffffff“h 8 526 
Schäfer: Moderne Malerei der deutſchen 
She 8 255 


Scharrelmann: Piddl Hundertmark. Rund 
um St. Annen. Täler der Jugend. 
Jeſus der Jüngling. Die erſte Ge- 
mende 277 
Schliepmann: Von feligen Herzen. Was 
das Leben erfüllt. Die Wenigen und 
die Vielen. Abſonderliche Geſchichten. 


Die Büßende Magbalena ......... 372 
Scholz: Bilderbüchern. 251 
Schott: Die Hacker von Freiwald 176 


Schuchardt: Robert Roldewen (Briefe) . 348 
Schwab: Sternenmädte und Menfd... 158 
Schwantes: Aus Deutſchlands Ur- | 
gechchce 252 
Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit 
(Im Banne des Expreſſionismus) 248 


Springer: Kunſtgeſchichte I. Band 251 
Stolzenberg: Anthropoſophie und 
Chriſtentuu kuk ee 89 
v. Strauß und Torney: Lucifer 175 
Strümpell: Aus dem Leben eines deut- 
ſchen Kliniker s 548 
Tirpitz: Erinnerungen 81 


VI Inhalte-Werzeichnis 
Geite Seite 
Tirpitz: Politiſche Dokumente 81 Weber: Dietrich von Bern. Die Hegelingen. 
Vierordt: Erinnerungen 195 Asgard. Midgarrd eee 250 
— Das Buch meines Lebens 347 Wendel: Ein Leben voller Abenteuer .. 349 
Volz: Friedrich der Große und Wilhelmine Wilke: Die Religion der Indogermanen 
von Bayreuth, Zugenbdbriefe ...... 344 in arddologifher Betrachtung 252 
Vollerthun: Island Saghg a 70 v. Wolzogen: Wie ich mich ums Leben 
Wagner: Kaiſerliche Eingriffe in die Welt; Nahe deat 249 
kriegs führung 424 Würtenberger: Über Hans Thoma .... 253 
Weber: Der deutſche Spielmann 250 Zimmer: Oichterweisheit in Briefen . 249 
Offene Halle 
Bleibtreu: Oroht neue Erderſchütterung? 160 Kirchmayr: Zur Alkohol frage 354 
Dietert: „Hinein in das Reftaurant“? ... 3355 v. Morawitz -TCadio: Die Aftrologie als 
Herbertz: Das Erdbeben im Erlebnis der Natur- und Geiſteswiſſenſchaft 341 


Menſchde eee 
Hercod: Fft das amerikaniſche Altoholver- 


Rittelmener: Die Chriſtengemeinſchaft. 51 
Schellenberg: Die Frage der Sternen- 


bot wirklich ein Unfug? ng 353 DOUNING: cocks icdnas ce incaead os 155 
Rleibömer: Alkoholverbot in Amerika und Wolff: Zur Alkoholfrannnne 332 
in der Türkeeeeeeeeii eee 336 
Literatur 
Anderle: Emil Hadina als Lyriker 436 Lilienfein: Briefe, Erinnerungen und 
Franke: Die Buchkarten Sammlung. . 438 Lebens bildeeeuh;;u eee 344 
Fuß: Ludwig Finckh 521 Metz: Bruno Bauchs Hauptwerk ....... 62 
Ganda: Neue Buchee 175 Müller: Jean Pauuss 167 
— Bücher für Weihnachten 244 Schellenberg: Bücher über bildende Kunſt 251 
Golther: Rückblick auf Bayreuth 1925 ... 258 Treblin: Der Dichter Erwin Guido 
v. Hülfen: Max Halbtee 56 Kolben eher 359 
Bildende Kunſt 
Oiirre: Unſre Bilderbeilagen (Schwind) 441 Singer: Eberhard ge 66 
— Gerd Sdhniewind.........eeeeveee 530 Anſre Runftbeilagen ..............06- 254 
v. Sell: Ein ſchwediſcher Rünftler ...... 350 
Muſik 
Huhnhäuſer: Emil Mattiefen ......... 257 Möbius: Theodor Kirchner und | die 
Loſſen Freytag: Zoſeph Haas, ein deut- Wiedergeburt der Hausmuſie 352 
ſcher Künftler 0... . ccc cece ew cence 530 Zimmermann: Die Tonwortlehre von 
Moſer: Georg Vollerthn- n 70 , iieescadestesees 442 


Znpalts· Detzelchnie 


VII 


Türmers Tagebuch 


Seite 
Weltregierung Eigennutz — Oer Preis- 
abbau und feine Widerſtände — 
Frankreichs Schulden politik und Chur; 
Hills Kniff — Oer Pakt als Luft- 
geſchaft — Kriegeriſche und krieche; 
ride Pazifiſten — Das „Nicda“ der 
DIRT. ee 71 
Graf Überall — Die Rriegslüge und die 
Verbandsſtaaten — Polens troftlofe 
Lage — Drohung mit Räterußland — 
Locarno — Oer Patt — Oer liebens- 
würdige Briand — Was ihn bewog — 
Die Cordelia des Voͤlkerbundes 178 
Ein Sleichnis — Vom Oolchſtoß — Die 
Abrüftung als deutſche Waffe — Muf- 
folini, der neue Caͤſar — Chamber 
lains Liebesbecher Franzöͤſiſche Not 
— Romantifche Politik — Able Folgen 
nach Außen und Innen — Die Rrife 
und Hindenb ung 261 


Seite 
gewandte Politik und deren Urſache — 
Sie Vereinigten Staaten von Europa 
— Abendländiſche Wirtſchaftsnödte — 
Die politiſchen Folgen — Wir und der 
Völkerbund — Muſſoliniſche und 
moſſuliniſche Gefahren — Rüdblid 

und Borblid 60sec sveviesewwecaes 355 
Notzeit und Praffer — Vernunft ward 
Unfinn — Der Parlamentarismus am 
Ende — Die Dittaturen — Ztalie- 
niſche Entwicklungen und Gefahren — 

Argerniſſe — König Chriftus ....... 446 
Das gerdumte Rin — Wann wird weiter 
geräumt? — Unfer guter Anſpruch 
und Frankreichs bdfer Wille — Das 
Schreckenskind Europas — Unfer 
Genfer Ratsfig — Die parlamenta- 
riſchen Unterſuchungsausſchüſſe — 
Genoſſe Dittmann und „die Meuterei 
der Admirale“ — Die Fememorde — 


Der ſchlappe Bismarck — Frankreichs Herr, komm herab 535 
Auf der Warte 

Adolf Oamaſ che N Die Gutem 453 
ee. er 89 Die Schillingskriſe in Berlin 370 
Alexander von Gleichen · Rußwurm .. . 277 Die Schuld der Umgebung ........... 92 
Allerlei aus Polen 196 Die „ſchwarze Schmach“ in unſrer Tanz- 

AnthropoſophiſchGmes .un.» 361 Min 88 459 
Auch ein Rünſtleeſguoͤê 457 Die Stockholmer Weltkonferenz 92 
Aufſchwung des deutſchen Turnierſports 463 Die Veräußerlichung des vaterländiſchen 

Aus ſchleſiſchen Bergen 190 Gedankens ne 78 
Berliner Handel mit Kunſ ti. 546 Ein deutſches Ehrenmal 195 
Berufeftand und Staat .............. 19 Ein Richard Wagner-Gaal in Bayreuth 191 
Briefe des Königs von Uganda ........ 549 Ein weiteres Wort von jungdeutſcher 

Bücher des Feinſinns 366 Seit unse 271 


Chriſtwunder aus der Sonne Homers. 79 
Das kleine Glas 
Das Radio, ein modernes Narkotikum. 95 


Der deutſche Sprach verein 95 
Der Fall Becheeuſurrrrr 458 
Der VWwlferroman ............ 00. cee 547 
Der Walzgerlönig ......... cee e ees 279 


Deutide Feſtſpiele 1926 in Weimar ... 374 
Die attiſche Göttin 
Die Begabten und die Grundfdule .... 461 
Die Lebendigmachung des Mittelftandes 85 


Ein Wort für den Zungdeutſchen Orden 269 
Eine Mahnung an die vaterländifchen 


Verbünde 188 
Eine Rede von Elſa Brändfteöm ....... 365 
Eliſabeth Rulmann .................. 278 
Emil Peters oo... cececseececscees 277 
Europdiſche Neduiunner eee 460 
Fir die vaterlandifhe Bewegung 268 
Gegen die Rangleifpradhe ............- 96 
Srundeigentu nnn 549 


Gruß an Rudolf Eucken 381 


VIII Zntalte · De rzeichnle 
f Selte 
Guſtav Schröer. 452 Theater elend. 223 
Hans Allmüller. 577 Tirpitz. 81 
Hans Schliepman ng 371 „überſpannunga „nn. 462 
Heinrich Dierordt nn" 194 Unfranzöoͤſiſches aus dem Elſas 83 
„Im Anfang war die Lieben 452 Unfug im Geldverke r.... 459 
geden Tag eine Briefſtelle. 9o Vom „Helland“ und feinem Sänger . 365 
Nobelpreis und Fritz v. Unruh 93 Vom Reichsehrenmalll. 542 
Paul Ernſt .. Q ꝑ q 541 Weimar und Potsdam 200 
Plagiate. 544 Weltrekord.. 280 
Rudolf Paulfen .... nn ‚551 Wilhelm II. und wie. 275 
Schein völkiſche Schädlinge 543 Woldemar von Axku ll. 195 
Schillings und der Parteienſtaat 456 Zur Ausländerei auf den deutſchen 
Siedlun ... 550 Bühnen 
Steiner und Rittelme yer. 87 Zur vaterländiſchen Bewegung 186 
Sternheim, der Retter cate 91 Zboei niederdeutſche Hichter 2716 
Straßburger Sheaterftandal ...------> 83 
Kunſtbeilagen und Illuſtrationen 5 
Broel: Feſtlicher Rhein 1 Haß: Chriſtus naht der Welt. 3 
— Über allen Gipfeln ift Ruh 2 Zuüttner: Maria mit dem Rind 3 
Ege: Abend in einer tömiſchen Villa 1 Köhler: Winter im Walde 5 
— Torre di Sanguaun nen 1 Quante: November 2 
— Spatfommernadmittag (Donauland- Rathmann: Oſtmartenkiefern 2 
ſchaft . , , v. Schwind: Bildnis der Friederike Sachs 5 
Prinz Eugen von Schweden: Wo der Schniewind: An der Ww umme 6 
Wald fic lichte... 4 — Eichen am Moorõ,r r 6 
— Stochholmer Schloß es 4 Moorlandfhaft nett 6 
Haß: Chriſti Geburt. 3 — Stumm 6 
| Notenbeilagen 
Haas: Schwanke und Idyllen 6 Vollerthun: Ardannas Lied 1 
Kirchner: Aus Kirchners Hausmuſit 4 
Eingefandte neue SGehriftwerfe 
Auf den Veilagen. 


Auf den Beilagen 


Briefe 


Digitized by Google 


ee und ale 
1% ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT < 


Serausgegeben peer Dr D Frioòrieh. Licrbard 
DSegeainsers S Q — > — 


Oktober 1925 Heft! 


Jotzt oder nie! 

So muß die Ehre immer [prechen; 
ihre Stunde, ja ihre Minnte iſt immer da: 
fie kaun nichts vorſchieben, fie darf nichts 
von ber Gelegenheit und dem Jufall hoffen, 
ihr Geſetz bleibt immer das kurze und runde: 


Tue, was du must, lege oder ſtirb und 
überlaſ Gott die Entſcheidung! 


Eruſt Moritz Arndt 
(„Der Rhein, Dentſchlau bs Strom, aber nicht Dentſchlauds Grenze) 


| Der Türmer XVIII. 1 1 


Von der Vaterlandsliebe 
Von Prof. Dr. Bruno Bauch 


oh, wie die Liebe felbft, ift der Sinn ihres Namens. Eine andere ift die Liebe 
des Liebenden zur Geliebten, eine andere der Liebenden zum Geliebten. 
Wieder eine andere iſt die Liebe des Gatten zur Gattin, eine andere die der Gattin 
zum Gatten, eine andere die zum Vater, eine andere die zur Mutter, eine andere 
die zum Kinde, eine andere die zum Sohne, eine andere die zur Tochter. Anders 
iſt die Liebe von Freund zu Freund, anders die von Freundin zu Freundin, anders 
die von Freund zu Freundin, von Freundin zu Freund. Noch ganz anders iſt die 
Liebe zu Beſitz und Erwerb. Wiederum eine ganz andere iſt die Liebe zu ſeiner 
Aufgabe, ſeinem Werke, ſeiner Beſtimmung. Wieder anders iſt die Liebe zu ſeiner 
Ehre. Ja, es gibt auch eine Liebe zum Niedrigen und Gemeinen, wie es eine Liebe 
zum Hohen und Ungemeinen gibt. Schwer wäre es, alle die Formen, in denen 
ſich die Liebe darlegt, zu erſchöpfen oder auch nur zu nennen. Viel verſchlungen 
find ihre Wege, wie das Labyrinth der Seele, die fie alle durchziehen können. 
Jede dieſer Formen hat ihre eigene Prägung und Stellung. Und unter ihnen 
hat wiederum ihre beſondere eigene Prägung und Stellung auch die Liebe, die wir 
nennen: die Liebe zum Vaterlande, Daß wir von Vaterlandsliebe ſprechen können, 
das beleuchtet Vaterland und Liebe zugleich. Es zeigt, daß uns das Vaterland nicht 
bloß ein geographiſcher Begriff iſt, wie der Nordpol oder der Südpol. Von Nordpol- 
liebe oder von Sũüdpolliebe zu reden, dürfte uns ungereimt erſcheinen. Zwar mag 
den Forſcher die Liebe zur Forſchung, die Sehnſucht nach Erkenntnis auch zum 
Südpol oder zum Nordpol unwiderſtehlich hinziehen können, mit derſelben Unwider- 
ſtehlichkeit, mit der die Geliebte den Liebenden an ſich zieht. Aber das iſt dennoch 
keine Liebe zum Sũdpol oder zum Nord pol ſelber; ſondern die Liebe zur Erforſchung 
von Nordpol oder Südpol iſt Liebe zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Wahrheit 
ſelbſt. Das Vaterland aber lieben wir ſelber, und darum iſt es uns mehr als ein 
bloß geographiſcher Begriff, auch wenn wir es als Land auf der Landkarte um- 
grenzt finden können. Zur Erforſchung des Nordpols können ſich hingezogen fühlen 
Forſcher, die ſehr verſchiedenen Vaterländern angehören. Keiner wird von ſeinem 
Nordpol, aber jeder wird von ſeinem Vaterland ſprechen können. Keiner wird 
von irgendeinem Menſchen in ſeinem eigenen Vaterlande vorausſetzen, daß ihn 
dieſelbe Liebe zur Forſchung und Erforſchung erfülle, wie ihn. Aber er wird, wenn 
anders in ihm ſelber der Sinn für Vaterlandsliebe nicht verſchüttet und erſtorben 
iſt, jedem ſeiner Vaterlandsangehörigen anſinnen, daß er ſein Vaterland gerade 
als Vaterland liebe. In dieſer Anſinnbarkeit offenbart ſich der beſondere Sinn der 
Vaterlandsliebe, offenbart ſich, wie wir in der Vaterlandsliebe lieben, und was 
wir im Vaterlande lieben. Ich ſinne keinem anderen an, daß er meine Gattin als 
ſeine Gattin, meine Geliebte als ſeine Geliebte liebe. Solche Liebe könnte ja gerade 
zu Liebeskonflikten führen. Wohl aber ſinne ich allen meinen Vaterlandsangehörigen 
an, daß ſie mein Vaterland auch als ihr Vaterland lieben, wie ich jedem anſinne, 
daß er den Nächſten, ja ſelbſt ſeinen Feind als Nächſten liebe, mag er ihn als Perſon 


auch haſſen. 


Bauch: Von der Gaterlandslicbe 3 


Hier werden wir auf den tiefen Unterſchied geführt, den Luther unter religiöſem 
Geſichtspunkte ſelber wundervoll tief bezeichnet hatte: den Unterſchied zwiſchen der 
an die individuelle Perſon gebundenen Liebe und der über die Grenzen der Perſon 
hinausgreifenden Liebe; ein Unterſchied, den alle die verkennen, die in der von 
Luther geforderten Chriſtenliebe eine Sinnloſigkeit ſehen, gerade weil ſie ein Gebot 
darſtelle, während die Liebe ſich doch nicht fordern und gebieten laſſe. Gewiß, die 
Liebe zu meiner Geliebten, zu meiner Gattin kann ich als Liebe zu ſeiner Geliebten, 
als Liebe zu ſeiner Gattin nicht von einem anderen fordern. Sie hängt ab von der 
Perſon in ihrer Individualität, die gerade ich liebe, und ich kann von keinem anderen 
vorausſetzen, daß auch er ſie liebe oder lieben könne. Hier entſcheidet immer das 
Perſönliche, das Individuelle. Aber wie nach Luther die Chriſtenliebe „unabhängig 
iſt von der geliebten Perſon“ und gerade darum eine geforderte Liebe ſein kann, 
ſo iſt noch viel offenbarer die Vaterlandsliebe eine nicht an eine Perſon gebundene 
Liebe; fie iſt eine geforderte Liebe. Darum dürfen wir auch geradezu von der For- 
derung, dem Gebot der Vaterlandsliebe ſprechen, wie wir vom chriſtlichen Liebes- 
gebot ſprechen dürfen. Beide haben, wie gewiß auch viele Formen der perſönlichen 
Liebe, ihre Wurzeln in den tiefſten Schichten der religiöſen Innerlichkeit. Daraus 
begreift es ſich freilich auch, daß fie einer an den Oberflächen des Lebens dahin- 
ſchiebenden Zeit verloren gehen können. Wer nur an der Oberfläche lebt, wird weder 
ſein Vaterland, noch den Nächſten als Nächſten, noch auch eine Perſönlichkeit in 
ihrer beſonderen Individualität aus den Tiefen der Seele lieben können, weil ſeiner 
Seele die Tiefen fehlen. 

Wenn wir alſo fragen, wie wir das Vaterland lieben und lieben tönnen, ſo 
muͤſſen wir die Frage dahin entſcheiden: im Sinne einer Forderung, eines Gebotes, 
nach dem wir es lieben ſollen. Und wenn wir fragen, was wir im Vaterland lieben, 
lieben können und lieben ſollen, ſo können wir die Frage einſtweilen nur negativ 
dahin entſcheiden, daß wir es nicht bloß im geographiſchen Sinne eines gerade ſo 
oder ſo umgrenzten Landes zu lieben haben. Gewiß iſt auch das Land als ſolches 
gerade für die Vaterlandsliebe nicht gleichgültig. Aber in dem Worte Vaterland iſt 
doch der erſte, nicht der zweite Wortbeſtandteil entſcheidend. Ein Land bloß als 
Land könnte aus ſehr verſchiedenen Gründen geliebt werden. Es könnte um ſeiner 
landſchaftlichen Reize und Schönheiten willen geliebt werden. In dieſen könnte 
irgend ein fremdes Land das Vaterland weit überragen. Dieſe Liebe wäre keine 
Vaterlandsliebe. Es könnte jemand ein Land lieben, weil er in ihm begütert ift 
und ſeinen Beſitz hat, ohne daß es ſein Vaterland iſt. Solche Liebe ſtünde nicht 
höher als die zum Beſitze überhaupt, die ſehr traurige und niedere Formen an- 
nehmen kann. Wie leicht wird ihr der Landbeſitz zum bloßen Spekulationsobjekt. 
Sanz anders liebt der Bauer ſein Land; er liebt es nicht als toten Beſitz, ſondern, 
weil er ihm durch lebendige Arbeit verbunden iſt. Er beſtellt den Acker, den vielleicht 
ſchon fein Vater und Großvater beſtellt hat. Sie haben ihm die Hingabe ihrer Arbeit 
geſchenkt, wie er ihm nun die Hingabe der ſeinigen ſchenkt. Unter ſeinem Dache hat 
ſich das Schickſal ſeiner Vorfahren abgeſpielt, die Bilder an ſeinen Wänden ſind 
ſtumme Zeugen der Geſchichte ſeiner Familie und ihrer Geſchicke. Ihre Arbeit 
ſpricht zu ihm aus Hof und Haus, aus Wald und Feld, fie mahnt ihn, fie fortzu- 


4 Baud: Von der Vaterlandsliede 


führen, damit er fie dereinſt übergebe feinen Kindern und damit auch dieſe fie fort- 
führen. Schon gehen fie ihm vielleicht dienend und helfend zur Hand. Sie lernen 
von ihm zu ſchaffen und zu wirken, wie er von ſeinem Vater einſt zu ſchaffen und 
zu wirken gelernt hat und wie dereinſt ihre Kinder von ihnen zu ſchaffen und zu 
wirken lernen werden. Arbeit und tätiges Leben, Lebensſchickſal und Lebensgeſchichte 
bindet durch Generationen hindurch in Liebe den Landmann ſichtbar an das von 
ihm beſtellte Land und unſichtbar an bie Lieben, die es vor ihm beſtellt haben und 
nach ihm beſtellen werden. Darum liebt er ſein Land, und darum iſt es ihm nicht 
gleihgültiges, einfach veräußerliches Objekt. 

Dieſe Liebe iſt es, von der aus wir im Kleinen zur Baterlanbsliebe im Großen 
geführt werden, die uns das Vaterland nicht bloß als Land, ſondern als Bater- 
land, als unſerer Väter, unſer eigenes, unſerer Kinder Land verſtehen hilft. Wir 
lieben alſo im Vaterland nicht allein das Land, ſondern die in ihm lebenden und 
wirkenden Menſchen, die verbunden ſind durch gemeinſame Arbeit, gemeinſame 
Geſchichte, gemeinſame Geſchicke. Es find gemeinſame Arbeit, gemeinſame Ge- 
ſchichte, gemeinſame Geſchicke einer großen gemeinſamen Familie, des gemein- 
ſamen Blutes des Volkes. 

Die Liebe zum Vaterlande iſt darum die Liebe zu dem Lande, in dem unſer 
Volk lebt, wirkt, ſchafft und tätig iſt, iſt darum zugleich auch die Liebe zu unſerem 
lebendigen Volke ſelbſt. Das Volk aber iſt, wie Fichte einmal tief und treffend 
geſagt hat, „das Ganze ber in Geſellſchaft miteinander fortlebenden und ſich aus 
ſich ſelbſt immerfort natürlich und geiſtig erzeugenden Menſchen, das insgeſamt 
unter einem gewiſſen beſonderen Geſetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm 
ſteht“. Auf zwei Seiten iſt dabei alſo zu achten. Im Volke liegt auf der einen Seite 
die natürliche Abſtammungsgemeinſchaft, in deren Sinne Fichte auch vom „ver- 
brüderten Stamme“ ſpricht. Das Fremdwort „Nation“, das vom Lateiniſchen 
„hasci“ = geboren werden ſich herleitet, und deſſen Sinn wir auch in dem Worte 
„Natur“ wiederfinden, drückt in feiner urſprünglichſten Bedeutung dieſe natürliche 
Abſtammungsgemeinſchaft aus, in deren Sinne Goethe einmal ſehr ſchön von der 
Gemeinſchaft der „Mitgeborenen“ ſpricht. (Das alte „cogneti“ ſagt dem genauen 
Wortlaute nach basfelbe.) Auf der anderen Seite liegt im Volke die Gemeinſchaft 
des inneren geiſtigen Lebens, des Lebensſchickſals und ſeiner Geſchichte, wie ſie 
ſich darſtellen im ganzen feiner völkiſchen Kultur. Die Kultivierung des Landes 
im urſprünglichen Sinne weitet ſich zur Pflege der ganzen Güter des Volkstums 
im Sinne ſeines ganzen geiſtigen und ſittlichen Lebens und der Entwicklung „des 
Göttlichen aus ihm“. 

In ihm gipfelt die Vaterlandsliebe. Sie erhebt ſich zu der beſonderen Beſtimmung, 
die ihrem Volke im Göttlichen und zum Göttlichen gewieſen iſt. Nicht verkennt ſie, 
daß jedem Volke eine ſolche Beſtimmung im Ganzen der Menſchheit zukommt. Aber 
fie weiß auch, daß jedes Volk in dieſem Ganzen gerabe feine befonbere Beſtim- 
mung habe, ohne die es kein Volk wäre, und ohne die es für das Ganze der Menfd- 
heit keine Bedeutung hätte, wie ohne fie auch die Menſchheit eine leere, tote Ab- 
ſtraktion wäre. Darum alſo umfaßt die Vaterlanbdsliebe die beſondere Beftim- 
mung gerade ihres Volkes, um für dieſe Beſtimmung zu leben und, wenn es 


Tiedemann: Herbftgnade 5 


nottut, auch zu fterben. Wer fein Vaterland liebt, erfaßt es in feinem tiefſten In- 
neren, daß es nicht unter allen Umſtänden nötig iſt, daß gerade er lebe, daß es nötig 
ſein kann, zu ſterben, damit ſein Volk und Vaterland auch nach ihm in Zukunft lebe. 
Das Bewußtſein der Verbundenheit durch gemeinſame Geſchichte und gemeinſame 
Geſchicke wendet die Vaterlandsliebe alſo nicht etwa nur der Vergangenheit zu. 
Gewiß wird fie immerdar beſonders den großen Geſtalten biefer Vergangenheit, die 
der Beſtimmung ihres Volkes ganz und vorbildlich hingegeben, auch vorbildlich 
gewirkt und das geſchaffen haben, an dem die Folgezeit weiterwirken und weiter- 
ſchaffen konnte, aus ganzer Seele ſelber hingegeben ſein. Aber jenes Bewußtſein 
wendet die Vaterlandsliebe ebenſo der Zukunft zu, um, ſei es im Großen, ſei es 
im Kleinen, wiederum zu wirken und zu ſchaffen, was kommende Geſchlechter 
weiterbilden und weiterführen können. Immer wird ihr die Gegenwart Glied in 
der Kette der Generationen ihres Volkes ſein, damit das Ewige und Söttliche 
geſenkt und gefdet werde in die unenbliche Zeit. 

In der Gewißheit der Beſtimmung ihres Volkes zu ewigen, göttlichen Werten 
wird der Vaterlandsliebe bie Zeit ſelber zur Geburtsſtätte der Ewigkeit, für die, 
was ihr Volk an Werten durch Arbeit, Tat und Leiſtung geſchaffen hat, unverloren 
bleibt. Darum kann Fichte, ebenſo ſchön wie wahr, von der Baterlandsliebe ſagen, 
daß gerade fie es iſt, die „die Nation als eine Hülle des Ewig en umfaßt, für welche 
der Edle mit Freuden ſich opfert, und der Unedle, der nur um des erſten willen 
da iſt, ſich eben opfern ſoll“. Und er kann die Vaterlandsliebe geradezu bezeichnen 
als „das Erfaſſen ſeines irdiſchen Lebens als eines ewigen und des Vaterlandes 
als Träger dieſer Ewigkeit“. 


Herbſtgnade 
Von Lotte Tiedemann 


Der erſte Herbſt, der dieſe Welt betrat, 
Begann mit Inbrunſt die Vernichtungstat 
An Baum und Strauch, wo er vorüberſtreifte. 
Und als nun Aſt um Aſt ſich weiß bereifte 
Und langfam Blatt auf Blatt herniederfiel, 
So ohne Willen, ohne jedes Ziel: 

Empfand der Schöpfer mitleidsgroße Güte, 
Und er durchrieſelte wie eine Blüte 
Jedwedes Blatt verheißungsvoll mit Glut, 
Auf daß es tropfenweiſe fiel, wie Blut, 
Und flammend ruhte auf erfror nem Pfade 
Zum Zeichen ſeiner wandelloſen Gnade. 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens 


Wir beginnen hier mit der Veröffentlichung der 
ſtimmungsvollen Roman - Dichtung eines in Oeutſch⸗ 
land lebenden Vlamen. 


Die Legende 


ie Kinder ſitzen auf ihren roten Stühlen und lauſchen. Sie wollen immer 
D wieder die Legende vom ewigen Licht hören. Sie kennen ſie auswendig, 
und ſobald ich etwas auslaſſe oder hinzufüge, und fei es auch nur ein Wort, gleich 
merken ſie es. Auch der Hund ſcheint es zu merken: er hebt dann vorſichtig den Kopf 
und blinzelt mich an. 

— Von Anbeginn war das ewige Licht, das im Herzen Gottes heller leuchtet 
als die Sonne an einem windſtillen wolkenloſen Sommertag. Und wer von dieſem 
Licht einen einzigen Strahl erhaſcht, auf welchem Stern er auch geboren fei, der 
fühlt ſich erhöht und ſchöpferiſch beflügelt, und ſtände er in den Tiefen der ſündigen 
Leidenſchaft als ein ſchwacher gottlofer Menſch. Niemand kann der heimlichen 
Macht ſich entziehen, die einem ſolchen Strahle innewohnt; er trägt ihn Zeit ſeines 
Lebens mit ſich umher und lacht verlegen, wenn andere weinen müſſen, und weint, 
wo anderen das Lachen ankommt. Einſam geht er ſeinen Weg durch eine ewige 
Sommernacht, feine Gedanken find erfüllt von einem ſeltſamen Glanze, und ge- 
lingt es ihm je ſie auszudrücken, ſeine lichten Gedanken, ſo ähneln ſie dem Herzen 
Gottes und haben ein tiefinneres Leuchten und eine Reinheit, die fie über die Ge- 
danken anderer Menſchen erhebt. Aber es gelingt ihm nur felten, oft nur ein ein- 
ziges Mal, ein von ſolch leuchtenden Gedanken erhöhtes Werk zu ſchaffen, das Gott 
wohlgefällt .. 

Die Kinder auen mich erwartungsvoll an. Der letzte Satz gehörte nicht 
mehr der Legende an; er ſchien eine Fortſetzung zu verheißen, als wüßte ich von 
einem Menſchen zu erzählen, der unter dem Banne von Gottes Herzen dabin- 
gegangen. 

— Ehe wir von Holland fortzogen, wollt' ich euch immer noch einmal von 
dem Leben ſeines größten Sohnes erzählen. So klein ihr auch damals waret, ihr 
liebtet fein Hundertguldenblatt und die Holzhackerfamilie, ihr liebtet fie mit 
eurem kindlichen Herzen. Nun ſind Jahre verfloſſen, ſeit wir dies glückgeſegnete 
Land verließen, und anſtatt der Märchen und Geſchichten, die mir eine glück- 
liche Stunde eingab, und denen ihr ſtundenlang zuhören konntet, wollt ihr jetzt 
von den wahrhaftigen Dingen des Lebens hören. Ich will euch deswegen die 
Tragödie Rembrandts erzählen, eines Mannes aus dem Volke, den feine Mit- 
bürger zum Ruhm erhoben hatten, ſolange er ihnen wohlgefällige Werke ſchuf, 
feine Seele aber ſteinigten, als dieſe ſich von ihnen abwandte, um der Berberr- 
lichung Gottes in myſtiſchen Bildern zu leben, denn die Menſchen mißgönnen in 
ihrem glanzlofen Daſein jedem Lichterfüllten die Verſunkenheit und Hingabe an 
ſein Werk. 


Martens: Der Damon bes Lichte 7 
Kunſt und Künſtler 


Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde. 

Der Künſtler ſchuf die Kunſt nach feinem Bilde. 

Der Orang nach Darſtellung der lebendigen Wahrheit in der Natur bis zur 
Entſchleierung der Seele iſt die ſchöpferiſche Kraft, die den Künſtler bildet und 
treibt. 

Seder ſchöpferiſche Drang iſt göttlich. 

Jedes Lichtbringen in ein Chaos iſt göttlich. 

Sede Offenbarung iſt ein Lichtbringen. 

Jede Kunſt iſt Offenbarung. 

Offenbarung der äußeren Welt, wie fie ſich unſerem Auge gibt, wird von einem 
Künſtlertemperament bewirkt, das in einem außergewöhnlichen Maße die Gabe 
der Beobachtung und der Berechnung beſitzt. Ihre großen Maler waren klare kühle 
Geifter, die aus dem hellen Born eigener Erkenntnis ſchufen. Die Zahl der Nach- 
empfinder iſt Legion, die der Vollender ganz gering. 

Faſt jede Kunſt, ob Dichtkunſt, Malerei oder Bildhauerei, iſt Offenbarung der 
äußeren Welt in dieſem Sinne. 

Offenbarung aber der unbegreiflichen inneren Welt, wie ſie ſich unſerer Seele 
gibt, wird von einem Künſtlertemperament bewirkt, das von einer feierlichen Ekſtaſe 
oder dichteriſchen Einbildungskraft geläutert iſt. 

Wird aber Temperament, Einbildungskraft, Ekſtaſe, Beobachtung und Berech- 
nung von einer urſprünglich ſchöpferiſchen Seele beflügelt, fo entſteht im Gegen- 
ſatz zur geſchilderten Darftellung der Welt eine ewig lebendige von Seele zu Seele 
ſchwingende Kunſt. Sie ijt formgewordene Seele, lebenbigfter Ausdruck in die Welt 
ausbrechender Gefühle. 

Wie oft iſt ſie der befruchtende Regen aus der Wolke Leid! 

Ihr Erzeuger gibt ſeiner Zeit das Gepräge ſeines weltumfaſſenden Geiſtes. 

Rückblickend iſt ſie ohne ihn gar nicht mehr faßbar. 

Er bildet ſeine Zeit. 

Seine Malart iſt urſprünglich und unbegreiflich, feine Erfindungskraft ſchwingt 
ſich bis an das Ende der Welt. 

Er gebietet über die tote und lebendige Natur wie ein Gott. 

Er zwingt alle Künſtler ſeiner Zeit unwillkürlich in ſeinen Bann. 

Dieſe Kunſt iſt göttlich. Göttlich die leuchtende Geiſtigkeit, der harmoniſche Welt- 
einklang in den gedankenreichen Werken Lionardos, Dürers, Titians und Rubens, 
göttlich die ſich emporbäumende Dämonie eines Michelangelos, eines Rembrandt. 

Was bedeuten ihr Schönheit und Häßlichkeit? Sie dienen ihr nur als Ausdrucks- 
mittel. 

She Schöpfer kann beide zugleich in eine Form zwingen. 

Rembrandts Heroen ſind häßliche Menſchen mit ſchönen Seelen. 

Wir müffen fie lieben, weil fie göttliches Leid verkünden. 

Häßliche Züge bewirken den ſtärkſten ſeeliſchen Ausdruck. 

Was erſchuͤttert ſtärker: Michelangelos gigantiſches Pathos oder Rembrandts 
völlig unpathetiſches Inſichverſunkenſein? 


8 Martens: Der Dämon des Lichts 


Zwei unendlich verſchiedene Gefühlswelten und doch eine und dieſelbe dämoniſche 
Urwelt. 
Dieſe Kunſt macht alle Kritik bedeutungslos: ſie ſpricht von ſelbſt. 


Die Erſcheinung 


Es tanzt die Springflut am Katwijker Strand. Die von Englands Kreidefelſen 
heranbrauſenden Böen fingen ihre alten Wikingermelodien. Seit Tagen jagen die 
heulenden Windſtöße abwechſelnd im ſchrillſten Diskant und tiefſtem Baß über die 
aufgewühlten Ganbberge landeinwärts, und die Wogen klatſchen und ſpülen über 
den Baſalt der Strandmauern bis hinan an das Rietgras der höchſten Dünen- 
tdmme. 

Ich liege bewegungslos, völlig ſturmerſchöpft in der ſchmalen niedrigen Wohn- 
kammer beim Heringsfiſcher Molenaer in der krummen Seeſtraße, in die ich mich 
vor der Menſchenwelt auf einige Vorfrühlingstage geflüchtet, ganz zerſchlagen 
von dem Klirren der loſen Scheiben, die jeden Augenblick einzubrechen drohen. 
Wie mübe bin ich des ewigen Graues ber ſchäumigdunſtigen Waſſerfläche! Molenaer 
iſt bei den Rettungsbooten beſchäftigt; er weiß nichts von meiner müden Stim- 
mung, der Glückliche! ; 

Es iſt Abenddämmerung; kaum erkenne ich nod die Umriſſe der hohen ftroh- 
geflochtenen Stühle im Zimmer. Im Kamin ſcheinen ſich alle Klagegeiſter der auf- 
gewirbelten Natur eingefunden zu haben; das Feuer raucht und ſchwelt. Die ganze 
Hilfloſigkeit der menſchlichen Seele iſt über mich hereingebrochen, und ich ertrinke 
in den Wellen des zerbrochenen Willens. Die alte Angſt vor Schatten und Schemen 
ist wieder in mir wach geworden; ich fürchte dieſes Hineinbrüten in einen Zuſtand 
der heraufdämmernden Viſionen eines unbefriedigten Lebens. Ich muß mich vor 
dieſer Gefahr ſchützen und in die funkelnde Welt der Einbildung hineinflüͤchten. 
Ich muß mith erfüllen laſſen von dem Weſen und den Gedanken eines erſehnten 
Menſchen. Stimmen werden laut, die ich zu erkennen meine und die ich doch nicht 
kenne. 

Eine vergangene Welt dämmert herauf; noch kann ich keine der im Nebel ver- 
ſchwimmenden Geſtalten unterſcheiden, bis plötzlich durch die bewegte Maſſe ein 
alter gebüdter Mann daherkommt, der gerade auf mich zugeht und mir lange for- 
ſchend in die Augen ſieht, als wolle er Sinn und Weſen meines Seins erprüfen. 
Doch fein Mund bleibt ſtumm, und die welken Lippen zucken in unſagbarer Ent- 
ſagung. Er legt mir die Arme um den Hals, und feine Gedanken wollen ſich meiner 
bemeiſtern. Ganz erfüllt bin ich von dieſer ſeltſamen Viſion, die in mir glüht in der 
dunkeln ſtürmiſchen Nacht, wo nur die Leuchtfeuer ins Meer hinausblinken. Ach, 
du erſchütternd alter Mann, du Schatten eines erſehnten großen Toten, ich flehe 
dich an: Behüte mich vor der Irre der ewigen Finſternis! 

Du ſtehſt neben mir in dem dunkeln Zimmer, deine Augen glühen im unbeim- 
lichen Glanze der Entrüdtheit, deine Stimme klagt eindringlich leiſe: 

— Eingekerkert war ich in dieſer Welt, ſie ſelber war das graue Gefängnis, in 
dem ich litt. Nach allen Seiten hin hätte ich durch die Türen und Gänge der menſch- 
lichen Eitelkeit entweichen können, ich aber wollte und konnte nicht. Mein Blick 


Martens: Der Damon des Lichte 9 


ging ſenkrecht die Wände hinauf. Aus ungeheurer Höhe fant das verzauberte Licht 
in die Dunkelheit meiner Zelle, mein Weſen bäumte ſich empor; unendlich hoch 
ſtiegen die Mauern zum Zenit hinan, die ringsum mit geheimnisvollen Zeichen 
und Viſionen bedeckt waren. Ach, mein Weſen ſuchte nicht die behagliche Fülle und 
Breite des Lebens, es wollte ſteil empor und ſtieß ſich wund und blutig an den ſchar⸗ 
tigen Kanten und Fugen des grauen Geſteins. 

Selten, ſelten kam aus den Irrgängen hervor ein liebreiches Frauenantlitz und 
lächelte mich an, Troſt ſpendend mit feiner holden Geelen- und Lebenswärme. 
Da quoll ein Blutſtrom neuen Lebens durch mein Verließ. Und da fang ich, im An- 
ſchauen des hohen geheimnisvollen Lichtes und der lieblichen Erſcheinung ver- 
ſunken, mein Leid, betete meine Lieder und malte die Schmerzen meiner Ein- 
ſamkeit auf die kalten tauben Wände des Kerkers. — 

Die Stimme des Einſamen verſtummte. Als ich wieder aufblickte, war die Er- 
ſcheinung verſchwunden, und der helle Schein, der im Zimmer glänzte, erloſch 
langſam. Die Nacht war immer noch wild und ſtürmiſch, und da träumte mir von 
einer funkelnden Flamme in der Dunkelheit, die lange gegen den Sturm und die 
Wellen mühfam und flackernd im Winde antampfte, bis fie von ihnen nicht mehr er- 
reicht werden konnte und hoch über den Sternen herrlich einging in die Fülle des 
ewigen Lichtes. 


Das Buch der Einkehr 


1640 
1. 

Amſterdam iſt die großmächtige Handelsſtadt der Welt geworden, der bedeutendſte 
Stapelplatz des Feſtlandes. Einſt war es Venedig, die Gleißende, das Emporium 
zwiſchen Orient und Okzident. Gleichzeitig erhob ſich Brügge, die ſtolze nordiſche 
Frau im Dunſt des Meeres, die Königin der Nordmänner. Die See zog ſich vor ihr, 
der Hochmütigen, zurück und ließ fie ſtehn in einer Wüſte. Sie verſandete, die un- 
heimlich funkelnde Stadt. Da ward Brügge zur klöſterlichen Frau; die Abgeſchiedene 
ſtarb für die prunkende Welt. Die Zeiten verändern das Angeſicht der Erde. An 
der Schelde wuchs Antwerpen empor, die Stadt der Uppigteit und Lebensfreude, 
das ſchöne fürſtliche Weib der flandriſchen Tiefebene. Philipp der Spanier ließ fie 
am Marterpfahl bluten. Sie ſchwieg geduldig und erhob ſich noch einmal in der 
Gunjt der Welt, als Rubens, der Maler, fie malte als üppige Frau. Die Sinjoren- 
ſtadt liebte die gefüllte leckere Tafel, von der ſie ſich nicht mehr erheben konnte; 
fo gemäſtet hatte fie ſich. Sie fiel unter den Tiſch. 

Auf ihrem breiten Platz an der Tafel der Welt ſaßen plötzlich zwei wolfshungrige 
Buben, Leiden und Amſterdam, die Städte Calvins, und begannen in die Braten- 
ſchüſſel zu langen mit gierigen Händen. 

Fleißig, fürwahr, waren die Jungen, der Handwerker und der Handelsmann. 
Sie blieben zuſammen in Eintracht, bis Amſterdam Leiden an Macht und Anſehn 
überflügelte. Sein Hunger war nicht mehr zu befriedigen; bis nach Indien und Peru 
ſegelten feine gewaltigen Kauffahrer und Kriegsſchiffe, um die koſtbarſten Leder- 
biſſen herbeizuſchaffen. Amſterdam der Handelsmann ſiegte über den Handwerker. 


10 Martens: Der Dämon bes Lichts 


Triumphiere nicht zu früh! Albion rüftet ſich im ftillen. Was Albion will, das 
erreicht es mit ſeiner ſtiernackigen Zähigkeit. 

Aber die Dichter beſingen dich, Amſterdam, auch als die lieblichſte der nordiſchen 
Städte, Lieblich iſt dieſe ſtolztürmige, hochgieblige Stadt am J. Jede Straße hat 
ihr eigenes Gepräge. Sie liebt es, im Bogen zu laufen, ſich an der Kühlung einer 
Gracht, die von breitblättrigen Linden bedeckt wird, in heißen Sommern zu laben, 
oder ſie windet ſich im Zickzack hin und her, von irgendeinem verwitterten Stadttor 
beſchattet. Die Höhe der ſchmalen ſechsſtöckigen Häuſer iſt erſtaunlich; oft muß noch 
der Söller zum Warenlager herhalten. Würden die ſich gegenũberſtehenden ſchwarz- 
berußten Backſteinhäuſer einmal das verſtändige Bedürfnis empfinden, ſich nach 
dem langen Stehen der Länge nach auf das Straßenpflaſter hinzulegen, ſie würden 
ſich böſe die Köpfe ſtoßen. 

Unzählige im Bogen erbaute Holzbrücken überqueren die Grachten. Nur wenige 
ſind befahrbar für die hohen roträderigen Staatskaroſſen und die ſchweren plum- 
pen Gefährte der Gemüſebauern, die mit ihren Kollegen, den Viehzüchtern, weit 
aus dem Ackerland der Polder und dem Weideland der Flüſſe in die Stabt fahren, 
um ihre Kunden zu bedienen und die großen Märkte zu beliefern. Die aus den 
ferneren Teilen des Landes ſtammenden Lebensmittel werden in einer Leichter 
flotte nach Amſterdam verfrachtet. Vor den Brücken und Schleuſen ſtauen ſich die 
ſchwerfälligen Kähne, auf denen ſich die Schifferfrauen in ihren bunten Kopftüchern 
fröhlich die Neuigkeiten des Tages zurufen. 


Der, 

Fabritius und de Ronind find Freunde. Ihrem Lehrvertrag mit dem Meifter 
Rembrandt gemäß müſſen ſie bei Aufgang der Sonne in der Anthoniesbreeſtraat, 
dicht an der Brucke, mit der Arbeit beginnen. Fabritius iſt der Liebling des Meifters, 
der von ihm jagt, er fei der einzige feiner Schüler, der den Funken des göttlichen 
Lichtes in ſich trage. Ach, es iſt fo ſchwer, ſich mit übernächtigen Augen an die Arbeit 
zu machen. Der Meiſter grollt auch, wenn er Seegras in den Augen der jungen 
Leute aufſpürt, und er ſieht doch alles. Noch in der Dunkelheit ſchleichen die Züng- 
linge von Vlooienburg fort, an den langen ſchmutzigen Häuſerreihen vorbei, die 
nach verweſtem Fleiſch riechen, und in deren Türen die ſchwarzhaarigen Mädchen 
der Iſraeliten ſtehen und ihnen nachſchauen. Sie wollen ſich in der Seeluft des 
Hafens die Augen taufriſch durchwehen laſſen. An den öſtlichen Seilerbahnen geht 
es entlang bis nach Kattenburg, wo ein Teil der ſtolzen Kriegsflotte liegt. Noch 
arbeitet keine Hand; in unheimlicher Stille ruht der glitzernde Hafen. Sie laſſen 
ſich nach dem Haringpakkerturm mit der Fähre überſetzen. Dann klettern fie hur- 
tig an Land und wandern Arm in Arm an den Werkſtätten der Tuchmacher und 
Tuchfärber vorbei, wo es immer fo übel nach Säure und Beizen riecht. Indigo 
farbige Stoffe werden hier gewalkt und gefärbt, auch ſcharlachrote für die eng- 
liſche Kundſchaft. Hier nahbei werden die Farben aus wertvollen fremblän- 
diſchen Hölzern und Erden gewonnen. Ein ſcharfer Pechgeruch erfüllt die Luft, 
und der üble Geſtank von ungegerbten Häuten und roher Wolle ſchlägt einem an 
die Naſe. 


& — ne gs ee A gall gehen oe 


Martens: Der Damon tes Lichte 11 


All dies iſt Amſterdam, die großmächtige Metropole des Handwerks und Handels, 
die Stadt der Heringe und Käſe, der geteerten Taue und Tranfäſſer, der Zünfte 
und Gilden, der Grachten und bewimpelten Kauffahrer, die Stadt der Sekten 
und Synagogen, der Laſter und Lebensfreude, die Stadt ber fleißigſten Männer 
und der ſchönſten Frauen. 

Hier inmitten dieſer bunten waffenſtrotzenden und -flirrenden Handelsſtadt, die 
das Herz der Welt genannt wird, lebt Rembrandt, der ruhmreiche Maler der Pa- 
trizier, in deren Häuſern er ein und aus geht, beſucht von den Forſchern und Reifen- 
den, die des Weges kommen, geehrt von den Rabbinern und Pfarrern, die er zu 
jeder Stunde der Erholung und der Erbauung in feinem prächtigen, mit Kunſt- 
ſchätzen und Sonderlichkeiten angefüllten Hauſe empfängt, geliebt von den Armen, 
die er unermüdlich beſchenkt. 

Zu ihm eilen Fabritius und de Koninck. Fabritius mit wütenden Gebärden des 
Ekels vor der Arbeit, die er vollbringen muß, um ſein Meiſterbild zu vollenden, 
de Koninck mit dem ewigen Grinſen, das ihm anhaftet und ſein unſchönes Geſicht 
zur Fratze entitellt. 

1641 

— Laß die Herren herein, Saskia. Wer alles iſt denn gekommen? Frans Baning 
Cocq und feine fünfzehn Leute? Wo bleibt der Leutnant Ruytenburch? Kommt 
ſpäter? Sft nod jemand da? Ein junger Mann vom Magiſter Olfers aus Leiden, 
der die Geſchichte meiner Vaterſtadt neu herausgibt; biographiſche Notizen über 
Rembrandt will er haben. Den berühmteſten Maler des Nordens hat er mich ge- 
nannt? Ha, ha, ha, worauf die Leute nicht alles kommen! Was macht unſer kleiner 
Schreihals, der Titus? Er kräht vor Vergnügen, das will ich meinen. Saskia, mein 
Lieb, biſt du endlich ganz, ganz glücklich? Als Mutter und als Weib, wirklich? Laß 
die Herren herein! — Immer höher ſteigt mein Ruhm, immer höher. Wo ſoll das 
noch hinführen? Mein Glück ſcheint keine Grenzen mehr zu kennen. Alles ge- 
deiht mir: die Liebe, das Leben, die Kunſt! Welche Zeiten, Rembrandt, welche 
Zeiten! — 

— Herein, meine Herren, herein! Es wird eine langwierige Sitzung geben. 
Saskia, laß den Morgentrunk umherreichen. Kapitän Baning Cocq, über die Be- 
dingungen ſind wir wohl einig. Jeder zahlt hundert Gulden, die Hälfte im voraus. 
Das iſt ſchön. Aber die allübliche ſteife Gruppierung um einen langen Tiſch, das 
geht doch nicht an bei ſiebzehn wackeren Schützen. Was ich vorſchlage? Was meinen 
die Herren dazu, wenn wir den Augenblick wählen, da die ſtolze Kompagnie aus- 
rũckt zu einem fröhlichen Feſt beim Klang der Pfeifen und Trommeln? Beraten 
ſich die Herren einmal darüber. Saskia, das Glas des Kapitäns dürſtet nach mehr. 
Fabritius, de Koninck, ſeid den Herren behilflich. — 

— Junger Herr aus Leiden, leider kann ich mit keinen Anekdoten aufwarten. 
Spitz die Ohren: ich bin ein vielgeplagter Mann, meine Zeit iſt ſcharf bemeſſen. 
Am fünfzehnten Juli des Jahres Sechs dieſes für unſere Republik glorreichen 
Jahrhunderts wurde ich zu Leiden in der Weddeſteeg als vierter Sohn des Malz- 
millers Harmen Gerritsſohn van Ryn und feiner Ehefrau Neeltje Willemstochter 
van Zuytbrouck geboren. — 


12 | Martens: der Dämon bes Lichts 


— Wie, Rapitän, die meiften der Leute ziehen ben langen mit einer roten Dede 
geſchmückten Tiſch vor, an dem fie in würdevoller Haltung abtonterfeit werben 
wollen, wie Frans Hals und Miereveldt es hundertfach mit ihren Vorfahren getan? 
Das will mir gar nicht recht gefallen. — Überreben Sie Ihre Leute zu etwas 
Beſſerem! — 

— Gift du ſoweit mit deinem Geſchreibſel? Meine Eltern waren herzensbrave 
Leute — ſie ruhen ſchon im Frieden der Ewigkeit —; ihr Lieblingsgedanke war, 
aus dem aufgeweckten Jungen einen gelahrten Stubenhocker zu machen. Das 
wollte dem Bürſchlein nicht im geringften gefallen. Es gab Tränen und böſe Kämpfe, 
bis ich endlich zu dem biederen Malermeiſter Swanenburch in die Lehre kam, drei 
Jahre lang; dann auf ein halbes Jahr zu Pieter Laſtman nach Amſterdam, länger 
hielt ich es dort nicht aus: mich langweilte die abgedroſchene italieniſche Manier, 
die pathetiſche Gebärde mit den himmelnden Augen. Und ewig Schüler fein, das 
lag mir nicht im Sinn, wenn es auch die meiſten Maler, die keine eigenen Schwingen 
haben, lebelang bleiben. — 

— Das iſt recht, Kapitän: das Los ſoll entſcheiden. Fabritius, gebrauch Fetzen 
Leinwand dazu. — 

— Nun wieder zu dir, Freund Skribent. Ich machte mich in meiner Vaterſtadt 
ſelbſtändig. Jan Lievens, mein alter Jugendfreund, tat ein gleiches. Wir waren 
ungeheuer fleißig; Greiſenköpfe und Orientalen gelangen dem Lievens beſſer als 
mir. Er hatte den Zug ins Große, mir ſtand die Hergenseinfalt beſſer an. Wie ſoll 
ich dir dies deuten? Ich nahm das ungeſchminkte und unerhöhte Leben der kleinen 
Leute zum Stoff. Und vermittelſt eines beſtimmten maleriſchen Farbenzaubers 
oder irgend eines Linienreizes bekleidete ich das nackte brutale Leben, wie ich es 
ſah, mit einem unirdiſchen Schimmer. Dies war die umgekehrte Art der gebräuch- 
lichen Manier, die nach irgend einem poetiſchen Motiv ſucht, um dieſes möglichſt 
lebenswahr zu geſtalten. Verſtehſt du mich? Nicht ganz? — 

— Mein Gedanke, Frans Baning Cocq, hat alſo obgeſiegt. Das freut mich. Da 
Ihr nun alle hier verſammelt ſeid, liebe Herren, — dort kommt ja auch der Leut- 
nant — reizt es mich, mit Feder und Tuſche eine ungezwungene Gruppe zu geftal- 
ten. Kapitän und Leutnant kommen natürlich in den Vordergrund, in das ſtärkſte 
Licht. Der Trommler geht vorneweg. Oder ſoll er zum Sammeln trommeln? Das 
würde die fröhliche Gemeinſchaft außerordentlich beleben. Von allen Seiten ſtrömen 
die Schützen herbei, darunter auch Zuſchauer, vor allem Kinder, und dieſe mannig- 
faltigen Gruppen in eines zuſammenzufaſſen, das gäbe ein großes lebendiges Bild. 
Nur keine Unnatur, keine geſuchten poetiſchen Situationen. Hier, meine Herren, 

iſt der flüchtige Entwurf! — 

— Auch du, mein Freund aus Leiden, wirft endlich begriffen haben, was ich 
meinte. Warum Jan Lievens und ich nicht nach Italien zogen, wie es bisher Brauch 
und gute Sitte verlangten? Vielleicht war es bei mir die Furcht, von dem Wege 
meiner natürlichen eigenbrödleriſchen Veranlagung abgedrängt zu werden, die mich 
zu Haufe bleiben ließ. Ich wollte die Welt mit meinen holländiſchen nordiſchen Au- 
gen betrachten, nicht mit denen einer angelernten angebildeten Kultur. — 

— Herr Hauptmann, Herr Leutnant, ich dränge beileibe um keine Entſcheidung. 


„„ - ͤ————U᷑UPæt . Er we 


Martens: Der Dämon des Lichts 13 


Beſprechen Sie meinen Vorſchlag in aller Ruhe mit den Kameraden der Gilde. 
An dieſem Jahr kann doch nicht mehr mit dem Schützenſtück begonnen werden; 
noch bin ich zu ſtark mit anderen Aufträgen in Anſpruch genommen. Ihr Beſuch, 
meine Herren, hat mich geehrt. Vielleicht kommen wir bald zu einem allſeitigen 
Einverſtändnis. Fabritius, de Koninck, begleitet die Herren hinaus. — 

— Beſtell dem Magiſter Olfers meine Grüße. Seit wann ich hier wohne? Laß 
ſehen, es wird um das Jahr Dreißig geweſen ſein. In Leiden erhielt ich damals 
aus Amſterdam eine ſolch erkleckliche Anzahl bedeutender Aufträge, daß ich mich 
entſchloß, hierher überzuſiedeln. Nun bin ich an dieſer feuchten klammigen Erde 
kleben geblieben und kann nicht wieder davon los. Ob ich mich geſund fühle? Präc- 
tig geſund, mein wiſſensbegieriger Freund, und glücklich, fo glücklich! Schau dir 
einmal dies leckere holde Weibchen an, meine Saskia, und den Krakehler, den kleinen 
Titus! Die miiffen hier für mich ſprechen. Ob ich noch mehr Kinder mein Eigen 
nenne? Ach, drei winzige Kinderleichen mußten wir ſchweren Herzens unter ihre 
kleinen Grabſteine bergen. Dein Mutterherz blutet, ach, Saskia! Wenn wir nur dem 
Wege treu bleiben, den der Herr uns weiſet! — 


1642 

In ſcheuer Ehrbarkeit, in ehrbarer Scheue vor der Weihe der Liebe, wie in einem 
Gefühl der immer näher heranrückenden Brautnacht, hatten ſich alle zurückgezogen 
und den Meiſter allein gelaſſen. Die ſeidenen Vorhänge des freiſtehenden Ehebetts 
waren zuruͤckgeſchlagen worden und legten die geſchnitzten Figuren der Säulen frei, 
die den Baldachin trugen. Auf jeder der vier Seiten ftanden ſilberne Leuchter, den- 
jenigen aus dem Tempel der Juden nachgebildet und ihre Flammen warfen flat- 
kernde Lichter in den nächtigen Saal. Totenſtille herrſchte in ihm, nur zuweilen 
von den Glocken der Oude Kerk unterbrochen. Doch ſie jubilierten zu keiner Hoch- 
zeit, ſie lockten zu keinem ſtrahlenden Feſt der Seele. Sie riefen ernſt und mahnend 
den entſeelten Leib zur letzten Ruheſtatt. 

Der einſame gebeugte Mann, der entblößten Hauptes in der Stille des Gemaches 
zu Füßen des Bettes ſtand, hörte die Glocken nicht. Seine Gedanken gingen ab- 
ſonderliche ſeltſame Wege, abſeits der Erregungen und Mahnungen der Stunde. 
Unbeweglich ſtand er vor der hochgebetteten tiefblaffen jungen Frau, die un- 
heimlich ſtill mit gefalteten Händen auf dem Lager lag, angetan mit dem Myrten- 
kranz, dem Brautſchleier und dem weißſeidenen Hochzeitskleide, das er ſo gut 
kannte. 

Dies ſollte Saskia ſein? Nein, ſie war es nicht. Es war eine andere Frau, mit 
der er keine Gemeinſchaft hatte. Ach, Saskia! Sie war für ihn der Traum des 
Lebens geweſen, ein ſprühendes Feuer von Geiſt und Blut, zart und lieblich, heiter 
und geduldig. Vom erſten Tage ihrer Liebe an hatte er ſie vergöttert, ſie zu ſeiner 
Muſe gemacht, ſie immer wieder geliebkoſt; er hatte zu ihren Füßen demütig im 
Staube gelegen, denn ſie hatte ihn reich und groß gemacht. Wie fröhlich war ihr 
Necken geweſen, wie übermütig ihre Launen. Die große Dame und das verliebte 
Naturkind in einer Verſchmelzung. Und fiel ihn die Luſt an nach den Geiſtern des 
Weines, immer war ſie es, die ſich ihm geſellte. Nahm ihn Trauer gefangen, der 


14 Martens: Dir Damion des Lifts 


nie ganz zu überwindende Weltſchmerz in die zitternden Arme, fie, ſeine Saskia, 
ſtrich ihm zärtlich mit guten Worten die Falten von der Stirn, die ſich bei ihm fo 
tief zwiſchen den Augenbrauen einniſteten. Und wollte er allein fein mit feinen 
Selbſt, mit feinen brauſenden Gedanken, fie hielt Wache vor feiner Tür, und nie- 
mand konnte zu ihm eindringen. Ach, Saskia, du warſt das heiße ſprühende Leben, 
das er liebte, aber die bleiche lebloſe Geſtalt dort auf dem Lager war ohne Glanz 
des Geiſtes, ohne Licht der Liebe, ohne Sonne der Seligkeit. Sie war der tote bleiche 
Mond in trüben nebligen Nächten. Jedes Sonnenftäubchen, das im Weltall tanzte, 
ſtellte ſie in den Schatten. 

Und doch, er begriff dieſe Abneigung nicht: jene Frau war doch derſelbe Leib, 
deſſen Blut er geliebt, der an feinem Herzen gelegen, deſſen Herzſchlag er in un- 
ruhigen Nächten gelauſcht, wenn die Ziegeln im Sturm auf die Straße fielen und zer- 
ſchlugen. Es war der Leib, der ihm Kinder geſchenkt, es war das Fleiſch, das blonde, 
roſig angehauchte Fleiſch, das er immer wieder gemalt, in blühende Farben gehüllt 
und mit dem Schmuck feiner Phantaſie behängt und verbrämt hatte. Jedes Fält- 
chen, jedes Grübchen kannte er, jede Ader und Linie der Hände war ihm im Gedadt- 
nis. Und erſt ihr rötlichgoldiges Haar mit den neckiſchen Löckchen! 

Und doch, dieſer Leib war nicht mehr Saskia. Es war tote Natur, kalt wie Stein, 
entſeelt, ohne Säfte und lebendige Kräfte. In dieſem Leibe herrſchte der Tod, nicht 
mehr der ſchöpferiſche Gott des allmächtigen Lebens. Dieſer Leib war der Tod 
ſelbſt. 

Warum ſtand er hier wie angetlammert? Was verband ihn noch mit dieſer toten 
Frau? Konnte er fie kraft feiner Liebe vom Tode erwecken wie Chriſtus den Lazarus? 
Es war das grenzenloſe Gefühl der Ehrfurcht, das ihn gebannt hielt. Dieſe Tote 
hatte ihn im Leben mit der Macht ihres Reichtums, mit der Kraft ihrer Liebe zum 
Abgott von Amſterdam erhöht, hatte ihn auf den Thron des Lebens und Ruhmes 
erhoben. Der Erwerb all der Kunſtſchätze, die ihn läuterten und verinnerlichten, 
die ihn die Harmonie mit dem Weltall lehrten, von denen er ſich angefeuert fühlte 
im Kampf gegen die Launen der Welt, war nicht ohne ihre Zuſtimmung möglich 
geweſen. Ja, es war die zarte Scheu der Ehrfurcht, die ihn dieſen erkalteten Leib 
noch ehren ließ mit der Demut ſeines zerſchlagenen Herzens. | 

Er war arm geworden; die Heimſuchung des unerbittlichen Schickſals hatte be- 
gonnen, er war aus dem Eden feines Dafeins geſtoßen; Mühſal und jeglich Un- 
gemach würden ſich an ſeine Ferſen heften, ſie würden ſeinen männlichen Mut 
Stück um Stück zerbrechen. Die Freude war gegangen, und die Bettlerin Notdurft 
würde eines Tages die Herrin ſeines Lebens werden. 

Da ſtürzte er ſchluchzend auf die Knie und ſchlug ſich an die Bruſt und wehklagte, 
daß es im ganzen Hauſe zu hören war, und die Freunde und das Geſinde in Tränen 
ausbrachen. 

Als er ſich wieder erhob, war es ihm, als wäre das Gemach von einem unſagbar 
zarten Schimmer erhellt, und eine Stimme hub an zu ſprechen: 

— Das Glück hat ſich aufgemacht; die Mauern des Hauſes find kalt geworden 
und die Gemächer dunkel und troſtlos. Die Einſamkeit hat die Schwelle betreten, 
und die Erinnerungen werden ihren ſcharfen Zahn in dein Fleiſch bohren. Die 


Gcude: gwel Sonette 15 


Dämonen in deiner Bruſt find erwacht und werden dich quälen und mit glühenden 
Zangen dir die Augen der Seele zu blenden verſuchen. — 

Eines der Fenſter flog auf. Das Klirren der Scheiben ließ die Stimme ver- 
ſtummen. Ein milchiger Mond ſchien die Nacht zu erhellen. Ein überirbiſches Lächeln 
lag auf den Zügen der Toten. 

Und die Stimme hub wieder an zu reden: 

— dch bin das Licht deiner Seele. Behüte und bewahre mich in dem Sturm der 
Welt! — 

Der Schimmer war vergangen, und die Tote hatte zu lächeln aufgehört. 

(Fortſetzung folgt) 


Zwei Sonette 
Von Kurt Geucke 


Die Schöpfung 


Im Anfang war der Geiſt und ſtieß die Finſternis. 
Da ward aus Nacht, drin Zeit und Na um verloren, 
Aus Weltendämmerung das Licht geboren 
Und fraß die Nacht mit ſeinem Sterngebiß. 


Ein Schleierſtrom vom Eisgeſichte riß 

Der Ewigkeit, die in dem Nichts erfroren. 
Was in dem Urſchoßdunkel glanzerkoren — 
Jetzt war s der Stunde, jetzt des Lichts gewiß! 


Weltfeuer ballte ſich zu Mond und Sonnen. 
Es ſchieden ſich die Veſten und die Bronnen. 
Es wechſelten die Eimer Tag und Nacht. 


Ein Stern ſank ab voll Schmerzen und voll Wonnen — 
Und ſieh, der Wunder höchſtes ward vollbracht: 
Aus Gott und Erde ward der Menſch gemacht! 


Tod und Leben 


Am Seil der Zeit, im Brunnen der Spiralen 
Seit ewig zwiſchen Grund und Brunnenmund, 
Herauf, hernieder um das Weltenrund 

Zwei Eimer wechſeln und zwei goldne Schalen. 


Und was die Näderwerke droben mahlen 
Der Beitenmühle, daß es werde kund: 

Es wärmt, es glänzt, es fintt hinab zu Grund 
Zu jenen Spiegeln, die kriſtallen ſtrahlen 


Aus Nätſeltiefen blaues Sonnenlicht. 
So taufendmal — das ſchöpfen keine Zahlen! — 
Geheimnisſchwer, zu abertauſend Malen, 


Gezogen von der Eimer Flutgewicht — 
Hier Tod, hier Leben, rollend Schicht um Schicht — 
Herauf, hernieder gehn zwei goldne Schalen 


16 


Zwei Oberlinbriefe 


es Elſaͤſſer Pfarrers Oberlin fo ſtarke als vaterlid) gütige Perſönlichkeit ift uns 

allen wohl bekannt. Lienhards Roman hat uns ſein anziehendes Bild neu 
vor die Seele geſtellt. Um ſo ſicherer können die beiden Briefe, die bis jetzt unter 
Familienpapieren verborgen lagen, des Anteils eines größeren Leſerkreiſes ſein. Sie 
ſind gerichtet an 

Monsieur Hermann 
Docteur et Professeur en Médecine 
Strasbourg. 


Wer dieſer Mann war, der das Steintal vom Pfarrer bis zum Hirtenknaben (und 
auch andere Leute, gelehrte wie ungelehrte im Elſaß und weit brüber hinaus) in den 
Dienſt feiner Sammler- und Gelehrtentätigkeit ſtellte, das wollen wir nachher hören. 

Gut iſt es vielleicht, vorauszuſchicken, daß damals eine faſt leidenſchaftliche Ve- 
geiſterung für die neuerwachenden Naturwiſſenſchaften durch alle Kreiſe ging. Die 
Beſchäftigung damit hatte, bezeichnend für die kulturelle und politiſche Atmoſphäre 
der Zeit, faſt die Stelle eingenommen, die früher der Kunſt zukam. Mit den Natur- 
wiſſenſchaften befaßte ſich auch der Laie in feinen Mußeſtunden.! 

Und nun die beiden Briefe. 


Liebſter Herr Profeſſor! 


Nun iſt der Feldzug bald vorbey, und nichts noch hab ich erobert, das Ihrer werth 
wäre; ſo ſehr ich mich auch darnach geſehnet. Ich ſelbſt bin oft drauf ausgegangen, 
und habe nichts, nichts gefangen; worüber ich mich aber doch nicht ſonderlich wun- 
dere, da ich mich vors erſte der Sonne kaum zeigen darf, zweitens um des Zahn- 
wehes willen mich nicht leicht bücken, und nicht leicht eine ſchnelle Bewegung machen 
darf; ſondern meiſtens meinen Kopf wie einen übervollen Hafen ſchön ſtät und 
ſanfte tragen muß. So iſt mir meine Lieblings-Beſchäftigung ſo gut als unterſagt. 

Mit den Steinthälern mag ichs nur nicht mehr verſuchen. Ich habe nun zwei Jahr 
im Frühling diejenigen Hirten Knaben, die mir unter allen die fähigſten hiezu fdie- 
nen, zu mir gerufen, ihnen Meſſer, Scheeren etc. gezeiget und verſprochen. Laden 
(Schachteln), Nadeln und Büchslein aber ſogleich gegeben, und fie unterrichtet, was 
und wie ichs wüͤnſchte. Einigen, wo ichs gut zu ſeyn glaubte, gab ich gleich ein Meſſer 
oder Scheer. Die einen oder andern brachten mir, nachdem ſie meine Gebuld ziem- 
lich geübet hatten, endlich Schachteln voll der allergewöhnlichſten Inſeckten, Pa- 
pillon und Roßkäfer, lauter zu Ihrem Zweck untaugliche Waare — und dies 1, 2, 
3 mal und blieben ſo dann nach und nach alle, alle aus. Da dieſes zum Theil daher 
kommt, weil ſie ſo gar nichts kennen, und ganz keinen Geſchmack daran haben; ſo 
hab ich den Schuhlmeiſtern, jedem eine Inſeckten Tafel gegeben, worein ich die Ein- 
theilung der Inſeckten in die 7 Ordnungen geſtecket. Ins Künftige denke ich ihnen 
noch mehr zu geben, damit vors erſte die Schuhlmeiſter und hernach durch ſie, die 
Kinder Kenntnis und Geſchmack daran bekommen — haben wir das (aber wie viel 
Geduld zu allem gehört, erfahr ich immer beffer) fo werden wir fie ſodann zu unſerm 
Zweck beſſer gebrauchen können; wiewohl gewiß nie fo gut als gewickelte gewandte), 


ag pus (+Feyaspuejneuog) Sepprwydeulswuosjeds 


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gwel Oberlinbriefe 17 


von Kind auf lebhaft und wißbegierig gezogene Straßburger, denen noch dazu das 
Land und alles was es liefert, was neues iſt. 

Nun lieber Freund! wiſſen Sie was? Da Sie dergleichen Sachen auch nicht 
nachlaufen können, ſo ſchicken Sie ins Künftige jährlich einen jungen Studenten 
hieher, der für Sie auf die Jagd gehet 8, 14 Tag und zwar, wann Sie es gut finden, 
in verſchiedenen Jahreszeiten. Koſt und Logis ſtehen demſelben mit wahrem Ver- 
gnügen zu Dienſten, ſo wie auch der Vorrath an Meſſern, Scheeren und ſofort, der 
von dem überſchickten noch übrig iſt. Der junge Student hätte ohne Zweifel an 
einer ſolchen Kommiſſion Freude; wir — gewiß; Sie — kämen zu Ihrem Zweck — 
und vielleicht brächte ein ſolcher die jungen Steinthäler ſelbſt auf die Spur, und 
jagte ihnen durch ſein Exempel einen Sporn in den Leib. Machen Sie es ſo, mein 
lieber Herr Profeſſor; — und wenn Sie glauben daß es noch ein wenig Zeit iſt, 
machen Sie es dies Jahr noch ſo — und bleiben Sie, ſammt Ihrem lieben Weibgen 
gewogen Ihrem 

betrübten, troſtloſen, leider ohne feine Schuld unnütz 
gewordenen, Inſeckten - Jäger -Freund und Diener 
Hans Fritz Oberlin. 
Waldersbach, Montag 
den 15 Oct. 1777. 
Wald., den 24 März 78. 
Mein liebſter Herr Profeſſor! 

Nun recht, daß Sie nicht bös auf mich ſind! Auch hätte ichs nicht verdienet, denn 
ich bin Ihnen herzlich gut. 

O wegen Ihrer Jungfer Schweiter? ſeyen Sie doch ruhig! Man ſchnurrt ja hier 
an Leib und Seele ein, wenn man nicht bisweilen Menſchen von ſeiner Art ſieht. 
Ihrer Zungfer Schweſter Beſuch iſt uns immer in mehrerem Betracht nützlich, fo 
daß wir Ihnen immer heraus ſchuldig find. Und welche Freude, diejenigen wieder fo 
ganz bei ſich zu haben, die man vorher zu bearbeiten berufen war! O unſrem 
Wunſche nach wäre vieles, das nicht ift — ja unſrem Wunſche nach beſäßen wir jede 
unſrer Jungfern wieder jährlich einige Wochen. Wären wir reich, fo ließen wir eine 
um die andere in der Kutſch abholen. 

Meinen Schülern hab ich Lanius sarge, Muscardinus (Hafelmaus) etc. etc. an- 
empfohlen, und Meſſer, Scheeren etc. verſprochen. — Es iſt alles (unleſerliches 
Wort). Doch vielleicht kommts wieder. 

Linderns Hortus Alsaticus? habe ich ſchon lange nicht mehr — ich habe Ihnen 
denſelben nebſt dem andern Buch, fo dabey war, längſtens wieder zurück gegeben, 
und wo ich nicht irre, einen Verweis von Ihnen gekriegt, daß ich ihn nicht länger 
behalten. 

Vergeben Sie, daß ichs Ihnen nicht ſchon lange berichtet, ich hatte vergeſſen dieſen 
Artikel in Ihrem Briefe gelefen zu haben, und gleich konnte ich nicht ſchreiben. Ge- 
ſchäfte, Niedergeſchlagenheit, Mattigkeit, Faulheit und andere heiten. 

dch war, wie es ganz Straßburg weiß, einige Tage über Rhein, — auch zu Brey- 
ſach. Die ganze Strecke der kleinen Leinenberge vom alten Schloß Limburg an 


gegen Markolsheim über) bis gegen Köndringen kam mir als en von 
der Würmer XXVIII, : 


18 gwel Oberlinbdriefe 


Volcans vor. Schreibe ich Ihnen was altes, oder gar was dummes, das weiß ich 
nicht, ich wollte doch Ihnen meine richtigen oder unrichtigen Gedanken eröffnen. 
Zu Köndringen ſagte mir Herr Sander“, ein Bürger habe ſchöne Bauſteine ge- 
funden, zuſammengeführt um zu bauen — da aber die Sonne drauf geſchienen, 
ſeyen fie in Stücke zerfallen. Ich dachte, die Steine müßten im Feuer geweſen ſeyn, 
und zu ſchnell kalt geworden, vielleicht wäre es Lava, konnte aber keine zu ſehen be- 
kommen. Zu Baſenweiler (Waſenweiler) fand ich einen Mann vieredigte Steine ab- 
laden, ich wünſchte ihm dazu Glück, er ſagte ſie zerfallen wenn die Sonne drauf 
ſcheint. Bald fand ich den ganzen Steinbruch, viele Manns hoch, ſchwarz oder 
ſchwärzlich mit Spatadern durchfloſſen von oben herunter, ich nahm einige Stüdlein 
mit — und ſchabte ich aus einem Ritz ein wenig Spat-Erde heraus, fo viel ich bey 
der ziemlich ſtrengen Kälte kriegen konnte. Zu Breyſach fand ich dann ganz ähnliche 
Steine, woraus der Berg beſteht. Bey Fort-Mortier fand ich am Wege wieder ähn- 
liche, weiter aber nicht. Da ich zuruck kam, zeigte ich fie (und gab échantillons) meinen 
Schuhlmeiſtern, denen ich eine kleine Steinſammlung zur beſſern Einſicht des neuen 
Orbis Pictus® zu verſchaffen ſuche — ließ bald darauf 2 davon übern Rhein gehen, 
um die dortigen Schuhlen zu ſehen, fie fanden ſchon zu Saſpach beim Schloſſe Lim- 
burg, wo man mit der Fährt von Markolsheim anländet, ſolche Steine, und ſagten 
es wäre daſelbſt alles voll. Sie brachten kaum ſoviel mit, daß ich und ihre 2 andern 
Amtsbrüder ein Stückchen davon nehmen konnten. Iſt Ihnen das alles bekannt 
genug, oder wünſchten Sie einige ſolcher Steine zu ſehen und zu haben, ſo befehlen 
Sie, ſo bringe ich mit, wann ich in 14 Tagen nach Straßburg gehe, den 5 Aprill. 

Laden (7) habe ich nie keinen geſehen, kenne auch den Baſalt und den Schörl 
(Turmalin nicht, und verſchiednes ſonſt, das im neuen Orbis Pictus vorkommt. 

Herr Kirchen Rath Sander und Hofrath Schloſſer Goethes Schwager), denen ich die 
3 Bögen davon zugeſchickt, ſind darüber ganz ausnehmend vergnügt, und laſſen 
durch mich die lieben Freunde bitten, doch ja ſich ihre Mühe damit nicht verdrießen 
zu laſſen. Nein, mein liebſter Herr Profeſſor in Ihrem Leben haben Sie keine Zeit 
beſſer angewandt. Ich kann es immer mehr und beſſer einſehen, inſonderheit wenn 
es der Schuhlmeiſter in meiner Gegenwart den Kindern auf Patois® erklärt. Die 
armen Steinthdler! man behandelt fie franzöſiſch, und ihre Sprache iſt dem Fran- 
zöſiſchen ſo weit oft als dem Griechiſchen entfernt. Ich lerne dadurch Patois. 


envénimé = évoeulmé. la cage = dchesatte. 
le hoquet = lo sonkiotto. VYautomne = lo voyin. 
fermenter = perré. la salive = da chkeu. 


un pan de habit = déchatte und fofort. 

Kein Wunder, daß es in unſeren Schuhlen fo fürchterlich ſchwehr hält. Ich hoffe 
aber der liebe Orbis, das Hauptdenkmal Ihrer Liebe zum armen, armen, armen 
elenden Steinthal ſoll eine Reformation zu Wege bringen. 

Leben Sie doch wohl, und behalten Sie nebſt Ihrem verehrungswürdigen Weib- 
gen lieb 


Ihren 


* * 


Oberlin. 


Gwel Oberlindriefe 19 


Wer war nun der Verfaſſer dieſes „Orbis Piotus“, das die Kinder des Steintals 
ſowohl im Leſen des Franzöſiſchen üben, als auch über die ſie umgebenden Dinge 
der Natur unterrichten ſollte? 

Johann Hermann’, geboren zu Barr im Elſaß am 31. Dezember 1738, alſo wenig 
älter als Oberlin, und wie dieſer ein Pfarrersſohn, beſuchte mit 7 Jahren das Gym- 
naſium, mit 15 Jahren die Univerſität in Straßburg, wo er Literatur, Philoſophie, 
Phyſik und Mathematik, ſchließlich Medizin ſtudierte. Neigung und Gefundheitsrüd- 
ſichten veranlaßten ihn jedoch, anſtatt einer ärztlichen Praxis nach beendeten Stu- 
dien Vorleſungen über Naturwiſſenſchaften zu beginnen. Dieſe Wiſſenſchaft war bis 
dahin in Straßburg noch nicht öffentlich gelehrt worden. Junge Leute aller Fakul- 
täten, ja auch Damen, beſuchten dieſe Vorleſungen. Seine vollendete Kenntnis des 
Deutſchen, Franzöſiſchen und Lateiniſchen befähigte ihn, dieſelben je nach Belieben 
in einer dieſer Sprachen zu halten. 

Von der republikaniſchen Regierung zum Profeſſor an der neuen „Ecole Centrale 
du Bas-Rhin“ ernannt, ſetzt der fleißige Gelehrte, oft unter den ſchwierigſten Ber- 
hältniſſen, neben feinen Vorleſungen feine Sammlertätigkeit für das von ihm be- 
gründete naturwiſſenſchaftliche Muſeum fort, unterhält einen regen Briefwechſel 
„mit allen Gelehrten Europas und der neuen Welt“, leitet wiſſenſchaftliche Erkur- 
ſionen und arbeitet unermüdlich an vielen kleineren und einem großen Werk: 
„Tabula affinitatum animalium uberiore oommentatione illustrata“, Strasb. 1785. 
„Erxſchöpft durch übermäßige Arbeit“, wie es in feiner Biographie von Lauth heißt, 
ftarb er am 4. Oktober 1800 in Straßburg. 

Oberlin und Hermann, dieſe beiden in Beruf, Lebensführung und Perſönlichkeit 
ſo verſchiedenen Männer haben mehr als ein Gemeinſames in Charakter und Weſen. 
Zwar der eine ſitzt in Sammlungen und Büchern vergraben in ſeiner Straßburger 
Gelehrtenſtube, allerdings von Zeit zu Zeit mit Schülern und Freunden Streifzüge 
durchs Elſaß machend, von denen er mit wiſſenſchaftlicher Beute beladen zu den 
zarten, vielleicht etwas verzärtelten Damen feines Hauſes zurückkehrt in ein bebag- 
liches Heim, in die ſchöne elegante Stadt, während der andere im armen, rauhen 
Steintal Wege und Brücken baut, Schulen verbeſſert, Sparkaſſen gründet, und das 
entſagungsvolle Leben des Vergpfarrers lebt, und als die Revolution kommt, ſich 
naturgemäß für dieſe begeiſtert, — wogegen der Gelehrte, deſſen Sammlungen ſie 
zu zerſtreuen, deſſen mit vielen perſönlichen Opfern angelegten botaniſchen Garten 
ſie in einen Nutzgarten umzuwandeln droht, ihr wenig Neigung entgegenzubringen 
vermag. Doch können alle Umwälzungen und daraus entſtehenden Unbequemlid- 
keiten und Gefahren weder den einen von feiner tiefen und tätigen Liebe zur Menfch- 
heit abbringen, noch den andern von feiner heißen Begeiſterung für die Wiffen- 
ſchaft — beide nicht von der Gewißheit, daß ſie ihrem Vaterlande am beſten dadurch 
dienen, daß ſie ihre Arbeit gewiſſenhaft fortführen. Während der Profeſſor Briefe 
empfängt und beantwortet, die, gleichviel ob von Metternich, J. H. Merck, Cuvier 
oder andern, mit Politik kaum etwas zu tun haben und ſich nur um wiſſenſchaftliche 
Fragen drehen (die Creigniffe der Zeit werden in den Familienbriefen eingehend 
behandelt), finden bei dem Pfarrer der Revolutions mann wie der flüchtende Adelige, 
der Prieſter wie der Jude eine gaſtliche Stätte und ein warmes Herz. Unerſchüttert 


20 Sternberg: Nachtboot auf dem Rhein 


ſtehen dieſe beiden echten Elſäſſer und echten Deutſchen im Sturm der Zeit, ein 
Troſt und Beiſpiel für viele. E. Reinſch 


* * 
* 


1 Bezeichnend hiefür iſt eine Stelle aus einem Briefe Clemens Metternichs (datiert: Raftatt, 
19. Sept. 1798), der Hermann eine Schildkröte, einen Pelikanbalg und Mineralien verſpricht, 
und am Schluſſe ſagt, er danke ihm für Belehrung in einer Wiſſenſchaft, die zu allen Zeiten 
und beſonders „in dem Jahrhundert in dem wir leben“ den Reiz des Lebens ausmacht, indem 
fie uns auf die Betrachtung der Natur konzentriert „en nous éloignant de tout ce qui n'est 
pas aussi stable qu'elle“. 

2 Oberlin hatte dieſe, die Tochter des Diatonus Joh. Hermann an der neuen Kirche zu Straß; 
burg, wie andere junge Mädchen, eine Zeit lang zur Erziehung in feinem Haufe gehabt. 

Lindern, Francois Balthaſar de: „Hortus Alsaticus, plantae in Alsatia nobili etc.“ Ar- 
gent. 1747, 

Verfaſſer einer Naturgeſchichte und mehrerer Andachtsbuͤcher (ſ. Oberlins Lebensgeſchichte, 
Dr. Hilpert, Stöber u. a.). 

5 Gemeint iſt damit Hermanns Buch: „Coup d' Eil sur le Tableau de la Nature“, Straß - 
burg 1779. „Anonymus libellus in usum puerorum vallis rupese“ (ſ. Vitam Johannis Hermann, 
scripsit Thomas Lauth, Argent. 1801). Oieſes Naturgeſchichtsbüchlein mit einem Anhang 
über Seſundheitslehre ſollte dazu dienen „die Kinder des Steintals im Leſen zu üben“ und 
ihnen die erſten naturwiſſenſchaftlichen Begriffe geben. 

® Die eigenartige Mundart trug wohl an der Abgeſchnittenheit des Steintals ſowohl von der 
deutſchen als auch der franzöfiihen Kultur viel Schuld. 

7 Vgl. Sitzmann, Alsaciens célébres; Lauth, Vitam Joh. Hermann, Argent. 1801. 


Nachtboot auf dem Rhein 


Von Leo Sternberg 


Auf Strom und Bergen rabenſchwarze Nacht 
ech, unterirdiſches Stampfen . . Dumpfer Nadſchlag, 

er näherkommt ! .. Jetzt, dort aus Felſentoren — 

Was glüht heran mit roten, grünen Augen? 

Es kreuzt von Landeſteg zu Landefteg 

Mit Doppelgalerien goldner Fenfter; 

Der Tiefe Lampenkette drunter her. 

An gegen berliegenden Stationen, 

Wo trüb die ſpäte Wachtlaterne brennt, 

Der Paſſagiere Schatten aus und ein 

Dann ſchaufelt raſch die ſchwimmende Sonneninſel 

Von hinnen, wie fie kam... Kein winkend Tuch 

Nur ein Vermummter, mit ans Land geftiegen, 

Das ausgeſtorbne, das die Wogen ſchlagen, 

Verfolgt das Licht in ferne Finfternis ... 


21 
Spätſommergeſpenſt 
Novelle von Curt Hotzel 


s war ein melancholiſcher Spätſommer, den ich am Bodenſee in dem uralten 
Meersburg zubrachte. 

Es hatte viel geregnet. Tag für Tag walgten ſich die grauweißen, naſſen Wolken 
am Himmel hin, und manche Bäume ließen ſchon dem Weſtwind gelbe Blatter in 
Menge. Beſonders die Abende waren von einer eigenen Traurigkeit, die mit langen 
Nebelſchleiern das Gemäuer des tauſendjährigen Schloſſes umzog. Hin und wieder 
bizte eine ſonnige Stunde durch das eintönige Grau, und dann war der See friſch 
und ſtrahlend, und das helle Grün der Ufer leuchtete fröhlich in erwachter Sommer- 
ſeligkeit. 

Am Abend eines ſolch ſeltenen Tages, an dem man ſich, über die ſpät reifende 
Pracht der Weinberge hinwegträumend, des ſonnigen Bildes freuen konnte — traf 
ich an der Torbrücke der Burg, da wo die prächtige Barocktreppe des neuen Schloſſes 
auffteigt, im Dämmer auf eine Frauengeftalt, der ich in dieſen Wochen ſchon mehr- 
fach begegnet war. Wo ich ſie zum erſten Male geſehen hatte, konnte ich mich nicht 
mehr genau erinnern. Sie war in meiner Nähe aufgetaucht wie ein Schatten. Mög- 
lich, daß ich fie unten am Landungsplatz zuerſt erblickte, nach der Ankunft eines 
Dampfers im regennaſſen Winde — jedenfalls hatte fic) mir dieſe etwas altmodiſche 
Figur eingeprägt, ohne daß aber mein Gntereffe irgendwann bei ihr verweilt hätte. 

Sch kam aus der dunkelnden Gaffe und fab fie im Halblicht des Durchblicks zwiſchen 
den Schlöſſern auf der Brücke ſtehen. Sie blickte hinaus, über die Dächer der Unter- 
ſtadt hinweg auf den See. Das Mondlicht ſilberte auf dem weiten Waſſer, und drüben 
glitzerten die Lichter von Konſtanz. Ich blieb in dieſen ungewöhnlich ſchönen Anblick 
verfunten etwas entfernt von ihr ſtehen. 

Da geſchah etwas Seltſames. Sie wandte ſich langſam um, wie magnetiſch ge- 
zogen, ihre Augen ſtarrten mich weitgeöffnet an — und dann lief ſie ſchwebend auf 
mich zu und begann die Arme auszubreiten! Plötzlich aber blieb fie erſtarrt ſtehen — 
fuhr fi mit der Hand über die Augen und ſtammelte: „Verzeihung! ... Eine Ver- 
wechſlung!“ 

Weshalb bin ich ihr damals nicht ausgewichen, wie es ein gewiſſes Taktgefuͤhl doch 
erfordert hätte? Ich habe das fpäter oft bereut. Nun — ich blieb ſtehen, wohl auch 
durch das faſt erſchreckende Gebaren der fremden Frau gebannt, und ſie raffte ſich 
auf und ſtellte eine Frage. Ich hatte den Eindruck, als wollte ſie den Bann brechen 
und Geſpenſter verſcheuchen. 

„Ach, können Sie mir Auskunft geben,“ ſagte ſie mit leiſer und feiner Stimme, 
ein wenig ängftlich, „ob das Schloß noch immer gezeigt wird?“ Ich muß geſtehen, 
daß ich von dieſer Frage beinahe unheimlich berührt war... „Noch immer ... das 
klang aus einer OBämmertiefe. Wenn ich jetzt daran denke, jo höre ich immer noch das 
dumpfe Rauſchen des Mühlbachs, der unterhalb der Brücke über ein ſeltſam hohes 
Rad läuft 

Aber ich antwortete damals höflich und ſachlich: „Jawohl, gewiß wird das Schloß 
gezeigt. Bei Tage —“ | 


22 | Hogel: Spätfommergefpenft 


„Natürlich — bei Tage!“ fiel fie mir mit einem gezwungenen Lachen ins Wort. 
Und ich wollte doch nur erläuternd ſagen: Bei Tage finden Sie dort am Tor eine 
Anzeige der Beſuchtszeit . 

Da die Fremde noch verweilte, ich aber auch nicht gehen mochte aus Höflichkeit 
oder, Gott weiß, welchem Grunde, ſo fühlte ich mich verpflichtet, noch einige Worte 
zu ſprechen. „Ja — es iſt wohl wert, beſucht zu werden, das alte Schloß ... Die 
Erinnerungen überwältigen einen dabei..“ | 

Da bemerkte ich, wie fie mich wieder mit einem erſchrockenen Ausdruck anſtarrte. 
Ihre grauen, alten Augen waren weit aufgeriſſen. Dann, als ich weiterſprach, 
ſchienen fie wieder in fic ſelbſt zurückzukehren. „Dort iſt zum Beiſpiel eine Inſchrift, 
dem unglücklichen Konradin zum Gedächtnis, der von hier nach Neapel aufs Blut- 
gerüſt ging ...“ 

Sie hüllte fic feſter in ihren Schal und ſah recht altjüngferlich aus. Als ich nun 
etwas betreten ſchien, nickte ſie mir ſchnell einen Gruß zu und verſchwand in der 
Dunkelheit. 

Es folgten wieder trübe Tage. Trotzdem drückte eine feuchte Wärme auf das Land. 
Die Fiſche im See ſprangen, und die Erde wurde nicht trocken. Es roch überall 
modrig. Auch das Seewaſſer hatte einen üblen Geruch nach Fiſchen. Ich machte alſo 
meine Spaziergänge auf die freieren Höhen hinauf, wo die Zinnen des Schloſſes 
und ſelbſt der hohe Kirchturm bald hinter prächtigen Buchenwipfeln verſchwinden. 
Dort ſaß ich dann lange auf den Bänken und ſah auf die weite Waſſerfläche hinaus 
und in das wechſelnde Spiel der Wolken, die manchmal die Schweizer und Tiroler 
Bergſpitzen in zarten Umriſſen freigaben. Es geſchah wohl auch, daß ein Sonnen- 
ſtrahl irgendwo drüben einen Fleck Ufers grüngolden erglühen ließ. 

So kam ich zwei Tage nach der abendlichen Begegnung auf der Schloßbrüde von 
einem ſolchen Gang am Spätnachmittag den Weg oberhalb der Weinberge zurück 
und wollte noch einmal auf jenen Ausſichtspunkt hinaustreten, der mit einem 
Spalier von Lebensbäumen gegen die Straße abgegrenzt iſt, hoch oben am Felſen. 
Dieſes immergrüne Gatter mit einem Denkſtein inmitten, ehrwürdig und feier- 
lich, hatte mich immer an einen Friedhof gemahnt. Es ſchien, als ob hier Tage ver- 
ſunkener Sommerfreude eines ſtilleren Jahrhunderts eingeſargt wären. 

Dort nun fand ich auf einer ſchmalen Bank die altjüngferliche Fremde. Ich bin 
wohl ein wenig betroffen ſtehen geblieben, denn ich entſinne mich des ängſtlichen 
Blickes, mit dem ſie mich empfing Aber ich grüßte, und ſie dankte mit einem Lächeln 
um die ſchmalen Lippen, das fo viel wehmütiges Verzeihen ausdrückte, wie ich es nie 
wieder in einem Menſchenantlitz gefunden habe. 

„Das find trübe Tage in dieſem Spätſommer“, fagte ich, nur um etwas zu jagen. 
Aber fie [hüttelte den ſchmalen Kopf und ſprach leiſe vor fic hin: „Es ſchadet nichts, 
wenn man nur die hellen Tage gekannt hat.“ 

Das ſchien mir eine ziemlich nichtsſagende Bemerkung zu fein, und meine Anteil- 
nahme an dem Schickſal der merkwürdigen Frau erloſch mit dieſer ernüchternden 
Begegnung faſt völlig. 

Am Abend trat der Rat Spitzel aus dem Schwäbiſchen an mich heran: „Hatten 
Sie nicht nach den Wetterausſichten gefragt?“ Ya ich damals noch nicht wußte, daß 


gozel: Spätfommergefpenft 23 


der alte Kauz alle Geſpräche und Mitteilungen mit folden improviſierten Anfragen 
zu eröffnen pflegte, war ich ein wenig verlegen. „Ja, alſo dann kommen Sie mit 
hinaus“, fuhr er entſchloſſen fort. Draußen am Hafenplatz erklärte er mir die Wetter; 
lage und folgerte umſtändlich, daß es vor dem Herbſt noch heißes Wetter geben müßte. 
Das wäre auch dem Wein ſehr zu wünſchen 

Mitten im Fluß ſeiner Rede unterbricht er ſich aber, nimmt mich beim Rockknopf 
und zieht mich zu ſich heran: „Da ſchauen Sie nur, wie die blonde Dame Sie 
fixiert ... Schon eine ganze Weile ſteht fie da und läßt Sie nicht aus den Augen.“ 

Es war die Fremde, die ich am Nachmittag auf der Bank oben wiedergefunden 
hatte. „Kennen Sie die Dame?“ frage ich den allerweltsklugen Rat, und er antwortet 
mit einem liſtigen Blick hinüber: „Za — nein! Oder doch: Hinrichſen heißt jie — ja, 
ginrichſen. Sie hat einen Tag hier unten gewohnt. Fest ſoll fie in der Oberſtadt ge- 
mietet haben ... Hinrichſen ... wiederholte er noch einmal und ſtrich ſich ſcheinbar 
gedanken voll den Bart. Dann ſetzte er lächelnd hinzu: „Das iſt aber nichts für Sie... 
A bah ... alte Jungfer ... Nur ſchönes blondes Haar ... Aber ich denke, wir 
trinken noch.“ 

Nun — ich kam nach einer längeren Sitzung beim Meersburger Roten um Mitter- 
nacht auf meinem Kämmerlein oben im Oachgeſchoß eines der alten Häuſer an. Der 
Mond ſchien gerade durchs zerriſſene Gewölt und bleichte die Gaffe unten mit feinem 
Licht. Da ſah ich von ungefähr einen Schatten an den Häuſern hinhuſchen. War es 
nun der Wein in meinem Kopfe oder eine peinliche Erinnerung — ich empfand etwas 
wie einen leichten Schreck: Das war doch das Fräulein Hinrichſen, die da die Gaſſe 
entlang ſchwebte.. . Und trug fie nicht Blumen in den Händen? Ein ganzes Bund 
oder gar einen Kranz? Sie war aber im Augenblick verſchwunden. Ich ging zu Bett 
und wurde im Traum von einer ſpukhaften weißen Frau verfolgt. 

Auch die folgenden Nächte waren mondhell, und ich entſchloß mich eines Abends 
zu einer Wanderung oberhalb des Städtchens die Straße hinaus. Im grünlichen 
Licht lagen die Türme und Giebel hinter mir. Ich ſetzte mich auf einen Meilenſtein 
und träumte. Es iſt nicht ſehr verwunderlich, daß ich mich der weißen Mondfrau 
erinnerte, die in meinem Traum geſpukt hatte. Ich wollte die Erinnerung abſchüͤtteln, 
denn fie wurde mir läftig; aber es gelang mir nicht. Meine erregte Phantaſie ſuchte 
Geſtalten in dem Schattengewirr unten. Ein leichter Wind bewegte die Wipfel und 
Zweige. Tolle Schattenfiguren tanzten im Mondglaſt. Ich ſtand auf und ſuchte den 
Weg heimwärts. Das ſchwarze Loch eines der alten Stadttore nahm mich auf. Ich 
wußte, dort hinten führte der Weg zum Friedhof, und lächelte über mich ſelbſt und 
meine gelinde Furcht vor Spuk und Traum. Aber es wollte mir nicht aus dem Sinn: 
Dort hinten liegt die Droſte begraben, die romantiſche Magierin, die in dem alten 
Schloſſe drüben ihre letzten einſamen Jahre verträumte... Wenn fie nun mit einer 
unerfüllten Sehnſucht verlöfchte... Haben Sehnſüchte magiſch begabter Menſchen 
nicht erweckende Kraft? 

Auf einmal war es mir, als ob Fräulein Hinrichſens blaſſer Schatten hinter mir 
herhuſchte und ſeitwärts in einer Gaſſe verſchwand. Ich beſchleunigte meine Schritte, 
um in mein Haus zu gelangen. Mit klopfendem Herzen legte ich mich nieder — noch 
immer meine Spukfurcht belächelnd. Endlich ſchlief ich ein. 


24 Hotzel: Spätformmergefpenft 


Am nächſten Morgen machte ich einen erfriſchenden Gang in die Felder hoch über 
dem See. Ich freute mich des reifenden Obſtes, der fetten Wieſen, der üppigen 
Gärten voller Gemüſe. Dies ſaftige, kräftige Leben tat mir wohl. Kinder ſaßen am 
Raine, braun und übermütig, und lachten mich an, indes die Alten eifrig auf den 
Feldern ſchafften. 

Da war auch ein farbenſtrotzender Blumengarten. Ich fab die mannshohen Stock- 
roſen leuchten und daneben Gladiolen und andre ſpäte Blumen. Süßer Duft 
ſchwebte herüber. Als ich weiter ging, ſah ich Fräulein Hinrichſen hinter der Mauer 
der Stockroſen ſtehen — ſie ließ ſich gerade von dem Gärtner einen Strauß binden. 
Bei einer Wendung erblickte ſie mich. Ich grüßte, wieder verlegen, und ſie redete 
mich auch etwas verwirrt an: „Sind das nicht herrliche Blumen? So üppig findet 
man fie bei uns doch nicht im Freien, auf dem Felde ...“ 

„Ja, das iſt freilich ein anderes Klima. Ich vermute, Sie kommen aus Nord- 
deutſchland?“ 

„Ja — aus Hamburg ...“ 

Während fie nun dem Gärtner Geld gab, ſprach fie weiter — wie um mid von 
ihrem Einkauf abzulenken: 

„Und darf ich fragen, wo Ihre Heimat iſt?“ 

Ich gab ihr Auskunft und mußte währenbddeſſen an die Blumen in ihrer Hand 
denken, als ſie in jener Nacht durch meine Gaſſe im Städtchen ſchlich. Sie behielt 
mich feſt im Auge, und es ſchien mir, als ſähe fie durch mich hindurch. 

Auf einmal fragte jie unvermittelt: „Sagen Sie — glauben Sie an die Wieder- 
kehr des Gleichen?“ 

„Sie meinen,“ forſchte ich aufmerkſam vortaſtend, „die Wiederkehr desſelben 
Menſchen in anderer Geſtalt?“ 

Darauf ſah ſie ins . und lachte gezwungen: „Ach — das ſind ja nur ſolche 
Gedankenſpielereien ..“ 

Damit verabſchiedete ſie ſich und eilte der Stadt zu. 

Der alte Gärtner ſchuͤttelte den Kopf und meinte in feiner derben Mundart: „Ein 
abſonderliches Fräulein! Kauft jeden Tag da fo einen Bund Blumen... Hat fie 
jemanden auf unſerm Gottesacker liegen — einen Liebſten vielleicht, He?“ Mit 
meckerndem Lachen machte ſich der Alte wieder an ſeine Arbeit. 

Mir aber erſchien der ganze Garten jetzt als ein großer trauriger Friedhof... 

Ohne Zweifel: fie hatte in mir den Doppelgänger eines Verlorenen erblickt... 

Von dieſer Stunde an mochte ich mich ſelbſt nicht mehr gern im Spiegel ſehen. 
Auch das Alleinwandern war mir verleidet. Wenn ich durch den dumpfen Wald ging, 
ſo blieb ich plötzlich ſtehen und bekam beinahe Furcht vor den bleichen Pilzen. Ich 
ſprang dann über die moraftigen Stellen weiter durchs Dickicht über knackende 
Fichtenreiſer hinaus auf die Wieſenböſchung gegen den See hinunter. Dort ließ ich 
mich aufatmend ins Gras fallen und war froh, wenn ſich der Himmel ein wenig auf- 
klärte. 

Ich war jetzt öfters der Kneipenkumpan des Rates Spitzel. Der ſagte wohl ein- 
mal: „Wenn Sie mich danach fragen — was das Fräulein Hinrichſen betrifft... Nun, 
ſeien Sie nur ſtill: ich hab' Sie mit ihr geſehen! — Ja, dann kann ich Ihnen nur 


gotzel: Spätfommergefpenft 25 


antworten: ihr Geſchau will mir gar nicht gefallen... Nein, gar nicht! — Als ob ſie 
Seipenfter am hellichten Tage fähe... Ein zu merkwürdiges Geſchau!“ 

Das waren feine Worte; und wenn ich auch nicht viel darauf gab, fo trafen fie 
mich doch ins Herz. Es iſt ja ſeltſam, von welchen Geſpenſtern wir aufgeklärten Men- 
ſchen uns erſchrecken laſſen. Aber was hilft es, ſich einen Narren zu ſchelten, wenn 
man fremde Gewalten um ſich |pürt? 

So ging es mir jetzt oft. Ich wich dem Fräulein Hinrichſen gefliſſentlich aus. Ich 
wollte ihr nicht die Ruhe dieſer letzten Sommertage opfern, zumal ſich das Wetter 
beſſerte. Der Oftwind hielt an und Land und See glühten auf wie Edelgeſtein unter 
der Sonne. 

Nach einem der erſten ſonnigen Tage kehrte ich von einer Seefahrt zurück und 
ſaß unſchlüſſig in meiner Kammer im Erker des alten Hauſes. Die Nacht ſtieg nur 
lmgjam herauf. Die Giebel drüben ftanden noch lange im bleichen Licht, und die 
Gaffe hallte von Menſchenſtimmen wieder, denn die Leute waren ſpät von den Fel- 
dern und Weinbergen gekommen. Ich mochte nicht ſchlafen. Bei einer Kerze begann 
ich zu leſen. Als ich um Mitternacht einmal aufſchaute, ſah ich mich im Spiegel. 

Und dann überkam mich jenes ſeltſame und erſchütternde Gefühl, dieſen Augen- 
blick ſchon einmal erlebt zu haben.. Dieſe Gaffe zu kennen von einer früheren Jugend 
und dieſe Spätſommerangſt ſchon einmal durchlitten zu haben... Um Worte, Zeichen 
drehte ſich der Kreis der Wiederkehr des Gleichen .. Grauenhaft! Ich nahm meinen 
Hut und ging hinunter. Unſchlüſſig trieb es mich umher. Das Städtchen lag ſtill. Ich 
lief auf den Fußſpitzen durch den hallenden Hof des Reithauſes jenfeits der Vorburg. 
dch ſtand im Nachtwind auf dem Känzele, jenem Erker der Mauerbrüſtung hoch über 
dem Hafen. Der See lag dunkel und ſtill unter den funkelnden Sternen. Drüben 
blitzten noch Bergfeuer im Schweizer Hochland. Mir wurde die Bruſt weit, und ich 
fühlte mich hineingezogen in dieſes Wogen der Weltennacht, in dieſen Reigen der 
Geſtirne, unter denen nach feſtem Plan die Zeiten aufſteigen und verſinken. Ich 
ſpuͤrte das Leben dieſes ſeligen Landes um mich kreiſen, in mir weben .. Zeitlos 
Völker kommen und gehen, Veſten, Burgen, Städte wachſen, vergehen. Der Wein 
reift, wird von blühenden Menſchen gekeltert, kreiſt im Blut, weckt Leben, zeugt 
Leben... Ein ewiges Auf und Ab! ... 

Keine Wiederkehr? — Hinunter, hinunter das Vergangene! 

Erſchreckt ſah ich mich um. Es war mir, als raſchelte ihr leichter Schritt im frühen 
gerbſtlaub am Boden. Aber es war der Wind. Dann machte ich mich auf den Rück- 
weg. Und fand mich bald vor der Burg, auf der Brücke, dort wo dieſes ſeltſame 
Doppelſpiel der ſchemenhaften Frau begonnen hatte. Da wehte mich plötzlich ſüßer 
duft an. Gab es hier Blumen? Rofig, wie Fleiſch und Blut leuchtete es von der 
Ruhebank, einem der Lieblingsplätze des unſteten Fräulein Hinrichſen. Als ich näher 
trat, fand ich einen Kranz Blüten, Roſen und Gladioalen, Lilien und Garten- 
blumen... 

Und ich war überzeugt: fie hatte dieſe Stätte bekränzt. Wem zu Liebe? Zu 
weſſen Gedächtnis? 

Ich floh den Ort. Der Wind ließ die Wetterfahnen kreiſchen hinter mir her... 

Am nächſten Tage ſchien die Sonne warm und hell in mein blaues Kämmerlein, 


% Hotzel: Spätfommergefpenft 


als ich erwachte. Der nächtliche Spukgang war vergeſſen. Ich ließ mich durch einen 
Blick aus dem Fenſter belehren, daß es Sonntag war; die Gaſſe lag ſtill, und die 
Kinder gingen ſteif in ihren hellen Kleidern umher, friſch gebügelt. 

Um die frühe Mittagsftunde ſtieg ich hinab zum Hafen, wo um dieſe Zeit das 
Schiff aus dem Öfterreichifchen anzulegen pflegte. Ich fand denn auch viele Men- 
ſchen dort, wo der große Dampfer lag mit der Bregenzer Flagge. Oben auf dem 
Deck ſpielte eine Kapelle, Männer mit Spielhahnfedern auf den Hüten, die heitere 
Muſik des Donaulandes. Es war eine feſtliche Stimmung über allem; aber ich wurde 
all dieſer Freudigkeit nicht froh und hatte auch bald die Urſache meiner Bellommen- 
heit gefunden: Die Fremde ſtand dort hinten am Rande der Straße und beobachtete 
mich! Als ich ſie erblickte, ſah ſie zur Seite, und bald darauf verſchwand ſie vom 
Platze. 

Ich war in dieſem Augenblick froh, auf Rat Spitzel zu ſtoßen. „Ja — Sie waren 
es doch,“ fragte er getreu ſeiner Art, „der den vorzüglichen Ungarwein in Waſſerburg 
probieren wollte?“ — Sd fügte mich diesmal gern, und er forderte mich auf: „Gut. 
Kommen Sie, es wird die höchſte Zeit. Da iſt das Schiff.“ Ich ging mit ihm an Bord; 
aber der Kapitän nahm ſich offenbar Zeit, oder der rührige Rat hatte ſich nur meiner 
Geſellſchaft verſichern wollen und mich vorzeitig hinaufgelockt. Er begann nun von 
der beſten Art der Bodenſeefelchen zu erzählen, und wie man dieſe Fiſche am 
ſchmackhafteſten zubereite. Jahrzehntelange Erfahrungen ſtanden ihm zur Ver- 
fügung. Schließlich blieb er bei einer feinen Manier, ſie in Butter zu braten, dann 
feien ſie zart und zerflöſſen auf der Zunge wie Forellen. „Forellen, junger Freund,“ 
fuhr er im Schwunge fort, „ißt man ...“ Da blieb ihm das Wort wie eine Grate im 
Halſe ſtecken, denn Fräulen Hinrichſen ſtrich vorüber. Wie war fie an Bord gekom- 
men? Das Schiff dampfte ſchon eine geraume Weil gegen Friedrichshafen hin. 
Selbſt der luſtige Rat ſchien über ihr Erſcheinen ein wenig erſtaunt, denn er flüjterte 
mitten in den ſchmackhaften Rezepten: „Ein Geſchau ... närriſch ...“ 

Ja, wie kam es, daß ich mich bald von ihm losgemacht hatte, um mich in einem 
Geſpräch mit ihr wiederzufinden? Beſaß fie magiſche Macht über mich? 

„. Ich wollte meine Scheu vor feſtlichen Menſchen überwinden, wiſſen Sie. 
Früher war das etwas, worauf ich mich die ganze Woche über freute, dieſe Sonn- 
tagsfahrten daheim auf der Unterelbe.“ So plauderte fie lebhaft. Ich war ſehr ver- 
wundert, weshalb erzählte ſie mir dies alles? Ein paar rote Flecken leuchteten 
krankhaft auf der zarten Haut ihrer ſchmalen Wangen. 

Und während wir nun im warmen Wind auf dem oberſten Oeck ſtanden, den Blick 
auf den weiten, blauen, Goldfunken ſprühenden Spiegel des Sees gerichtet und die 
luſtigen Orte des flachen Uferlandes, die drüben vorüber zogen, ließ fie gleichſam 
im Selbſtgeſpräch ihre eigene Jugend vor ſich aufſteigen. Ich fab zu meiner höchften 
Verwunderung im Geiſte die ſtille Wohnung der Kaufmannswitwe draußen an der 
Außenalſter im Obergeſchoß der Villa Hinrichſen, in der nun fremde Leute wohnten; 
die mũhſam mit dem Erlös koſtbarer Handarbeiten verdeckte Not, die faſt puritaniſche 
Frömmigkeit... „Jeden Sonntag gingen wir morgens in die alte Margaretenkirche. 
Sa, Mutter war ſehr ſtreng gegen ſich .. Und nachmittags leiſteten wir uns im 
Sommer die billigen Dampferfahrten. Ach, es waren ſchöne Stunden...“ Sie ſprach 


Hotzel: Spãtſommergeſpenſt 21 


das St nach hanſeatiſcher Art. „Und dann kam wieder die Woche mit ihrer eintönigen 
Arbeit und den Erinnerungen an die früheren Jahre, an Papa und das große Haus, 
ehe das Unglück tam... Ja... damals als Papa ſtarb, war ich achtzehn ..“ Sie ſtrich 
ſich ſinnend mit der Hand über die Stirn. 

„Einmal fuhren wir auch im Frühling hinaus... Wir glaubten, die Obſtbäume 
blühten ſchon, aber es war noch kalt, und am Nachmittag kam naſſer Nebel von der 
See her, und Schneetreiben ſetzte ein... Damals erkältete ſich Mama ſehr heftig... 
Sie lag zwei Monate zu Bett bis ...“ Sie machte eine lange Pauſe. „Nun, es iſt 
vielleicht ganz gut, daß es fo gekommen iſt ...“ 

Nun lebte Fräulein Hinrichſen allein von dem Erlös der mühſeligen Arbeit, und 
ſie hatte wohl alle Erſparniſſe der letzten einſamen Jahre zuſammengerafft, um dieſe 
Sommerreiſe zu machen. „Nach Meersburg, wo ich mit den Eltern damals vor dem 
Unglüd ...“ 

Sie brach jäh ab. Die Flecke in dem blaſſen Geſicht ſchienen größer zu werden, 
und ſie ſah mich wie aus einem Traum erwachend erſchreckt an. Das Schiff bog um 
den Kopf der Mole von Friedrichshafen, wo die Leute fröhlich aus einem eiſernen 
Pavillon winkten. 

„Ach,“ rief Fräulein Hinrichſen plötzlich, „ſehen Sie doch dieſes reizende Städtchen!“ 

„Kannten Sie es noch nicht?“ fragte ich. 

Sie ſchüttelte den Kopf und ſah ſcheinbar intereſſiert nach der Landungsbrücke 
hinüber. 

Wir fuhren dann zuſammen weiter, aber fie blieb ſchweigſam. Und ich wagte es, 
offen geſtanden, nicht, fie nach jenem früheren Beſuch der alten Bodenſeefeſte zu 
fragen. Er mußte ihr die ſeltſame Begegnung gebracht haben, die jetzt in ihrer Seele 
geſpenſterte. 

Vor Waſſerburg ſtieg ſie aus. Ich atmete auf. Rat Spitzel kam zu mir heran. 
„Hören Sie, ich bin froh, daß fie nicht bei uns bleibt, denn .. Na, Sie wiffen ja... 
Es wär übrigens ſchade um Sie...“ 

„Sie wollten mir doch,“ ſchnitt ich ihm das Wort ab, „etwas von den Forellen er- 
zählen.“ 

Er ſah mich unangenehm überraſcht an. Als ich den Blick aber kalt erwiderte, be- 
gann er langſam in fein altes Fahrwaſſer zurückzukehren. Und als wir die erſte 
Flaſche des ſchweren Ungarweins in Waſſerburg hinter uns hatten, war er mit den 
Forellenrezepten ziemlich zu Ende. 

Auf der Rückfahrt am Abend meinte der allwiſſende Rat mit Bedeutung: Das 
Wetter werde wohl bald wieder umſchlagen. Ich ſpüre es ſchon im linken Vein... 

Es folgte nun ein Tag, deſſen traumhaftes Erleben mir heute noch ganz unbegteif- 
lich iſt. 

Ich traf Fräulein Hinrichſen auf dem Nachmittagsſpaziergang. Es fiel mir ſofort 
auf, daß ſie heller gekleidet war als ſonſt, duftiger in ein weißes Mouſſelinkleid. Ihre 
Haut ſchimmerte roſiger, und ihr Blick war hell und frei. Wir gingen durch den abge- 
trockneten Wald und bewunderten das grüngoldene Licht, das in den Buchenhallen 
wogte. Wir blieben oft ſtehen und lachten uns an —in einer Art Glückſeligkeit, die 
jenſeits des Begehrens liegt. 


28 Hotzel: Gpaͤtſommergeſpenſt 


Auf einer Wieſe zwiſchen hohen Buchen und Eichen, den Blick hinaus auf den 
ſilbernen See, ließen wir uns im hohen Graſe nieder. Moospolſter machten das Lager 
angenehm und trocken. Wir waren ausgelaffen wie Kinder im ſpäten Sommerglüd. 

„Wie ſchön, daß uns dieſe Tage noch geſchenkt ſind“, ſagte ein über das andere Mal 
Fräulein Hinrichſen und ſah mich dabei voll und froh an. Ihre blonde Haarkrone 
funkelte unter den ſchrägen Sonnenſtrahlen. Wie verjüngt ſie ausſah! 

. Und dann ſagte fie wieder: „Manchmal meine ich wirklich, es müßte noch ein größe 

res Glück kommen. Vielleicht find es ſchon ſolche ſpäten Tage voll Sonne und Freude. 
Oh — ſehen Sie nur: dieſen Käfer, wie er funkelt, grüngolden. Und dort jetzt die 
Mainau... Wie ein Traumſchloß am Meer... Davon hab' ich immer wieder ge- 
träumt, von dieſer glüdjeligen Inſel. ..“ 

Darauf wurde ſie ſtill. Die Mücken ſurrten und Libellen kamen herauf. Ich ſchlug 
jetzt vor, weiter zu wandern, weil ich das Geſpenſt in ihrer traumbeladenen Seele 
fürchtete. Sie ſtand auf, und wir waren bald in der Nähe einer kleinen Ortſchaft am 
See. Fräulein Hinrichſen war bis dahin ſchweigſam geblieben. Jetzt ſah fie mich 
wieder an und ſagte verlegen: „Wiſſen Sie, wozu ich Luſt habe? — Ein Glas Wein 
zu trinken, roten Meersburger.“ 

Ich nahm ihren Vorſchlag mit Freuden auf. Wir wollten ja auch hier das Schiff 
für die Rüdfahrt erwarten. 

Ein Gaſthof bot ſeine zwiſchen üppigen Gärten am Ufer gelagerte Terraſſe zum 
behaglichen Dämmerſchoppen. Bald ſtand der hellrote Wein vor uns. Der See fun- 
kelte unter der ſinkenden Sonne. Golden gezackt ſtand das ferne Gebirge im blauen 
Nebel. | 

Wir tranken uns zu. 

„Ich bin ſo dankbar für dieſen Tag“, ſprach ſie leiſe vor ſich hin, und ihre ſchmalen 
Lippen ſchienen nun röter als ſonſt. 

Mich hatte der Drang, das Geheimnis ihrer früheren Begegnung zu erforſchen, 
längſt verlaſſen. Ich freute mich ihrer heiteren Gelaſſenheit. Jetzt verlor ſich ihr Blick 
in die Dämmerung, die im Oſten heraufſtieg. Dunkel blaute dort der See unter dem 
leuchtenden Grün der überhängenden Bäume. 

Ich ſtieß mit ihr an, obgleich die Becher recht unbeholfen waren und nur einen 
matten klirrenden Ton gaben. 

Noch immer in die blauende Dämmerung hinausſtarrend, legte ſie vertraulich ihre 
ſchmalen Hände auf meinen Arm. Ich ſpürte peinlich einen Strom Wärme von ihr 
zu mir herüber ... und hielt doch ſtill und wagte nicht, mich ihr zu entziehen. Es war, 
als ſähe fie fern über den Waſſern den Verlorenen und wollte ihm mein Leben ein- 
verleiben | 

Ich fröſtelte. Sie muß es geſpürt haben, denn fie jah mich mit warmem Blick 
groß an und ſtreichelte meine Hand. 

Da pfiff ſchrill und ſchreckhaft der Dampfer hinter uns am Steg, und wir eilten 
zum Schiff hinunter. Ich war glücklich, dieſer quälenden Situation entronnen zu 
fein. — 

Am nächſten Tage machte ich mit Rat Spitzel wieder eine kleine Reiſe am Ufer 
entlang. 


Hobel: Spaͤtſommergeſpenſt 29 


Als wir am Abend nad Meersburg zurückkehrten, fanden wir das Städtchen illu- 
miniert. Muſik erklang an allen Ecken. Rat Spitzel war ſehr entrüftet darüber, daß 
man ihm den ſchnellen Entſchluß zu einem Sommernachtsfeſt nicht vorher mitgeteilt 
hatte. Er ſtellte ſich aber bald in den Mittelpunkt der Feſtlichkeit, während ich nicht 
recht wußte, was ich anfangen ſollte. Mich rührte der Jubel der Einheimiſchen über 
ihre Muſikkapelle, die wieder und wieder heitere Weiſen anſtimmte. Der kleine 
Marktplatz zwiſchen den Giebelhaͤuſern und Erkern gleich einer erleuchteten Szene 
aus den „Meiſterſingern“. Feuerwerk ſprühte draußen über dem dunklen See, und 
bald erſtrahlte dieſer und jener Teil der Burg im farbigen Licht. 

Plötzlich ſtand Fräulein Hinrichſen neben mir, ſcheu, als ſuche ſie Schutz in dem 
Getümmel. Wir ſprachen wenig. Aber ich bemerkte im bunten wechſelnden Lichter- 
ſchein den wärmeren Ausdruck ihrer Augen, wenn ihr Blick den meinen traf. Das 
feſtliche Treiben half mir über das Unbehagen hinweg, das dieſe Veränderung wieder 
in mir erweckte. Ja, das unſichere flackernde Licht machte es auf den Treppen und 
Steigen notwendig, meine Begleiterin zu ſtützen. Ich bot ihr den Arm. Sie nahm 
ihn mit ungewohnter Vertraulichkeit, und ich fpürte ihre zarte Schlankheit warm an 
meiner Seite. Wir gingen umher und wurden eigentlich wieder recht fröhlich — 
vielleicht auch nur, um uns über das Neue und Ungewohnte der Situation hinweg- 
zutäuſchen. Schließlich, als das Umbergehen ermüdete — es war ſchwül an dieſem 
Abend —, ſetzten wir uns auf das Rangele. 

Die Leute hatten ſich jetzt in die Gaſtwirtſchaften verlaufen, und es wurde bald 
ganz ſtill bier oben, auf dem weiten dunklen Platz zwiſchen dem Viereck des Reit- 
baufes und dem maſſigen Bau des Prieſterſeminars. Der See lag ſchwarz in der 
Tiefe. Hin und wieder flackerte Wetterleuchten im Weſten. 

Wir ſaßen nebeneinander auf der Bank, die ins Mauerwerk des Balkons einge- 
laſſen war und ſchauten in die Nacht hinaus. Ich fühlte, wie die aufgeſammelte 
Sehnſucht des ſpäten Mädchens in dieſer lockenden Sommernacht erwachte, und wie 
jie ſich in die Gegenwart zurüdfand. 

Ich wurde ſehr traurig und fand doch nicht den Mut, abzubrechen. Zaghaft faßte 
ſie meine Hand. Vom See her drang fernes unheimliches Brauſen, während der 
Waſſerſpiegel unten noch glatt und ſtill war. Der erſte Blitz zerriß die Nacht über 
dem Gebirge drüben. „Hören Sie das Wetter? — Ob es zu uns kommt?“ Angſtvoll 
drückte fie meine Hand, und im Scheine der nun ſchnell auf einander folgenden 
fernen Blitze ſah ich ihre Augen weit und flackernd. 

„Es wird wohl bald hier ſein“, ſagte ich. Und ſie ſchmiegte ſich noch enger an mich. 

Der Sturm flog dem Wetter voraus. Strähne ihres Blondhaars peitſchten mir 
das Geſicht. Da fiel ihr Kopf an meine Schulter. Klatſchende Regentropfen, Vor- 
boten des Unwetters, trug der Sturm heran. Der Donner rollte. 

Wie hilflos war ich damals! Ich hätte dieſen müden Kopf ganz zart in meine 
Hände nehmen und die ſchmalen zaghaften Lippen küſſen mögen ... unendliches 
Glück verſtrömend in ein glückloſes Herz ... aber ich ſaß ſtill. Ich fühlte tiefſtes Mit- 
leid mit dieſer troſtloſen Frau und konnte es ihr doch nicht bezeigen. Denn war es 
nicht ein anderer, den ihre Seele hier ſuchte? .. Wie ein Froft fiel es über mich im 
Toſen des nahenden Wetters: war ich es denn, dem ſie ſich jetzt anſchmiegte? 


30 Beaulieu: Ou fagft... 


Ich ſaß ſtill, bis fie fic) aufrichtete, langſam, angſtvoll. Und als fie dann zu mir 
aufſah, Tränen im Blick, und ich mich dennoch in einem Gefühl wärmſter Teilnahme 
mit einem nur geahnten Schickſal ihrem Munde näherte, zerriß ein greller Blitz die 
Nacht über uns, und der Donner fchütterte krachend das Firmament... Im kalten 
Lichte des Wetters aber erloſch mein mattes Verlangen. 

Vom Regenguß gepeitſcht, eilten wir in den Schutz der Häuſer. Und im Torweg 
des Reithaufes lehnte ſich das verzweifelte Mädchen in einen Winkel, die Stirn auf 
den Arm gegen die Wand preſſend, und ſchluchzte. Ich trat zu ihr und empfand tief, 
daß ſich hier ein grauſames Schickſal erfüllte. Es ging über mein junges Troſt- 
vermögen. 

Das Wetter zog ſchnell vorüber. Als das Rauſchen des Regens nachließ, wandte 
ſich Fräulein Hinrichſen jäh um, und ehe ich's mich verſah, war fie in der Ounkelheit 
verſchwunden. 

Ich verſuchte ihr zu folgen, rief und irrte im Regen umher — fie blieb verſchwun⸗ 
den. Müde und gänzlich verwirrt langte ich in meiner Manſarde an. 

Tags darauf ſah ich mich vergeblich nach Fräulein Hinrichſen um. Ich machte 
meinen Spaziergang über die Höhen nnd durch den Wald. Alles atmete Friſche, die 
Sonne ſchien heiß, und das Erdreich duftete. Aber ich blieb allein. Das Unwetter 
ſchien alle Geſpenſter vertrieben zu haben. 

Als ich am Abend Rat Spitzel traf, ſagte er: „Wiſſen Sie, daß Fräulein Hinichſen 
ganz plötzlich fort iſt? Abgereiſt, mit dem erſten Schiff heut in der Frühe ..“ 


Du fagft... 


Von Heloiſe von Beaulieu 


Du ſagſt, du liebteſt dieſes kleine Zimmer, 
Und dachteſt gern daran, wenn du geſchieden, 
Und ſögeſt dir aus der Erinnrung immer 

Ein Wohlgefühl von wundervollem Frieden. 


Wie wohl vermochten das die armen Wände, 
Die nur von Leiden und Entbehren wiſſen, 

Wie eine Jugend langſam ging zu Ende, 

Don Hoffnungen, die Stück für Stück zerriſſen — ? 


Das mein Geſchick umſchloß ſeit langen Jahren, 
Mein armes leidbeſchriebenes Gef is, 
Sollſt du fo [pat ein Wunder noch erfahren ? 
— Jah frage nicht und danke dem Verhängnis. 


Derftummt ift heut' das unheilvolle Nannen, 
Die Qualgeſtalten blaſſen und zerfließen. 

Die Wände ſind voll Freundlichkeit. Sie ſtaunen, 
Weil ſie zum erſtenmal ein Glück umſchließen. 


achdem eine Reihe bekannter deutſcher Gelehrter feit Kriegsende Spanien offiziell beſucht 

hat, um Kunde von den Leiſtungen deutſcher Wiſſenſchaft zu unſeren iberiſchen Freunden 
zu tragen, war es ein guter Gedanke des kunſtſinnigen deutſchen Generalkonſuls in Barcelona, 
des Herrn v. Haſſell, auch einmal einen Vertreter deutſcher Muſikwiſſenſchaft über die Pyre- 
nden zu locken, und ich bin gern feiner Einladung im letzten März gefolgt. Wie geplant, rollte 
die Reiſe in etwa drei Wochen glatt ab — ich gab auf Einladung der kataloniſchen Geſellſchaft 
Amics de musica in ihrem eignen Sinfoniehaus (Palau catalan) einen Vortragsabend 
mit eingeſtreuten Liedern — unter mehreren vorgeſchlagenen Themen hatte man dortſeits als 
voltstümlichſtes „Das deutſche Lied von Schubert bis Brahms“ gewählt, und die Zeitungen 
von Barcelona vermertten nachher mit verwunderter Freude, daß man ganz neue große Meiſter 
wie Löwe, Franz, Jenſen, Cornelius dadurch erſtmals kennen gelernt habe. Aus den ſpäter 
noch zu beſprechenden politiſchen Schwierigkeiten hatte ich den Ausweg gewählt, weder katalo; 
niſch noch ſpaniſch noch gar franzöͤſiſch zu Sprechen (letzteres wäre mir in dieſer Zeit als durchaus 
unmögliche Kulturpropaganda für den Landesfeind erſchienen), ſondern das dem Kataloniſchen 
nah verwandte ZItalieniſch zu gebrauchen, das denn auch beſtens verſtanden wurde; die Lieder 
fang ich deutſch, aber die Zuhörer hatten auf dem Programm treffliche kataloniſche Uberſetzungen 
von Herrn Francisco Pena in der Hand, dem ausgezeichneten Barceloneſer Wagnerüberſetzer, 
deſſen kataloniſche Ausgabe der Lieder Beethovens z. B. zu den beſten überhaupt gehört. Dann 
hielt ich im Deutſchen Klub von Barcelona feds deutſche Vorträge mit Lied-, Opern- und 
Oratorienbeiſpielen über die deutſche Muſikentwicklung der letzten zweihundert Jahre, eine 
allgemein einführende Überficht, die von dieſem weiteren Laienkreiſe dankbar aufgenommen 
wurde, wie die von Abend zu Abend ſteigende Zuhöͤrerzahl deutlich erkennen ließ. In 
Madrid wurde ein Vortrag vor Spaniern in der Weiſe gehalten, daß einer der erſten dortigen 
Muſiktritiker eine Überfegung meines Vortrags kaſtiliſch vortrug, die liebenswürdig Herr Dr. 
Moldenhauer, der Leiter der Vermittlungsſtelle für deutſch-ſpaniſchen Wiſſenſchaftsaustauſch 
angefertigt hatte, während ich wieder in deutſcher Sprache — im Saal der deutſchen Schule — 
ſang; und ſchließlich hielt ich auch noch einen Liederabend vor deutſchem Publikum im Madrider 
Klub „Germania“ ab — ein etwas anſtrengender Dienſt an neun von zwölf Abenden, zumal da 
ich die betreffenden Tage doch bis an den Rand mit Beſichtigungen des fremden Landes aus- 
gunugen trachtete. Immerhin ſcheint der beabſichtigte Werbezweck für die deutſche Sache er- 
reicht worden zu ſein; und dies ſowie die Fülle herrlich feſſelnder Eindrücke hat mir die kleinen 
Strapazen der Unternehmung doppelt wettgemacht. 

Urſ pruͤnglich hatte ich gehofft über Genua und von dort mit dem Dampfer nach Barcelona 
reifen zu können, doch ſtellte ſich dieſer Weg als teuer und unregelmäßig gangbar heraus, während 
meine Zeit knapp bemeſſen und pünttliches Eintreffen Pflicht war. So wurde die Landroute über 
Baſel—Senf— Lyon — Narbonne — Port Bou gewählt. Das preußiſche Kultusminiſterium be- 
ſorgte in liebenswürdigfter Weiſe beim Auswärtigen Amt die mancherlei Viſa für Hin- und Rüd- 
fahrt, und ich konnte pünktlich abfahren. Bis auf die leidige Einrichtung, daß man vom Schweizer 
Perſonal auf der kurzen Nachtſtrecke Baſel—Genf viermal zwecks Fahrkartenreviſion geweckt 
wurde, bleibt über den erſten Teil der Reiſe nichts zu vermelden. Sonntag früh auf dem Genfer 
Wartejaal fand man ſich inmitten übernächtiger Bummler- und ſtudentiſch frühaufſteheriſcher 
Stipdrdhen durchaus ſchon in franzöſiſchem Sprachbereich; herrlich die Fahrt dann längs der 
durch den Jura brechenden Rhone bis zu der mit Recht ſo benannten Grenzſtation „Bellegarde“, 
von wo ſich's maͤhlich nach Lyon hinabſenkt, der ſchön um eine Rhoneinſel aufſteigenden Handels- 


32 Spaniſche Reife 


ſtadt. Sehr lohnend weiter die Ausblicke auf ſüdlicher Pelem-Fahrt: jede Viertelſtunde bringt 
neue Vegetationsbilder, immergrüne Eiche, Lorbeer, Zypreſſe, Olbaum, Zitrone finden ſich an, 
ſchöne Mittelgebirgsſilhouetten wie jene des (wenig phantafievoll benannten) Montagne du Lion- 
nais oder ein vereinſamtes Seealpenmaſſiv begrenzen den Horizont, aus immer trocknerem 
Gebirgsland ragen verfallene Troubadourburgen und ſeltſam tote Städtchen an weißgelben 
Berglehnen empor — jenes Provencer Lied aus Lienhards „Spielmann“ tönt unwillkürlich 
auf. Orange und das zinnengefhmüdte Avignon der Päpſte rollen vorbei, bei dem „unfterb- 
lichen“ Tarascon des franzöſiſchen Nationalhelden Tartarin geht's über die breite Rhone auf 
ſchönen Brüden, dann über abendliches Hochplateau, wo nur noch kurzes Gras Schafherden 
lockt. Ich grüße Montpellier mit feinen Motettenhandſchriften des 15. Jahrhunderts, fpüre bei 
Cette nächtliche Mittelmeerbriſe und verbummle mehrſtündigen Aufenthalt im ſtillen Narbonne 
mit feinen Kanälen und dem träumenden gotiſchen Rathaus. Perpignan wird verſchlafen, 
aber plötzlich wecken Zollſchranke und Umſteigepflicht: bei Portbou ſin dwir in Spanien. Grellſter 
Mondſchein ſchlägt mir entgegen, drohend nahe Pyrendenberge zeigen auf ſeltſamen Abfall- 
rücken à la Dord bunte Hazienden, Gepäcktraͤger mit ihren maleriſchen Magen, Apachenſchals 
und weißen Stickereibluſen ſchleichen auf ihren nationalen Filzſchuhen umher und zeigen uralte 
Mönchsgeſichter — man fpürt die Verſetzung ins Märchenland; und irgendwie bleibt diefer 
Unterton des unwahrſcheinlich Märchenhaften feither auf der ganzen Reife mein Begleiter. 

So läßt Aufregung über alles Neue den Fremden auch nicht mehr auf der Weiterfahrt im 
bequemen ſpaniſchen Schnellzug die Augen ſchließen, und man wacht gern den Tag heran. 
Eigentümlihe Baumgruppen, zumeift Maulbeer und Platane, auch ſeltſam gekugelte Pinien 
feſſeln das Auge, vor allem ſeltſam aber wirken die dreieckigen Formen der Acker, wie denn 
überhaupt in allen Grundriſſen ein phantaſtiſcher, uns irgendwie tiefverwandter Hang der 
Spanier zum Unregelmäßigen, Spitzwinkligen, eine Abneigung gegen die ruhige Gejdloffen- 
heit der italieniſchen Kunſt, ſtets wieder erſtaunen macht. Endlich Barcelona, die volkreichſte 
Siedlung des Landes, die alte Hauptitadt Kataloniens. 

Man darf die Kultur der Stadt nicht nach der argentiniſch prunkvollen Gerablinigteit der 
neueren Teile meſſen, obwohl ſich's auch da ſtellenweis ſehr huͤbſch „unter Palmen wandelt“ 
und ſogar bemerkenswert eigenwilliges Drängen nach einem eigenen, bodenſtändigen Bauſtil 
in einigen Paläſten und Kirchen neu hervortritt. Aber das eigentliche Barcelona iſt doch die 
Altſtadt nach dem Hafen zu mit ihrem unendlichen Menſchengedränge zwiſchen Blumenſtänden 
und Vogelhändlern, Stehkonditoreien und Hundchenverkäufern die „Rambla“ hinab, mit den 
bunten Mittelmeeraquarien der Fiſchereien und den unendlich engen Nebenſtraßen voll Fremd- 
länderei und Malerreiz. Das ganze Spaniertum ſpricht aus dem myſtiſchen Dunkel des 
Doms, aus dem nur allmählich Goldgepränge, Architektur, wundervolle Vierungsd ämmerung 
hervortritt, jener düſtere Gekreuzigte, der ſich in der Seeſchlacht von Sepanto als Gallionfigur 
an der tuͤrkiſchen Kanonenkugel vorbeibog, vor dem nun hundert Frauen mit weißen Spitzen 
tüchlein auf dem Scheitel knien und Miniſtrantenkerlchen wichtig knickſen. Weſtgotiſche Ratfel- 
runen im würflig- eckigen Torbau des Kirchleins San Pedro in Campo, breite Hallen Spät 
gothik bei Santa Maria del Pino, vor allem phantaſtiſche Höhen des Domkreuzgangs, in deſſen 
Mitte heilige Enten ihr Schwimmfeld haben, bleiben als ſtarke Eindrücke haften. Und all die ent- 
zuckenden, verträumten romantiſchen Clauſtri (Rreuggange), ins Land hinein, all die verſchwie ; 
genen armen Bergkapellchen, deren mittelalte rliche Fresken-Phantaſtik ſich jetzt dem ſtaunenden 
Betrachterauge im Cataloniſchen Nationalmuſeum darbietet — ein unerſchöpfliches Land! Un- 
erfhöpflich auch für andere Forſchungsgebie te, wenn man ſieht, wie ein ausgezeichneter dortiger 
Prähiſtoriker, Schüler unſeres Berliner Meiſters Karl Schuchhardt, in wenig mehr als einem 
Jahrzehnt einesd er bedeutendſten Vorgeſchichtsmuſeen Europas, die Sammlung höͤchſt felb- 
ſtändiger neolithiſcher Stilrichtungen, mit dem Ausgrabeſpaten in Barcelona zuſammengetragen 
bat. Unerſchöpflich vor allem auch als Quelle für die Staatengeſchichte des ſpätmittelalterlichen 


Eberhard Ege 


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Epanifche Reife 33 


Europa, wenn man ehrfürchtig durch die kataloniſchen Archive wandert, deren lückenloſe Rech- 
nungsbücher, Urkunden und Geſandtſchaftsberichte vom 14. Jahrhundert an ein erſtaunliches 
Bild der damaligen Welt malen. — 

Es rührt den Beſucher zu ſehen, mit welcher opferwilligen Begeifterung die Ratalanen, lauter 
junge Gelehrte, ihre Nationalbibliothek faſt aus dem Nichts zu einer Hochburg der Forſchung 
ausgebaut haben, und man empfindet reg die Schwere ihrer gegenwärtigen Lage. Damit be- 
rũhre ich kurz die innerpolitiſchen Probleme des Landes, an denen man nicht vorüberkommt. 
Spanien erſcheint uns von Oeutſchland her als ein beſonders ſtraff einheitliches Staatsgebilde. 
gn Wirklichkeit lebt, wie das Königreich aus mehreren Teilſtaaten hiſtoriſch zuſammengewachſen 
iſt, noch immer ein ſtarker Partikularismus, der ſich ſchon auf die erheblichen Sprachunterſchiede 
zwiſchen Kaſtiliern, Katalanen, Basken, Andaluſiern und Portugieſen ſtützen kann. Unter dem 
älteren, läßlichen Regime hat ſich dieſes Dezentraliſationsbeſtreben als eine der vielen national 
tomantiſchen Wellen des 19. Jahrhunderts kräftig entfaltet und z. B. in Barcelona zu einem 
Auſſchwung des eigenen geiftigen Lebens geführt, den jede einſichtige Zentralregierung als ein 
kulturelles Mehr für die Geſamtheit buchen und unterſtützen ſollte. Nun ſcheint ihr dies aber 
allmählich von einigen Enthuſiaſten etwas ſchwer gemacht worden zu fein, deren Eigenbrö- 
telei zumal durch franzöſiſche Einflüffe fo geſteigert wurde, daß man in Madrid das Geſpenſt 
eines ſchlie lichen Separatismus aufſteigen fühlte. Als nun Primo de Rivera durch fein traft- 
volles, auch perſönlich tapferes Eingreifen mit einem Schlage die ewigen fonditaliftifden 
Sombenattentate zu Barcelona unterdrückte, fühlte ſich zunächſt alles erleichtert. Aber als das 
Direktorium gleichzeitig auch allen katalaniſchen Sonderbeſtrebungen mit Härte einen Riegel 
vorſchob und die Zufuhren unterband, wich die Dankbarkeit für das Direktorium zorniger Ver- 
zweiflung. Auf die Dauer muß Hier eine Verſtändigungsbaſis gewonnen werden, wenn der 
Schade für beide Parteien nicht immer ſteigen ſoll: die Katalanen werden lernen müſſen, ihre 
Sonderbeſtrebungen wirklich nur auf kulturellen Boden zu beſchränken und rein ſtaatlich durch 
ein kräftiges Bekenntnis zur geſamtſpaniſchen Sache Madrid allen Vorwand zur Abdroſſelung 
zu entziehen; die Zentralregierung ihrerſeits wird begreifen müſſen, daß ihre bisherige Über- 
ftrenge nur Märtyrer vom iriſchen Muſter ſchafft und abſolute Bildungswerte mindert, an 
deten Stelle fie nichts Ähnliches zu ſetzen vermag. Dem Diktator könnte ein Blick auf Oeutſchland 
zeigen, was eine kulturelle Dezentralifation bei politiſchem Unitarismus an geiftigem Reichtum 
und innerem Segen bedeutet, zumal da dem ganzen Weſen der Spanier dieſes Prinzip eines 
kulturellen Föderalismus viel näher verwandt erſcheint als der Zentripetal Bau von Frankreich 
Paris. Dann werden die franzöſiſchen Nachbarn mit ihrer mephiſtopheliſchen Propaganda des 
„Divide et impera“ hier doppelt das Nachſehen behalten und die ſchöne Utopie eines, Landweges 
nach Tunis“ ſo weit entſchwinden ſehen als ſie es irgend verdienen. So wünſchen wir unſeren 
ritterlichen ſpaniſchen Freunden doppelt aufrichtig den inneren und äußeren Frieden zur wei- 
teren Aufwärts entwicklung ihres Landes, die zumal ſeit den Neutralitätsjahren während des 
Veltkrieges fo bedeutſam eingeſetzt hat und, wie ſchon die erſtaunliche Bauluſt zeigt, trotz ge- 
legentlicher Marokko ⸗Rüuͤckſchläge vermöge nationaler Tüchtigkeit weiter anhalten wird. 

Spanien iſt ſehr unitalieniſch und darin weſentlich anders, als es wohl der deutſche Reifende 
zunächſt erwartet. Schon landſchaftlich — die Luft iſt von einer oft ſchier erſchreckenden Klarheit, 
die alle Ronturen mit einer ſeltſamen Überdeutlichkeit, mit einer ſcheinbar geradezu veränderten 
Perſpektive vor unſer Auge ſetzt und auch den Farben eine andere Brechung zu verleihen ſcheint. 
3h glaube, die herrlichen Grecos, die ich in Toledo ſah, und die erſtaunlichen Goyas im Mad- 
rider Prado find recht eigentlich nur aus den beſonderen Lichtgeſetzen der ſpaniſchen Luft zu 
verſtehen. Spanien iſt noch immer in irgend einer Art gotiſch, in der zackigen Eigenwilligkeit 
feiner Sitten, die in tauſend beſonderen Zügen frappieren, im ſtolzen Freimut der Charaktere, 
deten unerhörten Individualismus wohl niemand ſo tief erraten hat wie Velasquez in ſeinen 


Porträts, am tiefſten vielleicht in dem einſamen Leidensantlitz ſeines Aeſop, das mich ſeitdem 
Der Türmer XXVIII, 1 3 


34 Spaniſche Reife 


nicht wieder verlaffen hat. Und Spanien ijt zugleich viel mehr Orient als unſereins gunddft 
glaubt — in der Harem ⸗Strenge, mit der der Spanier Fremden feine Kemenate verſchließt, 
wie in der Geſtalt des Landes. Wenn man etwa bei Tarragona (der herrlich mit Römerruinen 
beftandenen Weinftadt am Meer!) die Küſte verläßt und am Ebro aufwärts nach Saragoſſa 
fährt, fo erſchüttert die gewaltige Odnis dieſer wafferlofen, rotgelben Felfenwiiften, dieſes 
furchtbar erhabene Trümmerfeld der kaſtiliſchen Hochebene, wo man immer auf den nächſten 
Ldwen warten möchte — leonum arrida nutrix. Gotiſch erſcheint der ſchnurrige Humor des 
Volkes, arabiſch die ſpitzenfeine Architektur, die etwa in den Moſchee Synagogen von Toledo 
ihre magiſchen Wirkungen entfaltet; katalaniſch find die grellbunten Kacheln, die in den Villen 
garten um Barcelona leuchten und noch die Bergkirche auf dem Tibidabo mit kindlicher Freudig- 
keit ſchmücken. Jener beherrſchende Berg über der Großſtadt, auf den der Verſucher den 
Herrn entführt haben ſoll: „Knie nieder und bete mich an — tibi dabo alle Herrlichkeiten der 
Welt“ —, fo [hin iſt der Blick von dort zu den Pinienwäldern hinab und über das Häufer- 
gewirr, hinter dem ſich das Meer fpannt, und zu den Schneehäuptern der Pyrenäen hin und 
zum heiligen Berge Montſerrat hinüber. Spaniſch inbrünftig wie die geiſtlichen Verzückungen 
in Hugo Wolfs Liederbuch iſt die unerhörte Pracht der Goldgewänder im Domſchatz von Toledo, 
ſpaniſch eigenwillig der Anblick des Marktplatzes von Manreeſa (am Fuß des Montſerrat), wo 
wir Sonntag mittags Hunderte ſich zum Rhythmus der Sardana im Tanz ſchwingen ſahen: mit 
einer verſunkenen Feierlichkeit halten Frauen und Männer, Mädchen und Zünglinge aller 
Altersſtufen und Klaſſen, ohne ſich zu kennen, einander an der Hand und ſchreiten in Gruppen 
zu zehn bis zwanzig ihren Ringelreihen, während eine Muſikbande mit trompetenſtarken Alt- 
oboen, Hörnern, Kontrabaß ihre prickelnden, kirchentonartlich gefärbten Melodien ſpielen; und 
niemandem darf das Mittanzen verweigert werden — jchönes, rührendes Mittelalter. 

In hundert kleinen Paradoxen zeigt Spanien ſeinen Eigenwillen. Das Lieblingsgetränk der 
erwachſenen Männer iſt heiße Milch mit Zucker; aber bei Kindergeſellſchaften gibt man zu 
trockener Schokolade und Weißbrot — ein großes Glas Waſſer. Gehſt du abends nach Haufe, ſo 
beginnt der junge, bettelarme Nachtwächter des Bezirks mit Kerze und Spieß einen Wettlauf, 
um vor dir am Haustor zu ſein und ſein Sperrſechſerl zu verdienen — gewinnſt du aber zum 
Spaß den Wettlauf, fo quittiert er mit dem Lachen eines Kavaliers die Tatſache deiner längeren 
Beine und leuchtet dir. Die Ejelquälereien des Stalieners kennt er nicht, aber die Blutekſtaſen 
des Stierkampfes, und ſelbſt beim Baskiſchen Ballſpiel (das 'ich mir ftatt jener Roheit anfah) 
kann er grauſam und wütend gegen die unerhört geſchickten Matadore mit ihrer Handſchute 
werden, die gewöhnlich früh an Herzüberanſtrengung fterben. 

Einer der [hönften Tage in Spanien wurde der Ausflug zum Einſiedlerberg Montſerrat, der 
ſeinen Namen als „geſägter“ Gipfel zu vollem Recht trägt — dieſe ſäulenhaften Zinnen, die 
die Bildungen der ſächſiſchen Baſtei verhundertfacht in den blauen Himmel tragen, könnten 
wirklich wie ſonſt kein zweiter Punkt der Welt die Gralsburg des Heils, den Montſalvat (= Wil- 
denberg und Heilsberg) des Wolfram von Eſchenbach getragen haben. Der beſte ſpaniſche 
Kenner der mittelalterlichen Muſikgeſchichte, Pater Angloͤs, machte den liebenswürdigen Führer, 
durch ihn konnte ich bei den freundlichen Mönchen des Bergkloſters ſeltene Notenpergamente 
ſehen und durch ihre Bibliotheksräume gehen (das alte Kloſter mit feinen unermeßlichen hiſtori- 
ſchen Quellen haben franzöſiſche Melacs von 1809 verbrannt), wo zwei Drittel der Bücher- 
beſtände in deutſcher Sprache gedruckt ſind. Wo mein Stalieniſch zur Verdolmetſchung nicht 
ausreicht, hilft Latein, beſonders feſſelt eine reiche Sammlung von bibliſchen Realien. Aber all 
dies Menſchenwerk verſchwindet gegen die feierliche Einſamkeit Gottes zwiſchen den kahlen 
Felsbaſtionen droben, wo ich zwiſchen Schneereſten die erſten kleinen gelben Narziſſen, unſere 
Oſterblumen, pflüde, der Lieben daheim gedenke, und etwas wie Brucknerſche Adagiofrömmig- 
keit in mir aufklingt. Ich mag den Anachoretenberg nicht beſchreiben, man leſe in Lien hards 
„Spielmann“ nach: der Dichter hat den Berg recht geſehen 


Die neuldeal iſtiſche Pädagogik der Gegenwart | 35 


Und ob id dann in Madrid durch bie erdrüdende Gemäldeherrlichkeit des Prado gewandert 
bin oder in Toledo auf der Burg des Cid geträumt habe oder in San Sebaſtian gegen die Bran- 
dung des azurblauen Ozeans anzuftürmen verſuchte — trotz all dieſer Herrlichkeiten blieb doch 
der „heilige Berg von Katalonien“ das vielleicht größte Erlebnis auf dieſer Reife. 

Prof. Dr. Hans Joachim Moſer 


Die neuidealiſtiſche Pädagogik der Gegenwart 


eben die beiden großen und verbreiteten pädagogiſchen Strömungen, die wir als Sozial- 
pädagogik und Individualpädagogik zu bezeichnen pflegen, iſt ſeit längerer Zeit in 
deutſchland eine neuidealiſtiſche Pädagogik getreten, die ſich im weſentlichen an die Philo- 
ſophie Rudolf Euckens anſchließt. Sie wurde eingeleitet durch eine Anzahl kleinerer Schriften, 
von denen hier O. Käſtner, Sozialpädagogik und Neuidealismus, O. Braun, Rudolf Eudens 
Philofophie und das Bildungsproblem ſowie meine Schriften „Verſuch einer prinzipiellen Be- 
gründung der Pädagogik der höheren Knabenſchulen auf Rudolf Eudens Philoſophie“ und „Die 
Wandlung des Bildungsideals in unſerer Zeit“ erwähnt ſeien, an die ſich bald andere Schriften 
und Auffage anſchloſſen. Im Jahre 1914 ift dann mein Werk „Noologiſche Pädagogik“ im Verlag 
von Beyer & Söhne in Langenſalza erſchienen, in dem ich verſucht habe, auf der Grundlage der 
Philofophie Euckens ein eigenes Syſtem der Pädagogik aufzubauen und auch die aus einem 
ſolchen Syſtem ſich ergebenden Folgerungen für die pädagogiſche Praxis herauszuſtellen. Die 
Bezeichnung „noologiſche Pädagogik“ habe ich im Anſchluß an die von Eucken in feiner Philo- 
ſophie befolgte „noologiſchen Methode“ gewählt; fie ſoll beſagen, daß die Grundlage dieſer 
Pädagogik ebenſo wie der Philoſophie Eudens das natur und zeitüberlegene Geiſtesleben bildet, 
das im Mittelpunkt der Weltanſchauung des Zenenfer Denkers ſteht. Weil die Lehre Eudens 
einen neuen Idealismus darſtellt, fo hat man fie auch eine neuidealiſtiſche Philoſophie 
und auch die an fie ſich anſchlleßende Pädagogik die „neuidealiſtiſche Pädagogik“ genannt. 
Die moderne Sozialpädagogik iſt aus der auf dem Boden des von dem Franzoſen 
A. Comte vertretenen Poſitivismus erwachſenen neuen Wiſſenſchaft der Soziologie hervor- 
gegangen, die nach einer beſonderen Methode die verſchiedenen Zuſtände der ganzen Menſchheit 
in ihrer Aufeinanderfolge und nach ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang vergleichen will. Im 
Lichte dieſer Soziologie erſcheint als der Hauptquell aller Mißſtände des modernen Lebens die 
intellektuelle Zerrüttung, die darin hervortritt, daß das Leben in lauter individuelle Meinungen 
und Strebungen auseinandergeht und daß es an einer genügenden Gegenwirkung gegen die 
Selbſtſucht der Individuen fehlt. Dieſe unhaltbare Lage kann nach Comte nur durch die Wiffen- 
ſchaft überwunden werden, die uns lehrt, den biologiſchen Begriff des Organismus auf die 
menſchliche Geſellſchaft zu übertragen, die eben die höchſte Form dieſes Organismus darſtellt. 
Bei ſolcher Betrachtung wird es klar, daß alles menſchliche Leben ſich nur im Zuſammenſein, 
nur innerhalb der Geſellſchaft entwickelt und daß ſich nach ihrem Stande auch die Art und das 
Wohl des individuellen Oaſeins bemißt. Das iſt ein Geſichtspunkt, den auch die Erziehung zu 
beachten hat. Sie darf nicht individualiſtiſch gerichtet fein, fie darf nicht den Zweck jeder indivi- 
duellen Leiſtung außerhalb des ſozialen Lebens ſetzen, denn ſonſt befördert ſie den Egoismus. 
In dieſer Beziehung war nach Comte die bisherige Erziehung auf einem falſchen Wege. Sie 
fann nur dann auf den richtigen Weg gebracht werden, wenn die Biologie und die Soziologie 
die Srundwiſſenſchaften der Pädagogik werden. Die Biologie zeigt uns, daß es ſich bei den 
Neigungen, Gefühlen und Fähigkeiten des Menſchen um ſehr biegſame Organiſationen handelt, 
die in jedem Sinne modifigierbar find. Wie aber dieſe Modifikation, d. h. in dieſem Fall die Er- 
ziehung, zu erfolgen habe, das kann uns nicht mehr die Biologie, ſondern das kann uns nur die 


56 Dic nenibealiftifhe Pädagogik der Gegenwart 


Soziologie lehren. Sie ſtellt aber als den höchſten Geſichtspunkt, unter dem ſich das Indivi- 
duum betrachten läßt, die Geſellſchaft hin. Deshalb muß die Geſellſchaft das Ziel ſein, nach 
dem hin die Entwicklung des Individuums ſyſtematiſch zu leiten iſt. Die Pädagogik muß daher 
eine Sozialpädagogik werden, die alle ihre Ziele und Aufgaben von der Geſellſchaft aus beſtimmt 
und die Wege zu dieſen Zielen aus der Biologie entnimmt. In Oeutſchland hat dieſe poſitiviſtiſche 
Sozialpädagogik vor allem einen Vertreter gefunden in Paul Bergemann, deſſen im Jahre 1900 
erſchienenes Werk „Soziale Pädagogik auf erfahrungswiſſenſchaftlicher Grundlage und mit Hilfe 
der induktiven Methode als univerſaliſtiſche oder Kulturpädagogik“ ſich in den Grundgedanken 
durchaus an Comte anſchließt. Beide wollen das Erziehungsziel der empiriſch vor- 
handenen Geſellſchaft entnehmen. 

Einen anderen Ausgangspunkt als dieſe poſitiviſtiſche Sozialpädagogik nimmt die ideali- 
ſtiſche Sozialpädagogik der Gegenwart, deren bedeutendſter Vertreter der im vorigen 
Jahre geſtorbene Marburger Univerſitätsprofeſſor P. Natorp iſt. Sie entnimmt das Er- 
ziehungsziel nicht der Erfahrung, ſondern einer Idee, nämlich der Idee deſſen, was fein ſoll, 
alſo der Idee des Guten oder des Vollkommenen. Dieſe iſt aber nicht in der Erfahrung gegeben, 
die wohl zeigt, was iſt, aber nicht, was ſein ſoll. Jene Idee ſtammt vielmehr nach Natorp aus 
dem menſchlichen Selbſtbewußtſein. Nun iſt aber die Entwickelung des Selbſtbewußtſeins nur 
moglich im Wechſelverhältnis von Bewußtſein zu Bewußtſein, folglich nur in und mit der Ent- 
wickelung der Beziehungen, die aus dem empiriſchen Bewußtſein des einzelnen Subjekts hinaus 
zur Gemeinſchaft hinüberreichen. Deshalb führt die Frage, wie im Menſchen das Selbſtbewußt⸗ 
ſein ſich entwickelt, mit Notwendigkeit zu einer Sozialpädagogik. Zwiſchen Gemeinſchaft und 
Erziehung beſteht nicht bloß ein äußeres Verhältnis, ſondern die Erziehung beruht ſchon ihrem 
Begriffe nach auf der Gemeinſchaft, und es iſt auch eines ihrer wichtigſten Ziele die Tauglichkeit 
nicht nur zum Leben in der Gemeinſchaft, ſondern zur eigenen Teilnahme am Aufbau einer 
menſchlichen Gemeinſchaft. Von dieſer Gemeinſchaft kann die Erziehung gar nicht abſehen, ſie 
muß vielmehr daraus ihre Zielſetzung entnehmen. Aber es handelt ſich bei dieſer Gemeinſchaft 
nicht um die empiriſch vorhandene Geſellſchaft, von der die poſitiviſche Sozialpädagogik ausgeht, 
die Natorp ablehnt, ſondern um eine angenommene ideale Geſellſchaft, in der die Idee der 
Sittlichkeit verwirklicht gedacht wird. Diefe Idee ſtammt aus dem Selbſtbewußtſein, das Gelbft- 
bewußtſein aber entwickelt ſich nur in der Gemeinſchaft; ſomit iſt dieſe Gemeinſchaft auch in 
letzter Linie die Schöpferin der Idee und muß deshalb auch, weil dieſe Idee allein für die Er- 
ziehung zielbeſtimmend ſein darf, die eigentliche Grundlage der Pädagogik ſein. 

Gegen die Sozialpädagogik wendet ſich die moderne Individualpädagogik. Sie nimmt 
ihren Standort nicht in der Geſellſchaft, weder in der empiriſch vorhandenen noch in einer ideal 
gedachten, fondern in dem Individuum. Sie geht in erſter Linie auf Nietzſche zurüd und be- 
rührt ſich mit ihm in der Verwerfung aller ſozialiſtiſchen Gleichmacherei, durch die ihrer Meinung 
nach die individuelle Eigenart des Menſchen, die an ihm gerade das Wertvollſte iſt, vernichtet 
wird. Die Sozialkultur will die Geſellſchaft zum Träger und Maßſtab des Lebens machen; ſie 
will das Individuum, um mit Nietzſche zu reden, der „Herde“ opfern. Doch „die Herde,“ heißt 
es bei Nietzſche, „iſt Mittel, nicht mehr. Aber jetzt verſucht man, die Herde als Individuum zu 
verſtehen und ihr einen höheren Rang als dem einzelnen zuzuſchreiben.“. „Das Individuum iſt 
etwas ganz Neues und Neuſchaffendes, etwas Abſolutes, alle Handlungen ganz ſein Eigen. Die 
Werte für feine Handlungen entnimmt der einzelne zuletzt doch ſich ſelber, weil er auch die über- 
lieferten Werte ſich ganz individuell deuten muß.“ Und dieſes ſo wertvolle Individuum will der 
Sozialismus beſeitigen, um die Maſſe zur Herrſchaft zu bringen. „Oer Sozialismus,“ bemerkt 
Nietzſche an einer anderen Stelle, „iſt der phantaſtiſche jüngere Bruder des faſt abgelebten De- 
ſpotismus, den er beerben will; ſeine Beſtrebungen ſind alſo im tiefſten Verſtande reaktionär. 
Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie fie nur je der Deſpotismus gehabt hat; ja 
er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums an- 


Oie neuide oliſtiſche Pãd ag oglk der Gegenwart 57 


ſtrebt, welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweck 
mäßiges Organ des Gemeinweſens umgebeſſert werden foll.“ Wenn man das Entſtehen großer 
und feltener Männer von der Zuſtimmung der Maſſe abhängig gemacht hätte, würde es niemals 
einen bedeutenden Menſchen gegeben haben. Der große Menſch kann ſich nur entwickeln, wenn 
er ſich von aller Bindung an die Geſellſchaft frei macht. 

Das hat auch die Erziehung zu beachten. Sie darf in ihren Maßnahmen nicht von der Gefell- 
ſchaft, ſondern ſie muß vom Individuum ausgehen. Nicht die Tauglichkeit für die Zwecke der 
Geſellſchaft ſoll deshalb nach Nietzſche das Ziel der Erziehung fein, ſondern die höchſtmöͤgliche 
Ausbildung des einzelnen Individuums oder vielmehr eigentlich die Züchtung des 
Genies. Nun kann man aber innerhalb der heranwachſenden Jugend das Genie nicht von vorn- 
herein erkennen; deshalb muß eine große Menge von Menſchen herangebildet werden, allerdings 
nicht um ihrer felbft, ſondern um des Genies willen, das unter ihnen aufwächſt. Dieſe Maſſe von 
Aus erleſenen, unter denen das Genie lebt und die ſelbſt ihm näher oder entfernter verwandt find, 
nennt Nietzſche die Jugend der „erſten Generation“, Sie ſtellen die Starken, die Kommenden, 
die Vernichter dar, die berufen find, die ganze Afterbildung der Gegenwart zu ſtürzen. Dieſe 
petite Generation“ muß ganz ſelbſtändig und frei von allen Einflüffen der Kultur und der Ge- 
ſellſchaft erzogen werden. Auch dürfen ihr keine religidfen Bindungen auferlegt werden. Der 
Religionsunterricht ijt aus der Jugendbildung zu entfernen. Dagegen muß in ihr die Kunſt eine 
hervorragende Rolle ſpielen, denn ſie iſt beſonders geeignet, die heranwachſende Jugend auf ſich 
ſelbſt zu ſtellen und ſo wahrhaft frei zu machen, ſo daß ſie ſelbſt die Geſtalter ihres Lebens und 
Menſchen werden können, die von allen äußeren und inneren Bindungen losgelöſte, nur in ſich 
felbft das Gefek ihres Handelns ſuchende und findende ſelbſtherrliche Perſönlichkeiten find. Eine 
ſolche Erziehung ſetzt aber Lehrer voraus, die ſelbſt ausgeprägte Individualitäten und Kuͤnſtler⸗ 
naturen find. Der Lehrer muß nicht in erſter Linie ein Ubermittler der Tradition, ſondern viel- 
mehr eine aus dem eigenen Innern ſchöͤpferiſch geſtaltende Perſönlichkeit, er muß nicht ſowohl 
Selehrter als Kuͤnſtler fein. 

So ſtehen ſich in der Sozialpädagogik und in der Individualpädagogik zwei entgegengeſetzte 
Anſchauungen gegenüber, zwiſchen denen es keine Vermittelung zu geben ſcheint. Die eine will 
alle Aufgaben und Maßnahmen der Erziehung allein von der Geſellſchaft, die andere allein von 
dem ſelbſtherrlichen Individuum aus beſtimmen. Damit verfallen beide in eine Einſeitigkeit, 
die einer wahrhaften Menſchenbildung hinderlich wird. Es fehlt bei beiden Richtungen 
der erforderliche Ausgleich zwiſchen den ſozialen und den individuellen Be— 
langen. Oazu kommt, daß beide das Erziehungsziel aus dem bloß menſchlichen Kreiſe ent- 
nehmen, der keine abſolutwertigen Normen zu bieten vermag, weil alles bloß Menſchliche immer 
noch in der Entwickelung begriffen und deshalb unvollkommen iſt, demnach auch immer nur 
relative, und keine abſoluten Werte zu geben vermag. Das gilt vor allem von der poſitiviſtiſchen 
Sozialpͤdagogik, die das Erziehungsziel von der empiriſch vorhandenen Geſellſchaft aus be- 
ſtimmt. Oieſe Geſellſchaft kann aber für die Erziehung keine feſten Normen abgeben, weil ſie 
ſelbſt ſolche nicht beſitzt. 

Den dadurch bedingten Relativismus überwindet aber auch die idealiſtiſche Sozialpädagogik 
Natorps nicht, obgleich ſie nicht auf der Erfahrung, ſondern auf einer Idee fußt. Das kommt 
daher, daß Natorp den Urſprung diefer Idee in das menſchliche Selbſtbewußtſein verlegt, das 
er wiederum aus der Gemeinſchaft hervorgehen läßt, daß er alſo damit auch innerhalb des 
men chlichen Kreiſes bleibt, aus dem nun einmal keine abſoluten Werte zu gewinnen ſind. Alles, 
was jenem Kreiſe entſtammt, bleibt unvollkommen. Mithin kann die Idee des Guten oder des 
Vollkommenen nicht in dieſem Kreiſe ihren Urfprung haben, fie kann vielmehr nur einer dieſem 
Kreiſe überlegenen Inſtanz angehören. Wird dieſer Urſprung beſtritten, dann hörte jene Idee 
auf, die Idee des Vollkommenen zu fein und verliert ihren abſoluten normgebenden Wert. Das 
trifft auch auf die Idee zu, die Natorp ſeiner Sozialpädagogik zugrundelegt und zu der er 


38 Die neulide aliſtiſche Pädagogik der Gegenwart 


auf dem Wege einer bloß logiſchen Erkenntnis, durch Analyſe des Bewußtſeins gelangen zu 
können glaubt. Noch viel weniger wird der Relativismus aber überwunden von der auf Nietzſche 
fußenden Individualpädagogik, die vom Individuum aus das Erziehungsziel beſtimmt und alle 
Metaphyſik nicht minder ſchroff verwirft wie die poſitiviſtiſche Sozialpädagogik. 

Die Pädagogik bedarf abſoluter Werte. Woher kann ſie dieſe nehmen? Oarauf gibt die 
Philoſophie Euckens die Antwort, und deshalb iſt gerade ſie ſo geeignet, die Grundlage für eine 
Pädagogik der Gegenwart zu liefern. Sie bietet uns in dem Geiſtes leben, das in ihrem Mittel- 
punkt ſteht, die Inſtanz, aus der wir ein von allem Wandel menſchlicher Verhältniſſe und Mei- 
nungen unabhängiges abſolutwertiges oberſtes Erziehungsziel gewinnen können. 

Dieſes Geiſtesleben iſt der Natur und dem menſchlichen Kreiſe überlegen; mit ſeiner Hilfe 
können deshalb die Einſeitigkeiten überwunden werden, die den bloß aus der Natur und dem 
menſchlichen Kreiſe geſchöpften Weltanſchauungen anhaften, wie ſie uns in dem Poſitivismus, 
dem Natorpſchen Logizismus, dem Sozialismus und dem Individualismus entgegentreten. Mit 
ſeiner Hilfe können wir auch von einem höheren Standort aus den Gegenſatz zwiſchen einer 
Sozialpädagogik und einer Individualpädagogik überbrücken. Denn nun handelt es ſich nicht 
mehr um die Frage, ob die Aufgaben und Ziele von der Geſellſchaft oder vom Individuum aus 
beſtimmt werden ſollen, ſondern jetzt wird vielmehr die Forderung aufgeſtellt, daß 
ſich beide, Geſellſchaft und Individuum, den unwandelbaren und ewigen Normen 
des Geiſteslebens unterordnen und nach ihnen das Leben zu geftalten ſich be 
mühen. Damit wird der Gegenſatz zwiſchen Individuum und Geſellſchaft in einer höheren Ein- 
heit aufgehoben und zugleich der Relativismus aller aus dem bloßen menſchlichen Kreiſe ftam- 
menden Werte durch Setzung abſoluter Werte überwunden. Ohne ein ſolches Geiftesleben iſt 
auch nicht zu einer wahren und echten Ethik zu gelangen, aus der allein das Perſönlichkeits- 
ideal zu gewinnen iſt, das aller Erziehung vorſchweben muß. Indem das Geiſtesleben, das an 
ſich einer höheren Ordnung der Dinge angehört, in den menſchlichen Kreis hinabſteigt, gerät es 
in Kampf mit dem Bloßmenſchlichen und muß ihm gegenüber ſeine Selbſtändigkeit behaupten. 
In dieſem Kampf des Geiſteslebens gegen das Bloßmenſchliche hat jeder einzelne Menſch als 
Teilhaber am Geiſtesleben mitzuwirken. Das verſetzt fein Leben in eine gewaltige innere Be- 
wegung, die zu einer aktiviſtiſchen Ethik führt. 

Man redet heute viel von Perſönlichkeitsbildung, faßt dabei aber meiſtens den Begriff der 
Perſönlichkeit einſeitig oder direkt falſch. Sehr oft wird dieſer Begriff mit dem der ſinnlich felb- 
ſtiſchen Individualexiſtenz des Menſchen verwechſelt. In Wahrheit führt aber das Problem der 
Perſönlichkeit gerade über dieſe Individualexiſtenz hinweg, und es wurde, wo eine Welt des 
Perſönlichſeins zu kräftiger Entfaltung gelangte und die Menſchheit über die bloße Natur wefent- 
lich hinauszuheben ſuchte, jene Exiſtenz überſchritten, ja ein Kampf gegen ſie aufgenommen. 
Wenn Perſönlichkeit nichts anderes bedeutet als ein von den Zuſammenhängen der Wirklichkeit 
möglichſt abgelöſtes Fürſichſein, dann kann ſie kein lebengeſtaltender Faktor ſein. Der Begriff 
der Perſönlichkeit verdient nur dann die hohe Schätzung, die ihm hervorragende Denker bis zur 
Gegenwart haben zuteil werden laſſen, wenn er den Träger eines neuen Lebens gegen- 
über der bloßen Natur bedeutet. „Wer im Zuſammenhang einer Weltanſchauung für Per- 
ſönlichkeit eintritt,“ bemerkt Eucken, „behauptet damit, daß das Geiftesleben keinen bloßen An- 
hang der Natur, ſondern eine eigentümliche Art des Seins beſagt; er behauptet, daß es nicht in 
einzelne Betätigungen und Vermögen aufgeht, ſondern eine ihnen überlegene und fie um- 
faffende Einheit enthält und damit zu einem Beiſichſelbſtſein, einem Selbſtleben wird; er be- 
hauptet endlich, daß dies Selbſtleben kein bloßer Sammelpunkt ihm zugeführter Elemente, 
ſondern aktiver Art iſt, eine umwandelnde Kraft an allem Empfangenen übt und das ganze Da- 
fein auf eine höhere Stufe hebt. Nur wenn dies alles zutrifft, bringt Perſönlichkeit etwas wefent- 
lich Neues in unſer Daſein und rechtfertigt damit den Affekt, mit dem ſie von vielen ergriffen 
wird.“ 


die neulde allſtiſche Pädagogik der Gegenwart 39 


zn dem Sinne des Euckenſchen Perſonalismus, der oben kurz gekennzeichnet iſt, eine Perfön- 
lichkeit zu werden, iſt die Beſtimmung des Menſchen. Weil nun die Erziehung den heranwadfen- 
den Menſchen vor allem auf ſeine eigentlich menſchliche Beſtimmung vorbereiten und ihn ihr 
zuführen foll, fo muß es das erſte und oberſte Ziel aller Erziehung fein, in den jungen Menſchen 
die Perſönlichkeit wachzurufen und zu pflegen. Wir erkannten nun, daß wahre Perſönlichkeit 
nur aus dem Geiſtesleben erwachſen kann. Des halb muß dieſes der Standort werden, 
von dem aus die Pädagogik ihre Ziele und Aufgaben zu beftimmen hat; feinen 
Forderungen haben ſich Geſellſchaft und Individuum gleichmäßig zu unterwerfen. Damit wird 
die Pädagogik über Sozialpädagogik und Individualpädagogik mit aus dem 
bloßen menſchlichen Kreis geſchöpften relativen Werten hinausgehoben zu einer 
auf noologiſcher Grundlage ruhenden, d. h. im Geiftesleben wurzelnden Perfön- 
lichkeits pädagogik mit aus dieſem Geiſtesleben geſchöpften abſoluten Werten. 

Im Hinblick auf die Möglichkeit der Erziehung und ihre verſchiedenen Ziele ergibt ſich 
für eine ſolche noologiſche Pädagogik Folgendes: der Menſch iſt ein Naturweſen und ein Geiftes- 
weſen. Als Naturweſen gehört er der Welt der Erfahrung an und unterſteht als ſolcher dem die 
ganze Natur beherrſchenden Kauſalitätsgeſetz, als Geifteswefen gehört er dem Geiftesleben an, 
das eine ihm überlegene Welt darſtellt, die aber doch auch in ihn hineinreicht und von ihm ange- 
eignet werden kann. Als ein ſolches Geiſtesweſen beſitzt er eine Freiheit des Willens, ſo daß 
et zwiſchen gut und böfe wählen und angeleitet werden kann, fic für das Gute zu entſcheiden. 
Ohne eine ſolche Willensfreiheit wäre jede Erziehung illuſoriſch; fie erſt gewährleiftet die Mög- 
lichkeit der Erziehung. Welche Ziele muß ſich nun eine das Geiſtesleben als oberſte Inſtanz 
anertennennde Pädagogik ſetzen? Eben weil für fie dieſes Geiſtesleben die höchſte Inſtanz iſt, 
muß ihr erſtes Anliegen fein, die Jugend fo zu erziehen, daß fie die Forderungen des Geiftes- 
lebens als unbedingt bindende Normen anerkennt und zur Erfüllung dieſer Forderungen fähig 
wird. Damit legt ſie die Grundlage zu einer wahren Perſönlichkeitsbildung, die, wie wir ſahen, 
allein auf dem Boden des Geifteslebens erwachſen kann. Und weil fie dadurch den Menſchen zu 
ſeiner eigentlichen Beſtimmung als Menſch führen ſoll, nennen wir dieſes oberſtes Erziehungsziel 
das humaniſtiſche. Man könnte es auch das religiös ethiſche nennen. Dieſem oberſten Er- 
diehungs ziel haben fic die anderen Ziele unbedingt unterzuordnen. Vor allem gilt dies von dem 
ſozialen Erziehungsziel, das die Sozialpädagogik an ſeine Stelle ſetzen möchte. Ein ſoziales 
Erziehungsziel iſt an ſich durchaus anzuerkennen, denn der Menſch gehört nicht bloß dem Geiftes- 
leben, ſondern auch der Welt der Erfahrung an, in der er innerhalb einer Gemeinſchaft zu leben 
und zu wirken berufen iſt. Da nun jede Gemeinſchaft beſtimmten Exiſtenzbedingungen unterſteht, 
die von dem einzelnen Menſchen, der ihr angehört, anerkannt und beachtet werden müſſen, fo 
muß der Menſch auch fo erzogen werden, daß er die Bedingungen und Forderungen eines fo- 
zialen Zuſammenlebens kennenlernt und gewillt wird, ſich ihnen zu fügen. Aber dabei darf die 
Erziehung nie aus den Augen verlieren, daß die ſozialen Forderungen, zu denen wir in dieſem 
Zuſammenhang auch die ſtaatlichen rechnen, in keiner Weiſe den Forderungen des huma- 
niftiichen Bildungszieles, deſſen Primat unantaſtbar ift, widerſprechen dürfen, ſondern ſich dieſen 
unbedingt unterordnen müffen, daß, mit anderen Worten, auch die ſoziale Erziehung ihre Richt- 
linien von einer im Geiſtesleben wurzelnden Ethik erhalten muß und die humaniſtiſche Per- 
ſönlichkeits erziehung nicht beeinträchtigen darf, wie dies z. B. unter dem Einfluß eines 
auf Hegels Überfpannung der Staatsidee zurüdzuführenden Politismus (der Ausdruck ſtammt 
von Eucken) im vorigen Jahrhundert vielfach geſchehen iſt. Zu dem humaniſtiſchen und dem 
ſozialen Erziehungsziel kommt dann noch ein drittes hinzu, das ich das naturhafte genannt 
habe, und das ſich aus dem Umſtande ergibt, daß der Menſch auch ein Naturweſen und als ſolches 
an die Geſetze gebunden iſt, die die Natur beherrſchen. 

So prävaliert in dieſer Zielſetzung das humaniſtiſche Erziehungsziel, das die 
Bildung zu wahrem Menſch ent um erſtrebt, und damit greift die neuidealiſtiſche Padagogit 


40 Die neulbealiftiihe Päbagogit ber Gegenwart 


der Gegenwart auf den Standpunkt der Führer der deutſchen Erziehung zurück, die bei aller 
Verſchiedenheit darin einig waren, „daß der Menſch an erſter Stelle nicht für draußen befindliche 
Ziele, auch nicht für die menſchliche Geſellſchaft, ſondern für ſich ſelbſt zu bilden fei, indem er zu 
einer ſelbſtändigen Perſönlichkeit und zu einer geiſtigen Individualität erhoben werde“, und 
„daß der Menſch eben dann, wenn er nicht den äußeren Nutzen zum Hauptziele macht, ſondern 
vor allem feine Seele vertieft und kräftigt, auch in der ſichtbaren Welt am meiſten wirken und er- 
reichen wird“, 

In den Dienſt jener Zielſetzung hat ſich auch der Unterricht zu ſtellen, der niemals Selbſt⸗ 
zweck werden darf, ſondern in erſter Linie als ein Mittel zur humaniſtiſchen Perfönlichkeits- 
bildung angeſehen und geſtaltet werden muß. Deshalb müſſen auch die Ziele des Unterrichts 
den Erziehungszielen entſprechen. Demnach muß der Unterricht in erſter Linie eine huma⸗ 
niſtiſche Bildung erftreben, d. h. nach unſerer Faſſung eine Bildung, die in dem Zögling 
die Quellen des Geiſteslebens zum Fließen bringt, die ihn mit den Forderungen dieſes Geiftes- 
lebens bekannt macht und in ihm die Luſt und den Willen weckt, ſich ihnen zu unterwerfen. Die 
Quellen des Geifteslebens find im Menſchen Gemüt, Wille, Intellekt und Phantaſie. An fie alle 
muß der Unterricht ſich wenden; er darf nicht die eine Kraft auf Koſten der anderen pflegen. 
Damit iſt dem einſeitigen pädagogiſchen Intellektualismus, der nur auf Derftandes- 
und Gedächtnisbildung abzielt und der ſeit Hegels Zeit in verhängnisvoller Weiſe in der deut- 
ſchen Schule vorgeherrſcht hat, das Urteil geſprochen. Er unterbindet die wahre Perſönlichkeits⸗ 
bildung. Neben das humaniſtiſche Unterridtsgiel muß dann, dem fozialen Erziehungsziel ent- 
ſprechend, auch ein ſoziales Unterrichtsziel treten. Dieſes verlangt, daß die Schüler im 
Unterricht einmal darüber belehrt werden, wie überhaupt menſchliche Semeinſchaften wie Volk, 
Staat uſw. entſtehen und ſich entwickeln, und beſonders wie ſich die engere Gemeinſchaft, der 
fie angehören, alſo das eigene Volk und der eigene Staat, gebildet hat, und daß fie andrerſeits 
erfahren, welches die Grundlagen der Organifation dieſer Gemeinſchaft find, und auf welchem 
Übereinkommen, welchen Geſetzen und Verordnungen fie beruht. Es bedarf alſo mit anderen 
Worten einer geſchichtlichen und einer ftaatsbürgerlihen Unterweiſung. Endlich muß, dem 
naturhaften Erziehungsziel entſprechend, auch ein naturhaftes Unterrichtsziel gefordert 
werden. Dieſes beſagt, daß die Schüler die Geſetze kennen lernen müffen, die in der Natur herr 
ſchen und durch deren Kenntnis ſie ſich die Natur dienſtbar machen können, und daß ſie ferner 
auch mit den Bedingungen bekannt gemacht werden miffen, an die alles organiſche Leben ge- 
tniipft iſt und die fie deshalb auch bei der eigenen Körperpflege zu beachten haben. Daraus ergibt 
ſich die Forderung eines naturwiſſenſchaftlichen Unterrichts, der eine Unterweiſung in der Bio- 
logie in ſich einſchließen muß. 

Im Hinblick auf diefe drei genannten Unterrichtsziele werden auch die Unterrichtsgeg en- 
ſtände oder die Lehrfächer ausgewählt und bewertet werden müſſen. Entſprechend der Vor- 
rangſtellung des humaniſtiſchen Erziehungs- und Unterrichtszieles werden im Mittelpunkt des 
Lehrplans diejenigen Fächer ſtehen müſſen, die für die humaniſtiſche Bildung am meiften zu 
leiſten vermögen. Das ſind aber die ſogenannten ethiſchen Fächer, alſo Religion, Deutſch und 
Geſchichte. Es kann deshalb vom Standpunkt der neuidealiſtiſchen Pädagogik aus nicht gebilligt 
werden, daß bislang in den höheren Schulen die fremden Sprachen und die Mathematik die 
Zentralſtellung innehaben, die den ethiſchen Fächern zukommt. Dieſer Lehrplangeſtaltung iſt es 
zuzuſchreiben, daß die höheren Schulen bisher zu ſehr bloße Gelehrtenſchulen geweſen ſind, die 
vorwiegend im Oienſt einer bloß intellektuellen Kultur ſtehen, während fie Menfchenbildungs- 
anſtalten ſein ſollten, deren Hauptziel eine ethiſche Kultur iſt. Auf dieſe Einſeitigkeit des höheren 
Schulweſens hat ſeinerzeit ſchon Nietzſche in ſeinen Baſeler Vorträgen über die Zukunft unſerer 
Bildungsanſtalten überzeugend hingewieſen. Sie wird beſonders bedenklich gerade in unſerer 
gegenwärtigen Zeit, die leider ein ſittlicher Tiefſtand kennzeichnet, trotzdem fie große intellektuelle 
Leiſtungen aufweiſen kann, und für die deshalb in beſonderem Maße die folgenden Worte 


Sas Haus der Brentano zu Winkel im Nhelngau 41 


Schillers in ſeinen Briefen über äſthetiſche Erziehung gelten: „Das dringendere Bedürfnis 
unſeres Zeitalters ſcheint mir die Veredelung der Gefühle und die ſittliche Reinigung des Willens 
zu fein, denn für die Aufklärung des Verſtandes ijt ſchon ſehr viel getan worden.“ Aus dieſem 
Grunde lautet auch die erſte der Forderungen, die ich in dem jetzt als Brofhüre (Verlag Beyer 
& Söhne in Langenſalza) vorliegenden Vortrag über das Thema „Was fordern wir für die Neu- 
bildung der höheren Schulen?“ (1924 im Auftrage des Euckenbundes in Jena gehalten), auf- 
geſtellt habe: Wir fordern im Intereſſe einer ethiſchen Kultur als pädagogiſches Leit- 
motiv für die höheren Schulen ſtatt des ſeit Hegels Zeit in ihnen vorherrſchenden 
zntellektualis mus einen religiös ſittlichen Voluntarismus oder, um mit Eucken 
zu reden, einen ethiſchen Aktivismus und eine dieſer Forderung entſprechende 
Seſtaltung des Lehrplans und der Methodik der ethiſchen und fremdſprachlichen 
Lehrfäch er. 

Ran ſieht hieraus auch, daß es ſich bei der neuidealiſtiſchen Pädagogik der Gegenwart nicht 
etwa um eine für die Praxis der Jugendbildung belangloſe bloße pädagogiſche Theorie handelt, 
ſondern daß ſie gerade für dieſe Praxis durchgreifende und für die innere Erneuerung unfres 
volles äußerft wichtige Folgerungen ergibt. Prof. Dr. Gerhard Budde 


Das Haus der Brentano zu Winkel 
im Rheingau 


enn mit der Wende des 18. Jahrhunderts die Geſchichte der nationalen Erneuerung ein- 

ſetzt, fo hat die Romantik daran weſentlichen Anteil. Sie war der Sehnſucht eines Ge- 
ſchlechtes entſprungen, das unter der Troſtloſigkeit der politiſchen Verhältniſſe, unter der Obn- 
macht, Armut, Enge und Nüchternheit eines durch Fremdherrſchaft ausgebluteten und gefeſſelten 
Volkes litt und der die Welt entgdtternden Aufklärung oder dem Klaſſizismus, der mit Winkel- 
mann das abſolute Ideal von Kunſt und Leben in der Antike ſah, daher kein gläubiges Ohr 
mehr lieh. Obwohl fie ſcheinbar ein äſthetiſches Lebensideal an Stelle des ſittlichen der Klaſſiker 
kette, handelt es ſich doch nicht um eine Runftbewegung, ſondern um eine neue Weltanſchauung, 
die auf einer myſtiſchen Empfindung beruht. Denn unter der Urpoeſie, die darnach alles durch- 
dringen ſollte, verſtand man nichts anderes als die Zmmanenz des Göttlichen, in deſſen zentraler 
Harmonie und magiſchem Univerfalismus die Gegenſätze zwiſchen Glauben und Wiſſen, Bhan- 
taſie und Wirklichkeit, Kopf und Herz verſöhnt waren. Wiſſenſchaft, Naturſinn, Vaterlandsliebe 
erfuhren in einem fo verinnerlichten, überſinnlichen, aus einem religiöfen Zentrum gefpeiften 
Veltgefühl höchſte Belebung. So wurde auch die deutſche Dichtung von ihr auf heimatlichen 
Boden zurückgeführt. Doch wenn Friedrich Schlegel auch derjenige fein mag, der fie zuerſt auf 
len Rhein als das treue Bild unſeres Vaterlandes, unſerer Geſchichte und unſeres Charakters 
xtwies, fo hat die ſpezifiſche Rheinromantik doch im Rheingau ihren Ausgangs- und Mittel- 
punkt, und das Haus Brentano in Winkel iſt ihr Stammſitz. 

Vohl haben Klopſtock, Claudius, Hölty und Hölderlin ihre Rheinlieder gedichtet, aber der 
temantiſche Klang fehlt ihrer Harfe vollkommen. Anders verhält es ſich mit Goethe. Wenn feine 
Rheingauerinnerungen in „Dichtung und Wahrheit“ oder die Aufſätze von feinen Rheingau- 
teiſen in den Jahren 1814 und 1815 in ihrer wiſſenſchaftlichen Sachlichkeit das Gefühls- und 
Stimmungsmäßige auch vermiffen laſſen, fo bedeuten fie trotzdem einen Sieg der Rhein- 
tomantik. Denn fie bezeugen das unter ihrem Einfluß wiedererwachte Heimatgefühl des großen 
Kosmopoliten, das ihn auch zum deutſchen Mittelalter bekehrte. Sicherlich hatten ihn die 
Khwärmerifchen Naturſchilderungen Bettinas aus Winkel in das Brentanoſche Landhaus dort 


42 Das Haus der Brentano zu Winkel im Nheingau 


gezogen, von wo er den Niederwald, Rüdesheim, Cibingen, Notgottes, Schloß Vollrads, Yngel- 
heim und zum zweitenmal den Rodusberg beſuchte, Wanderfahrten, die ihm das „St. Rochus- 
feſt zu Bingen“, „Im Rheingau Herbſttage“ ſowie die „Kunſtſchätze am Rhein, Main und Neckar“ 
eintrugen. Die Fülle der geologiſchen, hiſtoriſchen, ſozialen, volkswirtſchaftlichen, landſchaftlichen, 
kunſt- und naturwiſſenſchaftlichen Beziehungen, mit denen er darin den Rheingau umfpannt, 
und die Tatſache, daß er als Fortſetzung der Aufſätze die Zeitſchrift „Aber Kunſt und Altertum“ 
begründete und bis zu feinem Tode redigierte, verraten deutlich, daß der Rheingau auch ihn in 
ſeinen Zauberkreis gezogen hatte. 

Wenn im Lande ſelbſt Pater Bär aus Kloſter Eberbach die Kultur des Rheingaus erforſchte, 
in der Gerichtsrepoſitur zu Eltville eine Handſchrift des Schwabenſpiegels ausgegraben wurde, 
der ehemalige Franziskaner Kin dlinger aus Neudorf und Bodmann die rheingauifche Altertums 

kunde förderten, die Familie von Oſtein das Jagdſchloß auf dem Niederwald mit phantaſtiſchen 
Zauberhöhlen und Ausſichtstempeln in hoch überm Rhein hängendem Parke ſchuf, ſo mp aud 
darin Auswirkungen der neuen Lebensridtung zu erkennen. 

Alle einheimiſchen Einzelleiſtungen treten jedoch zurück vor der ſeltſamen Erſcheinung, der 
ſchon Bodmer Ausdruck verliehen: 


Hier iſt poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel empfangen, 
Dichter in ſeinem Schoß zu erziehn. 


Denn tatſächlich wurde jetzt eine Landſchaft zur ſchöpferiſchen geiſtigen Macht und formte ſich 
eine Didtergeneration, in der fie ſich vermenſchlichte. Es iſt die balladeske Stromſtrecke, die 
die Schiffer das Gebirg nennen, im Gegenſatz zu den epiſch ſich ausbreitenden Ufern oberhalb 
der Binger Lochbänke. Hier fand Brentano das Element, in dem er nach dem Ideal der Ro- 
mantik Zauberer und Verzauberter zugleich fein konnte. Auf zwei Reifen, einer mit Arnim und 
einer mit Savigny, ſog er die belebende Atmofpäre ein: 


O, willkomm! willkomm! willkommen! 
Wer einmal in dir geſchwommen, 

Wer einmal aus dir getrunken, 

Der iſt Vaterlandes trunken. 


Mit blauer Halsbinde, roter Freiheitsmütze auf den ſchwarzen Locken und dünnem Rohrſtöckchen, 
zu Fuß und zu Schiff ging es ſtromabwärts mit dem Vertrauten — 


der Braune trug die Laute, 
das Lied der Blonde gab — 


und faft jede Ortlichkeit zwiſchen Winkel und Bacharach lieh feiner Dichtung Farben. Seine 
durch Rüdesheimer Schauplätze inſpirierten Rheinmärchen, entzückende Gebilde volksmäßiger, 
mit alten Sagenzügen frei ſchaltender Phantaſie, find ebenſo wie fein Roman „Godwi“ von 
ſolchen Romanzen durchrankt, und manches, was er hier aus dem Munde des Volkes erlauſcht, 
wurde bei der Überarbeitung des mit Arnim herausgegebenen „Des Knaben Wunderhorn“ in 
dieſe erfriſchende Volksliederſammlung eingeſchmolzen, die durch ihre überraſchende Urwüchfig- 
keit Epoche machte. Denn man fühlte darin den geborenen Schatzgräber der deutſchen Seele 
an der Arbeit, dem ſein Hang, ſich das Leben zur Poeſie zu machen, dabei trefflich zuſtatten 
kam. Wie er, auf der Rheinfahrt zufällig mit einem Theaterdirektor bekannt geworden, der ein 
neues Stück ſucht, das Notizbuch zieht und das Singſpiel „Die luſtigen Muſikanten“ für ihn ent- 
wirft, ſo fand er in jedem, der ſeinen Weg kreuzte, in Bürger und Bauer, Mann und Weib, 
Wandergefährten, griff zur Gitarre und lockte alte Mären und Weiſen, an denen der Mittel- 
rhein ſo ergiebig iſt, als reiſender Spielmann aus ihrer Verſchollenheit. 


Dos Haus ber Brentano zu Winkel im Rheingau 43 


Wie Brentano, fo durfte auch feine Schweſter Bettina vom Rheingau fagen: 


Wie Reben ſich ranken 
mit innigem Trieb, 
ſo, meine Gedanken, 
habt hier alles lieb. 


Sich weſensgleich, wie Zwillingsgeiſter, entdeckte Bettina den Rheingau epiſch, wie ihr Bruder 
ihn lyriſch entdeckt hatte. Freilich iſt ihre Proſa vollkommen in Lyrik aufgelöſt, wie es nicht 
anders fein kann bei einer Ddmonifden Elementarkraft, die ſelbſt bekennt: „Ich bin elektriſcher 
Natur; alles Elektriſche regt den Geiſt zu muſikaliſcher, fließender, ausſtrömender Erzeugung.“ 
Niemals hat eine Oichterſeele ſolche Zwieſprache mit einer Landſchaft gehalten, wie fie mit den 
theingauiſchen Nächten, wo fie allein durch die langen, bis zum Rhein führenden Traubengänge 
ihres Win keler Gartens geht, ſich über die Mauer lehnt, ins Geplätſcher der Wellen; ringsum 
„gtanzverhüllt liegen die Berge da mit ihren Rebſtöcken und ſaugen ſchlaftrunken das nahrhafte 
Mondlicht. Soll vielleicht der Menſch die Natur erlöſen?“ Sie fährt in laubbekränztem Nachen 
den Rhein hinab, um die hundertfältige Feier des Weinfeſtes an beiden Bergesufern mitanzu- 
ſehen, während auf allen Ruinen große Tannen aufge pflanzt find, um bei anbrechender Bůmme 
rung entzündet zu werden; fie folgt den Prozeſſionen, die den ſteilen Rüden des Johannis- 
berges hinauftlettern, um den Weinbergen Segen zu erflehen; ſie durchſtreift den nächtigen 
Bergwald mit dem Felſenneſt, das über dem ſchäumenden Bingerloch hinabſieht, wo die 
ſchlanken Dreiborde wie Eidechſen durch die reißende Flut am Mäuſeturm vorbeiſchießen; 
morgens, abends, in Nebel, Regen und Sonnenſchein erſteigt ſie den Rochusberg, der von der 
Ferne lockt, fo glatt und ſammetartig, daß man ihn gerne befühlen, ſtreicheln möchte; fie legt 
ſich auf eine der Felſen platten, die wie harte, kalte, heilige Betten aus der Wiſper ragen, und 
läßt ſich beregnen von den ſtürzenden Waſſern; fie begleitet den Leinpfad entlang das fackeln; 
tragende Nachtſchiff, deſſen Schatten in dem erleuchteten Rhein wie ein Ungeheuer mitſegelt 
und mit grellem Feuer über die Auen flammt; lieft, von der zuhörenden Bauernſchaft um- 
lagert, auf mondweißen Uferwieſen die Homeriſchen Geſänge — und verwebt dies alles in 
kriſtallenen Mitternddten zu jenen einzigen Nature vangelien, die voll find von der Muſik des 
Stroms und die Seele der Landſchaft atmen, als fühle die Natur ſich hier ſelig im Geiſte des 
Wenſchen. ö 

Sie richtete dieſe berauſchendſten Stimmungsbilder in deutſcher Sprache ſeit „Werther“, die 
fpäter in ihrem Buche „Goethes Briefwechſel mit einem Rinde“ erſchienen, nach Weimar. Denn 
ihre Liebe zu dem Goetheſchen Genie wie zu den Mächten dieſer Natur floſſen aus derſelben 
Quelle, und ihr Verkehr mit beiden bewegte ſich daher auf der „Geifterbafis des Abermenſch⸗ 
lichen“, die ſie in ihnen fand: „Als ich von meinem Bett aufſtand in die kühle Nachtluft am 
Fenfter, da war der Mond ſchon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte die Welten unter 
ſich getrieben .. Ich nahm das volle Laub des Weinſtocks, der an meinem Fenſter hinaufwächſt, 
in den Arm . .. Keinem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieſer Liebe gegönnt.“ 

So hat fie das Winkeler Landhaus, wo ihr „die Allmacht Gottes zu jedem Fenſter herein; 
ſchaute“, zur Hochburg der Romantik erhoben und mit der überſtrömenden Zärtlichkeit ihrer 
franziskaniſchen Naturbefreundung der Landſchaft des Rheingaus die gültige romantiſche Geſtalt 
gegeben, wie nur ein ſympathetiſcher Geiſt fie bleibend unſerer Vorſtellungswelt ein verleiben 
konnte. 

Blut von ihrem Blut pulſt in ihrer Freundin Karoline von Günderode, die ſich aus unglüd- 
licher Liebe zu dem Geſchichtsprofeſſor Creuzer in den Uferweiden von Winkel den Dolch in 
die Bruft ſtieß. 

„Erde, du meine Mutter, du, mein Vater, der Lufthauch, 
und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, o Strom“ 


44 Urwelt, Sage und Menſchheit 


beginnt die Grabſchrift, die ſie ſich ſelber wählte, und Novalisſche Vorſtellungen ſind es, denen 
wir auch bei Bettina begegnen, wenn ſie in ihrem „Mohamed“ ſagt: „Die Seele des Menſchen 
ſtirbt nicht mit dem Tode des Leibes; ſie ſteigt empor in den Raum der Geſtirne und bildet 
fi einen Körper aus Luft, der alle Sinne hat wie der vorige, nur in einem höheren Grade.“ 
Aber während Bettinas Drang, ſich über das ganze Erdenleben hinauszuheben, immer von dem 
Flügel fitliden Temperamentes und rheingauiſcher Fröhlichkeit getragen iſt, wendet ſich bei 
Karoline von Günderode, auf deren Oichtung noch Oſſianiſche Sturmwolken niederhängen, 
alles in Düfter und Schwermut, ein Gegenſatz, dem fie ſelbſt den ergreifenden Ausdruck ver- 


m: Phönix der Lieblichkeit, 
dich trägt dein Fittich weit 
hin zu der Sonne Strahl — 
Ach, was iſt dir zumal 
mein einſam Leid! 


Die Novelle „Melück Maria Blainville“, in der Arnim das Andenken ihres „muſenheiligen 
Lebens“ ehrte, ſowie das aus Erinnerungen und phantaſtiſchen Ausſchmuͤckungen gemiſchte Buch 
„Die Günderode“, in dem Bettina der Zugendfreundin das Denkmal ſetzte, haben dazu bei- 
getragen, daß auch die unglückliche Sängerin, derer „leerer Nachen im nächtigen Rheine treibt, 
zur Huldin jener Sagengaue“ geworden ift. 

So wurde der Same der Romantik, der an dem Winkeler Stromufer aufgegangen war, von 
dem Brentanoſchen Freundeskreiſe weiter ausgeſtreut, und bald hatten ſich um die von Arnim, 
Brentano und Görres herausgegebene „Zeitung für Einſiedler“ alle aufbauende Kräfte der 
zerrütteten Nation geſammelt: die Brüder Grimm, Creuzer, Eichendorff, Fouqué und Uhland. 
Die Pflege des deutſchen Geiſteserbes vereinte ſie alle und bereitete damit nicht nur den Boden 
für die vaterländiſche Bewegung vor, die der Druck des völkiſchen Schickſals allmählich unter 
ihnen auslöſte, ſondern verklammerte zugleich Grenzland und Mutterland aufs innigſte, als die 
Fremdherrſchaft ihren Zuſammenhang gefährdete. Mit Recht konnte daher der Freiherr vom 
Stein ſagen, daß in dieſem Kreiſe ein guter Teil des Feuers ſich entzündet habe, das ſpäter die 
Franzoſen verzehrte. Leo Sternberg 


Urwelt, Sage und Menſchheit 


as unter dieſem Titel bei R. Oldenbourg, München, erſchienene Werk Edgar Dacqués 

trägt den bemerkenswerten Untertitel: „Eine naturhiſtoriſch-metaphyſiſche Studie“. 
Ein ungewohnter Zuſammenklang zweier Begriffe, aus denen die Gegenwart in der Regel 
nur eine ſcharfe Diſſonanz herauszuhören pflegt! Vor 120 Jahren wäre man über eine ſolche 
Zuſammenſtellung weniger uͤberraſcht geweſen. Im Zeitalter der deutſchen Klaſſik und Roman- 
tik hatte ſich das Bedürfnis nach lebendiger Geſamtanſchauung in Goethes Naturbetrachtung und 
in der romantiſchen Naturphiloſophie ein Gegengewicht gegen die zerſtreuten Einzelreſultate 
der exakten Wiſſenſchaft zu erzeugen gewußt. Freilich, die Wirkung dieſer Ideen hielt nicht lange 
an. Das 19. Jahrhundert verwarf nicht nur Löſungen und Betrachtungsweiſen jener Denker 
vollkommen, es arbeitete darüber hinaus nach Kräften daran, eine möglichſt tiefe Nluft zwiſchen 
Philoſophie und Naturwiſſenſchaft aufzureißen. 

Wir ſtehen heute nicht mehr auf dem gleichen Punkte. Das 20. Jahrhundert erkennt den 
Sieg der mechaniſtiſchen Anſchauung mehr und mehr als Pyrrhusſieg, es hat den traurigen 
Surrogatcharakter materialiſtiſcher „Naturphiloſophie“ längſt durchſchaut; ja, es hat wieder 
Verſtändnis für Forſchungsziele ähnlich denen, wie ſie einſt Goethe, Schelling und Novalis 


Urwelt, Sage und Menſchhe it 45 


vorgeſchwebt hatten, d. h.: im Gegenſatz zu der einfeitigen Zurüdführung alles Qualitativen 
auf Quantitatives die Idee einer Auffaſſung von Natur, die die innere Bedeutſamkeit ihrer 
Erſcheinungen ergreift, die einen einheitlichen Sinn in der Mannigfaltigkeit des Naturge- 
ſchehens aufſucht. Freilich: es beſteht ein Unterfchied zwiſchen dem „inneren Geiſt“ der Zeit 
und ihrer ſichtbaren Außenform. In der Praxis des heutigen wiſſenſchaftlichen Lebens regiert 
noch beinahe unbeſtritten der mechaniſtiſche Gedanke. Deshalb bedeutet eine Veröffentlichung 
wie bie von Oacqué ein kühn entſchloſſenes Heraustreten aus der äußerlich feſtgefuͤgten natur- 
wiſſenſchaftlichen Geſamttradition. 

Man darf nicht überſehen, daß es, im Unterſchied zu ehedem, ein Naturforſcher iſt, der 
den neuen Schritt wagt. Darin liegt ein Moment von mehr als nur hiſtoriſcher Bedeutung. 
Sunddft erſcheinen die Vorbedingungen gerade für den Naturforſcher günſtiger zu fein: feine 
Beſtrebungen werden wohl nie den feſten Untergrund des ſtrengen wiſſenſchaftlichen Methoden- 
bewußtſeins, der kritiſch- nüchternen Tatſachenforſchung ganz verleugnen können. Gerade in 
dieſer Richtung war ja von der romantiſchen Naturphiloſophie am meiſten gefehlt worden; ihre 
Gegner hatten gegen dieſen Punkt ihre Angriffe konzentrieren können. Anderſeits: ſo, wie die 
Dinge heute ſtehen, kann ein derartiger Verſuch den Charakter eines Übergriffes, einer Grenz- 
überfchreitung, kaum vermeiden. Es iſt bei der materiellen Ausdehnung der heutigen Einzel- 
wiſſenſchaften fo gut wie unmoglich, daß ſich mit der vollen Beherrſchung des Fachgebiets die 
zu einem ſolchen Unternehmen geforderte philoſophiſche Schulung verbinden läßt. Und in der 
Tat — um dies vorwegzunehmen — der philoſophiſche Leſer wird oft genug Anſtoß nehmen 
können an dem Mangel einer ſoliden logiſch-erkenntnistheoretiſchen Fundamentierung, er wird 
öfters zurüdichreden vor dem naiv-unbekümmerten Hantieren mit der philoſophiſchen Ter- 
minologie. Es läßt ſich nicht leugnen, daß infolge dieſer Umftände Dacqués Werk gewiſſermaßen 
zwiſchen zwei Stühle gerät: die Naturwiſſenſchaft wird ihm gram fein wegen der immer noch 
serpönten philoſophiſchen Grundeinſtellung, der Philoſoph wird ſich an den unvermeidlichen 
formalen Mängeln ftoßen. Jedoch: der Geiſt der Werkes iſt es, auf den alles ankommt. Fit 
ber Geiſt zu bejahen, fo muß man auch einige Löcher im Kleid verzeihen können. Vielleicht ift 
mehr Freude im Himmel über einen Naturforſcher, der — wenn auch mit nicht ganz adäquaten 
Mitteln — eine Vereinigung mit übergreifender philoſophiſcher Geſamtanſchauung zu verwirt- 
lichen ſtrebt, als über taufend gerechte Nur⸗Einzelwiſſenſchaftler. — 

Das Hauptthema des Werks: die Ermittlung des erdgeſchichtlichen Alters des Menſchen, 
die Einſicht in die älteſte Entwicklung und die früheſten Zuſtände des Menſchenſtamms, wird 
von Dacqué weſentlich unter der Form eines hiſtoriſchen Problems erfaßt. Die Voraus- 
ſetzung dafür iſt eine ungeheure Erweiterung des geſchichtlichen Sehens. Denn hier handelt 
es ſich nicht darum, in Jahrhunderten oder in Jahrtauſenden zu denken, ſondern in beinahe 
unfaßbar großen planetariſchen Zeiträumen. Da dieſe gewaltigen Perioden zunächſt nur durch 
Naturbeftimmungen zu unterſcheiden find, entſteht aber von vorherein die Gefahr einer im 
Prinzip naturaliſtiſchen Betrachtungsweiſe; das zeigt ſich vor allem in der Verwiſchung der 
Scheidelinie, des „qualitativen Sprungs“, zwiſchen Prähiſtorie und hiſtoriſcher Kulturmenſchheit 
6. . „So iſt es in der organiſchen Welt, und hierin iſt kein Unterfchied zwiſchen den Gattungen 
der Lebeweſen und den Lebensbildungen der Rulturen“). Jedenfalls wird gerade durch Dacqués 
Unterſuchungen die Bedeutung jenes Problems ins Licht gerückt, das gleichſam den Gelenk- 
punkt zwiſchen Naturhiſtorie und Kulturhiſtorie darſtellt: die Frage nach dem „Anfang“ der 
Seſchichte im engeren Sinn, die einſt von Hegel mit ſolchem Ernſt behandelt worden iſt. 

Die materielle Hauptſchwierigkeit für die Durchführung liegt nun in dem Mangel an ge- 
ſchichtlichen „Quellen“ im eigentlichen Sinn. Nur durch ſcharfſinnige methodiſche Divination 
kann das Fehlende erſetzt werden, wenn nicht hemmungsloſer Hypotheſenbildung das Feld 
überlaffen bleiben ſoll. Mehr noch: die beiten ſpezialwiſſenſchaftlichen Renniniffe allein können 
nicht zum Ziele führen; die Art der Aufgabe erfordert es, „die äußere Empirik der Wiſſenſchaft 


46 Urwelt, Gage und Menſchheit 


mit der Innenſchau des Sehers zu vereinigen zu einem vertieften ſymboliſchen Weltbild“. 
In welcher Weiſe dieſes Ziel zu erreichen fei, darüber ſpricht ſich Dacqus in dem einführenden 
Kapitel „Theorie und Wiſſenſchaft“ aus. Der uralte Gegenſatz zwiſchen Denken und Schauen, 
zwiſchen Wiſſen und Glauben, bildet das Grundmotiv dieſer Ausführungen, die als Stim- 
mungsſymptom höchſt bemerkenswert find. Eine gewiſſe Hinneigung zur Begriffsfeindſchaft, 
eine überbetonte Stellungnahme zugunſten der alogiſchen, nur gefühlsmäßigen Unmittel- 
barkeit iſt nicht zu verkennen; die erkenntnistheoretiſche Sackgaſſe der „Lebensphiloſophie“ 
wird nicht ganz vermieden. Allein viel bedeutſamer im Vergleich dazu iſt die Tatſache, daß das 
im Bereich der Naturwiſſenſchaft von heute ungewöhnliche Bekenntnis deutlich und kraftvoll 
ausgeſprochen wird: Wahrheit liegt nur im Ganzen, wahre Wiſſenſchaft iſt Gott- 
ſuchen; „wir alle ſuchen im Grunde Religion, inſofern wir Wahrheit meinen und 
inbrünſtig wollen“. 

Das Buch gliedert ſich in zwei Abſchnitte: „Naturhiſtorie“ und „Metaphpſik“. Das 
objektive Schwergewicht ruht auf dem erſten Teil; als Ausdruck perſönlicher Überzeugung ift 
der metaphyſiſche Teil wichtiger. Der „naturhiſtoriſche“ Teil behandelt zunächſt die Deſzendenz⸗ 
theorie in eingehender Kritik. Es iſt höchſt verdienſtvoll, daß ein Naturforſcher ſelbſt einmal 
dieſes immer noch herumſpukende Geſpenſt energiſch von der Schwelle weiſt (nachdem die logifh- 
erkenntnistheoretiſche Fragwürdigkeit der Oeſzendenztheorie von anderer Seite aus ſchon 
herausgearbeitet worden iſt); um ſo mehr, als er ſich nicht auf bloße Negation beſchränkt, ſondern 
eine plaufible pofitive Anſchauung an ihre Stelle ſetzt. Dacqus zeigt, wie unbiologiſch im Grunde 
jener Erklärungsverſuch der lebenden Form iſt, der durch zufällige Häufung kleinſter Varianten 
die Mannigfaltigkeit der Arten entſtanden denkt. Die begriffliche Unſicherheit und faktiſche 
Erfolgloſigkeit der Stammbaumkonſtruktionen wird aufgedeckt; es zeigt ſich, daß ihr letzter 
Ausgangspunkt keineswegs eine mit innerem Verſtändnis für das Lebendig-Organifde er- 
ſchaute Urform, ſondern ein abſtrakt konſtruierter, formaler Schemen iſt. Dacqus ſtellt dem 
von einem verzerrten Entwicklungsbegriff beherrſchten linearen Schema der Abſtammungs- 
lehre feine Typentheorie entgegen. Ihre Baſis iſt die Annahme eines gleichzeitigen, freien 
Nebeneinanderbeſtehens von Grundformen, innerhalb deren allein von Evolution die Rede 
fein kann. Zu dieſen, die bleibenden Merkmale der gegebenen Geſchlechterfülle bezeichnen 
den Grundtypen tritt aber ein weiterer Aſpekt (durch den zugleich ein eigentlich „hiſtoriſches“ 
Moment ſich Eingang verſchafft): ähnlich wie im geſchichtlichen Leben ein „Zeitgeiſt“, ſo muß 
auch im prähiſtoriſchen Bereich ein die verſchiedenen Perioden charakteriſierender biologiſcher 
„Zeithabitus“ angeſetzt werden, der alle Organismen durchdringt und zu einer gewiſſen Ein- 
heitlichkeit verbindet, z. B. der Amphibien-, Reptil- oder Affencharakter. Die bleibenden Grund- 
typen und die von Periode zu Periode ſich wandelnde Zeitſignatur überſchneiden ſich; durch 
ein Gegeneinanderabwägen beider läßt ſich die Fülle der organiſchen Formen, ihr Rommen 
und Vergehen, erklären und entwirren. 

Der Typentheorie kommt eine außerordentliche methodiſche Bedeutung zu. Sie ermöglicht 
eine neue, geſichertere Altersbeſtimmung des Menſchengeſchlechts und zugleich eine entſchei- 
dende Widerlegung der Hypotheſe der Affenabſtammung des Menſchen. Dacquss letzte Abſicht 
ijt die Verſöͤhnung zwiſchen der „uralten, das Bild des Menſchen rettenden Schöpfungsidee und 
der . .. neuzeitlichen Abſtammungslehre“. Den Abſchluß bildet der Gedanke: „So iſt doch der 
Menſch ... die Krone der lebenden Natur; aber nicht im Gedankengang der älteren Abftammungs 
lehre als ein letzter Zweig, auch nicht im Sinn einer mißverſtandenen religidfen Auffaſſung 
als eigenes, der Tierwelt fremd gegenuͤberſtehendes Schöpfungswert: ſondern als beides zu- 
gleich, indem ſeine jetzige vollendete Geſtalt im Lauf eines langen Leidensweges ſich immer 
reiner als Ausdruck der lebendig in ihm liegenden Entelechie heraushob ... wobei 
ſein urſprünglicher, das Tieriſche mitumfaſſender Stamm alles das aus ſich entließ, was ſich im 
Lauf der erdgeſchichtlichen Zeit an Geſtalten neben ihm entfaltet hat“. 


Urwelt, Gage und Menſchheit 47 


Dieſe naturgeſchichtliche Theorie aber ftellt nur die Vorbereitung dar für das oben bezeichnete 
Hauptziel der Arbeit: Aufbau eines „hiſtoriſchen“ Gefamtbilds der Urmenſchheit. Den Weg zu 
dieſem Ziel bahnt ſich Dacqué mit Hilfe eines neuen methodiſchen Gedankens, der ſich als ſehr 
fruchtbar erweiſt. Er verſucht die rein natut- und entwicklungsgeſchichtliche Forſchung mit einer 
deutung des reichen, aber chaotiſchen Guts, das in den älteſten Sagen und Mythen über⸗ 
liefert ift, zu vereinigen. Von der Kombination beider Betrachtungsweiſen erhofft er eine im 
Vergleich zu unſerer bisherigen Kenntnis viel umfaſſendere Oechiffrierung gleichſam des lüden- 
haften Hieroglyphenbildes der Ur vergangenheit. Die Grund vorausſetzung zu ſolcher Vereinigung 
it aber die, daß den Sagen und Mythen wenigſtens in gewiſſem Maß dokumentariſcher Wert 
zugeſprochen werden darf. Dacqus nimmt Stellung gegen die rein philologiſche, in pſycholo⸗ 
gifierendDen und allegorifierenden Möglichkeiten ſich erſchöpfende Sagenauslegung und ſucht 
in wertvollen und vielfach überzeugenden Aus führungen bie Antitheſe zu begründen: im alten 
Ecgengut liegt unbewußt überlieferte natur- und menſchheitsgeſchichtliche Wirklichkeit. Die 
Schwierigkeit bei der Herausarbeitung des wirklichkeitshaltigen Kerns liegt in der richtigen 
Ertenntnis und Ausſcheidung der Überſchichtungen und Entſtellungen, die durch die (uns im 
allgemeinen allein zugänglichen) Spätfaſſungen des Sagenmaterials hervorgerufen find. Aber 
das Korrektiv liegt eben in der Heranbringung naturgeſchichtlicher Tatſachen und Möglichkeiten. 
Vie weit die Freilegung des Urſprungsgehalts der verſchiedenen Sagenmotive als gelungen zu 
betrachten ift, könnte nur durch eingehende kritiſche Unterſuchung der Einzelfälle entſchieden 
werden. Die Fruchtbarkeit, der heuriſtiſche Wert der Methode als ſolcher wird kaum bezweifelt 
werben können. 

Es heben ſich ſchließlich aus dämmerndem Halbdunkel die (freilich vielfach hypothetiſchen) 
Umriffe eines vorgeſchichtlichen Menſchheitslebens heraus: bisher unverſtandene, aber hart- 
nddig wiederkehrende Motive erhalten Sinn; undurchdringlich erſcheinende Zeiträume gliedern 
ſich in abgrenzbare Epochen; völlig verblaßte und nur noch ahnend ertaſtete vorgeſchichtliche Er- 
eigniſſe (Untergang der Atlantis, die Sintflut) gewinnen wieder Farbe und Bedeutung. In 
Verbindung damit baut fich, greifbar bis zu einem gewiſſen Grad, die Geſtalt des vorgefchicht- 
lichen Renſchen auf, der ſich im Zuſammenhang mit feiner geographiſchen und tieriſchen Am- 
welt entfaltet und eer im Laufe der großen Perioden gewiſſe Wandlungen durchzumachen hat. 
(Leider geraten in einem Abſchnitt „Kulturſeele und Urwelt“ die Fäden durch den fachlich kaum 
begrindbaren Verſuch einer Amalgamierung mit den Anſchauungen von Spengler und Fro- 
benius etwas in Verwirrung.) Nicht nur die körperliche Beſtimmtheit des Urmenſchen, auch 
feine ſeeliſche Beſchaffenheit ſucht Oacqus zu rekonſtruieren. Er kommt dabei zu Entwürfen, 
die von hohem Intereſſe find und die möglicherweiſe Anwendung finden könnten zur Auf- 
hellung gewiſſer Fragen, die ſich in der Gegenwart immer ſtärker hervordrängen: des ganzen 
komplexes der magiſchen Erſcheinungen. Dacqué glaubt als Hauptkennzeichen des vorge- 
ſchichtlichen Menſchen ſeine „Naturverbundenheit“ und damit im Zuſammenhang das Vermögen 
der „Naturſichtigkeit“ (als Inbegriff der magiſch-dämoniſchen Anlagen) feſtſtellen zu können. 
der Vert dieſer und ähnlicher Anregungen iſt unbeſtreitbar, auch wenn es ſich oft nur um kurze 
und nicht bis in die letzten Ronſequenzen verfolgte Ausblicke handelt. 

Zweifellos hat Dacqués Methodik ihre Gefahren. So wohltuend in unſerer Zeit des intellet- 
tuellen Hochmuts jenes Moment der Ehrfurcht vor der Menſchheit uraltem Wiſſen empfunden 
wird, fo leicht kann dieſe Tendenz zu einer Schwächung der Kritik und zu einer Überfpannung 
der konſtruktiven Phantaſie verleiten. Wiſſenſchaftlicher Verſtand und anſchauende Phantaſie, 
begriffliche Durchdringung und frei ſchaffende Einbildungskraft wohnen auf dieſem Felde 
näher beieinander als in anderen Wiſſensgebieten. Aber daß es doch weſentlich der Gegenſtand 
ſelbſt iſt, der hier den ſtark hypothetiſchen Charakter aller Erkenntniſſe bedingt, das lehrt ein 
Vergleich von Dacqués Ergebniſſen etwa mit der Phantaſtik mancher darwiniſtiſcher Ron- 
ſtruktionen, oder auch mit den Erklärungsverſuchen formal allegoriſierender Mythologien. 


48 Dom ungegebenen Sotte 


Eine völlig neue Ebene bezeichnen die Ausführungen des 2. Hauptteils („Metaphyſik“, 
die beſonders wichtig find für das volle Verſtändnis des Werks, und zwar von der menſchlich⸗ 
perſönlichen Seite her. Dem populären Intereſſe kommen die hier niedergelegten Gedanken 
wenig entgegen („Denn wir gehen in die Tiefe, zurden Müttern“ — wie der Autor ſagt). In 
ſachlicher Hinſicht fällt jetzt die Beſchränkung auf den naturhiſtoriſchen Geſichtskreis hinweg; 
vielmehr dringt das für die Geſamteinſtellung entſcheidende Motiv des Philoſophiſch-Religiöſen 
völlig zur Oberfläche durch. Es ergibt ſich, daß hinter dem auf die äußeren Naturbezie hungen 
gerichteten Forſcher der religiöſe Dichter ſteht, der ſich über die endliche Betrachtung der Er- 
ſcheinungen zu erheben und ihre Beziehung zum Ewigen zu ergreifen trachtet. In dieſem neuen 
Zuſammenhang handelt es ſich nicht mehr um Klauſalerklärung, ſondern um das Gewinnen 
einer vertieften, unter dem Geſichtspunkt des Sym boliſchen ſtehenden Anſchauung, d. h. um 
ein konkretes Zneinsfehen von Außerem und Innerem, von ſichtbarer Wirklichkeit und geiſtigem 
Sinn — beherrſcht von dem hohen Ziel eines verſtehenden Umfaffens des Natur- und Menſch⸗ 
heitsganzen. ö 

Lebendiges Gefühl der Totalität iſt der Nährboden dieſer Vorſtellungen. Aber das Gefühl 
ringt ſich nicht immer zum klaren Gedanken der Totalität durch. Ein in ſich hineinhorchendes, 
der Fülle ſeiner oft ans Viſionäre ſtreifenden Geſichte nachgehendes Meditieren iſt am Werk, 
nicht ein objektiv-ſyſtematiſch gerichtetes Denken. Auf eine eingehende Erörterung muß leider ver- 
zichtet werden; es ſei nur kurz der Umkreis der berührten Fragen bezeichnet: die Bedeutung 
des Metaphyſiſchen in Natur und Mythus, Probleme der Rosmogonie (mit einer eigenartigen 
Emanationstheorie der Menſch- und Tierſchöpfung), die Polarität von Naturdämonie und 
Göttlich- Apolliſchem im Menſchenweſen, das Problem von Tod und Erlöſung. Ihrem Charakter 

entſprechend gehören dieſe Ausführungen, in denen die gedankliche Klärung des erlebten Ge- 
fühlsgehalts noch nicht überall bis ans Ziel gelangt iſt, nicht vor das Forum philoſophiſcher 
Kritik im wiſſenſchaftlichen Sinn. An vielen Stellen aber finden fic tiefe und wahrhaft ſpekula⸗ 
tive Formulierungen; und dort fühlt der Leſer, daß er ſich in unmittelbarer Nähe deſſen be- 
findet, was die großen einſamen Geiſter von der chriſtlichen Myſtik bis zu Hegel erfüllt und be- 
wegt hat. Dr. Friedrich Seifert 


Vom ungegebenen Gotte 


icht an alle Menſchen treten die Rätſel des Kosmos und des Lebens als ein gedankliches 
N Problem heran. Aber wohl jeder hat die Problematik des individuellen Dajeins erlebt, 
der aus inneren und äußeren Wirrniſſen nach Erlöſung in wahrem Glide ſuchte. Das Bewußt- 
fein der Endlichkeit und Begrenzung irdiſchen Glückes führte eine letzten Endes doch weltver- 
neinende Religion und Philoſophie zur Forderung eines „jenſeitigen“ Lebens. In ihm ſolle 
die Seele, von aller Laſt des Sinnlichen befreit, als reiner Geiſt ein unendliches Glück genießen. 
Die Unzulänglichkeit der irdiſchen Güter ſei dort in einem höchſten Gute, in Gott, aufgehoben. 
Faßte man Gott hier einerſeits als höchſten Wert, der dem Sehnen der gehetzten und innerlich 
zerriſſenen Kreatur als letztes Ziel und alleiniger Spender vollkommenen Glückes erſchien, ſo 
wurde er andererſeits zugleich auch als Urgrund des Daſeins, als Schöpfer der Welt gedacht. 
Wertgrößtes und Seinsgrößtes oder, wie man es auch ausgedrückt hat, „axiologiſcher“ Gott 
und „kosmologiſcher“ Gott verſchwammen in eins. 

Hier ſetzt die Frage nach dem Weſen Gottes ein, die Hermann Schwarz in feiner „Philo- 
ſophie des Ungegebenen“ (9. Schwarz, Das Ungegebene. Eine Wert- und Religions- 
philoſophie. Tübingen 1921), ausgehend von Gedanken der mittelalterlichen Myfti und des 
deutſchen Idealismus, einer tiefgegründeten Löſung entgegengeführt hat. 


Dom ungegebenen Gotte | 49 


Mit feinem Erkennen reicht der Menſch nicht an tranſzendente Bezirke heran, fie find ihm 
ewig verſchloſſen. Lediglich des äußerlich Geg ebenen, der Welt der Erſcheinungen und des 
innerlich Gedachten, Gewollten und Erlebten wird er gewiß. Ein ſolches innerlich Gedachtes 
iſt auch Gott als Schöpfer oder als Herr der Welt oder als Seinsgrößtes. Es iſt ein Bild, eine 
Idee, eine Vorſtellung im menſchlichen Bewußtſein. Aber dieſe Betrachtungsweiſe hält das 
Bild für eine „jenfeitige Größe“, nimmt Gott als „überſinnlichen Gegenſtand“. Es kommt 
hinzu, daß der Menſch dieſem jenſeitigen Größten auch Wertunendlichkeit beimißt. So ge- 
nommen ſoll die Gottesvorſtellung nicht nur dem rein gedanklichen Streben nach Vereinheit- 
lichung des Weltbildes dienen, ſondern dieſes Gottesbild iſt geboren aus der Wertnot der Seele 
und ſoll ihre Wertleerheit füllen. Indes die Vorſtellung eines höchſten Gutes da draußen im 
Weltraum gibt dem Hunger der Seele nach echten Werten kein Brot des Lebens. Gott bleibt 
bier immer nur ein Bild. Nur ein wirklicher Wert könnte uns ſatt machen, und der bleibt, wie; 
viel man das Gedankenbild Gottes ausfchmüde, dem Herzen ungeg eben. Seligkeit und Frieden 
könnte die Seele erſt gewinnen, wenn ſich die bloß vorgeſtellte Wertunendlichkeit in ihr zu einer 
realen Macht verlebendigte, wenn Göttlichkeit als nicht überbietbarer Lebensgehalt fie in der 
Seele entſiegelte. Worin aber offenbart ſich uns das Weſen ſolchen unendlichen Lebensgehaltes? 

Auf der Suche nach Werten haftet der Blick zunächſt am Gegebenen. Die Gegenſtände unſeres 
Sefallens ſtellen ſich uns in einem eigentümlichen Glanze dar, der von ihrer Werthaftigkeit 
auszuftrömen ſcheint: fie ſtehen für uns im Wertſchein. Wertgehalt, fo meint man, fei ſchon 
in den Dingen gegeben und man brauche nur in dieſen auswärtigen Reichtum, in die Welt 
der Natur und Kultur hineinzulangen, um daran ſatt und ſelig zu werden. 

Indeſſen, Werthaftigkeit ijt keine wirkliche Eigenſchaft des Seins, die auf uns uͤberſtrömen 
konnte. Alles Seiende an ſich, losgelöſt von jedem ſchaͤtzenden Bewußtſein, iſt feinem innerſten 
Weſen nach nicht werterfüllt gegeben, es iſt vielmehr Sein ſchlechthin und nichts weiter. Die 
Welt des Gegebenen, der Vielheit, hat ſich aus einer urſprünglichen gottheitlichen Einheit ent- 
faltet, die indes bar iſt jeder Wertgöttlichkeit. Auch die entfaltete Welt iſt wertfrei geblieben. 
Die Gegenſtände dieſer Gegebenheitswelt, z. B. unſere Mitmenſchen, unſer Volkstum, Kunſt⸗ 
ſchönes uſw. treten uns lediglich als Wert er ſcheinungen gegenüber, unſer Gefallen an ihnen 
verwandelt fie nicht in objektive Werte. Aber wir verwandeln uns in Wert, wenn wir in eine 
unſelbſtiſche und bejahende Beziehung zu den Werterſcheinungen treten, d. h. wenn wir es ner- 
mögen, fie nicht in ſelbſtiſcher Weiſe als Mittel zur eigenen Luſterhöhung, ſondern als Auf- 
gaben zu ergreifen, die von uns Opferung und liebende Hingabe verlangen. 

Noch genauer: ein Wertſtrom erſchafft ſich in unſerer Seele. In dem Augenblicke, wo ich 
einer Werterſcheinung mein Herz und meinen Willen ſchenke, hat ſich ſchon eine Wertwirklich⸗ 
keit in mir entſiegelt, die ſich mir ſchenkt. Sie allein vermag das Ich mit Gehalt zu erfüllen 
und erfüllt es mit bleibendem Gehalt, wenn dieſes fein Leben einheitlich auf Dienen und Opfern, 
Schaffen und Helfen ſtellt. Diefe uns durchlebende Wertwirklichkeit erſchiene als Göttlichkeit, 
wenn fie als die Selbſtexiſtenz eines höchſten, nicht überbietbaren Werts ſich darboͤte. In ſolchem 
Wertwunder hätte ſich eine Gottesgeburt in der Seele vollzogen. 

Der Menſch, der die Werte als ſeiende Größen draußen denkt und ſich ihnen in ſelbſtiſchem 
Wollen naht, der gewinnt nur Luſt. Aber Luſt ſchenkt dem Ich keinen bleibenden Lebensgehalt, 
ſondern nur die Annehmlichkeit von Augenblicken. Hier wird das Ich immer armer durch neu 
geſchaffenes Bedürfnis. Im Genuß vergänglicher Lüfte verflüchtigt ſich jeder Anſatz zu echtem 
Wertleben. 

Auch der Perfonwertgläubige, der Narr eines Selbſtkultus, der Wert als etwas Gegebenes 
in fic zu tragen glaubt, fei es als ſtets hervortreibbaren Vollwert, fei es als entwiklungs fähigen 
Keim, gelangt nicht zu echtem Wertleben, weil das Ich nicht werthaltig, ſondern wertbedürftig 
gegeben iſt. An ſich iſt das Individuum ohne Wertgehalt, erſt die Bewegung über das eigene 
Selbſt hinaus treibt den ungegebenen Wert ans Licht. 

Ser Türmer XXVIII, } 4 


50 Vom ungegebenen Gotte 


Das Weſen der unſelbſtiſchen Einſtellung beruht darin, daß wir uns der Gegenſtände unſerer 
Hingaben nicht zu Eigennutz bemddtigen, ſondern daß wir uns ihnen mit allen Kräften ſchenken, 
damit ſie leben. Der metaphyſiſche Sinn dieſes Tuns, das wir auch Li ebe nennen im weiteſten 
Sinne, liegt in ſeiner Einigungskraft, dem Fundament alles Wertlebens. In der Liebe will 
Gott als Wert Wirklichkeit gewinnen. Das ſelbſtiſche Streben erwirkt immer nur Bereinzelung, 
Beſonderung und damit Feindſchaft: fie ift das Grundprinzip alles Böfen. Liebe aber eint 
auch das Gegenſäãtzliche, fie ſucht den Widerſtreit und die Seins-Dielheit der Dingwelt auf- 
zuheben in einer höheren Wert -Einheit und iſt deshalb das Grundprinzip alles Guten. Liebe 
gebiert, nein, ſie iſt das Wertleben der Seele und erfüllt dieſe mit bleibendem Lebensgehalt, 
wenn der Menſch unabhängig von den Wünfchen des Augenblicks immer die Liebe als Grund- 
haltung feines Wollens wählt. Ein ſolches Leben, das Einheit in ſich und zugleich einend in 
ſeiner Beziehung zur Umwelt iſt, erhebt das Individuum zur Bedeutung der Perſönlichkeit. 
Die Tiefe des Wertlebens, in dem Gott als Liebe ſich entſiegeln will, hängt von der Kraft 
und Fülle der Hingabe ab. Da iſt es nicht gleichgültig, welchen Gegenſtänden wir unſere Hin- 
gabe ſchenken. Nehmen wir Einzelmenſchen als Aufgaben unſeres ſelbſtloſen Handelns, fo be- 
tätigen wir die altruiſtiſche Form der Hingabe. Söͤttlichkeitsleben regt ſich ſchon hier in der 
Seele, aber in un vollkommener Weiſe. Daneben können auch ideelle Gegenſtändlichkeiten, wie 
Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit liebend ergriffen werden. Eine Erhöhung feines Wertlebens 
erfährt das Ich durch fie nur dann, wenn nicht der Ichwille, ſondern der Werkwille es treibt. 

Mit reicherer Selbſtſetzungskraft bricht die Gottesmacht im Menſchen hervor, wenn die Vat er 
landsliebe fein Wollen ergreift und bewegt. In den überperſönlichen Hingaben, die aus dem 
tat- und opferbereiten Vaterlandsgefühl herausquellen, wurzelt die Gemeinſchaft. In ihr iſt 
die ſich widerſtreitende Vielheit der Einzelwillen durch den Einheitsgeiſt des Gemeinſchafts⸗ 
willens aufgehoben. 

Nicht auf dem Gedankenwege über eine Idee oder über einen jenſeitigen Gott kommen wir 
zu ſolcher Willensgemeinſchaft. Sondern als etwas Urſprüngliches ergreift uns die Liebe zu 
den Stammesbruͤdern. Sie iſt Gottesdrang des ungegebenen Göttlichen in uns, das nach Daſein 
verlangt. Wer im Gemeinſchaftsgeiſte lebt, in dem hat ſich das Söttliche in einer höheren 
Lebensform verwirklicht, als jegliche Einzelhingabe fie zu ſchenken vermöchte. Noch aber ift 
nicht die höchſte Form in uns ſich ſetzenden Gotteswertes gegeben. 

Erſt dort, wo in einer hingebenden Seele die Liebe ſo ſtark und weit geworden iſt, daß ſie 
mit Allkraft alles umſpannt, kommt es zum vollen Durchbruch des Gotteslebens. Solche Liebe 
ijt das größte Werterleben der Seele und bedeutet deshalb eine Überhöhung aller Hingabe 
und Gemeinſchaftserlebniſſe, nicht etwa eine bloße Addition. Sie iſt ihrem Weſen nach Erlöfung, 
weil alle Wertnot des Ich in der Seligkeit der ſich vollendenden Setzung Gottes verſinkt. Die 
Seele iſt zur Allmöͤglichkeit geworden; alle Träger und Ziele von Hingaben find der Möglichkeit 
nach in fie hineingehoben, und kein Unterſchied im Rang der Objekte beſtimmt mehr die Willens! 
binwenbung ihrer Güte. In der Liebe, die alles fein kann, verſteht ſich der in uns entfiegelte 
Gott mit den Gottesquellen in jedem beliebigen Menſchen. Dies verwirklichte Gottmenſchentum 
der Liebe iſt jedem aus ſich ſelbſt ſchenkende Hilfe zur Verwirklichung feiner Gotteskinbſchaft. 

Dr. Dr. Paul Wolfgang Junker 


— — 


jene Halle 


Sie dier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustaufe deen e Einſendungen 
find unabhängig vom Standpunkte bes Herausgebers 


Die Chriſtengemeinſchaft 


Vorbemertung. Die folgenden Ausführungen betrachte man als einen Nachhall zu unſren Erörterungen 
über Kirche und Religion’, die ſich durch die letzten Hefte gezogen haben. D. T. 

m Sommer 1922 begann eine kleine Schar von Mitarbeitern in aller Stille ein religiöfes 

Wirken, auf dem eine große Hoffnung ruht. Selten wohl haben ſich ſo verſchiedenartige 
Renfhen in einem großen Willen zuſammengefunden: Theologen und Naturwiſſenſchaftler, 
Rinftler und Arbeiter, Philoſophen und Landwirte. In der Überzahl waren es junge Menſchen, 
diele unter ihnen durch das Sehnen und Streben der Jugendbewegung gegangen, lauter Men- 
iden, in denen es drängte nach einem kraftvollen innerlichen Wirken in dieſer Zeit, zu dem fie 
bie Moglichkeit innerhalb der beſtehenden Kirchen nicht gefunden hatten. Auch einige Frauen 
fanden ſich mit gleichen Hoffnungen und Wünſchen unter ihnen ein. Myſtiſche Sentimentalität 
wer nicht in bieſem Kreis, aber die Selbftverftändlichkeit einer großen klaren Berufung, die das 
gaye Leben in eine höhere Sphäre hebt. Kein reicher Gönner ſtand hinter der Sache, keine 
ſichernde Summe, nur eine Gewißheit, die einen feſten Willen gebiert. In einem kleinen Dorf 
m einem oberbayriſchen See kamen die Mitarbeiter zuſammen, noch nicht fünfzig an der Zahl, 
und hielten in einem verlaſſenen Stall, der zum dürftigen Verſammlungsraum umgewandelt 
war, ihre vorbereitenden Beſprechungen. Seitdem ſind in etwa vierzig deutſchen Städten 
Gemeinden entſtanden, noch klein, zum Teil fehr klein, aber von ſeltener Opferwilligkeit und 
ſieghafter Hoffnungskraft. Aus den bisherigen Kirchen löſten ſich die werdenden Gemeinſchaften 
nicht los. Sie ſtellten ſich mitten hinein, boten ſich allen an und warteten auf die Antwort. Alle 
Mitarbeiter wiſſen, daß erſt im Kleinen erprobt werden muß, ob wirklich werden kann, was für 
einen größeren Kreis ſegensmächtig werden ſoll: Religiöſe Erneuerung und Chriften- 
gemeinſchaft. Um die Zeitſchrift aber, die wie eine Fahne der Schar vorangeht, „Die Ehriften- 
gemeinſchaft“, ſammelt ſich eine täglich wachſende Zahl von aufmerkſamen Leſern. (Alle Lite- 
tatur der jungen Bewegung, zum Beiſpiel auch die Schriftenreihe „Chriſtus aller Erde“, 18 Bänd- 
chen umfaffend, durch die Geſchäftsſtelle der Chriſtengemeinſchaft, Stuttgart, Arachſtraße 41.) 

Benn hier auf Wunſch des Herausgebers vom Leben der Chriſtengemeinſchaft erzählt werden 
foll, fo kann das ja nur fein wie ein Glockenläuten, das wohl weithin gehört werden mag, aber 
doch nur ein Rufen iſt und Einladen über einem Heiligtum, das fein Geheimnis für den Kom- 
menden ſelbſt aufbewahrt. Die Seele der Chriſtengemeinſchaft iſt nicht ein Glaube oder gar 
an Dogma, nicht ein Streben oder gar ein Programm, ſondern Chriſtus ſelbſt als lebendige, 
ſchaffende Gegenwart. Nicht ein vergangener geglaubter, nicht ein kommender erhoffter, 
ſondern der heute wirkende Chriſtus iſt das ſtrahlende Herz der Chriſtengemeinſchaft. Die Prieſter 
ber Gemeinschaft fühlen ſich wie das Blut, das zur Reinigung und Stärkung immer ins Herz 
zurücktehren muß in Meditation und „Einkehr“, um dann alle Weiten des Welt-Körpers mit 
Leben erfüllen zu können in wahrhaft ſakramentalem Wirken. 

Wenn viele religiöfe Gemeinſchaften dem lebendigen Chriſtus dienen, wird ſich ihr Wert be- 
fimmen durch die Kraft und Ausſchließlichkeit, mit der fie für ein ſolches Chriſtuswirken da find. 
In einem aber unterſcheidet ſich die Chriſtengemeinſchaft von allen religiöfen Gemeinſchaften, 
die außer ihr heute da ſind: darin, daß Chriſtus in ihr als ein ſchaffend Handelnder gegenwärtig 
etlebt wird. Nur die katholiſche Kirche hat auch dieſen Charakter, aber in Formen, die in einer 
vergangenen Zeit ihre Wahrheitsgröße und Lebensgewalt beſaßen, aber vom lebendigen Geift 
ber Gegenwart immer ſtärker als fremd empfunden werden. 


52 Die Chriftengemeinfdaft 


Nod ausſchließlicher und zugleich mitten aus dem lebendigen Gegenwartsgeiſt heraus will 
die Chriſtengemeinſchaft ganz dem umſchaffend wirkenden Chriſtus dienen. Die Sonne kann man 
ſtill betrachtend ſchauen. Will man mit ihr leben, ſo muß man mit ihren Strahlen gehen und 
wirken. Nicht anders iſt es bei Chriſtus. Die Sentimentalität und Seligkeitsſchwarmerei, die man 
fo oft in Kreiſen findet, die ſich für auserwählt chriſtlich halten, der ganze Heilsegoismus, der 
im eignen Ich die Gnade einſperrt, iſt die Anbetung eines ganz anderen Gottes als Chriſtus. 
Dort iſt Chriſtus, wo Wandlung ift. Man könnte auch das Johanneswort gebrauchen, das 
in der Lutherbibel mit „Verklärung“ wiedergegeben iſt. Aber nichts Luziferiſch-Aſthetiſches 
dürfte darin empfunden werden, ſondern das Söoͤttlich- Werden aller Dinge, das Eingehen des 
Chriftus-Wefens in alles, was lebt und iſt, damit Gott werden kann alles in allem. Will man alſo 
ſagen: Die Chriſtengemeinſchaft bringt einen neuen Sakramentalismus, ſo iſt das richtig nur, 
wenn man unter Sakrament nicht das Intellektualiſtiſch-Ausgedörrte verſteht, wie allermeift 
in der evangeliſchen Kirche, und nicht das Magiſch-Iſolierte, wie allermeift in der katholiſchen 
Kirche, ſondern wenn man verſteht, daß Chriſtus alles, was er berührte, was er nur anſchaute, 
zum Sakrament machte, zum Erdenträger göttlicher Weſenserſtrahlung, daß jedes Wort, das 
er ſprach, Sakrament war. Man kann ja auch wirklich heute noch aus einem Chriſtuswort, wenn 
man es nur ſtark genug in ſich da ſein läßt, ſeinen Leib und ſein Blut empfangen. Was wiſſen 
die Theologen, die heute unter der Loſung: „Nicht buddhiſtiſche Verſenkung, ſondern chriſtliches 
Gebet gegen die chriſtliche Einkehr und Einswerdung ankämpfen, von der lebendigen Anweſen⸗ 
heit Chrifti in feinen Worten, aus denen er hervortreten kann auferweckend, wie wenn aus dem 
Altarſchrein eine Lichtgeſtalt lebendig hervortritt und dem Menſchen das Abendmahl reicht. 
Man redet heute an den größten Geheimniſſen unkundig vorüber, 

Aus ihrem Grunderlebnis von der Wandlungsmacht des Chriſtus iſt die Chriſtengemeinſchaft 
auch der Überzeugung, daß alle ſogenannte „reine Ethik“, wie man fie ihr oft entgegenhält, 
eine ſchwache Ethik iſt. Stark fängt die Ethik erſt an zu werden, wenn man davon etwas fpürt, 
wie das Heilige umſchaffend wirken kann bis ins Körperliche hinein, gunddft im Menſchen, 
dann aber durch den Menſchen auch weit über den Menſchen hinaus. „Magiſcher Idealismus“ 
hat Novalis gejagt. Er hat abgewieſen ebenſowohl eine Magie, die nicht aus reinen Kräften 
ſtammt, wie einen Idealismus, der keine Verwandlungskraft hat. 

Wem Chriſtus als Weltwirklichkeit da iſt, der ſpürt immer erſchauernder bis ins Mark hinein, 
wie grundverdorben die Menſchheit iſt, wie grundverdorben vor allem er ſelbſt iſt. Nur durch 
die ſeit Jahrtauſenden in der Menſchheit wühlende Sünde konnte er das werden, was er jetzt ift. 
Allein Chriſtus mit der Kraftfülle feines göttlichen Gnadenweſens vermag eine neue Welt zu 
ſchaffen, zunächſt im Menſcheninnern. In ihm tritt die ſiegende Allgewalt hinein in das Reich 
des Niedergangs, und nur, wo ihr Einlaß wird, kann Heil werden. Da aber wird alles von Grund 
auf neu. Es iſt heute viel peinliches Streiten unter den Theologen, ob die Sünde auch ernſt 
genug“ genommen wird. Die Chriſtengemeinſchaft hat keine Neigung, ſich an dieſen Distuffionen 
zu beteiligen, auch nicht, wo es gegen fie ſelbſt geht. Jeder aufrichtig Wollende aber kann ein- 
feben, daß ein Sakramentalismus, wie wir ihn geſchildert haben, nur Sinn hat, wenn Chriſtus als 
neue Weltſchöͤpfungskraft inmitten einer von Verderbensmächten ergriffenen Welt erlebt wird. 
Es gibt kein ſtärkeres Bekenntnis zu Chriſtus als dem alleinigen Heiler als einen ſolchen Gatra- 
mentalismus. Wenn gegen die Chriſtengemeinſchaft geſagt worden ift, vor aller Gnade müffe 
erſt die „peinliche“ Einſicht kommen, daß nur der Sünder Gott recht fei, fo verrät ſich uns aller 
dings in ſolchem Fordern und Formulieren der Geiſt einer individualiſtiſch-intellektualiſtiſchen 
Zeit, die wir hinter uns gelaſſen haben. Das iſt mißhandelter Paulus. Die Wahrheit iſt, daß 
gerade die echten Kinder der Zeit ſich gar nicht ſo als Einzelne fühlen können, ohne unwahr zu 
werden, daß ſie ſich ganz anders fühlen in und mit der Menſchheit, in und mit der Welt. Und 
die Wahrheit iſt, daß ſolche Forderungen der Fülle und lebendigen Tiefe des religidfen Ge- 
ſchehens nicht gerecht werden können. Das ſtammt aus einer gedanklichen Einſtellung, die den 


47 


Die Chriſtengeme inſchaft 53 


Schritt von der Bewußtjeinstultur zur Weſenskultur, von der Selbſtkultur zur Weltkultur noch 
nicht getan hat. Poſitiv geſprochen: Laßt Chriſtus zu den Menſchen kommen und wehret ihm 
nicht! Reigt nicht auseinander, was eine Einheit ift: Selbſterkenntnis und Chriſtus erkenntnis! 
Reißt nicht an die Oberfläche, was in der Tiefe lebt: Sündenbekenntnis und Chriftusbetenntnis t 
Letzt nur Chriſtus da fein, jo ſtark und ausſchließlich als es moglich iſt, und überlaßt ihm ſelbſt, 
was er den Menſchen zu ſagen hat! 

Die Chriſtengemeinſchaft fühlt ſich im Glanz einer neu aufgehenden Chriſtusſonne. Sie 
redet nicht bloß von einer neuen Morgenröte. Sie fühlt ſich in ihr. Sie iſt ſelbſt ein Teil von ihr. 
Shee eigene Verbindung mit Chriſtus iſt ihr fo heilig, daß fie davon hier nicht reden möchte. Sie 
weiß, daß Ehriftus auch außerhalb ihrer auf vielerlei Weiſe den Menſchen nahe fein kann 
und nahe kommen will. Aber ſie weiß auch, daß Chriſtus ſie ſelber zu ſeinem Organ geſchaffen 
hat. Alles ift in der erſten Entfaltung. Mächtig aber ſchreitet heute ſchon Chriſtus durch die Weihe; 
hanblungen der Chriſtengemeinſchaft. Eine reine Weihe des ganzen Lebens, wie fie Goethe 
m „Dichtung und Wahrheit“ erſehnte, wie fie in der Gott; entleerten Gegenwart immer mehr 
Nenſchen elementar ſich wünfchen, iſt im Kommen. Nur eine Chriſtustat kann fie fein. Als 
wir den neuen Sakramentalismus empfingen, erkannten wir nachträglich zu unfree größten 
Freude, wie in ihm wiedergeboren find für unfre Zeit die ſieben Großtaten des Chriftus, die 
im Johannesevangelium berichtet werden. Viel Ahnliches könnte erzählt werden. (Vergleiche 
J B. „Welterneuerung“ in der Schriftenreihe „Chriſtus aller Erde“.) 

Ein e Erlöfung wird heute von vielen erſehnt. Die Natur iſt uns tot geworden. Nur im Ge- 
fühl jpridt fie noch mächtig zum Menſchen. Das „Wort“ ijt geſtorben in der Natur. Die alten 
Germanen hörten es noch, wenn fie in die Natur lauſchten: Göttergeſchehen war es, was im 
Sturm an ihnen vorüberzog. Die alten Griechen lebten menſchenwuͤrdiger als wir. Auf den 
Gonnenftrablen hörten fie einen Gott fein hehres Harfenlied ſpielen. Chriſtus iſt geſtorben in der 
Natur, das „göttliche Schöpferwort“, von dem noch das ZJohannesevangelium ſpricht, nicht aus 
„gnoftifcher Spekulation“, ſondern aus Offenbarung. Das iſt ihrem innerſten Weſen nach die 
Baldurtrauer der Germanen, die in allen unſern Seelen lebt. Wir haben heute eine tote Natur 
wiffenſchaft. Aber in hohen Welten hat ſich begeben, wovon die Lazarusgeſchichte im Johannes 
evangelium ein Exdennachhall ift. „Lazarus, unſer Freund, iſt geſtorben, doch ich gehe hin, daß 
ich ihn auferwecke — ſprach Chriſtus in der Hohe, hinabblickend auf das im Erdengrab geſtorbene 
goͤttliche Lebens wort, zu ſich ſelbſt. Er kam auf die Erde. Und ſeitdem begann die Erde wieder zu 
klingen. In feinen Gleichniſſen hebt es an. Das göttliche Wort wacht auf. Chriſtus auferſteht 
aus bem Erdengrabe. Nicht nur einmal geſchah es im fernen Land, es iſt das heilige Geſchehen 
der ganzen kommenden Menſchheitsgeſchichte. Im Menſchen, der durch ihn Leben geworden iſt, 
bolt er ſich auch die Welt zurück. 

Wir find eingetreten in ein gewaltiges Neu-Aufwachen der Chriftustat auf Golgatha. All- 
überall erleuchtet fie ſich uns als ber tiefſte Sinn der Menſchheitsgeſchichte. Kein Geſpräch kann 
wahrhaft geführt werden zwiſchen Menſch und Menſch, ohne daß Chriſtus mitten unter ihnen iſt. 
Sie werden ſich nur verſtehen in dem Mag, als ſie ſich einander „hingeben“, als das Myſterium 
von Tob und Auferſtehung Chriſti unter ihnen iſt. Ja auch jeder Einzelne: er kann fühlen, daß 
jedes ungütige Wort, das er ſpricht, eine Fortſetzung der Fluchtat auf Golgatha iſt an dem 
heute lebenden Chriſtus. Jedes Wort wahrer Güte aber iſt ein fpürbares Aufleben Chriſti. 
Auferſtehung will alles ergreifen. Lebend weiht und wandelt Chriſtus die Welt. Aus dem Men- 
iden heraus wirkt er, aus feinem Schauen, aus [einem Sprechen, aus feinem Handeln, aus ſeinem 
Denken. Die Welt will neu werden. Wer das nicht ſpürt, kennt Chriftus nicht. „So denket in 
uns Chriſti Leidenstob, ſeine Auferſtehung, ſeine Offenbarung durch alle folgenden Erdenzeiten.“ 

Wenn über den Menſchen dies Große kommt: „Ich will nichts wiſſen als Chriſtus den Ge- 
kreuzigten und Auferſtandenen“, ihn aber will ich wiſſen in allem —, dann fühlt er ſich, wenn 
et fidy’s ehrlich gefteht, heimatlos in den heutigen Gottesdienſten. Er möchte Chriſtus ſchauen 


54 Die Chriſtengemeinſchaft 


in reiner Anbetung. Er möchte atmen in feiner Nähe. Er möchte aufleben in der Gegenwart 
feines heilenden Weſens. Er möchte auferſtehen lernen in ihm. Ein Gottesdienſt, der ihm dies 
brächte, ſteht als Ahnung vor ihm. Er ahnt den neuen Kultus. 

Wiſſen die Menſchen heute, was Gottes dienſt iſt? Es ſoll nicht vergeſſen fein, welche unend- 
liche Mühe ſich viele proteſtantiſche Pfarrer mit ihren Predigten geben, und wieviel Gutes 
von ihnen ausgeht. Aber die Predigt iſt im beſten Fall Gottesdienſtvorbereitung, im ſchlimmen 
Fall, der gar nicht ſelten vorkommt, iſt fie Gottesdienſtſtörung. Oer katholiſche Sottesdienſt 
geht auf vielen anderen Wegen in die Seele hinein. Aber die Menſchen des vollerwachten 
Gegenwartsbewußtſeins und des frei gewordenen Ich haben in ihm doch das klare Gefühl, 
daß fie ſich ſelbſt verleugnen müfjen, wenn dies ihr Leben werden ſollte, aber nicht in dem Sinn, 
wie Chriſtus Selbſtverleugnung von feinen Jüngern fordert. Sie fühlen ebenſo die Dergangen- 
beitsgröße, wie die Gegenwartsfremdheit des echten Katholizismus. Was an neuen Gottes- 
dienſten auftaucht aus dem aufwachenden Sehnen der Zeit, iſt entweder unwahre Altertüntelei 
oder kurzatmiger Subjektivismus. Wo iſt ein Gottesdienſt, an dem alle Engelwelten Freude 
haben, in dem ſich der Raum erfüllt mit ſtillem, üͤberirdiſchem Jubeln bis hoch zum göoͤttlichen 
Thron hinauf? Die Chriſtengemeinſchaft hat zu verkündigen, daß ein ſolcher Gottesdienſt ba iſt. 
Langſam tritt er aus dem Ounkel der göttlichen Welt hervor. Die Not der Zeit hat ihn gerufen. 
In der Menſchenweihehandlung iſt da, was je an Gottesdienften groß war in allen Völkern 
und Zeiten. „Eine deutſche evangeliſche Meſſe“ iſt zu wenig von ihr geſagt, es fei denn, daß man 
unter „deutſch“ reines Geiſtdienen verſteht, und unter „Meſſe“ gegenwärtiges Chriſtus handeln 
in Opfer und Auferſtehung, und unter „evangeliſch“: Daſein des Himmels im liebenden Ich des 
Menſchen. Noch werden viele Vorurteile überwunden werden müſſen, ehe die Menſchenweihe⸗ 
handlung anerkannt iſt als das, was fie iſt. Ja wir müͤſſen felbft erſt lernen, unſre Gottesdienſte, 
die uns anvertraut ſind, zu feiern. Aber wir haben ſchon Gottesdienſte gehabt, da ſtand wie eine 
göttliche Heimat der Himmel auf der Erde, mitten unter den Menſchen. Man meinte, Engel 
haben dieſen Gottesdienſt auf die Erde getragen, damit alle Hungrigen und Ourftigen herbei 
gerufen werden können: Nehmet! Eſſet! 

Iſt es dies, was in der bitteren ſozialen Bedrängnis der Gegenwart uns not tut? — Wer an 
Vereine und Parteien, Prinzipien und Programme glaubt und in ihnen die göttlichen Löfungen 
für alle Not der Zeit erblickt, wird ſagen: Nein! Wer ſich nach dem Aufſpringen neuer Quellen 
der Kraft und Klarheit ſehnt, wer neue Weiheſtätten der Menſchheit, in denen die Augen auf- 
gehen im göttlichen Licht, in denen die Seelen auferſtehen in göttlicher Reinheit und Kraft, 
für das Allerdringendſte hält, wird ſagen: Ja! 

Aber „das Volk“? Iſt dies alles nicht viel zu hochgeiſtig und lebensfern für die große Maffe? 
Brauchen wir nicht für das Chriſtentum, wenn es die weiten Reiche der Menſchheit ergreifen 
ſoll, die wuchtig echte Volkstümlichkeit, in der der einfachſte Mann ſich ſelbſt neu erleben kann? 
Wenn einmal nicht falſche Volkstümlichkeit geſucht, ſondern echte Volkstümlichkeit verſtanden 
wird, dann wird man ſehen, wie in Bild und Wort des neuen Kultus die edle Allgemeinmenſch- 
lichkeit da iſt, die von den Menſchen der verſchiedenſten geiſtigen Höhen aufgenommen werden 
kann, wenn keine Vorurteile mehr die religidfe Empfänglichkeit lähmen. Daß auch die Probe 
der Dauer beſtanden werden wird, wiſſen wir heute ſchon aus Erfahrung. Aus Wort und Bild 
des neuen Kultus, der zugleich alt- heiligen Anbetungsformen der Menſchheit verwandt iſt, aus 
Wort und Bild eines neuen Evangelienverſtändniſſes, in dem wir leben, wird auch allmählich eine 
neue Volkstümlichkeit der religiöfen Rede erblühen, die wir heute noch nicht haben, aber ahnen. 

Aber warum nicht in der Kirche? Muß immer gleich eine neue „Sekte“ gegründet werden? Zit 
nicht all dies auch recht gut innerhalb der Kirche möglich, wenigſtens innerhalb der proteftan- 
tiſchen Kirche? Ganz gewiß iſt es innerhalb der Kirche möglich — und es geſchieht ja innerhalb 
der Kirchen. Aber es geſchieht nicht im Namen des offiziellen Kirchenamtes. Und man muß 
wenig Erfahrung haben von dem Tempo der Kirchenentwicklungen, wenn man glaubt, daß man 


Dre Chriſtengemeinſchaft 55 


der Menſchheit ein Neues, Göttliches erſt bringen dürfe, wenn es den Weg gemacht hat durch 
Pfarrtonferengen, Kirchenſynoden und Konſiſtorien. Darauf kann unſre Zeit nicht warten. 
Darauf kann auch das Neue ſelbſt nicht warten. Dem kann es ſich gar nicht ausliefern, wenn es 
nicht Selbfſtmordgedanken hat. Rein von Verfälſchungen kann es ſich nur bewähren, wenn es 
frei und ſtark aus ſich ſelbſt heraus ſein Leben beginnt. So wenig wie Chriſtus, wenn er heute 
unter uns erſchiene, den Weg durch die kirchlichen Prüfungen und Vorruͤckungsordnungen ginge, 
ſo wenig kann auch ein Chriſtuswerk, das ſich von Chriſtus unmittelbar an die Menſchen innerer 
Not gewieſen ſieht, erſt um einen kirchlichen Stempel ſich bewerben. Man hilft heute auch der 
Kirche am beſten von außerhalb der Kirche, das heißt von außerhalb ihrer ſteifgewordenen 
Ordnungen. — 

Wir haben nun noch kein Wort geſprochen von dem Zuſammenhang der neuen religidfen 
Bewegung mit der Anthropoſophie. Das Neue wollte ſeine eigene Seele ſagen. Aber es 
will nun auch ausſprechen, wem es Dank ſchuldet. Wer nicht das Gute und Wahre anerkennen 
kann, woher es auch ſei, kommt ja doch als ernſthaft religiös Suchender nicht in Betracht. 

Die jungen Menſchen, von denen wir erzählten, kamen aus den verſchiedenſten Lebens“ 
kreiſen. Sie kamen auch und vor allem von den drei Univerſitäten, die heute die proteſtantiſche 
Theologie führen: Berlin, Marburg, Tübingen. Gerade dort hatten fie nicht gefunden, was 
ſie ſuchten. Aber ſie ließen ſich auch nicht abhalten durch Zeitvorurteile, bei einem Mann um 
Hilfe zu fragen, den keine offizielle Univerſität anerkannte: Dr. Rudolf Steiner. Es war 
die einzige Stelle in der Welt, wo fie nicht enttäuſcht wurden. Nur als ein dienender Vermittler 
und freier Rater wollte er unter ihnen fein. Aber fie kamen immer wieder. Er wurde ihnen eine 
ganze Univerſität. Er wurde ihnen mehr: er wurde ihnen eine Stimme aus den Tiefen des 
Univerfums ſelbſt. Wer Rudolf Steiner hat walten ſehen unter dieſen Menſchen, die durch 
Jugendbewegung und Kriegserleben gegangen im Selbftgefühl gärender Kraft nach ſtarker, 
hilfemachtiger Religion fragten, der findet nichts falſcher und unwirklichkeitsgemäßer als das 
Reden von dem ſuggeſtiven Machtgelüfte des Anthropofophiebegründers. Er war nichts anderes 
als ein beſcheidener, reiner, gütiger Bote aus dem Heiligtum einer höheren Welt. Er fühlte ſich 
ſelbſt, ſo überragend menſchlich groß er war, als Vorbereiter deſſen, was kommen ſoll, als ge- 
horchender Diener des Chriſtus. Darum bewahren die Gründer und Führer der Ehriftengemein- 
ſchaft keinem Menſchen tiefere Dankbarkeit als Rudolf Steiner, und ſprechen dies um ſo deutlicher 
aus, je mehr die dunklen Wolken der Verkennung dieſen lichtumſtrahlten Geiſtesboten der Menſch⸗ 
beit verhüllen wollen. Darum bürfen fie aber auch nach der andern Seite hin ſagen: Kommt zu 
uns, ohne irre zu werden durch das Wort Anthropoſophie, ohne euch abhalten zu laſſen durch 
üble Vorurteile gegen den Führer der Anthropoſophie! Prüft mit aufgetanem Gelſt und Herzen 
was uns gegeben iſt, und was wir allen anzubieten den Auftrag haben! 

Dr. Friedrich Rittelmeyer 


Literatur, 
Bildende Nunſt, Musik 


Mar Halbe 


Zum 60. Geburtstage des Dichters, 4. Oktober 


VBordemerkung. Olefer weſtpreuhiſche Dichter iſt an bemſelben Tage desſelben Jahres geboren wie ich, ber 
Elfäſſer: er um 1 Uhr morgens, ich um 3 Uhr nachmittags, was einigen Aftrologen zu ganz artigen Vergleichen 
Anregung gegeben hat. Unſer Leben hat ſich nach anfänglichen kurzen Berührungen in Berlin ſehr verſchieden⸗ 
artig gestaltet. Man kann fi nun, auf der Höhe des Lebens, zum gemeinſamen Geburtstag unde fangen beglüd- 
wünfden. F. L. 

m Vormittage des 23, April 1893 brauſte ungeheurer Jubel durch das Neſidenztheater Sieg- 

mund Lautenburgs zu Berlin: Max Halbes „Zugend“ erlebte ihre Premiere. Kaum einer 

von allen denen, die dieſer frühlingsſonntäglichen Aufführung beiwohnten, wußte etwas über 

den jugendlichen Verfaſſer und über die vielen Enttäufchungen, die feine ſiebenundzwanzig Jahre 

ſchon umſchloſſen; und keiner der Freunde, der nach dieſem ftürmifchen Theatererfolge dem Dich- 

ter eine glänzende dramatiſche Laufbahn prophezeite, hat Recht behalten. In Halbes Leben iſt 
jener 23. April 1893 ein Sonntag geblieben — und die Lebenswoche hat viele Alltage. 

Alltag war ſchon ſeine Kindheit geweſen, ſonnenloſer Alltag droben im dörflichen Guettland, 
im Werder der Weichſel, über das vom Meere her die Stürme gehen, über das blau und fil- 
douettenhaft die alten Türme von Danzig ſchauen und durch deſſen endloſe Weite Winters der 
Eisgang donnert und ſchollert. Das Kind einer disharmoniſchen Ehe — und ſelber früh voller 
Dis harmonien. Das Elternhaus verödete, als mit dem beginnenden Kulturkampf die Pro- 
teftanten der Gegend die katholiſche Familie Halbe geſellſchaftlich boykottierten. In dieſer 
Umgebung wuchs der Knabe heran, einſam innerlich und duferlid, mit dem Schweine 
jungen als einzigem Spielgefährten, zudem ſchon zeitig, allzuzeitig von den Leidenſchaften 
der Wut und des Trotzes gezauſt. Wilde Gymnaſiaſtenjahre in Marienburg, im Schatten 
des alten Oeutſchordensſchloſſes, folgten. Verbummelt, duͤſter und menſchenfeindlich, bei Mit- 
ſchulern und Lehrern als „Anarchiſt“ verſchrieen — die Novelle „Dr. Sieverings Heimfahrt“ be- 
richtet davon — verließ der noch nicht Achtzehnjaährige im April 1883 die Schule. Es war, als 
könnte er die Heimat gar nicht weit genug hinter ſich laſſen. Heidelberg, die Feine, ward erſte 
Station auf der Lebens fahrt, für zwei juriſtiſche Semeſter, die gleichwohl auch unterm Sterne 
des großen Mannes an der Alma mater ſtanden: Kuno Fiſchers ... und, last not least, des vor- 
trefflichen Martgrdflers, von dem der junge, [hon in Marienburg dem Alkohol nicht abgeneigte 
Studioſus auf feiner Bude ein ganzes Siebzigliterfaß in der vorgeſchriebenen Zeit bewältigte. 
Literatur? Sie war damals noch nicht ernſtlich über den Lebenshorizont getreten, obwohl im 
Heidelberger „Frühlingsgarten“, den ſpäter, viel ſpdter die gleichnamige Novelle verklärt auf- 
erſtehen läßt, hie und da ein Gedicht aufblühte, wie in der fo ganz anderen Atmofphäre der 
Schule ein paar kecke Satiren von der Lippe geſprungen waren. Lebensmacht wurde ſie erſt, als 
Halbe ein Jahr ſpaͤter nach München überſiedelte: hier geriet fein irrendes Lebensſchifflein als- 
bald in ſtuͤrmiſch gehende vorrevolutionäre Wogen. Franz Held, den man um ſeiner kühnen 
Neuerungsverſuche willen den Georg Kaiſer feiner Zeit nennen könnte; Gottheil-Chriftaller, 
der Verfaſſer der „Ariſtokratie des Geiſtes als Löſung der ſozialen Frage“; Ludwig Scharf, der 
Sänger der Tſchandala-Lieder; der fpdtere Abgeordnete Schönlant, damals Redakteur der 
„Münchener Poſt“ und zugleich ſtadtbekanntes Original, der zum Gaudium der Münchener ſeine 
frugale Abendmahlzeit auf den Stufen der Staatsbibliothek einzunehmen liebte: das war der 


Raz Halbe 57 


Kreis des jungen Studenten — der hier im Übrigen feiner Fakultät entlief und zur Germaniftit 
überging, um Moritz Carridre, den großen W. H. Riehl und den alten Bernays zu hören, Friedrich 
Hebbel, Heinrich von Kleift, Otto Ludwig waren feine geiſtige Nahrung; indem er an ihren 
Felſen ſchlug, begann ihm ſelbſt die dramatiſche Ader zu rinnen. Im September 1884 wurden bie 
erſten Szenen zum „Emporkömmling“ geſchrieben. 

Man lebte leicht und luſtig, allzuleicht und allzuluſtig in der Münchener Boheme. Nach einem 
Jahre dieſes Treibens hatte der weſtpreußiſche Bauernſohn das ſtark ans Gewiſſen pochende Ge- 
fühl, daß er abermals am Rande des Verbummelns ſtand. Geſunder Inſtinkt trieb ihn hinweg. 
er ſchnuͤrte fein Rangel und zog nordwärts, nach Berlin. Das quartier latin wurde neuer Lebens- 
ſchauplatz — das Haus in ber Brunnenſtraße Nr. 4, wo er wohnte und bald die ſpaͤtere Gattin 
kennen lernte, zehn Jahre ſpater heiterer Schauplatz der Komödie „Lebenswende“. 

In Berlin ſattelte er zum zweiten Male um. Geſchichte war das Fach, das ihn nun lockte, und 
die Papſtgeſchichte fein befonderes Lieblingsgebiet. Ihr entnahm er das Thema zur Ooktor- 
Miertation: „Kaiſer Friedrich IL und fein Verhältnis zu den Päpſten feiner Zeit“. Die Dor- 

erbeiten wurden in Berlin angefangen — Weiterarbeit am „Emporkömmling“ und feine fchließ- 
ide Beendigung gingen nebenher, und nebenher ging ein reger Verkehr mit dem Haufe Mar- 
ſchalk, das, gleichfalls aus dem Danziger Werder entſtammend, ſpäter der „Voſſiſchen Zeitung“ 
den glänzenden Mufittrititer — und Gerhart Hauptmann die zweite Gattin gegeben hat. Dort 
lernte er den Maler Walter Leiſtikow kennen, dort führte er den jungen Naturburſchen Emil 
Etrauß ein, mit dem er gewaltige Nachtmärſche in die Berliner Umgebung machte. An Lite- 
tatiſchem brachte die Zeit einen größeren Aufſatz über Ibſens „Frau vom Meer“, den Michael 
Georg Conrabs aufrühreriſches Kampfblatt „Die Geſellſchaft“ druckte, wo bald auch die erſten 
dichteriſchen Arbeiten des jungen Autors eine Heimſtätte finden ſollten. Dieſen Aufſatz ſandte 
galbe an den damals, noch unberühmt, noch kaum bekannt in Erkner lebenden Gerhart Haupt- 
mann: die Antwort war ein Exemplar des Schauſpiels, das bald darauf die kuͤnſtleriſche ä in 
einen heißen Streit der Meinungen ftürzen follte: „Vor Sonnenaufgang“. 

Aber ehe noch mit der ftürmifchen Aufführung dieſes Stüdes die große Epoche des Naturalis- 
mus begann, hatte Halbe Berlin bereits wieder den Rüden gekehrt und ſich abermals nach Mün- 
chen gewandt, wo er, Hörer Grauerts und Heigels, den philoſophiſchen Doktorhut erwarb, im 
übrigen aber, Mitglied des Kreiſes um Conrad und Conradi, ſich ſchon durchaus als Juͤngſt- 
deutſcher fühlte. Das dauerte zwei Jahre. 

Dann tauchte, den Kopf voller dramatiſcher Ideen, der Vierund zwanzigjährige wieder in 
Berlin auf. Wun lernte er auch Hauptmann kennen — in deſſen Wohnung in der Schlüͤterſtraße, 
und in Geſellſchaft Otto Brahms, an jenem denkwürdigen Abend, an dem die Aufführung von 
‚Bor Sonnenaufgang“ in der „Freien Volksbühne“ beſchloſſen wurde. Wie für das ganze 
Süngfte Deutſchland begann an jenem Tage unter dem ſtarken Eindruck des Stücks auch für 
galbe die rein naturaliſtiſche Epoche, — die lange Zeit Licht und Schatten über den Lebensweg 
des Dichters werfen follte. 

Der erſte Tribut, den er der neuen Kunſtrichtung zollte, war das 1890 beendete Schauſpiel 
Freie Liebe“ mit dem Untertitel: „Szenen junger Leute von 18%“. Der Stern Hebbels, der 
noch über dem „Emporkömmling“ geleuchtet hatte, war verblaßt, ein Eigenes, Selbſtändiges war 
gefunden — und wurde von den Theatern prompt abgelehnt 

Der Sommer 1890 ſah Halbe bereits wieder in München und als eifriges Mitglied des „Aka⸗ 
demiſch· philoſophiſchen Vereins“ und der „Geſellſchaft für modernes Leben“. Gumppenberg 
md Schaumberger wurden die nddften Genoſſen, in ſtürmiſcher Anziehung lernte er Frank 
Bedelind kennen, heftige Debatten bei tropfenden Kerzen in leergetrunkenen Weinflaſchen 
hielten die Freunde oft bis vier Uhr morgens an den Marmortiſchen des Café Luitpold feſt. 
Anderthalb Jahrzehnte war dieſer enthuſiaſtiſch-wechſelvollen Freundſchaft zu dauern be- 
ſchieden. 


58 Maz Halbe 


Wieder ſchlug das Lebenspendel nach Berlin zuruck. Der Fünfundzwanzigjährige gründete 
Familie und Haushalt: eine 8weizimmerwohnung in der Kulmſtraße wurde der Schauplatz erſten 
Ehe- und Vaterglücks (denn 1891 wurde der erſte Sohn geboren, dem in kleinen Abftänden eine 
Tochter und abermals ein Sohn folgten) — und ernſter Arbeit in dem frei gewählten und hoff- 
nungsvoll vor dem jungen Stürmer und Dränger liegenden Beruf. Er ſtand nun auf eigenen 
Füßen, und es galt für ihn, ſich durchzubeißen. Eine lange Novelle „Fertig“ wurde geſchrieben; 
unter dem Titel „Oer Kämpfer“ ging fie ſpäter in die Buchausgabe über. Das ſoziale Drama 
„Eisgang“, das feine Motive aus der weſtpreußiſchen Heimat ſchöpfte, entſtand raſch, während 
die freundſchaftlichen Beziehungen feines Verfaſſers zu Otto Erich Hartleben, Wilhelm Bölfche, 
Bruno Wille, Richard Dehmel und dem ganzen Friedrichshagener Kreis ſich anſpannen, in dem 
gelegentlich auch die fauſtiſche Geftalt Strindbergs auftauchte. In Friedrichshagen las Halbe vor 
den Freunden und außerdem vor den beiden Volksbühnengewaltigen, den Brüdern Heinrich 
und Julius Hart, fein Stück zum erſten Male vor, und die Aufführung in der „Freien Volksbühne“ 
wurde ins Auge gefaßt. Zum erſten Male, nach vielen Enttäuſchungen, eroberte ſich alſo ein 
Drama des jungen Oichters die Bretter, und wenn es ſich auch darauf nicht halten konnte, fo 
gab doch die Aufführung ſeinem Verfaſſer manchen nützlichen Wink für die Bühnenwelt und 
ihre nur im Rampenlicht ſich entſchleiernden Geſetze; und obendrein gab fie ihm als ſchönſtes 
Geſchenk die Lebensfreundſchaft mit dem damaligen Regiffeur, J. ©. Stollberg, der nachmals, 
als Direktor des Muͤnchener Schauſpielhauſes, manchem Halbeſchen Stück, fei es mit Segens- 
ſpruch, ſei es mit der Geburtszange, ans Licht der Theaterwelt verholfen hat. 

Gleich nach der Aufführung, befeuert von dem noch nachhallenden. Bühnenerfolge, gereizt 
auch durch manchen Widerſpruch der Kritik, warf ſich Halbe auf einen neuen dramatiſchen Plan. 
Wie beim „Eisgang“ bot die weſtpreußiſche Heimat die Menſchen und den Schauplatz. In zwei 
Monaten wurde das Stück niedergeſchrieben. Es trug den Titel „Im Pfarrhofe“ und wurze lte 
in Eindruͤcken, die, neun Jahre früher, der junge Mulus auf einem Verwandtenbeſuch beim alten 
Pfarrer Rompf in Griebenau nahe Thorn gewonnen hatte. In der Literatur- und Bühnen 
geſchichte aber lebt es und wird es leben unter dem Titel „Jugend, ein Liebesdrama“. Paradox 
und faſt humoriſtiſch erſcheint es, daß dieſes Werk, noch heute eines der meiſtgeſpielten deutſchen 
Schauſpiele, ehe es das Licht der Rampen erblickte, eines der meiſtabgelehnten Stucke geweſen 
iſt und daß ein Theaterdirektor — wir wollen den Namen mit dem Mantel chriſtlicher Liebe 
decken! — in feinem Ablehnungsbrief wortlich ſchrieb: „Ein Bühnenerfolg iſt nahezu aus 
geſchloſſen“! 

Den Sommer nach der Beendigung des Werkes verlebte Halbe mit feiner Familie, im heiter 
ländlichen Genuſſe der neugewonnenen Freundſchaft Otto Julius Bierbaums, in Amerland am 
Starnberger See; von hier aus gingen die Abſchriften ſeines Schmerzenskindes an die Theater; 
kanzleien, und hierher kamen fie, eine nach der andern, wie Bumerange zurüdgeflogen. Des 
Dichters beſorgte Gattin ſtellte ſich allmorgendlich vor der Poſtſtation auf, um den Briefträger 
„abzufangen“ und dem nervös und nervöſer werdenden unglücklichen Autor die neue Enttäu- 
ſchung moͤglichſt ſchonend beizubringen. 

In Leiſtikows Berliner Atelier las Halbe, nach der Reichshauptſtadt zurückgekehrt, das Werk 
Emanuel Reicher vor, der damals gerade ein Stück für die Wiener Theaterausſtellung ſuchte; 
auch Hartleben und Ludwig von Hofmann waren dabei. Doch die Sache kam auch diesmal nicht 
zuſtande, die martervolle Wartezeit begann von neuem. Inzwiſchen entſtanden dem unermüdlich 
arbeitenden Dichter die erſten Szenen zum „Amerikafahrer“. Endlich zeigte ſich ein Lichtblick: 
durch die Freie Volksbühne war Halbe in Verbindung mit Rudolf Rittner, dem nachmaligen 
erſten Darſteller des Florian Gener, gekommen, der die Handſchrift dem in allen Waſſern und 
Laugen des franzöſiſchen Schwankes gewaſchenen Intendanzrat Siegmund Lautenburg, Ritter 
vieler Orden, übermittelte; und Lautenburg erklärte endlich gnädig, daß er das Stüd ſpielen 
wolle — unter gewiſſen Kautelen allerdings: er könne die Aufführung nämlich nur wagen, wenn 


Maz Halbe 59 


fein naͤchſter frangdfifher Schwank im Reſidenztheater einen mittleren Erfolg habe; habe er 
namlich großen Erfolg, fo fei an ein neues Stüd nicht zu denken — und habe er keinen Erfolg, 
jo miiffe ſofort ein neuer franzöſiſcher Schwank die Scharte im Hauptbuche auswetzen. Von fol- 
chen Vorbedingungen alſo hing das Schickſal eines Stüdes ab, das nachmals zahlloſen Theater- 
direktoren beſſer als alle franzöſiſchen Schwänke die Kaſſen gefüllt hat! 

Im März 1893 war es, daß Hauptmanns „Weber“ mit ungeheurem Erfolge zum erſten Male 
geſpielt wurden. Mit geballten Fäujten ſaß Halbe, der warten, warten und nochmals warten 
mußte, im Haufe feines Schwiegervaters in Oerben a. d. Elbe: alle kamen fie dran — wann 
würde denn einmal ſeine Stunde ſchlagen ?! 

Sie ſchlug ſchnell und ganz unvermittelt. Sonntag, den 16. April lieſt der ahnungslose Dichter 
zufällig in der Zeitung, daß die Proben zu „Jugend“ begonnen hätten und daß die Aufführung 
auf den 23., naͤchſten Sonntag alſo, feſtgeſetzt fei. Er eilt nach Berlin und findet die Vorberei- 
tungen bereits in vollem Gange. Lautenburg felbft, der geringes Vertrauen zu der Sache hat, 
halt ſich abſeits und greift erſt bei der Hauptprobe mit feinen erfahrenen Händen ein. Und dann 
tommt jene Aufführung mit Rittner, Jarno, Biensfeldt und der herrlichen — bisher überall ent- 
laſenen — Vilma von Mayburg als Annchen, kommt jener erfte große Erfolg, von dem ſpaͤter 
der alternde Dichter ſelbſt melancholiſch rüdblidend bekannte, daß er ihn „ſchwer errungen und 
teuer bezahlt“ hat. 

Gott weiß, aus welchen vertraglichen Gründen Lautenburg das erfolgreiche Stüd nach ſieben 
Aufführungen abſetzte! Erſt im Oktober besfelben Jahres wurde es im „Neuen Theater“ wieder 
aufgenommen und erſt zwei Jahre, auf den Tag, nach der Premiere im Refidengtheater begann 
es, von der Bühne des Brahmſchen „Oeutſchen Theaters“ aus, ſeinen eigentlichen Siegeszug. 

Kaum daß die Woge ihn emporgehoben, glitt Halbe wieder ab. Ein Schwank in Knittelreimen, 
der ſchon während der Wartezeit begonnene „Amerikafahrer“, erlebte dreiviertel Jahre nach 
dem Erfolg der „Jugend“, am 3. Februar 1894, einen Durchfall ohnegleichen. Der ſchwer ent; 
täufchte Dichter ging auf eine längere Reife, die ihn über Hamburg und Bremen, über Köln, 
Wiesbaden, Frankfurt und München nach Zurich und ſchließlich an die Riviera führte. Neues 
Müßgeſchick harrte dort feiner: das Manuſkript eines Romans, den er in Amerland, auf einen 
Vorſchuß des Verlegers S. Fiſcher hin, zu ſchreiben begonnen hatte (und aus dem die Künftler- 
geſchichte „Ein Meteor“ ein Bruchſtüͤck iſt) wurde ihm geſtohlen. Auf der Rüdreife fand er am 
Bodenfee, in Kreuzlingen, ein ſchöͤnes Landhaus, das es feinem Herzen antat. Der Abſchied von 
Berlin, der Stätte fo vieler Enttäuſchungen, war leicht beſchloſſene Sache. An feinem alten 
Schickſalstage, dem 23. April, elf Jahre nach der Jugendpremiere, ein Jahr vor der Wieder- 
aufführung im „Oeutſchen Theater“, zog Halbe mit den Seinen in Kreuzlingen ein. 

Es war eine glückliche und doch auch nicht glückliche Zeit, die der ſchwer kämpfende Dichter 
an dem fchönen, rebenbekränzten, obſtbehangenen Ufer des Schwäbiſchen Meeres verlebte. Be- 
denkliche Nervenzuftände leiteten eine böfe innere Kriſis ein. Menſchliche Konflikte bedrängten 
ihn: er trennte ſich von feinem Verleger S. Fiſcher; durch Vermittelung Paul Schlenthers fan- 
den ſeine Werke bei Georg Bondi eine neue Heimſtätte. Anderes kam hinzu: das Drama, mehr 
noch bas Theater hatte ihn vielfach enttäufcht, mit Macht zog es ihn zum epiſchen Schaffen. 
Unter dem milden Stern Gottfried Kellers entſtand allerlei Proſaiſches, aber die Kraft reichte 
nicht aus, es blieb Bruchſtüͤck, es blieb liegen. Der Plan zum „Tauſendjährigen Reich“, der hier 
entworfen wurde, war des Dichters Echo auf den magiſchen Lockruf des Theaters, der in feiner 
Beuft nicht verſtummen wollte. Er verließ die Seinen und ſtürmte, von Unraſt gejagt, nach Ber- 
lin, nach Wien. Schließlich brach er ſein Gezelt in Kreuzlingen ab und zog am 14. März 1895 in 
München ein — das ihm nun für immer zweite Heimat wurde. 

Das Tauſend jährige Reich“ war liegen geblieben, wie fo vieles, wie faſt alles aus jener Zeit; 
die Komödie, Lebenswende“ hatte es verdrängt. Ihr gehörte Halbes Arbeit während des Jahres 
1895, und er mochte große Hoffnungen auf dieſes Kreuzweg und Übergangsftüd mit dem neu- 


60 Mar Halbe 


geſchaffnen Litelwort fegen, das gerade zu feinem dreißigſten Geburtstag fertig war. Am 21. Ja- 
nuar wurde die Komödie in Brahms „Deutſchem Theater“ mit Rittner als Ebert, mit Elfe Leh- 
mann, Pauli Eberti, Emanuel Reider zum erſten Male gefpielt — aber die Aufnahme war, 
nach des Dichters eignen Worten, „nur ſo zwiſchen Schlaf und Wachen“. 

Große Niedergeſchlagenheit bemächtigte ſich Halbes, dem ſich, nach jähem Aufſtieg, der dra- 
matiſche Erfolg nun ſchon zum zweiten Male hartnäckig verſagte. Wieder, wie ſchon in Kreuz 
lingen, langte er in dieſer Stimmung nach epiſchen Stoffen, wieder nahm er ſeinen Roman auf, 
wieder brach er ihn ab. War die Zeit ber epiſchen Reife noch nicht gekommen? Man könnte es 
glauben, wäre nicht in jener Zeit eine Novelle entſtanden, die zu dem Beſten zahlt, was Halbes 
Kunſt überhaupt gelang: die Oorfgeſchichte „Frau Mefed, ein wahres, den beiten Vorgängern 
feiner Gattung nicht unebenbürtiges Kabinettſtück der Menſchengeſtaltung, Landſchaftſchilderung 
und Stimmungsmalerei, das denn auch ſofort einen nachhaltigen literariſchen Erfolg einbrachte. 
Und fo ſtark und lebenstrdftig war der Stoffkomplex, der ſich zu dieſer Erzählung verdichtete, daß 
er, unmittelbar nachdem er in Zweig und Blüte geſchoſſen, noch ein zweites Reis emportrieb: den 
Plan zu „Mutter Erde“. 

Freilich kam es nicht ſogleich zur Ausführung dieſes großen Gedankens. Schwere Lungen- 
entzündung warf den Dichter nieder, bange, lebensgefährliche Wochen vergingen, ehe die er- 
loͤſende Kriſe eintrat. Auf einer weiten Reife, nach Italien, ſuchte er Erholung und die Kraft, 
die zur Meifterung des weitſchichtigen Stoffes nötig war. Im Herbſt naͤchſten Jahres, am 
18. September, erſchien „Mutter Erde“ zum erſten Mal auf dem „Oeutſchen Theater“, in einer 
Beſetzung, die einzigdaſtehend und des ſtarken, dramatiſch-lebenskräftigen Werkes würdig war. 
Die Hauptrollen trugen die erften Namen der naturaliſtiſchen Schauſpielkunſt: Elfe Lehmann, 
Rudolf Rittner, Hermann Müller, Paul Biensfeldt, und auch die kleineren Rollen waren fämt- 
lich mit Schaufpielern beſetzt, die nachmals zu Führern einer neuen theatraliſchen Generation 
werden ſollten. Max Reinhardt ſpielte den Inſpektor Zindel. Der Erfolg war groß. 

Aber auch diesmal wollte er Halbe nicht treu bleiben. Als der Dichter übers Jahr ſein erſtes 
hiſtoriſches Schauſpiel, das Renaiſſancedrama „Der Eroberer“, auf die Bühne brachte, gab es 
einen rieſigen Theaterſkandal mit wildgewordenen Parkettbeſuchern, die während der letzten 
drei Akte faſt ununterbrochen ziſchten, johlten, lärmten, wieherten — und einigen Börfianern 
fogar, die vor der Direktionsloge ausfpudten ... 

Doch Halbe erlebte eine raſche Genugtuung. Das Schaufpiel „Die Heimatloſen“, deſſen Idee 
ſich in feinem Hirn noch während der Aufführung des „Eroberers“, im Lärm der hitzigſten 
Theaterſchlacht, geboren hatte, errang in derſelben Spielzeit, auf der ſelben Bühne, vor dem- 
ſelben Publikum einen ſchönen Erfolg. Und das gleiche Jahr — 1899 — ſollte ſich dem Dichter 
noch als beſonders produktiv erweiſen, denn es ſchenkte ihm endlich den großen Wurf des „Tau- 
fendjabrigen Reiches“, das ſchon vor Jahren in Kreuzlingen zum erſten Male über den Horizont 
getaucht war, und deſſen Uraufführung am Hoftheater München — Halbe kehrte nun zum erſten 
Male den Berliner Theatern den Rüden — einen außerordentlichen Erfolg brachte. 

Wieder war Halbe von den epiſchen Zielen, die er ſich geſtellt und zu denen er ſchon einen 
glüdverheigenden Schritt getan hatte, abgedrdngt worden, und noch ein volles Jahrzehnt ſollte 
es bauern, bis er den Weg zu ihnen zurück ſuchte. Ein Jahrzehnt, in dem es „bergauf, bergab, 
im Reifedrang des Strebens“ ging. Das Schauſpiel „Haus Roſenhagen“ fand bei feiner Urauf- 
führung in Dresden großen Beifall und iſt ſeitdem Repertoireftüd der deutſchen Bühnen ge- 
blieben; „Walpurgistag“ wurde ebenbort lau aufgenommen. Der „Strom“, nächſt „Jugend“ 
Halbes bekannteſtes Drama, erneuerte noch einmal den alten Glüdsftern, und fein Erfolg, aus! 
gehend von der Wiener „Hofburg“, ſchuf für den Dichter, innerlich wie äußerlich, eine neue 
Situation. Die ſtark ſatiriſche „Inſel der Seligen“ wurde in München ausgeziſcht, das große 
dramatiſche Gemälde des „Wahren Geſichts“ fand, unter Baron Bergers verſtändnisvo ller Lei- 
tung, im „Deutſchen Schauſpielhaus“ in Hamburg freundliche Aufnahme. Und ſchließlich brachte 


Max Halbe 61 


1908 die Künftler- und Ehekomödie von den „Blauen Bergen“ in Berlin wieder einen unver- 
hohlenen Mißerfolg. Da endlich brach der epiſche Strom, der lang aufgeſtaute, durch — es war 
genau zehn Jahre nach dem „Tauſendjährigen Reich“. 

Dies ganze Jahrzehnt hatte Halbe in München gelebt, wo ſich, beſonders ſeit der Jahrhundert 
wende, um ihn, um den Grafen Eduard von Keyferling und um den eben aus der Parifer Der- 
bannung zurüdgelehrten Frank Wedekind ein ſehr geſchloſſener Kreis geſammelt hatte. Diefe 
drei Männer bildeten damals fo etwas wie einen Dreibund, der in allen künſtleriſchen Dingen 
Münchens eine Art Diktatur ausübte, Alle drei ſtanden zu jener Zeit auf der Sonnenhöhe ihres 
Lebens und in der Vollkraft ihres Schaffens: Keyferling ſchrieb in dieſen Jahren „Oumala“ 
und bie „Abendlichen Häuſer“, er war noch nicht von dem Siechtum befallen, das ihn fo bald an 
die Matratzengruft feffein ſollte, und Wedekind brannte eben das Feuerwerk des „Marquis von 
Keith“ ab. Damals, in dem erſten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende, ging es in Schwabing 
nicht weniger leicht und luſtig her, als in den Tagen, da der junge Student dieſem Capua und 
der Gefahr des Verbummelns entflohen war. Es war bie tolle Zeit der „Elf Scharfrichter“, mit 
denen Halbe enge Verbindung unterhielt; es war die Zeit, da die Schwabinger Runft- und 
Literaturkreiſe ſich nächtlicherweis auf den berühmten Kegelbahnen verfammelten, da Wedekind 
allnachtlich bis zum Morgengrauen in der Torggelſtube zu finden war, da der Faſching mit feinen 
lebens luſtigen Bals Parés in voller Blüte ſtand, die große Zeit des „Simpliziſſimus“, zu deſſen 
Verleger Albert Langen Halbe in jenen Jahren überging. Wie ein Schatten fällt über dieſe Zeit 
ein ſchwerer menſchlicher Konflikt mit Wedekind, der die alte Freundſchaft zerſtörte, und auch, 
als er nach drei Jahren mittels einer etwas künſtlichen Verſöhnung beigelegt wurde, nur ver- 
harſchte, nicht vernarbte. 

1910 erfolgte der epiſche Durchbruch: Halbe ſandte feinen erſten großen Roman hinaus, „Die 
Tat des Dietrich Stobãus“; und feds Jahre fpäter ließ er ihm einen zweiten mit dem Titel 
230” folgen, der fo recht fein Lebensroman geworden iſt. Beide zeigen eine gereifte meiſterliche 
Kraft der Geſichte, der Darſtellung und des Gedankens, wie fie leider nicht überall in gleichem 
Maße in den in der Zwiſchenzeit entſtandenen Dramen — „Der Ring des Gauklers“ und „Frei- 
heit“ — wirkſam ijt. Schuld daran mag wohl fein, daß der Dichter in dieſen Jahren eine lange 
und ſchwere Nerventrife, mit ſchlimmen Zuftänden von Angſt und Verfolgungswahn, durchlebte, 
die nur langſam verebben wollte und, als fie verklang, unmittelbar in den bald nach der Auf- 
führung von „Freiheit“ losbrechenden Krieg mit feinen Sorgen und Schrecken einmündete. So 
ift either Halbes Schaffen, das feinem Werke die Dramen „Schloß Zeitvorbei“, „Hortenfe Ru- 
land“ und die Komödie „Kikeriki“ hingufiigte, ſpärlich und ohne den rechten Segen geweſen. 
Vergeblich harren bis heute die vielen Freunde ſeiner in hohen Auflagen verbreiteten Romane 
darauf, baf er aus problematiſchen Komoͤdienverſuchen den Weg zum Roman zurüͤckfindet, der 
offenſichtlich feinem beſonderen Talent größere und breitere Wirkungsmoͤglichkeiten gibt als das 
Drama und namentlich die Komödie. | 

Denn gerade bie Romane und ein Werk wie „Frau Meſeck zeigen, daß Halbe ein echt deutſcher 
Dichter im umfaſſendſten Sinne des Wortes iſt: kühn in Sturm und Orang, aufrecht in der Ge- 
ſinnung, innig im Gefühl und im Verhältnis zur Mutter Erde, zart in den Naturſtimmungen, 
ſtart im Erklingenlaſſen betörender Lebensmelodie. Den Glauben an die unſichtbaren Schidjals- 
machte, an die Erde, die Liebe, die Jugend und das Glück hat in unferer Zeit kaum ein anderer 
Dichter fo leidenſchaftlich und innig zu verkünden gewußt wie dieſer Sohn der weſtpreußiſchen 
Scholle, deren großes, heute doppelt ſchmerzlich- zeitgemäßes Epos wir noch immer von ihm, 
gerade von ihm erwarten und fordern. 

Hans von Hülſen 


5 Bruno Bauchs Hauptwerk 


er Jenenſer Philoſoph Bruno Bauch hat vor 2 Jahren ein umfangreiches Buch er- 

ſcheinen laſſen, das dem Gebiete der wiſſenſchaftlich-ſyſtematiſchen Philoſophie angehört 
und den Titel „Wahrheit, Wert und Wirklichkeit“ trägt (erſchienen im Verlag von Felix 
Meiner in Leipzig, 1923, VIII., 543 S.). Die große Bedeutung, die dieſem neueſten Werke Prof. 
Bauchs innerhalb der Berdffentlidungen der philoſophiſchen Literatur etwa des letzten Jahr 
zehnts zukommt, rechtfertigt es, wenn wir die Aufmerkſamkeit des im allgemeinen nicht fach; 
philoſophiſch vorgebildeten Leſerkreiſes des Türmers diesmal auf etwas ſchwierige und ab- 
ſtrakte Gedankengänge hinlenken. 

Auf Grund des Titels könnte es den Anſchein gewinnen, als ob es ſich in dem vorliegenden 
Buche um die Darftellung der drei in der Überſchrift bezeichneten ſpeziellen philoſophiſchen 
Probleme handelte. In der Tat ſtehen die Wahrheitsfrage, die Wertfrage und das Wirklichkeits⸗ 
problem im Mittelpunkt der Unterfuchungen. Wie es aber in der Philoſophie ſtreng genommen 
überhaupt keine Sonderprobleme gibt, ſondern jedes Sonderproblem in den Gefamtzufammen- 
hang des Syſtemganzen hineingeflochten iſt und nur von dieſem aus Sinn und Bedeutung und 
feine Löſung erfahren kann (im Gegenſatz zu den empiriſchen Wiſſenſchaften, in denen ſich 
Einzelprobleme ſehr viel leichter geſondert behandeln laſſen), fo hat auch der Verfaſſer mit der 
Herausitellung dieſer drei Problemkomplexe nichts anderes liefern wollen und können als 
Bauſteine zur Errichtung eines ſyſtematiſchen Ganzen. Er hätte ſein Werk daher mit vollem 
Recht einen Syſtemverſuch nennen können, ſofern das philoſophiſche Syſtem Vorausſetzung 
und Ziel all feiner Unterfuchungen ift in dem Sinne, wie er ſelbſt zwiſchen hiſtoriſch in die Er- 
ſcheinung tretenden Syſtemverſuchen und dem dieſen objektiv zugrunde liegenden Spftem- 
ganzen der Philoſophie unterſcheidet. 

Das philoſophiſche Syſtem iſt ein lebendiger Organismus, ein Gebilde von Fleiſch und 
Blut, von Knochen und Muskeln, und vor allem mit einem Herzen, welches das Ganze durch- 
waltet und durchpulſt. Dadurch unterſcheidet es ſich von dem bloßen Aggregat beliebig zufammen- 
geſetzter Anſichten, aus dem man ohne Schaden einen Teil herausnehmen und einen anderen 
dafür einſetzen kann. Bauchs Werk ift ein Syſtem von echtem Schrot und Korn, einheitlich und 
organiſch geſchaut und gedacht; man fühlt den Pulsſchlag des Herzens und die volle Hingebung 
der Seele nicht nur in feinen zentral gelegenen Teilen, ſondern bis in die peripheriſchen Aus- 
wirkungen und Ausſtrahlungen hinein. 

Was alſo die hiſtoriſche Orientierung angeht, ſo muß zuvor noch auf einen prinzipiellen Punkt 
bingewiefen werden. Er betrifft die Kontinuität der geſchichtlichen Entwicklung, den Fort- 
ſchritt des philoſophiſchen Gedankens von Syſtem zu Syſtem. Auch hierüber finden ſich in 
dem Werke ſehr wertvolle und treffende Bemerkungen. Man hat die geſamte Philofophie- 
geſchichte gelegentlich mit einem großen Friedhof verglichen, auf dem ſich ein Syſtemgrab an 
das andere reiht, und man ftößt oft auf die ebenſo irrige wie weitverbreitete Anſicht, daß jeder 
Denker eigentlich ganz von vorne anfangen müſſe, wenn er ſein Syſtem errichtet, daß jeder 
Syſtematiker gleichſam in einem ſelbſtgezimmerten Gehäuſe ſitze, aus dem er nicht mehr heraus 
könne und das ihn von jeder Berührung mit der Außenwelt abfperre. Solche Meinungen münden 
dann meiſt in völligen Skeptizismus aus, in radikalen Zweifel daran, ob die Philoſophie über 
haupt einen Sinn und eine Exiſtenzberechtigung habe. Daß dieſe Anſicht völlig verfehlt iſt und 
als ſolche von jedem erkannt werden muß, der einmal tiefer in die Problemzuſammenhänge 
der Geſchichte der Philoſophie eingedrungen iſt, dafür liefert gerade Prof. Bauchs vortreff 
liches Buch den beſten Gegenbeweis. Auch die Philoſophie iſt und ſoll nichts anderes ſein als 
ſtrenge und ernſte wiſſenſchaftliche Arbeit, die in einem kontinuierlichen Zuſammenhang 
ſteht, wo ein Problem das andere aus ſich hervortreibt und ein Forſcher da weiterarbeitet, wo 
der andere aufgehört hat. So gibt es in der Philoſophie ebenſo einen Fortſchritt wie in den 
beſonderen Wiſſenſchaften, wenn dieſer auch nicht ſo ſichtbar und handgreiflich in die Erſcheinung 


Sruno Bauchs Hauptwerk | 63 


tritt und burch häufigere Rüdichläge und Seitenſprünge gehemmt und aus der geraden Bahn 
herausgeworfen zu ſein ſcheint. Dies kann nicht anders ſein, wenn man unter Philoſophie wie 
Kant, Hegel und ber Verfaſſer unſeres Buches nicht ein fertiges, zu irgend einer Zeit abgefchloffe- 
nes und zu Ende gekommenes Gebilde, ſondern eine Aufgabe und ein Ziel verſteht, eine zu 
erfüllende Zdee, der alle wirkliche, von Menſchen erdachte Philoſophie ſtets nachzuſtreben, 
von ber fie jeweils ein Stuͤck an ſich zu reißen hat, damit dem Ziel wohl näher zu kommen, es 
aber nie ganz zu erreichen vermag. 
Von hier aus geſehen bedeutet es nun ſicherlich keine Schmälerung und Herabſetzung der 
durchaus originalen und ſelbſtändigen Leiſtung des Verfaſſers, ſondern vielmehr gerade die 
hoͤchſte Anerkennung derſelben als ſolcher, wenn wir jagen, daß hier im Anſchluß und unter 
voller Berüdfihtigung und Verarbeitung des bisher im Rahmen des kantiſchen und neukantiſchen 
Denkens Geleiſteten ein wirklicher Fortſchritt über dieſes hinaus erzielt worden iſt; hier iſt die 
Kontinuität mit dem bisher Vorhandenen im beſten Sinne gewahrt und gerade deshalb iſt die 
wiſſenſchaftlich- philoſophiſche Arbeit durch dieſes Buch um ein gutes Stück vorwärts gekommen. 
Geſchichtlich aber fügen ſich die Unterfuchungen des Verfaſſers ganz allgemein in den weiten 
Rahmen ein, den wir kantiſche oder Tranſzendental-Philoſophie nennen. Das ſchließt 
nicht aus, daß auch wichtige Gedanken der griechiſchen Philoſophie, beſonders Platons, weiter- 
gebildet und nach ihrem Durchgang durch den tranſzendentalen Grundgedanken und im Sinne 
dieſes neu bearbeitet und fortgeführt werden; das ſchließt ferner nicht aus, daß auch Hegel 
hier in irgend einer Weiſe aufgearbeitet iſt, weniger vielleicht durch unmittelbaren Anſchluß an 
ſeine Problemſtellungen als in der allgemeinen philoſophiſchen Einſtellung überhaupt und 
der methodifden Behandlung dieſer Probleme. Daruber wird fpäter noch zu reden fein. Inner; 
halb des Neukantianismus ſteht Prof. Bauch der ſüdweſtdeutſchen Schule am nächſten, 
was durch die Widmung des Werkes an Heinrich Rickert, den derzeitigen Führer dieſer Schule, 
ſchon äußerlih zum Ausdruck kommt; aber auch von Lotze, dem dieſe Schule vieles verdankt, 
{paren wir ftarfe Einflüffe, und ſchließlich ſtimmt der Verfaſſer in weſentlichen Punkten mit 
Sedanken der Marburger Schule, alſo vor allem Hermann Cohens, überein. Gerade 
dieſes Letztere ſcheint mir von beſonderer Wichtigkeit zu fein; es dürfte viel dazu beitragen, 
dieſe beiden im Vordergrund ſtehenden neukantiſchen Schulen einander anzunähern und damit 
zu gemeinſchaftlicher Arbeit zuſammenzuſchließen. Inſofern trifft ein lange vor dem Erſcheinen 
dieſes Werkes geſchriebenes Wort Riderts auch heute noch den Nagel auf den Kopf, welches 
ſagt: „Bruno Bauch zeigt, daß ſich Marburger Anregungen ſehr gut mit ſüdweſtdeutſchem 
Denken vereinigen laſſen“. Aber es kann ſich bei der Aufzeigung derjenigen philoſophiſchen 
Richtungen und Strömungen, an die des Verfaſſers Werk mittelbar oder unmittelbar anknüpft, 
wie noch einmal beſonders hervorgehoben ſei, nicht um mechaniſch zuſammengeleſene Beftand- 
teile aus verſchiedenen Syſtemen, alſo um ſo etwas wie einen eklektiſchen Synkretismus, handeln, 
ſondern wir haben es hier mit einem ſtreng in ſich geſchloſſenen, wertvolle Gedanken verſchiedener 
Schulen zuſammenſchweißenden, aus einem einheitlichen Grundprinzip organiſch entwickelten 
Syftenwerſuch zu tun oder zum mindeſtens doch mit den forgfdltig und gewiſſenhaft aufge- 
führten Grundmauern zu einem ſolchen. Denn daß hier drei zentrale, mit dem Ganzen des 
Eyſtems innig verſchlungene Problemzuſammenhänge herausgegriffen und nicht in ihrer 
Seſondertheit, ſondern vor allem in ihrer durchgängigen Bezogenheit aufeinander und auf das 
Ganze bargeſtellt werden, darin liegt die in hohem Maße ſyſtembildende Kraft dieſes Werkes 
bereits beſchloſſen. Wir haben es aber hier nicht mit einem vollabgerundeten Syſtemgehauſe 
zu tun, in dem ſich ſicher und bequem wohnen läßt, alſo nicht mit letzten und endgültigen Feit- 
legungen, ſondern der Charakter dieſes Syſtemverſuchs beſteht gerade darin, daß er der weiteren 
philoſophiſch-wiſſenſchaftlichen Arbeit vollen Spielraum läßt, überall die Tore künftiger For- 
ſchung weit offen hält und ſomit ſtreng genommen kein geſchloſſenes, ſondern ein „offenes 
Syſt em“ im Sinne Rickerts iſt. 


64 Bruno Bauchs Hauptwert 


Daß der Verfaſſer nicht einſeitg auf eine ganz beſtimmte Schule oder Richtung feſtgelegt ift, 
darin ſehen wir die beſondere Stärke feiner Poſition. Dies ſoll im folgenden kurz gezeigt werben, 
indem wir aus der Fülle der behandelten Probleme und Fragen nur einige beſonders fruchtbare 
und bedeutſame herausgreifen. 

An den Unterſuchungen über das Problem der Wirklichkeit laſſen ſich Methode und Be- 
handlungsweiſe des Verfaſſers beſonders deutlich aufzeigen. Die Empfindung iſt zunächſt das 
wichtigſte Wirklichkeitskriterium, ſofern fie dasjenige Element im Problem des Erkennens 
bildet, das uns in irgend einer Weiſe auf den wirklichen Gegenſtand hinweiſt, uns mit dieſem in 
Beziehung ſetzt. Davon aber, daß der reine Senſualismus dieſes Problem in ſeiner ganzen 
Komplexheit und Verſchlungenheit löſen könnte, kann allerdings nicht die Rede fein. Der Emp- 
findung kommt lediglich die Aufgabe der beſonders deutlichen Stellung und Aufzeigung des 
Problems zu. Sie gibt gleichſam nur den erſten Anſtoß dazu, daß das Wirklichkeitsproblem ein; 
mal in ſeiner ganzen Problemhaftigkeit überhaupt geſehen werden kann. Und daß die Probleme 
als Probleme überhaupt richtig geſehen und geſtellt werden, damit iſt gegenüber der Problem; 
blindheit zahlreicher Richtungen der gegenwärtigen Philoſophie ſchon viel genommen. Philo- 
ſophie ift eben ſchließlich nichts anderes als die Schärfung des Blicks für die Problematik des 
Seins, als das Sichtbarwerden von Problemen und Problemzuſammenhängen, an denen das 
naive Denken und z. T. ſogar die Einzelwiſſenſchaften mit gutem Recht ſorglos vorübergehen. 
Bei der Empfindung können wir alſo nicht ſtehen bleiben. Die Wirklichkeit iſt vielmehr mit 
dem objektiven Geltungszuſammenhang der Wahrheit ſelbſt unlöslich verbunden. Und gerade 
weil fie vom ſubjektiven Denken des Individuums unabhängig iſt, ihm gegenſtändlich gegen · 
überfteht, muß fie vom objektiven Denken ihre Geltung empfangen, um überhaupt wirklich 
fein zu können. So wenig fie mit der Wahrheit ſelbſt zufammenfällt, fo iſt fie doch nichts ohne 
und außerhalb der logiſchen Geltung der Wahrheit. Sie iſt ſelbſt nichts anderes als eine tate- 
goriale Geltungsform, die das Wirkliche als ihr Material in ſich einbezieht und damit dem Herr 
ſchaftsbereich des Logos unterwirft. Schon hier finden wir eine bedeutſame Abweichung von 
der ſüdweſtdeutſchen Schule eines Rickert und Laſk, die ein Wirkliches, Empfindungshaltiges, 
bloß Gegebenes, alfo einen irrationalen, von der Ratio nicht umſchloſſenen Faktor außerhalb 
des theoretiſchen Geltungsbereichs ſtehen laſſen und ſomit eine Sphäre irrationaler Geltungs- 
ſtruktur prinzipiell anerkennen. Und zugleich ſehen wir, wie das Wirklichkeitsproblem mit dem 
Wahrheitsproblem unlöslich verbunden iſt und ohne dasſelbe nicht einmal als Problem ſichtbar 
wird, geſchweige denn einer Löſung entgegengeführt werden kann. 

Dieſer Abſchnitt iſt beſonders charakteriſtiſch für die bohrende Tiefe des Gedankens, die dem 
Verfaſſer eigen iſt. Nichts wird hier einfach hingenommen; in immer tiefere Schichten gräbt die 
Pflugſchar des Denkens hinunter, immer weiteres Erdreich wühlt ſie auf. Wo ein neuer Begriff 
auftaucht, wird er alsbald wieder in den Schmelztiegel der Problemhaftigkeit hineingeworfen 
und darin von neuem aufzulöfen verſucht, nur um eine neue, tiefere Problemſtellung aus ſich 
herauszutreiben. Manchmal wird an einem Punkte der Unterſuchung eine ſcheinbare Löſung 
erreicht, aber alsbald zeigt ſich auch fie für den weiteren Fortgang als unzulänglich, ſtellt {ich 
heraus, daß hier zwar ein Problem als Problem geftellt, aber noch keine Löſ ung ge funden if. 
Ein Seilproblem kann losgelöft von den letzten Zuſammenhängen des Syſtems allenfalls 
eine vorläufige Löfung finden. Die endgültige Löſung offenbart ſich erſt, wenn das Ganze des 
Syſtems ſichtbar wird. „Die Wahrheit iſt das Ganze“, jo drückt Hegel dieſen Gedanken aua, 
und daran werden wir in den vorliegenden Unterſuchungen ſtändig erinnert. Und ſo ergibt 
ſich weiter, daß das Wahrheitsproblem mit dem Geltungsproblem in enger Beziehung 
ſteht, und dieſes wiederum mit dem Wertproblem. Daher bietet erſt der 4. und letzte Tell des 
Buches Ausblicke in diejenigen Regionen des philoſophiſchen Syſtemganzen, in denen die 
einzelnen Probleme wie die Töne einer Melodie oder eines Akkordes zuſammenklingen und 
ſomit erſt auf dieſer zuletzt erreichten Stufe ihrer Auflöſung entgegengehen. Hier kündigt ſich 


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Samo Bauche Hauptwerk 65 


auch das an, was id den „metaphyſiſchen“ Grundgedanken dieſes Werkes nennen möchte, fo 
wenig auch ſonſt von Metaphyſik die Rede iſt, der Gedanke nämlich von dem alles durch; 
dringenden Logos, aus dem die Wirklichkeit zeitlos entſprungen iſt und dem ſie als Ziel ihrer 
zeitlichen Exiſteng wiederum zuſtrebt. Leider konnte gerade dieſer letzte Abſchnitt nur noch 
ftiggenbaft ausgeführt werden; aber auch dies hängt ſicherlich mit der Selbſtbeſcheidung und 
vornehmen Zurückhaltung des Verfaſſers zuſammen, die nur zaghaft und mit einer gewiſſen 
Scheu an die letzten Dinge rührt. 

Der 2. Teil beſchäftigt ſich mit den fundamentalen Strukturformen der Wahrheit und 
gibt eine bis ins Einzelne ausgeführte Urteils- und Begriffstheorie; dieſer Abſchnitt be- 
handelt alſo das eigentliche Gebiet der Logik. Wenn man heute noch in weiten Kreiſen unter 
Logik nichts anderes verſteht als die traditionelle formale Logik mit ihrer Lehre vom Begriff, 
dom Urteil und vom Schluß, die von Ariſtoteles ihren Ausgang genommen und von der 
Rant geſagt hat, fie habe bis auf feine Zeit nicht den geringſten Fortſchritt über Ariſtoteles 
bnaus gemacht, fo zeigen dieſe grundlegenden und ganz neue Ausblicke eröffnenden Unter- 
ſuchungen, welche ungeheuren Fortſchritte gerade auf dieſem Gebiet die wiſſenſchaftliche Philo- 
ſophie ſeit Kant in ſteter, zäher und unermüdlicher Arbeit gemacht hat. Wir ſtehen nicht an zu 
behaupten, daß die Einſichten, die der Verfaſſer über die logiſche Struktur des Urteils und vor 
allem des Begriffs gewinnt, zum Bedeutendſten, Tiefſten und Originellſten gehören, was 
ſeit Hegels Logik in der philoſophiſchen Literatur zu Tage getreten iſt. 

Der 3. Teil behandelt Fragen der Wiſſenſchafts- und Methodenlehre und ſchließt ſich 
enger an die bekannten Unterſuchungen Riderts über die Methodologie der Wiſſenſchafts⸗ 
ftrutturen an. Aber auch hier ſteht der Verfaſſer durchaus ſelbſtändig den ſchon zur Genüge 
behandelten Problemen gegenüber, und wenn er in den Ergebniſſen in vielem mit feinem Lehrer 
übereinftimmt, fo gelingen ihm doch oft überrafchend neue und eigenartige Begründungen. 
So wird z. B. der vielumſtrittene Gedanke der Wertbeziehung durch die ſcharfen, vielfach 
über Ridert hinausgehenden feinen und feinſten logiſchen Unterſcheidungen m. E. bedeutend 
geſtärkt und vertieft und die noch ſchwankende und oft mißverſtandene Poſition Riderts damit 
weſentlich befeſtigt. Grundfaglid trifft gerade hier das oben erwähnte Wort Riderts zu: mit 
der Marburger Schule verbindet den Verfaſſer der ſtreng durchgeführte Methodenmonismus, 
die ſcharfe Herausarbeitung der Einheit aller wiſſenſchaftlichen Methode und Methodenſtruktur 
aus der übergreifenden Geſetzlichkeit des Logos ſelbſt, von der die Naturgeſetzlichkeit der exakten 
Wiſſenſchaften und die Wertgeſetzlichkeit der Geſchichts- und Geiſteswiſſenſchaften nur beſondere 
Fälle find. Daß hiermit die neuen und fruchtbaren methodologiſchen Gedanken der ſüdweſt⸗ 
deutſchen Schule voll vereinbar ſind, das beweiſt das tiefe Verſtändnis, mit dem der Verfaſſer 
in die logiſche Struktur der Geſchichte als der zum Beſonderen divergierenden, von allgemeinen 
Momenten aber ebenſoſehr wie die Natur durchdrungenen Wiſſenſchaft der Wertgeſetzlichkeit 
bineinblidt. Damit überwindet er einerſeits den ſchroffen Methodendualismus Riderts, 
beſſen allzuſcharfe logiſche Grenzabſteckungen dem wirklichen Wiſſenſchaftsbetrieb nicht gerecht 
zu werden vermögen, andererſeits die an der Mathematik und den mathematiſchen Naturwiffen- 
ſchaften allzu einſeitig orientierten Gedanken Cohens und der Marburger, für welche eine 
große Wiſſenſchaftsgruppe, nämlich die Geiſteswiſſenſchaften, überhaupt noch nicht für die 
methodologiſch- philoſophiſche Beſinnung reif geworden war. 

Diefe Überwindung iſt aber nicht eine Negierung der wertvollen Gedanken, an die der Ver- 
faſſer anknuͤpft, fondern eine „Aufhebung“ im Hegelſchen Sinn der Aufbewahrung in einer 
höheren Syntheſe. Und damit kommen wir zu dem, was wir am beiten als das ſpezifiſch Hegel 
ſche Moment in der Grundeinſtellung des Verfaſſers bezeichnen möchten. Kant hat das Ge- 
{aft der Kritik, d. h. des Analyſierens, Scheidens, Abſteckens der Grenzen und Bezirke vielleicht 
etwas zu gründlich betrieben und nicht immer den Weg zum Zuſammenſchluß der fo getrennten 


Glieder und Momente zurüdgefunden. Der philoſophiſche Srundzug Hegels dagegen, des 
der Türmer XXVI, 1 5 


66 eberhard Ege 


größten Syſtematiſators in der Geſchichte des Denkens, liegt darin, daß er überall zur Ver- 
einigung, zum ſynthetiſchen Zuſammenſchluß des vom Verſtande Getrennten und Zfolierten 
weitergeſchritten iſt. Ohne die analytiſche Vorarbeit Kants wäre dies nicht möglich geweſen; 
erſt nachdem das Verſtandesdenken ſeine Arbeit geleiſtet hatte, konnte das Vernunftdenken zur 
Syntheſe emporfteigen. Ein ſolch Hegelſcher Grundzug liegt nun m. E. auch den Unterſuchungen 
dieſes Werkes durchgängig zugrunde. Überall werden Gegenſätze und Alternativen ausgeglichen 
und verſöhnt, überall wird nach der über- und umgreifenden Einheit geſtrebt, überall die zunächſt 
gegeneinander iſolierten Momente und Faktoren wieder in einem höheren Begriff gufammen- 
geſchaut und vereinigt. Inſofern wird man des öfteren an die dialektiſche Methode erinnert. 
Wir können dies an einem Beiſpiel kurz zeigen. Einer der prachtvollſten Abſchnitte iſt der über 
Rationalität und Irrationalität, ein wahrhaftes Meiſterſtück tiefdringender Denkanalyſe. 
Während gewöhnlich das Rationale und das Irrationale als zwei ſich ausſchließende Bezirke 
ſchroff einander gegeniibergeftellt werden, wird hier ein Begriff des Frrationalen gefunden, 
der die Alternative rational- irrational übergreift und auch das Irrationale in die möglichſt 
weit gefaßte Nationalität mit hineinbezieht. Ein ſchlechthin Irrationales, das gleichſam von 
aller Vernunft verlaſſen wäre, iſt undenkbar; auch das Irrationale muß noch der Ratio als 
dem Inbegriff der Möglichkeitsbedingungen des Oenkbaren irgendwie unterſtehen. Es iſt zwar 
nicht, wie Hegel ſagt, ſelbſt vernünftig, wohl aber vernunftbedingt. 

Damit iſt der Standpunkt des Hegelſchen Panlogismus oder, wie Laſk es nennt, der 
Panarchie des Logos gewonnen, und der Begriff, deſſen Allgemeinheit die unendliche 
Allgemeinheit iſt, iſt eben der Hegelſche Begriff, fo ſehr auch der Verfaſſer den Gedanken des 
konkreten Begriffs abweiſt und an deſſen Stelle den das Konkrete beſtimmenden konkreſzenten 
Begriff ſetzt. Damit ſoll der tiefliegende Unterſchied der beiden Begriffslehren nicht verwiſcht 
werden, und es ſoll nicht gejagt fein, daß hier der Hegelianismus in irgend einer Form ein- 
fach erneuert iſt, wohl aber, daß wichtige und grundlegende Gedanken in der Richtung nach 
dieſem hin tendieren. Und damit tritt auch die Philoſophie Bruno Bauchs in jenen umfaſſenden 
problemgeſchichtlichen Zuſammenhang ein, der heute bereits bei einer Mehrzahl von Denkern 
ſichtbar wird, in jenen Zuſammenhang, in dem das Geiſtesgut Kants und Hegels in irgend 
einer Weiſe ſich vermählt und damit vielleicht einer neuen Epoche der Philoſophie den Anſtoß 
gibt. Dieſe Vermählung Kantiſchen und Hegelſchen Geiſtes, nicht ihrer zeitlich bedingten 
Lehren, ſcheint uns, wenn wir die Zeichen der Zeit richtig deuten, das wichtigſte Ferment in 
der kommenden philoſophiſchen Entwicklung zu ſein. Wir glaubten es auch am Grunde der 
Syſtematik des Verfaſſers, wie fie in „Wahrheit, Wert und Wirklichkeit“ zum Durchbruch ge- 
kommen iſt, deutlich zu erkennen, und deshalb bezeichnen wir dieſes Werk als im beſten Sinne 
epochemachend, d. h. als in eine philoſophiſche Zukunft weiſend, in der Vergangenheit und 
Gegenwart zu neuem Leben auferſtehen werden. Dr. Rudolf Metz 


Eberhard Ege 


talien hat Herrn Profeſſor Ege die ſchöne Villeggiatur, die er vorm Kriege in Vicovaro beſaß, 

wieder zurückgegeben. Die „Reſtitution“ beſchlagnahmten Privateigentums iſt eins der 
triibjten Nachkriegs kapitel. Das edle Amerika gibt wohl die Beſchlagnahme im kleinen frei, behält 
aber von den feit 1917 aufgelaufenen Erträgen 75 Prozent als Proviſion zurück! 

Wenn es Ege in dieſer Beziehung italieniſcherſeits gut ergangen iſt, ſo liegt das nicht etwa 
an einer vornehmeren Geſinnung der Regierung dieſes Landes, ſondern an der Erinnerung, daß 
man dort Ege ſehr viel verdankt, und an der Hoffnung, ihm, nach ſeiner Rückkehr in das alte 
Heim, noch mehr verdanken zu können. 


Eberhard Ege 67 


Ege hat in der weiteren Umgebung von Vicovaro, dann auch im Neapolitaniſchen, in aller 
Stille manche archaologiſchen Studien gemacht, manches alte Wertftüd entdeckt und der Negie- 
tung erhalten, das ohne ihn vom Baͤuerlein oder Pfäfflein heimlich entfernt und über die Grenze 
verkauft worden wär.. 

Das wird wohl der Grund fein, warum man ſich — nicht großmütig, ſondern einiger“ 
maßen — anſtändig gegen ihn zeigt, jedenfalls es ihm ermöglicht, fortan wieder die Hälfte des 
Jahres dort zu leben und zu ſchaffen, wohin ihn fein Küͤnſtlerſchickſal nun einmal verſchlagen 
hatte. 

Auch in unſeren Tagen find die Romfahrer unter den deutſchen Rünftlern nicht ausgeſtorben — 
ich erinnere nur an Greiner. Ege hat, wahrſcheinlich ohne es gerade zu ſuchen, dort den Nährboden 
gefunden für mindeſtens die größere Hälfte feiner beſten Schaffensjahre. 

Unbeſchadet mancher Figurenbilder, die er geſchaffen hat, und zahlreicher Bildniſſe, zu denen 
er ſich hat bequemen müffen, iſt Profeſſor Ege mit ganzem Herzen doch nur Landſchafter geweſen. 
Vor etwa zwanzig Jahren, kurz nachdem er ſich in Ztalien niedergelaſſen hatte, mag ihm eine 
Neubele bung der heroiſchen Landſchaft vorgeſchwebt haben. Damals ſtand fie nicht eben hoch im 
Anſehen. Aber unſer Geſchlecht erkennt ja in äſthetiſchen Dingen als höchſten Satz nur das 
„variatio delectat“ an, und in bem tollen Taumel, der uns Schlag auf Schlag von einer „Wahren 
Liebe zur anderen geführt hat, hat ſich das erneute Verſtändnis für die heroiſche Landſchaft 
langſt wieder eingeſtellt. 

Daß wir dieſes überhaupt verloren, liegt an dem Treiben der letzten Vertreter dieſer Gattung. 
Das waren Meiſter in der Art des Joſeph Anton Koch, der in den ſchweren Zeitläuften, unter 
denen er aufgewachſen war, nicht zur rechten Erkenntnis ſeines eigenen Gefühls gelangte. 
Seinem Anlauf zur groß geſehenen Form und zur monumentalen Linie tut immer wieder der 
nicht unterdrückbare romantiſche Hang Abbruch, den er von feinen Zeitgenoſſen übernimmt. So 
ſtellt ſich eine Zwitterform ein, bei der Nleinliches, Maleriſches in ſtetem Widerſtreit mit Großen, 
Maſtiſch-Zeichneriſchem liegt. Der ganze geiſtige Rampf des Tages ſchiebt die Nünſtler auf ein 
falſches Gleis. Sie mißachten — gerade wie es unſere Jüngſten heutzutage taten und zum Teil 
noch tun — das Handwerkliche zugunſten des Gedanklichen. So haben die Meiſter der heroiſchen 
Landſchaft dieſer Epoche uns die Freude an ihr verleidet, weil in ihrem Werk vielleicht am aller; 
ſtärkſten der klaffende Zwieſpalt zwiſchen Wollen und Können auffällt. 

Aber es gibt die alte, wahrhaft ideale, heroiſche Landſchaft des Nicolas Pouſſin: gerade an die 
haben wir ja wieder den Anſchluß zu finden vermocht. 

Es war auch nicht einzuſehen, warum damals, als Ege das Problem aufgriff, ein Erfolg nicht 
zu erzielen geweſen wäre. Trotzdem die naturaliſtiſche, impreſſioniſtiſch aufgefaßte Naturdar⸗ 
ftellung foeben einen gewaltigen Sieg errungen hatte, war dadurch eine Entwicklungsrichtung 
auf unabſehbare Zeit doch keinesfalls feſtgelegt. Ja, nicht nur die große Fläche, die ſcharfe, klare 
Weite, die edle Linie konnte einer wagen, wieder vorzuführen, es wäre nicht allzukühn geweſen, 
wenn er ſich vermeſſen hätte, erneut mit Mythologie und Allegorie als Staffage zu kommen. 
Veil eben die Welt am Auf und Ab, am ewigen Wechſel ihr Vergnügen findet. 

Ege hat ſich zu feinen Zwecken nicht nur an eine aſthetiſch-klaſſiſche Auffaſſung gewagt, ſondern 
fic auch auf hiſtoriſch-klaſſiſchen Boden begeben. Die große Landſchaft „An Homeriſchen Ge- 
ſtaden“ iſt wohl die bedeutſamſte Probe dieſer Beſtrebung. Noch drängt ſich das Literariſche oder 
rein Außerlich-Gedankliche nicht an das Licht des Tags. Um das Jahr 1903, in dem das Bild 
entſtanden ift, war man doch noch zu ſehr an die Forderungen des Realismus gewöhnt, als daß 
ein ernſthafter Maler es hätte wagen dürfen, uns das Begräbnis der Amme des Aeneas etwa 
oder das Verſinken feines ſchlaftrunkenen Lotſen im Tyrrheniſchen Meer aufzutiſchen. So er- 
blicken wir, ftatt einer Staffage aus der Aeneis, hier an deren hoͤchſt eigentlichen Stätte, nur ein 
kam paniſches Rind, das, nebenbei gefagt, allein ſchon durch die Ungewohntheit feiner Erſcheinung 
uns leiſe an die Antike gemahnt. 


68 berhard Ege 


Diele Fabre fpdter nahm Profeſſor Ege nochmals bie heroiſche Landſchaft auf. Es handelt ſich 
faft um dieſelbe Kuͤſtenſtrecke, die Gegend in der Nähe des Raps Palinuro ſüͤdlich von Neapel. 
Aber dieſes Mal ſteht in der vergiliſchen Hochebene die klaſſiſche Staffage in Geſtalt eines „Paris 
urteils“. 

Man kann das Bild nicht ganz verſtehen, wenn man nichts von einer Eigenheit des Landſtrichs 
weiß. Oort gibt es gegen Abend, nach ſchon eingetretener Dämmerung, eine Art merkwürdigen 
Rückfalls in ein Leuchten, das ſich einigermaßen mit dem wahren, echten Alpenglühen vergleichen 
läßt. Schon iſt die Dunkelheit auf das Land gefallen, da glänzt der Himmel nochmals kurz in 
ſilbrigem Schein auf. Es ijt, als ob dieſer vom Abendſtern, von der Venus ausſtrahle. Hieran 
knũpft der Kuͤnſtler in feinem Werk. Die edle, großzügige Landſchaft liegt vor uns in gedämpften, 
von keinen unmittelbaren Gonnenftrablen geftügten Tönen, aus denen die Haut der Liebes 
göttin wie Perlmutter hervorſchimmert. Der Stern an ihrer Stirn wird wenigſtens den Kun- 
digen ſogleich auf die Anſpielung leiten. Maleriſch belebt wird die Aufgabe noch durch den Gegen; 
fat dieſer Geftalt mit dem ſtrotzend prächtigen Goldton des Rarnats der Hera und dem kũhl neu- 
tralen Fleiſch der Pallas. 

Bei der Wichtigkeit der Figuren — ſie ſind etwas über lebensgroß — treten dieſe ſo hervor, 
daß das ganze Bild nun nicht mehr den Charatker einer ftaffierten, heroiſchen Landſchaft behält, 
ſondern eines „Parisurteils“ mit etwas hervorgehobenem landſchaftlichem Hintergrund, zumal 
in der Wiedergabe, bei der das Regelnde der Farbengebung wegfällt. 

Schon um die Zeit des Homeriſchen Geſtadebildes pflegte Ege aber die Landſchaft auch in 
einem anderen Geiſt, der derjenige werden ſollte, in dem ſeine ſchönſten Werke geſchaffen worden 
ſind. Seinerzeit ſah ich zum erſtenmal mit Entzücken das Gemälde „Abend in einer römiſchen 
Villa“: nun, da ich es nach Jahren wiedergeſehen, hat es ſogar einen noch viel größeren Eindruck 
auf mich gemacht. Es iſt die klangreichſte und ſatteſte Symphonie in Grün, die ich kenne. Mit 
einem beſonderen Feingefühl für die Reize der Gartenbaukunſt iſt der Ausſchnitt ſo gewählt, 
daß er das Anheimelnde, Lauſchige des Baſſins mit ſeiner verwitterten Baluſtradeneinfaſſung, 
inmitten der prächtigſten Bäume, die ſich rückwärts den ſteilen Abhang hinunterziehen, fefthalt. 
Die glühendften Strahlen einer ſinkenden Sonne prallen voll auf die Rüdfeite der Hauptbaum- 
gruppe, fo bak uns durch deren vorderes Laub hindurch ein fabelhaft leuchtendes Rot-Goldlicht 
entgegenfunkelt. Je nach der Art des Baums und der Lage der nicht mehr unmittelbar von der 
Sonne beſchienenen Blätter, wogt uns eine unendlich reiche Abſtufung von fein abgetönten 
Srünen entgegen. Das Gemälde iſt ein koloriſtiſches Prachtſtuck, bei dem die Geiſtigkeit des Vor 
trags dem blendend erfaßten und ausgeſtalteten Farben problem das Gleichgewicht hält. 

Dieſes nun, die Freude an der berauſchenden Farbigkeit, iſt der eigentliche Ausgangspunkt der 
ferneren Landſchaftsmalerei unſeres Meiſters. 

Wenn man fo etwas lieſt, denkt ein jeder an Fortuny, Roffetti, Moreau, Unger und ähnliche 
Künſtler, vor allen an Böcklin. Wie verſchieden iſt deren Kolorismus untereinander, und keinem 
einzigen unter ihnen gleicht Ege! Seine Farbe erfüllt ihn ſo tief und ſtark wie irgendeinen, und 
doch wüßte ich niemanden, bei dem ſie ſich ſo ungezwungen, ſo unprogrammatiſch gäbe, wie bei 
unſerem Künſtler. Für Böcklin iſt die Natur eine Stütze nur inſoweit, als unbedingt notwendig iſt; 
für Ege bleibt ſie immer die unumwundene Gebieterin. Vor einem Gemälde des erſteren hat 
man ſtets den Eindruck, daß er in Farbe denkt; bei letzterem, daß er in Farbe ſieht. Es iſt, als ob 
er es vermöge, einen dämpfenden Schleier, der auf allem ſitzt, hinwegzuziehen. Was unferem 
Auge gebrochen erſcheint, verſteht er rein zu ſehen ! So bleibt bei ihm was blau iſt blau, was grün 
grün, was rot rot. Aber die urſprüngliche Farbigkeit wird gleichſam geſteigert, und was uns 
ſelbſt in der Wirklichkeit mehr oder minder trüb erſcheint, wird in ſeinem Kunſtwerk zu einem 
leuchtenden Leben gebracht. . 

In dieſem Geiſte hat Ege viele Motive aus der engeren und weiteren Umgebung von Vicovaro 
in der Nachbarſchaft Roms — wo er ſich niederließ — und an der geliebten ſüdlichen Wefttafte 


&berhard Ege 69 


dtaliens gemalt; dann, als der Krieg ihn aus feinem ſchönen Beſitztum vertrieb, ſolche an ver⸗ 
ſchiedenen Stellen der Donau, des Allgäu und des Bodenſees. 

Von der Farbigkeit durch Worte Mitteilung zu geben iſt ein ſchwierig Ding, ein Unding: zumal 
in dieſem Fall, wo fie wahrhaft vollblütig durchgluͤht, aber, wie ich ſchon ſagte, gar nicht kaprizlös 
iſt. Oft malt Ege auf einem roten Grund. „Rot iſt das Bett der Farbe“, ſagt Lenbach, denn jede 
Farbe ſteht auf rot. Eges Untermalung beſteht aus einer dünnen, ſtarktonigen Fläche ohne Ded- 
farbe, die nicht durchwächſt. So ſoll Gainsboroughs „Blue Boy“ gemalt worden fein. „Man 
ſieht anders auf dieſem Grund; die Farben werden ſonorer, man ſieht ſie voller und bekommt 
teine kalten, ſpröden Töne in die Augen.“ Manchmal, wann der Klang beſonders rauſchend war, 
fand ich, daß der Künſtler den Mut gehabt hatte, hie und da kleine Fleckchen der Untermalung 
einfach ungedeckt zu laſſen. Die roten Stellen trugen zum Funkeln der Farbe bei. 

Eines der ſchönſten Bilder dieſer Gruppe iſt die „Welle“ vom Jahre 1904. Die Gegend iſt 
wiederum die tyrrheniſche Rüfte. Seit Böcklin iſt nie wieder fo wäſſeriges Waſſer gemalt worden. 
Faſt unbegreiflich iſt die Meiſterſchaft, mit der der Augenblicksmoment erfaßt und feſtgehalten 
wird! Aber der Maler ſagt, er male gern die Bewegung, und ſo erklärt es ſich wohl, daß er ſie 
fo gut erhaſchen kann. Daraus geht ſchon hervor, daß er, wie in einem Furor, ſchnell zu arbeiten 
vermag. Bei der „Woge“ geſchah das in geradezu erſtaunlicher Weiſe. Das Bild, etwa dreiviertel 
Quadratmeter groß, iſt in einer Stunde fertig geworden. Die Zeit drängte aber auch; denn ein 
Sturm nahte heran, und zuletzt find der Künſtler und feine Frau noch patſchnaß geworden. Den 
drohenden Sturm verewigt ſchon das Bild und das Braun des durch Regen geſehenen Sonnen- 
lichts am Horizont, klingt mit dem Schwarzgrau der Gewitterwolken und dem unbeſchreiblich 
Ihönen Grün der Woge zu einem mächtigen Akkord zuſammen. Wie ein großer Virtuos gar 
nicht auf die Taſten ſeines Klaviers zu blicken braucht, ſah Ege beim Malen nie auf die Palette, 
auf die feine Gemahlin die Tuben kaum raſch genug auszudrücken vermochte. Die Farben mifch- 
ten ſich während des Malens auf der Leinwand. Aus ſolcher Ekſtaſe der Erfaſſung und ſolchem 
Eifer des Handwerklichen heraus entſtand aber auch ein Werk von ſprühendſter Unmittelbarkeit. 

Daß die echte Begeiſterung des Künſtlers, für den es äußere Schwierigkeiten nicht gibt, Eges 
Seele erfüllt, zeigt nun auch feine neueſte Tätigkeit. Er iſt kein Jüngling der Sturm- und Drang- 
jahre mehr: dieſe aber und diejenigen, die überhaupt nicht mehr arbeiten, verbreiten gern den 
Satz, daß nur die Zugend im erſten Ungeftüm wirklich Großes ſchafft. Die Anſicht wird von der 
Allgemeinheit unbe kümmert nachgebetet. Ze reifer man ſelbſt wird, deſto anfechtbarer erſcheint 
einem dieſe Behauptung, und man fühlt: mag alles, was man geleiſtet hat, mehr oder minder 
belanglos ſein, jedenfalls das, was man in der Zugend vor ſich gebracht hat, war keinesfalls das 
Befte. Mit Genugtuung gedenkt man der berühmten Vorbilder. Oder möchte irgend jemand 
wagen, den zwanzig bis dreißigjährigen Tizian und Rembrandt auch nur in die Nähe des, ge- 
ſchweige denn über den fünfzig bis ſechzigjaͤhrigen zu ſtellen! 

Ege hatte mir vieles Wunderfhöne gezeigt — das Allerbefte blieb aber doch bis zuletzt: feine 
neueſten Bilder. Es find Hochalpenmotive, unter viel Beſchwer erreicht, nachdem mit laſtendem 
Gepdd auf anſtrengenden Pfaden Höhen von zweitauſend und mehr Meter erklommen worden 
waren. Man kommt aus normalem Spãtherbſtwetter, ſteigt ſich in eine tropiſche Rörpertemperatur 
hinein und muß dann faſt bei Rältegraden malen! Die Jugend führt viel eher das große Wort im 
Mund, als daß ſie die Liebe aufbrächte, die derartige Mühſeligkeiten ohne Murren auf ſich nimmt. 

Meinem Gefühl nach hat ſich zum einen großen Hochgebirgsmaler, Segantini, nun ein zweiter 
geſellt. Ege iſt in der äußeren Mache mit Segantini nicht vergleichbar. Er beſcheidet ſich bei der 
unübertrefflich freien, aber im ſonſtigen üblichen Impreſſionstechnik. Ferner iſt er nie bedacht, 
fo wie Segantini die Aufmerkſamkeit auf die beſondere Erd konfiguration des Hochgeländes zu 
lenken. Wiederum iſt er minder pointiert und betont das rein Alpine weniger als man erwartet 
hätte. Aber gerade wie Segantini, weiß auch er in wundervollſter Weiſe die Naturſtimmung in 
kin Bild für uns einzuſchlie zen, und es trotzdem ganz und gar völlig zum Runftwerk zu geſtalten. 


70 Georg Vollerthun 


Im übrigen iſt es halt wieder etwas, über das ſich nicht reden läßt, iſt es die Apotheoſe der 

Farbigkeit, um die es ſich hier handelt. Ein Dutzend und mehr ſolcher Naturſkizzen, aus der Ge- 
gend um den Gepatſchgletſcher, habe ich geſehen, und jedes erfüllte einen mit geſteigerter Freude. 
Dieſe Gemälde find aber nicht etwa Abſchriften. Der Meiſter kann die Natur gar nicht wie ein 
Chronift aufnehmen. Das Auge feiner Seele empfängt fie von allem Anfang an ftilifiert, wenig- 
ſtens unter dem Geſichtswinkel einer monumentalen Farbigkeit. 
Von dieſen Alpenbildern hat der Künſtler verſchiedene nochmals in etwas größeren Maßen 
„ausgeführt“, wenn ich mich fo ausdrücken darf. Ich hätte es nicht für möglich gehalten und ge- 
wahrte nun doch, daß die Farbigkeit noch einmal geſteigert worden war! So etwas kann nur die 
vollſte Reife leiſten; das bringt kein Zugendüberſchwang zuwege. Es iſt für jeden die größte 
Gefahr, wenn er einen gelungenen Wurf zum zweitenmal vornimmt. Faſt nie gelingt es, denn 
immer ſteht einem im Wege, daß man Ropift, wenn auch fein eigener iſt. Nur wenn die ſichere 
Könnerſchaft es vermag, ſelbſt den Zauber der ſtarken erſten unmittelbaren Eingebung noch zu 
verklären, wird eine noch größere Wirkung bezwungen. Nichts zeigt einem fo ſehr, wie ein der; 
artiger Beweis von innerer Kraft, daß Eges Stern, trotz ſeiner fünfzig und etlichen Jahre, noch 
nicht daran denkt, an Glanz einzubüßen. Prof. Dr. Hans Wolfgang Singer 


Georg Vollerthun 


Zu unfrer Muſikbeilage 


; er weſtpreußiſche Tonſetzer Georg Vollerthun galt wohl den meiſten Muſikern bislang als 
D einer jener feinen Stillen im Lande, die ſich eines Tages vom Tageslärm angeekelt in 
Worpswediſche Einſamkeit zurückziehen, um auf die innere Stimme ſchoͤpferiſch zu lauſchen. Go 
hat dieſer treffliche Künſtler nach langer Main zer und Barmener Theaterkapellmeiſtertätigkeit, 
Pariſer Muſiklehrer- und Berliner Kritikerjahren ſich abſeits nach Biſſenmoor in Holſtein, dann 
nach Strausberg bei Berlin geſchlagen, um ſich in einer ſtattlichen Reihe von Klavierliedern und 
Duetten als bald wirkſamer, bald verſonnener Fortſetzer jener etwa freikonſervativ zu nennenden, 
aber den gefunden Fortſchritt verbürgenden Richtung zu bewähren, die feiner guten Berliner 
Schulung bei Tappert, Radecke und vor allem Gernsheim entſprach. Da überraſchte heuer der 
nun Fünfzigjährige, deſſen Oper „Veeda“ (Raffel 1916) ſich infolge der Kriegsverhältniſſe 
nicht voll hatte ausſchwingen können, die Öffentlichkeit durch den großen Münchner Erfolg ein es 
zweiten Bühnenwerks, das allem Anſchein nach auch weiter feinen Weg machen wird: das Mufit- 
drama „Island Saga“ nach einer wuchtigen Dichtung von Bertha Thierſch (Klavierauszug und 
Textbuch bei Ad. Fürſtner, Berlin). Wir find ja gegen Edda-Stoffe trotz der Corneliusſchen 
„Gunlöd“ und der Schillingsſchen „Ingwelde“ im allgemeinen etwas zurückhaltend geworden, 
weil wir ſtets unkräftiges Wagner Nachfahrentum argwöhnen. Aber hier ſchwingt ein ſtark Eign es, 
das wirklich — und zwar in unabläffig ſteigerndem Auftrieb bis zum prachtvollen Schluß — die 
Merkmale des unbedingt Notwendigen trägt. Aus dem Ganzen ſpricht unverkennbar Arktiſches, 
jener „blutige Nordlichtſchein“ etwa von Fbſens „Nordiſcher Heerfahrt“, man fpiirt in den eckigen 
Tonreihen der Grundgedanken unmittelbare Verwandtſchaft mit den Urwikingern des Nordens. 
Wir können in der Muſitbeilage (Lied der, Ardanna“ aus dem dritten Aufzug) notgedrungen nur 
eine kurze Stichprobe geben, denn das Bezeichnendſte des ſchönen, ernſtgemuten Werkes ſind 
ſeine weiträumigen, über grollenden Orgelpunkten brauenden Entwicklungen. Möge man felber 
zum Klavierauszug greifen oder etwa der bevorſtehenden Weimarer Erſtauffuͤhrung offen en 
Herzens beiwohnen. Prof. Dr. Hans Joachim Moſer 


Weltregierer Eigennuz Der Breigabbau und feine Wider⸗ 

ftände - Frankreichs Schuldenpolitik und Churchills Kniff - Der 

Pakt als Luftgeſchäft - Kriegerifche und kriecheriſche Pazifiſten - 
Das „Nicäa der Ethik“? 


a, wenn der Eigennutz nicht wäre, die auri sacra fames, die alle Sterblichen in 

ihre niederträchtige Botmäßigkeit zwingt! Daß jeder genug haben will, das 
it fein Recht. Denn der menſchliche Wille geht auf Selbſterhaltung. Meiſt will er 
jedoch mit weniger Arbeit nicht nur leben, ſondern auch ſchwelgen, ſelbſt wenn der 
Nächfte noch lange nicht genug hat. Die heilige Sehnſucht nach groß Fried’ ohn’ 
Unterlaß und dem Ende aller Fehden wäre erfüllt, wenn der Menſch dem Menſchen, 
das Volk dem Volke aufhören wollte, Werwolf und Klapperſchlange zu ſein. 

Vorläufig beherrſcht noch wie der Neid die Politik, fo die Konjunktur die Wirt- 
ſchaft. Man nützt fie aus, um viel zu raffen, wenig dranzugeben. Ihr Lohn und 
Preisgeſetz ſucht man wohl zu eigenem Vorteil zu biegen, ſchreit aber Hallo, ſobald 
dann zum Vorteil der Geſamtheit auch einmal der Staat dazwiſchengreift. 

Der Beſchluß des Reiches, auf einen Preisabbau zu drücken, iſt daher löblich, 
aber ein heikles Unterfangen. Mit raſchen Ukaſen ijt da nichts geſchafft, und der Miß 
erfolg der Kriegszwangswirtſchaft warnt vor neuen Wageſtücken. Es war ein So- 
jialifierungsverjud, was indeſſen die Sozialdemokratie keineswegs abhielt, den 
Fehlſchlag zum Sturz derer auszubeuten, die doch bloß nach ihren Rezepten gear- 
beitet. 

Aber geſchehen muß etwas. Das begütigende Freihändlerwort vom freien Spiel 
der Kräfte hat wie immer verſagt. Die Preiſe klettern, und wir zahlen für des Leibes 
Nahrung und Notdurft ſchon ein Drittel mehr denn vor dem Kriege. 

Schlechte Kenner und ſcharfe Wühler unken bereits von der neuen Inflation. 
Das iſt, wie wenn der Arzt bei einer Erkältungsgeſchwulſt gleich auf Krebs riete. 
Denn gleiches Merkmal entſpringt noch nicht gleicher Urſache. Jetzt werden die 
Waren teurer, damals wurde das Geld ſchlechter. Wir empfanden dies nur deshalb 
als Teuerung, weil Löhne und Gehälter ſich der raſch ſinkenden Kaufkraft des Pa- 
pierſcheins viel zu langſam anpaßten. Nicht in der Tat, ſondern nur für unſeren targ- 
lichen Verdienſt wurden die Waren unerſchwinglich. Der währungsſtarke Ausländer 
fand ſie ſogar ſpottwohlfeil und kaufte uns daher aus. Heute läßt er die Finger davon, 
weil die Mark wertbeftändig ift; aber der Preis hoch. Er hat es zu Haufe billiger. 

Woher nun dieſes vermaledeite Hochſchnellen des Brotkorbes? Wir danken es 
zunächſt dem verlorenen Kriege und dem Verſailler Erpreſſerfrieden. Auf dem 
Markte entrichten wir der Hökerin, am Ladentreſen dem Verkäufer unſren täglichen 
Anteil an dem Tribut, den der Sieger uns aufpackte. Denn Erzeuger wie Händler 
müffen Reparationsfteuern zahlen. Die Eiſenbahn hat ungeheure Überfchüffe heraus- 
zuwirtſchaften; nicht ſie beſtimmt die Frachten, ſondern Herr Parker Gilbert, unſer 


72 Zürmers Tagebuch 


Reparationsagent und finanzieller Reichskaiſer. Das treibt natürlich die Preiſe. 
Man ſchätzt dieſe Auflage auf 25 bis 40 vom Hundert. Zwar wurde ſie jetzt geſchickter 
verteilt, und vom Nachlaß der Umſatzſteuer erhofft man allein ſchon einen Abbau 
von 16 Prozent. Allein darüber müffen wir uns klar fein, daß die behaglichen Gage 
der Vorkriegszeit gar nicht wieder erreicht werden können. Wer für Erfüllung 
ſchwärmt, der ſtöhne daher nicht über Teurung. Aber wie das fo ift, gerade er zetert 
am lauteſten. 

Allerdings ſtehen die Preiſe weit über dieſem Unvermeidlichen. Von der Schieber- 
zeit her ſitzen nämlich noch allerlei dunkle Zwiſchenhändler an der Warenſtraße und 
erheben einen raubritterlichen Durchgangszoll. Vom Stall bis zur Bratenſchüſſel 
geht das Schwein durch ſieben Hände, deren vier entbehrlich ſind, aber jede bezahlt 
fein will. Hier gilt es auszuſchalten, und zwar durch rückſichtsloſen Konkurrenzkampf. 

Unfere Induſtrie hat längſt keine Rücklagen mehr und braucht Kredite. Im ver- 
armten Lande iſt das Geld knapp und muß daher ſchier wucheriſch verzinſt werden. 
Die Hochfinanz trieb Plusmacherei; leider unter Vortritt der ſtaatlichen Inſtitute. 
Es iſt ſomit ein Erfolg, wenn das Kabinett die Reichsbank zum Verzicht auf allerlei 
Zins- und Gebührenſätze bewog, was die Privatbanken nötigt, ein gleiches zu tun. 
Auch dies entlaftet das Gewerbe und wirkt aufs Billigerwerden. 

Die Erzeugerkartelle haben ſich oft ungeſund überfpannt. Durch Abreden wurde 

der Wettbewerb ausgeſchaltet und ein Richtpreis feſtgeſetzt, der höher war, als ein 
redlicher Anſchlag geſtattete. Endlich will die Regierung kraftvoll durchgreifen und 
tut recht daran. Gegen die Webſtoffinduſtrie hat fie bereits die Klage beim Kartell 
gericht angeſtrengt. Möge dieſes nur ja ſchnell, alſo doppelt geben! 
“ Aber auch der Arbeitnehmer krankt nicht minder an dem Übel kurzſichtigen Eigen- 
nutzes. Er begegnet den Preiserhöhungen durch emporgeſchraubte Lohnanſprũche 
und erzwingt dieſe oft auf dem Kampfwege des Streiks. Nie denkt er daran, daß er 
damit dem Nächſten ins Fleiſch ſchneidet und ebenſo überquer von dieſem hinein- 
geſchnitten wird. Denn hoher Lohn ſchafft hohen Preis. Der Tucharbeiter verteuert 
daher dem Lohgerber den Anzug, dieſer ihm das Schuhzeug, der Bäcker allen das 
Brot; der Maurer allen und ſich ſelber dazu die Wohnung. Nicht nur, daß der gh- 
eoffte Vorteil alſo ſchwindet; es ſteigern auch Lohn und Preis einander bis zu finn- 
loſer Höhe zum Schaden der geſamten Wirtſchaft. Geſunder Zuſtand bleibt ſtets ein 
mäßiger, aber geſicherter Wochenverdienſt bei wohlfeilem Markte. 

Der ſozialdemokratiſche Gewerkſchaftsführer lehnt dieſe Folgerichtigkeiten ab. 
Sein Fach iſt nicht Wirtſchaftsfriede, ſondern Lohnkampf. Demgemäß wurde der 
Zolltarif als preistreiberiſch verſchrien und im Reichstag mit den Mitteln der Ob- 
ſtruktion befehdet. Der ausländiſche Arbeiter hat längſt erfaßt, welche Vorteile ihm 
eine kluge Einfuhrſteuer bringt; nur der deutſche hält querköpfig wie ein amerifa- 
niſcher Fundamentaliſt feſt an dem für ihn ſelber verheerenden Freihandel. 

Sänken die Preiſe, ſo bewieſe dies die Nichtigkeit der erhobenen Einwände wider 
den Tarif. Daß doch nur ja in Ehren bleiben die Parteiorakel und gerettet werden 
die Fraktionsgötter! Teurung reizt überdies und iſt daher ein reißendes Werbe- 
mittel für die Linksorganiſationen wie für Neuwahlen. Daher wird dem Preis- 
bemühen der Regierung von vornherein jede Erfolgausſicht abgeſtritten; ja man 


Türmers Tagebuch 73 


lieft fogar, es fei nur Theatergeſte und höherer Schwindel. Um tätige Beihilfe an- 
gegangen, wichen die freien Gewerkſchaften aus mit der Antwort, fie könnten keinen 
Blankowechſel unterzeichnen. Iſt das Dienſt am Arbeiter oder Dienſt am Schieber? 

Kanzler Luther hat feierlich verſprochen, vom erſten Oktober ab den Preisabbau 
mit allen Mitteln zu erzwingen. Ob es gelingt, iſt eine Frage; aber keine Frage ſollte 
ſein, daß der Verſuch zu fördern iſt von jedermann, der es wohlmeint mit Reich und 
Vaterland. So hat denn auch der Führer der chriſtlichen Gewerkſchaften, der Zen- 
trums mann Stegerwald, der Regierung zugerufen: „Greif ridfidtslos in das 
Weſpenneſt, du retteſt damit das deutſche Volk!“ 


* * 
* 


Unſerer Wirtſchaft ſitzt in der Tat das Meſſer an der Kehle. Im erſten Quartal 
des Vorjahres gab es 218 Konkurſe, im gleichen Zeitraum 1925 hingegen nicht we- 
niger als 3171 und nebenbei über tauſend Geſchäftsaufſichten! Seitdem hat ſich 
die Lage immer mehr zugeſpitzt; man muß demgemäß auch für den Jahresdurch- 
ſchnitt auf eine Verzwanzigfachung rechnen. 

Trotzdem ſagt man draußen, uns könne es gar nicht vortrefflicher gehen! Durch 
den genialen Spitzbubenſtreich der Inflation hätten wir unſere Gläubiger um ihr 
Geld gebracht und ſeien nun der einzige Staat Europas ohne Staatsſchuld. Daß 
dieſe Seiſachtheia uns drei Viertel unſeres Wohlſtandes koſtet und Dawes uns die 
Haare vom Kopfe frißt, davon ſpricht man lieber nicht. ö 

Oieſer vorgeblich glänzenden Lage des ſchuldbefleckten Oeutſchlands ſtellt die 
Pariſer Preſſe den troſtloſen Stand des unſchuldigen Frankreichs augenblendend 
gegenũber. Wenn es darauf ankommt, verſteht jeder Franzoſe ebenſo meiſterhaft zu 
ſtöhnen, wie ſonſt zu prahlen. Verweiſt man auf die dicktueriſchen Gipfelzahlen ſeiner 
eigenen amtlichen Handelsbilanzen, dann wird das Geſtändnis nicht geſcheut, ſie 
ſeien gefälſcht geweſen. 

Dies Weh und Ach hat ſeine abgewogenen Gründe. England und Amerika haben 
an die Kriegsſchulden gemahnt; ſeitdem empfindet man, daß die, wenn wir Deutſche 
ſie treiben, ſo wohltuende Erfüllungspolitik doch auch recht rauhe Seiten zeigt, 
ſobald ſie einem ſelber zugemutet wird. 

Und wie groß ift doch der Unterſchied! Wir zahlen Tribute; auferlegt von er- 
pteſſeriſchen Feinden unter Vorwand, Verleumdung und Wortbruch. Uns bindet 
Zwang, aber keine Ehrenpflicht. Frankreich hingegen ſoll nur zurüderftatten, was ihm 
bilfreihe Freunde vorſtreckten, als es im Rouge ou noir des Kriegsſpiels die erften 
Einſätze verloren hatte. Spielſchulden aber find Ehrenſchulden. 

Mit 623 Millionen Pfund ſtand man in der engliſchen Kreide, und London hatte 
für das franzöſiſche Gegreine vorläufig ein verwünſcht hartes Ohr. 

Allein der liſtige Finanzmann Caillaux verhandelte mit Churchill in dem düſteren 
Beratungszimmer des Schatzamtes von Whitehall. Der franzöſiſche Sachverſtändige 
verftand es, die engliſchen geſchickt auszuſchalten. Da der Miniſter ſelber keiner iſt, 
verfiel er unter vier Augen rettungslos der wohldurchdachten Mache. Vor der ver- 
ſpertten Türe hingegen ſaßen, wie Lloyd George lebendig erzählt, die wirklichen 
Fachleute auf den Wartebänken und ſchäumten vor Wut. 


74 Zürmers Tagebuch 


Wieder einmal fiegte der franzöſiſche Zungenſchlag. England hat auf volle zwei 
Drittel ſeiner Anſprüche verzichtet und zu alledem noch eine Stundung bis 1930 
bewilligt. 

Als Caillaux nach London abreiſte, drohte ihm die Pariſer Lärmpreſſe mit Stein- 
würfen, wofern er dort zuviel verſpreche. Bei ſeiner Rückkehr hingegen trug ihn der 
Straßenpöbel, der ihm vor acht Jahren die Standrechtskugeln zudachte, auf den 
Händen als den Retter des Vaterlandes aus den Klauen des britiſchen Shylocks. 

Die engliſchen Blätter aber find aufs höchſte vergnittert. Dieſes Milliarden- 
geſchenk ſei ein Mißbrauch und unverdiente Nachſicht. Ein Land, das derart handle, 
ſchrieb der „Star“, müſſe ſehr reich ſein oder ſehr leichtſinnig. Dem „Evening 
Standard“ ſchwant, daß dieſer Edelmut von den Franzoſen übel belohnt werde. 
Lloyd George findet es unerhört, daß ein nüchterner Staatsmann am hellichten 
Tage derartiges zugeſtanden habe. Und es ſei wirklich erſt drei Uhr nachmittags, 
alſo lange vor der Portweinſtunde geweſen. 

Vielleicht iſt aber Churchill doch klüger als fie alle. Es könnte fein, daß er philo- 
ſophiſch dachte, Schenken ſei beſſer als Borgen, da es höchſtens Undank einträgt, 
während der Schuldner meiſt ſchnell zum Haſſer wird. Als ſolcher iſt Frankreich nach 
Lage und Tücke beſonders unbequem. Tauſende von Luftbomben können auf Lon- 
don niederhageln, ehe der Cockney überhaupt weiß, daß ſchon Krieg iſt. In Caillaux' 
ſchmeichleriſchem Gebettel liegt daher auch eine verſchwiegene Erpreſſung. 

Ihr begegnete Churchill mit Lift. Wie ſchon oft empfingen die Franzoſen hoch- 
beglückt ein Etwas, das wie ein Demant glitzerte, aber in ihren Händen zu ſchmelzen 
droht, da es nur ein täuſchend geſchliffenes Eisſtückchen iſt. Das nachſichtige Ab- 
kommen gilt nämlich nur, wofern Frankreich aus Amerika einen gleichen Verzicht 
herausholt. I 

Die Union iſt der Großgläubiger aller; auch Englands. Deſſen Angſtgefühle vor 
dem Schuldner teilt es nicht; es liegt ja behaglich abſeits der keckeſten Reichweite 
franzöſiſcher Flugzeuge. Mögen ſie daher haſſen, wenn ſie nur zahlen. Man hat 
plenty money vorgeſchoſſen, und die Kaufmannsader des Yantees wehrt ſich gegen 
jeden anderen Gedanken als den ſchlanker Rückgabe mit Zins und Zinſeszins. 

Erboſt vernahm Coolidge daher von jenem duckmäuſeriſchen Vorbehalt. Er durch- 
ſchaut darin die vorweggenommene Bloßſtellung ſeiner beabſichtigten Hartherzig- 
keit; einen moraliſchen Druck, ebenſo großmütig zu fein. Nicht bloß gegen Frank- 
reich, ſondern auch gegen Italien, Belgien und — das großmütige England ſelber. 
Denn das Tilgungsabkommen, das dieſes bereits ſchloß, war voreilig, daher un- 
günſtig und bedarf einer freundvetterlichen Feile. 

Hier liegt der Kniff. Was zuerſt herzlich dumm ausſchaute, wird, ſobald man es 
richtig verſteht, ſogar ganz verwünſcht geſcheit. Wenn es gelingt, dann hat ſich Chur- 
chill zugleich Frankreich verpflichtet, läßt ſich von Amerika die Koſten bezahlen und 
ſteht dennoch vor der Welt in der gefälligen Poſe des offenhändigen Gentlemans. 

Schlau wie der Plan iſt auch die Ausführung. Ein Spiel mit verteilten Rollen 
wurde eingefädelt. Als erſten Vittſteller um Nachlaß ſchickte man nämlich Belgien 
nach Waſhington. Ausgerechnet Belgien. Denn es konnte dort drüben auf warme 
Gefühle rechnen. Es iſt ja das unglückliche Ländchen, das die Hunnen mitten im 


‘Giiemers Tagebuch 75 


Frieden überrannten, um Dome zu beſchießen, Bibliotheten einzuäſchern, fried- 
fertige Bauern aufzuknüpfen und kleinen Kindern die Händchen abzuhacken. Poor 
Belgium war alſo die leckere Lockſpeiſe für amerikaniſche Empfindſamkeit. Aus dieſer 
heraus hatte ſchon während des Krieges Wilſon zugeſichert, daß die belgiſche Schuld 
nicht aufs Kerbholz kommen ſolle. 

Der Anſchlag glückte denn auch. Belgien braucht nur ſoviel zu zahlen, als ihm von 
deutſchland gezahlt wird; zwei Drittel feines Solls werden friſchweg geſtrichen. 

Doppelt ermutigt macht ſich nun Caillaux auf den Bittgang zum Potomac. Er 
technet beſtimmt darauf, daß man dort auch für Frankreich ein hochſinniges Einſehen 
haben und ſich mit der Mark begnügen werde, wo man den Taler hergab. 

Aber die amerikaniſche Empfindſamkeit für die affogiierte Republik iſt ſeit Friedens- 
ſchluß in ſtarkem ſtetem Schwinden. Hier kennt man den Stand der Kriegsſchuldfrage 
beſſer als bei Belgien, und brummt daher unwirſch: „Wenn Poincaré partout an 
den Rhein wollte, warum verlangt er dann gerade von uns die Auslagen?“ 

Geſchickt wie immer bereitet demungeachtet die Pariſer Preſſe den Vorſtoß vor. 
Tief gekränkt ſchreibt fie, es fei höchſt unmoraliſch, daß Amerika die europäiſchen 
Staaten zu langer Zwangsarbeit verurteilen wolle. Man ſollte fie drüben nachdrück- 
lichſt an das „Was du nicht willſt, das man dir tu —“ erinnern, denn die deutſche 
Zwangsarbeit hat das franzöſiſche Zartgefühl noch nie beſchwert. Die Union hält 
jetzt Frankreich in der Hand. Denkt fie imperialiſtiſch, dann nimmt fie die franzöſiſchen 
Antillen an Zahlungsſtatt. Will ſie aber wirkliche Weltbefriedung, wie immer betont 
wird, dann kommt fie Frankreich nur ſoweit entgegen, als dieſes abrüſtet und uns 


entgegenkommt. “ 4 
* 


Denn daran fehlt es nod immer. Als Briand in London eintraf, fand man dort, 
daß er einem Maulwurf gleiche. Nun ja, fo erklärte man fich’s, er tut ja auch Maul- 
wurfsarbeit. 

Seine Paktnote an uns war zwar im Ton verbindlich, lehnte aber in der Sache 
jede Verbindlichkeit ab. Wenn etwas vereitelt werden foll, dann iſt eine artige Als- 
ob-Taktik beim Diplomaten immer noch die Patentlöſung. 

So tut man, als täte man. Zur Prüfung der Vorfragen des Paktes trafen ſich die 
rechtskundigen Vertreter. Sie kramten ſehr freundſchaftlich miteinander und ſtellten 
zum Beiſpiel feſt, was eine flagrante Verletzung ſei. So geſchickt walteten ſie ihres 
Auftrages, mit klugen Worten wenig zu ſchaffen, daß, als ſie ſchieden, ein engliſches 
Blatt als tatſächliches Ergebnis nur zu berichten wußte: „Man kam zuſammen.“ 

Nach den fünf Zuriften ſollen fi nunmehr die fünf Außenminiſter an denſelben 
Tiſch ſetzen. Aber auch Luther wünſcht dabei zu ſein und wahrſcheinlich kommt ſogar 
Muſſolini. Er bat anfangs, die Konferenz möchte in Rom ſein. Unter Umſtänden 
nũtzt er uns allerlei in Dingen, die für Italien Mus wie Miene ſind. Gegen die Fran- 
zoſen am Rhein, mehr gegen die Polen, die er nicht leiden kann, an der Weichſel. 
Vor kurzem nannte er die ganze Paktgeſchichte noch eine Affenkomödie. Wenn er 
ſich jetzt dafür erwärmt, dann hat er einen Nagel entdeckt, von dem aus ſein italie- 
niſches Seil gewunden werden kann. Mutmaßlich will er ſich die Brennergrenze 
ſichern laſſen und den Anſchluß Oſterreichs hindern, wovor ihn Loebes Wiener Rede 


76 Zürmers Tagebuch 


aufs neue bange macht. So nimmt feine Rechte im Süden, was feine Linke etwa 
im Weſten oder Oſten darbietet, und wird damit ein weiterer Koch, der den Brei 
verderben hilft. 

Trotzdem hört man immer die Zuverſicht, daß etwas zuſtande komme. Solange 
für Frankreich der Verſailler Vertrag ein Monumentum aere perennius bleibt, kann 
es freilich nur ein papierenes Dingelchen ſein. Etwa in der Form, die ein witziger 
Weltbeobachter jüngft vorausſagte: Deutſchland verzichtet auf etwas, was es nicht 
mehr beſitzt und mangels hinreichender Militärmacht auch in abſehbarer Zeit nicht 
wieder nehmen kann. Es erhält daher als Gegenleiſtung von Frankreich und England 
auch nichts zugeſtanden. Dieſer weltbewegende Vertrag wird von allen durch Unter 
ſchrift aufs feierlichſte bekräftigt und in Senf hinterlegt. 

Man ſoll doch nicht glauben, daß es Luftgeſchäfte nur an der Börſe gebe. Der 
ganze Völkerbund iſt ein ſolches, wenn man ihn auf fein Programm prüft. Wirklich- 
keit gewinnt er immer nur als S. m. b. H. zur Niederhaltung Deutſchlands. 

Wir ſollen jetzt eintreten. Aber ohne Vorbehalt. Denn Ausnahmen könnten nicht 
gemacht werden. Sind ſie denn nie gemacht worden? Sowohl die Schweiz wie 
Irland lehnten die Bindungen desſelben Artikels 16 ab, wogegen auch wir uns ftrdu- 
ben. Man antwortete nicht, aber nahm ſie trotzdem auf. Es geht alſo, wenn man will, 
nur im deutſchen Falle will man eben nicht. Das iſt für uns zureichender Grund, 
auch nicht zu wollen. 

Wir verlieren nichts daran. Würden ja doch immer nur überſtimmt werden. In 
jedem praktiſchen Falle verſagt der heilige Bund, wie diesmal wieder der Moſſul- 
ſtreit zeigen wird. Mit dem Schmachfrieden an demſelben Tage geboren, trägt er die 
Züge dieſes Zwillingsbruders. Er meint, Gewalt werde Recht, ſobald er fie billige. 
Daher ſagt er laut: Wehe dem Friedensbrecher, aber leiſe denkt er: Wehe dem 
Schwachen! 

Es ijt immer ein pomphaftes Schauſpiel, wenn allherbſtlich die Bundesvollver⸗ 
ſammlung zuſammentritt. Ein verſchrobener Amerikaner wollte es noch feierlicher 
geſtalten, indem er für den hohen Rat rotſeidene Richtertalare mit Hermelinbeſatz 
ſtiftete. Welch Schauſpiel; aber ach, ein Schauſpiel nur! Denn es wird ganz richtig 
Komödie geſpielt. Glaubt man denn einem Briand, wenn er die Abrüſtung anregt? 
Seit wann geht Speiſe von dem Freſſer aus und Süßigkeit von dem Starken? Wir 
wiſſen, daß er bloß dem nordiſchen Antrag zuvorkommen, daß er vornean ſein 
will, damit nur ja nichts daraus werde. 

Wer ſpüͤrt etwas von der neuen beſſeren Moral, die der Völkerbund nach Pain- 
levé geſchaffen? Im Gegenteil fehlen ihm alle religids-fittliden Vorausſetzungen. 
Er kennt allen Menſchen- und Engelzungen zum Trotz, womit er fic ſelber anpreift, 
weder das vornehmſte und größte Gebot: Die Liebe zu Gott als der Quelle alles 
Rechtes, noch das andere, das dem gleich iſt: die Liebe zum Nächſten als ſich ſelbſt. 
Daher ſucht jeder in ihm feinen Vorteil. Er iſt der Vielverband der Eigennützigen, 
die nicht logiſch denken wollen. 

Zu ihnen bekennen ſich auf den Pazifiſtentagen jene Wirbelköpfe, die nicht logiſch 
denken können. Daher geht es auf dieſen Jahrmärkten der Brüderlichkeit immer fo 
hitzig zu. Nirgends zankt man ſich leidenſchaftlicher als dort. | 


Zürmers Tagebuch 77 


So war es auch diesmal in Paris. Ber franzöſiſche Pazifiſt Herriot ſagte ab, weil 
der deutſche Pazifiſt Loebe eine Rede halten ſollte. Die franzöſiſchen Friedensfreunde 
ſprachen gegen Frankreichs tatſächliche Abrüͤſtung, weil Deutſchland noch nicht mo- 
raliſch abgerüftet ſei. Sie find nur für einen Pazifismus der ferneren Zukunft; 
wollen friedfertig ſein, wenn Frankreich ſich ſatt erobert hat. 

Am widerwdrtigften gebdrdeten ſich die deutſchen Kongreßteilnehmer. Sie legten 
einen Kranz auf das nationaliſtiſche Grabmal des unbekannten Soldaten. Dieſe 
merfwürdigen Friedens freunde klatſchten ſich die Hände wund, als ein Franzoſe 
die Kolonialkriege Frankreichs Kulturtaten nannte und Abd el Krim einen Räuber- 
hauptmann. Hello v. Gerlach verläjterte fein Vaterland derart, daß ihn der Franzoſe 
Rioch mit empörten Worten ſtäupte. Von der redlichen Schwärmerin Berta 
v. Suttner bis zu ihm — ach, welch ein Abſtieg! 

* * 


* 

In denſelben Wochen tagte zu Stockholm das große Konzil. Aus 37 Völkern hatten 
ih 600 Teilnehmer verſammelt. Sie vertraten 123 chriſtliche Kirchengemeinſchaften. 
Nur die katholiſche blieb fern, und das iſt ſchade, weil ſie die größte und geſchloſſenſte, 
daher mächtigſte iſt. Hindenburg und Coolidge ſandten Glückwünſche; Präſident 
doumergue, obwohl auch Proteſtant, ſchwieg. Kanzler Luther ließ ſich entſchuldigen, 
aber der Vortrag wurde verleſen, den er hatte halten wollen. Macdonalds warm- 
herziges Schreiben pries den chriſtlichen Geift und nahm als Pfadführerin aus dem 
heutigen Schlamaſſel die Friedensmacht der Kirche in Anſpruch. So der englijde 
Sozialdemokrat; wo blieben die deutſchen? 

Daß dieſes Konzil wurde, iſt ein unvergängliches Verdienſt des ſchwediſchen Erz- 
biſchofs Soederblom. Es bedeutete den erſten praktiſchen Verſuch, aus dem un- 
gebändigten Triebleben dieſer Welt wieder einmal an den Glauben zu appellieren, 
der die Welt überwindet. 

Man hoffte daher von dieſem „Nicäa der Ethik“, daß es ein geiſtlicher Völkerbund 
werde, der durch die Wucht ſeines Strebens nach Wahrheit und Recht im Aufblick 
auf den Weltheiland den politiſchen ſeeliſch durchdringe werde und dadurch die 
Menſchheit dem chriſtlichen Ideale des Reiches Gottes auf Erden näherführe. 

Dieſe Hoffnung wurde indes ziemlich enttäuſcht. Denn es zeigte ſich, daß der 
Genfer Geiſt weit ſtärker auf Stockholm wirkte, als umgekehrt. Wollten doch die 
Engländer das Konzil kurzerhand auf den Völkerbund feſtlegen, den ſie, ſo wie er iſt, 
ſchlankweg für gottgeſchaffen erklärten. Da konnten die Deutſchen allerdings nicht 
mittun. Durch den Mund des Rheiniſchen Generalſuperintendenten Klingemann 
erklärten fie ſich für außerſtande, in dem gegenwärtigen Weltſchiedsamt irgendeine 
teligidje Kraft geſchweige denn einen Anklang an das Reich Gottes zu erkennen. 

Das war würdig und recht. Daß dieſer Proteſt aber überhaupt nötig wurde, daß 
man die Kriegsſchuld frage gar nicht aufwarf, die Wahrheit alſo nicht zu Worte kom- 
men ließ, das verrät denn doch, wieviel Allzumenſchliches ſogar dort mit unterläuft, 
wo ſich die zuſammenfinden, deren Herzen und Sinne der chriſtlichen Sittlichkeit 
am weiteſten aufgetan ſind. F. H. 


Die Deräußerlihung des vater⸗ 
landifden Gedankens 


u Leipzig am Völkerſchlachtden kmal ſam; 

melten ſich etwa 30000 Jungdeutſche mit 
ihren Bannern; es war ein gewaltiger Tag. 
Am germannsdenkmal waren gleichfalls an 
die 15000 Jungdeutſche verſammelt; es war 
„eine erſchütternde Treuekundgebung für 
den Ordensmeiſter Mahraun.“ Die übrigen 
Verbände, darunter der Stahlhelm, „waren 
ihrer Größe entſprechend nur mit wenigen 
tauſend Mann vertreten.“ Man muß den 
folgenden Bericht im, Jungdeutſchen“ (Nr. 186) 
im Zuſammenhang auf ſich wirken laſſen: 

„Schon der Sonnabend verriet, daß der 
nddjte Tag ein großer werden ſollte. Von 
überall her rückten die Bruderſchaften des 
Ordens in die überaus reich beflaggte Stadt. 
Wohin man fab, nur Ordensbrüder. In 
mehreren Gdlen fanden Begrüßungsabende 
ſtatt, in denen der Hochmeiſter überall, vom 
ſtürmiſchen Jubel der Bevölkerung umbrauſt, 
glühende Worte der Vaterlandsliebe an ſeine 
Anhänger und Freunde richtete. Der Sonn- 
tag, der eigentliche Feſttag, begann mit 
großem Wecken durch die Ordenskapelle und 
fand ſeinen Auftakt in Feldgottesdienſten für 
beide Konfeſſionen. 

„um 10 Uhr ſetzte ſich der Feſtzug in Ve- 
wegung, der ein großartiges Bild von der 
Macht des jungdeutſchen Sedankens 
bot. In mehr als einer Stunde zogen an 
15000 Brüder in muftergültiger freiwilliger 
Difziplin an ihrem Führer, der vor dem 
Theater Aufſtellung genommen hatte, vor- 
über. Banner auf Banner, Bruderſchaft auf 
Bruderſchaft, alle Brüder die rechte Hand 
auf dem Herzen, in endloſen Kolonnen! 

„Hinter dem Orden marſchierten Hitler 
Verbande und der „Stahlhelm“, deren kurzen 
(man beachte die Spitze! D. T.) Dorbei- 
marſch der Fürft Leopold von Lippe - Detmold 
und einige ehemalige Generäle abnahmen, 
nachdem der Hochmeiſter ſich wieder an die 
Spitze ſeiner Bruderſchaft geſtellt hatte. 


„Nach ſtundenlangem Marſch rückte der 
Orden auf den Platz vor dem Hermanns- 
denkmal. Ein packendes Bild: der ragende 
Freiheitsheld! Zu feinen Füßen hunderte 
von Bannern mit ſchwarzem Kreuz auf 
weißem Feld und auf dem Platz, bis weit 
in den rauſchenden Tannwald hinein, Tau- 
ſende von Ordensbrüdern. Nach dem 
niederländiſchen Dankgebet ſprach General- 
leutnant Salzenberg über Freiheit, Einigkeit 
und freiwilligen Geborfam. Dann redete der 
Hochmeiſter zu den dicht gedrängten 
Maſſen und fand im Angeſicht Hermanns, 
des Befreiers, die großen Worte, daß die 
Einigkeit der Nation, nicht nur die Einigkeit 
im nationalen Lager, das größte Ziel des 
Jungdeutſchen Ordens fei. In muftergiiltiger 
Ordnung rückten die Mannen des Ordens 
wieder ab, zuruck in das ſchöne Detmold, das 
Zeuge von dieſer gewaltigen Kund— 
gebung der großen jungdeutſchen Volks- 
bewegung geworden war.“ 

Kein junger Menſch wird ſich der be- 
rauſchenden Wirkung eines ſolchen begeiſterten 
Berichtes entziehen — noch weniger der Be- 
geiſterung und Berauſchung ſelbſt, die dort an 
Ort und Stelle durch das Maſſenaufgebot be- 
wirkt wurde. Und wir möchten unſererſeits 
nicht in den Verdacht geraten, daß wir un- 
fähig ſeien, ſolche Schwingungen mitzufühlen. 
Es ſtärkt das Bewußtſein, einem großen Volke 
anzugehören, wenn Banner an Banner mit 
immer neuen Gruppen vorüberzieht; und es 
erhebt das vaterländiſche Gefühl ins Außer- 
ordentliche, wenn dann der Redner dieſer um- 
faſſenden Bruder Stimmung bedeutenden 
Ausdruck gibt, wie es dort Mahraun getan hat. 
Aber — und nun geſtatte man uns, in aller 
Sachlichkeit einige Bedenken gegen dieſen 
Maſſenbetrieb auszuſprechen. 

Wir haben einen Stoß Schriften durdge- 
leſen, die uns der Jungdeutſche Orden nach 
unfrem erften Vorſtoß im „Türmer“ (Auguft- 
heft) zugänglich machte. Durch alle dieſe 
Reden und Aufſätze zieht ſich in [hiner Weiſe 
der Gemeinſchafts- oder Bruder -Gedanke. 


> 
* 


222 — Zr Sr Zr, Be 


auf der Warte 


„Im Ordensleben erſt wird die Grundlage der 
Einheit und Kraft geſchaffen, denn in ihm 
erwachen die Mächte brderlicher Ramerad- 
ſchaft und die vom Ehrgefühl im Kreiſe der 
Semeinſchaft gehobene Pflichttreue und Hin- 
gabe (Schriftenreihe des jungdeutſchen 
Ordens, Heft 1). Dieſer Grundgedanke wird 
übrigens nicht nur bei den Jungdeutſchen 
herausgearbeitet, ſondern — in mannigfachen 
Sarbentönen, meiſt mit nachklingendem fol- 
datiſchem Geiſt — auch in andren vaterländi- 
ſchen Verbänden. Er wird ſogar in den ſozialen 
Scuppen betont, wobei das Vaterland freilich 
zurüdttritt, die Partei und ihr Programm aber 
bruderſchaftbildend den Vordergrund be- 
herrſcht. Jener Grundgedanke arbeitet der 
Zerſetzung entgegen; inſofern iſt er geſund 
und notwendig. Er beruft ſich mit Recht auf 
Fichte und auf die Burſchenſchaft der Wart- 
burg. Aber — er reicht für ſich allein heute 
nicht aus. 

Fichte trieb ſtracks in den großen Be- 
freiungskrieg; und die Wartburg -Burſchen 
kamen ftrads aus dem Felde und wollten das 
gewaltige Befreiungswerk im Innern fort- 
ſetzen. Befreiung rund herum! Heute ſind wir 
ein zuſammengebrochenes Volk und müſſen, 
ohne jede Ausſicht auf abſehbare äußere Be- 
freiung, das Werk der Beſinnung ganz 
langſam und behutſam, ganz in der Stille und 
Tiefe, ganz zunächſt auf dem Gebiete der 
Kultur und der Seele vornehmen, wie es 
ſich bei einem Kranken und Schwerwunden 
von ſelbſt verſtehen ſollte. Und da ſind dieſe 
Parademärſche, Bannerweihen und Maffen- 
aufzüge, im europäifchen Voͤlkerganzen be- 
trachtet, von nahezu lächerlicher Belanglofig- 
keit. Denn hinter ihnen ſteht keine Möglich- 
teit der großdeutſchen Tat. 

Das deutſche Volk von 1815 war ſiegreich; 
das deutſche Volk von 1918 iſt verftlavt. Das 
iſt der bedeutende Unterſchied. Alle Proteſte 
und Aufmärſche helfen da nichts, andern an 
der Tatſache zunächſt nicht ein Jota, täuſchen 
vielmehr Kräfte von ZJungmannen vor, die 
jetzt keine Kräfte find. Uns hilft jetzt nur Be⸗ 
finnung auf unſer ſeeliſches Gebiet, das 
wir in all den letzten Jahrzehnten vernach⸗ 
läſſigt haben — und wo das Geheimnis 


79 


der Kräfte auch für die vaterländiſche 
Geſundung zu ſuchen iſt. Es fehlen der 
vaterländiſchen Bewegung die metaphy- 
ſiſchen Hintergründe, die jene Burſchen 
von 1815, geſchult durch Kant und Fichte und 
Schiller, reichlich beſaßen. 

Und auf dieſe ſtille Vertiefung, die ſich 
beſonders an die Einzelnen und an kleine 
Gruppen oder Zellen wenden muß, ſind 
weder Jungdeutſche noch Stahlhelm vorerſt 
eingeſtellt. 

Damit brechen wir für heute wieder ab. 
Wir werden das nächſte Mal auf einige Zu- 
ſchriften und Außerungen eingehen, z. B. auf 
Thomas Weſterich („Oeutſche Front“), der 
unter den vaterländiſchen Führern vielleicht 
mit am beſten weiß, worauf es ankommt. 


Chriſtwunder aus der Sonne Homers 


3. führende Werte, die uns reihe Ein- 
blicke in die altchriſtlichen Wirklichkeiten 
im öſtlichen Mittelmeer vermitteln, haben vor 
kurzem ihre zweite Auflage erlebt: das alt- 
bekannte, grundlegende Werk von Heinrich 
Brockhaus über „Die Kunſt in den Athos- 
Klöſtern“ (Leipzig, F. A. Brockhaus, 1924) 
und das ebenſo fundamentale Buch von 
D. Adolf Deißmann über „Paulus, eine 
kultur- und religionsgeſchichtliche Skizze“ 
(S. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 
1925). Beide gelehrten Werke, in denen die 
geographiſche Eigenſchau der Verfaſſer eine 
weſentliche und reizvolle Rolle ſpielt, ſind 
auch einem weiteren Publikum angelegentlich 
zu empfehlen. 

Die Halbinſel Athos mit ihrer RKlofter- 
republik iſt ohne jeden Zweifel zu den wunder- 
barſten Schöpfungen der Erde zu rechnen, und 
das Buch, welches unter weitgehender Be⸗ 
ruͤckſichtigung der bisherigen Literatur nicht 
nur den küͤnſtleriſchen Reichtum dieſes para- 
dieſiſchen Landes ſehr eingehend durchforſcht, 
ſondern auch über die Landſchaft, die Klöſter 
und ihre Verfaſſung und Lebensweiſe mannig- 
fache und anſchauliche Berichte enthält, ſollte 
in der guten Bücherei keines Kunſtfreundes 
fehlen. Die Ausſtattung mit Zeichnungen, 
Photographien und einer Karte, der ge 


80 


diegene Einband, das Papier und der Oruck 
empfehlen das Brockhaus' ſche Buch als aus- 
gezeichnete Einführung in eine der inter- 
eſſanteſten Gegenden der Erde und als Pracht; 
werk jedem Liebhaber beſonderer Selten 
heiten. Denn trotz den Büchern von Fall- 
merayer bis Gelzer iſt der Athos, glücklicher; 
weiſe, nur in den geiſtigen Beſitzſtand weniger 
Eingeweihten getreten. 

Das Brockhaus' ſche Buch gibt naturlich vor 
allem Aufſchluß über die Kunftfhäße des 
Athos, über Architektur, Plaſtik, Malerei, 
Handſchriften und Kunſtgewerbe vom Mittel- 
alter bis ins 19. Jahrhundert. Die mehr als 
dreihundert großen Seiten durchforſchen dieſe 
Gebiete bis ins einzelne, wiſſenſchaftliche Be- 
lege und Beziehungen auf alles früher Er- 
ſchienene den eigenen Beobachtungen und 
Urteilen reich verbindend. Was griechiſche 
und deutſche, franzoͤſiſche, engliſche und 
flavifhe Gelehrte an Vorarbeiten geleiftet 
haben, wird mit aller Sorgfalt in den Dienft 
des monumentalen Werkes geſtellt. Die Einzel- 
heiten der zwanzig fo verſchiedenen Klöſter 
werden auf das klarſte geſchildert, ſo daß der 
Leſer außer der Belehrung auch eine gewiſſe 
Verſenkung in das älteſte der europäiſchen 
Weltwunder mit gewinnt. Man weiß all- 
gemein von den Herrlichkeiten Griechenlands, 
Italiens, Konſtantinopels, Agyptens; aber 
den Athos, welcher mindeſtens ebenſo reiz- 
voll in ſeiner Art iſt, kennen die wenigſten. 
Das „ewige Volk, in welchem niemand ge- 
boren wird“, das Paradies der Weltüber- 
winder gehört zu den unbekannteſten Glang- 
punkten Europas. 

Die zweite Auflage des Brockhausſchen 
Buches enthält ein höchſt überraſchendes 
neues Kapitel: „Der Athos und Utopien“. 
Der Verfaſſer will nachweiſen, daß Thomas 
Morus die Idee feines Staates aus den tat- 
fächlihen Verhältniſſen der Athosrepublik 
gewonnen habe. Und er iſt in der Lage, für 
ſeine Hypotheſe recht einleuchtende Gründe 
anzugeben. Für das Verſtändnis der be- 
rühmten Schrift ergeben ſich dann neue 
Folgerungen: „Es zeigt ſich, wenn man den 
Athos kennt und im Sinne hat, daß Utopien 
bisher in der ganzen Literatur falſch aufge- 


Auf der Warte 


faßt iſt.“ „Die Athoskultur tritt in helles Licht, 
wenn wir ſo ſehen: ſie hat als Leitſtern gerade 
dem Buche vorgeſchwebt, das in der Schil- 
derung des Landes Utopien dem Abendlande 
ein unerreichbares Ideal vorhielt.“ Wer ſich 
mit dem Brockhausſchen Buche zur erſten 
Einführung in das Studium der Athos-Halb- 
infel befaßt, erweiſt ſich einen Gefallen. An- 
merkungsweiſe darf ich erwähnen, daß eine 
neuerdings im Inſel Verlag erſchienene Athos; 
Symphonie im Literaturnachtrag noch hätte 
erwähnt werden können. Im übrigen gibt das 
Werk zu weiterer Befaſſung mit dem Stoff den 
unerläßlichen Ariadnefaden recht zuverläſſig. 

Von nicht unähnlicher Geſamtſtimmung 
durchdrungen iſt das Oeißmannſche Buch 
über Paulus. Auch dieſes erwähnt als eine 
ſeiner Lehrmeiſterinnen jene neue, die „ganz 
und gar nicht akademiſch und ganz ohne 
Papier und Paragraphen alles, was ſie lehrt, 
in Freilicht und Freiluft mit gütiger Hand 
ſpendet: die Welt des Südens und Oſtens, 
die Welt des Paulus“. Zwei Orientreiſen 
haben manche belebende Farbe zur Endgeſtalt 
des tiefgründig gelehrten Werkes beigeſteuert. 
Wie Renan das Leben Fefu, fo hat Deißmann 
das Weſen des Apoſtels Paulus auch aus den 
realen Quellen, die außer den Schriften vor- 
liegen, wirklichkeitskräftig geſchaut und dar- 
geſtellt: aus der Sprache von Landſchaft und 
Kultur und aus dem Sinn des uralt über- 
kommenen Kultes, deſſen griechiſch - orthodoxe 
Grundformen übrigens nach der Theſe Kerns 
auf eleuſiniſche Myſterienüͤberlieferung zu- 
rũckgehen ſollen. Deißmanns Werk hat bei 
aller Gründlichkeit einer philologiſch fun- 
dierten Gelehrtenarbeit jenen menſchlich 
warmen Geiſt, der den Apoſtel tiefer verſteht 
als die ältere Schule, die aus ihm einen bloßen 
Chriſtologen machte. Nach OSeißmann iſt 
Paulus Ehriftusträger und Myſtiker, nicht 
dogmatiſcher Intellektualiſt. Die pſycholo- 
giſchen Tiefenzuſammenhänge feines Lebens 
und feiner Lehre werden menſchlich begreif- 
bar und vielfeitig dargeſtellt. Das Zufammen- 
wirken jüdifch-öftlicher und helleniſtiſch⸗weſt⸗ 
licher Kulturſtröme im Urchriſtentum wird 
lehrreich erörtert. Die Verklärung der Perſon 
Jefu zum Pneuma-Chriftus und die ganze 


Auf der Warte 


ſich an dieſen Begriff anſchließende pauliniſche 
Chriſtusmyſtik in ihren Einzelheiten, die ja 
zur Grundlage des chriſtlichen Glaubens ins- 
befondere in der evangeliſchen Kirche ge- 
worden find, erfährt eingehende Durch- 
leuchtung. Dak auch Theologie und Religions- 
philoſophie den Gedanken der Polarität mit 
Vorteil verwenden können, zeigt Deißmann 
an verſchiedenen Stellen. Die tontemplative 
Entfaltung der Gottes und Chriſtusgewißheit 
des Bekehrten, der in der Gemeinſchaft mit 
Ehriftus die — im Gegenſatz zu ſchwärme⸗ 
riſchem Selbſtgenuß — reagierende Myſtik 
der Liebesgemeinſchaft durch die Gnade ver- 
wirklicht, wird vom Verfaſſer in überzeugender 
Weiſe entworfen. Es erübrigt ſich zu ſagen, 
daß das langbewährte Buch in die Einzel- 
beiten der Quellen hinabſteigt und mit um; 
faffendfter Sachkenntnis geſchrieben iſt. Einem 
breiteren Leſerkreis, der aus dem Werke viel 
entnehmen kann — erinnert es in ſeiner 


Wärme und Menſchlichkeit des Tones doch an 


Bücher wie Schures „Heiligtümer des Oſtens“ 
— dürfte die Feſtſtellung dienlicher fein, daß 
die ganzen Lebenswirklichkeiten der Welt des 
Paulus fo anſchaulich geſchildert und nader- 
lebt ſind wie ſein inneres Werden und Wollen. 
Von des Verfaſſers Eigenart mögen feine 
Bemerkungen gegen eine boshafte Kritik 
Zeugnis geben: „Das letzte und beſte Ver- 
ftändnis der pauliniſchen Chriſt-Innigkeit 
kann mit den rein grammatiſch-hiſtoriſchen 
Mitteln der Studierſtube nicht erreicht werden; 
es kann nur intuitiv erſchloſſen werden. Im 
Heiligtum, im Sanktiſſimum der chriſtlichen 
(oder doch chriſtlich eingeſtellten) PBerfönlich- 
keit — und im Heiligtum der um den Meiſter 
kultiſch geſcharten Gemeinde ... Die kultiſche 
Praxis der chriſtlichen Gegenwart, obwohl bei 
ms oftmals doktrinär abgeſchwächt, myftit- 
ſcheu und trivialiſiert, iſt die Hoheſchule für 
das letzte und beſte Verſtehen der urchriſtlichen 
Frömmigkeit.“ 

Die beiden Bücher erſchließen uns Chriſt- 
wunder aus der Sonne Homers — jenes das 
Wunder einer ehrwürdigen Kulturſchöpfung, 
dieſes das Wunder einer ſeeliſchen Wieder- 
geburt. 

Privatdozent Dr. Ernſt Barthel (Köln). 
Der Türmer XXVIII, 1 


81 
Tirpitz 


aiſer Wilhelm II. ſagt in ſeinem Buche 

„Exeigniſſe und Geſtalten“ über den 
Großadmiral v. Tirpitz: „Es iſt nur zu wün- 
ſchen, daß dieſe Kraft dem in Not und Be- 
drangnis befindlichen armen deutſchen Vater 
lande bald wieder helfend zur Seite ſtehen 
möge, Sie wird können und wagen, was viele 
andere nicht wagen. Jedenfalls gilt vom Ad- 
miral v. Tirpitz das Dichterwort: Höchſtes 
Glück der Erdenkinder ijt doch die Perfönlich- 
keit.“ 

Und tatſãchlich ijt der alte Seerecke und greife 
Staatsmann wieder auf dem Plane erfdie- 
nen, um „feinem Volle zu helfen, ſoweit feine 
Arbeitskräfte noch reichen, und da weiß er 
keinen anderen Weg, als den der Wahrheit“. 
Das ganze deutſche Volk iſt dem Großabmiral 
zu tiefſtempfundenen Oank verpflichtet, daß 
er, deſſen langes, arbeitsreiches Leben ein 
ewiger Kampf für Deutſchlands Aufſtieg zur 
Weltmacht gegen ſeine Widerſacher jenſeits des 
Kanals und — Gott ſei's geklagt — auch im 
eigenen Lager war, trotz ſeinem hohen Alter, 
noch einmal für die deutſche Sache ſtreiten 
will, indem er ſeine „Erinnerungen“ (1919 bei 
Köhler, Leipzig) durch „Politiſche Ooku- 
mente“ (1. Band „Der Aufbau der deutſchen 
Weltmacht“ bei Cotta, Stuttgart) ergänzt und 
damit einen Vernichtungsfeldzug gegen das 
Märchen über die deutſchen Ruͤſtungen für 
den Weltkrieg und wider die Kriegsſchuldlüge 
eröffnet. 

Alle rechtlich denkenden Deutſchen muß es 
mit Abſcheu erfüllen, wenn das offizielle Or- 
gan der ſozialdemokratiſchen Partei, der „Vor- 
warts“, am 28. November 1924 feinen Leſern 
vorſetzt: „Herr v. Tirpitz hat ſich Aktenſtüͤcke an; 
geeignet und veröffentlicht, die dem Staate, 
nicht ihm gehören. Er hat Akten unterfdla- 
gen... Er hat es getan, um feine werte Perjon 
weiß zu waſchen — im Gegenſatz zur geſchicht; 
lichen Wahrheit und unter Aufopferung der 
Intereſſen Deutſchlands. Er hat es weiter 
getan aus Gewinnſucht, um mit feinen Publi- 
kationen zu verdienen. Seine Haltung iſt fo un- 
ehrenhaft, daß er ein erledigter Mann ſein 
müßte ...“ 

6 


82 


Unb Scham rötet unfere Stirnen, wenn wir 
lefen, daß der Bibliothekar der Preußiſchen 
Landesverſammlung, Dr. Thimme, in zwei Ar- 
tikeln (im „Berliner Tageblatt“) „Armer Herr 
von Tirpitz“ es wagt, den Großadmiral als 
„Lügner“ und „Vater der Lüge“ zu bezeich- 
nen und behauptet, er habe elend gekniffen, 
als er 1916 Nachfolger des Reichskanzlers von 
Bethmann -Hollweg werden follte! Das ift die 
Sprache des Mannes, der den verantwor- 
tungsvollen dienſtlichen Auftrag erhielt, in 
einer Akten veröffentlichung „England und die 
deutſche Flotte“ ein objektives, nur auf 
geſchichtlichen T atſachen aufgebautes Bild 
von dem Schöpfer der deutſchen Flotte zu 
geben! 

Wie anders haben fremde Völker, fogar die 
ehemaligen Widerſacher des Großadmirals, 
dieſes Buch aufgenommen! Die „Times“ 
ſchreibt: „Admiral v. Tirpitz, der ſelbſt eher 
den Figuren aus der Zeit Wilhelms I. 
gleicht ..“ und weiter: „Es iſt eine Über- 
raſchung zu ſehen, daß Admiral v. Tirpitz gegen 
den Plan einer Flottenvermehrung war und 
ſich ihm mit ſeiner ganzen Kraft entgegenſtellte 
im Intereſſe der Friedenser haltung...“ 

Der Großadmiral iſt einer von den Großen, 
denen das Schwerſte im Leben nicht erſpart 
geblieben iſt: nach den jubelnden Hofianna- 
Rufen das bittere „Kreuziget ihn!“ Damals, 
als im deutſchen Volke die alte Sehnſucht nach 
Wiedergewinnung verlorener Seegeltung und 
Seemacht wach wurde und jeder Oeutſche be- 
geiſtert dem Kaiſer auf dem Wege der Welt- 
machtpolitik folgte, jubelten die Vertreter 
aller Parteien und Geiſtesrichtungen dem 
Schöpfer der deutſchen Flotte zu, und bis tief 
in die linken Reihen der Demokratie hinein hat 
man an Tirpitz geglaubt und feſt zu ihm ge- 
halten, als er ſchon in Kaiſerliche Ungnade 
gefallen war und ſeinen Abſchied erbeten 
hatte. So widmete z. B. die „Voſſiſche Yei- 
tung“ (16. März 1916) dem Staatsſekretär 
folgenden Nachruf: ,... Sein Rücktritt in 
ſchickſalsſchwerer Zeit weckt nicht nur in der 
Marine lebhaftes Bedauern, ſondern auch 
überall im Lande, ohne Unterſchied der Par- 
teien. Denn in ihm ſcheidet der Mann, in dem 
fic für weite Kreiſe unſeres Volkes die deutſche 


Auf der Warte 


Marine mit all ihren herrlichen Waffentaten 
verkörperte, deſſen nie erlahmende Tatkraft 
und vorbildliche Pflichttreue die Emporfüh- 
rung des deutſchen Flottenweſens auf ſeinen 
heutigen Stand in materieller, geiſtiger und 
moraliſcher Hinſicht zum guten Teil zu danken 
iſt. Es wäre zu wünfchen geweſen, daß es ge- 
rade dieſem hervorragend tatkraͤftigen Golba- 
ten und Staatsmann vergönnt gewefen wäre, 
an ſeinem Teil bis zum Ende dieſes großen 
Ringens mitzuwirken.“ 

Und überſchwenglich ſchrieb eine führende 
Perſönlichkeit des linken Flügels des Zentrums 
in der „Germania“ über „unſeren Tirpitz“. 

Und doch haben ſie das Gelöbnis vergeſſen 
und ihm in ſchwerſter Zeit die Treue gebro- 
chen! 

Jeder halbwegs einſichtige Menſch, dem die 
Partei nicht über das Vaterland geht, muß 
beim Leſen der „Politiſchen Dokumente“ zu 
der Überzeugung kommen, daß der Groß- 
admiral niemals den Krieg gewollt und vor- 
bereitet hat, daß in keinem Falle perſönliche 
Eitelkeit die Triebfeder zu, uferloſen“ Flotten 
plänen geweſen ift. Jeder, wenn er nur objet- 
tiv und wahrheitsliebend iſt, auch der, der im 
anderen politiſchen Lager lebt, muß, wenn er 
dieſes Werk (in dem alle Gegner des Groß- 
admirals zu Worte kommen) zur Hand nimmt, 
zur Überzeugung kommen, daß das Gegenteil 
wahr iſt. 

Aus dieſem Grunde muß man das Tirpitz 
ſche Werk als eines der beweiskräftigſten Bü- 
cher anſehen, die ſeit Beendigung des Krieges 
zu Deutſchlands Entlaſtung im Kampf gegen 
die Kriegsſchuldlüge geſchrieben worden find, 

Näher auf den Inhalt einzugehen, iſt mir 
im Rahmen dieſer Gedanken nicht möglich. 
Für den Politiker ift es eine köſtliche Fund- 
grube bezüglich der großen weltgeſchichtlichen 
Ereigniſſe in ihren urſächlichen Zufammen- 
hängen. Wir durchleben beim Leſen noch ein- 
mal ſtolz die große Zeit der Entwickelung der 
deutſchen Weltmacht. Aber auch bittere, trübe 
Gedanken werden in uns wach, wenn wir 
lefen, wie wir uns ſelbſt geſchwächt und zum 
enblichen Siege unfähig gemacht haben. Es 
ijt zu wünſchen, daß dieſes Werk von jedem 
gebildeten Deutſchen geleſen werde und daß 


Auf der Warte 


immer weitere Kreiſe unferes Volkes den un- 
geheueren politiſchen und geſchichtlichen Wert 
dieſer Dokumente eines unſerer Beſten er- 
kennen — eines Mannes, zu wertvoll, um 
weiterhin den Parteien als Zankapfel zu 
dienen. Topp, Oberleutnant zur See. 


Unfranzõſiſches aus dem Elſaß 


ei der Eröffnung der elſäſſiſchen Ge- 

werbeausſtellung in Münſter äußerte 
der Abg. Burger, Leiter des Winzerverbandes, 
in einem Trinkſpruch, Schiller habe für die 
Franzoſen die Jungfrau von Orléans gejdrie- 
den, für die Spanier den Don Carlos, für die 
Schweizer den Tell und für die Deutſchen die 
Räuber. In Form eines heiteren Briefes von 
Friedrich Schiller aus der anderen Welt ſtellt 
die neue elſäſſiſche Wochenſchrift „Zukunft“, 
ein tapfer geleitetes Blatt, die ſonderbaren 
Angaben des verwälſchten Elſäſſers richtig. 
Danach hat Schiller die Jungfrau von Or- 
lẽans nicht für die Franzoſen, ſondern für die 
Elſäſſer geſchrieben im Hinblick auf das 
Wort: „Nichtswürdig iſt die Nation, die nicht 
ihr Alles freudig ſetzt an ihre Ehre“. Die „Räu- 
ber“ aber ſchrieb Schiller für die Franzoſen, 
und in Paris fanden ſie ſo lebhaften Beifall, 
daß die revolutiondre Konventsregierung 
Schiller zum Ehrenbürger Frankreichs er- 
nannte. 

Wie erinnerlich erhob die franzöſiſche Liga 
gegen die deutſche Kultur im Elſaß Einſpruch 
gegen die Aufführung von Goethes Fauſt im 
Straßburger Stadttheater. Darauf antwor- 
tete nicht übel die Straßburger „Röpublique“ 
mit folgenden Verſen aus dem Fauſt: 


Rnurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen, 
Die jetzt meine ganze Seel’ umfaſſen, 

Will der tieriſche Laut nicht paſſen. 

Bir find gewöhnt, daß die Menſchen verhöhnen, 
Das ſie nicht verſteh'n, 

Daß jie vor dem Guten und Schönen, 

das ihnen oft beſchwerlich iſt, murren; 

Dill es der Hund, wie fie, beknurren? 


Den Franzoſen noch unliebſamer äußerte 
ſich der franzöfifche General Percin, der ſchon 
früher die Kriegsſchuld Poincarés behandelte, 


85 


in der franzöſiſchen Zeitſchrift „Midi socia- 
liste“ mit Bezug auf die Straßburger Reden 
des Präſidenten Doumergue und des Minifter- 
präjidenten Painlé vs: Elſaß-Lothringen — 
ſagt er gradraus — hatte gar nicht den 
Wunſch, wiederum franzöſiſch zu wer- 
den. Darüber war man in Paris unterrichtet. 
Deshalb entzogen die Pariſer Friedensmacher 
den Elſaß- Lothringern das verkündete Selbſt⸗ 
beſtimmungsrecht und verweigerten ihnen die 
verlangte Volksabſtimmung. Sollte heute in 
Elſaß-Lothringen eine Volksabſtimmung vor- 
genommen werden, fo würde fie mit erdrücken; 
der Mehrheit gegen Frankreich ausfallen oder 
wenigſtens ganz bedeutende Selbſtändigkeit 
verlangen. Das oben erwähnte, durch ſeine 
tühne Haltung Aufſehen erregende Blatt „Die 
Zukunft“ ſchreibt in einer feiner letzten Num- 
mern: „Bei uns nimmt das Malaife (Unbe- 
hagen) ſeit 1919 ftändig zu. Während in der 
erſten Zeit nach dem Waffenſtillſtand die Be- 
geiſterung für Frankreich groß, der gute Wille 
zur ſprachlichen und andren Aſſimilation all- 
gemein und faſt rührend war, find die Elſäſſer 
heute ganz gewaltig abgekühlt. „O' Güdle 
ſin' ne uffgegange 5 Ein dumpfes Murren geht 
durch das Land...“ D. 


Straßburger Theaterſkandal 


in neues, ſchneidig geleitetes Blatt in El- 

ſaß-Lothringen, „Die Zukunft“ (Straß 
burg, Stephansgaſſe J kämpft dort in einer 
bisher unerhört kühnen Tonart um elfäf- 
ſiſche Heimatrechte. Und zwar nur von 
Elſaß-Lothringern geſchrieben und unterjtüßt. 
In dem feigen Kompromißlertum oder in der 
allgemeinen Gedudtheit, die ſich dortzulande 
ſo leicht einſtellt, fällt dieſer herzhafte Ton 
wahrhaft befreiend auf. Wie die Sprachen- 
frage auf dem Theatergebiet angefaßt 
wird, beweift der folgende Artikel (Jahrg. I, 
Nr. 17): 

„„ . . Vor einigen Tagen iſt der Spielplan 
des Straßburger Stadttheaters für den kom- 
menden Winter bekanntgegeben worden: viel 
Altes, auch ſaftige Frohſinnlichkeit neben ab- 
gekühltem Reiz, gewiß wenig Neues, doch all- 
gemein Muſik, Tanz, Komödie, wippelnde 


84 


Beinchen. Kurzum alles, was herkömmlich ift 
und war. Kein Wort aber von deutſcher 
Vorſtellung, keines von der Möglichkeit 
die, denen der Schnabel nicht welſch 
gewachſen iſt, auch an der Kunſt im Theater 
ſich zu wärmen! Und das ſind achtzig vom 
Hundert der Bürger. 

Mit dem Spielplan des Theaters wird auch 
ſein Finanzplan zu gleicher Zeit bekannt. 
Fehlbetrag für die Spielzeit 1925—1 926, von 
der Gemeinde Straßburg zu decken, rund 
1217000 Frs. Dazu ein Staatszuſchuß von 
95000 Frs., aus dem Vermächtnis Apffel wei- 
tere 236000 Franken und ein nicht bezifferter 
Zuſchuß aus der mietfreien Hergabe des 
Theatergebäudes. Anderthalb Millionen 
Franken alles in allem! Dieſe Summe aber 
zahlen nicht die Nutznießer des Millionen-Auf- 
wandes, denn der Leute, die Franzöſiſch kön- 
nen, fo können, daß fie mit Genuß den Dar- 
bietungen zu folgen vermögen, gibt es unter 
den Straßburgern gar wenige. Es find höͤchſtens 
zwanzig vom Hundert der Einwohnerſchaft. 

Wer alſo nicht begreift, daß nie Straßburg 
deutſches Theater brauchen kann, wohl aber 
immer ein ftodfranzöfifches haben muß, dem 
iſt halt nicht zu helfen. Vielleicht merkt's einer 
doch, wenn das Loch im Stabtfddel größer 
wird. Das Defizit betrug feit 1920: 1114670; 
914023; 987717; 1038023; 1100000 Fran- 
ken, wozu jetzt die 1217000 aus dem Boran- 
ſchlag kommen, zuſammen 6% Millionen 
Franken! Dieſe Summe, in Steuerzuſchlag 
aufgelöft, bedeutet etwa 54 Zuſchlagscentimes, 
fo daß jeder Straßburger Bürger, der für ein 
Jahr 1000 Franken Gemeindeſteuern zahlt, 
zu dem angeführten Theaterdefizit mit etwa 
250 Franken ſich herangezogen ſieht. Diefe 
Summe wäre doppelt fo hoch, wenn die Gagen 


alle den Stand erreichten, der anderwarts für 


gute Kräfte maßgebend iſt. Aber Straßburg 
bezahlt die Kuͤnſtler erbärmlich, wiewohl für 
dieſes Jahr ein guter Schritt vorwärts getan 
worden iſt. Unſer wackerer Münch, der aller 
dings nur ein Elfäffer iſt, verdient — man 
darf es ja ſagen, weil ſie alle im Budget ſtehen 
— ganze 1360 Franken im Monat. Der Hel- 
dentenor hingegen erſingt ſich 10000 Franken 
in derſelben Zeit! 


Auf der Warte 


Es ſoll hier weiter keine Kritik an der Or- 
ganiſation, keine an der Finanzwirtſchaft, 
keine auch an den Leiſtungen geübt werden. 
Schärfſte Kritik fordert aber die Sprachen- 
politik des Theaters heraus: das iſt ein 
Skandal! 

Man zwingt die Steuerzahler, ohne An- 
ſehen der Perſon, zu den Koſten des Theaters 
beizutragen; man ſchließt aber die achtzig 
Prozent davon, die überhaupt nicht 
oder nur mangelhaft Franzöſiſch ver- 
fteben, ohne Ridfidt vom Beſuch des 
Theaters aus. Wo in aller Welt wiederholt 
ſich eine ſolche — man kann nicht anders 
ſagen — eine ſolche behördliche Dumm- 
heit oder Frechheit? Eine derartige Zu- 
mutung ließe ſich anderwärts doch nirgends 
die Bürgerfchaft gefallen. Und wenn die 
Stadtverwaltung verantwortlich dafür wäre, 
jagte der allgemeine Unwille zwiſchen Eröff- 
nung der Kaſſe und Beginn der Vorſtellung 


Bürgermeiſter und Ratsherren zum Tempel 


hinaus, fiele die Verantwortung aber auf die 
Regierung, dann verriegelte die Selbſt- 
achtung der Stadt das Theaterhaus 
eher für Jahr und Tag, als daß ſie ſolchen 
Abergriff duldete. 

Dod in Straßburg ift das anders, iſt über- 
haupt alles anders. Es wird viel von der Be- 
hauptung der Selbſtverwaltung geredet, aber 
nichts anderes dafür getan, als wieder geredet. 
Man hat im Theater ſchon etwas gelernt: 
beugt den Kopf, duckt die Seele und dankt für 
ben Orden. Die Herrſchaften aus dem In- 
térieur find uns teuere“ Freunde. Für ihr 
Gelüſt fronen wir, bislang ohne lautes 
Murren. Von ihnen dulden wir die 
Spradtyrannei, die fie fo ergöͤtzlich finden. 
Aber nicht lange mehr. 

Den deutſchſprachigen Theaterfreunden, 
der großen Maſſe der Bürger, hat man herab- 
laſſend, nachdem ſie ſechs Jahre lang darauf 
gewartet, in der vorigen Spielzeit zweimal 
die Pforten ihres eigenen Hauſes zu einenz 
Sdhaufpiel geöffnet. Zweimal in ſechs Jahren 1 
Man hat die Einheimiſchen gezwungen, nach 
dem fie ſechs Jahre lang den größten Teil bes 
Stadtzuſchuſſes zugunſten vornehmlich der 
Zugewanderten zuſammengeſteuert hat — 


Auf der Warte 


ten, beide Male einen Eintrittspreis zu zahlen, 
den ein kleiner Beamter oder Arbeiter über- 
baupt nur ausnahmsweis erſchwingen konnte. 
Sonſt toftet der Stadt jeder Spielabend rund 
zehntauſend Franken Zuſchuß, bier mußte 
aber noch ein Überſchuß herausgepreßt wer- 
ben. Und dennoch war das Haus überfüllt, 
kehrten Hunderte vor der nach zwei Stunden 
wieder ausverkauften Kaſſe um. In dieſen 
beiden Tatſachen lag ein ſtummer aber wür- 
diger Proteſt gegen die geiſtige Knebelung 
unferes Volkes, eine ſcharfe Verurteilung der 
Haltung der Regierung. Man muß dabei ge- 
wefen fein, um es zu erfaſſen. 

In Straßburg iſt vieles anders, wie gejagt. 
Dielleicht lernt hier Frankreich auch noch 
etwas Neues: ſich zu ſchämen vor Europa 
fiber den kleinlichen Geift feiner Re- 
gierung. Sudermanns Dramen mußten aus 
dem Schriftdeutſchen in den elſäſſiſchen Dia- 
lekt überſetzt werden, um aufgeführt werden 
zu dürfen. Iſt das nicht zum Heulen? Wahr- 
baftig ! 

Man ftelle fid vor, in Metz hätte Roſtands 
Cytano erſt ins Patois messin überfegt werden 
miffen, um vom Bezirkspräſidenten zur Auf- 
führung zugelaſſen zu werden! In Elſaß⸗ 
Lothringen iſt alles möglich? Heute, ja...“ 

Dieſe Koſtprobe genügt. Man legt das fei- 
ſelnde Wochenblatt, wenn man es zu leſen 
begonnen, ſo leicht nicht wieder aus der Hand. 
Hier find Elſaß-Lothringer, die fid, mit be- 
wußter Unabhängigkeit von Oeutſchland, end⸗ 
lich einmal felber zu helfen wiſſen. Dieſer 
„Hans im Schnokeloch' weiß, was er will! 


Die Lebendigmachung des Mittel⸗ 


ſtandes 


swald Spengler ſchrieb in feinem Neu- 

aufbau des Reiches über den „Sumpf“. 
Heute gähnt er uns in feiner nackten Scham; 
und Troſtloſigkeit an. 

Das Bürgertum hat alle bie Jahre über am 
ſchwerſten gelitten. Es hat feine Ideale ge- 
opfert, ſein Glaube iſt ihm untergraben, ſein 
Dermögen unter den Händen zu Waſſer ge- 
worden, Es hat geduldet und geſchwlegen. 
Ringsum fab es Zuſammenſchluß: bei den mit 


8⁵ 


moskowitiſchen Phraſen und mit mostowi- 
tiſchem Geld gefangenen Kommuniſten, bei 
den ſozialiſtiſchen Gewerkſchaften und auch in 
den Reihen des treu bei feiner Stange blei- 
benden Zentrums. 

Das Bürgertum war allzu abhängig vom 
alten Beamtenſtaat und von den Armeen ge- 
weſen. Es hatte ſich hinter dieſen wie für die 
Ewigkeit feitgefügten Palifaden ſicher ge- 
fühlt und war feinem Handel und Wandel 


nachgegangen, fo individuell und vielfeitig, 


wie feine Belange waren, 

Nun ſtand es plötzlich ſchutzlos da und war 
froh, daß es auch noch in den Revolutions 
wirren ſeine Exiſtenz, wenn auch eingeengter 
und hoffnungsloſer, fortfriſten konnte. Es war 
eben doch zu ſehr an Reglementierung und 
Nichtgefragtwerden gewöhnt worden. Diefer 
ſchwere Fehler des alten Staatweſens rddte 
ſich nun. Dem Bürgertum war jedes ftändifche 
Gefühl verloren gegangen. Es wußte nichts 
mehr von ſeinen Pflichten, die ſeine Rechte 
waren, nichts mehr von der großen reorgani-. 
ſatoriſchen Erweckungstat, mit der einſt der 
geniale Reichsfreiherr vom Stein 1808 dem 
niedergebrochenen preußiſchen Volke durch 
die Selbftverwaltung neues, eigenwüchſiges, 
torporatives Leben und damit neues Gelbit- 
bewußtfein gab. Längſt vergeſſen hatte es 
feine hohe Blüte im Mittelalter, wo die ge- 
meinfreien Stände in den Reichs- und Freien 
Städten ein großartiges Leben zum Blühen 
brachten, wo ſich in den Innungen und 
Zünften die „Geſchlechter“ im Dienſt ihrer 
Städte zuſammenſchloſſen und in berechtigtem 
Stolz an die Ehre und das Anſehn ihres Ge- 
meinweſens alle Kräfte ſetzten; wo die Bau- 
bitten als Hiterinnen überkommener Weis- 
tümer die gewaltigen Kirchen und Münjter 
ſchufen, in denen die Gemeinſchaft ihre innere 
religidfe Zuſammengehoͤrigkeit bekräftigte. 

Wir ſtehen heut an einer Schickſalswende. 

Der geſunde Kern unſeres Volkes iſt des 
unfruchtbaren Politiſierens müde. Er ſehnt 
ſich nach einer das Daſeinsminimum gewähr- 
leiſtenden Arbeit und nach einer neuen fitt- 
lichen und anſtandshaften Lebensführung. 
Nun kommt zur rechten Stunde ihm ein 
Helferpaar. 


86 


Willy Schlüter, der Schöpfer des 
„Deutſchen Tatdenkens“, der an Stelle des 
Habewerts den Hebewert, das fchöpferifche 
Werden in einem unendlichen Tun ſetzte, tat 
ſich mit Dr. Wilhelm Dresden zuſammen: 
und beide Kratologen und Tatdenker ſchufen 
das ſittliche Grundbuch einer neuen, auf dem 
tiefſten völkiſchen Ethos beruhenden Standes- 
forſchung in ihren 99 Theſen für das 
ſchaffende Volk: „Die Miffion des 
Mittelſtandes“. (Auch dies Werk erſchien 
wie das „Deutſche Tatdenken“ im rührigen 
Verlag Oskar Laube Dresden.) 

Man hält es kaum für möglich, was ſchaf⸗ 
fensträchtige, volkserzieheriſche, auf reale 
Ziele gewandte Begeiſterung auch heute noch 
vermag. „In kaum fünf Wochen wurde das 
Werk in einem Zuge geſchrieben.“ In kräftig 
kernigen Sätzen werden die Leitgedanken in 
Theſen hingewuchtet: klar, einfach und ein- 
dringlich. An jede ſchließt ſich eine tief durch- 
dachte, aus tiefſtem ſchmerzlichen Erleben ge- 
borene Exegeſe. 

Zunächſt gilt es den Begriff des neuen 
Mittelſtandes zu begründen. Der Mittelſtand 
iſt nicht nur Volks-, ſondern auch Adelsſtand: 
denn er fußt auf einer vielhundertjährigen 
Tradition. 

Seine Überlegenheit über das Partei- 
denken erweiſt ſich in ſeinem Umfaſſen: „Er 
iſt Mitdemokrat, Mitariſtokrat, Mitſozialiſt, 
Mitnationaler, Mitkonſervativer, Mitliberaler, 
je nach der Eigenart der ſich ihm ſtellenden 
Führungsaufgabe und immer im Hinblick 
auf das Volk in ſeiner Ganzheit“. 

Seine Kraft liegt nur in feinem Standes- 
bewußtſein. Er denkt niemals proletariſch, 
fondern immer potentariſch. „Im Arbeiter, 
der ſolchermaßen Stand in ſein Walten baut, 
adelt ſich das proletariſche Weſen mit ſeinem 
Abwärtsdeuten zum potentariſchen Aufwärts- 
werten der Arbeit.“ Die Heiligung der Arbeit 
erfolgt durch die geſinnungsmäßige Um- 
einſtellung. Der Kern der Arbeit liegt in der 
Beſeelung. Der Mittelſtand muß wieder 
lernen, daß auf der Arbeitsfreude, auf dem 
Grund der Rechtlichkeit des ganzen Volkes 
Kultur und Kunſt beruht. 

Dazu iſt Wechſelbelebung und Wedfel- 


Auf der Warte 


hebung Vorausſetzung. Wahrer Mittelſtand iſt 
großgeiſtig, erkennend, fauſtiſch, nicht klein- 
bürgerlich - enges Spießbürgertum. 

Oer Werkgang beſtimmt die fällige Pflicht. 
Geſunder Mittelſtand kann mit jeder Art 
Doktrinarismus, jeder Art Schwarmgeiſterei 
nichts anfangen. Es gibt nur Fortſchreiten, 
kein Endziel. Der Mi ttelſtand wahrt die hifto- 
riſche Stetigkeit: er nimmt langſam Neues an, 
aber er verarbeitet es und ſchafft es weiter. 

Die Verfaſſer verlangen ſichtbare Tat des 
neuen überparteilichen Zuſammenſchluſſes 
aller werkſchaffenden hand- und kopftätigen 
Glieder des Mittelſtandes, einen allgemeinen 
Arbeitsbienft zur Neubelebung von In- 
duſtrie, Handel, Handwerk und Landwirtſchaft. 

Durch dieſen Arbeitsdienſt, zu dem nament- 
lich die Jugend gefordert wird, ſoll Trans- 
portweſen, Straßenbau, Hausbau gefördert, 
Pünktlichkeit, Straffheit, Verantwortungs- 
freude geſchult werden. „Daß heute Werk- 
wirtſchaft gegen ſteuerungsloſe Warenwirt- 
ſchaft, Werk-Ethos gegen Parteipolitik ge- 
drängt wird, ift eine weltgeſchichtliche Situ⸗ 
ation, wie ſie in dieſem Ausmaße, dieſer 
Menſchheitsgefährdung noch nicht dageweſen 
ist.“ 

Gelingt diefer ſtändiſche Zuſammenſchluß, 
fo fintt das öde finnlofe Parteigetriebe ab, 
und den Agitatoren geht ber Stoff aus. Tat- 
geift braucht keine Schwadroneure. Gelingt es 
nicht, rafft ſich das Volk aus ſeiner tatloſen, 
völlig ungeiftigen Schlaffheit nicht auf, fo droht 
völliger Zerfall, Bürgerkrieg, und was ba- 
mit zuſammenhängt. 

Ohne eine innere Befriedigung, ein 
Loskommen von unfruchtbarem Rlaffen- 
kampf, von ewig negierendem Raſſenhaß und 
Maſſenwahn kann Oeutſchland nie von ſeiner 
inneren Machtloſigkeit geneſen. Nur durch 
Ausſcheiden aller Drohnen, deren Grundſatz 
Skrupelloſigkeit und Anſittlichkeit iſt, und 
denen Egoismus höher ſteht als Brüderlich- 
keit, kann es geſunden. 

Auf geſunder Arbeitsteilung beruht die 
Kontrapunktik der Tatfüͤhrung. Ihr entſpricht 
kein bürofratifcher Zentralismus, fondern 
weitgehendſte Selbſtverwaltung der Gemein 
den und Provinzen. 


E 


Auf der Warte 


Zum Stand gehört als Ergänzung der 
Rang, den Schlüter in der demnächſt folgen- 
den „Führungskunde“ tatgeiſtig neufunda- 
mentierte. 

So find hier heilskräftige Geifter am Werk, 
Deutſchland aus feiner tiefen Verworrenheit 
zu neuer Klarheit und neuem ftandesmäßigen 
Selbſtbewußtſein zu führen. Es iſt der Geiſt 
Fichtes, der hier von neuem zu „Deutſchen 
ſchlechthin“ ſpricht. Möchte er bereits Men- 
ſchen mit offenen Sinnen finden! Möchte es 
nicht zu ſpät zu einem endlichen Zufammen- 
finden in einer poſitiven Doltsgemein- 
ſchaft ſein. Unſer ganzes Wohl und Wehe, 
Sein oder Nichtſein hängt davon ab. Handelt! 

Paul Friedrich 


Steiner und Rittelmener 


ir haben in einem kurzem Nachruf in 

der Mainummer des Türmers mit 

einer gewiſſen Zurückhaltung von Rudolf 
Steiner geſprochen. Nachfolgende Wiirdi- 
gung ſtammt nun aus der Feder eines feiner 
getreueſten Verehrer: des früheren Berliner 
Predigers Dr. Friedrich Rittelmeyer, 
der jetzt eine eigene „Chriſtengemeinſchaft“ im 
Zuſammenhang mit der Anthropoſophie ge- 
gründet hat. Er ſchreibt in feiner gleich; 
lautenden Zeitſchrift (Stuttgart, Urachſtr. 41) 
unter anderm folgendes, und das Übermaß 
ſeiner bedingungsloſen Verehrung kann ſchwer- 
lich überboten werden (wir müßten gleich 
vom erſten Satz an Bedenken äußern, be- 
ſchränken uns aber auf eine Schlußbemerkung): 
„ . . Rudolf Steiner war nicht nur ein 
Menſch, der auf der Höhe feiner Zeit dahin 
ging, ſondern er war auch der erſte Menſch, 
in dem wir eine wirkliche Welt- Bildung 
verkörpert ſahen (). Goethe trug europãiſche 
Bildung in ſich und reicht in ſeinem Alter noch 
in den nahen Oſten hinüber. Indien kannte er 
faft nicht. Steiner umfaßte wirklich die 
Kultur feines Planeten. In dem Augen- 
blick, wo die Volker und Kulturen der Erde 
ſich berührten, erſchien auch ein Menſch, der 
ſie in ſich vermählte. und doch hat man 
Steiner keine größere Verſtändnisloſigkeit 
entgegengebracht, als wenn man immer wie- 
der behaupten konnte, er habe dies und das 


87 


von Indien ‚übernommen‘. Das hat er gerade 
nicht getan. Nichts ſteht dem eindringlichen 
Kenner feſter als dies. Man hat wirklich keinen 
Begriff von der freien Selbſtändigkeit, in der 
dieſer Geiſt überall lebte, wenn man von 
Entlehnungen ſpricht. Er kam auf ſeinen 
eignen Wegen zu Entdeckungen, die ihn 
allerdings auch Indien verſtehen lehrten, 
beffer als — man darf das ſchon ſagen, fo an- 
ſpruchsvoll es klingt — bisher je ein Euro- 
päer es verſtanden hat. () Es war eine 
hohe Freude, Rudolf Steiner unter den 
indiſchen Geiſtesſchätzen walten zu ſehen, er- 
klärend, ergänzend, verbeſſernd. Er hatte den 
ganzen Verfall des heutigen Indiens vor ſich, 
aber auch die ganze wunderbare Weisheit der 
indiſchen Vorzeit. Sie durchſchaute er, aber 
als einer, der nicht darin ſeine Heimat hat, 
ſondern von einem höheren Berge darauf 
herabſieht. Dieſer Berg war Chriſtus. Mit 
höchſter Verehrung ſprach Steiner von 
Buddha, aber als von einem, deſſen Werk 
durch das Chriſtusereignis der Vergangenheit 
zugewieſen wurde. „Weil Buddha recht hatte, 
darum mußte Chriſtus kommen.“ Als ich vor 
faſt zwanzig Jahren Buddha genauer ſtudierte, 
mußte ich das Studium abbrechen, weil ich 
immer deutlicher die Überzeugung gewann, 
daß bei dieſen Indern geiſtige Erlebniſſe vor- 
liegen, die uns Europäern fremd find und die 
wir erſt auf unſerem Wege neu gewinnen 
müffen, wenn wir die Inder wirklich follen 
beurteilen können. Durch Steiner lernte man 
dieſe Erlebniſſe kennen. Er ſprach über die ver- 
ſchiedenen Bewußtſeinszuſtände, die in den 
indiſchen Schriften eine ſo große Bedeutung 
haben, und über alle anderen Erfahrungen 
des Boga fo vollkommen als Sachkundiger, 
daß der Inder von heute durch ihn die Größe 
ſeines eignen Landes und ſeiner uralt heiligen 
Offenbarung hätte kennen lernen können. 
Und doch ſprach er nicht wie die englifd- 
indiſche oder amerikaniſche Theoſophie, als ob 
der Kern aller Religionen derſelbe ſei, ſondern 
im klaren Licht der Erkenntnis, daß Chriſtus 
der Offenbarung Fülle ift, in dem auch be- 
ſchloſſen liegt, was einſt Indien groß machte, 
aber fo, wie wir es heute brauchen, und größer 
als Indien es je beſeſſen bat... 


88 


Rudolf Steiner war ein Menſch, von dem 
man ohne Übertreibung ſagen kann: in ihm 
bat die Weltgeſchichte das Auge eines Erden 
bewußtſeins aufgeſchlagen. Er dachte immer 
weltgeſchichtlich im allergrößten Stil. 
Auch während des Weltkriegs hat er ja — 
die Reden von feinem antibeutſchen Verhalten 
ſind reine Verleumdungen, er wollte immer 
den Oeutſchen helfen — den praktiſchen Be- 
weis für feinen durchdringenden weltge- 
ſchichtllchen Blick erbracht. Es war eine Luft, 
mit ihm durch die Menſchheitsgeſchichte wie 
durch eine erhabne Landſchaft zu wandern. 
Alles war klar, hoch und weit, nichts war 
mumienhaft abgelebt oder gedankenſtarr wie 
oft bei Hegel, alles lebendurchblutet, voll- 
menſchlich lebenswarm. 

Vorausſetzung für die Geſchichtsbetrachtung 
Rudolf Steiners war, daß man die Ver- 
gangenheit nicht nur aus Dokumenten durch 
Schluͤſſe erkennen kann, ſondern mit höheren 
Geiſtorganen einfach zurückblicken in das, 
was geweſen iſt. Und Vorausſetzung für 
dieſe Geſchichtsforſchung war wiederum, daß 
alles Geſchehen zwar nicht in der äußeren 
Welt, aber in einer höheren, geiſtigen Welt 
feine Spuren, gewiſſermaßen geiſtige Ab- 
drücke hinterläßt, die der mit geiſtigen 
Augen Sehende auch finden kann. Das iſt 
die Anſchauung von der Akaſchachronik, 
die Steiner fo erbitterte Gegnerſchaft und fo 
bequemen Spott zugezogen hat. Sie iſt eine 
echt bibliſche Anſchauung. Man will es nur 
nicht wahr haben, was in der Offenbarung 
Johannis zu leſen iſt von den Büchern, in 
denen alles verzeichnet iſt, was getan wurde, 
und die einmal aufgeſchlagen werden. Reli- 
gidfe Forſcher find oft dieſen Gedanken auf 
ihre Weiſe nachgegangen, daß das Vergangene 
nicht nur vergangen fein kann, ſondern irgend; 
wo aufbewahrt ſein muß. Es könnte ja im 
Bewußtſein höherer Weſen fein und könnte 
dort geleſen werden, wenn der Menſch zu 
ſolcher Höhe einmal aufzuſteigen vermag. 
Und fo muß man ſich auch die Akaſchachronik 
in Wahrheit denken. 

Wenn Rudolf Steiner von allen lebenden 
Menſchen der war, der weitaus am meiſten 
aus dieſer Akaſchachronik erzählte, ſo war er 


Auf der Warte 


ſich deſſen bewußt, was dies von ihm forderte, 
und die ihm gubdrten und ihn nicht in allem 
nachprüfen konnten, waren ſich auch zum Teil 
deſſen bewußt, was ſie von ihm zu fordern 
hatten. Er ſprach erſt, nachdem er ſehr lange 
gewartet und mit aller nur moglichen Strenge 
ſeine eigne Begabung geprüft hatte. Er ſprach 
immer nur von Oingen, die er nach den 
ſicherſten Methoden, die er ſich gebildet 
hatte, abſolut gewiß wußte. Er ſprach von 
vielem nicht, wenn er irgend einen einzelnen 
Punkt nicht zur vollen Klarheit gebracht hatte. 
Er ſprach niemals, um mit einer Entdeckung 
zu prunken oder zu üͤberraſchen, niemals um 
menſchliche Neugier oder Wißbegier zu be- 
friedigen, niemals um für ſich ſelbſt irgend 
einen Vorteil zu erreichen, und wäre es nur 
der der größeren Glaubenswüuͤrdigkeit. Nur 
durch dieſe größte Strenge und Gewiffen- 
haftigkeit konnte er ſich bei ernſten, vorſichtigen 
wiſſenſchaftlich geſchulten Männern allmählich 
das Vertrauen erwerben, das er genoß. Nur 
durch dieſe größte Strenge und Gewiffen- 
baftigteit war es auch moglich, daß er durch 
über zwanzig Jahre frei ſprach über die ver; 
ſchiedenſten Gebiete, oft taͤglich mehrere Vor; 
träge, immer aus der Fülle heraus, ohne 
ſich je zu widerſprechen ..“ (? O. T.) 

Hier brechen wir mit einem Fragezeichen 
ab. Wir hätten an vielen Stellen dieſes Frage; 
zeichen einfügen muͤſſen. Man fieht aus diefen 
Worten Friedrich Rittelmeyers, daz eine 
höhere Einſchätzung ſchlechterdings nicht mög- 
lich iſt. An anderer Stelle desfelben umfang-; 
reichen Aufſatzes heißt es: „Rudolf Steiner 
war der erſte Chriſt von allen, die wir 
kennen, dem der Himmel auf der Erde 
offen ſtand.“ Man könnte zwar an Sweben- 
borg und manche Viſionen der Heiligen er- 
innern, aber es wäre zwecklos. Rittelmeyer 
behauptet und glaubt: „Oie Toten lebten ihm, 
er konnte ſie verfolgen in ihrem Weiterleben, 
er konnte ſich mit ihnen verſtändigen 
Er lebte im Schauen und konnte mit den 
Propheten und Heiligen wie mit 
Seinesgleichen über ihre Erlebniffe 
reben“ () 

Wieder an anderer Stelle leſen wir: „Seit 
Ariſtoteles iſt wohl kein Geiſt bekannt, 


Auf der Warte 


der ſo die Seiſtesfülle des Lebens in 
fid umſpannte. Hier war mehr als Ari- 
ſtoteles: ein Auftun der Zukunft, wo dort 
mehr ein Abſchließen der Vergangenheit war.“ 
Und endlich gegen Schluß: „Dieſer reine 
Chriftusgeift war in ihm. Vor Gott und allen 
Engeln ſei es bezeugt. Es iſt ſichere, lautere 
Wahrheit 

Steiner iſt alſo für Rittelmeyer mehr als 
Soethe, Hegel, Ariſtoteles — und nur eben 
bei Chriſtus macht er halt. 

Die Auffaſſung dieſes ernſten Mannes wird 
jeder Leſer hochachten, auch wenn er mit 
anderen Augen ſchaut. Aber die entſchei ; 
dende Vorfrage ijt von Rittelmeper gar 
nicht aufgeworfen, nicht einmal empfunden. 
Ehe man nämlich die Frage ftellte: „Wie er- 
langt man Erkenntnis überſinnlicher Welten?“ 
(Stemer), mußte die erkenntnistheo- 
retiſche Vorfrage geldft fein: „Iſt ob- 
jettive Exkenntnis überſinnlicher Welten für 
uns ſinnengebannte Planeten bewohner über; 
haupt möglich?“ Oer Chrift und der Denker 
(Rant), beide, haben bisher beſcheiden ge- 
ſagt: „Nein.“ Sie haben dieſe Gebiete dem 
Glauben und der Ahnung überlaſſen. 
Der Literat Steiner hat ſchlankweg das Gegen- 
teil vertündet und hat feine Verehrer, als 
unbedingte Autoritätsgläubige, für bie- 
ſelbe fubjettive Auffaſſung gewonnen. Für 
diejenigen aber, die nicht mitzugehen ver- 
mögen, wenn fie auch Steiners bedeutende 
Anregungen und konſtruktive Phantaſie achten, 
bleibt die Vorfrage ungelöft. 

Auch das neueſte Buch über „Anthropo⸗ 
ſophie und Chriſtentum“ (von Liz. A. F. 
Stolzenberg, Privatdoz. a. d. Univerfitat 
Berlin, Verlag Speyer & Peters, Berlin) 
legt auf die erkenntnistheoretiſche Frage den 
entſcheidenden Wert und kommt zu einer 
runden Ablehnung. 


Afrikaans 


frikaans ift die ſüdafrikaniſche Form des 
Hollandijden, aud „Taal“ genannt, die 
ſich im Laufe der Zeit ſelbſtändig entwickelt 
hat, nach dem die holländiſchen Koloniſten die 
Verbindung mit dem Mutterland verloren 


89 


hatten. Afrikaans iſt jetzt zu einer in jeder Be- 
ziehung dem Engliſchen gleichberechtigten 
Sprache in Südafrika gemacht worden, und 
dieſes Land iſt fortan ein zweiſprachiges. 
In Anbetracht der Kämpfe deutſcher Min- 
derheiten um ihr Recht auf die Mutterſprache 
iſt es intereſſant, auch hier wieder die Be- 
ſtätigung des Satzes zu finden, daß es leichter 
ift, ein Volk zu unterdrücken, als feine Sprache. 
Bon 1625 bis zu Anfang des neunzehnten 
Jahrhunderts ſprachen die Kapkoloniſten 
holländiſch. Als die Engländer ſich des Kap⸗ 
landes bemädhtigten, dekretierten fie Engliſch 
als die Staatsſprache. Im Verwaltungsdienſt, 
in der Rechtspflege, in den Schulen wurde nur 
Engliſch geſtattet. Als die Kapleute ein Parla- 
ment bekamen, wählten ſie einen Farmer, der 
nur holländiſch ſprach, doch durfte er nicht 
ſprechen. Die Sprache wäre ausgeftorben, 
wenn die Bauern nicht ſo konſervativ und ihre 
Höfe fo weltabgeſchieden geweſen waren. Doch 
aus dieſer Lage entwickelte ſich auch die Ab- 
weichung vom Holländiſchen. Als das Rap- 
land 1872 eine Selbſtregierung erhielt, wuchs 
das Gefühl für eigenes Volkstum, beſonders 
im Gefolge der Behandlung, die die Buren; 
republiken erbulbeten, mddtig empor. Der 
Afrikanderbund wurde gegründet, und 
feine politiſ che Bedeutung erzwang Sprach- 
konzeſſionen. Jameſons Einfall und der 
zweite Burenkrleg erhöhten das Raſſegefüͤhl. 
Überall erhoben ſich Ver eine zur Pflege der 
Mutterſprache, und Privatmittel errichteten 
Schulen. Mit der Selbſtregierung der einſtigen 
Burenrepubliten (1906-7) kam die Gleich- 
berechtigung der beiden Sprachen. Die Stabt- 
verwaltungen waren jetzt gezwungen, Be- 
kanntmachungen in beiden Sprachen anzu- 
ſchlagen, und es gab Leute, die weder Steuern 
noch Fahrkarten noch irgend welche Öffentliche 
Zahlungen machten, wenn ſie nicht auf 
bolländifch gefordert wurden, fo gut jie auch 
Engliſch verſtanden. Noch 1910 beſtand man 
auf beiden Sprachen bei allen Beamten. 
Und dies alles, trotzdem faſt alle Afrikander 
Engliſch ſprechen, aber ſehr wenige Engländer 
Afrikaans. Auch hier hat die Zaͤhigkeit gefiegt, 
und das will viel heißen, wenn es ſich um 
zwei ſo zähe Stämme handelt, wie Holländer 


90 


und Engländer. In der Südafrika-Akte von 
1909 waren Engliſch und Holländiſch als 
gleichberechtigt aufgeführt, durch ein Amen- 
dement hat man nun klargeſtellt, daß Afri- 
ka ans in allen Fällen dieſe Gleichberechtigung 
genießt. L. M. Schultheiß. 


Jeden Tag eine Briefſtelle 


er wir keine Briefe mehr ſchreiben, 
iſt alles Seruhſame aus unſerem Leben 
wie weggeblaſen. Was teilten unſere Eltern 
noch einander in Briefen für Schätze an Geiſt 
und Güte mit! Briefe wurden vorgeleſen, 
Stellen aus neuen Büchern wurden in Briefen 
mitgeteilt, Reifeeindrüde, Erlebniſſe vermittelt, 
Briefe wurden aufbewahrt und wie Heilig 
tümer gehütet, vererbt. Freilich, auch in den 
vier ſchlimmen Jahren des letzten Krieges 
ſchrieb man viele, viele Briefe — aber fie wa- 
ren alle voller Sorgen und Bangen, Trauer 
und bitterem Weh. Dann hat man das Briefe 
ſchreiben gar flugs wieder verlernt, hört lieber 
Radio, ſieht Kino und beſtaunt die Briefe 
unſerer Väter aus der Ferne als veraltete 
Wunder, die nach Lavendel duften. 

Und dann ſetzt ſich in der Niederlößnitz bei 
Dresden ein Mann der angewandten Wiffen- 
ſchaft, Verlagsleiter und Redakteur der Gad- 
ſiſchen Handwerker- und Gewerbe- Zeitung 
hin und ſammelt in vielen Jahren viele, viele 
Stellen aus Dichterbriefen, ſtellt ihrer je bis 
zu einem Dutzend für jeden Tag des Jahres 
zuſammen, verſieht ſie mit mehreren, ſehr 
zuverläffigen Regiſtern und legt der deut- 
ſchen Familie damit ein Haus buch, der 
Jugend ein geiſtiges Rüſtzeug fürs Le- 
ben, dem Lehrer und Geiſtlichen, Redner und 
Schriftſteller ein Handbuch zum täglichen 
praktiſchen Gebrauche im Berufe auf den Tiſch, 
wie es eben nut ein Nachfahre aus dem 
Volke Goethes ſchaffen kann. Wie wuͤrde die 
große Exzellenz von Weimar, unübertroffen 
auch im Sammeln und Sichten, Einordnen 
und Gruppieren alles Geleſenen, Geſehenen 
und Erlebten, ob dieſer „Dichterweisheit in 
Briefen“ von Dr. Hans Zimmer (Greiner 
& Pfeiffer, Stuttgart) ſchmunzeln und ſeinem 
Amanuenſ is Eckermann zulächeln, der auch 


Auf der Warte 


faſt für jeden Tag im Jahre fein Sprüchlein 
aufſchrieb! 

Hausbuch nannte ich es — als einen ewigen 
Bildungskalender könnte man dieſe faſt 500 
Seiten in blauem Leinen ebenſogut bezeichnen 
und allen zum guten Gebrauche in die Hand 
drucken, die öfter in ein Stammbuch oder 
„Poeſiealbum“ ihr Sprüͤchlein einzuſchreiben 
gehalten find; der Stumpfſinn unſerer heu- 
tigen gedankenleeren Stammbücher wäre mit 
einem Schlage ausgerottet. Oder wer eine 
Rede halten ſoll oder muß und um Gedanken 
verlegen iſt, wer mit Leſefrüchten mühelos 
glänzen will, bediene ſich dieſes Sammelwerks 
täglicher Briefſtellen. Man kann fie auch fogu- 
ſagen ad hoc und per se mit Gewinn leſen, 
zumal jede Stelle in Jahreszahl und Adreſſat 
ihren kleinen Kommentar hat. 

Für wen dieſe Stellen, wiſſen wir alſo. Von 
wem — iſt noch kurz zu ſagen. Natürlich ſteht 
Goethe als der fruchtbarſte aller Briefſchreiber 
obenan, dann folgt Hebbel, nach ihm Schiller, 
Wieland und Jean Paul mit den meiſten Stel- 
len. Fontane und Humboldt, Herder, Heine, 
Körner, Leſſing, Kleiſt, Richard Wagner und 
Storm, Anzengruber, Grabbe und Görres. 
Und wer noch alle — auch Dehmel und Hart- 
leben, Gjolde Kurz, Liliencron von den Jün- 
geren. Luther iſt freilich nur mit einer ein- 
zigen armſeligen Briefſtelle bedacht — hat der 
fleißige Sammler, der 87400 Oruckſ eiten 
durchnahm, weiter nichts von ihm gefunden 
oder zählt ihm Luther nicht unter die Dichter? 
Wenn auch Bismard nicht eben hierhergehört, 
ſo wird man doch Moltke und Friedrich II. 
von Preußen, die auf ihre Art Dichter waren 
und wunderbar tiefe Briefe ſchrieben, ungern 
vermiſſen. Hier darf ich vielleicht auch anmer- 
ken, daß es dem Buche genützt hätte, für jeden 
Tag eine neue Seite anzufangen; der Mehr 
aufwand an Papier wäre im Verhältnis zur 


größeren Aberſichtlichkeit gering geweſen und 


gewiß kaum ins Gewicht gefallen. Prächtig iſt 
das Sachregiſter und etwas Neues die Adreſ 
ſatentafel: praktiſche Literaturgeſchichte. 

Für den Weiterbau deutſcher Bildung ift 
allen Volksſchichten hier das nützlichſte Se 
ſchenkbuch geſchaffen. Blättert nur in biefere 
dreitauſend Briefſtellen, und ihr werdet des. 


Auf der Warte 


Erftaunens kein Ende finden, wie geſcheit und 
gut die Dichter fogar in Briefen waren. Wahr- 
baftig, ſolch ein Buch iſt ebenſo nötig wie 
Flagge und Nationallied. Paul Burg 


Sternheim, der Retter 


an wird auf mancherlei Weiſe berühmt, 
der eine durch die Wirkungskraft ſeiner 
Bücher, der andere durch eine geſpreizte Eitel- 
keit 
Da ift Karl Sternheim, der 1918 einen 
Verein zum Abbau der bürgerlichen Fdeo- 
logie gründen wollte und mit allerlei „Sa- 
titen“ kam, um ein zweiter Molidre (!) zu 
werden, ohne je einzuſehen, daß er nur ein 
Heiner Artiſt war. Er wird nun zum Retter 
md gibt ein Buch heraus „Oskar Wilde. Sein 
Mama“, vor deſſen Aufführung alle guten 
Geifter das deutſche Volk bewahren mögen. 
Ob Drama oder Kitſch, das iſt hier ja gleich. 
Denn dieſe Sorte Schriftſteller weiß nichts 
mehr von einem Erkämpfen der dramatiſchen 
Form; in einer Gelbitüberhebung wird da 
vom „Drama“ geredet, als hätte nie ein Shake; 
ſpeare, Schiller, Kleiſt, Hebbel, Ludwig (mit 
ſeinen wichtigen Shakeſpeare Studien) ge- 
lebt. Sternheim ſcheint ein Wort des lieben 
Wilhelm Raabe („Abu -Telfan“) falſch ver- 
ſtanden zu haben (wenn er uns in Vorworten 
belehren will): „Nur Mut, und Selbſtver⸗ 
trauen bis zur Unverſchämtheit.“ Es heißt bei 
dieſem Literaten: „Vincent van Goghs, des 
großen Holländers, Rettung in den Himmel 
weſentlicher Menſchen (1), habe ich in einem 
Buch, das gerade erſcheint, durchgeſetzt (). 
An Wildes erſchũtterndem Drama arbeite ich 
mit Hingabe, und man wird es, durch ſchlechte 
Darftellung vorausſichtlich entfeelt, im nddften 
Winter auf deutſchen Bühnen ſehen. Heines 
alle deutſchen Dichter überragendes 
Denkmal gegen die fortſchreitende Derblö- 
dung feiner Landsleute () allein zu er- 
richten, behalte ich mir für die Zeit meines 
50. Lebensjahres vor, wo ich die geiſtige Reife, 
die es zu feiner Deutlichmachung braucht, im 
Aus land erreicht zu haben hoffe!“ 
Ift ſolch ein Geſchreibſel nicht zum Ohr- 
feigen?! Und ein deutſcher Verlag (Riepen- 


91 


heuer) verlegt das, dieſe Herausforderung 
eines Bramarbas, der als Clown auf dem 
deutſchen Parnaß herumhüpft! Wenn Stern- 
heim ſo arm wäre, wie ſein Vorbild Frank 
Wedekind, der in ſeiner Narrheit doch aber 
ehrlich kam, wenn er nicht ein „Grand- 
ſeigneur“ (wie Bernhard Diebold jagt) und 
äußerlich reid) begütert wäre, würde ich an- 
regen, daß man zu einer Fahrt für dauernden 
Aufenthalt im Ausland öffentlich ſammelt. 
Dann wären wir dieſen Gecken los. 

Ich empfehle die Lektüre dieſes klapper- 
duͤrren Wilde nicht, will aber einen kleinen 
„Dialog“ (in Sternheimſcher Auffaſſung von 
Dialog) geben. Es handelt ſich um die Szene 
vor Wildes Verhaftung. Dort lieſt man: 

„Tubby (zu Wilde): Wie würdeſt du dich 
ſelbſt eindeutig mit einem Wort in die Ewig- 
keit () nennen? 

Wilde: Ich mich? — Wilde! 

Roß: Das iſt's! 

Tubbp: Abgemacht! 

Roß: Dein Fall iſt weltgeſchichtlich (1) klar. 

Tubby: Ohne Zutun der Welt glatt er- 
ledigt. 

(Vor der Glastüre werden Silhouetten 
zweier Poliziſten ſichtbar.)“ 

Soll man über das Geſchwãtz lachen? 

Jedenfalls: auch der Fall Sternheim iſt 
„weltgeſchichtlich klar“. Dr. W. E. G. 


Das kleine Glas 


n einem wirklich wundervollen Sommer- 

tag kam ich einen märchenhaft ſchönen 
Weg gegangen: wehende Kornfelder, blühende 
Raine, Eichenrieſen, die um ſtille Teiche ftan- 
den, und Wolken, aller himmliſchen Farben 
voll! Meine Seele trank ſich froh und leicht 
an dem ewigen Quell Natur. Mir war, als 
kame eine ſtille Reinheit über mich wie ein 
großes, heiliges Geſchenk. Neu war mir alles, 
und das Leben fing von vorne an. 

So kam ich, das Gemüt lichtgebadet, und 
mit Gedanken wie lauter kleine Sonnenſtrah- 
len, in ein Städtchen gewandert, wo ich einer 
jungen Braut Glück wünſchen wollte. Du 
lieber Gott, was braucht's da eigentlich noch 
gewünfchtes Glück, wo die Aberfiille ſchon la- 


92 


chenden Einzug gehalten bat! „Rofenzeit und 
Madchenzeit ! 

Ich wurde gleich in die beſte Stube ge- 
bracht und ein Weilchen noch mit mir allein 
gelaſſen. Mit mir und einem großen Tiſch voll 
Gaben. Aber wie ich die aufgehäuften Schätze 
betrachten wollte, da war's doch nicht anders, 
als führe eine Kreuzotter gerade auf mein Ge- 
ſicht los. Schnapsgläfer hatte man dieſem 
lieblichen Kind geſchenkt, Verzeihung, nein, 
„Likörſervice“, eins, zwei, drei, ein halbes 
Dutzend, hohe, niedrige, geſchliffene, ge 
malte... 

Wahrſcheinlich hatten urfprünglich auch noch 
ein paar „Bullen“ dageſtanden, aber die waren 
wohl an dem hohen Tage ſchon draufgegangen, 
damit „Stimmung“ käme, und die Gäſte ſich 
„amüljierten“, 

Da war doch eine ſehr bdfe, düftere Wolke 
über meinen fonnenfeligen Himmel gelaufen. 
Solche Verlobungsgeſchenke hat man jetzt er- 
funden, zur erſten Ausſtattung des „lieben 
jungen Haushalts“! 

Seht in den Zeitungen nach: wieviel Men; 
ſchen kommen alljährlich auf den Ozeanen um! 
Und befragt die Budthdufer und die Irren; 
anſtalten: Viel, viel mehr junges Menfchen- 
glück ertrinkt im kleinen Glaſe! 

Und weil die alten Schnapsbrüder nicht 
mehr alles, was hergeſtellt wird, allein trinken 
konnen, erzieht man jetzt die jungen Bräute 
— wer wollte „prüde“ fein ! — die Mütter des 
kommenden Geſchlechts, zum „Schnäpschen“. 

Ernſt Stemmann 


Die Schuld der Umgebung 


u den Bemerkungen Prof. Bornhaks, 

des klarſten Hiſtorikers der letzten Jahr 
zehnte, über Wilhelm II., daß er Wider- 
ſpruch vertragen und die Wahrheit hören 
konnte, wenn ſie ſich zu begründen wußten, 
vgl. im Türmer, Auguſt 1925, S. 468, fei eine 
unſcheinbare, immerhin auch nachdenkliche 
Beitätigung erlaubt. Ich habe fie von einem 
verſtorbenen Freunde, der ein grundehrlicher, 
liebenswertefter Schwabe und Bildhauer 
war; er wird manchen unvergeſſen fein. Pro- 
feſſor Wilhelm Wiedemann, ſo hieß er, war 
an dem „Märchenbrunnen“ für Berlin mit 


Auf der Warte 


Auftrag beteiligt. Wilhelm II. beſuchte die 
Werkſtätte, beſichtigte das begonnene Modell, 
hatte fofort feine neuen Ideen dafür. Der 
Bildhauer ſieht dem Kaiſer ins Geſicht und 
fagt in ruͤckſichtsvollem Ton: „Entſchuldigen 
Majeftät, es läßt ſich nicht gut machen!“ Das 
Hofgefolge iſt peinlichſt entſetzt, nicht weniger 
der einführende Berliner Stadtrat oder Kunft- 
beamte. Der Kaiſer, den Kopf aufwerfend: 
„Wieſo?“ — „Majeſtät, aus den und den 
(kuͤnſtleriſch menſchlichen) Gründen“. Ber 
Kaiſer und der Bildhauer ſtehen Auge in 
Auge. Darauf der Kaiſer: „Sie haben recht!“ 
und ſtreckt ihm kräftig die Hand hin. 

Eine Augenblickstatſache. Weiteres zu- 
gunſten dieſes Enkels (die deutſche Geſchichte 
hat mehr ſo unſelige Enkel, Otto III., den 
Staufer Friedrich II.) ſoll nicht damit geſagt 
ſein. Nur, daß ſolche Augenblicke viel zu viel 
gefehlt haben. Aber die Deutſchen insgeſamt 
tragen mit die Schuld, daß die Byzantiner 
und Neidinge das Kartenſpiel behielten. 

Ed. Heyck 


Die Stockholmer Weltkonferenz 


der evangeliſchen Kirchen hat aus 37 Völkern 
der Alten und Neuen Welt Vertreter zuſam- 
mengefüͤhrt, die faſt zwei Wochen lang getagt 
haben (19. bis 31. Auguſt). Wir verzeichnen 
dieſe Tagung nur als ein Symptom: als einen 
Verſuch, durch ein Aufgebot von Vertretern 
des Chriſtentums über die ddmonifd düftere 
Weltlage Herr zu werden oder wenigſtens zur 
Klarheit zu kommen. Das Chriſtentum, die 
Religion des führenden Europas, hat die 
Schlachterei des Weltkriegs mit feinem Ver- 
nichtungswillen nicht verhindern können. Der 
bedeutende Erzbiſchof Söderblom rief nun die 
Geiſtlichkeit der halben Welt in jenes neutrale 
germaniſche Land, damit man gemeinfam 
die Sachlage oder — deutlich geſagt — dieſ en 
Bankrott der religiöfen Mächte be- 
rate. Die Stimmen, die wir von dort hörten, 
find voll von Lob über den bedeutenden Ein- 
druck des Ganzen, beſonders über den Ver- 
ſtändigungswillen, und über die wertvollen 
Außerungen im einzelnen. Schon daß ein fol- 
ches Zuſammenkommen möglich war, iſt be- 
zeichnend für die veränderte Geſinnung. Aber 


Aut ber Marte 


auch bie Fühnften Optimiften find im Gejamt- 
urteil etwas zurüdhaltend und begrüßen dieſe 
Tagung nur als einen verheißungsvollen An- 
fang. „Ein Ausſchuß iſt eingeſetzt, der das 
Werk fortſetzen foll*: fo pflegen faſt alle La- 
gungen zu enden. Man hat ſich wohlweislich 
(4. B. in bezug auf den heiklen Völkerbund) 
der „Beſchluͤſſe“ enthalten. Es waren bemer- 
tenswerte Bekenntniſſe auf ſozialem, fitt- 
lichem, ſogar raſſiſchem Gebiete uſw. zu ver- 
zeichnen; und im Mittelpunkt ſtand immerhin 
der Meifter der Chriſtenheit. 

Man darf das Ganze vielleicht am knappſten 
als ein Bekenntnis zum Willen zur Liebe 
bezeichnen nach dem voͤlker verheerenden Wil; 
len zur Macht, den der Weltkrieg darſtellte. 
Inſofern ſtecken in dieſer groß angelegten 
Kirchenkonferenz geheime Werte, die ſich viel; 
leicht im Laufe der nddften Fabre und Jahr; 
zehnte auswirken werden. 


Nobelpreis und Fritz v. Unruh — ? 


s ſcheint jetzt geſchmackloſe Mode zu wer- 

den, der ſchwediſchen Rommiſſion fuͤr den 
Nobelpreis öffentlich Vorſchläge zu machen. 
So wird nun, nachdem man früher für Arno 
Holz geworben, in einem Teil der deutſchen 
Zeitungen für Fritz von Unruh Stimmung 
gemacht. Wir hoffen, daß man ſich in Schwe 
den von dieſer aufdringlichen Mache nicht be⸗ 
einfluſſen läßt. 

Wir unſrerſeits verlangen, vom parteilos 
deutſchen Standpunkt aus, daß man in einem 
wirklichen Vertreter deutſchen Geiſteslebens 
irgend etwas ſpuͤre von der beſondren deutſchen 
Herzens - und Schickſalskraft, von deutſchem 
Können, von deutſchen Hoffnungen im Sinne 
jenes Aufbaues, der jetzt bei uns überall Chaos 
in Rosmos verwandeln will. In Fritz v. Unruh 
ſpũren wir bislang nur chaotiſche Krämpfe, 
keine Rraft. Und der Pazifismus dieſes unfer- 
tigen und vielleicht nie reifenden Oichters ift 
ungefund, geſpreizt, tendenziös verzerrt oder 
zerfließend, in keiner Weile jedoch bezeichnend 
für das, was in den beſten deutſchen Herzen 
und Röpfen jetzt zur Geſtaltung trachtet. Ja, 
ſchroff geſagt: fein Dichten iſt bislang eher der 
Fratze benachbart als der Geſtaltung. 

Dies muß un zweideutig ausgeſprochen wer; 


95 


den. Denn bier ift wieder einmal Tendenz und 
Machenſchaft am Werke. Dies iſt nicht Oeutid- 
land in feiner Weſenheit und in feiner Ganz- 
heit. 

Man könnte allen falls verſtehen, wenn man 
deutlich umriſſene Perſonlichkeiten wie Ricarda 
Huch, Paul Ernſt, Stefan George, Handel- 
Mazzetti, ſogar den Grafen Repferling in Vor- 
ſchlag brächte, halten aber eine öffentliche Er- 
örterung überhaupt nicht für angebracht. 


Das Radio, ein modernes Narko⸗ 
tifum 


an könnte etwa folgenden allgemeinen 
Satz aufſtellen: Es gibt keine techniſche 
Erfindung, und fie fei nod fo beglüdend und 
fortſchrittverheißend, die nicht an irgend einer 
Stelle von der Menſchheit mit Schädigungen 
bezahlt würde. Der Menſch erfand den Buch- 
druck, und er erlag mehr denn je der Macht der 
Züge und büßte an Anſchauungsfähigkeit ein. 
Oer Menſch erfand die Maſchine, und er wurde 
zum Sklaven der Maſchine, wie wir es alle 
heute unentrinn bar fpüren. Es müßte alfo bei 
einer ſo erſtaunlichen Erfindung wie der des 
Radio von vornherein gefragt werden kon- 
nen: wo rächt ſich dieſer prometheiſche Griff 
über die Grenze, die uns Sinnenweſen bisher 
geſetzt war? 
Allerdings wird man da faſt nie aus der Ab; 
ſtraktion heraus die richtige Antwort finden 
konnen, man wird aber auf der anderen Seite 
nicht allzu erſtaunt ſein, zu ſehen, daß bereits 
an einer Stelle das Radio als Danaergefdent 
ſich zu erweifen beginnt. Es hat ſich da in den 
fanatiſchen Anhängern des Radio ein ganz 
merkwürdiger Menſchentyp herausgebildet, 
der mir zu ſeltſamen Betrachtungen Anlaß gab. 
Freilich ſind hiermit nicht jene ehrenwerten 
Menſchen gemeint, für deren arbeitsreiches 
und eintöniges Leben unter Derhdltniffen, die 
koſtſpielige Vergnügungen nicht erlauben, das 
Radio eine wirkliche Quelle der Freude und der 
Abwechſlung bedeutet, ſondern jene außer 
ordentlich reichhaltige Gattung von Menſchen, 
in deren Begeiſterung für den Radio ein fan a- 
tiſcher Beigeſchmack ſteckt, ähnlich, wie 
etwa nach dem Kriege weite Rreife eine fana- 
tiſche Tanzluſt ergriff. Beobachtet man nun 


94 


dieſe Art irgendwie zwangsmäßig an den Na- 
dio gebundener Menſchen, wie ſie in völliger 
Auflockerung ihres ſonſtigen ſeeliſchen Gefüges 
dieſen merkwürdigen modernen Sirenenklän- 
gen ſich hingeben, wie ſie oft nicht ſchlafen 
können, ohne ſich vorher an dieſer ſonderbaren 
aluſtiſchen Nahrung geſättigt zu haben, fo hat 
man das twppiſche Bild eines unechten 
Rauſch zuſt andes, wie er Folge aller Nar- 
kotika iſt. | 

Wodurch unterſcheidet fid der narkotiſche 
Rauſch von dem echten Rauſchzuſtand, wie ihn 
etwa die Freude, die Liebes begeiſterung, echte 
Runfteindrüde uſw. zu erzeugen vermögen? 
Einfach darin, daß ſich beim unechten Raufch- 
zuſtand die Gemütsaufwallung bereits mit 
einer Erſchlaffung verbindet, die zugleich halb- 
bewußt von zehrender Natur iſt; und dann 
darin, daß das betreffende Individuum ohne 
jede innere aktive Spannkraft ijt, vielmehr ein 
völlig paſſives Verhalten gegenüber den zu- 
geführten Reizſtoffen beſteht, ein wolluͤſtiges 
In⸗ſich-hereinnehmen der Raufchmittel. Wer 
etwa einmal Kokainiſten hat ſitzen ſehen, wird 
nie dieſen Eindruck völliger Erſchlaffung und 
zerſtörender Auflockerung vergeſſen, den hier 
der Rauſchzuſtand felber bereits bietet. Aller- 
dings ſind hier dieſe typiſchen Merkmale in 
reinſter Form anzutreffen, aber irgendwie hat 
jeder unechte Rauſchzuſtand an dieſen typi- 
ſchen Abläufen Teil. 

Es kann nun aber nicht einmal behauptet 
werden, daß das Radio nur eine ſehr lockere 
Art verbindung zu anderen narkotiſchen Raufch- 
guftdnden aufweiſt, vielmehr kann man den 
Radio, wenigſtens in feiner jetzigen Form, ge- 
troſt als ein echtes modernes Narkotikum 
bezeichnen, deſſen verheerendſte Wirkung be- 
ſonders in ſeiner Maſſen verbreitung liegt. 
Schon die Art des Aufnehmens der Radio- 
muſik ift typiſch. Ich wurde bei einem Men- 
ſchen direkt an die verzerrten Nokainiſtengeſich- 
ter erinnert durch die völlige Erſchlaffung und 
Paſſivität, die ſich in dem geſamten Gehaben 
des Hörers ausdrückte. Welch ein Gegenſatz 
zu einem wirklichen Konzert! Schon die ſchein⸗ 
bar ſo unweſentlichen Außerlichkeiten, wie die 
Bezahlung der gewünſchten Freude, das Sich 
hinbegeben an den entſprechenden Ort, der 
räumlich ſpannende Kontakt mit den Mufi- 


Auf der Warte 


zierenden, die Einmaligkeit des Gebotenen: 
all dieſe wirklichen Begebenheiten bereiten 
ganz unwillkürlich bei dem Hörer einen Zu- 
ſtand aktiver Spannung vor — nicht im Sinne 
von rein pſychiſcher Erregtheit, ſondern von 
vitaler Organbelebung — der im Durchſchnitt 
nur kraftſteigernd, aber nicht als verzehrende 
Auflockerung wirken kann. Wogegen der Ra- 
diohörer ohne die geringſte Aktivität ſich Tag 
für Tag dem Geplätſcher ſeichteſter Unter- 
haltungsmuſik überläßt. Es iſt klar, daß dieſe 
unermüdliche Zuführung von akuſtiſchen Reiz- 
ſtoffen nur zerſtörend wirken kann und ſchließ⸗ 
lich eine Vernichtung der pſychiſchen Spann- 
kraft erzeugt. 

Die Gefahr liegt vor allem in dem rein tech 
niſchen Ablauf der Radiobenutzung. Der Radio 
ijt nun einmal gegeben und aller Welt zugäng- 
lich; Einſicht in die wirklichen Zuſammen hänge 
und Wille, den Schädigungen zu entgehen, 
iſt nicht vorhanden. So wird dann ohne den 
geringſten Widerſtand der Lodung der aku- 
ſtiſchen Narkotiſierung nachgegeben, ohne daß 
dieſer Tatbeſtand im geringiten in das Be- 
wußtſein dringt, ebenſo wie es ja allgemein 
nicht bewußt iſt, in welchem Maße durch die 
gewohnheitsmäßige paſſive Aufnahme einer 
unnötigen Menge von Leſeſtoff Urteilskraft 
und Anſchauungsfähigkeit herabgeſetzt wird. 
Und es iſt womöglich kein Zufall, daß gleich- 
zeitig mit dem Radio das Volk mit den aus 
Amerika eingeführten Magazinen über- 
ſchwemmt wird. Diefe Magazine — ſchon das 
Wort iſt furchtbar — verſetzen ebenfalls ihre 
Lefer in den völlig paffiven Zuſtand, in dem 
jedes geiſtige Verantwortungsgefühl gegen- 
über dem aufgenommenen Stoff, jede objet- 
tive, eine Belehrung oder Gemuͤtsbereicherung 
erzeugende Teilnahme ausgeſchaltet wird und 
lediglich eine Flut amüfanter, ſeichteſter Ge- 
ſchichten, Anekdoten und Ruriofitdten aus aller 
Welt den Leſer in den gewünſchten wohligen 
Dämmerzuſtand verſetzt, deſſen narkotiſcher 
Charakter um ſo weniger bemerkt wird, als die 
Lähmung an Urteils vermögen und geſunden 
Inſtinkten (den Folgen dieſes Zuſtandes) ſich 
nicht körperlich greifbar auswirkt. 

Man könnte nun ſagen: die Magazine wie 
das Radio und was es noch ſonſt gibt, ſind Zu- 
fallserſcheinungen; was aber nicht zufällig iſt, 


Auf der Warte 


das find die geiſtigen Epidemien, für deren 
Ausbruch ſolche Erfindungen nur den äußeren 
Anlaß bieten. Ein fo ſchwer erſchuttertes Volk 
wie das deutſche muß durch Kriſen und Epide- 
mien hindurch, es find unvermeidbare Über- 
gangszuſtände. Das iſt gewiß in den Grund- 
zügen richtig, und darum wäre es unſinnig, 
nun einen Antiradiokampf zu entfeſſeln. Was 
aber nicht fein darf, das iſt die offizielle Förde; 
rung dieſer Dinge, wie fie zum mindeſten un- 
eingeſtanden geübt wird. Es iſt ein Unterſchied, 
ob Hindenburg zu einem wichtigen Zweck den 
Radio benutzt, oder ob man die Gefdmad- 
loſigkeit begeht, z. B. Rarfreitagspredigten 
durch den Radio halten zu laſſen und gleichſam 
halbamtlich aller Welt in den Blättern dies 
Geſchehnis des offiziellen Rundfunks zu ver- 
linden. Es liegt ein tiefer Sinn in dem alten 
Bort, daß die Gottheit in ihrem Heiligtum 
wohnt, und daß man ſich zu ihr hinbemũhen 
muß, um ihres Segens teilhaftig zu werden; 
und ich entſinne mich noch, wie mir aus Rom 
von dem Entrüſtungsſturm dort berichtet 
wurde, als ein — ich glaube deutſches Blatt — 
berichtete, daß wahrſcheinlich nächſtens der Ge- 
gen des Papſtes durch Rundfunk weitergege- 
ben würde! | 
Borauf es ankommt, ift eben, daß in den 


führenden Schichten des Volkes das Verant- 


wortungsgefühl für dieſe Dinge geſtärkt 
wird. Dr. Werner Achelis 


Der Deutſche Sprachverein 


s gibt noch viel zu wenig Oeutſche, die 
E von den Beſtrebungen des Deutfden 
Sprachvereins wiſſen oder ſeine Zeitſchrift 
kennen. Eine Anſprache von Studienrat Prof. 
Dr. Ludwig Haſenclever, die wir in einem der 
letzten Hefte der von Dr. Oskar Streicher vor- 
trefflich geleiteten Zeitſchrift finden, faßt jene 
Beſtrebungen zuſammen (Vorſitzer iſt übrigens 
Oberlandesgerichtspräſident Ernſt Oronke, 
Frankfurt a. M., Rüfterfte.13). Dort heißt es: 

wee Der Deutſche Sprachverein ijt, Sie 
wiſſen es längſt, kein Unterhaltungsverein, 
fo ſehr wir wünfchen, daß Sie ſich heute recht 
gut unterhalten mögen; er iſt auch kein Verein 
zut Ausmerzung des Fremdwortes, ſo wichtig 
ihm dieſe Aufgabe dünkt; er iſt auch nicht 


95 


eine Vereinigung von Schulmeiftern, die den 
Drang in ſich fühlen, zu ihren Wodhenftunden 
hinzu von Zeit zu Zeit eine deutſche Stunde 
vor Erwachſenen zu halten, ſo dankenswert 
uns derartige Vorträge jederzeit ſind. Der 
Deutſche Sprachverein ſuchte kürzlich — und 
wenn ich recht unterrichtet bin, ſo ſucht er 
heute noch — nach einem Leitſatz, der als 
knappſter Ausdruck ſeiner Beſtrebungen an 
der Spitze feiner Zeitſchrift ſtehen ſoll. Ich 
wüßte einen vorzuſchlagen; freilich hat er 
nicht den Vorzug der gewünſchten ſprich- 
wörtlichen Kürze, dafür aber den anderen, 
aus der Feder eines großen Sprachſchoͤpfers 
deutſcher Zunge zu ſtammen. ‚Die Sprachen“, 
meint Friedrich Nietzſche, ,ift ein von den 
Vorfahren übernommenes und den Nachkom; 
men zu hinterlaſſendes Erbgut, vor dem man 
Ehrfurcht haben ſoll, als vor etwas Heiligem 
und Unſchätzbarem und Unverletzlichem. Nun: 
als Hüter dieſes Erbes fühlt ſich der Deutſche 
Sprachverein, und als feine Aufgabe be- 
trachtet er es, das Bewußtfein von der Heilig- 
keit, Unſchätzbarkeit und Unverletzlichkeit der 
deutſchen Sprache zu erhalten und, wo es 
not tut, zu wecken. 

Aber der angeführte Satz Nietzſches ſtammt 
aus dem Sabre 1873, aus dem Sabre alſo, 
da die letzten deutſchen Truppen das beſetzte 
Frankreich verließen. Seitdem iſt ein halbes 
Jahrhundert vergangen, und wie hat ſich 
das Blatt gewendet. Die eben gekennzeichnete 
Aufgabe des Sprachvereins dünkt uns heute 
beinahe eine Verſtiegenheit. Ach, nicht mehr 
die Schönheit, nicht mehr die Heiligkeit und 
Reinheit der deutſchen Sprache ſteht auf dem 
Spiel. Auf dem Spiele ſteht — wenigſtens 
für viele Tauſende unſerer Volksgenoſſen — 
die Sprache ſelbſt, und in ihr verteidigen 
wir, Gott fei’s geklagt, bald das letzte Boll 
werk, das unſerem Volke geblieben iſt im 
Rampfe gegen Knechtſchaft und in der Ab- 
wehr des geiſtigen Untergangs. 

Lebendige deutſche Ortsnamen wurden 
und werden italieniſch, franzöſiſch, däniſch, 
polniſch, litauiſch, tſchechiſch, kroatiſch, fla- 
woniſch, rumdnifh; deutſche Straßen- 
namen, Dentmäler geſchichtlicher Größe und 
bürgerlichen Verdienſtes, weichen Bezeich- 
nungen, die für uns unlesbar, unausſprech⸗ 


96 


lich, ſinnlos find. Yunderttaufende beutfcher 
Brüder und Schweſtern empfangen ihre 
Verhaltungsmaßregeln in fremden Spra⸗ 
chen oder grauſamen Entſtellungen unſerer 
eigenen. In deutſchen Rat häuſern und 
Amtsſtuben rekelt ſich welſches Schreiber; 
volk und läßt deutſchgeſchriebene Geſuche 
achtlos in den Papierkorb wandern. Oeutſche 
Männer ſtehen auf deutſchem Boden vor 
franzöſiſchen Richtern, wenn man fie fo 
nennen will, werden verteidigt, wenn man es 
fo nennen will, von franzöſiſchen Anwälten 
und miiffen ſich ihr Urteil, wenn man es fo 
nennen will, aus dem Franzöͤſiſchen über ⸗ 
ſetzen laſſen. Wahrlich ſchlimm genug! 

Aber, was das Schlimmſte iſt: deutſche 
Kinder wachſen auch ohne die Segnungen 
der deutſchen Schule auf. Sie gewöhnen ihr 
Ohr in Straße und Haus an fremde Laute 
und müffen — Gewalt und Not zwingen 
dazu — die fremden Sprachen lernen. Und 
das iſt ein anderes Lernen heute als damals, 
wo der Sohn des deutſchen Siedlers etwa 


polniſch, der Sohn des deutſchen Kaufmanns 


italieniſch von ſelbſt erlernte. Damals lernte 
er es, um in dieſen Sprachen zu befehlen; 
heute lernt er es, um die fremden Befehle zu 
verſtehen und zu befolgen. Wie will man es 
hindern, daß mit jedem ſo erlernten fremden 
Wort ein deutſches dafür verloren geht? daß 
mit jedem ſo verlorenen deutſchen Worte ein 
Stück deutſchen Selbſtbewußtſeins ſchwin⸗ 
det und Selbſtverachtung, Stlavenfinn in den 
jungen Seelen ſich einniſtet? Wie will man 
es hindern, daß in dieſen Seelen der Ehrgeiz 
wach wird, der erbdrmlide bedienten hafte 
Ehrgeiz, den Fichte meint, wenn er hohnvoll 
ſagt, es ſei ‚der Gipfel des Triumphes, wenn 
man uns ja nicht mehr für Deutide, ſondern 
für Aus länder hält’? Wie will man es hindern, 


daß mit der Zweiſprachigkeit auch die Doppel- 


züngigkeit ſich einſtellt? Denn derſelbe Fichte 
weiß es: ‚Nicht der Menſch bildet die Sprache, 
ſondern die Sprache den Menſchen! “ 

Oer Oeutſche Sprachverein iſt kein poli- 
tiſcher Verein, politiſch im gewohnlichen Sinne 


Auf der Warte 


des Wortes; er dient keiner Partei; er iſt nicht 
‚monarchiſtiſch' und nicht „republikaniſch', 
nicht ,tonfervativ’ und nicht „radikal; er iſt 
nicht ſozialiſtiſch' und nicht ‚chauviniſtiſch'. 
Er ift nur — deutſch.Politiſch' darf man 
aber wohl auch Beſtrebungen nennen, die 
darauf gerichtet find, die innere Einheit ein es 
Volkes und ſein Selbſtbewußtſein nach außen 
zu erhalten. In dieſem hoͤchſten Sinne des 
Wortes wirkt der Verein allerdings, und 
ſeine Aufgabe iſt es heute, beizutragen zur 
Erhaltung der deutſchen Sprache, wo 
immer fie gefährdet iſt, als eines Geſ un d- 
brunnens deutſcher Art und Kraft und 
als des einzigen wirklichen Gemeingutes 
aller Oeutſchen.“ 


Gegen die Kanzleiſprache 


och immer lebt ſie in Geſetzgebung, Recht; 

ſprechung und Verwaltung, obwohl von 
manchen höheren Stellen eine Art von Sprach- 
polizei geübt wird, um die Schwerfälligkeit 
der papierdeutſchen Amtsſprache zu befeitigen ; 
und der Deutide Sprachverein, der manch 
mal ſolche Stümpereien an den Pranger ftellt, 
hat immer noch Arbeit genug. Es gilt auch 
heute noch für manche Kreiſe der Rechts- 
gelehrten Daubenfpeds ſcherzhafte Außerung: 
„Hätte ein Rechtsgelehrter die heiligen Bücher 
geſchrieben, fo würden die erſten Zeilen lau- 
ten: „Im Anfang wurde feitens Gottes Him- 
mel und Erde geſchaffen. Die letztere war 
ihrerſeits eine wiifte und leere und iſt es 
früher auf derſelben finſter geweſen.“ 

Vor der Geſellſchaft Hamburger Juriſten 
empfahl Dr. Michaels in einem Vortrag über 
„Die deutſche Sprache im Recht“ die Schaf- 
fung eines deutſchen Reichsſprachamtes 
in Berlin nach dem Muſter der franzöfifhen 
Akademie. Ahnliche Vorſchläge wurden ſchon 
mehrfach gemacht und verdienen ernſthafte Er- 
wägung, doch ſollte man fremde Einrichtungen 
nicht zum Muſter nehmen. Die Behandlung 
der Sprache iſt eine Kunſt, die als ſolche ge- 
pflegt werden muß. Ob die neue „Oeutſche 
Akademie“ hier belebend eingreift? O. 


Herausgeber: Profeſſor Dr. Friebrich Llenharb in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Kon tab Oürre, 

Welmar, Rarl-Alezanber-Allee 4. Für unverlangte Einfendbungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen. 

Annahme oder Ablehnung von Gebidten wird im „Brieflaften“ mitgeteilt, fo daß RAdfendung erſpart bleibt, 

ebendort werden, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſenbungen bitten wir Rückporto beizulegen. 
DOruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


4 


PR, für is und Geist 


ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT 


Herausgegeben von Prof. Dr h. c. Friedrich Sionbard 
— er; SGeannot Emil Greibherr von Grotthuß 


RE iabrg. | November 1925 Heft 2 


ee LLL Ot © 


Die Jiinglinge 
(an Mignous Gruft): 
Wohl verwahrt ift nun der Schatz, 
das [chine Gebild der Vergangen⸗ 
heit! Hier im Marmor ruht es un⸗ 
verzehrt. Auch in euren Herzen lebt 
es, wirkt es fort. Schreitet, ſchreitet 
ins Leben zurück! Nehmet den hei⸗ 
ligen Ernſt mit hinaus! Denn der 
Ernſt, der heilige, macht allein das 
Leben zur Ewigkeit. 


Goethe 


AI 


Us 
7 


Der Tümer XXVIII, 2 


Die Eleuſiniſchen Myſterien 


Eine Rekonſtruktion von Woldemar von Urtull 


I. Einleitung. 


s gab im alten Griechenland zwei Religionen, zwei Stufen der Gotteserkennt- 

nis. Die bekannte, offizielle fand ihren Ausdruck in den ſchönheitsverklärten 
Gottesdienſten, auf denen das gottbegnadete Volk der Hellenen feine Götter ver- 
ehrte und zu ihnen flehte. Die hauptſächlichſten Zentren dieſer allgemeinen, öffent- 
lichen Religion waren Delos, Delphi und Olympia. Die Feſte, die dort gefeiert wur- 
den, ſollten zwar in erſter Linie eine Ehrung der Sötter ſein, ſie hatten aber auch 
auf die ganze Entwicklung des Volkes einen tiefgehenden kulturellen Einfluß. Es 
wurde dort nicht nur der einzelne von den Prieſtern unterwieſen, er pflegte dort 
nicht nur durch Gebet und Opfer die Beziehungen zu den Göttern, ſondern es wurde 
auch die Jugend in Spiel und Wettkampf geſtählt und durch Dichter und Sänger 
veredelt. Dort bildete ſich das griechiſche Nationalgefühl aus, dort ſchwanden die 
Stammesunterſchiede im ſeligen Bewußtſein, Hellene zu ſein, und dort ward auch 
jene Eigenart erzeugt, die andern Völkern unerreichbar geblieben iſt, eine Eigen- 
art, die jeder größeren Bewegung im Kulturleben der Menſchheit mächtigen abeinden . 
Antrieb und unerreichbare Vorbilder gegeben hat. 

Aber außer der offiziellen, allen zugänglichen, allen bekannten Religion gab es 
noch verſchiedene Geheimkulte für diejenigen, die mehr wiſſen wollten. Es hat immer 
Leute gegeben, denen der hergebrachte, übliche Gottesdienſt nicht genügte, die tiefer 
in das Weſen der Dinge hineinzuſchauen verlangten, die die großen Fragen „woher 
kommen wir, weshalb leben wir, wohin gehen wir“ beantwortet haben wollten. 
Für diejenigen, die mehr Licht und Erkenntnis ſuchten, gab es alſo verſchiedene 
Geheimkulte, unter denen die Eleuſiniſchen Myſterien unſtreitig den erſten Rang 
einnahmen. In anderen Myſterien mag das ſexuelle Moment hervorgetreten ſein, 
in Eleuſis ſtrahlte ewige Wahrheit in reiner, himmliſcher Schönheit. Alle Dichter, 
Hiſtoriker und Philoſophen, ſoweit ihre Ausſprüche uns erhalten worden ſind, reden 
nur mit der größten Ehrfurcht von dem Kultus der zwei großen Göttinnen. Während 
eines Zeitraumes von über tauſend Jahren haben die bedeutendſten Perſönlichkeiten 
des einzig begabten Volkes der Hellenen in Eleuſis die herrlichſten und tiefgehendſten 
Eindrücke ihres Lebens empfangen. Der Kultus der beiden großen eleuſiniſchen 
Göttinnen, Demeter und Perſephone, war allen griechiſchen Staaten fo heilig, daß 
es für kriegführende Heere allgemein Sitte war, für die Dauer der Myſterien mit- 
einander Waffenſtillſtand zu ſchließen. 

Dak die Eleuſiniſchen Myſterien aber in fo hohem Anſehen ſtanden, hatte feinen 
Grund nicht nur in einer gewiſſen religiöfen Pietät und Ehrfurcht, nein, das Leben 
der Eingeweihten war ein Zeugnis von der Heiligkeit und heiligenden Kraft des 
Dienſtes der „großen Göttinnen“. Ariſtophanes gibt den Eingeweihten das Zeugnis, 
daß fie fromm und gerecht gegen Einheimiſche und Fremde ſeien. Xenofrates, einer 
der erſten Schüler Platos, erzählt uns, die Eingeweihten befleißigten ſich, drei Ge- 
ſetze zu halten: die Eltern zu ehren, den Göttern nur Fruchtopfer darzubringen und 


Arkull: Ole Geuſiniſchen Myſterien 99 


keinem lebenden Weſen, alſo auch keinem Tiere, Schmerz zu bereiten. Proklus und 
Nonnus bezeugen, durch die Einweihung werde die Seele von den Banden des fterb- 
lichen Körpers befreit, denn der Eingeweihte müſſe die ſinnlichen Lüſte verleugnen. 
Was Chriſten und Juden beim Namen Ferujalem, was Mohammedaner beim 

Namen Mekka empfinden, dieſes und mehr fühlte der eingeweihte Grieche beim 
Namen „Eleuſis“. Denn wenn Zeruſalem den Chriſten heilig ift, weil Jeſus Chriſtus 
daſelbſt gelehrt und gelitten hat, und wenn es den Juden der Ort iſt, an dem ihr 
Tempel ſtand und vielleicht einſt wieder ſtehen wird, wenn die Mohammedaner nach 
Mekka pilgern, um dort gewiſſe Gebete zu verrichten, ſo erlebte in Eleuſis der Grieche 
etwas, was ex nie vergeſſen konnte, das ihm Kraft, Licht und Troſt für den Reft 
ſeines Lebens gab. Er war dort in Berührung mit dem Überirdiſchen gekommen, 
der Schleier, der die unſichtbaren Welten von uns trennt, war vor ſeinen Augen ge- 
lüftet worden, er hatte „das große Licht von Eleuſis“ geſehen. Sophokles, einer der 
größten Dichter Griechenlands, der ſelber ein Eingeweihter war, faßt ſeine Eindrücke 
über die Einweihung in folgende Verſe zuſammen: 

Dreimal ſelig, ewig ftillbeglüdt 

Sit der Sterbliche, der jene Weih' erblickt 

Ehe er zum Hades niederſtieg. 

Seiner harrt dort Freude, Licht und Sieg, 

Ihm allein iſt Sterben neues Leben; 

Ooch den andern wird viel Leid gegeben. 


In Eleuſis wurde den Einzuweihenden auch ein heiliges Drama vorgeſpielt. Die 
Stifter der Eleuſiniſchen Myſterien hatten mit Recht erkannt, daß die Vorführung 
gewiſſer Ereigniſſe ſich dem menſchlichen Gedächtnis feſter und tiefer einprägt, als 
deren bloße Erzählung. Wir dürfen daher Eleuſis mit vollem Recht als die Mutter 
unſerer heute fo oft entarteten Theater anſehen. 

Die Eleuſiniſchen Gottesdienſte beſtanden aus den kleinen und großen Myfterien. 
Die Heinen Myſterien fanden jeden März in Agrae, einem Städtchen in der Nähe 
von Athen, ſtatt. Die großen Myſterien wurden aber nur alle fünf Jahre gefeiert, 
im Herbſt, im Monat Boedromion, der ungefähr unſerem September entſpricht. 


II. Der Ort der heiligen Handlung. 


Die große Straße, die Athen mit dem Peloponnes verbindet, hieß bis zum Städt- 
chen Eleuſis, das etwa 22 Kilometer weſtlich von Athen an der Bucht von Eleuſis 
liegt, die heilige Straße. Sie trug dieſen Namen nicht nur der Grabdenkmäler 
wegen, die fie zu beiden Seiten ſchmückten. Es bewegte ſich auf ihr die heilige Pro- 
zeſſion, die den Höhepunkt der großen Myſterien einleitete. Wir wollen, ehe wir 
die uralte Mythe an unſer Ohr klingen und den Vorgang der Einweihung vor uns 
aufleben laſſen, uns mit dem Orte der heiligen Handlung bekanntmachen. Wir ver- 
laſſen Athen durch eines ſeiner weſtlichen Tore, durchwandern die meiſt von Töpfern 
bewohnte Vorſtadt und gehen über den Markt, auf dem ſie ihre Waren feilboten, 
den Kerameikos. Durch Gärten gelangen wir zum graugrünen Olivenhain, durch den 
der Kephiſſos ſtrömt, den wir auf einer Brücke überſchreiten. Hier wehen uns zum 
erſtenmal altgriechiſche Erinnerungen entgegen, denn an dieſer Brücke pflegte ſich 


100 Axkull: Die Eleuſiniſchen Mpfterien 


allerlei Volk aus der Stadt und den Vororten zu verſammeln und den Zug der Feft- 
teilnehmer mit verſchiedenen, mehr oder minder derben Scherzen zu empfangen, 
ſich dabei im beißenden attiſchen Witze übend. 

Bald nach Verlaſſen des Haines fängt die Straße an allmählich emporzuſteigen 
und überſchreitet nach einigen Windungen auf der Höhe des Daphnipaſſes das Aga- 
leosgebirge. Die blauglänzenden Fluten des in großem Halbkreis nach Norden ins 
Land einſchneidenden Buſens von Salamis liegen vor uns. Links heben ſich die 
zackigen Berge von Salamis in ſcharfen Umriſſen vom Himmel ab. Am gegenüber- 
liegenden Ufer iſt Eleuſis ſichtbar, das Ziel unſerer Wanderung und die Geburts- 
ſtätte des größten griechiſchen Oramendichters Aſchylos. Mehr als die Hälfte des 
Weges ift zuruͤckgelegt. Die Straße ſenkt ſich nun zum Meere, macht eine ſcharfe 
Biegung nach rechts, nach Norden, und zieht ſich dann längs dem Ufer hin. Wir 
kommen an zwei kleinen Salzſeen vorbei, den Rheitoi, in denen zu fiſchen ein Vor- 
recht der eleuſiniſchen Prieſter war, und gelangen durch die triaſiſche Ebene nach 
Eleuſis, jetzt ein ärmliches Dorf, einſt aber der Ort, in dem die geiſtige Blüte Grie- 
chenlands zuſammenſtrömte, um durch Offenbarung uralter Weisheit zu höherer 
Weltanſchauung zu gelangen. Die Straße führt zu den großen Propyläen, an der 
Stelle eines früheren Feſtungstores von Hadrian erbaut. Rechts und links von den 
Propyläen ſtehen Triumphbogen. Sie bilden einen Platz, auf dem uns zwiſchen 
den Propyläen und dem öſtlichen Tor der ſchon von Homer erwähnte Brunnen des 
ſchönen Reigens (Kallihoron Frear) gezeigt wird. Um ihn. führten und führen noch 
heute an beſtimmten Tagen die Frauen von Eleuſis feit uralten Zeiten Reigentdnge 
auf. Das erſtemal tanzten ſie, wie die Sage lautet, um die trauernde Demeter zu 
erheitern, als dieſe, ihre Tochter Perſephone ſuchend, durch Eleuſis kam. 

Nachdem wir durch die großen Propyläen geſchritten, gehen wir quer über den 
Vorhof und gelangen zum zweiten Eingange des Heiligtumes, den kleinen Pro- 
pyläen. Wir durchſchreiten fie und betreten das Innere des heiligen Bezirkes, der 
von Feſtungsmauern aus verſchiedenen Zeiten eingefaßt wird. Von den kleinen 
Propyläen führt die heilige Straße am Plutonion vorbei, der Plutogrotte, von der 
heute nur noch fpärlihe Reſte vorhanden find, zum großen Weihetempel, dem my» 
tikos sekos, in dem die Hauptfeier, die eigentliche Weihe ſtattfand. Vor dieſem 
zweiſtöckigen Gebäude liegt gegen Südoſt die mit doriſchen Säulen gefhmüdte Vor- 
halle des Philon, durch die man in das Innere des Tempels, das Teleſterion tritt, 
der durch beide Stockwerke geht. Acht Sitzreihen, zum Teil aus dem Fels gehauen, 
zum Teil aufgemauert, umgeben den gewaltigen viereckigen Raum, deſſen Decke 
von 42 Säulen getragen wird. In die Galerie des oberen Stockwerkes gelangen wir 
von einer Felsterraſſe aus, die im Nordweſten an die Hinterwand des Heiligtums 
ſtößt, und zu der zu beiden Seiten des Tempels in den Fels gehauene Treppen füh- 
ren. In den Perſerkriegen zerſtört, wurde der Tempel bald wieder noch ſchöner und 
bedeutend umfangreicher in einer Größe von ca. 28000 Quadratfuß hergeſtellt, 
wobei ſich Perikles und der berühmte, den Bau leitende Baumeiſter Iktinos be- 
ſonderes Verdienſt erwarben. Im Süden des heiligen Bezirkes befinden ſich Vor- 
ratskammern und das Buleuterion, ein halbrunder Saal, in dem die Prieſter ihre 
Ratsſitzungen abhielten. 


Urtull: Die Eleuſiniſchen Myfterien 101 
III. Die Mythe. 


Die Mythe, die den Stoff zum heiligen Drama von Eleuſis lieferte, iſt uralt und 
von durchſichtiger Klarheit und Schöne. Perſephone, die Perſonifikation der Men- 
ſchenſeele und zugleich die Gottheit, die die Geſchicke der Menſchenſeele leitet, war 
die Tochter der Demeter, der großen Mutter, der Weltenſeele, der Gottheit, die das 
Leben des Kosmos darſtellt, leitet und geſtaltet. Sie ſollte nach Beſchluß der Himm- 
liſchen ſich mit Dionys, dem göttlichen Geiſte, der alles belebenden Naturkraft, ver- 
mdblen; aber Pluto, der Beherrſcher des Hades, der Schatten, der Sinnlichkeit, ent- 
führte ſie mit Hilfe des Eros, der Liebe. Demeter durchzog nun trauernd, auf der 
Suche nach ihrer Tochter, alle Länder. Sie kam auch in der Geſtalt einer alten Frau 
nach Eleuſis. Im Hauſe des Königs Keleos fand ſie gaſtfreie Aufnahme. Die Frauen 
von Eleuſis tanzten abends um den Brunnen einen Reigen, um die trauernde 
Fremde zu erheitern. Zum Dank für die erwieſene Gaſtfreundſchaft ſchenkte Demeter 
dem Sohne des Keleos, dem Triptolemos, ein Weizenkorn und lehrte ihn den Acker- 
bau. Sie weihte ihn aber auch in die Bedeutung des Säens und des Emporkeimens 
der Saat zum Lichte ein. Sie ſtiftete, fo ſagte die Überlieferung, den Geheimkultus 
zu Eleuſis. | | 

Dann zog fie auf der Suche nach Perſephone weiter. Sie begegnete Hekate, der 
Söttin der Wandlungen, der Metamorphoſen. Dieſe konnte ihr Aufſchluß über den 
Aufenthaltsort ihrer Tochter geben. Demeter erfährt, daß Perſephone im Hades als 
Semahlin des Pluto weilt. Sie dringt zuſammen mit Dionys in den Hades ein und 
befreit Perſephone. Pluto aber will feine Rechte auf Perſephone nicht aufgeben. 
Der Streit wird vor Zeus getragen, der das Urteil ſpricht, Perſephone ſolle zwei 
Drittel des Jahres bei Dionys im Himmel und ein Drittel des Jahres bei Pluto im 
gades weilen, bis Finſternis und Sinnlichkeit keine Macht mehr über ſie haben und 
fie ſich nicht mehr nach dem Hades zurüdjehnen würde. 


IV. Geſchichte und Hierarchie. 


Die Entſtehung der Eleuſiniſchen Myſterien verſchwindet im Dunkel der Zeiten; 
ſie fällt in vorhomeriſche Zeit. 

Eumolpos, der die Weihen ſelber in Agypten empfangen haben ſoll, wird als 
Stifter genannt. Er iſt der Ahnherr des Eleuſiniſchen hohenprieſterlichen Geſchlechts. 
Nach ihm wurden ſeine Nachkommen Eumolpiden genannt. Das Wort Eumolpiden 
hatte aber noch einen zweiten Sinn, ließ eine zweite Deutung zu. Eumolpiden 
konnte auch die „Wohlſingenden“ bedeuten. Und in der Tat, die Eumolpiden ver- 
ſtanden das Singen; neben dem Zauber rhythmiſchen Tanzes war rhythmiſch melo- 
diſcher Gefang von großer Wirkung bei der Feier des Geheimkultes. Die Lieblichkeit 
wohllautender Melodien, die von einem ſtarken, andauernd wiederholten Rhythmus 
getragen wurden, brachten es zuſtande, die Seelen derjenigen, die eingeweiht werden 
ſollten, in ſtarke Schwingungen zu verſetzen, ſie mitzureißen, emporzuheben. Die 
Harmonie unſerer Muſik hingegen und der ſpannende und löſende Reiz des Über- 
ganges aus einer Tonart in die andere, war den Griechen fremd. Ob ſie, wie die 
Agypter, mit jedem Tone auch einen Begriff verbanden und folglich die Muſik nicht 


102 Urtull: Ole Lleufinifden Myſterlen 


nur hörten und genoffen, ſondern auch in ganz anderem Sinne, wie wir, verſtanden, 
das läßt ſich bei dem wenigen, das wir von altgriechiſcher Muſik wiſſen, heute ſchwer 
entſcheiden. 

Zur Zeit der Unabhängigkeit Griechenlands ſtand der Kultus der beiden großen 
Göttinnen unter dem Schutze des atheniſchen Staates. Uneingeweihte, die ſich in 
die Myſterien einſchleichen wollten, wurden mit dem Tode beſtraft. Sogar Anjfpie- 
lungen auf das, was in Eleuſis geſchah, waren verboten. Daß aber ein Eingeweihter 
die heiligen Geheimniſſe Unberufenen mitgeteilt hätte, iſt während der ganzen Dauer 
der Myſterien nicht vorgekommen. Nachdem Griechenland längſt römiſche Provinz 
geworden war, fuhren die Eleuſiniſchen Geheimfeiern fort, ſich größten Anſehens 
zu erfreuen, weil es in Rom Mode geworden war, in Eleuſis die Weihe zu emp- 
fangen und weil die meiſten römiſchen Kaiſer ſich hatten einweihen laſſen und 
Eleuſis in jeder Beziehung ſchützten und bevorzugten. Nero jedoch, an deſſen Händen 
das Blut fo vieler unſchuldiger Opfer klebte, hatte nicht den Mut, ſich den Eleufi- 
niſchen Myſterien zu nahen, ſondern vermied es, auf feinen Reifen durch Griechen 
land Eleuſis zu berühren. Heutzutage iſt das Heiligtum der großen Göttinnen ein 
wiiftes Trümmerfeld, auf dem es dem Beſucher ſchwerfällt, ſich zurechtzufinden. 
Ob Alarich, der Gotenkönig, oder Theodoſius, der chriſtliche Imperator, das Heilig- 
tum zerſtört hat, iſt für uns ziemlich gleichgültig. Ungebildeter Unverjtand hat immer 
wieder auf Erden Schätze vernichtet, ohne für ſich irgendeinen Vorteil davon zu 
haben, unerſetzliche Schätze, die gottbegnadete Künſtler im Laufe vieler Jahre in 
heißem Ringen geſchaffen hatten. 

Aus dem Geſchlechte der Eumolpiden ſtammte immer der Hierep ben der Hohe 
prieſter, dem im heiligen Drama die Rolle des Zeus zufiel. Seine Gattin, die Hiero- 
phantin, ſtellte meiſtens die Demeter dar. 

Die zweithöchſte Würde in der eleuſiniſchen Hierarchie war die des Fackelträgers, 
des Daduchos, die im Geſchlechte des Triptolemos erblich war. 

Aus dem Geſchlechte der Keryken wurde der heilige Herold, der Hierokeryx, ge- 
nommen, der die Einzuweihenden während der Feier durch Zurufe und Erklärungen 
auf das, was geſchah und auf das, was ſie zu beobachten hatten, aufmerkſam machte. 
Es war die dritthöchſte Würde in der eleuſiniſchen Hierarchie. 


V. Die kleinen Myſterien 


Der Grieche, der in Eleuſis die Weihe empfangen wollte, hatte zwei Paten, d. h. 
zwei Eingeweihte zu finden, die für ihn gutſtanden. Er wurde darauf ſeitens der 
eleuſiniſchen Prieſter einem Examen unterworfen, in dem er ſeine freie Geburt als 
Bürger eines helleniſchen Staates und ſeine Ehrenhaftigkeit dartun mußte. Er 
mußte ſchwören, reine, d. h. nicht mit dem Blute eines Nebenmenſchen befleckte 
Hände zu haben und ſich als ein Mann von einer gewiſſen Erziehung und Bildung 
ausweiſen. Entſprach er dieſen Anforderungen, ſo wurde er angenommen und hieß 
nun Neophyte. Einer feiner Paten wurde gewöhnlich fein Myſtagoge, d. h. er blieb 
ihm während ſeiner Einweihung zur Seite, und da er für den Neophyten verant- 
wortlich war, ſo ſagte er ihm alles, was er zu tun hatte. Oft verband dann treue 
Freundſchaft den Neophyten oder ſpäteren Myſten und Epopten mit dem Myſta- 


— — 


Artull: Die Aeuſiniſchen Myfterien 105 


gogen, eine Freundſchaft, die in der heiligſten Stunde, die der Einzuweihende 
durchlebt, ihren Anfang nahm und bis ans Lebensende dauerte. 

Bis zur Einweihung in die kleinen Myſterien hieß der Einzuweihende Neophyte; 
nach Empfang der erſten Weihe ward der Neophyte Myſte (d. h. ein Verſchleierter) 
genannt, und nach der Einweihung in die großen Myſterien war er ein Epopte (d. h. 
ein Sehender oder einer, der geſchaut hatte). 

Die kleinen Myſterien fanden im Heiligtume der Demeter in Agrae, einem 
Städtchen in der Nähe von Athen, ſtatt. Nach einem Bade im FIlyſſos wurden die 
Neophyten angewieſen, ſich am Eingange des Tempelbezirkes einzufinden, wo ſie 
der Hierokeryx, wie Hermes mit Flügelſtab und Schlapphut, an der Spitze der 
Myſtagogen empfing und ins Innere des heiligen Haines vor einen kleinen Tempel 
führte. Unter dem Vortritt der Prophantide trat ein Chor von Hierophantiden auf, 
weiß gekleidet, mit wallendem Haar, in ſtark hervorgehobenem Rhythmus tanzend. 
Sie ſtellten ſich vors Heiligtum hin und ſangen ein uraltes doriſches Lied, in dem 
den Neophyten geſagt wurde, ihr jetziges Leben ſei nur ein Traum, ſei nur ſcheinbar, 
es gäbe aber noch ein anderes, ein wirkliches Leben, das ſie vor der Geburt gelebt 
hätten und welches fie nach ihrem Tode wieder leben würden. Zum Schluß trat die 
Prophantide vor und flehte zuerſt mit emporgehobenen Armen den Segen der 
großen Göttinnen auf die Neophyten herab, daß fie durch Finſternis zum Lichte durch- 
dringen mögen. Sie ſprach aber auch einen fürchterlichen Fluch über denjenigen aus, 
der die heiligen Geheimniſſe Unberechtigten mitteilen würde, die Strafe der Göt- 
tinnen würde ihn treffen im Scheine der Sonne oder im Schatten des Hades. 

Die Neophyten wurden dann aus dem heiligen Bezirk hinausgeleitet und hatten 
die empfangenen Eindrücke einige Tage in ji nachklingen zu laſſen. Ein beſtimmtes 
Faften wurde ihnen auferlegt. Sie hatten gewiſſe Gebete zu verrichten. Die Neo- 
phyten hatten auch jeder ein Schwein den großen Göttinnen zu opfern, worin 
vielleicht eine Andeutung lag, daß ſie gewillt ſeien, alles Tieriſche, Unreine in ihnen 
herzugeben, zu opfern, zu töten. Sie handelten darin in Übereinftimmung mit dem 
Ausſpruche des Apulejus, die Einweihung fei gleichſam ein freiwilliger Tod und 
die Wiedergeburt zu einem neuen Leben. 

Nach einigen Tagen hatten ſie ſich wieder beim Eingang des Heiligtumes einzu- 
finden. Sie wurden wie das erſtemal vom heiligen Herold und den Myſtagogen 
empfangen, der ihnen erklärte, die Geſchichte der Perſephone, die fie jetzt ſehen wür- 
den, ſei die Geſchichte ihrer eigenen Seele. Die Entführung Perſephones aus der 
Oberwelt in den Hades bedeute das Herabkommen der Seele aus lichten Höhen auf 
dieſe Erde in der Stunde der Zeugung. Sie würden ſehen, wie Eros Perſephone 
verführt, wodurch Pluto, der Beherrſcher der Schatten, Gewalt über fie erhält. 
Durch irdiſche Liebe angezogen, werde die Seele in dieſes Leben hineingeboren, wo 
fie im Dunkeln weile, bis fie ſich wieder in der Stunde des Todes zum Lichte durch- 
ringt. Die Neophyten konnten ſolchen Gedankengängen folgen. Sie waren ja nicht 
ganz rohe, ungebildete Menſchen. Sie waren Leute, die eine gewiſſe Bildung ge- 
noſſen hatten und die durch Schule, Theater und öffentliches Leben gewohnt waren, 
auch abſtrakte Begriffe in ſich aufzunehmen. 

Dann nahte der Höhepunkt der kleinen Myſterien, der erſte Akt des heiligen Ora- 


104 Uxtull: Oie Lleufinifhen Myſterien 


mas. Oer Hierokeryx geleitete die Neophyten in den heiligen Hain auf eine Wald- 
lichtung. Aus einer Felswand ſprudelte ein Quell und bildete ein kleines Waſſer⸗ 
becken, um das Nymphen ruhten und ſtanden. Im Vordergrunde ſaß Perſephone 
und ſtickte an einem Schleier, der in den Farben des Regenbogens ſchillerte. Sie 
ſtellte die menſchliche Seele dar, die ſich mit himmliſchen Dingen beſchäftigt. Ihre 
Mutter Demeter mag neben ihr geſtanden haben. Nachdem die Neophyten einige 
Augenblicke das liebliche Bild mit ehrerbietiger Schau betrachtet hatten, trat der 
Hierokeryx vor und ermahnte die Neophyten, ja recht achtzuhaben auf das, was fie 
hören würden. Demeter, die große Mutter, ſei auf die Erde herabgeſtiegen, um der 
Menſchheit zwei große Gaben zu bringen: die Frucht des Feldes und die Einweihung, 
die den Eingeweihten einen bleibenden Sonnenſchein, eine lichte Hyffnung für 
dieſes Leben und für alle darauffolgenden Zeiten gebe. Darauf ermahnte Demeter 
feierlich Perſephone, bis zu ihrer Rückkehr am Schleier weiterzuſticken, an Dionys, 
den ihr vom Himmel beſtimmten Gemahl zu denken, ja nicht auf Eros zu hören, 
falls er ſich ihr nahen ſollte, und vor allen Dingen nicht die aus der Erde ſprießenden 
Blumen zu pflücken, deren Duft fie fo berauſchen würde, daß fie die Erinnerung an 
alles Himmliſche verlieren müßte. 

Perſephone gelobt der Mutter Gehorſam, und Demeter entfernt ſich. Aber trotz 
der Mahnungen des Nymphenchores fängt Perſephone bald an, ſich in Gedanken 
mit Eros zu beſchäftigen. Sie erinnert ſich eines Ausſpruches ihres Vaters Zeus, 
daß durch Eros die Seelen aus dem Chaos zum Leben gerufen würden. Die wieder- 
holten Warnungen der Nymphen find vergeblich. Der Name Eros wirkt berauſchend 
auf Perſephone, ſie läßt den Schleier ſinken, ſie hört auf, ſich mit himmliſchen Dingen 
zu beſchäftigen, fie fühlt fi angezogen von irdiſchen Gewalten. Die Nymphen er- 
mahnen fie am Schleier weiterzuarbeiten, aber umſonſt. Perſephone äußert zuletzt 
den Wunſch, Eros möge ſich ihr offenbaren — und — aus dem Walde tritt ein ſchöner 
geflügelter Knabe, der ſich als Eros zu erkennen gibt, der von Perſephones Ver- 
langen angezogen, gekommen ſei. Er umgarnt fie mit Schmeichelworten und be- 
redet fie, auf der MWieſe Blumen zu pflücken; er rät ihr, den Duft einguatmen, fie 
würde dadurch Offenbarungen empfangen über Liebe und über die ewigen Geſetze, 
wie Menſchenſeelen ins Leben hineingeboren würden. Perſephone weigerte ſich 
zuerſt, eingedenk des Verbotes der Mutter; als aber Eros mit ſeinem Bogen die 
Erde berührte und eine wundervolle, große, weiße Narziſſe emporſprießt, da ver- 
langt ſie zuerſt den Namen der Blume zu erfahren und zuletzt, trotz der verzweifelten 
Mahnungen des Nymphenchores, beugt ſie ſich, bricht die Blume und zieht ihren 
Duft ein. Da erſchüttert Oonner die Luft, die Erde ſpaltet fi, auf einem von 
Drachen gezogenen Wagen erſcheint Pluto, reißt Perſephone zu ſich auf ſeinen Wagen 
und fährt mit ihr davon — in den Hades. Aus der Ferne hört man Perſephones Weh- 
geſchrei; ihre Stimme ſchallt ſchaurig durch den Wald, auf den ig die Schatten des 
Abends legen: „Zu Hilfe, Mutter, zu Hilfe!“ 

Der Hierokeryx trat nun wieder vor die ſchweigend und ergriffen daſtehenden 
Neophyten und erklärt ihnen, fie hätten ſoeben der Geſchichte ihrer eigenen Menfdh- 
werdung zugeſchaut. Perſephone ſtelle ihre, der Neophyten, Seele dar, die, anſtatt 
ſich mit Dionys, dem göttlichen Geiſte, zu vermählen, durch Eros, die irdiſche, finn- 

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Uztull: Die Lleufinifden Mpfterien 105 


liche Liebe und ihre hinreißende Anziehungskraft verführt, der Macht der Finſternis 
verfalle, die durch Pluto dargeſtellt worden ſei. Es wurde ihnen geſagt, daß ſie 
jetzt, eben, noch in Finſternis wandelten, in einem Leben, das nur ſcheinbar ſei; 
einft aber hätten fie das wahre Leben gelebt, bis fie, durch Eros Zauber angezogen, 
in den irdiſchen Abgrund gefallen ſeien. Nur ihr vergangenes und zukünftiges Leben 
ſei wahres Daſein. Sie wurden angewieſen, über die Worte des Empedokles nach 
zudenken, „die Entſtehung des Menſchen ſei eine furchtbare Kataſtrophe, durch 
welche ewig Lebendige zu Sterblichen würden“. 

Schweigend, beim Scheine von Fackeln, verließen die Neophyten darauf den nächt- 
lichen Hain, während die Hierophantiden vom Heiligtum her ihren verzweifelten 
Klageruf: „Perſephone, Perſephone!“ durch das Dunkel erſchallen ließen. Auf 
einem Vorgebirge aber am Meeresufer verſammelten ſich Frauen Athens in Trauer- 
kleidung und erfüllten die Luft mit Weherufen und leidenſchaftlichen Klagen um 
Perſephone. 

Der erſte Teil der Myſterien war zu Ende. Die Neophyten hießen nun Myſten, 
Verſchleierte. Sie hatten erkannt, daß das jetzige Leben nur ein Übergang zum 
wahren Daſein ſei. Sie waren Verſchleierte, ſie hatten das große Licht, die volle 
Wahrheit noch nicht geſehen, aber ſie ahnten, ſahen ſie, wie durch Schleier, von 
ferne. Sie hatten ſich auch den Ausſpruch des Olympiodorus einzuprägen, der Zweck 
der Myſterien fei, ihre Seelen in den Zuſtand wieder zurüdzubringen, von dem fie 
(vor dem Fall in die ſichtbare Welt) ausgegangen wären. Es wurde ihnen geſagt, 
ihr Geift fei durch fein Verſchulden, durch ſeinen Drang, die Liebe kennenzulernen, 
in einem Gefängnis, ſie dürften daher auch nicht ſelber die Zeit ihrer Gefangenſchaft 
durch Selbſtmord abkürzen, dies fei ein Frevel, den die Götter ſchwer ſtraften. Be- 
ſchäftigt mit der neuen Gedankenwelt, die ſich nur ihnen eröffnete, erwarteten ſie mit 
Ungeduld und Ehrfurcht den Zeitpunkt, da fie durch das Erleben der Großen My- 
ſterien Eingeweihte, Wiſſende, Seher („Epoptai“) werden und aus der Finſternis 
zum großen Lichte geführt werden würden. Sie durften bis dahin den Beſchäfti- 
gungen ihres Berufes nachgehen, hatten aber täglich gewiſſe Meditationsübungen 
vorzunehmen und vorgeſchriebene Gebete zu verrichten. 


VI. Die Großen Myſterien 


Die Großen Myſterien wurden, wie gejagt, alle fünf Jahre im Herbſt, zur Ernte- 
zeit, im Monat Boedromion gefeiert. 

Am erſten Tage verſammelten ſich die Myſten in Eleuſis. Die Prieſter emp- 
fingen fie und hießen fie im Heiligtum willkommen. Sie machten fie mit den Auf- 
nahmebedingungen bekannt. Die Myſten hatten im Heiligtume zu übernachten. 

Am zweiten Tage wurden die Myſten von den Tempeldienern mit dem Rufe: 
puns Meer, ihr Myſten, ans Meer“ geweckt. Sie hatten an den Strand zu eilen und 
im Meere gewiſſe Waſchungen vorzunehmen. An dieſem Tage ſetzte für die Myſten 
das Schauen des heiligen Dramas wieder ein. Der zweite Akt zeigte ihnen den 
Schmerz und die Verzweiflung der Demeter über den Verluſt ihrer Tochter. Sie 
waren Zeugen der Ankunft der Göttin in Eleuſis, ihrer gaſtfreien Aufnahme im 
Haufe des Keleos, des Reigens der Frauen um den Brunnen, der Übergabe des 


106 Uxtull: Ole Aeuſiniſchen Myſterien 


erſten Weizenkornes an Triptolemos und der damit verbundenen Erklärungen und 
Unterweiſungen. Sie ſahen, wie Demeter nachher mit Hekate, der Göttin der Me- 
tamorphoſen, zuſammentraf und hörten, wie dieſe der verzweifelten Mutter Auskunft 
über den Aufenthaltsort der Tochter geben konnte. Der Hierokeryx erklärte den 
Myſten den ſymboliſchen Sinn des heiligen Schauſpiels. Er ſprach von der göttlichen 
Liebe der Weltenſeele, die die Menſchenſeele ſucht, um fie aus den Banden der Ma- 
terie zu befreien und mit ſich zu vereinigen. Er ſprach von den Metamorphoſen, 
denen die menſchliche Perſönlichkeit auf ihrer Wanderung durch verſchiedene Da- 
ſeinsſtufen unterworfen ſei. Heiliges Singen verſchönerte die Feier. 8 

Am dritten Tage wurden den beiden großen Göttinnen Opfer dargebracht. 

Am vierten Tage fand in Eleuſis eine Prozeſſion ſtatt, wie ſie eben nur unter 
Hellas blauem Himmel geſehen werden konnte: auf blumenbeſtreuten Wegen trugen 
blumengeſchmückte Jünglinge einen Rieſenkorb, den Kalathos, aus dem die Fülle 
ſüdländiſcher Blütenpracht quoll, in dionyſiſch froher Prozeſſion zum Altare der 
Perſephone. 

Der fünfte Tag war, in ſtarkem Gegenſatz zum vorhergehenden, der Trauer und 
Buße geweiht, wobei die Myſten, indem fie um Perſephone trauerten, die im Hades 
weile, auch an ihre Seele dachten, die ebenfalls in einem Gefängnis, dem Körper, 
feſtgehalten werde. Es iſt anzunehmen, daß dieſe Bußübungen und Meditationen 
auch mit Faſten und Gebet verbunden waren; ſicher aber iſt, daß zum Schluſſe 
dieſer Zeremonien die Myſten einen geheimnisvollen Trank genoſſen. Woraus der- 
ſelbe beſtand, läßt ſich nicht mehr mit Genauigkeit feſtſtellen, wir dürfen aber an- 
nehmen, daß er nicht einfach Wein allein, ſondern auch andere Ingredienzen ent- 
hielt, die den Myſten befähigten, ihn in Stimmung verſetzten und vorbereiteten, 
das Wunderbare, Außergewöhnliche aufzunehmen, das ſich ihm am nächſten Tage 
bieten ſollte. 

Am ſechſten Tage, dem Höhepunkte der Myſterienfeier, erhielt jeder Myſte am 
Morgen einen Thyrſusſtab und einen verſiegelten, mit Efeu geſchmückten Korb, den 
Ciſtus, den er den ganzen Tag mit ſich tragen mußte, ohne ihn öffnen zu dürfen. Er 
enthielt drei geheimnisvolle Gegenſtände und wurde nur in der kommenden, der 
großen und heiligen Nacht der Einweihung vom Hierophanten eigenhändig gedff- 
net, der dann den Myſten die im Ciſtus enthaltenen Gegenſtände zeigte und deren 
Bedeutung ihnen erklärte. Der Hierokeryx aber ſagte den Myſten nach Empfang des 
Ciſtus, daß auch dieſes, das Tragen dieſes verſchloſſenen Korbes, für fie voller Bedeu- 
tung ſei; ſo wie ſie dieſen verſiegelten Korb nun mit ſich herumtragen müßten, ſo 
trügen fie auch in ſich allerlei herum, wovon fie eben noch nichts wüßten, gebeimnis- 
volle Fähigkeiten, die in ſpäteren Zeiten zur vollen Entwicklung gelangen würden. 

Dieſer ſechſte Tag war, wie geſagt, der Höhepunkt des Feſtes; an ihm fand abends 
die große, die heilige Prozeſſion ftatt, die oft bis 30000 Teilnehmer zählte. Unter 
Anführung des Daduchos, des oberſten Fackelträgers aus dem Geſchlechte des Tri- 
ptolemos, ſetzte ſich der Zug nach Sonnenuntergang von Athen aus in Bewegung. 
Er folgte der uns ſchon bekannten heiligen Straße. Viele Teilnehmer trugen brennende 
Fackeln. Unter allgemeinem Jubel und freudigem Jauchzen, unter Klängen froher 
Lieder zu Ehren des Gottes wurde die myrtenbekränzte Statue des Dionys von 


— ee aa Zn 


Urtull: Ole Eleufintfchen Myſterlen 107 


Athen nach Eleuſis getragen. Das Volk, unwiſſend und abergläubiſch, jubelte der 
Statue des Gottes zu; es hatte ſeine Freude am Feſte, am Fackelſcheine und Lieder- 
klang. Die Eingeweihten aber, die in früheren Jahren die Weihe empfangen hatten 
und mitgingen, hatten Grund zu tieferer Freude. Für fie war Dionys, der ſich auf- 
machte, um Perſephone aus der Macht Plutos zu befreien, der göttliche Geiſt, der 
ſich nahte, um die Menſchenſeele aus der Macht der Finſternis zu erlöſen. 

Wunderbar iſt die Geſtalt des Dionys. Zuweilen wurde er als erwachſener Mann, 
zuweilen als Kind dargeſtellt. Er war ein Auferſtandener, ein Wiedergeborener. 
Von den Sitanen zerfleiſcht und aufgegeſſen, wurde fein Herz von Pallas Athene 
den Titanen entriſſen und dem Vater, Zeus, zurückgebracht. Dieſer nahm das Herz 
des Sohnes in ſeine Bruſt und von dort, aus dem Schoße des Vaters, ſollte der einſt 
zerfleiſchte als Retter wiederkommen, die leidende Menſchheit zu erlöſen. Dieſer 
Gedanke und dieſe Erkenntnis erfüllten das Herz des Eingeweihten mit ſtürmiſcher 
Freude, einer Freude, die ſich mit ſüdländiſcher Lebhaftigkeit in Liedern und Jauchzen, 
in Sprüngen und Tänzen äußerte. Dionys wurde an dieſem Tage auch des öfteren 
Fakchos genannt, und am häufigſten mag von den Begeiſterten das uns erhaltene 
Tanzlied zu Ehren des Jakchos geſungen worden ſein, das mit den Worten anfing: 
„dakchos, dem der Tanz lieb, komm, geleite mich.“ Die Myſten, die in dieſer Nacht 
die letzte Weihe empfangen ſollten, ſpähten von Eleuſis aus, von den Zinnen des 
geiligtums nach dem Zuge. Als ſich dann die Nacht in der Ferne erhellte und die 
heilige Prozeſſion auf der Höhe des Agaleosgebirges erſchien und ſich wie eine feu- 
rige Schlange auf dem Abhange herunterwand, da ſetzten ſich die Myſten ebenfalls 
in Bewegung. Sie gingen dem Zuge der ſchon Geweihten, von Athen kommenden 
entgegen, und zuſammen unter verdoppeltem Jubel zogen alle nach Eleuſis ins 
Heiligtum. Die Ankunft des Dionys Jakchos kündete den Myſten das Nahen ihrer 
eigenen Wiedergeburt durch die Kräfte des göttlichen Geiſtes an, dem Wieder- 
erneuerer der Menſchenſeele, der dieſe aus der Finſternis zum Lichte zurückführt. 

Durch die großen Propyläen zog die Prozeſſion ins Heiligtum ein. Dort empfing 
ſie der heilige Herold und zwang die Unberechtigten, die ſich zuweilen einſchleichen 
wollten, durch den Ruf: „Eskato bebeloi !“ — die Fremden hinaus — das Heiligtum 
zu verlaſſen. Aufs unberechtigte Eindringen zu den Geheimfeiern ſtand der Tod. 
die Myſten aber hatten unter Androhung der Todesſtrafe zu ſchwören, Unein- 
geweihten nichts von dem zu verraten, was ſie hier erleben und ſehen würden. Nach 
dem Schwur ſagte der Hierokeryx den Myſten, fie ſeien nun auf der Schwelle zu 
Perſephones unterirdiſcher Wohnung, um jedoch zum großen Lichte zu gelangen, 
müßten ſie zuerſt durch Finſternis gehen; um vom wahren Oaſein ihrer Seele etwas 
zu verſtehen, müßten ſie zuerſt durch das Reich des Todes ſchreiten. Dies ſei die 
Prüfung, durch die ſie aus Myſten Epoptai, Eingeweihte, würden. 

Die Myſten hatten darauf ihre Kleidung abzulegen. Sie wurden mit einem Rebfell 
bekleidet, ein Symbol deſſen, daß ihre aus dem Himmel ſtammende Seele durch ihre 
Geburt, durch ihre Menſchwerdung einen Leib erhalten habe, der aus demſelben 
Stoffe beſtehe, aus denen auch der Leib der Tiere zuſammengeſetzt fei und auch den- 
ſelben Geſetzen unterworfen. Hierauf löſchte der Daduchos ſeine Fackel aus und 
ſofort taten die andern Fackelträger dasſelbe. Die Myſten wurden nun von ihren 


108 Ugtull: Ole Eleuſiniſchen Mpfterien 


Myſtagogen zum Eingange eines unterirdifchen Labyrinths geführt. Dort herrſchte 
völlige Finſternis. Sie ftellte den Zuſtand ihrer Seele dar, die nur ihren natürlichen 
Verſtand hat, nichts mehr aber von ihrem früheren Leben weiß und der das große 
Licht der Erkenntnis und Einweihung noch nicht aufgegangen iſt. Der Zug der My⸗ 
ſten bewegte ſich langſam vorwärts in völliger Nacht. Plötzlich hörten ſie, die durch 
Gebet, Faſten, Belehrung und den geheimnisvollen Trank vorbereitet und in Stim- 
mung verſetzt waren, allerlei ferne unheimliche Geräuſche, ſchaurige Seufzer, 
ſchreckliche Schreie. Hin und wieder rollte ein Donner durch die gewölbten Gänge. 
Ein greller Blitz zerriß die Nacht und zeigte den erſchreckten Myſten allerlei grauen; 
volle Erſcheinungen: drohende Ungeheuer, Schlangen, Geiſter, Gerippe, zerfleiſchte 
Leichen. Dabei wechſelten die Erſcheinungen raſch Geſtalt und Anſehen, was bei den 
Myſten Betäubung und Schwindel hervorrief. Doch nur einen Augenblick ſahen fie 
das Schreckliche, das ſie umgab, und wieder wurde es völlige Nacht. Obſchon ſie 
noch im Leibe wandelten, ſo wurde dennoch durch Wiſſen und Können der Prieſter 
in dieſer Stunde für fie der Vorhang gelüftet, der die unſichtbaren Welten von den 
ſichtbaren trennt, und es wurden ihnen hier Einblicke in die unteren Schichten der 
Geiſterwelt gewährt. Plutarch, der ſelber eingeweiht worden war, vergleicht das 
Grauen, das der Myſte im Labyrinth verſpürt, mit den Schrecken des Todes. Dann 
gelangte der Zug in eine Krypta, einen großen gewölbten Raum unter dem Weihe 
tempel. Hier erblickten die Myſten zum erſten Male wieder Licht, allerdings nur 
flackerndes, unſicheres Licht. Unter einem großen Keſſel brannte Holz. Ein Prieſter 
in einem gelb und ſchwarz geſtreiften Talar ſtand hinter dem brodelnden Keſſel und 
warf von Zeit zu Zeit allerlei Gräſer und Gewürze hinein. Aus dem Keſſel quoll 
immer dichter werdender Dampf und Qualm. Den Myſten wurde befohlen, am 
Eingange bei der Wand niederzuknien. Ein Chor von Dämonen trat auf, um nach 
ſchaurigem Geſange wieder zu verſchwinden. Der Rauch im Raume wurde immer 
dichter, und mit Schaudern erkannten die Myſten beim flackernden Lichte allerlei 
ſich drohend auf ſie zu bewegende Ungeheuer oder Geſpenſter. Wilde Tiere fletſchten 
ſie an. Feindliche und ſchreckliche Geſichter ſtarrten auf ſie. Fratzen grinſten. Mancher 
Myſte mag hier an die alte Sage von Zerberus, dem Hüter des Höllentores, gedacht 
und fie nun ganz anders verſtanden haben. Da erhob der Prieſter die Hand und wies 
auf die andere Seite des Saales. „Geht dahin!“ befahl er. Die Myſten mußten auf- 
ſtehen und hatten durch den Raum zu gehen, aber der ganze Geiſterſchwall umringte 
die Erſchreckten, drang auf fie ein, verſperrte ihnen den Weg. Viele machten mehrere; 
mal vergeblich den Verſuch, denn unſichtbare Gewalten ſtellten ſich ihnen entgegen. 
Geiſterhände hielten fie feſt, zogen fie zurück. Za es kam vor, daß der eine oder andere 
auf den Fußboden hingeworfen wurde. Mutige Myſten hatten zuweilen mehreremal 
den Verſuch zu machen, den Saal zu durchqueren, ehe es ihnen gelang. Furchtſame 
zogen es vor, umzukehren und durch das Labyrinth den Ausgang zu ſuchen; ſie 
waren aber dann für immer des Rechtes verluſtig, die Weihe zu empfangen. Wer 
aber feine Hoffnung auf die Götter ſetzte und mutig vorwärts ſchritt, der kam durch, 
und der ganze tolle Spuk konnte ihm nichts anhaben. 
Die Myſten wurden durch dunkle Gänge weitergeführt, aber der Höhepunkt der 
Schrecken war überſtanden. Der heilige Herold teilte den Myſten mit, fie kämen jetzt 


Artull: Ole Fleufinkchen Myſterlen 109 


ins Plutonion, in die Behauſung des Beherrſchers der Unterwelt. Sie würden nun 
den dritten Teil des heiligen Dramas ſchauen. Unterm rhythmiſchen Geſang unfidt- 
barer Geiſterchöre betraten die Myſten die Grotte. Der Raum wurde durch einige 
Lampen erhellt. Die Decke wurde von einem aus Kupfer getriebenen Baume, dem 
Baume der Träume, getragen, deſſen glänzendes Laub den ganzen Raum über- 
dachte. Aus den Zweigen ſtarrten Fratzen und Fledermäuſe auf die Myſten herab. 
Auf einem prachtvollen Boppelthrone ſaßen Pluto und Perſephone. Die Myſten 
erkannten ſie wieder, doch ihr Antlitz war verändert; ein ſchwarzer Schleier bedeckte 
fie und tiefer Schmerz lag auf ihren Zügen. 

Der Hierokeryx trat wiederum vor und erklärte den Myſten, fie hätten im Schickſal 
Perſephones die Geſchichte ihrer eigenen Seele zu erblicken. So wie Perſephone 
unter der Herrſchaft Plutos leide und ſich nach ihrer Mutter und ihrer lichten 
Heimat febne, fo leide auch ihre Seele unter der Macht der Finſternis und Sinnlich 
keit und ſehne ſich ununterbrochen nach dem Lichte ihrer himmliſchen Heimat, die 
ſie verlaſſen. Die aus dem Laube des Baumes der Träume ſie anſtarrenden Fratzen, 
die in Wirklichkeit ihnen nicht ſchadeten, ſeien Bilder der Schmerzen und Leiden, 
die die Menſchen während des irdiſchen Dafeins, das ja nur ein Schlaf fei, zu er- 
dulden hatten. Der Hierokeryx ſchwieg. 

Perſephone aber gab ihrem Schmerze und ihrer Sehnſucht erſchütternden Aus- 
druck. Die Augen voller Tränen, hob ſie die Arme im Schmerze empor und wollte 
ſich erheben. Aber auf einen Blick und gebietenden Zuruf ihres Gatten fiel ſie wieder 
auf ihren Sitz zurück und mußte aus dunkler Schale den Saft eines Granatapfels 
trinken, den Pluto ihr reichte. Der heilige Herold erklärte darauf den Myſten, dies 
ſtelle die Macht der Sinne über die Seele dar und ihre vergeblichen Verſuche, ſich 
zu befreien. 

Den Myſten wurden darauf Narziſſenkränze in die Hand gegeben, und ſie erhielten 
die Weiſung, der Göttin dieſes Blumenopfer darzubringen. 

In dieſem Augenblick ſprang ein großes Doppeltor auf, und ſtrahlendes Licht er- 
hellte den Raum. Der Ruf erſchallte: „Herbei, ihr Myſten, herbei! Dionys Jakchos 
iſt da! Demeter erwartet Perſephone! Evohe!“ 

In den Gängen ſchallte der Ruf wider, und die Wölbungen der Halle wiederholten 
ihn. Perſephone fährt in die Höhe, als ob ſie nach langem Leide erwache. „Licht,“ 
ſchreit fie, „meine Mutter! Dionys Jakchos!“ Sie will forteilen, aber Pluto erfaßt 
fie und zwingt fie auf ihren Sitz zurück. Da fällt fie hin und ſtirbt. 

Es verlöicht alles Licht, und in tiefſter Dunkelheit ſpricht eine Stimme: „Sterben 
iſt wiedergeboren werden.“ 

Die Myften wurden von den Myſtagogen hinausgeführt. Sie haben nun die 
Schrecken der Unterwelt hinter ſich. Sie werden oben vom Daduchos und vom Hiero- 
teryx empfangen. Es wird ihnen befohlen, das Rehfell abzulegen. Sie baden ſich in 
geweihtem Waſſer und erhalten weiße Gewänder. Sie werden in den gewaltigen 
Tempel geführt, der im Lichte einiger tauſend Fackeln ſtrahlt, und werden von dem 
in Purpur gekleideten Hierophanten, dem Hohenprieſter, empfangen. Aus alten 
ſteinernen Tafeln lieſt er den Myſten Dinge vor, die ſie bei Todesſtrafe nicht verraten 
dürfen. Dann bringen Tempeldiener den Myſten ihre Ciſtuſſe. 


110 Urtull: Oie Eeuſiniſchen Myſterien 


Der Hierophant zerbricht die Siegel und öffnet die Körbe. Die Myſten haben die 
Gegenſtände, die ſich darin befinden, herauszunehmen. Es waren ein Ei, eine 
Zirbelnuß und eine Spiralſchlange aus Kupfer. Der Hierophant erklärt ihnen den 
ſymboliſchen Sinn dieſer Gegenſtände. Das Ei fei nicht nur ein Symbol der Auf- 
erſtehung, es zeige auch den Menſchen, daß es zwei Leben nacheinander gebe. Erſt 
ein Leben, begrenzt und gleichſam im Dunkel, in Unwiſſenheit, in der Schale, dann 
nach dem Zerbrechen der Hülle ein anderes Leben, im Licht, mit viel größerer Be- 
wegungsfreiheit und mit einem viel weiteren Horizont. — Die Zirbelnuß ſei nicht 
nur ein Symbol der Fruchtbarkeit, ſie ſoll auch die Myſten daran erinnern, daß ſie 
im Kopfe eine Drüſe haben (die fog. Zirbeldrüſe, glandula pinealis), das verküm- 
merte Organ, mit dem die Menſchen früher ins Geiſterland haben ſchauen können, 
der Reft des dritten Auges der Zyklopen. Dieſes Organ könne wieder belebt, ent- 
wickelt und benutzt werden, um Verbindung mit Perſonen zu pflegen, die räumlich 
weit voneinander entfernt find. Der Hierophant gab den Myſten die Meditations- 
übungen an, die zur Entwicklung dieſer Fähigkeit führen. Zuletzt erklärt er ihnen den 
Sinn der Spiralſchlange. So, wie eine Schlange, die ſich in den Schwanz beißt, die 
Ewigkeit bedeute, fo fei eine Schlange, die ſich ſpiralförmig emporwinde, ein Sym- 
bol für die Evolution der Geiſter, die ſich allmählich zu immer größerer Vollkommen⸗ 
heit hinauf entwickeln. Abwechſelnd durch Geburt und Tod, durch ſichtbare und un- 
ſichtbare Welten, ſteigend und ſinkend, ſchreiten ſie empor zur Urquelle des Seins. 

Während dieſer Rede hatten helle, lichtvolle Wolken den hohen Raum allmählich 
erfüllt. Sie zerteilen ſich, und vor den entzüdten Augen der Myſten zeigten ſich die 
Gefilde der Seligen: ſonnenbeſtrahlte, blumengeſchmückte Auen. Die Eumolpiden 
waren auch Melſter in der Kunſt des Malens. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß in dieſer 
heiligen Stunde bei vielen Epoptai wirklich hellſeheriſche Fähigkeiten, bei manchen 
vielleicht nur vorübergehend, geweckt wurden. Plato iſt ein Zeuge für die wunder- 
bare Stärkung oder Belebung des Gedächtniſſes bei den Eingeweihten. Die Erinne- 
rung an vormals, d. h. in früheren Leben, geſchaute und erkannte Dinge, ſagte er, 
würde wiedererweckt. Etwas Ahnliches lehrte auch Sokrates, der ja ſelber, um frei- 
mütig reden zu können, ſich nicht hatte in Eleuſis einweihen laſſen. Er ſagte, all unſer 
Lernen fei weiter nichts als ein Sich- wieder- erinnern. Und nun begann der vierte 
und letzte Akt des heiligen Dramas. 

Unter Zubelgefängen unſichtbarer Chöre wird die durch ihren Tod aus der Macht 
Plutos befreite Perſephone von Demeter und Dionys zu ihrem Vater Zeus zurüd- 
geleitet. Trunken von Glück, unter freudigen Zurufen der Zuſchauer, betritt fie die 
heimatlichen himmliſchen Gefilde. Der Hierokeryx erklärt den Myſten, die Menſchen⸗ 
ſeele werde vom Geiſte Gottes und von der Weltenſeele, der Mutter Natur, in die 
himmliſche Heimat zum Vater zurückgeführt. Aber Pluto will feine Rechte auf Perje- 
phone nicht aufgeben. Er verlangt fie zurück. Dionys und Demeter weigern ſich, ihm 
Perſephone auszuliefern. Der Streit wird zur Entſcheidung Zeus vorgelegt. Der 
Hierophant empfängt als Zeus auf erhabenem Throne in majeſtätiſcher Ruhe die 
Streitenden. Nach Anhören beider Parteien fällt er den Richterſpruch: Perſephone 
ſolle zwei Drittel des Jahres oben im Himmel bei Dionys weilen, ein Drittel aber 
unten im Hades bei Pluto, bis fie völlig erlöft ſei, bis die Macht der Finſternis und 


Tf: Cobesahmung 111 


kinnlichkeit keinen Widerhall in ihr mehr finden und nichts Anziehendes, Ver- 
endes für ihr Herz mehr haben würde, — ein Bild der Wanderungen der Seele 
dom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel. 

ein Hymnus zu Ehren des Zeus, der Demeter, des Dionys und der Perſephone 
murde darauf geſungen. Mancher Eingeweihte hatte in dieſer Stunde Difionen von 
keliden, lichtvollen Geſtalten, die ſich unter die Feſtteilnehmer mengten. Nach 
Sendigung des Liedes ſprach der Hierophant den höchſten Segen über die Myſten 
as: „Mögen deine Wünſche erfüllt werden, kehre zurück zur Seele der Welt.“ — 
get heilige Ritus war vollendet, und die Myſten find Epoptai, Seher geworden. 

Am ſiebten und achten Tage fanden in Eleuſis Spiele und Wettkämpfe zu 
Siren der beiden großen Söttinnen ſtatt. 

Am neunten Tage fanden die Myſterien ihren Abſchluß durch eine eigenartige 
mbolifche Zeremonie. Zwei große, mit Waſſer gefüllte Gefäße wurden im Often 
m Weſten des Tempels aufgeſtellt. Nach einem Hymnus zu Ehren der Göttinnen 
ruden fie unter dem Ausſprechen gewiſſer Formeln und Gebete umgeſtüͤrzt, fo 
ich ich das Waſſer gen Morgen und gen Abend ergoß, wohl den Segen darſtellend, 
ler don Eleuſis ausging. 

Gn früher nie gekanntes Glück aber und ein uͤbermenſchlicher Friede ſoll die 
deren der Geweihten dann erfüllt haben: Die Schrecken des Todes waren über- 
mmden, die Rätjel des Lebens gelöſt. Eine hehre, lichte Freude vereinigte und be 
feligte alle. Sie hatten den Oelphiſchen Befehl, erkenne dich ſelbſt, erfüllt, fie hatten 
ihr Doppelwefen erkannt, fie wußten, daß ihres Geiſtes eine lichtvolle Zukunft 
harrte, während der Körper dem Zerfall entgegenging. Shr Geiſt freute ſich daher auf 
die Stunde ſeiner Befreiung vom Körper. Sie knechteten dieſen, ſie hatten ungern 
Ierbindung mit ihm. Dieſe Erkenntnis und dieſe Stellung blieben nicht ohne Ein- 
fluß auf ihre Sittlichkeit, ſie veredelten ihre Ethik. Im nächſten Frühling aber konnte 
der Eingeweihte mit ganz anderem Verſtändnis den ſchönen alten Brauch der Grie- 
chen, Blumen auf die Gräber ihrer Toten zu pflanzen, begehen, denn ſolches hatte 
für ihn nun einen tiefen Sinn. Er wußte, daß fo wie die Blumen aus dem dunklen 
Schoß der Erde durch die Kraft des Lebens zum Lichte emporſprießen würden, alſo 
ſeien auch feine Toten aus der Unwiffenheit, Enge und Finſternis dieſes Lebens in 
ein höheres Daſein eingegangen, in lichtdurchflutete Räume. 


Todesahnung 
Von Traugott Pilf 


32 zwei, fagt an, was tut ihr da?“ 

len, wir graben hier ein Grab.“ 
tut ihr, wenw’s zu End geſchah, 

Wen ſenkt ihr dann ſo Sef hinab?“ 

Der eine ſieht mich an, der mich 

Um Haupteslänge überragt. 

Er ſpricht, gräbt weiter emſiglich: 

„Du Tor, doch immer den, der fragt!“ 


112 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens 
: (Fortfetzung) 
1643 
1. 

as Sdhiigenbild haben fie mir ganz verleidet. Etliche von der Kompagnie woll⸗ 

ten ſogar dafür entſchädigt werden, daß fie nicht in vollem Sonnenlicht gemalt 
wurden. Als ob ſie ſich nicht alle der Kunſt zu unterwerfen hätten, und nicht die 
Kunſt ſich ihnen, den querköpfigen Spießern. Doch je ungehaltener die Leute über 
mich ſind, um ſo ſtolzer kann ich ſein. Es iſt ein Zeichen, wie ich immer weiter vom 
Pöbelgeſchmack fortkomme. Und wie tückiſch fie find! Jan Lievens, mein alter treuer 
Jugendkumpan, wäre raſend geworden. Wie hätte er auf die Fiſchbäuche geflucht, 
wie er die Geſchäftskrämer und Heringspacker hierzulande zu nennen beliebte! 
Der gute Jan! Ob er jetzt in Antwerpen glücklicher iſt? Der ruheloſe Gefelle! Ich 
glaube, am liebſten wäre er doch nach Italien gewandert in feinen fröhlichen Jung- 
meiſtertagen, obſchon er es immer mit einem infernaliſchen Ingrimm beſtritt. 

Ich feb’ ihn noch vor mir mit Neeltje und Doortje im Arm, feine Leidener Pflege- 
kinder, wie er ſie nannte. Er hatte den Auftrag erhalten, an den Hof Karls des Erſten, 
des guten Königs von England, zu kommen. Da ſtand er im ganzen Stolz ſeines 
jungen Ruhms, den Galanteriedegen umgehängt, mit dem er ſich gern ſehen ließ, 
und ſchimpfte über einen alten Mann, der ſich weigerte, von ihm gemalt zu werden. 
Als ob es nicht für ſie alle eine Ehre wäre, von ihm gemalt zu werden, ſchrie er 
wütend. Titian malte im Zenit ſeines Ruhmes nur Könige und Kaiſer. Lebten 
fie nicht im Freiſtaat der Oranier, alle Großen der Welt kämen nach Leiden 
O Jan, du wirkteſt immer unfagbar ernſt und feierlich! 

— War das wieder eine Nacht, eine rufende Nacht! Warum quälſt du mich ſo, 
mein Gott, warum vernehme ich jetzt immer in der Stille der Nächte deine dunkel- 
taunende Stimme? Soll ich dies reiche vornehme Leben von mir werfen wie einen 
Brokatmantel und in die Einſamkeit gehn, um dich zu ſuchen? Ich ſuche dich doch 
immer, Tag für Tag, um das Licht deiner ſonnenhaften Augen zu erhaſchen, will 
ich doch dich und deinen eingeborenen Sohn, will ich doch alles Göttliche im Alltag 
malen, in meinem nordiſchen proteſtantiſchen Alltag, im Helldunkel der winter 
lichen Tage. — 

2. 

Wer iſt Jan Six? Rembrandt fragt immer wieder nach Jan Six, ob er ſchon 
gekommen ſei, um ihn abzuholen. Sie haben ſich verabredet, um von nun an oft 
die Umgebung der Stadt zu durchſchweifen. Wer iſt Jan Six? Dod nicht der be- 
kannte Dichter dieſes Namens? Vielleicht der Sohn der Anna Wymer Six, die 
der Meiſter gemalt? Hoogſtraaten, der Lehrling, Samuel van Hoogftraaten aus 
Dordrecht weiß es nicht; und er weiß doch ſonſt alles, was im Hauſe vor ſich geht. 
Fabritius geht herum mit wuͤtendem Geſicht und flucht, als er gefragt wird; de Ko⸗ 
ninck grinſt. 

Endlich pocht einer mit dem Türklopfer an die ſchwere eichene Haustür, jo daß 


Otto Quante 


November 


5 


Martens: Oer Dämon des Lichts 113 


Geertje Claes, Titus Amme, die Frau des an der Südgrenze des Landes ftatio- 
nierten Trompeters, deren Milchfülle zwei Säuglingen genügte, faſt vor Schreck 
auf den Fließen der Küche ausgeglitten wäre, in der ſie als Haushälterin nach dem 
Rechten ſehen wollte. Die junge flinke Magd rennt die Kellerſtufen empor, um dem 
ungeduldigen Klopfer zu öffnen. Es iſt Jan Six, der Tuchfärber, ein friſcher rot- 
bäckiger junger Herr in der Mitte der Zwanziger, der den Meiſter zum Wandern 
abholt. 

Oer ſteht wie immer emſig vor der Staffelei und hält Zwieſprache mit ſeinem 
Sh. Er malt Saskia — die tote Saskia? Nicht doch, die Lebendige, Hübſche will 
er malen, die ewige Geliebte ſeiner Seele, die er nicht vergeſſen kann, die ihn ruft 
in den Nächten, wenn er vor Verlangen nach ihr ſich im breiten Himmelbett bäumt 
und ins Leere greift, immer ins Leere. 

Meiſter, du vollbringſt gewiß Erſtaunliches, wenn du den Mut aufbringſt, die 
hundertmal Geſtaltete wieder zu malen, als ſtände ſie noch vor dir in ihrer glücklichen 
Schönheit, vollbuſig, zärtliche Falten unterm Kinn, die goldbraunen Augeu von 
der Laſt des Glides nicht völlig geöffnet, eine rote Blume in der Hand, die Linke 
auf der liebeatmenden Bruſt. So malteſt du ſie, als ſie noch lebte und die vierte 
goffnung eines Erben unter dem Herzen trug. 

Meiſter, dein Unterfangen iſt über die Maßen kühn: eine Tote ins Leben zurück- 
zurufen, als bedecke noch nicht der Brautſchleier ihre eingeſunkenen erloſchenen 
Augen im kühlen Bette der Erde. 

Laß ab von dieſem tollkühnen Wagnis! Nicht wieder wirſt du die Lebendige auf 
das geduldige Holz malen können, denn die Toten find nicht mehr von dieſem Reich, 
und keiner hat ſie geſtalten können. 

Verwirrt, unſchlüͤſſig ſtehſt du vor dem ſeltſamen Konterfei, das du mit fo viel 
Liebe malſt, das wohl die Züge der Erinnerung trägt; aber etwas Starres, Lei- 
dendes haft du hinzutun miiffen, weil Saskias ſterbendes Antlitz dir das Bild der 
Lebendigen trübt. Zu dieſer Erkenntnis wirſt du eines Tages kommen und du wirſt 
fühlen, daß du nur ein Menſch biſt, ein ſchwacher gebrechlicher Menſch. 


3. 

Rembrandt und Jan Six wandern die Amſtel hinauf, auf dem linken Ufer auf 
der alten Oeichſtraße. Es iſt düſiges Wetter; zuweilen bricht eine rötliche Sonne durch 
den Nebel. Dann blitzen die Bũſche und Sträucher von Tau. Nicht lange mehr dauert 
es, jo öffnen ſich allüberall im Lande die Blätterknoſpen. Es iſt ein Wetter, um in 
die Welt hinauszuträumen, während der Nebel von den Bäumen tropft. 

Was mag dieſe beiden ſo völlig verſchiedenen Männer ſo feſt verbinden? Immer 
ſtreifen fie zuſammen durch das unwegſame Land. Jan Six iſt kein Mann, an dem 
ein Mädchen traumlos vorübergeht. Seine ſchöne ſchlanke Geſtalt, fein freimütiges 
offenes Weſen, ſein geiſtvolles Geſicht und ſein Reichtum machen ihn zu einem der 
angeſehenſten jungen Republikaner feiner Zeit. Schon mit jungen Jahren ent- 
wickelt er einen ungewöhnlich ſtarken Sinn für die geheime Macht der Farbe. Seine 
Vorliebe für farbenprächtige Dinge iſt ſo ſtark, daß es ſeiner Mutter rätlich erſcheint, 


ihn davon abzuhalten, Rembrandts Bilder Stück für Stüd zu ſammeln. == hätte 
Der Türmer XXVIII, 2 


114 Martens: Der Dämon des Lichts 


ſich nicht unnötig zu beunruhigen brauchen: ihr Sohn iſt ein nüchterner Kaufmann 
und Fabrikant; er bringt die Tuchfärberei des Vaters zu einem außerordentlich hohen 
Stand. Nirgendwo anders wird Tuchware von einer ſolchen Farbenſattheit her- 
geftellt. Er hätte niemals ſeine Mittel überfchritten. Sein Weſen iſt glücklich begrenzt: 
kein chaotiſcher Drang bewegt ſeine Seele. 

War Rembrandt nicht der beſte Kenner roter und gelber Töne, der je auf hol- 
ländiſcher Erde gewandelt? Doch das allein iſt es nicht. Die beiden Männer wur- 
den ſich in kurzer Zeit unentbehrlich, und beide wuchſen förmlich aus ſich heraus: 
Rembrandt aus feiner angeborenen Schwermütigkeit, Jan Six aus feiner Jungen 
haftigkeit, die ihm immer noch zum Verdruß der Mutter anhaftete. 

Sie durchwandern die weite Umgebung der Stadt bis an das Neue Meer, bis 
nach Ouderkerk, ſelbſt bis nach Haarlem. Der gemiitstrante Meiſter ſehnt ſich nach 
einem Menſchen, den er in ſein Herz ſchließen kann, und da die Heiterkeit des jüngeren 
Mannes von der erquidenden Art iſt, die nur jungen unverdorbenen Seelen eigen, 
wird ihnen das Freundſchaftsbündnis zu einem unverſiegbaren Born der freien 
Ausſprache. Der Geiſt des Tuchfärbers iſt ein ſcharfes blitzendes Schwert, das den 
Nebel der Bedrüdung durchſchneidet und die Feſſeln der Schwermut ſprengt. Sein 
neuer Freund iſt dem Meiſter ein Erlöſer. 

Nun bricht eine neue Schaffenszeit an, die der Kunſt des Stiftes und des Stichels 
in erhöhtem Maße gilt. Das Geheimnis, das auf der ſchwermütigen Landſchaft 
der Waterkant liegt, wird entſiegelt. Die herzliche Schlichtheit im Verkehr der bei- 
den Männer geht auch auf Rembrandts Zeichnungen und Radierungen über. Ein 
unendlich feiner Hauch belebter Stille ruht auf den Weitſichten, die feine ſchlichte un 
fehlbare Meiſterhand erſchafft, und die ſein wahres Weſen anſchaulich zum Aus- 
druck bringen. 

1644 
1 

Was wußte ich Tor von den Wonnen der einſamen rufenden Nacht! Quälerei 
war ſie dem Kinde, mich ſchreckten die Stimmen im Dunkeln. Als ich zum Jüngling 
heranwuchs, verletzte ſie meine Scham wie ein nacktes üppiges Weib, das mich zu 
entflammen getrachtet. Da ſuchte ich Schutz bei den Spielen und Tänzen der Ju- 
gend; umſonſt, nicht lange ward ich gefeſſelt, bis ſich ein Mädchen mir ſchenkte. 
Da fand in den dunkeln Stunden ich Ruhe vor ihr, der Nacht, die meine Seele be- 
gehrte, meine kindiſch ſich wehrende Seele. 

Als ich ein Meiſter geworden im Malen des menſchlichen Herzens, da rang ich 
die Nächte zu malen, die einſamen rufenden Nächte, ihr Weſen, die Züge und 
Stimmen zu bilden im tröſtenden Bild, auf daß fie nicht länger mich quälten, doch 
konnt' ich nicht faſſen ihr Weſen. 

Nun hat ſich mir alles geändert, feit einſam mein nächtliches Lager: Troſtſpen- 
derin, Freundin ward ſie, die einſt gefürchtete Stille. In den Nächten geht mir ihr 
Atem, ich fühle die ſingenden Schläge des dunkel tönenden Herzens. Nicht einſam 
mehr läßt mich die Nacht, feit mir die Sanfte im Arm ruht. Wie lauſch' ich begebr- 
lich dem Flüſtern in wilden, laubrauſchenden Nächten, wenn ſtürmiſch die Wellen 
im Strom am ſteinernen Ufer ſich brechen. 


Martens: Der Dämon des Lichte 115 


Ich lernte die Einſamkeit malen im Antlitz der Inſichgekehrten, die Gott ſchon 
auf Erden ſich nähern. Zur Freundin ward mir die Stille, den Trauerſchleier im 
Antlitz. Nun hat ſie ans Herz mich gepreßt, mich einſamen Träumer der Nacht. 


2 

Der Meifter kann nicht ſchlafen. Aus dem Halbdunkel des Zimmers ſieht er 
zwei Augen vorwurfsvoll auf ſich gerichtet, die ihm den Schlaf rauben, blaue, 
tiefblaue Augen. Der Mann, deſſen Erſcheinung ihn bedrückt, iſt von großer Statur 
und hat blondes wallendes Haar. Er ſieht einem der Vatavier ähnlich, wie der 
Volksmund ſie von alters her ſchildert. Solche hohen majeſtätiſchen Geſtalten trifft 
der Wanderer noch zuweilen an der frieſiſchen Küſte an. Es iſt der Trompeter 
Abraham Claeß, deſſen Frau Geertje nach Saskias Tode Amme des Titus war. 
Sie lebt noch immer im Hauſe Rembrandts, ſie iſt von üppiger Geſtalt und eine 
jener nicht ſeltenen Frauen, die ohne ſchön zu ſein durch irgend einen geheimen 
Reiz den Männern die Luft zum Weibe wachruft. War es ein beſtimmtes Wiegen 
im Gang, die Haltung der Bruſt? Jedenfalls, es war kein Geheimnis mehr, daß 
der ſtarkſinnliche Meiſter Gefallen an ihr fand und ihrem dunkeln Locken ſich ge- 
fangengab. | 

Ex kennt den Trompeter: ein ruhiger ſelbſtſicherer Mann. Gut und ehrlich find 
ſeine Augen; oft können ſie ſogar ſich ehrerbietig ſenken. Würde dieſer gerade 
ehrenfeſte Mann ihm verzeihen, wenn er wüßte, wie ſchwer der Meiſter ſich an feinem 
Weibe vergangen? Die Nacht iſt ganz ohne Bewegung, beängſtigend ſtill. Immer 
ſieht er ſich im Bann der blauen, tiefblauen Augen. 

Der Meiſter kann nicht ſchlafen; ihn quält der Entwurf zu einem Bilde, das er 
ſchon lange zu malen ſich unterfangen. Seit einem Jahre trägt er ſich mit dieſer 
Schöpfung; viele Zeichnungen wurden entworfen und wieder verworfen. Er kam 
nicht weiter. Jetzt hat ihn wieder der Drang zum Schaffen gepackt; den muß er 
ausnutzen. Chriſtus und die Ehebrecherin: „Wer unter euch ohne Sünde ijt, der 
werfe den erſten Stein auf ſie.“ Dieſe furchtbare Anklage gegen alle Kritiker und 
Richter will er geſtalten, dieſe ſtumme Aufforderung an alle Hochmütigen und 
blinden Fanatiker, ſich doch erſt an die eigene ſündige Bruſt zu ſchlagen, ehe ſie 
über einen Menſchen zu Gericht ſitzen. Nicht wie in früheren Bildern bibliſcher Stoffe, 
die er grotesk, in der ganzen Herbheit feines energiſchen Pinfels, in einer Auf- 
faſſung feſthielt, die vor Wahrheit, vor Lebendigkeit ſchrie, und deren Art ſeine 
früheren Schüler Eekhout und Flink, auch der ganz von ihm beeinflußte Salomon 
Koninck mit einer Schamloſigkeit nachahmten, die ihresgleichen ſuchte, nicht in 
dieſer Art wollte er dieſen Stoff behandeln. Hier ſollte ein Werk heranreifen, wie 
die Welt noch keines von ihm kannte, von einer unerhörten Malart, die den Kirchen- 
bildern der van Eyck an Feinheit des Strichs, an Zartheit der Farben und an Ge- 
nauigkeit der Wiedergabe gleichkam. Nicht ein einziger ſeiner Nachahmer würde 
ſich an die Kunſt dieſes Bildes heranwagen. 

Er ſtand auf, hüllte ſich in feinen Mantel und ſchlich hinauf in die große Mal- 
kammer, wo er mehrere Leuchter in Brand ſetzte. Dann ließ er ſich vor feiner großen 
Staffelei nieder, auf der das nur bis zur Untermalung gediehene Bild ſtand. Da- 


116 Martens: Der Odmon des Lichte 


neben hatte er die Zeichnung geſtellt, welche die Anordnung der einzelnen Gruppen 
Andächtiger im Tempel bis auf die große Mittelgruppe enthielt, die ihm immer noch 
nicht gelingen wollte. Mit ſorgſam abwägenden Blicken prüfte er den gewaltigen 
verhaltenen Eindruck, den die Kompoſition auf den Zuſchauer ausüben ſollte. Er 
konnte mit ihm zufrieden ſein. Nun galt es ein viel Größeres: in der koloriſtiſchen 
Wirkung dieſen Eindruck bis zur Erſchütterung zu vertiefen. Niemand durfte an 
dieſem Bilde vorbeigehen, ohne ſich ſelber zu kaſteien. Das Gemurmel des zur An- 
dacht verſammelten Volkes follte vernehmbar fein und ein Echo finden in dem un- 
endlich hohen weiten Tempelbau. Langſam ſchreitet der Heiland durch die Menge, 
die ehrerbietig vor ihm ausweicht, als wäre er einer der Hohenprieſter. Niemand 
wagt es, ſich Jeſu von Nazareth in den Weg zu ſtellen, von dem das zauberhafte 
Licht des Myſteriums ausgeht. 

Jede Geſtalt, auch die nebenſächlichſte im Hintergrund, ſoll deutlich aus dem Däm- 
mer des Tempels hervortreten. Mit dem feinſten Haarpinſel will er all dieſe mannig- 
faltigen Figuren in ſchlichter ergreifender Stellung malen, ſchlicht wie fein Väter 
glaube, ergreifend wie die Bibel ſelbſt. Nie hat er ſo viel über ein Werk nachgegrübelt, 
niemals ſchien er der himmliſchen Wahrheit der Dinge ſo nahe gekommen zu ſein. 
Ein Hauch vergangener Gefühlswelten ſollte hier wieder Leben gewinnen und ſich 
mit der ſeinigen zu einer Tiefe des Ausdrucks verbinden, die ſein ganzes Schaffen 
krönen mußte. 

Lange ſtarrte er hinüber zu der Zeichnung, der die Geſtalten des Heilands und 
der vor ihm hingeſunkenen Frau immer noch fehlen. Bis in jede kleinſte Einzelheit 
hatte er ſich die Mittelgruppe ausgedacht: Petrus, in gebüdter Stellung des an- 
dachtig Lauſchenden; dann die Ehebrecherin, demütig, ergeben in ihr Schickſal, 
harrend des Wunders; und die Phariſäer und Schriftgelehrten. Wie viele Studien 
hatte er gemacht, keine Mühe fic) verdrießen laſſen. Nur der Heiland wollte ſich feiner 
Einbildungskraft nicht geben. Und ehe dies nicht geſchehen war, konnte er nicht mit 
dem Malen beginnen. Auch hielt ihn eine unbeſtimmte Angſt davor zurück, den 
Zeichenſtift an dieſe Geſtalt zu ſetzen, bevor er ſie nicht innerlich erlebt hatte. 

Einſt hatte er Chriſtus malen wollen in dem Augenblick, da die Jünger ihn beim 
Mahl in Emmaus erkennen. Er entſann ſich noch genau der vielen ſinnenden Stun- 
den dieſer unvergeßlichen Tage, an denen er zum erſtenmal mit der Geſtalt des 
Heilands ringen mußte. Plötzlich war ihm die Eingebung ſtark und überwältigend 
gekommen: Der dunkle Kopf des Gekreuzigten gegen den ſtark leuchtenden Hinter- 
grund, ewige Majeſtät des Auferſtandenen in der Haltung des geiſtſprühenden 
Hauptes; der eine der Jünger wirft ſich vor der Erſcheinung zu Boden, dem an- 
deren, der noch am Tiſche fist, ſcheint der letzte Biſſen im Halſe fteden geblieben 
zu fein. In wenigen Stunden war das Bild fertig entworfen worden. 

Damals war es ihm geweſen, als hätte er die Eingebung des Bildes wie eine 
Erſcheinung erlebt, und lange wollte der Glaube nicht von ihm weichen, daß ihm 
Sefus leibhaftig erſchienen war. — 

Die Nacht ſchwebt durch das hohe getäfelte Zimmer. Eine große Stille herrſcht 
im Hauſe, nur von dem Schlagen der Stunden unterbrochen. Er ſitzt immer noch 
vor der Staffelei, den Kopf in die Hände geſtützt, ſinnend, grübelnd, auf etwas 


ame 


Martens: Der Dämon des Lichte 117 


wartend, das nicht kam, das ſeit einem Jahr nicht kommen wollte. Wie oft wartet 
einer ein ganzes langes Leben auf einen einzigen Augenblick! Warum ſollte er nicht 
warten, bis der Wind nicht mehr im Kamine heulte, die Uhren nicht mehr ſchlugen, 
bie große, große Stille der Ewigkeit hereinbrach in ſein Leben? 

Traͤumt er, ijt es ein Traum, der ihn umfängt? 

Per biſt du, großer blonder Mann mit dem wallenden Haupthaar, der vor mir 
ſteht, die Linke auf die Bruſt gelegt, die Augen blau, tiefblau? — Nein, ſchau mich 
nicht an! Ich halte den Blick nicht aus und konnte doch ſonſt jedem Menſchen in 
die Augen ſehen — du bückſt dich und ſchreibſt mit der rechten Hand auf den Boden 
— du büͤckſt dich? Dod nicht vor mir, der ich nicht frei von Sünde bin? Verbergen 
muß ich den Kopf vor dir, meine Augen haft du mir verbrannt, mit dem Lodern 
deiner Blicke verſengt. Herr, ich glaube, ich bin ganz klein und blind geworden vor 
dir. Herr, Herr, laß mich den Staub küſſen, wo dein Fuß wandelt, Licht der Welt! — 


1645. 


Ihr Wieſen und Heideflächen, ihr verborgenen Moorgewäſſer und ver- 
ſumpften Waldſtrecken zwiſchen der Amſtel und dir, dem Neuen Meer, du 
breitefter Polderſee in der Tiefebene, mit deinen ſtarren Binſen und verkrüppelten 
Weiden, warum wölbt ſich der zerriſſene Wolkenhimmel ernſt und bang über eure 
herbſtliche Schönheit? Warum ſtößt der Sturm ſeine Fittiche Magend über die 
dergehende Pracht, den hinſchmelzenden Liebreiz eurer bleichenden Wangen? 
Brich hervor, Sonne, aus dem klaffenden Spalt drohend geballten Gewölkes! 
um einen einzigen breiten Lichtſchein bettelt die ſterbende Natur. Sie will nicht 
dahingehen, ohne noch einmal ſich geſchmuͤckt zu haben gleich einer älteren ſchönen 
Frau, die einmal, nur einmal ihren Liebhaber betören will, ſie in die Arme zu 
ſchließzen, bevor das bezaubernde Licht ihrer Augen für immer erliſcht, bevor das 
rauhe harte Alter fie am Gürtel zerrt, um fie in feine dunkle, wintertrübe Be⸗ 
hauſung zu ſchleppen, wo keine ſinnbetörenden Geigen zum Tanz aufſpielen. 

Du herrliches Stuck Erde, ſiehe, dein Geliebter kommt den Feldweg daher, der 
an der Amſtel hinter dem Gute Koſtverloren hinüberbiegt zu einer verhaltenen 
verſchwiegenen Traumſchönheit. Sonnenaugen hat dein Geliebter, was braucht er 
der Sonne, um deren unirdiſchen Wehmutzauber zu erfaſſen. Seinen großen Maler; 
hut wirft er nachläſſig ins Gras und beginnt fein Zeichengerät hervorzuholen. 
Seine Blicke fangen zu lodern an; wie ein König [haut er auf dich herab, als wäreft 
du ihm untertan. 

Fühlſt du, wie dieſer kleine breitſchultrige Mann Gewalt über dich hat? Du 
öffneft ihm demütig deine ſehnſuüͤchtigen Arme, öffneſt all deine geheimen Reize 
ſeinen farbentrunkenen Augen, bis er dich bezwungen hat, bis er dich zu ſeiner 
Geliebten gemacht, die er nicht mehr vergeſſen kann. 

Oer Sturm fährt über euch hinweg, und ein Zittern der Erregung geht über das 
weite einſame Land, das im fahlen Licht der Abendſonne ſein letztes Laub aus 
müden Händen auf die Erde ſtreut und in den weiten See hinauswirbelt, auf dem 
ein verlaſſenes Segelboot verträumt vor Anker liegt. 


118 Martens: Der Dämon des Lidts 


1646. 
1. 

— Nein, feit ich mit der Frau und der Schar kleiner Rotznaſen von Antwerpen 
fort bin, um mich hier anzuſiedeln, wollen mir Holland und ſeine Leute nicht mehr 
gefallen. Bin ich denn zu lange in der Fremde geweſen, wo es ſich leichter lebt, 
um mit euch fchwerblütigen Geſellen am Ende nicht mehr fertig werden zu tin- 
nen? Es will mir fo bedünken. Auch zwiſchen uns iſt etwas gekommen. — 

— Jan, du träumſt. Alles Einbildung von dir. — 

— Sch weiß nicht, Rem; ein Geſpenſt läuft jetzt immer hinter dir her mit langen 
Schritten durch die Räume deines koſtbaren Hauſes, aber nicht mehr dein alter 
San Lievens. Da ſtimmt irgend etwas nicht. — 

— Lievens, ſtoß dich nicht an meiner veränderten Art. — 

— Redſelig warſt du ja nie. Und von Draufgängertum keine Unze. Niemals 
hatteſt du einen unglüdfeligeren Einfall, als dich mit Saskia auf dem Schoße zu 
malen, das Sektglas in der Hand. Es war ſicher Leichenbitterwaſſer in dem Kelch. 
In Wahrheit haft du in deiner Brautzeit ſchmachtend Hand in Hand mit ihr ge- 
ſeſſen. Zum Küſſen hat es wohl gerade noch gelangt? — 

— Jan, nicht alle ſind ſolche Mädchenfreſſer wie du. — 

— Ad nein, aber auch alle nicht ſolche ſchwerbluütigen Grübler, die Himmel und 
Hölle durchforſcht haben. Weißt du, ich habe immer einen ungeheuren Refpelt vor 
dir gehabt, weil du uns alle zuſammen in die Taſche ſteckteſt und noch einige Kerle 
wie Rubens und Jordaens dazu. — 

— Wie du wieder übertreibſt. Mit knapper Not halte ich mich jetzt über Waſſer. 
Meine Bilder werden nicht mehr begriffen. Die Schützengilde noch am eheſten. 
Ein Dezennium lang war ich hier der Modeporträtiſt. Andere find in meine Fuß- 
tapfen getreten; meine erſten Schüler Eekhout, Flink, Dou haben mehr Anklang 
als ihr Meifter. Sie pflegen noch meine alte Art. Die wird immer noch mit klingen 
der Münze bezahlt. — 

— Rem, dir muß Saskias Tod verflucht nahe gegangen fein. Wenn ich all dieſe 
ganz erſtaunlich lebendigen Schilderungen aus dem Leben des Heilands betrachte, 
dann kommt mir das Heulen an über meine lebenstolle Art, die der deinigen gerade 
entgegengeſetzt iſt. Es könnte bei Gott mir eines Tages einfallen, fromm zu wer- 
den und Aufnahme in ein Trappiſtenkloſter zu erbetteln, wo kein Wörtlein, nicht 
einmal ein Fluch die Lippen paſſieren darf. Oder es könnte mir einfallen, dir vor 
lauter Ehrfurcht den Saum deines Kleides zu küſſen. — 

— Jan, nun genug von dieſem Wortgetaumel! — 

— Laß mich, Rem! Es muß heraus. Sonſt müßt' ich meinem Herzen auf eine 
andere Weiſe Luft machen, die ſich nicht ſchön ausnehmen würde vor dieſen Bil- 
dern, vor denen man nur flüſtern dürfte. — Ach, dies Kindchen hier in der Wiege. 
And dort dieſe einfältig gläubigen Bauerngeſichter. Und dieſer Mutterblick der Maria. 
— Rem, Rem, du biſt unheimlich gewachſen, in die Tiefe gewachſen. Menſch, mich 
packt ein Verlangen, dir mit Poſaunen in die Ohren zu blaſen, was ich fühle. — 

— Das laß lieber fein, Jan! Ou haft dich doch kein Lot verändert. Immer noch 
die alte wilde Begeiſterung. Trinkſt du noch immer ſo viel? — 


Martens: Der Dämon des Lichte 119 


— Trinken? Nie, Rem, niemals! Höchſtens am Sonntag und Feiertag ein 
Gläschen, wenn Frau und Kinder in der Kirche find. — 

— Aus der du dir wohl nicht viel machſt, alter Lüderjahn. Und die Weiber, 
der ewige Verdruß deiner Kameraden? — 

— Zunge, da triffſt du eine empfindliche Stelle in meinem Lotterherzen; eine 
nie heilende Wunde, eine Art Geſchwür. — 

— Laß gut ſein, Jan! Auf dieſem Gebiete haben wir uns nie verſtanden! — 


2. 

— Lievens, was ich unter Malen verſtehe? Einen göttlichen oder irdiſchen 
Traum auf ein armſeliges Stück Leinwand hinzaubern. Immer müßte es etwas 
Traumhaftes ſein, etwas Phantaſiebeſchwingtes, niemals ein Abklatſch der Natur. 
Und je lebendiger die Geſtalten der Viſion aus dem beängjtigend rohen Leben 
genommen ſind, aus dem Leben von Feld und Straße, aus den heimeligen und 
mbeimliden Behauſungen der Menſchen, mit um fo tieferer Wirkung ſteht das 
Bild vor uns und rührt an die verſtaubten Saiten in unſerem Herzen, die wir 
längft vergeſſen hatten. Und fie klingen wieder wie damals in den beſſeren Tagen 
des Frohſinns. 

Oft braucht es nicht viel, um dies Traumhafte in eine lebenswahre Darftellung 
hineinzutragen. Ein ſeltſam unirdiſch erſcheinender Lichtſchimmer, ein verzücktes 
Geſicht, eine zuckende Flamme in einem alten harten, faft erloſchenen Auge. Ein 
traumhaft zarter Wolkenſchatten in einer weiten Sommerlandſchaft, ein krauſes 
Windſpiel im durchſichtigen Dunſtſchleier. Oft braucht es nur eines tieferen Schat- 
tens, eines helleren Lichts, als die Natur fie zeigt, um ein Bild zu einem Kunſt- 
werk in meinem Auge zu erhöhen. 

Schönheit? Die häßlichſte Frau kann Schönheit ausſtrahlen. Bewegung? Ein 
heftig ſchlagendes Herz in einem leidenſchaftlich erregten oder durch eiſernen Willen 
beherrſchten Körper malen zu können. 

Was macht den Maler? Unfehlbare Beobachtungsgabe, ein vortreffliches Ge- 
daͤchtnis, Farbenſinn, Mut, ungeheuer großer Wagemut, und der ewige Zug nach 
den Sternen! — 

— Kannſt du mir, Rembrandt, erklären, warum ich ſelbſt die Dinge ganz anders 
auffaſſe, wie du es tuſt? — 

— Läßt ſich überhaupt das Weſen des Künſtlers erklären? Keine doctores kön- 
nen es. Alle Kunſtlehre iſt ein fruchtloſes Beginnen. So wenig wie Gott zu erklären 
it. Und wir find doch alle ein Stück von Gott. — 


3. | 
Als Lievens gegangen war, öffnete Rembrandt eines der oberen Fenſter und 
mußte lange in den grauen Himmel hinaufbliden. Das ernſte Kunſtgeſpräch hatte 
ihn warm gemacht und ihn mit einer tiefen Sehnſucht nach den Tagen erfüllt, da 
ſie noch jung waren und nächtelang über die Kunſt und ihre Zwecke ſtritten. Es 
gab oft bitterböſe Worte zwiſchen ihnen. So leidenſchaftlich faßten ſie alles in ihrer 
Jugend an. 


120 Martens: Der Dämon des Lichte 


Und als er fo in den Himmel hinaufblidte, der voll Sturm und Regen war, tam 
ihm der ſtürmiſche Tag in den Sinn, da fie ſich beide zu Fuß von Leiden nad 
Amſterdam aufgemacht hatten. Es war im Herbſt Einunddreißig. Lievens wollte 
mit dem Schiff nach London an den Hof Karls des Erſten, und er in Amſterdam 
ſich die erſten Lorbeeren feines jungen Ruhmes pflüden. 

Der Himmel ſtrotzte damals förmlich von Windwolken. In langen Reihen ſegelten 
fie oftwärts, lange Streifen von runden, dicht aneinandergeſchloſſenen, blendend 
weißen Wolken. Dazwiſchen blaſſes leuchtendes Spätherbſtblau. 

Wie genau er ſich deſſen noch entſann! Und wie hatten fie als blutjunge An- 
fänger kämpfen müſſen, wie hatten fie es ſauer gehabt! Zugeflogen kam ihnen 
nichts. Harte, unbarmherzig ſchwere Arbeit Tag und Nacht. Oft ſahen fie zuſam- 
men die Sonne aufgehen, wenn ſie mit ihren Beratungen nicht zu Ende kamen, 
ohne weiter darauf zu achten. Und wann kamen ſie je damit zu Ende? | 

Auf den Wäldern und Wieſen lag wehmütige Todesſtimmung. Das kümmerte 
ie nicht. In den Kanälen klatſchten die Wellen an die Ufer, wenn der Sturm ein- 
mal gewaltig ausgeholt hatte. Schwere brabantiſche Gäule zogen die immer zu 
ſchwer beladenen Kähne nach Often zu, von Haarlem nach Amſterdam; fie feuchten 
zum Gotterbarmen, doch die harte Peitſche der Knechte kannte keine Gnade. Die 
Schiffstaue ddgten und verbreiteten einen ſcharfen Teergeruch. Es war harte Ar- 
beit gegen den ſeitlichen Sturm. Das alles konnten ſie von der Landſtraße be- 
obachten, die eine Seitweile längs des Leidſchen Kanals bis an den J führte. 
Sie war von dem Regen der letzten Tage aufgeweicht und voll tiefer Radfurchen, 
die ſich an vielen Stellen zu Pfützen verbreitert hatten. Lievens ſcherte das nicht; 
feine langen Storchbeine wateten mit ganz beſonderem Vergnügen durch den 
tiefiten Oreck. Immer vornhinaus, ein freches Bänkelſängerlied im Munde und 
ein friſches Männerherz im langen Leib. Kamen Dorfmädchen daher auf ihren 
niedrigen, von Hunden gezogenen Karren, ſo kam er mit ihnen ins Geſpräch, kniff 
fie in die prallen roten Arme und flüfterte ihnen verliebte Dinge in die Ohren. 
Sie tanzten um ihn herum, ſtemmten die bloßen Arme übermütig in die Seiten 
und ſtoben auflachend auseinander, wenn er eine von ihnen zu haſchen verſuchte. 

Und kam dann eine Bs im Galopp daher, flogen die Röcke der drallen Kinder 
in die Luft und Lievens rief: 

— Raſch, ihr Jungfern, die Röcke fein zuͤchtiglich feſtgehalten. Welche leuchtenden 
Welten enthüllt der Sturm meinen ſchauluͤſternen Augen, wenn ihr fie unachtſam 


flattern läßt: 
Monde in kühlen Nächten 


gehn funkelnd durch die Welt! — 


So ſang er unbekümmert und ſein junges, noch bartloſes Malergeſicht glänzte vor 
Abermut, während er, Rembrandt, hinter ihm her keuchte, er, fein Schatten, fein 
kleiner, kurzbeiniger Dackelſchatten, wie Jan ihn nannte. Es waren noch herrliche 
Tage! | 

Fortſetzung folgt) 


121 


Vom Erleben des Todes 


Dem Andenken meiner gefallenen Freunde Herbert Tlich und Johannes Lorſchelder 
Von Egon⸗Erich Albrecht 


eulich kramte ich unter allerlei alten Papieren, um aufzuräumen und alles 
N irgendwie Entbehrliche und Unwefentlide endlich fortzuwerfen. Da hielt ich 
plötzlich ein halbzerfetztes Notizbuch in der Hand, die ſchwarzen Wachstuchdeckel faſt 
losgelöſt, die Ränder gelbſchmutzig angelaufen, lehmig: ein Feldnotizbuch aus dem 
Jahre 1917. Voll Neugier, mit der ſich eine gewiſſe Wehmut paart, blättere ich darin, 
finde Adreſſen längſt gefallener, längſt verſchollener Freunde oder ſolcher, die 
das zu ſein vorgaben, dann einen Liebesbrief, der ſeine Berechtigung lange ſchon 
verlor, ein paar flüchtig aufgezeichnete Feldgedichte, nicht beſſer und nicht ſchlechter, 
als fie alle damals waren... plötzlich fällt mein Blick auf ein paar beſonders liebe- 
voll mit Bleiſtift geſchriebene, aber inzwiſchen ſchon halb verwiſchte Worte und ich 
lefe: 

„Nur der, dem einft der Tod zum Weggeſell und Bruder ward, 

erfaßt dich ganz, du tiefes, ſüßes Glück der Gegenwart! 

Houthulſter Wald, Okt. 17.“ 

And dabei liegen einige verblichene trockene Grashälmchen. — 

Und alles ſteht wieder deutlich, als wäre es erſt geſtern geweſen, vor meinen 
Augen: Oktober 1917 in Flandern, Draibank, Melaane-Wirtshaus, Houthulſter 
Wald .. eine Stelle, von der halbverkohlte Baumſchäfte ausſagen, daß fie einmal 
ein Waldrand war... Wir zu dritt in einem lehmigen Erdloch, unter der Be- 
zeichnung „Trichter“ auch der Heimat allgemein bekannt, und um uns das Gebrüll 
der Schlacht, die raſende, zermalmende Wut engliſcher Granaten. Der Morgen 
graute ſchon ſacht herauf, die Nacht war empfindlich kalt geweſen, wir hatten 
uns aneinandergerollt, um uns gegenſeitig etwas zu wärmen. Wir drei waren 
ſchon feit langen Stunden eine Welt für uns; ob jemand, irgend ein lebendes Weſen 
noch vor uns, neben oder hinter uns war, wußten wir nicht, konnten es aber kaum 
annehmen, denn nach menſchlicher Berechnung mußte der Geſchoßregen der letzten 
dierundgwanzig Stunden edes Krümchen Erde im ganzen Abſchnitt mindeſtens 
dreimal um und um gedreht haben. So fühlten wir uns als die Letzten, denn daß es 
ah uns treffen würde, war uns völlig ſelbſtverſtändlich, und von dem Augen- 
blicke an, da uns dieſe Erkenntnis gekommen war, war die Angſt, das Grauſen und 
Entſetzen, das uns in den erſten Stunden erfüllt hatte, da wir in dieſe toſende 
Hölle kamen, einer großen inneren Ruhe, ja geradezu einer gewiſſen Heiterkeit 
des Herzens gewichen, die uns anfangs ſelbſt ſeltſam, aber doch wiederum köſtlich er- 
ſchien: wir waren ja ſchon fo gut wie tot, wenn uns auch noch eine vorläufig unbe- 
ſtimmte Friſt zur Beſinnung und Sammlung gegeben war. In unſeren Augen 
ſtand nur die leiſe Frage: bis wann noch, bis neun Uhr, oder ſchon um acht? — 
Selaſſen ſahen wir nach der Uhr und ſtellten dieſe mögliche Begrenzung des uns 
vom Tode gütig gewährten Aufſchubs feſt. Überhaupt: die Welt und alles, was 
uns mit ihr verband, lag weit, unendlich weit, weiter als die Sonne, die wir auch 
nicht ſahen, von uns entfernt, irgendwo dahinten hinter der donnernden Wand, 


122 Aldrecht: Dom Erieden des Todes 


unerreichbar und mertwürdigerweife auch gar nicht ſonderlich erſehnt. Gewiß, wir 
dachten auch an einzelne Menſchen in der Heimat, die uns lieb geweſen waren, 
aber mit der lächelnd überlegenen Ruhe des Herzens, mit der vielleicht ein Sechzig; 
jähriger ſeiner Primanerliebe gedenkt; es ſchmerzte uns nur ein wenig, dieſen 
Lieben durch das, was man „Heldentod“ nannte, weh tun, vielleicht auf uns ge 
ſetzte Hoffnungen und Erwartungen enttäuſchen zu mülffen. | 

Wir ſahen noch einmal Brieftaſche, Notizbuch und unſer ſonſtiges totes Inventar 
durch, daß alles auch klar und in Ordnung war, zum letzten Appell bereit; Herbert, 
der von jeher viel auf ſich hielt, nahm ſogar ſeine Nagelfeile hervor und machte 
gelaſſen Maniküre, und das war nicht etwa die Außerung eines krampfhaften 
Galgenhumors, ſondern entſprach nur ganz dem Weſen dieſes peinlich ſauberen 
Menſchen. Ich nahm meine Feldflaſche, goß den Reſt des darin noch vorhandenen 
Schnapſes in meinen Trinkbecher, trank einen Schluck, ſo daß es mir wärmend bis 
in die von Näſſe und Nachtkälte erſtarrten Füße fuhr und reichte Hannes den noch 
halbvollen Becher. Der richtete ſich etwas auf, hob den Becher in die Höhe, als 
freue er ſich des hellen, glitzernden Widerſcheins, den der blanke Aluminiumbecher 
unter dem Kuß des erſten, eben durchbrechenden Sonnenſtrahls gab, dann ſank 
er zurüd, ohne einen Laut; ein kleiner, ſcharfer Granatſplitter hatte ihm Bruſt 
und Herz durchſchlagen. Hannes war ſofort tot; doch auf ſeinem Geſicht lag ein 
kindhaft frohes, leuchtendes Lächeln ſtill zufriedenen Glücks: er hatte ja noch die 
Sonne geſehen! 

Sorgſam, liebevoll lehnten wir den ſeines Reichtums beraubten Körper gegen 
die dem Feinde zugekehrte Trichterwand und waren nicht beſtürzt oder traurig: 
Hannes war uns ja nur vorausgegangen, wie immer, wenn wir drei auf Patrouille 

gingen. Es war noch nicht acht Ahr. Und um neun Uhr? — Wer wird der letzte fein? 
Und es wollte wohl jeder von uns beiden gern der vorletzte und nächſte ſein. 

Wie ſo ganz anders war dieſe Begegnung mit dem Tod, als noch am Abend 
zuvor! — Wir waren erſt zu viert im Trichter geweſen, aber am Abend war dann 
Karl am Trichterrand emporgekrochen, um zu ſehen, was die „anderen“ machten. 
Da fegte es pfeifend, aufjauchzend wie im Triumph heran, Karl blieb liegen, indes 
wir uns mit dem die Gefahr witternden Inſtinkt des alten Frontſoldaten geduckt in 
den feuchten, klebrigen Schlamm preßten. Schlag auf Schlag fuhr dumpf dröhnend, 
fauchend, krachend in unſere nächſte Umgebung, mit feinem Lärm den Jammer 
mitleidig verſchlingend. Grauſen, Entſetzen, Verzweiflung, irre Angſt hockten uns 
im Nacken und drückten uns immer tiefer in den naſſen Dreck, fraßen an unſeren 
Herzen, zerriſſen unſer Hirn. Als es etwas ruhiger um uns wurde und wir uns 
wieder ſcheu, verſtört aufrichteten, war Karl und auch das, was einmal ſeine Seele 
getragen hatte, fort, verſchwunden, ohne die geringſte Spur hinterlaſſen zu haben. — 

Auch jetzt brüllte um uns die Schlacht, fuhr Schlag auf Schlag in die aufftöhnende 
Erde, — und doch waren wir ruhig, gelaſſen, ohne die irrſinnige Angſt vom Tage 
zuvor: wir waren andere geworden, wir waren frei, denn wir hatten die 
Angſt vor dem Tode überwunden. Der Tod hatte uns ja ſchon die Hand ge- 
reicht und zögerte nur noch einen Augenblick, uns mit ſich zu führen. 

And wir zwei letzten unterhielten uns leis, wie ſchön doch das Leben geweſen 


om 


Areht: Dom Erleben des Todes 123 


fei, wie herrlich, wie voll Gnade und Licht, und wir empfanden beide, daß wir diefe 
beglüdende Erkenntnis nur dem Erleben des Todes in den letzten Stunden ver- 
dankten. Wir waren aber nicht traurig und verzweifelt, weil nun alles gleich „zu 
Ende“ fein würde, nein, denn wird etwas Schönes dadurch ſchöner, daß es länger 
währt? Mit ſo unendlicher Dankbarkeit gegen die Güte Gottes wie noch nie zuvor 
nahmen wir das Geſchenk der Sonne entgegen, die ſieghaft Qualm und Nebel 
teilend uns noch einmal mit mütterlich linden Händen ſtreichelte, ſahen wir ein 
kleines Büſchel Gras, das mit dem Teil einer Baumwurzel bei uns gelandet war, 
und empfanden zum erſtenmal fo ſtark und bewußt die ganze ſchlichte, zarte Schön- 
hei. der Hälmchen, die wir ehrfürchtig faft durch unſere Finger gleiten ließen. 
Einige nahm ich, legte fie in mein Notizbuch und ſchrieb aus der Ergriffenheit der 
Stunde heraus, ſozuſagen als Vermächtnis für die, welche meinen Körper vielleicht 
finden würden, die zwei Zeilen hin, die ich heute wiederfand. 

& wurde Abend, und der Tod zögerte noch immer. Da kam ein Gegenſtoß unſerer 
Auppen, riß uns empor und vorwärts. Der übernächſte Tag ſah uns ſchon wieder 
in Shourout. Als vom Tod Beurlaubte — fo fühlten wir uns — genoſſen wir felig 
Luft, Wind, blauen Himmel, wandernde Wolken in mancherlei wunderlicher Geſtalt, 
Regen und Licht, Halm, Strauch und Vogelſchrei wie unſagbar köſtliche Geſchenke. 
Vir waren ja vom Tode geſegnet und hatten ſo erſt des Lebens ganze Tiefe und 
Schönheit erkannt. — 

Herbert fiel einige Wochen ſpäter bei Bourlon, ich ſelbſt kam nach mancherlei 
Faͤhrniſſen wieder in die Heimat zurück. Oft noch hat mir der Tod die Hand gereicht 
bis zum November 1918, aber es war keine eiſig kalte, dürre Knochenhand ſondern 
eine warme, feſte Freundeshand. 

* 
* 

Warum ich das Erlebnis dieſer Stunden im flandriſchen Granattrichter hier er- 
sable? Gewiß nicht, um die Legion der Schilderungen „wie es vorne war“ um eine, 
dazu nicht einmal beſonders gute zu vermehren, denn andere, vor allem die, die 
nicht dabei waren, haben das vor mir ſchon weit beſſer und trefflicher getan. Nein, 
ich habe das alles erzählt, weil es für mich zum entſcheidenden Erlebnis meines 
Lebens überhaupt geworden iſt. Und auch das wäre noch hidft belanglos, wenn 
dies Erlebnis rein perſönlich bedingt und begrenzt wäre, aber ich meine, fühle, ja 
weiß, daß es allgemein menſchlicher Natur iſt. Nur wer den heiligen Segen des 
Todes erkannt hat, wird die Schönheit des Lebens in ihrer ganzen Tiefe und ihrem 
koſtlichen Reichtum empfinden und erfaffen können. 

So viele, um nicht zu ſagen die meiſten Menſchen fürchten ſich vor dem Tode, 
haſſen ihn gar. Sft es aber nicht geradezu lächerlich und widerſinnig, das zu fürchten 
und zu haſſen, was dem Leben erſt ſeinen Wert gibt? Wäre das Leben nicht der 
fürchterlichſte Fluch, eine unerträglich grauſame Plage, wenn es ewig dauern 
würde? Gerade dadurch, daß es weiſe nach dem Willen des Höchſten begrenzt iſt, 
erhält es doch erſt feinen Wert. Auch hier heißt es: bereit fein iſt alles, denn nur 
der, wer ſeine Rechnung ſtets klar und in Ordnung hat, ſo daß er jederzeit von dieſer 
Bühne abzutreten bereit iſt, wird das Wunder des Lebens, das ihm jeder Tag in 
der unermeßlichen Fülle ſeiner Offenbarungen verſchwenderiſch beut, ganz erleben, 


124 Schummelpfeng: Herbftaberd 


feine Schönheit jauchzend erfaſſen und vor ihm in Demut und Ergriffenheit ſich 
neigen, nur er wird vor dem großen ewigen Geiſt, der hinter und in allem Leben 
ſteht, anbetend und ehrfürchtig ſich beugen. Jede kleinſte Blume wird ihm zur 
Offenbarung, jedes Vogellied zum Wunder, jedes Kinderlachen zur Beglüdung, 
jeder Sonnenſtrahl zum gottſeligen Geſchenk werden, und er wird das Leben ſo 
innig, fo mit allen Faſern und Fibern feines Seins bis in feine letzten Tiefen er- 
leben, wie es ſonſt einfach nicht möglich iſt. Und er wird auch feine Pflicht tun auf 
dem Platz, an den ihn das Leben geſtellt hat, denn er iſt ja bereit, jederzeit ſeinen 
Platz freizugeben; wer wird aber feinem Nachfolger ein unaufgeräumtes und ım- 
ordentliches Tagwerk hinterlaſſen wollen?! 

Und warum ſollten wir uns auch vor dem Tode fürchten, uns vor ihm bangen? 
Wegen der Ungewißheit, die ihn umgibt? Eins iſt doch allen gewiß, ſowohl denen, 
welche an die Unſterblichkeit glauben, wie ſogar den anderen: der Tod nA immer 
der Frieden, fet es nun der Frieden des heiter ſtrahlenden, unendlichen Lichtes, 
ſei es der Frieden des ſanften, begütigenden, mitleidigen Ountels, und gibt es etwas 
Köſtlicheres, etwas Vollkommeneres als den ewigen Frieden?! 

Darum lernt den Tod als Freund lieben, und ihr werdet das Leben als Glück 
gewinnen! 


Herbſtabend 


Von K. A. Schimmelpfeng 


Wie eine klare blau und weiße Glocke 

Steht jetzt der Himmel über meinem Scheitel 

Von zarten ro oie Wolken leicht geftreift, 

Die aus der 950 e noch den Gruß der Abendſonne ſenden. 


Durch die gewölbten Bogen ſchöner Brücken 
Seh ich den Fiſcherſtaden einer alten 
Und eingeſchlafnen Stadt 


Die an den Pfählen leiſe ſchaukeln, 
Während der Abendwind in zarten Netzen ſpielt. 


Schneeweiße Gänſe ziehen we. übers Waſſer 
Zu ihren heimatlichen Ställen 

Die Köpfe Task geſtellt 

Und dumpf erſchauernd 

Unter dem lauten himmelfernen Schrei 

Der wilden Schweſtern 

Die in roten Wolkenhöhen ſüdwärts wandern. 


Steil und voll Würde ſtechen dunkle Pappeln 
Die hohen ſchlanken Spitzen 

In den kalten Ton des Himmels 

Als immer treue Wächter. 

Und ihre Blätter zittern unaufhörlich 

Voll u und froher Luft am Wachen 
Aber die Ruh’ des Stromes, 

An dem ſie ſtehen 

Und aus dem ſie wachſen. 


125 


Der Freund 


Von Gabriele Hartenftein 


s war Herbſt. 

Über die Erde ſtrich der Abendwind und hob Blatt um Blatt von den Baum- 
kronen, ſchon verfärbt vom Sterben. Die Axt des Holzfällers dröhnte durch den 
Schlag. Ohne Glut verfiel die Sonne. 

Der Forfter ſaß mit feinem Nachbarn bei einer Flaſche Weines in der getäfelten 
Stube. Sie hatten vom Tod geſprochen, die beiden, eine volle Stunde lang. 

Ein Ritt durch den ſterbenden Wald hatte die Gedanken gebracht, und die beiden 
Männer, voll noch von Kraft und Lebenswillen, hielten heut abend mit einemmal 
den Atem an, als ſei etwas Geſpenſtiſches über ihren Weg geflattert. 

»Ich hätte gegen den Tod nichts einzuwenden,“ — fagte der eine — „wenn ich 
ihn beſtellen könnte, wann es mir eben gefiele, zu ſterben.“ 

Ich haſſe ihn in jeder Form und in jedem Augenblick“ — ſagte der andere leiden- 
ſchaftlich. „Lieber kein Leben, als ein Leben, das mit dem Tode endet.“ 

„Wir haben zum letztenmal vom Tod geſprochen. Wir wollen leben ohne den 


Und ſie erhoben die Gläſer und tranken auf das Leben. 

Aber das Blatterwert der Buchen vor den Fenſtern flog ein Schauer. 

Der Nachbar brach auf, der Förſter geleitete ihn über den Hof und ſchloß das 
ſchwere eichene Tor hinter ihm. 

Er war nicht lange in der Stube, als jemand an die Tür pochte. Wer konnte das 
ſein, wie kam da noch jemand herein? 

Der Förſter trat hinaus. 

Da ftand ein Mann im Flur, in dunklem Mantel, groß und von ehrfurdtge- 
bietender Haltung. Wo ſein Auge ſich verhing, blieb es lange haften; der Glanz 
des Friedens lag in feinen Zügen. 

„Was wünſchen Sie?“ — war die Frage des Förſters. 

„Ich möchte hier ein wenig raften,“ — ſagte der fremde Mann. 

„Willkommen!“ — erwiderte der Förſter. „Man plaudert gern, die Abende ſind 
lang. Mein Nachbar iſt hier geweſen. Wir haben ſoeben vom Tode geſprochen.“ 

Der Unbekannte trat einen Schritt vor. 

„Ich bin der Tod“ — ſagte er ſchlicht. 

Voll Grauen wich der Forſtmann zurück, und feine Knie begannen zu wanten. 

„Sei ohne Bangen,“ — ſprach der abendliche Gaſt — „noch iſt deine Stunde nicht 
reif.“ — Und er ließ ſich am Fenſterkreuz nieder und neigte das Haupt, in grenzen 
loſer Milde. 

Der Forſtmann ſtand noch zagend im Hintergrund; da aber allgemach ein Gefühl 
des Vertrauens durch fein Inneres zu ſtrömen begann, trat er an den ſpäten Wan- 
dersmann heran und blickte ihm tiefer in die Züge. 

„Man liebt dich nicht. Warum ſuchſt du uns auf?“ 

„Tauſche dich nicht,“ — war die Antwort des Fremden — „man fürchtet und 
liebt am Ende nichts ſo ſehr wie den Tod!“ — Und ſein Auge, voll Schwere und 
Seheimnis, verhing ſich in der Aſche des Himmels. 


126 Dartenftein: Der Freund 


Der Forſtmann, jo nahe an das Unbegreifliche herangeriidt, wollte es enthüllen, 
um jeden Preis. 

„Offenbare mir das Geheimnis, Tod, damit ich nicht ſchaudere, wenn du wieder- 
kehrſt. Lächelnd möchte ich die Hand dir reichen.“ 

Langſam wandte der Tod das Haupt ihm zu. 

„Du lächelſt ſchon“ — war ſeine Antwort. 

Eine Helle floß durch den dunkelnden Raum jetzt, und man wußte nicht, kam 
der Schein vom Monde her, der ſachte ſchon die Buchen ſtreifte, kam er aus dem 
Antlitz des königlichen Gaſtes. 

Jetzt war der Forſtmann wie ein Kind. 

„Du biſt gut. Man muß dich nur geſehen haben. Dein Name ift’s, vor dem die 
Herzen ſchaudern.“ 

„Streiche meinen Namen. Nenne mich Wandlung.“ 

„Wohin die Wandlung? Sterbe ich nicht?“ 

„Du gehſt weiter.“ 

„So gibt es keinen Tod?“ 

„Es gibt nur Leben. Tod iſt die große, göttliche Verjüngung.“ 

„Was iſt das Leben?“ 

„Ein Übergang.“ 

Des Förſters Augen leuchteten; er hing den Worten nach, brach in alle ihre Tiefen 
ein. Jetzt aber glitt ein Schatten über ſeine Züge und zweifelnd hob er das Haupt. 

„Warum ſchmerzt der Tod von allen Schmerzen am tiefſten?“ 

„Entwicklung ſchmerzt; Tod iſt höchſte Entwicklung; höchſte Entwicklung iſt 
höchſter Schmerz.“ 

Der Förſter lächelte wieder. 

„Laß mich erfüllen, was ich zu erfüllen habe, dann begrüße ich dein Kommen.“ 

„Ou haſt nichts zu erfüllen, wenn du dich ſelbſt nicht erfüllſt. Man verſäumt 
nichts, wenn man ſich ſelbſt nicht verfäumt.“ 

„Wir Toren!“ — rief jetzt der Forſtmann aus. „Die Menſchen haben fic die 
Friedhöfe gebaut!“ 

„Ich baue die ewigen Hallen des Lichtes,“ — ſprach ſinnend der Tod — „ich bin 
die Pforte zum Leben.“ 

Damit erhob ſich der majeſtätiſche Pilger. 

Seine Stimme, ſanft und tragend, hatte den Raum durchdrungen. Es war, als 
begännen die Mauern leiſe zu klingen und als huben, fern in der Abendtiefe, die 
Glocken eines Domes zu tönen an. 

„Verweile!“ — bat der Förſter — „Laß mich vergehen an deinen Worten!“ 

Der Tod hob den Arm und machte eine Bewegung ſanfter Entſcheidung. Man 
fab ihm an, daß er mehr wußte, als er ſagen mochte. Fest ſchlug er die Falten feines 
Mantels um die königliche Geſtalt und wandte ſich zum Heimgang. 

„Tod,“ — rief der Förſter dem Scheidenden nach — „warum entſchwindeſt du 
mir? Erhabener Freund!“ | 

Und wie ein Kind, das die Führung der Mutter ſucht, taftete er nach der Hand 
des Mächtigen und tauchte in den Schatten, den ſein weiter Pilgermantel warf. 


Wiffer: Die Eiche 127 


Mit einer erhabenen Geſte des Mitleids legte der Tod den Arm um die Schultern 
des Forſtmannes, und fo, wie er über ihn ſich neigte und tief und tiefer in feine 
Augen jah, erkannte er nur mehr eine einzige Sehnſucht darin. 

Der Raum verdämmerte. Es ſanken die Wände, als ob eine ſanfte Hand ſie 
teilte. 

Tod und Forſtmann wandelten den dämmernden Gründen zu, und wo die beiden 
den Fuß hinſetzten, fiel ein Schimmer auf die Erde hin. 

Draußen, auf dunkelſchwerem Felde ſtand, wie mit menſchlicher Haltung, ein 
Apfelbaum; verſchüttet lag das Laub zu feinen Füßen, und die fruchtbeladenen 
Zweige neigten ſich tief zur Erde, wie in grenzenloſer Sehnſucht nach ihr. 

der Tod blieb ſtehen und hob den Arm; ſeine Hand ſtreifte da und dort die Aſte: 
mit dumpfem Anſchlag fielen die herbſtſchweren Apfel der Erde in den Schoß. 

die beiden ſchritten weiter und ſahen ſich an, in lächelndem Verſtehen. 


Die Eiche 
Von Ernſt Wiſſer 


Herr, hörſt du mich? 
a. Die 3 m. auf dem Hügel, 


Bahr OP 10 doch doch also dir entgegen! 


Mit der Gewalt ihrer Krone faugt fie an Deinem Lichte 
Wie der Löwin Brut an ihrer Mutter Liebesbrüſten. 


üppig und voll hat fie ſich geſogen, 

Zum runden Walde hat ſie ſich dene u. 
Darin die Geſtirne wandeln des Na 

Aber am Tage wühlen darin der 1 
Der Winde Finger. 


— Aber es kommt November, 
Und Stürme fallen in ihre Krone. 


Wie wilde Kriegshorden fallen ſie ein, 

Schwenken hin, reißen wieder — 

Ihres Haſſes Wut ſtrebt und heult, 

Herauszureißen, hinzuſchmettern — 

Daß ich dann meine ungen tief geſenkt habe, o Herr, 
In Dein Geheimnis! 

Daß ich ſie wohl nährte, 

Sie ausſandte in Länge und Breite! 

Daß ich Dir tauſendfach hin und wieder verflochten bin, 
Unausreißbar in Dir gegründet! 

Daß ich mächtig rauſchen 2. und ftandbalten 

Und herrſchen und nicht wanken — 

Und weithin rauſchen von Deiner Größe! 


128 


Sottvaters Gericht 


Schluß des „Balladion“ von Friedrich dem Großen 
Übertragen von Eberhard König 


Oieſer Schluß von Friedrichs des Großen tomlfdhem Heldenepos „Le Palladion“ iſt — wohl wegen des tey- 

riſchen Inhalts — in der großen Hobbingfchen Ausgabe weggelaſſen worden. Uns ſcheint aber, wir find heute über 

Friedrichs Eigenart genugend unterrichtet, um biefe Dinge hiſtoriſch zu werten. Eberharb Königs mufterhafte Der 
deutſchung verdient ſchon als ſolche Beachtung. D. T. 


. . . Geſchlagen war die große Schlacht. 
Nun ſammelt ſich von fern und nah 
Mählich der Preußen Heeresmacht. 
Viktoria! Viktoria! 

Hei, da erging 

Hoch und gering 

In Jubel ſich und Siegsgeſchrei, 

Ein Mordskrakeel war's und Juchhei, 
Und in das Toben der ſiegfrohen Menge 
Miſchten ſich helle Fanfarenklänge. 


Der Tod, der Sohn der Ewigkeit, 

Verſammelte von den Kriegern allen, 

Die mit Ehren auf dieſer Walſtatt gefallen, 

Die ledigen Seelen fahrtbereit. 

Himmelempor ſeine Reiſe ging. 

Doch unterwegs — da wuchs und wuchs 

Die Schar und Länge des Totenzugs 

Vom endloſen Zugang, den er empfing 

Aus aller Welt, bei jedem Schritt: 

Wir warten ſchon! Nimm uns mit, nimm uns mit! 
Welch Durcheinander von allen Ständen: 

Herrn und Geſinde, Soldaten und Prieſter, 
Weiſe und Könige, und ihre Miniſter 

Von aller Welt Enden! 

Wie ſie vom Leib ihrer Mutter kommen, 

So fährt das dahin; und ſie hadern all, 

Daß ihr Erdengeſchick ſolch ein Ende genommen — 
Und nun dieſer grimmige Reiſemarſchall! 

Der aber führte ſie all hinan 

Wohl vor den Thron der Ewigkeit, 

Wo ihre Muſterung begann. 

Da ſah man Erdenleid und Streit 

Noch manchem bangen Antlitz an, 

Die Schrift, die jüngſt das Entſetzen geſchrieben, 
In manchem Geſicht war ſie ſtehngeblieben, 


Rathmann 


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Ostmarkenk 


Gottoaters Bericht 


Der Türmer XXVIII, 


129 


Nicht anders als die Schmiſſe und Schrammen, 
Die aus dem letzten Kampfe ſtammen. 


Drauf ließ ſich der Vater die Liſte reichen 

Von all den Jammergeſtalten, den bleichen; 

Da ſtund denn von jeglichem Toten zu leſen, 

Was er vorgeſtellt unten und wie er geweſen. 

Oer Reihe nach vor des Thrones Stufen 

Wurden ſie namentlich vorgerufen. 

Der da war ein König. — „Hinweg!“ ſprach der Herr; 
Jener ein Mönch — verworfen auch der. 

Sprach da ſein Sohn: „Aber Herzenspapa, 
Warum verdammſt du die beiden da? 

Sind doch ſo hochanſehnliche Leute!“ 

„Mag fein,“ ſpricht Gottvater — „in meinen Augen 
Die Wohlanſehnlichen beide nichts taugen! 

Zu oft find fo Kön'ge der Ehrſucht Beute; 

Ging's nach ihnen, du kannſt mir's glauben, 
Verſuchten ſie uns ſelbſt die Krone zu rauben. 
Nichtsnutze ſind's halt und Liederjahne! 

Nun — und die Mönche? Bei uns in den Himmeln 
Tut's ohnehin von der Art ſchon wimmeln; 

Sieh nur, was Kutte und Soutane 

Hier oben bereits für 'ne Rolle ſpielen! 

Und denk mal, wenn von den Schlingeln gar 
Irgendein Papſt uns noch ein paar 

Zuweiſen ſollte — ſchon mancher war 

Auf Heilige verſeſſen! — noch ein paar, 

Ich bitt' dich, Kind, zu unſern vielen ..?“ 


Drauf wird ihm das Kriegsvolk vorgeſtellt, 
Auf dem Felde der Ehre dort unten gefällt; 
Ruft da der König voller Gnaden: 

„Nur nähergetreten, Kameraden! 

Ich denke, es wird hier im ewigen Leben 
Schon irgendein warmes Eckchen geben, 
Wo ihr in Ruh' euer Garn könnt ſpinnen, 
Alter Kriegsfahrten euch entſinnen, 

Alten Ruhmes mit Stolz gedenken; 

Siehſt du, ich will dieſen guten Leuten —“ 
Alſo tät er dem Sohne bedeuten — 
„Allzumal meine Gnade ſchenken, 

Weil ohne Falſch und arge Liſt 


Das Herz ’nes rechten Soldaten iſt. 
2 9 


Nun gebt meinen Braven tüchtig zu eſſen, 
nen guten Trunk nicht zu vergeſſen!“ — 
Und daß an dieſer Gnadenſtätte 

Auch jeder was fürs Herze hätte, 

Gebot er: „Sorgt mir auch jederzeit 

Für das nötige bißchen Weiblichkeit; 

Wir haben ja bei unſeren Heil' gen 

Auch manche weniger langweil'gen —“ 

(Er meinte mit denen 

Wohl Magdalenen) 

„Genug — dieſe Helden ſtehn zehnmal höher 
Denn meine andächtelnden Augenverdreher, 
Und darum wünſch' ich, ſoll's ihnen allen 
Hier weidlich gefallen. 

Doch wer kommt dorten an die Reih? 

Wer iſt der Mann?“ — „O Herr, verzeih, 
Das iſt John Locke; in Ehrfurcht naht er 

Zu deiner Huld’gung.“ Und Gottvater: 
„John Locke? Wer iſt das? Und was kann er?“ 
Der Brite neigt ſich: — „Herr,“ begann er, 
„Ich bin ein Menſch, der all ſein Leben 
Dem Drang nach Wahrheit hingegeben, 
Dem Senken wies ich neue Bahn; 

Ich lehrte nur, 

Was die Natur 

Verſtändlich mir entgegenbrachte, 

Was als Gewißheit ich erfuhr, 

Und was ich ſtreng dann, frei von Wahn, 
Zu ſinnvoll Ganzem fertigdachte. 

Hab' auch des Aberglaubens Macht 

Nach Kräften in Verruf gebracht, 

Der Heil' gen Reich und Herrlichkeit 
Derläftert nach der Möglichkeit. 

Mein Herz iſt lauter, meine Religion 

Weiß nichts von Porphyrios' eiferndem Hohn. 
Und ob auch den Irrwahn mein Fuß zertreten, 
Stets hab' ich in Treuen zu denen gehalten, 
Die reinen Sinnes zum Schöpfer beten, 
Hab tiefergriffnen Gemütes verehrt, 

Was ewiglich unſerm Begreifen verwehrt, 
Herr, deiner Allmacht Walten.“ 

Rief da der König: „Ha, bei der Hölle, 
Recht hat er, der Weiſe! Und ich bin's ſatt, 
Des Ränkeſpiels in der Ewigen Stadt, 


Sottvatets Gericht 


Der Argerniſſe früh und ſpat, 

Und darum — heut' noch, auf der Stelle 
Säubr’ ich mein Haus 

And werf' alle Heil’gen zum Tempel hinaus! 
Raus, ihr Verfluchten! Ihr wollt euch vermeſſen 
Vor Erdenkindern der Rechte deſſen, 

Der dem Donner gebeut? 

Ihr großen Heil'gen des Weltenrunds, 

In den Kohlenofen des Höllenſchlunds 

Verſtoß' ich euch heut'! 

Du, Locke, bleibſt hier, 

Und mein Friede mit dir! 

Sollſt hier mit neuerſchloßnem Schau' n und Denken 
In meiner Allmacht Wunder dich verſenken.“ 


And alſo geſchah's, wie der Ew'ge gebot, 
Und reingefegt war allſogleich 
Vom Schelmengezüchte das himmliſche Reich; 
So trieb der güt’ge, der weiſe Gott 
Hinaus die Heiligen und Sophiſten, 
Doch alle redlichen Oeiſten 
Die hat er in Gnaden 
Fein zu ſich geladen. 
Zu ſeiner Rechten ſitzen ſie da 
Und ſchaun ſein Angeſicht ganz nah. 
O Freunde, ſo wünſch' ich's für euch wie für mich, 
Geſcheh' es denn alſo! 
Friederich 


X. Januar 1749. 


131 


152 


Der Tod der Künftlerin 
Von Georg Mehlis 


s ging zu Ende. Der letzte ſchwere Kampf ſtand unmittelbar bevor, da das 

Leben ſich ſcheidet, und des Geiſtes geheime Form von aller ſinnlichen Stoff- 
lichkeit ſich loft, um in jene Tiefen zurückzutreten, denen fein reines Weſen entſtammt. 
Die große Künſtlerin, der eine fo ungeheure Macht über die menſchlichen Gemüter 
gegeben war, erwartete den Tod, und der Tod wartete auf ſie, und ſtand ernſt und 
drohend zu Häupten des Lagers. Sie ruhte in dem breiten franzöſiſchen Bett auf 
weichen Kiſſen, aber auch dieſe Weichheit ſchien noch zu hart und rauh für die armen, 
ſchmerzbewegten und fiebergequälten Glieder. Sie ſaß halb aufgerichtet, um leichter 
Atem holen zu können. Und an der dunklen Rückenwand des Bettes, mit ihrem 
einfachen und vornehm gehaltenen Schnitzwerk zeichnete ſich das blaſſe ſchmale 
Geſicht ſo deutlich ab. Die dunklen, von weißen Silberſtreifen durchzogenen Haare 
umfluteten die ſchmalen, etwas eckigen Schultern. Die von Ourft und Fieberhitze 
hart und ſpröde gewordenen Lippen waren halb geöffnet, und man hörte jene 
ſcharfen, ſchnellen Atemzüge, in denen die letzten Kräfte des Lebens um Löſung 
und Erleichterung ringen. Und die ſchönen dunklen Augen, die ſo tief in das Leben 
geſehen, beſchauten die ſchmerzliche Zerſtörung des Seins und ſchienen alles Leid 
der Welt aus kummerſchweren Tiefen auszuſtrahlen. Schweiß ſtand auf der hohen, 
ſchmalen Stirn, und dieſe ſchönen Hände, die der Dichter gefeiert hatte und die 
durch eine Geſte und zarte Bewegung das geheime Leben der Seele verraten und 
andeuten konnten, die zu reden und ſprechen vermochten, wie ſonſt nur kluge ſchöne 
Lippen ſprechen, dieſe Hände irrten in wirrer Bewegung auf der ſeidenen Oecke 
des Bettes umher. Sie hatten ihre Sprache verloren, dieſe ſchöne bezeichnende 
Sprache der Seele, die für alles menſchliche Sein den würdigen Ausdruck fand. 
Die Ausdrucksbewegung dieſer Hände war verſtummt. Sie waren nicht mehr von 
Vernunft beſeelt und redeten die Sprache des Wahnſinns. Dieſe armen irren Hände 
hatten aber nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Sie waren nur noch ſchmaler 
und zarter geworden, und ihr blaues Geäͤder trat noch deutlicher hervor. Es ſchien, 
als ob der Tod ihre geiſtige Weſenheit noch reiner und tiefer offenbaren wollte. 

Niemand war im Zimmer als die Krankenſchweſter und der Freund, der ihr 
in den letzten Jahren treu zur Seite geſtanden. Sie ſaßen am Fußende des Bettes, 
und beobachteten mit tiefer Bewegung dieſen ſchmerzlichen und grauſamen Kampf 
des müden ſcheidenden Lebens. 

Die Krankenſchweſter reichte den ſpröden, bebenden Lippen manchmal ein edel- 
geformtes Glas, mit kühlendem Getränk, denn was ihren Augen nahe kam, mußte 
das Zeichen der Schönheit tragen, und der Freund überdachte, was die große 
Kunſt der Bühne mit ihrem Scheiden verlor, und daß fo manche Geſtalt der Dichtung 
nicht mehr leben könnte, wenn ſie nicht mehr war, die ihr eigenes Weſen mit ihr 
verſchmolzen und ſich in ſie verwandelt hatte. 

Der Mund der ſterbenden Künſtlerin begann jetzt Worte zu bilden, ausdrucksvoll 
und leiſe, im haſtigen, eiligen Tempo, fortgetrieben von einer Macht, die ſie ſelber 
nicht mehr beherrſchte. Der ſüße Wohllaut dieſer Stimme, welche die Menſchen be- 


Nehls: Der Tod der Künſue rin ; | 133 


zaubert hatte und deren Ausdrucksfähigkeit jo groß war, daß ſelbſt das leiſe geflüfterte 
Wort die Zuhörer der fernſten Theaterplätze erſchauern und erbeben machte, dieſe 
Stimme hatte ihren beſtrickenden Wohllaut noch nicht eingebüßt. Und der Freund 
überlegte, daß nun bald niemand dieſe Stimme mehr hören würde, daß fie un- 
widerruflichen Anteil hatte an der Vergänglichkeit, und daß ein kaltes und unwider- 
tufliches Ende, ein hartes grauſames Muß, das Leben der Schönheit bedrohte. 

Die große Tragödin erlebte noch einmal den Schickſalsgang ihres Lebens, der 
ein ununterbrochener Aufſtieg zur Größe, und doch ein Weg des Leides geweſen 
war. All dieſes Suchen, Kämpfen und Ringen, dies Zweifeln und Verzweifeln und 
ſchließlich der Sieg. Als ſie ihres erſten großen Triumphes gedachte, leuchteten ihre 

müden, ſchmerzgequälten, von Tränen des Leides benetzten Augen noch einmal auf. 

Sie ſah die Geſtalt des nordiſchen Dichters vor ſich, die von allen ſeinen Schöpfungen 

iht am meiſten geweſen war: Nora, in ihrem Puppenheim, das Kind und die 

geldin. Sie kannte das lachende, tollende Spiel mit weichen Kindergliedern, dies 

Drehen und ſich Wälzen mit Jubeln und Schreien auf dem weichen Teppich des 
Wohnzimmers, und fie verftand die unendliche Anmut der Bewegung in jenem 
Tanz, der verrät und gleichzeitig verhüllt, und die naive Unſchuld opferfreudiger 
Neigung, die vor dem Verſtoß gegen das Geſetz nicht zurückbebt, wenn es gilt, den 
Mann ihrer Liebe zu retten. Vor allem aber konnte fie verſtehen, daß feiger Gelbft- 
judt und Verſtändnisloſigkeit gegenüber längeres Zuſammenleben und Verweilen 
Schuld und Frevel war. Und ſo gingſt du denn, mutige kleine Nora, von dem Mann 
fort, für den du alles zu opfern bereit warſt und fort von den Kindern, die du liebteſt, 
um dich ſelber wiederzufinden, nachdem alles zerbrochen war, was dich bisher ge- 
halten hatte. Und war dieſes Gehen und Verlaſſen von Mann und Kind und Haus 
an jenem Abend nicht zu einem unerhörten Erfolg ihrer Künſtlerſchaft geworden? 
Hatte fie durch die Macht ihres Spieles nicht alle überzeugt, daß Nora gehen mußte, 
daß ſie nicht das Geſchöpf und Spielzeug eines unwürdigen Mannes ſein und 
bleiben durfte? War nicht ihr Name auf aller Lippen, hatte der unermüdliche Bei- 
fall des großen Theaters fie nicht als ein glühender Rauſch der Begeiſterung ge- 
faßt und getragen und fie als berüdender Taumel berührt? 

Noch einmal zogen ſie vorbei an den Augen ihres Geiſtes und durchfluteten ihre 
gereizte und gepeinigte Phantaſie, dieſe Geſtalten der Dichtung, denen fie wahr- 
haftes Leben verliehen. Noch einmal durchfuhr der Wahnſinn Ophelias ihre ge- 
quälten Glieder, und fie ſiechte dahin, mit kranker, blutender Lunge als jenes arme, 
ausſchweifende Mädchen, das die Blüten der Kamelien liebte, und ſie fühlte den 
Schmerz der ſchmerzensreichen Mutter, die ihren einzigen Sohn dem Wahnſinn 
verfallen ſieht, da Geſpenſter umgehn, die ſchonungslos das Verhängnis bereiten. 

Ihre Augen hatten die großen Linien des Lebens geſchaut, wie fie die Kunſt 
der Dichter in ihren Werken gezeichnet hat. Sie hatte dieſe Linien mit den Zügen 
ihres Weſens aufs engſte verbunden. Sie hatte die ſchönen bedeutungsvollen Worte 
des Dichters in ſich auftönen laſſen und ihnen jenen Ausdruck und beſeelten Klang 
verliehen, der die Hörer erbeben machte. Aus ungeahnten Tiefen der Empfindung 
klangen dieſe Worte empor und hatten ſich in dieſem Munde zur höchſten Reinheit 
des geformten Satzes und zu hinreißender Wirkung des Wortes in Sagen und 


134 | Mehlis: Der Tod der Nunſtierm 


Sprechen erhoben. Sie hatte die großen Geftalten der Kunſt nicht nur verſtanden, 
erlebt und geſpielt, ſie war das alles ſelber geweſen; ſie war immer wieder eine 
andere, weil ſie immer ganz das war, was der Dichter gemeint, was eine ſchöpferiſche 
Phantaſie geſtaltet hatte, und war doch immer dieſelbe große Künſtlerin, die den 
Schmerz und das Leid und die wogenden Leidenſchaften mit der vollendeten 
Meiſterſchaft tragiſcher Geſtaltung ſichtbar machen konnte Das kunſtverſtändige 
Publikum zweier Weltteile hatte ihr zugejubelt. Ein unerhörter Triumphzug war 
ihre Künſtlerlaufbahn geweſen. Die Kritik mußte verſtummen. Der Größe ihrer Er- 
ſcheinung gegenüber konnte man nur anerkennen und verehren. Immer wieder 
vermochte ſie von neuem zu überraſchen und anders zu ſein und anders zu wirken. 
Eine unerſchöpfliche Lebensfülle ſchien in ihr aufbewahrt, die immer wieder neue 
Geſtalten durchbluten und beſeelen konnte und ſie ſo ſtark und überzeugend bildete, 
daß ſie ein ſelbſtändiges und ſelbſtverſtändliches Leben gewannen. Und dieſe 
Lebensfülle ſchwand jetzt dahin und kämpfte in qualvollem Ringen und machte den 
Tod ſo ſchwer. 

Über das ausdrucksvolle Geſicht der Sterbenden wehte ein ſchmerzlicher Schatten, 
und dann bewegte ſie das Haupt mit leichtem Neigen. Vielleicht denkt ſie an ihn, 
dachte der Freund, an den jungen Dichter, dem die Liebe ihrer reifen Jahre ge- 
hörte, dem ſie unendliche Fülle der Anregung gab, deſſen Dichtungen ihr Feuer 
durchglühte, und der ihre Empfindungen, ihre Liebe, das geheime Weben ihres 
Seins fo ſchonungslos der Öffentlichkeit und der Kritik preisgegeben hat, der Oinge, 
die immer im geheimen wohnen ſollten, an das kalte Licht des Tages zerrte, nur weil 
ſeine Eitelkeit mit jener Gunſt prahlen wollte, die ihm die große Tragödin erwieſen 
hatte. 

Wer kennt die geheimen Schatten, die ein Leben umdüſtern, das ſcheinbar in Licht 
und Sonne getaucht ift! Ruhm und Erfolg können fie nicht verſcheuchen. Sie lauern 
am inneren Eingang zur Seele, und laſſen jenen einfachen und ſchlichten Gefühlen, 
jenes geheime Wunſchverlangen nach Liebe, Schonung und Duldſamkeit keinen 
Raum und keine Sonne. So muß denn alles abſterben, und es ſtirbt wohl manchmal 
recht ſchwer, weil in dieſem ſcheinbar fo Selbſtverſtändlichen ein Glück unſeres 
Lebens ruht. 

„Sie iſt eine fromme Frau,“ flüſterte die Krankenſchweſter, „ſie hat noch vor 
einer Stunde den Kruzifixus geküßt. Hoffentlich kommt der Prieſter noch zur rechten 
Zeit, um ihr die letzte Wegzehrung zu reichen.“ 

Was für ein reiches Leben, dachte der Freund, was für ein Künftlertum! Wie 
groß war doch der Erfolg, der ihr zuteil wurde! Seltſam ſchön und reich war das 
alles. Sie vermochte das Geheimnis des Lebens kund zutun. 

In dieſem Augenblick ſchien die Leidende bemüht, ſich etwas höher aufzurichten. 
Die Krankenſchweſter war ihr behilflich. Ein ſchwaches Lächeln umſpielte ihr müdes, 
ängſtlich geſpanntes Antlitz. „Die Bühne“, ſagte fie leiſe. Was nicht alles in dieſem 
Wort gelegen war, was nicht alles mit dieſem Wort von ihr ging! So viel Glanz 
und Fülle, fo viel Kampf und Ringen um echtes Künftlertum. 

Ich habe ſie ſo oftmals ſterben ſehen, dachte der Freund, und immer wieder hat 
ſie mich von neuem erſchüttert und bewegt. Das Sterben eines fremden Todes 


Boll: Trübe Land ſchaft 135 


ſchien mir immer ihr eigener Tod zu fein. Fest iſt es die Wahrheit des eigenen Todes, 
die nicht erheben, ſondern nur vernichten kann. Und doch, indem fie ihren eigenen 
Tod ſtirbt, ſcheint ſie wieder ein neues Geheimnis des Lebens zu offenbaren. 

Er war dicht an das Lager herangetreten, ihre Lippen bildeten faſt unhörbar 
einen Namen. Sie kann ihn noch immer nicht vergeſſen, den Mann, der ihr ſo viel 
Leides getan. Wie ſeltſam ſich doch in unſerem irdiſchen Dafein, und gufammen- 
gefaßt, in der Geſtalt des Todes, Liebe und Untergang, Schmerz und Sehnſucht 
berühren! 

Er verſuchte die eine der beiden irrenden Hände feſtzuhalten. Sie ſah ihn groß 
und erſchrocken an. Dann ſchien ſie ſich ganz von ferne ſeiner zu erinnern. „Das 
Leben“, fo kam es leiſe, geheimnisvoll andeutend über ihre Lippen. „Ich habe nichts 
vom Leben verſtanden.“ 

Er zuckte ſchmerzlich zuſammen. War das die ſpäte Erkenntnis einer Frau, die 
fo vielen durch ihre Kunſt das Geheimnis des Lebens kundgetan hatte? 

„Eleonore“, flüſterte er leiſe. 

Sie aber erhob noch einmal ihren gepeinigten Leib und die Arme mühſam nach 
tücwaͤrts gewandt blickten ihre dunklen, tränenfeuchten Augen gerade und feſt 
vor ſich hin. Das fliehende Leben ſchien noch einmal in dieſem Blick gebannt zu 
fein, der ruhig und groß den Weg nach feinem fernem Ziel durchmaß, als ob fie 
willens fei, ihn furchtlos und feſt zu betreten in der Erwartung, daß das Unver- 
ſtändliche und Rätfelhafte des Daſeins doch endlich eine Löſung finden müßte. 


Trübe Landſchaft 
Von Paul Wolf 


gm fahlen Dämmer geiftert um das Moor 
e Nebelfrau und webt mit blaſſen Händen 
Um Fels und Winterwald den grauen Flor. 


Wie Tränen tropft es von den kahlen Wänden 
Müd taftet ſich der Fluß durch Nied und Rohr 
Voriiber an erftorbenen Geländen, 


Bang birgt das Grauen ſich an dunkler Klippe 
Und ſtarrt mit hohlen Augen in die Nacht: 
Ein Wandrer ſteigt mit Stundenglas und Hippe 


6 tiſch ſtill dũſterm E t — 
Bun Aleſenſher den dehnt ich ein Gerippe, 
Und hält im toten Lande ſtumm die Wacht 


‘at 322 . ] ]ð§U⁵ en ne CE Se LS Mn 4 A En SE we es esc Me = ra 25 


136 
Siebenzigmal fieben! 
Von M. Schneider⸗Weckerling 


ie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir ſündigt, vergeben? 
Iſt's genug ſiebenmal?“ — „Ich ſage dir, nicht ſiebenmal, ſondern fieben- 
zigmal ſiebenmal.“ 

Was für ein Wort: „Siebenzigmal ſiebenmal“ vergeben! Alſo unendlichmal 
vergeben! 

Haft du ſchon erlebt oder probiert, deinem Todfeind ein einzig Mal zu vergeben? 

Ein einzig Mal nur? 

Weißt du, was es heißt, vergeben, wenn die Luſt des Haſſes in dir tobt, des Haſſes 
und der Rachſucht? Ja, beſchönige es nur nicht, Haß iſt im Grunde Rachſucht: 
Rache für erlittene Unbill, erlittene Qual, ausgeſtandenes Unrecht; ein Ventil für 
angeſammelte Bitterkeit, die ſteif und ſteil, hoch bis zum Hals hinauf ſteigt, ſo daß 
wir glauben, erſticken zu müfjen und [don genug zu tun, wenn wir uns nur einiger- 
maßen beherrſchen, daß es niemand merkt. 

Es gehört zum Vergeben übermenſchliche Kraft. Es geht durch Haß und Rad- 
ſucht etwas wie ein Gift, wie eine Seuche in unſer Blut über. Wir müſſen es wieder 
ausſcheiden. Dies geſchieht gemeinhin durch Befriedigung des Rachegelüͤſtes. Der 
Feind hat uns geſchädigt, alſo ſchädigen wir auch ihn. Vergeben? Er will's ja gar 
nicht; es hat ja gar keinen Sinn und Zweck. Es iſt unmenſchlich, fo etwas zu ver- 
langen 

Wenn nun freilich ein Andrer zwiſchen dieſe haßvollen Zuſtände kommt, der 
ſtirbt vor Gram über den Unfrieden. Reine Augen flehen Tag und Nacht: „Vergib 
ihm! Du kannſt es. Du biſt größer als er. Wenn du willſt, ſo geht's, ſo gibt es wieder 
reine Luft, und ich kann ruhig ſterben.“ 

Was dann? Was iſt deine Antwort? 

In dir tobt's: nein, nein, niemals! Unmöglich. Ganz unmöglich! Verlange alles, 
was du willſt, nur das nicht! Doch du wagſt das nicht laut auszuſprechen und blickſt 
nur düſter unter dich. 

Der Vermittler ſpricht auch nicht mehr. Nur der Gram in ſeinen Augen ſpricht. 
Und ſo wirkt jene Haßkrankheit weiter und verbreitet een wohin dein Fuß 
tritt. 

Da erfaßt dich der Jammer um ihn. 

In ſtiller Nacht ſpricht eine Stimme: „Kannſt du auch um ſeinetwillen nicht ver- 
geben? Kannſt du dies letzte, größte Opfer nicht bringen?“ 

„Niemals!“ 

Die Nacht ift pechſchwarz. „Unmöglich! Unmögliches kann man von einem 
Menſchen nicht verlangen!“ Du liegſt lange wach, ſinnſt, verarbeiteſt — und kannſt 
das Gift doch nicht ausſcheiden. 

„Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir geſündigt, vergeben? 
Iſt's genug ſiebenmal?“ — „Nicht ſiebenmal, ſondern ſiebenzigmal ſiebenmal!“ 

Du verſuchſt es mit Händefalten. 

„Ich weiß, daß ich dies tun muß. Vergeben! Um der gramvollen Augen willen. 


+ 


Edneider-Wederling: Sledengigmal fleden! 137 


Und ich kann nicht. Hilf mir, wenn es einen Gott gibt! Haft du das wirklich gefagt, 
Meiſter Jeſus Chriſtus?“ 

„Nicht ſiebenmal. Sondern ſiebenzigmal ſiebenmal!“ 

Das heißt alſo: immer, täglich und ſtündlich, ſein ganzes Leben lang ſeinem 
Todfeind gegenüber in verſöhnlicher Stimmung ſein. | 
Verſöhnlich? Alſo nicht vergiftbar! Alſo unempfindlich gegen Kränkung? 

Das ganze Leben lang! Welch einen Seelenzuſtand ſetzt das voraus! Welch ein 
ausgeglichenes Nervenſyſtem! Welch eine Reife! 

Da gibt's kein Entrinnen. Immer vergeben können! Täglich „ſiebenmal fiebzig- 
mal“, und wenn er dich ebenſooft kränkt, beleidigt, verachtet, mit jedem Blick, mit 
jedem Wort, mit jedem Atemzug! 

Was für ein Mann muß er geweſen fein: Fefus Chriſtus, der fo hoch über Men- 
ſchenmaß ſtand! Wie war der Tonfall feiner Stimme, als er es ſagte: „Nicht fieben- 
mal, nein, ſiebenzig mal ſiebenmal“? — 

Da zuckt das Herz noch einmal in dir, — ein Ruck: — du ſchwingſt dich an die 
Seite des Heilandes, deine Ketten ſind verwandelt in Flügel — du biſt frei! Der 
Mille entſcheidet. Du willſt nun. Du lachſt, wenn der andre haßt. Was iſt Menfchen- 
gut, was Mein und Oein im Vergleich zu der Gewalt, die von einer ſolchen Tat der 
inneren Befreiung ausgeht?! 

Nun lacht die Au, durch die du ſchreiteſt, es grünt die Flur, auf die du trittſt — 
denn du biſt giftfrei und ſchauſt wieder mit reinen Augen. 

Scheinbare Zufälle kommen dir nun zu Hilfe, und du merkſt, wie dein Leben von 
unſichtbaren Kräften weitergeſchwungen wird. Verdunkeltes hellt ſich auf, und die 
Vögel deines guten Gewiſſens zwitſchern 

Geheimnis iſt um ſolchen inneren Sieg. Man zerſchellt an einer Wand und denkt: 
nun iſt es aus, nun geht's nicht weiter. Und ſieht, daß die Wand ſich teilt nach dem 
Sieg und ein weiter, ungeahnter Blick in neue Landſchaften ſich öffnet. Es iſt ein 
höherer Lebensgrad erreicht. 

Wer feinem Todfeind vergibt, tritit- und reſtlos, der ſtirbt eine Art Tod in dem 
Schmerz der Selbſtüberwindung. Iſt's geſchehen, fo kommt die neue, ſtumme 
Kraft, die dem Ohnmächtigen zu Teil wird nach fürchterlichem Kampf, nach großem 
Schmerz. Sie iſt wortlos. Du wirſt aber durch ſie viel mehr beſchenkt als dein Gegner. 

Der alſo Beſchenkte, in all ſeinen Tiefen aufgerüttelt, möchte wahrlich nicht 
tauſchen mit den Satten und Glücklichen der Oberfläche, denen ſolche Qualen und 
auch ſolche inneren Errungenſchaften verſagt bleiben. 

Wer gefühlskräftig zu haſſen, und ebenſo ſtark zu vergeben und zu überwinden 
vermag, der ſteht der wahren Liebe näher als der Laue, der ſolche Stürme nicht 
kennt. 


2 


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Das tote Syrakus 


an hat oft die Frage aufgeworfen, was einmal aus unſeren Weltftäbten werden wird. 

Sie ſind vergänglich, wie alles Menſchliche vergänglich iſt. Manche ſind freilich ſehr alt. 
Paris z. B., die ſeinerzeitige Lutetia, war ſchon unter den Römern eine gewaltige Weltſtadt, 
deren lebensgenießerifche Kultur bereits die nach Gallien berufenen Ronfuln zu ſchätzen wußten. 
Und Rom ſelber, deffen ſagenhafte Gründung man um etwa 750 v. Chr. zu verlegen ſich jetzt ent 
ſchloſſen hat, dürfte wahrſcheinlich noch viel älter fein. Von Wien weiß man, daß ſchon die Men- 
ſchen der Bronzezeit dort ſiedelten, Schwerter ſchmiedeten und das Töpferrad drehten. Alter aber 
als etwa 4000 Sabre dürfte, von ihren früheſten Anfängen an gerechnet, keine Stadt in Europa 
ſein. Und das iſt, mit dem Maße des menſchlichen Lebens gemeſſen, und mit ſeiner erſtaunlichen 
Wandelbarkeit und Entfaltungs fähigkeit verglichen, eigentlich ſehr viel. 

Aber es gibt tote und verlaſſene Weltſtädte, in deren Herzen nur, gleichſam kümmerlich und 
verſtohlen, die Menſchen niften, etwa fo, wie wenn ein paar Spatzen familien von einem verlaf- 
ſenen Adlerhorſt Beſitz nehmen. Und iſt man melancholiſch und fulturmübde, fo kann man fic allen; 
falls vorſtellen, daß einmal fernſte Nachkommen fo in den Reften von Berlin oder London oder 
Neunor’ haufen werden. 

Sch ſpreche von Syrakus. 

Heute iſt es eine ſiziliſche Provinzſtadt, die im Staub eines regenloſen Himmels erſtickt und 
von einer ſo tödlichen Schläfrigkeit umfangen iſt, als läge ſie irgend weit draußen am Ende der 
Welt. Es iſt ſymboliſch für ſie, daß man auf dem Wege zu ihr, fern und in grenzenloſer Nacht 
verloren, die Feuer von Rap Spartivento flimmern ſieht, die letzten Lichter des Kontinentes 
Europa. 

Fir den, der nicht mit den Idealen des KNulturforſchers nach Syrakus reift, iſt überhaupt das 
Schönfte an dieſer Stadt die Fahrt zu ihr durch die Meerſtraße von Meſſina, die (wenn das Schiff 
halbe Kraft einſtellt) nicht länger als eine Nacht dauert. 

Zunächſt find die Ufer ganz nahe aneinandergerüdt. Der Meeresarm verengt ſich fo ſchmal, daß 
man ſcharf die beiden Riiften unterſcheiden kann. Die Nacht iſt von einer unfäglich tiefen und 
reinen Bläue. Die Geſtirne des Südens heben ſich mit ſtärkerem Leuchten und glänzenderem 
Schimmer, als wir dies im Norden gewöhnt find. Weit und immer weiter hinter uns zuckt rhyth⸗ 
miſch ein Flackerſchein auf, rötlich, von weißſprühenden Funken durchlodert. Das iſt der Atna mit 
feinen Ausbrüchen. Ihn ſelber erblickt man kaum, denn er iſt faft ſtets in Wolken gehüllt und fein 
ſchneegefrorener Gipfel, der ſich einſam und übermächtig in die geſtirnte Nacht hebt, und der die 
ganze Geſchichte dieſer Länder ſah, den verzweifelten Rampf der Krieger, die lindernde Fülle der 
ſanften Natur, Erde und Himmel und bie vielbewegten blauen Fluten des Fonifden Meeres — 
er läßt nun die modernen Rieſendampfer mit einer Fracht vergangen heitsfremder Menſchen an 
ſich vorüberziehen, und iſt immer noch derſelbe, in ſich gefeſtigt, unferem Zeitbegriff nicht unter 
tan, ein Titan, der mit Elementen ſpielt. 

Aber auch ſonſt iſt die Nacht wunderſam erhellt von irdiſchen Lampen. Links, wenn man zurüd- 
ſchaut, ſinkt Meſſina ſchon unter den Himmelsrand. Aber rechts ſpannt ſich ein funkelndes Lichter 
band, viermal geknotet. Jeder Knoten iſt eine Stadt von Tauſenden von Menſchen. Man weiß 
nichts von ihnen, nichts, als daß fie ihre Nächte mit Lichtern erleuchten. Das iſt alles. Ihre Schick 
ſale, ihre Taten, ihr Leben und Sterben iſt uns einerlei. Wir fahren vorbei und freuen uns wie 
Kinder am wandernden Reigen der bunten Hafenlaternen und am Glitzern der erhellten Straßen- 
züge. Reggio (das alte Nhegium, zu dem die „Kraniche des Ibykus“ ziehen) iſt wohl die größte 


Das tote Spratus 139 


unter ihnen. Weiter hinten liegt Palmi, dann ſchließt fid Scilla und San Giovanni an. Darüber 
hinaus weitet fich der dunkle Spiegel. Das Meer wird frei, dehnt ſich ins Uferlofe. Horizont und 
Flut verſchmilzt in eins. 

Lautlos gleiten und vergleiten die Stunden. Grün giſchtend ſchäumt das Rielwaffer. Darin 
funkelt es manchmal von leuchtenden Meertieren. Man weiß, da unten iſt alles von Leben erfüllt. 
Gon dem taufendgeftaltigen, ſich unzaͤhlig erneuernden Leben der Nleinwelt bis zu den gewaltigen 
Saien, die zuweilen aus den afrikaniſchen Meeren herüber bis an die Grenzen von Europa 
ſchweifen. Da ziehen in langen Ketten die lila Wurzelquallen, die zu Tauſenden im ſchmutzigen 
gafenwaſſer von Meſſina wohnen, da phosphoreſzieren die mattroſa Seefedern, da windet ſich 
Khlängelnd der Denusgürtel, wie ein breites Band aus geheimnisvoll belebtem, regenbogen 
farbigem Opalglas, durch das Wellen und Fiſche hindurchſchimmern. Da bewegen ſich langſam 
die bunten See anemonen, die kleinen Loligos mit ihren ſchwarzen Augen ſchweben wie elegante 
Tinzerinnen, perlmutterfarben und zart, wie nur dieſe zierlichen Tintenfiſche es fein können. 
Die Rochen flattern mit ihrem geſchwungenen Schwimmſaum wie bleiche, nackte Fledermaufe. 
Unemüdli wandert das zahlloſe Heer der Fiſche, bis zum ſpringenden Oelphin und ſchief⸗ 
dugigen Katzen hai. Korallen bauen ihr rotes oder roſafarbenes, vielzackiges Gerüft, und die ge- 
waltigen Meeresſchnecken, Murer und Tritonshörner, kriechen träg und gefräßig im Schlamm. 

Nichts hat ſich ſeit damals geändert, ſeit Alkibiades mit 134 athenifchen Trieren auszog, um 
des reihe Syrakus zu ſchleifen und zu plündern. Und es find doch faſt 2300 Jahre ſeitdem ver- 
gangen und fo vieles iſt anders geworden. Stünde jener Alkibiades auf, oder Demoſthenes, der 
an dieſen Rüften mit 6000 Kriegern die Macht und das Glück Athens verlor — fie würden die 
Welt nicht wieder erkennen. Das Leben der Tiefe, die Lavaftröme und das dumpfe Qonnern des 
Aua aber find dieſelben geblieben. Alles ift fo wie in verſchollenen Griechentagen, alles, bis auf 
den ſchwuͤlen Hauch, der lechzend durch die Nacht von Afrika, dem unſichtbar im Blau verlorenen, 
fremden Rontinent, herüberkommt. Wir Menſchen aber glauben, die Rätfel des Lebens inzwiſchen 
gelöft zu haben. Vielleicht haben wir recht, vielleicht wurden wirklich Geheimniſſe entſiegelt. Aber 
dann entſtammten fie nur der vergaͤnglichen Menſchenwelt. Von den großen und zeitloſen Fragen 
des Seins war keine darunter 

Am frühen Morgen macht ſich das Schiff bereit, in den Hafen von Syrakus ein zulaufen. Man 
ſieht einen gelben, hügeligen Rüftenftreifen, öde und verlaffen in der grellen Morgenſonne. Auch 
das iſt ein Geſtorbener. Er war einſt das antike Vorgebirge Plemmyrion. Heute ift er eine trau- 
tige Tuffbank, die nur die eine Funktion hat, den Hafen gegen Süden zu vom offenen Meere ab- 
zuſchlie ßen. Dieſer „Porto grande“, der durch feine ausgezeichnete Lage einer großen Handels- 
ſtadt würbig wäre, ift faft leer. An feinem rechten Rande ſitzt die Stadt, enggedrängt, in Terraſſen 
aufgeſteilt. Rommt man näher, fo ſieht man, daß das eigentliche Ufer viel weiter nach links liegt, 
und daß Häufer und Straßen ſich auf einer Halbinfel zuſammengefunden haben, die ſchmal und 
halbmondförmig ins Meer hinausragt. 

Vollte man die blutige und wechſelvolle Geſchichte von Syrakus in einem Senſationsroman 
beſchreiben, fo könnte man ihn allenfalls nennen: „Zm Banne von Ortygia.“ Denn Ortygla heißt 
jene Landzunge. Von dort begann die Stadt, wahrſcheinlich ſchon zu Punierzeiten, denn man 
vermutet, daß „Syrakus“ ein phönizifches Wort iſt, das „Oſtland“ bedeuten ſoll. Von der Halb- 
inſel aus ſiedelte fie auf das Feſtland Aber; dehnte ſich weit in die Rüfte hinein, breitete ſich auf 
der flachwelligen und ſteinigen Hocheben aus, zu der hier Sizilien abfällt; reichte bis zu dem ſchma⸗ 
len, traumhaft lieblichen, purpurblauen Ryaneflüßchen, das neben dem Anapo, heute weit von 
Syrakus, gerade am anderen Ufer des Hafens mündet. Zahlen geben den beſten Begriff. Diefe 
Stadt, die heute mit ihren knapp 23000 Menſchen ein unbedeutender Provingort iſt, umfaßte 
einſt 33 Rilometer im Umkreis und vermutlich einige hunderttauſend Bürger. Sie war eine kunſt⸗ 
geſchmuͤckte Weltſtadt und obgleich ſchon unter ihren Tyrannen und im Rampfe mit Rarthago, 
det nimmerſatten Angreiferin, ſo gänzlich zerſtört, daß das Vieh in den Vorſtädten wohnte und 


140 Das tote Syratus 


die Kühe auf dem Marktplatz (der Agora) grafen gingen, doch von ſolchem Ruf, daß es nur einer 
allgemeinen Aufforderung bedurfte, um 50000 Manner in die Stadt zu locken. Die bauten (es 
war 344 vor unferer Zeitrechnung unter Timoleon) alles von neuem auf, und die öffentlichen Ge- 
bäude, ein weitgedehntes Gymnaſion, vielleicht auch ein Odeion, erſtanden ſchöner und prunt- 
voller als vorher. 

Aber Syrakus ift wieder auf Ortygia zurüdgelehrt. Es hat von all den Grokmadttrdumen feit 
langem Abſchied genommen. Es hat ſich eng und klein und ein bißchen nuͤchtern eingerichtet. Die 
Weltſtadt, oder vielmehr das, was einmal Weltſtadt war, liegt drüben auf dem fonnendürren 
Steinfeld, über das der Staub weht, jahraus, jahrein, und an deſſen Rand die malariadrohenden 
Nebel der zwei großen Sümpfe Sirako und Lyſimella in trügerifhen Streifen entlangwandern. 

Wenn Menſchen die Urheber ihres Schickſals find, jo müſſen es Städte nicht minder fein. Und 
wenn eine Stadt, fo war es Syrakus, die ſich ihr Schickſal ſchmiedete und als druckendes Zoch auf 
den Nacken legte. Sie war korinthiſche Kolonie (vordem vermutlich Phöniker-Faktorei), ganz früh, 
{chon 734 vor unferer Zeitrechnung, gegründet. Ein königlicher Flüchtling, deſſen gewalttätige 
Liebe zu ſchönen Rnaben wohl nur der Vorwand war, um ihn aus Korinth zu verbannen, Archias, 
der Bakchiade, ließ ſich dort, mitten im fruchtbaren ſikeliſchen Land, nieder. Nach 70 Zahren 
fühlte die junge Stadt ſich ſtark genug, von Ortygia auf das Feſtland hinüber ſich auszubreiten. 

Aber mit anderen korinthiſchen Lebensformen hatte man auch die hochmütigen Traditionen 
einer un verantwortlichen Adelsherrſchaft von der Mutterſtadt mit herübergebracht. Seit dem 
erſten „Tyrannen“ von Syrakus, Gelon von Gela (wobei man unter Tyrannen nicht etwa einen 
Robes pierre, ſondern einen meiſt ſehr tüchtigen und begabten Mann verſtehen muß, der mit ener- 
giſcher Hand das Wohl der Stadt durchſetzte und nur eben keine Erbfolgerechte beſaß), um 485 vor 
Chriſtus bis zur Eroberung durch die Römer, um 212 v. Chr., die das tatfächliche und endgültige 
Aufhören der Bedeutung dieſer antiken Weltſtadt einleitete, haben die Bewohner ſich nicht ent- 
ſchließen können, eine klare, ihrer Ziele bewußte Politik zu treiben. Eine Regierungsform wird 
gewaltſam von der anderen zertrümmert. Tyrannenherrſchaft und Republik, dann und wann 
von einer Pöbeldiktatur auf kurze Zeit unterbrochen, liegen fic ſtändig in den Haaren. Feldherren 
(wie Hieron II. von 275 bis 216) werfen ſich zu Königen auf. Andere (wie Agathokles 317 bis 
289) werden durch Gift und Verrat beſeitigt. Der politiſche Mord iſt an der Tagesordnung, und 
die Unruhen nehmen kein Ende. Syrakus, das jeden Anſturm von außen ſiegreich abgewehrt hat 
und ein halbes Jahrtauſend uneinnehmbar iſt, bietet in ſeinem Inneren geradezu das typiſche 
Bild griechiſcher Stadtregierung, die durch Unfügſamkeit, Treuloſigkeit, Volks aufwiegelung durch 
gewiſſenloſe Hetzer und prahleriſche Einſichtsloſigkeit in ſtändigem Zerfall begriffen iſt und nur 
durch Gewaltherrſchaft Jahre ruhiger und reicher Entwicklung genießt. Denn wirklich, rechnet 
man zuſammen, was die „Tyrannen“ für dieſe Stadt getan haben, wie ſie Sorge trugen, ſie mit 
Tempeln, Schatzhäuſern, Raftellen, Arſenalen und ſonſtigen öffentlichen Bauten, mit Bildwerken 
und Luxusdingen zu ſchmuͤcken, wie fie alles, was zu jener Zeit neue Formen der Geiſtigkeit 
prägte, förderten und zu fic beriefen, fo wird man ſicher eine andere Meinung von den wirklichen 
Zuſtaͤnden haben, als die Schillerſche Ballade „Die Bürgſchaft“, die ſich auf Dion yſos I. von Sy 
rakus bezieht, uns einprägen möchte. Denn dieſe ſelben „Tyrannen“, deren Herrſchaft angeblich 
fo unerträglich war, daß man Meuchelmöͤrder zu ihnen ſchicken mußte, hatten Geſchmack genug, 
eine Reihe der damals größten Dichter, darunter Pindar und Aiſchylos, jahrelang an ihrem Hof 
als verwöhnte Säfte zu hegen und berühmte Plaſtiker ſelbſt aus Athen (fo Ralamis) mit Auf- 
trägen zu bedenken. 

Darüber hinaus beſchirmten fie die Stadt nicht nur vor den ſtändig drohenden Angriffen der 
Punier, ſondern auch vor der Raubluſt der atheniſchen Landsleute. Von dem verzweifelten Ernſt 
ſolcher Rämpfe kann man ſich einen Begriff machen, wenn man lieſt, daß jener entſcheidende Sieg 
Gelons bei Himera, der Syrakus zur erſten Stadt Siziliens machte, über 200 karthagiſche Sa- 
leeren und 100000 Soldaten fo völlig erfochten wurde, daß nur eine einzige Barke nach Karthago 


Das tote Sptatus 141 


entkommen fein ſoll. Später, als der Feſtungsring mit dem nach Weiten vorgeſchobenen mächtigen 
Fort Eur palos ſchon vollendet war (man hatte gegen Ende des 4. Jahrhunderts ganze fremde 
Stadtbevdllerungen zwangsweiſe dort angeſiedelt, um die große Vorſtadt Epipolae mit Bewoh- 
nern zu füllen) tat ihnen freilich eine Peſt, die aus den großen Salzſeen an der Rüfte des Plem- 
myrion aufſtieg, den Gefallen, das dort lagernde Heer des Himilco gründlicher zu vernichten, als 
die ſyrakuſiſchen Schwerter dies vermocht hätten. Vielleicht hätten die Tyrannen mit Archimedes! 
Hilfe ſich auch des römiſchen Angriffes unter Marcellus entſcheidend erwehrt, wäre nicht eines ver- 
räterifhen Spaniers Hand das tuͤckiſche Zünglein an der Wage geweſen. An der lieblichen Are- 
thufaquelle, dem kleinen Stadtheiligtum, dort wo heute die Tulpenbäume blühen und friedliche 
Enten unter Bapprusitengeln im klaren Waſſer plätſchern, drangen die Römer in die Stadt ein. 
Die vom Dianenfeft trunkenen Verteidiger leiſteten kaum Widerſtand. Tyche, Epipolae, Neapolis, 
die jenfeitigen Dorftddte, waren ſchon in römiſcher Hand. Der große Stadtteil Achradina und die 
Ortygia wurden wehrlos gemacht mit dieſem Verrat. Archimedes ward erſchlagen, eine ungeheure 
Beute fiel Rom zu. Die Größe von Syrakus, von der Cicero noch begeiſtert ſpricht, ſank in wenigen 
Generationen. Die Stadt verfiel, verengte ſich, und zu chriſtlichen Zeiten hauſte ein Häuflein 
Schutzbeduͤrftiger und Beſitzloſer in den Ruinen der Vergangenheit, hoffnungslos und immer 
mehr zufammengedrängt wie eine Horde von Schakalen in ihren halbverſchütteten Schlupfwinkeln. 

An alles dies denkt man, wenn man den Boden von Syrakus betritt. Weißleuchtend empfängt 
die Stadt den forſchenden und pruͤfenden Blick. Sie ſieht ſehr afrikaniſch aus mit ihren geraden 
Faſſaden und den flachen Dächern, zwiſchen denen faft nirgends wohltätiges Grün auffproßt, 
ausgenommen die breite Hafenpromenade und eine ſchöͤne, ſchattige, freilich winzige Parkanlage, 
die durch einen waſſertropfenden Grottenbogen hinüber zur Arethuſaquelle führt. Früher ſüß 
und trin kbar, war fie einmal ſicher eine ſebr große Verlockung, ſich hier niederzulaſſen. Zetzt ſoll 
ſie durch eines der zahlreichen ſiziliſchen Erdbeben etwas ſalzig geworden ſein und hat wohl eine 
unterirdiſche Verbindung mit dem Meere. Aber das Märchenhafte und Traum verlorene iſt ihr 
geblieben, in deren fanftes Riefeln ſich das nicht minder ſanfte Rauſchen der Papyruskronen 
miſcht, die federig und bräunlich zart wie eine durchſichtige Kugel auf den bis zu 6 Meter hohen, 
kantigen Stengeln ſtehen. Halb aufgeſchloſſen und von den vier ſpitzen Nelchzipfeln eingefaßt, 
die dann fpäter abfallen, erinnern fie an ägyptiſche Hieroglyphen, in denen fie als Sinnbild einer 
Provinz immer wiederkehren. Sie find ja auch Kinder des Nils, und die Araber, die fie beim 
großen Sarazeneneinfall mitbrachten, um die feuchten, halbverlandeten Ufer des Anapo und 
des Nyaneflüßchens zu bepflanzen (wo fie heute noch mit ihrem weithin ſichtbaren einförmig 
hellen Grün verwildert wuchern, als der einzige Papyrus, der in Europa ungepflegt und anders 
als in botaniſchen Garten wächſt), haben wohl kaum daran gedacht, daß dieſe Pflanze alle in es 
fein würde, die ſie in Sizilien überlebte. So wie auch Archimedes ſicher nicht davon geträumt hat, 
daß er in dem kleinen Stadtpark von Syrakus einft ein Bildwerk haben würde, das ihn, die 
Schraube (die feine Erfindung geweſen fein ſoll) und den Hebel neben ſich, darſtellt als einen 
junglingshaft ſchmächtigen Greis mit langem Bart und bewegter Geſte, immer noch den erho- 
benen Brennſpiegel in der Hand, um die römiſchen Schiffe damit anzuzünden. Angeſichts dieſes 
ſchlanken, gepflegten Menſchenkörpers, dem man es anſieht, daß er ſeit Generationen nur den 
Mühen des Geiſtes zugetan war, ſteigt unwillkürlich jener „Denker“ von Rodin in der Erinnerung 
auf, erdſchwer, gewiſſermaßen belaſtet von feiner eigenen Muskelkraft, mit geballten Fauften um 
Gedanken ringend. Und wieder einmal empfindet man die grundlegende, bis in die entſcheidenden 
Tiefen des Plasmatiſchen hinabreichende unüberbrüdbare Verſchiedenheit der Menſchen diesſeits 
und jenfeits der Alpen, und fragt ſich ſeufzend, warum uns erſt jetzt, nach 2000 Jahren überflüf- 
ſigſter Opfer um Unerreichbares, dieſe Einſicht dämmert 

Die Wege hinaus zu der weiland antiken Stadt find von unbeſchreiblicher Frembdenfeindlidteit 
und jetzt, im frühen März, bereits in die unüberfhaubaren Staubwolken eines endloſen Som- 
mers gehüllt, die der freiſtreichende Wind in langen Wirbeln aufwühlt. 


142 Das tote Spratus 


Man betrachtet dieſes öde, ſonnen verbrannte Hochfeld, das einſt eine reiche und prunkende 
Stadt trug, die zu den Wundern ihrer Zeit gehörte. Oüͤrre, gelbe Grundftüde, kreuz und quer von 
balbhohen, oft genug zerfallenen Mauern eingefriedet. Einſame, verwahrloſte Hütten, in denen 
Rinder ſchreien und über deren Dächer Zuckerrohrhalme hinauswachſen. Und, überall dem Blick 
begegnend, verſtreut, einzeln oder zu zweien und dreien, hohe, düftere Zypreſſen, im Winde 
ſchaukelnd wie ſtaubbedeckte Totenfahnen. Und das geht, ſoweit das Auge reicht, ohne Ab- 
wechſlung, ohne Steigerung, bis am Rande des Horizontes der weißliche, ſchattenloſe Himmel 
es blendend abſchließt. 

, Das ift alles, was auf den erſten Blick von der einſtigen Griechenſtadt Syrakus zu ſehen iſt. 

Es iſt tatſaͤchlich faſt nichts übriggeblieben, als das, was Menſchen hand mühevoll aus dem le⸗ 
benden Stein herausgemeißelt hat, der, vom Plemmprion heruͤberzie hend, überall bis zur fieber; 
reichen Anapoebene den Grund der Kuͤſte bildet. 

Die Linie einer mächtigen Mauer, von der die Achradina im Weſten und Norden umgeben 
war, die bis zum Fort Euryalos reichte und dann offenbar wieder zum Hafen zurückkehrte, iſt im 
großen und ganzen noch in Trümmern feſtzuſtellen. Es ſteht auch noch einiges von den fünf Zür- 
men des Forts, und die unterirdiſchen Gräben mit Ausfallöffnungen, alles in Fels gehauen, find 
gut erkennbar. Der Blick von dort, der weit über das Vorgebirge, den Porto grande und Ortygia 
ſchweift, iſt großartig und erſchütternd zugleich. Dieſe in Staub zerfallenen, ſchweigſam wieder 
in die geduldige Erde hineingekrochenen Menſchenwerke muten an wie ein erbarmungsloſer 
Kommentar der Gegenwart, jeder Gegenwart, denn jede Gegenwart iſt von Hoffnungen, Wün- 
ſchen und Plänen ins Zeit; und Grenzenloſe hinaus durdgliht. 

Im allgemeinen kann man ſich die Art und Veiſe, wie ganze Städte in den Boden verſinken, 
nur ſchwer und meiſt unrichtig vorſtellen. Immer glaubt man an ſchreckhafte Rataftrophen, an 
Erdbeben, Stürme, Zyklone, die keinen Stein auf dem anderen laſſen und in aufgähnenden Spal- 
ten ftüdweife die Oberwelt begraben. Die Wirklichkeit ift weit weniger romantiſch und doch nicht 
minder grauenvoll in ihrer gleihmütigen, emſigen Sachlichkeit. Die winzige Welt von Klein; 
weſen, die jede Erdfcholle bewohnen und alles Verweſende wieder in junges Grün umwandelt, 
iſt es, die alles einebnet. Sie tut es ganz lautlos, ganz heimlich. Jahrhundert um Jahrhundert 
bauft fie über die Trümmer menſchlicher Kultur Erd koöͤrnchen und Sand. Ganz allmählich werden 
die Dinge eingefargt durch die unaufhörliche Tätigkeit von Millionen folder Geſchöpfe, die 
ſtändig auf dem ganzen Erdball die Oberfläche feiner Rrufte zerkratzen, zerſcharren, durchgraben, 
zernagen, trimein und in einem ſteten Kreislauf von Freſſen und Gefreſſenwerden, von Ab- und 
Aufbau des Lebensſtoffes verändern und erneuern. 

So, auf dieſe einfache und ſehr natürliche Art iſt auch das alte Syrakus, ſoweit man die Men; 
ſchen habe nicht vorher wegſchleppte und die Steine forttrug, um anderswo neue Hdufer mit ihnen 
zu bauen, in die Erde eingewandert. Wie tief, davon kann man ſich einen entſprechenden Begriff 
machen, wenn man die beiden Säulen in der Via Diana der neuen Stadt ſich zeigen läßt, die zu 
einem ſehr frühen Apollotempel gehören, deſſen übrige Reſte annähernd 5 Meter unter dem heu- 
tigen Straßenpflafter liegen. Es war ein ſehr großer Tempel und man ſchätzt, daß er aus dem 
6. Jahrhundert vor unſerer Zeitrechnung ſtammt. Und doch iſt er faſt ganz verſchwunden und man 
mutmaßt nur, daß er 19 Säulen in der Länge und zwei Reihen von je 6 Säulen in der Vorder- 
front beſeſſen habe, und daß ein Tyrann Rleomenes der Verfaſſer jener altertümlichen und nur 
in Brudftüden noch entzifferbaren Schrift geweſen fei, die, als Widmung an den Gott, auf der 
oberſten Stufe des Unterbaues eingegraben iſt. 

Eine einzige Säule iſt auch von der Agora übriggeblieben, die nahe an der jetzigen Straße nach 
Catania ſteht, dort, wo ſich zwiſchen der Achradbina und Ortygia einft der antike Marktplatz be- 
fand, den eine Anzahl prachtvollſter Gebäude umſchloſſen haben ſoll. Und auch unten in der An apo 
niederung ragen zwei einzelne Säulen, doriſch, aber ihres Rapitells beraubt. Dort befand ſich das 
Olympeion, ein Palaſt von edelſten Formen nach den Berichten der Zeitgenoſſen. Heute kommen 


Pas tote Spratus 143 


vom ZI Pantano, dem großen Sumpf am Ryanefluß, bie giftigen Nebel herüber, das Röhricht 
tauſcht mit trauriger Stimme, und die Zikaden heben ihr Schrillen gegen einen Himmel, der 
gleich unbarmherzig gegen die Toten wie gegen die Lebendigen iſt. 

Nur einer jener von Cicero begeiſtert gerühmten Tempel hat ſich erhalten. Er war einſt der 
Athene geweiht, mit Bildwerken aus edlem Metall geſchmuͤckt und ein Höhepunkt des ſonſt ſchlich 
ten doriſchen Stiles. Die Türen ſtrotzten von elfenbeinernen Figuren und waren reich mit gol- 
denen Rnöpfen beſchlagen. An der Cellawand im Hintergrund befand ſich ein Gemälde der 
Schlacht des Agathokles, und außerdem bewahrte man dort 27 Bilder von ſiziliſchen Tyrannen 
und Königen auf. 

Set iſt von dem allem keine Spur mehr, denn dieſer Athenetempel iſt — der Dom von Syra- 
kus. Man hat nicht allzuviel an ihm geändert. Nur bie Vorder- in die Rüdfeite verkehrt (denn auf 
dieſer befindet ſich jetzt der Eingang), den Längsſäulengang in eine Mauer verwandelt, in die 
ziemlich roh die doriſchen Säulen hineingeklebt ſtehen, und darüber die Wand erhöht, um Fenſter 
ausbrechen zu können. Eine Barockfaſſade foll das ganze Stuͤckwerk verhüllen und wahrſcheinlicher 
machen. Aber es geht mit dieſer Kathedrale wie mit dem Chriſtentum ſelber. Man kann in der 
Levante den neuen Gott von der alten Antike unendlich ſchwer trennen, und es gibt eigentlich 
kine Zeitangabe, angeſichts derer man genau fagen könnte: damals herrſchte noch der Olymp, 
und von da an trat das Chriſtentum an ſeine Stelle. 

Dennoch hat der lebende Stein der Vorſtadt Neapolis das Bild einer untergegangenen Kultur 
noch beſſer erhalten, als die Umwandlung in eine chriſtliche Kirche (von der man übrigens nicht 
weiß, wann fie geſchehen iſt). Ich meine die großen Schauftüde von Syrakus, feine antiken Thea- 
ter, die Gräberftraße und die Latomien. 

Alles das ift erſtaunlich lebendig geblieben. Mag fein, daß man uns ſeit Generationen diefes 
Bild des Hellenentums am ſtärkſten eingeprägt hat und daß wir beim Anblick des griechiſchen 
Theaters gewiſſermaßen etwas Vertrautes und Altbekanntes zu ſehen glauben. Aber dieſe ftei- 
nerne Bühne mit ihren vielen übereinandergetürmten Stufenſitzen (ſchon die Oramen des 
Aiſchylos wurden auf ihr geſpielt) macht wohl auf die meiſten den nachhaltigſten Eindruck. 

Die Steine find in dieſem regenarmen Land kaum angewittert. Eher ſcheinen fie von vielen 

ungeduldigen Füßen zertreten zu fein. Die Sonne ſtrahlt von den unzähligen Stufen blendend 
wider. Blau blitzt das Meer, über dem da und dort die großen Lateinerſegel ſtehen. Von Syrakus 
kommen dann und wann Rufe, Lärm, Hämmern oder Lachen herauf. Man ſieht hinüber auf 
feine flachen Dächer, feine ſteilen, grellen Faſſaden. Es wimmelt neben uns von Eidechſen. Die 
Snfetten ſummen um himmelsfarbenen Bienenſaug. Es duftet nach Lorbeer, nach bluüͤhendem 
Oleander, nach Rofen. Irgendwo in der Nähe rauſcht die gewaltige Waſſerleitung, die das reine 
und kalte Naß der Quellen ſchon zu antiken Zeiten vom Plemmyrion herunterleitete, und die 
heute noch Geſundheit und Rible ſpendet, trotzdem fie zum Teil ſchon verfallen tft. Auch in anderer 
Beziehung ijt fie der Wegweiſer zum Einft. Aus ihrem Verlauf und der Wiederaufdeckung zahl- 
reicher an fie angeſchloſſener Brunnen konnte man die Lage der ehemaligen Stadt auch dort er- 
kennen, wo nur noch die Einöde einer längft übergrünten Schuttfläche vorhanden iſt. 
» Aber dieſes griechiſche Theater hat immer noch etwas von dem vergangenen Lächeln verfchol- 
lener Welten. Es iſt [hiner oder mindeſtens nicht weniger ſchöͤn als das zu Taormina. Es iſt auch 
verlaſſener; hat noch etwas von dem Reiz des Un berührten. Die Zeit ſteht hier horchend ftill. Wo 
ift das Echo, das antwortet? Das die geſtorbenen Ideen neu erweckt? 

Es iſt kein Echo. Auch die erſten Überwinder diefer Welt find gleichfalls dahin. Das römifche 
Amphitheater iſt faſt noch verfallener. Der Frühling von Syrakus hat von ihm Beſitz genommen. 
Große Orchideen zerſtreuen ſich wie lila Kerzen im zarten Grün, Löwenmäulchen, leuchtend wie 
aus Scharlachſamt, ſteife, gelbe Wachsblumen. Man fühlt noch den Stein unterm Fuß, aber man 
tritt ſchon auf Rafen. Auch die Arena unten iſt ein Pflanzenteppich geworden. Man konnte fie 
einſt zu Waſſerſpielen in ihrer Mitte in ein Baſſin von doppelt mannshoher Tiefe umwandeln. 


144 Requiem 


Seht erkennt man noch die Anlage und die Verbindung mit unterirdiſchen Randlen. Ger den Gan- 
gen der Gladiatoren hängt blühender Zelängerjelieber. Ralt weht es aus dem Dunkel hervor, 
dort, wo einſt die wilden Tiere zu den Rampfipielen verwahrt wurden. Aber Tiergebrüll und 
Gladlatorenruf hier, Berfe von Pindar und Aiſchylos und die Traveſtien der Luſtſpieldichter 
(vielleicht jenes witzigen Epicharmos, des Tyrannenfreundes) drüber ſind beide dahin. Auch die 
Namen Hierons und einer Nereis — man glaubt, es war feine Schwiegertochter — find nur 
noch Linien, die man in einen Stein gegraben hat, der einſtmals Koͤnigsſitz im griechiſchen Theater 
war. Auch jener zerbröckelnde Altar desſelben Hieron, der heute noch 1014 Meter hoch iſt, und auf 
dem gleichzeitig 450 Stiere geſchlachtet worden ſein ſollen, hat keine Bedeutung mehr. Auch die 
Gräberſtraße, die ſich ſchmal und mit tiefen Radſpuren immer noch vom griechiſchen Theater 
emporwindet, mit finſteren Höhlungen zu beiden Seiten, denen aller Schmuck fehlt, und die zu⸗ 
weilen jo eng find, daß wohl nur Aſchenvaſen darin aufgeſtellt werden konnten, — das alles ijt 
zerbrochene Form, die niemand mehr zuſammenkitten wird und kann. 
Annie Francé-Harrar 


Requiem 


aß du, alter Freund, lieber Wanderer mit der Geige in der Hand und dem Lachen der 

Arglofigteit auf den Lippen, in jenen Elementen wieder ein Teil bit, ein Hauch in jener 
Luft, die ich ſo begierig einatme, erfuhr ich an einem Abend der milden Farben und des Friedens, 
Die Schnelligkeit unſeres fo geprieſenen Jahrhunderts hatte deinen Kopf an den Prellſtein 
einer der großen Automobilſtraßen geſchmettert, ſo daß in einem Augenblick all deine frohen 
Einfälle mit deinem Leben ausgelöſcht waren 

Welch ein Jahrhundert! Es haſtet und eilt, es ſchwirrt und klirrt, es geht ſo raſend vorwärts, 
gibt kein Halten. Mach Platz! Freund, um Himmels willen ſieh dir nicht von der Straße aus 
eine dir anmutig erſcheinende Hausfaſſade an, werde nicht alt und langſam, ſei nicht ſorglos 
wie ein Kind, das fröhlich ſpielt — es iſt dein Tod, denn der Verkehr kann keine Rüͤckſicht nehmen, 
er muß dich überrennen. Du flüchteſt in menſchliche Wohnungen mit dem Oruck der Angft, 
dem Gefühl des Geſtoßenwerdens am Körper, weil die wild bewegte Straße dich hetzt. Doch hier 
umfängt dich von neuem ein Klappern unter haſtigen Händen, die Gedachtes ſchnell, nur nicht 
langſam, zu Papier bringen; ein fortwährendes Klingeln zwingt das übermübete Ohr, fernen 
Nachrichten, deren Wichtigkeit oder Unwert dem Hörenden kaum noch ins Bewußtſein dringt, 
zu lauſchen. Du eilſt an den Rand der Stadt. Bergwerke ftiirgen zuſammen und ein Zug un- 
geheuerlichen Leids wälzt ſich zu den Friedhöfen. Das Leid ſchüͤttelt die Geſichter. Doch in den 
Fahnen rauſcht es: Kein Entrinnen gibt es dem Schickſal! Und in klugen Gehirnen wird die 
Moglichkeit erwogen, wie ganze Städte, ganze Landſtriche durch Gas, Feuer und Schwefel 
wie mit einem Federſtrich zu vernichten ſind. 

Halb träume ich wieder, und es ſteigen wie die Nebel auf den Havelwieſen, jenen Wieſen 
grün und voller Blumen, wo vor zwölf Jahren die Wandervogeljugend Volkstänze tanzte zu 
deiner Geige, wie Nebel voller Geſtalt und Bedeutung Bilder auf, die ſo klar ſind, wie das 
Land, das unter den Blitzen aufleuchtet, während der Regen ihm die friſchen Farben des erſten 
Schöpfungstages wiedergibt. Haydns Kinderſymphonien, Schiffsbauten und Ritterſpiel mit 
viel Lärm, zerhauenen Holzſchwertern, herrlich bemalten Schilden, die nach dem Kampf in 
Stüden lagen, Bogenſchießen mit Pfeilen, die heimlicher - und verbotenerweiſe mit Nägeln an 
den Spitzen verſehen wurden, ſo daß dem Walter, der nachmals ein ſo guter Maler geworden 
iſt, faſt das Auge ausgefchoffen wurde. Schneeballſchlachten, Schlittenfahren, Bratäpfel am 
Abend und gemeinſames Schulaufgabenmachen, Beduinen und Eskimoſtimmungen und 
die Schule mit ihren merkwürdigen Regenten, die wir nicht liebten, weil fie uns auch nicht 


Requiem 145 


liebten; die Fähigkeit, in Maſſen rohe Kartoffeln zu eſſen, mit welcher Fähigkeit wir auf Jahr- 
märkte ziehen wollten, alles dies beſchäftigte uns hinreichend, um glücklich zu fein. 

Das Theaterſpielen bildete den Höhepunkt unſerer ſtattlichen kleinen Geſellſchaft, die im 
ſogenannten alten Sanatorium, einem großen, gänzlich leerſtehenden zweiſtöckigen Gebäude, 
Kuliſſen ſelbſt malte, alte Möbel zu wundervollen Szenerien verwandte und mit Oleandern 
in Kübeln von den Gartenwegen eine Parklandſchaft für das große Duell mit den prachtvoll 
dröͤhnenden Piſtolen aufbaute. Begeiſtert von der napoleoniſchen Zeit und den ſoldatiſchen 
Ehrbegriffen ſchrieb einer von uns — er liegt längſt in Frankreich begraben — ein Stück, das 
ſogar die Billigung der Alten fand; ja, bei der Aufführung war ein alter General ganz begeiftert 
von den verdammt exakt militãriſchen Bewegungen der verflirten Bengels. Napoleon kam fogar 
vor an feinem Arbeitstiſch, von einem rieſigen Hut beſchattet, Talleyrand war groß in Ver- 
beugungen und der Anrede Sir; de la Croiſe und Maſſena duellierten ſich um eine Cécile oder 
Madeleine, die gleichfalls einer der Unferen ſpielte, während im Schlußakt durch rollende Hanteln 
Geſchũtzdonner gemacht und ſämtliche Gaſſenjungen der Umgegend mit uns ihr Vive l'empereur 
brillten. Dies alles hinderte nicht, daß wir unferen guten alten Pfarrer in der Konfirmanden 
ſtunde ein anderes Bild von Napoleon, als wir es uns malten, entwerfen ließen, der den großen 
Dann nur als „das Scheuſal jenſeits der Vogeſen“ bezeichnete. 

Im Herbſt wurde es „jo langweilig“ in der Schule, wie wir unſeren erſchreckten Angehörigen 
mitteilten, denen gerade die Zeit vom Herbſt bis Oſtern als eine dugerft wichtige Schulan- 
gelegenheit in Erinnerung war, daß wir zur Abwechflung einen richtigen Bootsbau anfingen 
mit ſehr wenig Geld. Wir knüpften Freundſchaft in der Sägemühle an, wo unter anderen kräftigen 
Männern ein gewiſſer Lieſegang beſchäftigt war, ein alter Bootsbauer von der Vaſſerkante. 
Es ſollte eine Segelſcharpie, wie der Fachausdruck unſeres Baſtlerbuches hieß, werden, für nur 
zwanzig Mark. Die Seitenbretter wurden geſchnitten, ins Waſſer gelegt und geſpannt, dann 
der Boden angefügt und alle Ritzen mit Werg gedichtet. Das meiſte machte Lieſegang, während 
wir uns ſehr tätig vorkamen. Unterdeſſen war es Frühling geworden. Eines ſchönen Tages wurde 
das Boot angefahren, im Hof abgeladen und zwiſchen die Hühner geſetzt auf den gelben Sand, 
wo wir es ſelbſt ſtreichen wollten. Der Maſt wurde errichtet, bunte Wimpel aufgezogen, wir ſetzten 
uns alle unter das Segel und lebten der völligen Illuſion, bald auf dem nahen See zu kreuzen. 
Hierzu wurde uns die Erlaubnis von den Pächtern nicht erteilt, ſo daß wir wohl ein Boot, aber 
nicht das dazu nötige Waſſer hatten. Und das Unangenehmſte war bie von dem Sägemüller 
dem „Druck von oben“, wie wir unſere Eltern nannten, prdjentierte Rechnung, die das Fünffache 
des in dem Buch angegebenen Koſtenanſchlages betrug, was gänzlich unſere Tafchengeldvor- 
ſtellungen überftieg. Das Ergebnis des fo „langweiligen“ Schuljahres war Sitzenbleiben, und 
ſo ſaßen wir nun in unſerem Boot bei ſchönem Wetter, während der weiche Kiefernwind unſere 
Segel blähte. Demuͤtigungen blieben uns nicht erſpart. Ein befreundeter Marineoffizier, der 
die Schwimm; und Segeltüchtigkeit des Bootes begutachten ſollte, zuckte ſehr geringſchätzig die 
Achſeln und meinte „nicht zehn Taue hielten ihn in dem Seelenverkäufer feſt“, und mütterliche 
Bekannte veranſtalteten ſonntägliche Zuſammenkünfte und Schmaufereien auf dem ſicheren 
Boot, dem fie auf dem Waſſer ſich nie anvertraut hätten. Später, nach zwei Jahren, brachten 
wir dann unſere „Nixe“ auf die Havel und machten viel glückliche Fahrten ohne Havarien. 

Kennſt du die Havel im Frühling, wenn der Wind in den Kiefern auf den Höhen rauſcht, wenn 
ſich die Wogen blaugrau wölben, die Kähne mit Teer friſch geſtrichen kieloben liegen, um in der 
Sonne zu trocknen, Netze geflickt werden, irgend ein Hämmern die feiertägliche Stille unter- 
bricht, eine Fähre zu einer Inſel herübergezogen wird und ganz fern drüben am Horizont des 
Waſſers helle Dörfer aufleuchten? Wenn die Wildenten und die Haubentaucher ſchnattern und 
im Schilf wieder Leben ift, in jenem Schilf, das den ganzen Fluß entlang wächſt und fo merk⸗ 
würdig klar und etwas klagend in fahle, verdämmernde Abende nickt, während einige zerzauſte 
Kiefern auf Vorſprüngen des Urſtromtales, auf den hohen Sanddünen wie treue Wächter 

der Türmer XXVII. 2 10 


146 edateſpeates Rantheit und Cod 


über den Fluß ragen, um die die Raben ſich vor der Nachtruhe zanken! Dort an den Ufern, in 
den Wäldern, auf den Inſeln loderten unſere Sonnwendfeuer auf, traf ſich die gange wandernde 
Sugend, war an den Tagen getanzt, gefpielt und geſungen worden, ging es fo luſtig, fo freudig 
zu. Die Wieſen waren grün, Waſſer und Himmel blau, die Kleider und Blumen der Mädchen, 
die Geſichter der Jungen fo frifch. 


Hans Spielmann, der ſpielte und die Fiedel die ſang — 
Du gute alte Vigolin, ja Vigolin, du Fiedel mein! 


Und der Wind trug die Tine fo weit, daß all den Scharen, die noch durch den Wald heran- 
wanderten, die Freude ans Herz ſprang. Ein Rythmus waren die Heimmärſche in der Nacht 
mit Fackeln vor und hinter dem Zug, mit deiner Geige, Flöten und Lauten, mit dem Singen 
der Unſterblichkeit in den Reihen, ſo tauſendfältig und ſtark. Es lebte ja alles wieder! In den 
Liedern zogen die Landsknechte und Bauern, die Soldaten und Offiziere, das verlaſſene Madchen 
und der Tod, die Ernte, der Frühling und Sommer, das ganze deutſche Leben. 

Und ſpäter ſaßeſt du auf deiner Scholle in Schleſien, wo vor den kleinen Fenſtern die rote 
Sonne des Morgens und Abends brannte, wo die Luft rauh, das Dorf arm, Tiſche und Stühle 
aus feſtem Holz waren; dein Pferdeſtall wärmte, deine Frau mit dem Jungen, deſſen Bruſt 
ſo breit, wie ich ſie noch ſelten geſehen, lachte froh und die Geige klang wieder, wenn die Freunde 
beiſammen ſaßen und wir Luckner erwarteten. 

Dein Korn wurde noch auf alte Art gedroſchen. Die Pferde zogen den Göpel und ſetzten die 
Maſchine in Bewegung. Es war oft etwas nicht in Ordnung, oft blickte dein Kopf aus der im 
Oreſchſtaub verſchwimmenden Scheunentuͤr, um „weiter“ zu rufen, und das iſt mein letzter 
Eindruck. 

Groß, mit breiter Bruſt und feſtem Rücken, mit einer ſcharfen Naſe und braunen, klugen 
Augen, die ausgeprägten Falten zwiſchen den Brauen, mit dunklem Haar und der ganzen 
Gutmütigkeit deiner Perſon und Hände, die mich ein letztes Mal über Land fuhren im Schnee, 
ſtehſt du vor mir. Wie gern würd’ ich dir noch einmal die Schneeſchuhriemen feſter ziehen! 

Nun iſt das Lied aus. Aber das weiß ich: 

Wenn die Jugend, die künftige und die fernſte, zu neuen Fahrten in neuer Hoffnung aus- 
zieht und fie fingen an deinem Grab vorbei, dann wirft du, wo du nun auch fein magſt, ihnen zu- 
nicken und wieder mit ihnen ziehen als Lied — als Ton einer Geige. 


Sandro Langsdorff 


Shakeſpeares Krankheit und Tod 


on Shakeſpeare wiſſen wir nur mit Beſtimmtheit, daß er in Stratford zur Welt kam, 

heiratete, Kinder hatte, nach London ging, dort Schauſpieler wurde, Gedichte und 
Dramen ſchrieb, nach Stratford zuruͤckkehrte, ſein Teſtament machte, ſtarb und begraben wurde.“ 
Der bekannte Satz des alten Stee vens, ebenſo inhalts voll wie „biographiſch“ troſtlos, befteht im 
Licht der modernen Shakeſpeareforſchung nicht mehr zu Recht, während er mit Vorliebe noch 
immer von Baconianern und ähnlichen Gelehrten ins Treffen geführt wird. Das Leben eines 
ſolchen Genies könnte doch unmoglich von den Zeitgenoſſen fo ganz unbeachtet geblieben fein. 
Nun — von dem Schwan vom Avon ſprechen zahlreiche zeitgenödſſiſche Zeugniſſe, und über fein 
Leben iſt dank ſeiner alten Biographen weit mehr überliefert, als wir von andern berühmten 
Eliſabethaniſchen Dramatikern, beiſpielsweiſe von „rare Ben Jonson“ und „mighty Marlowe“ 
wiſſen. Völlig unberechtigt werden biographiſche Angaben als unwahrſcheinlich oder phantaſtiſch 
verworfen. Warum ſollte er nicht feinem verarmten Vater als Burſche im Schlächterhandwerk 
geholfen haben? Warum ſollte nicht einmal ein Rehbock von ihm ſtibitzt fein, da man auf wohl 


Ehaeipearcs Krankheit und Lod 147 


feilere Art eine darbende Familie und einen eigenen jungen, hungernden Magen mit faftigem 
Braten nicht zu verſehen vermag? Der kleine Jagdfrevel, — meint Gervinus —, dürfte ſchwer⸗ 
lid feine ſchlimmſte Sünde geweſen fein; denn große Genies pflegen in Sturm- und Prang- 
perioden die Grenzen von Sitte und Geſetz nicht gar peinlich zu beobachten. 

Shakefpeare ftarb erſt 1616, und fein letztes Stück wurde ſchon 1613 oder 1611 gefchrieben. 
dieſes Verhalten nennen die Shatefpeare-Leugner geradezu — rätfelhaft, —babei ſtarb Bacon 
erft 1626 —, während ernſte Forſcher vorerwähnten Umjtand aus „pſychologiſchen“ Gründen 
im allgemeinen ſehr erklärlich finden. Nach dem Brand des Globetheaters, der Hauptſtätte 
ſeiner Wirkſamkeit, und dem Verluſt wertvoller Manufkripte hätte ſich der ſteinreiche Poet nach 
dem Vorbild feines Montaigne zu beſchaulicher Muße in das heimiſche Stratford zurückgezogen. 
die Erklärung ſcheint nicht überzeugend. Schwer begreiflich, daß ein Hirn von ſchier göttlicher 
Stoͤße plötzlich ganz aufs Schaffen verzichten ſollte, wenn die Maſchine noch tadellos arbeitet. 
der moderne Arzt, der über „Arterioſkleroſe“ genau Beſcheid weiß, kann in dieſem Fall dem 
giſtoriker wertvolle Unterſtützung leiſten. Da uns genaue ärztliche Berichte über Shakeſpeares 
krankheit nicht überliefert find, fo wird ſich die Diagnoſe aufbauen müſſen — auf Lebens- 
führung im allgemeinen, auf Leidens verlauf und dem einzigen zu unſrer Kenntnis gebrachten 
feantheitsſymptom, nämlich — Fieber. Das gibt wahrlich nur ein armſeliges Fundament, aus 
techt luftigem Stoff gewebt, aber — wir hoffen, die Unterlage durch eine neuerdings berbei- 
geholte „ſtoffliche“ Stütze, auf die wir fpdter zu ſprechen kommen werden, um ein bedeutendes 
zu ſtarken. 

der Arzt geht von vornherein in ganz andrer Weiſe an den Gegenſtand heran, als es der 
Hiſtoriker bisher tat. Statt hier ein vermeintliches Rätfel ldfen zu wollen, — als ſolches erachtete 
es auch unſer Bismarck —, ſieht der Arzt in dieſem „ominödſen“ Schweigen ein Zeichen, das ihm 
zu einer Diagnofe verhilft. Auch Nicht- Arzte fanden vereinzelt früher ſchon inftinttiv die rechte 
Spur. Go bemerkt Gervinus, der Charakter und Leben des Poeten durch das Studium feiner 
Werke zu entſchleiern trachtete, ganz kurz: „Er ſcheint lange Zeit krank geweſen zu fein.“ 

Wir wiffen von dem Didter, daß er einem Glaͤschen nicht abhold war. Faſt will es ſcheinen, 
als ob ihm des dicken Ritters anheimelnde Worte „Soll ich in meiner Kneipe nicht meine Ruhe 
haben? aus eigener Seele geſprochen ſeien. Allerdings halte ich die von einigen auf Grund 
zeitgenöſſiſcher Briefnotiz aufgeſtellte Annahme, daß Shakeſpeare den Spitznamen „Falſtaff“ 
getragen habe, für verfehlt. Aber wir wiſſen, daß Shakeſpeare ein fleißiger Gaſt in gewiſſen 
Stammlokalen, dem „Eberskopf“ und der „Seemaid“ war. Das Potatorium, wie wir es heute 
nennen, war in der engliſchen „Geſellſchaft“ noch bis zu den Tagen Pitts, ja Byrons in höchſtem 
Schwunge. Peele, Greene und andre Poeten gingen frühzeitig am Trunk zugrunde; Marlowe 
wurde von feinem Rivalen in einer Taverne erſtochen. (Nach neuentdeckten Dokumenten von 
einem Gentlemann im Zwiſt um die Zahlung der Zeche.) Erſt unter Jakob I. begann man in 
England die Benutzung der Gabel. Sicher hat das unkultivierte Hineinſchieben der Biſſen in 
den Mund bewirkt, daß man damals in höherem Grade der Völlerei huldigte, als in der „fanf- 
teren“ Folgezeit. Wenn man von jeder wohlhabenden Perſon des Shakeſpeareſchen Zeitalters 
ſchlechtweg annimmt, daß ſie, ſo lange ihr Magen geſund war, zu viel Eiweiß verſpeiſte, dürfte 
man in feiner Annahme nicht fehl gehen. Ein berühmter moderner engliſcher Arzt, der die Ur- 
face der „Arterioſkleroſe“ feſtſtellt, erinnert dabei an das Sprüchwort feines Landes: „The 
platter kills more than the sword.“ „Die große Schüſſel würgt mehr, denn das Schwert.“ 
Dazu kam die immer mehr zunehmende „Unfitte“ des Rauchens, gegen das Rönig Jakob eine 
Abhandlung ſchrieb. Seine Untertanen ſollten doch nicht ihren Mund zum Schornſtein machen. 
Wie zeitgenöſſiſche Bilder ergeben, glich die Taverne damals einem Tabakskollegium, ... nur 
ſtatt leichten Holländers — der von Ben Zonfon mehrfach zitierte echte Virginia. Raum anzu- 
nehmen, daß William ohne Pfeife in feiner Rneipe geſeſſen hat; darum zeigt ihn Pilotys be- 
rühmtes Bild als Raucher. Auch ſonſt iſt Shakeſpeare nicht gerade ein Budmäufer geweſen. 


148 Ehalefpeares Rrantheit und Tod 


Aus den Sonetten erkennen wir, daß er ſich mannhaft aus dem Sumpf, der ihn zu verſchlingen 
drohte, herauszuarbeiten ſuchte. Als charakteriſtiſches Beiſpiel Dafür diene Sonett 129: 


Om Geiſt verſchwendet man in [chnöder Schande, 
Den Sinnen fröhnend; dieſe Luſtbegier 
Kennt, unbefriedigt, keine heil'ge Bande, 

> Falſch, grauſam, mörderifch wie ein reißend Tier. 
Ein — Teufelsköder ! Wenn man ihn verſchlungen, 
Fühlt jäh von Tobſucht fi das Hirn erfaßt. 
Verachtet wird — was eben froh errungen, 
Mit gleichem Un verſtand begehrt, — gehaßt. 
Wahnſinn bringt der Beſitz, Wahnſinn das Streben; 
Des Blutes Sehnen bleibt ſtets ungeſtillt. 
Erhaſcht, — erquickt's, um — wildes Weh zu geben. 
Statt holder Wirklichkeit — ein Traumgebild. 
Das weiß die Welt, doch — wer kann widerſtehen? — 
Der — Himmel lockt, zur — Hölle mußt du gehen. — — 

(Eigene Abertragung) 

Sa, die damalige Zeit war ſehr unhygieniſch. Auch die Könige, deren Lebensfaden nicht 
gewaltſam riß, ſtarben im allgemeinen verhältnismäßig jung. Mit Wahrſcheinlichkeit wäre in 
Shakeſpeares Anamneſe zu notieren: „Bezüglich Alkohol und Speiſe nicht ſparſam; Raucher 
echten Tabaks; zeitweilig Ausſchweifungen; angeſtrengte geiſtige Arbeit als Schauſpieler, 
Theaterdirektor und ⸗Oramatiker !!“ Wenn ſich bei einem ſolchen Leben heutzutage im Alter 
von 49 Jahren arterioſklerotiſche Erſcheinungen zeigten, ein moderner Mediziner würde das nicht 
„rätfelhaft“ finden. Eine genaue Diagnofe war nicht die Sache der damaligen Arzte. Wir ver- 
muten, daß ſich bei dem Dichter Anno 1612 die erſten Beſchwerden einſtellten. Patient fühlte 
ſich oft müde, litt gelegentlich — beſonders bei Erregung — an Kopfſchmerz und Schwindel, 
bemerkte eine Abnahme ſeiner geiſtigen Leiſtungsfähigkeit. Wenn auch die Arzte kein beſonderes 
Leiden fuͤr vorliegend erachteten, ſo mag Shakeſpeare, der es ſich leiſten konnte, jetzt doch den 
Ruheſtand vorgezogen haben. Shakeſpeare und — Medizin! — Auch darüber find Bücher ge- 
ſchrieben. Vielleicht wußte der Mann, der Mutter Natur den Spiegel vorhielt, die Bedeutung 
feiner Krankheitszeichen beſſer zu beurteilen, als die damaligen Mediziner. Die meiſten Forſcher 
nehmen an, daß der Dichter im „Sturm“ Abſchied von Bühne und Publikum genommen hat. 
Es bleibt dabei wirklich gleichgiltig, ob dieſes Stück fein letztes geweſen ift, hat er doch oft feinen 
Dramen ſpãter noch beträchtliche Zufäße gegeben. Proſperos Worte „Ich breche meinen Zauber 
ſtab und vergrabe ihn Klaftertief“ u. a. m. deutet man im Sinne des Lebewohls. Wenn der 
Poet ſich in dieſen Außerungen mit Proſpero identifizierte, mag er auch noch in Sätzen, die ſich 
auf die körperliche Konſtitution des alten Magikers beziehen, an feine eigne Perſon gedacht 
haben. Die Gründe für feinen Eintritt in den Ruheſtand würden dadurch herrlich motiviert: 
Oer Ärger über Calibans Verſchwörung regt den Alten „ganz ungewöhnlich“ auf, und dabei 
miſchen ſich plötzlich auf ſeltſame Art trübfelige Empfindungen mit dem — Zorn. Die Schwäche 
feiner Ronftitution fühlend, wird er — ſchwermütig. Todesahnungen tauchen in ihm auf. „Um- 
faßt von Schlaf iſt unſer kurzes Leben. The great globe shall dissolve, der große Erdball (Doppel- 
ſinn = das große Globe Theater) muß in Nichts zergehen, wie wir ſelbſt, die wir aus Träumen 
gemacht ſind.“ Er fährt fort: „Geduld mit mir! Mein alter Kopf iſt ſchwindlig. Seid wegen 
meiner Schwachheit nicht beſorgt!“ 

Alter Kopf? In den Sonetten findet ſich Shakeſpeare bereits in der Blüte feiner Mannes 
jahre alt, und — Arterioſkleroſe ſchafft zweifellos ein frühzeitiges Greiſenalter. 

Ganz dem Landleben hingegeben, lebte er bis Ende 1615 in erträglichem Zuſtand. Zu dieſer 
Zeit aber begann er nach biographiſcher Angabe zu — kränkeln, was wohl bedeuten ſoll, daß 


Ehalefpeares Krankheit und Tod 149 


die bedrohlicheren Symptome der chroniſchen Krankheit einſetzten. Er machte fein — Teſtament. 
(Das uns erhaltene Teſtament trägt drei Unterſchriften, die ſamt drei andern als authentiſch 
gelten. Alle ſtammen aus den Jahren 1612— 1616. Nach Gutachten von Graphologen u. a. 
iſt die Schrift pathologiſch infolge Schreibkrampfs oder Alkohol Tremors. Der graphologiſche 
Befund beſtätigt unſre Hypotheſe, daß Shakeſpeare jahrelang an chroniſcher Krankheit litt.) 
Die Worte darin „Bei guter Geſundheit uſw.“ ftellen eine Formel dar, die ſpäteren Einfprüchen 
vorbeugen will und es mit der Wahrheit nicht ſo genau nimmt. Aus der Natur der Arterioſkleroſe 
lagt ſich ſchließen, daß der Patient an Herzſtörungen litt, die wir heute für ſehr ernft halten 
würden. Ein rationelles Leben hat der Patient dabei nicht geführt, und es wird ein ewiges 
Geheimnis bleiben, ob die ärztliche Vorſchrift fehlte oder übertreten wurde. Nach Bericht des 
Seiftliden Johann Ward und anderer Überlieferung trat die Rrantheit nach einer — unmäßigen 
Crnterei in ein gefährliches Stadium. „Er ward danach von einem Fieber ergriffen.“ Die 
moderne Forſchung will nicht an dieſe Trinkerei glauben, weil Ähnliches von andern zeitge- 
nöſſſchen Dichtern erzählt wird, und weil — Alkohol kein Fieber erzeugen könnte. Halliwell 
nimmt darum an, daß es ſich um ein miasmatiſches Fieber, infolge einer langen Reihe von 
Schweineſtällen bei New Place, gehandelt habe. Aber der Mediziner kann nicht zugeben, daß 
bem Geiſtlichen die Glaubwürdigkeit abgeſprochen wird. Wie leicht kann ſich ein Betrunkener 
Lungenentzündung zuziehn, fei es durch Erkältung oder Einatmung eines Fremdkörpers, letzteres 
ein beim Vomitus nicht ſeltener Vorgang. Und bei Arterioſkleroſe kann es danach noch eher zum 
Fieber kommen. Das von Alkohol gepeitſchte Herz reißt Blutgerinſel von verkalkten Gefäß- 
wänden, und das führt zu den ſogenannten emboliſchen Entzündungen, vorzüglich der Lunge. 
Das arterioſklerotiſche Herz kann ſchließlich durch Alkoholvergiftung fo gefhwächt werden, daß in 
gautgewebe und Rörperhöhlen Flüͤſſigkeit tritt. das Odem wird im Geſicht weit mächtiger, wenn 
fid noch eine Nierenentzündung, — Urfache ebenfalls Alkohol und Arterioſkleroſe, — den übrigen 
Schäden geſellt. Letztere Betrachtung wird ſpäter einen hohen „praktiſchen“ Wert gewinnen. 

‚grühlingsbeginn“ war es, als nach der Zecherei mit Ben Zonfon und Michael Orayton 
bes Fieber auftrat. Erſt jetzt entſchloß fi Shatefpeare, das im Januar fertiggeſtellte Teſtament 
zu unterſchreiben. Das ſpricht doch für die „chroniſche“ Natur des Leidens. Unſrer un vergleich 
licher Humoriſt war gewiß ein chroniſch ſchwerkranker Optimiſt, der noch gar nicht ans Sterben 
dachte, wie ſchlecht er ſich auch einſchätzte. Exitus — 23ten April. Frühlingsanfang in dem von 
Golfwinden überwehten Stratford Mitte März angenommen, dauerte die Fieber-Romplitation 
zirka A—5 Wochen. Eine zeitgendſſiſche Außerung, nach der man den Tod des Oichters nicht 
oo bald“ erwartet hatte, kann in verſchiedenem Sinn gedeutet werden, fo daß fie nicht zu unſrer 
Erleuchtung beiträgt. Die vermutete Diagnofe „Arterioſkleroſe“ fügt fich reſtlos in den Rahmen 
der Überlieferungen. 

Aber noch etwas Realeres, als nur Überlieferungen zur Erhärtung einer ärztlichen Hypotheſe, 
die — Totenmaske des Dichters! Nicht die „angebliche“ im Mainzer Troͤdelladen aufgefundene 
Keſſelſtädter, ſondern die unzweifelhaft echte, ſoweit fie noch aus den Zügen des 1623 aufge- 
ſtellten Srabmonuments erkennbar wird. Meſſungen von Bildhauern haben ergeben, daß der 
hollandiſche Steinmetz Zohnfon den Kopf auf dieſe Art hergeftellt hat, aber auf — ſehr plumpe 
BWeife. Ein rundes Geſicht, kleine geiſtloſe Augen, kaum eine Ahnlichkeit mit dem von Ben 
gonſon beglaubigten Stich der Folio, in dem der Meiſter ſiegreich mit der Natur gerungen hat. 
Haß ſich die Büfte einer beſonderen Sympathie der Zeitgenoſſen erfreut hätte, iſt unwahr- 
ſcheinlich. An vier Stellen finde ich ſie erwähnt, aber nur — negativ. Der Verfaſſer der 
darunter ſtehenden Inſchrift, gewiß ein Londoner Freund, iſt der Anſicht, daß — Shate- 
ſpeares Name ein beſſerer Grabſchmuck fei, als „cost“, was „Pomp“ bedeutet, wobei man 
vielleicht gleichzeitig an „Koſten“ denkt, die fic in dieſem Fall nicht gelohnt zu haben ſcheinen. 
L. Digges fpricht in der Folio von jener Zeit, in der das Monument — nicht mehr beſteht, 
während Name und Werk des Oichters unſterblich geblieben find. Und von Ben Zonfon be- 


150 Die Sterne, Goethe uud wit 
reits früher „felbft ein Monument“ genannt, bedarf Shakeſpe are nach Miltons erhabenen 
Worten nicht ſolch einer ſteinernen Schöpfung. 

Die unbegreifliche Ungleichheit der beiden einzigen „authentiſchen“ Shakeſpe are porträts 
erwies fic ſeit Generationen für die Kritik als peinlich harte Nuß. Die Keſſelſtädter Totenmaske 
trägt magere edle, durchgeiſtigte Züge. Die fie für echt halten, nehmen darum an, eine Hypo- 
theſe auf die andre pflanzend, daß unter Zugrundelegung ihres „Originals“ die durch Rrant- 
heit abgemagerten Züge abſichtlich vom Steinmetz voller geſtaltet feien. Er hätte alſo aus einem 
edlen, ſchönen, dem Original ähnlichem Antlitz ein unſchönes, unähnliches in woblüberlegter 
Abſicht gemacht? Als ob ein krankes Geſicht immer mager fein müßte? Unſre obigen ärztlichen 
Schlußfolgerungen führten zu dem gerade entgegengeſetzten Reſultat. Wie, wenn es ſich hier 
um ein etwas Sdematdjes Geſicht gehandelt hätte, in dem „notgedrungen“ Ausgleichs verſuche 
gemacht werden mußten? Es iſt unwahrſcheinlich, daß ein mageres ebenmäßig ſchönes Geſicht 
in fo unähnliche Form „verbeſſert“ wurde, dagegen ſteht zu vermuten, das eine unzulängliche 
Kunſt nicht imſtande war, verſchwollene Augenlider und Wangen zur Normalität zurückzu- 
führen. Ein großer amerikaniſcher Bildhauer „Story“ unterzog das Geſicht der Büfte genauen 
Meſſungen. Muskelzerrungen, unzweifelhafte Folgen von Leichenſtarre wurden feſtgeſtellt. 
Es fanden ſich aber auch noch andre Unregelmäßigkeiten. Unter dieſen ſcheint mir die eine be- 
ſonders erwähnenswert: „The depth from the eye to the ear was extraordinary.“ Eine große 
Breite zwiſchen Auge und Ohr legt die Vermutung nahe, daß der Steinmetz, ſtatt die Schwel 
lungen unter dem Auge abzutragen, das Auge weiter nach vorn gelegt hat. Einem Meiſter, 
der verſchwollene Augen klein gelaffen hat, wären fo falſchgerichtete Harmonie beſtrebungen 
wohl zuzutraun. 

Mit einem Stein, den auszugraben, Kraftverſchwendung erſchien, füllt die Forſchung bis- 
weilen eine ſchmerzhaft empfundene Lücke ihres ſtolzen Gebäudes. Welchen Nutzen könnte die 
Unterhaltung über Krankheit und Tod Shakeſpeare bringen? Sie mag verſtändlicher machen, 
warum ſolch ein großer Geiſt jahrelang geſchwiegen hat, und fie mag für Entſcheidungen 
über Echtheit von Shakeſpearebildern von entſcheidender Bedeutung werden. 

3 | Dr. A. Guthmann 


Die Sterne, Goethe und wir 


iele, die nach dem erſten erhebenden Eindruck, den ihnen vielleicht eine Winterwanderung 

unter dem fternbefäten Firmament vom Wunderbau der Welt vermittelt hat, einer 
Sternwarte einen Beſuch abſtatten, fühlen ſich durch die Fille von Run ſtaus drücken über; 
wältigt, mit denen fie vielleicht dort von den Aſtron omen überjhüttet werden. Dieſer Gefahr, 
feine aſtronomiſchen Intereſſen durch wiſſenſchaftlichen Ball aſt in ihrer Schwungkraft felbjt 
bis zum Er lahmen beſchwert zu ſehen, entgeht wohl in der erſten Zeit feiner Studien kein 
Sternfreund. 

And dennoch ſollte er ſich nicht durch dieſes Vielerlei von Dingen, die doch letzten Endes den 
Fach aſtron omen angehen, abſchrecken laſſen. Ihn zieht ja wohl in den meiſten Fällen weniger 
der eigentlich naturwiſſenſchaftlich eingeſtellte Forſcherdrang zu den Geſtirnen als vielmehr 
das gefühlsmäßig betonte Streben, dem Unendlichen näher zu kommen. 

Wenn man die Rolle der Aſtronomie berüdfichtigt, die fie im Leben deutſcher Geiſtesgroͤßen 
geſpielt hat, beſonders inſoweit ſie literariſch Verwertung gefunden hat, ſo findet man die 
anziehendſten Beiſpiele von weitgehendem Intereſſe unzweifelhaft in Goethes allgemein be- 
kannten Dichtwerken, im befonderen in feinen Briefen. Vieles haben uns Eckermann und von 
Müller auch aus Geſprächen überliefert. 

Goethe hat fic über feine Einftellung zur Aftronomie Eckermann gegenüber in folgender Weiſe 


die Sterne, Goethe und wie 151 


geäußert: „Ich habe mich ... in den Naturwiſſenſchaften ziemlich nach allen Seiten hin verfucht; 
jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf ſolche Gegenſtände, die mich irdiſch umgaben, 
und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn 
auch nie mit Aſtronomie beſchäftigt habe, weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen, 
ſondern weil man hier ſchon zu Inſtrumenten, Berechnungen und Mechanik feine Zuflucht 
nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.“ 

Diefe Außerung zeigt das feine Empfinden Goethes für die nüchterne Einſtellung des Forſchers 
einerfeits und die genie ßende des Naturfreundes andrerſeits. Als Sternfreund im befonderen 
hat Goethe nicht nur ſelbſt viele gimmelserſcheinungen beobachtet fondern auch andere zu 
ihrer Verfolgung angeregt. So bittet er ſich beiſpielsweiſe von Profeſſor Schroͤn, dem damaligen 
Direktor der Zenaifchen Sternwarte, eine Zuſammenſtellung von Notizen über den Halle y- 
iden Rometen aus, der 1855 wiederkehrte, um dieſe Unterlagen dann auch Eckermann weiter 
qu geben, „damit er in ſolchen Dingen nicht ganz fremd fein mochte“. Später veranlaßt ihn 
einmal die Bedeckung des Hauptſternes des Stieres, Aldebaran, durch den Mond, die 
ihn ſehr feierlich ſtimmt (wie uns von Müller berichtet), zu einer ſchönen Bemerkung über den 
Wert der Astronomie. Bei einer Zuſammenkunft des Mondes mit der Venus macht er von 
Miller beſonders darauf aufmerkſam und ſpricht dann „lange über den hohen Wert der Altro- 
nomie“, worüber uns leider nichts erhalten geblieben iſt. 

Ei beſonders ſchöͤnes Beiſpiel von dem tiefen Eindruck, den eine auffallende Ronftel- 
lation auf Goethes empfanglides Gemüt zu machen imſtande war, gewinnen wir aus einem 
Gefprdd, das Eckermann in Dornburg mit Goethe führen durfte. Goethe lobte die prächtige 
Lage des Schloſſes und der Gärten, ſowie den herrlichen Blick, den man nach Oſten hin genießen 
konnte. Eckermann hatte zugleich das Gefühl: „Es ſei dieſer Stand am Tage der Beobachtung 
vorbeiziehender und ſich im weiten verziehender Regenſchauer, ſowie bei Nacht der Betrachtung 
des öſtlichen Sternen heeres und der aufgehenden Sonne beſonders günjtig.“ 

„ch verlebe hier,“ ſagte Goethe, „jo gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich 
wach und liege im offenen Fenſter, um mich an der Pracht der jetzt zuſammenſte henden 
drei Planeten zu weiden und an dem wachſenden Glanz der Morgenröte zu erquiden.“ 

Die Planeten, um die es ſich handelt, hat Goethe nicht genannt. Da mich dieſe Frage inter- 
effierte, habe ich ſchon als Student die Ronftellationen nachgerechnet und gefunden, daß die 
bisherigen Annahmen ſowohl über die Planeten als über die Jahreszeit nicht zutrafen. Erſt von 
Freitag, den 8. Auguſt 1828 an darf man von der Sichtbarkeit dreier Planeten am Morgen- 
himmel ſprechen, ja fogar der Mond ſtand am genannten Tage oberhalb der Venus und dann 
über ihm Merkur und Saturn. Ungefähr eine Woche lang waren die drei Wandelſterne 
zwiſchen den Bildern der Zwillinge und des Rrebfes gut zu beobachten, worauf ſich dann der 
Merkur aus dem Verein entfernte. 

Anregungen zur Bewunderung des Sternhimmels finden wir bei Goethe vielfach in ſeinen 
Briefen an Frau von Stein. Jm Fabre 1777 trieb er in dieſem Sinne geradezu einen Mond- 
kultus: „Ich ſagte: ich hab einen Wunſch auf den Vollmond! Nun Liebſte, tret ich vor die 
Tir hinaus, da liegt der Brocken in hohem, herrlichen Mondſchein über den Fichten vor mir.“ 
1779: „Heut abend hofft ich bei Ihnen zu fein, der Mond ſcheint recht ſchön und hätte mich 
gut bis in Ihre Berge gebracht.“ Weiter aus Seeſenheim: „Sie führte mich in jede Laube, und 
da mußt ich ſitzen und fo war's gut. Wir hatten den ſchöͤn ſten Vollmond.“ Und weiter an Frau 
von Stein: „Dann aß ich wieder bei Lili und ging in ſchönem Mondſchein weg... Weiter 1780 
an dieſelbe: „Oer Mond iſt unendlich ſchön. Zch bin durch die neuen Wege gelaufen, da fieht 
die Nacht himmlich drein. Die Elfen fangen .. .“ 

Daß felbftverftändlih die Venus ſowohl als Morgen- wie als Abendſtern in ihrer unver- 
gleichlichen Pracht für den Dichter eine große Rolle ſpielte, bedarf kaum der Begründung. So 
peeift er den Morgenſtern in feinen Epigrammen: 


152 Die Sterne, Goethe und wir 


„In der Dämmrung des Morgens den höchſten Gipfel erklimmend, 
Frühe den Boten des Tags grüßend, dich, freundlichen Stern! 
Ungeduldig die Blicke der Himmelsfürſtin erwartend, 

Wonne des Zünglings, wie oft lockte ſt du nachts mich heraus!“ 


In einem Brief an den Herzog am Heiligabend 1775 erklärt Goethe ſogar, daß er ſich den 
herrlichen Morgenſtern von nun an zum Wappen nähme. 

Unter den übrigen Planeten hat Goethe wohl den Jupiter gelegentlich mit feinen vier hellen 
Monden im Fernrohr geſehen; wir finden dieſen Sternwartenbeſuch aber nur einmal indirelt 
in „Wilhelm Meiſter“ verwertet. Stimmungsmäßig hat ihn der Mars mehr angezogen, über 
den er wiederum an Frau von Stein in einem Brief aus Ilmenau 1781 ſchreibt: „Jeden Abend 
grüß ich das rötliche Geſtirn des Mars, das über die Fichtenberge vor meinem Fenſter 
aufgeht, es muß hier über deinem Garten ſtehen und bald ſeh' ich's mit dir an einem 
Fenſter.“ 

Goethe beſchränkte ſich jedoch durchaus nicht darauf, bei einer oberflächlichen Betrachtung 
der Sterne ſtehen zu bleiben, ſondern ſuchte ihr tieferes Weſen und Wirken zu erkennen. 
Den ganzen Umfang der Schöpfung wollte er ergründen, der Weltſeele näherkommen. Go 
wandert er im Geiſte mit den Rometen durch die Unendlichkeit: 


„Schon ſchwebet ihr, in ungemeſſnen Fernen, 
Der Sel' gen Göttertraum 

Und leuchtet neu, geſellig, unter Sternen 

Im lichtbeſäten Raum. 

Dann treibt ihr euch, gewaltige Rometen, 
Ins Weit’ und Weitr’ hinan. 

Das Labyrinth der Sonnen und Planeten 
Ourchſchneidet eure Bahn.“ 


Der Goetheſchen Weltauffaſſung will die Gottes vorſtellung nicht zuſagen, daß eine über- 
perfönlihe Macht hier nur von außen ſtieße — „ihm ziemt's, die Welt im Inneren zu bewegen.“ 
Daher finden wir auch bei Goethe lebhaftes Intereſſe für die Sterneinflüffe auf die menſch- 
liche Seele, denen er in ſeinen Orphiſchen Urworten Ausdruck verliehen hat. Wir entſinnen 
uns, wie er an die Spitze ſeiner eigenen Lebensbeſchreibung eine eingehende Schilderung der 
Planeten konſtellationen bei feiner Geburt ſtellt, bei der man ihm geradezu die hohe Genugtuung 
abfühlt, daß er für ſich die königliche Stellung des Tagesgeſtirnes in der Himmelsmitte in An- 
ſpruch nehmen darf. Mit lebhaften Intereffe verfolgt er auch das Aſtrologiſche in Schillers 
„Wallenſtein“. Gelegentlich eines Beſuches in Jena macht er beſonders auf den Raum aufmerk- 
ſam, in dem Schiller dieſen Abſchnitt des Wallenſtein ausgearbeitet haben ſoll: „Sie wiſſen 
wohl kaum,“ fagt er zu Eckermann, „an welcher merkwürdigen Stelle Sie ſich befinden“ 
Ich (Eckermann) ging darauf mit Schrön in die Manſarde und genoß an Schillers Fenſtern die 
herrlichſte Ausſicht. Die Richtung war ganz nach Süden ... auch hatte man einen weiten hori- 
zont. Der Aufgang und Untergang der Planeten war von hier aus herrlich zu beobachten, und 
man mußte ſich fagen, daß dies Lokal durchaus günftig fei, um das n und Atro- 
logiſche im Wallenſtein zu dichten.“ 

Die hier berührte Frage der Sterneinflüſſe wird gerade in der Gegenwart häufig berührt, 
und wir müjjen dabei vor allem Goethes Warnung beherzigen, die er in einer paraboliſchen 
Außerung jenem Philiſter zuruft, der in Furcht gerät, weil ein drohender Komet ſchein bar 
gerade über feinem eigenen Haufe ſteht. Die Parabel liegt darin, ſich jederzeit zu vergegen- 
wärtigen, wer denn durch etwaige Sterneinfluͤſſe überhaupt getroffen werden könnte. 

Das Problem hat auch manchen anderen Dichter gereizt. 


die Steme, Goethe und wie f 153 


Conrad Ferdinand Meyer befaßt ſich mit dieſer Frage in dem Gedicht „Huttens letzte Tage“: 
„Ihr lieben Sterne, tröftlich allezeit, 
Wer dächte, daß ihr arge Zwingherrn ſeid? 
Ihr feid’s, als ſich die Erde mir erhellt, 
Ward mir ein widrig Horoftop geſtellt.“ 
Er führt den Gedanken aus, um ſchlie ßlich zu dem Schluß zu gelangen: 
„Und deine Sünden auch beginnſt du frei!“ 


Shakeſpeare kommt dieſer Frage wiederholt näher und läßt im „Lear“ Edmund fagen: „Das 
if eine ausbündige Narrheit der Welt: daß wir, wenn unſer Glück unpäßlich iſt — oft durch eine 
ſelbſt zugezogene Überladung — die Schuld unferes Unglücks auf Sonne, Mond und Sterne 
ſchieben; als wenn wir Schurken wären durch Notwendigkeit, Schalke, Diebe und Verräter 
durch die Gewalt der Sphären 

zm vierten Akt vertritt dagegen Kent den abweichenden Standpunkt: 

„Die Sterne ſind's, 

Oie Sterne oben, die das Schickſal lenken; 
Sonſt hätt’ ein Gatten paar wohl nie erzeugt 
So unterſchiedne Kinder.. — 


Bie Schiller darüber denkt, iſt mit wenig Worten im Prolog zum Wallenſtein mit dem Hin- 
weis zum Ausdruck gebracht: 
„Und wälzt die größre Hälfte feiner Schuld 
Den unglüdfeligen Geſtirnen zu.“ 


Vir können an diefer Stelle nicht die zahlreichen Außerungen hervorragender Oichter Aber 
dieſe Frage anführen, etwa die Calderons, in dem Drama „Das Leben ein Traum“ oder 
die von Horaz über das Zuſammenſtimmen feiner und des Mäcenas’ Geſtirne .. Goethe hat 
aich hier in feiner umfaſſenden Genialität eine Formel gefunden, wie fie knapper und eindrucks ; 
voller kaum gedacht werden kann. Jene Orphiſchen Urworte: 

„Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, 
Die Sonne ſtand zum Gruße der Planeten, 
Biſt alſobald und fort und fort gediehen, 

Nach dem Geſetz, wonach du angetreten. 

So mußt du ſein, dir kannſt du nicht entfliehen! 
So ſagten ſchon Sibyllen, ſo Propheten, 

Und keine Zeit und keine Macht zerftüdelt 
Geprägte Form, die lebend ſich entwickelt.“ 

Goethe ſcheint eine Reihe eigenartiger Beweiſe für die Leiſtungsfähigkeit der Sterndeute- 
kunſt erlebt zu haben, daß er ſich in fo unerwartet pofitiver Weiſe zu dieſer in unſeren Tagen 
mühſam um Anerkennung ringenden, im beſten Falle werdenden Wiſſenſchaft äußert. 

Venn man ſich vergegenwärtigt, wie es dem an derartige Dinge nicht gewohnten Menſchen 
zumute fein muß, dem etwa bei Beginn einer ſchweren Krankheit geſagt wird, daß ein Geburts- 
gebieter das Todeshaus betritt, und daß die Sonne ſeines Lebens einen ſchweren Angriff durch 
emen Unglücks planeten erleidet, dann kann man nur der Auffaſſung beitreten, daß man derartig 
hetabſtimmende Eindrücke von einem Patienten möglichft fernhalten ſollte. 

Gerade die Aſtronomie iſt wie keine andere Wiſſenſchaft berufen, dieſer Furcht vor den 
Sternen ihren Grund zu rauben. Fit fie doch imſtande, über Jahrtauſende hinweg den Lauf 
der Geſtirne mit einer Genauigkeit zu berechnen, die uns hohe Bewunderung abnötigen muß. 
Auch wer den Mechanismus des Himmels nicht näher kennt, fühlt ſich ſeinen großen Geſetzen 
näher, wenn er, auch in gedrüdter Stimmung ins Freie, unter den großen Sternendom tritt. 


154 Die Sterne. Goethe und wir 


„Unter dem Sternenhimmel nur einen freien Atemzug! — Mein Herz iſt ſo voll“ — läßt 
Goethe den Wilhelm in den „Geſchwiſtern“ ausrufen. Den edelften Ausdruck für dieſe erhebende 
Stimmung hat Goethe gewiß in dem „Lied an den Mond“ gefunden, das er einige Wochen 
nach einem kosmiſch betonten Erlebnis ſchrieb, das ihm die magiſche Gewalt der aus einem 
Gewäffer widerſtrahlenden Sterne bei dem Selbſtmord des Fräulein von Laßberg vor die Seele 
rüdte. Wir erinnern an jene wundervollen Verſe: 


„Zülleft wieder Buſch und Tal 
Still mit Nebelglang, 

Fülleft endlich auch einmal 
Meine Seele ganz. 


Wenn wir nicht bei der Anſchauung des Sternhimmels allein ſtehen bleiben, ſondern auch 
feine Geſetze näher erforſchen, dann vertieft ſich das Bewußtſein der Überlegenheit des 
menſchlichen Geiſtes über die Sterneinflüffe immer mehr. Wenn wir ſchlie ßlich imſtande find, 
den Lauf der Planeten für beliebige Zeiten anzugeben, dann erheben wir uns von dem Zeit- 
behafteten in das Überzeitliche und kommen der Löfung jener großen Weltratfel näher, die für 
unſer Wiſſen in Raum und Zeit als den Grundformen unſeres Erkennens gegeben ſind. So 
führt uns die Uberwindung der Zeit in das Reich der Zdeen, die wir in verſchiedenen Formen 
im zweiten Teil von Goethes „Fauſt“ kennen lernen. Dieſes Überzeitliche befreit uns auch von der 
Furcht vor dem zeitlichen Abſchluß unſeres materiellen Daſeins. Die Sterneinfluͤſſe haben 
dann die Form, die ſie prägen konnten, verloren. Das geiſtige Prinzip, von den unweſentlichen 
Hüllen befreit, wie wir das auch im zweiten Teil des „Fauſt“ wiederholt im Symbol erfahren, 
erhebt ſich in Sphären, die unſeren nüchternen, erdgebundenen Sinnen weltenfern liegen. 

Und fo überkommt uns unter dem ſternbeſäten Firmament das Gefühl, daß es etwas Höheres 
geben muß als das hier von uns geführte Dafein. 

Solche Gedanken finden wir wiederholt auch von Zeitgenoſſen Goethes ausgeſprochen. 
So beiſpielsweiſe von Wilhelm von Humboldt in ſeinen „Briefen an eine Freundin“. Er ſchreibt 
1825: „Ich habe von meiner Zugend an ſehr viel auf die Sterne und das Beſchauen des ge- 
ftirnten Himmels gehalten. Meine Frau teilte ... auch dieſe Neigung mit mir, und fo 
habe ich mein ganzes Leben hindurch ... in ſternen hellen Nächten zugebracht.“ Und in einem 
anderen Brief: „Ich könnte darum ſtundenlang mich nachts in den geſtirnten Himmel vertiefen, 
weil mir dieſe Unendlichkeit fern her flammender Welten wie ein Band zwiſchen dieſem 
und dem künftigen Pafein erſcheint. Ich hoffe, dieſe Freudigkeit der Todeserwartung ſoll 
mir bleiben.“ 


Noch großartiger und pathetiſcher bringt Klopſtock dieſe erhabene kosmiſche Stimmung in 
ſeiner Ode „An den Tod“ zum Ausdruck: 
„O Anblick der Glanznacht, Sternheere, wie erhebt ihr! 
Wie entzuͤckſt du, Anſchauung der herrlichen Welt! 
Gott Schöpfer ! Wie erhaben biſt du, Gott Schöpfer! 
Wie freut ſich des Emporſchauens zum Sternenheer, 
Wer empfindet, wie gering er, und wer Gott, 
Welch ein Staub er, und wer Gott, ſein Sott iſt! 
O ſei dann, Gefühl der Entzuͤckung, wenn auch ich ſterbe, mit mir!“ 


Wenn die Beſchäftigung mit dem Sternhimmel in dieſem höchitem Sinne imſtande iſt, den 
Menſchen von der ſchwerſten Furcht zu befreien, die ihn in feinem ganzen Leben überhaupt be- 
fallen kann, fo leiſtet fie damit wohl das Hoͤchſte, was uns in geiſtigem Sinne geboten werden 
kann. Es hieße Worte an der falſchen Stelle verſchwenden, wenn wir den Vert der Himmels 
kunde im weiteſten Sinne hier noch irgendwie unterſtreichen wollten. 


Oresden Weißer Hirfd. Dr. 9. 9. Kritzinger 


Oyjene Halle 


Die hier veröffentlichten, dem freien Melmmgsaustauſch dienenden Einfendungen 
find unabhängig vom Standpuntte bes Herausgebers 


Die Frage der Sternendeutung 


ternendeutung? Narrheit, Irrtum, Wahn! Längft überwundener Standpunkt aus un- 

wiſſender Vorzeit! So ungefähr lauten die Abweiſungen, die man im allgemeinen auch 
bei den „gebildeten“ Gegenwartsmenſchen zu hören immer von neuem Gelegenheit hat. Ander; 
kits aber ift die Müdigkeit, der Aberdruß, wie der Materialismus fie geſchaffen, fo überfließend 
ind heftig, daß man — alles Nationalismus und feiner ſtarren Ketten ledig — wieder auf 
die leiſeſten Wunder und Geheimniſſe der unerforſchlichen Natur zu lauſchen bemüht iſt. 

& beſteht wohl kein Zweifel über Namen und Bedeutung der Aſtronomie und Aſtrologie. 

Vaͤhrend Aſtronomie die Wiſſenſchaft von den ſicheren Geſetzen der Himmelskörper darbietet, 
gibt die Aftrologie vielmehr die Weisheit von der Wirkung dieſer Himmelskörper auf die menſch⸗ 
lichen Schickſale. So wie Theologie lediglich „das Wiſſen um die Geſchichte der Religion“ iſt — 
Lagarde hat es immer wieder nachdrücklich betont —, fo iſt dagegen Theoſophie (nicht in dem 
ublichen dogmatiſch· okkultiſtiſchen Sinne gemeint!) einfach das Fuͤhlen und Begreifen von der 
unmittelbaren Wirkung göttliher Macht und Gnade, ohne Gelehrſamkeit und Studium von 
außen. Aftrologie alſo will darlegen, daß es Einflüffe von den Geſtirnen her gibt, die im ge- 
wohnlichen Leben unbeachtet bleiben und die zu ergründen uns Pflicht und hohes Ziel bedeutet. 
Der Aſtrolog Rarl Vogt in München fagt in dieſer Hinſicht einmal: „Im Univerſum ſteht alles, 
vom Geringſten zum Höchiten, im innigſten Zuſammenhang, in ſteter Wechſelwirkung und 
Beziehung. Die ganze Natur hängt an einer unſichtbaren Kette aneinander, und ſo wenig dem 
forſchenden Geifte der innigſte Zuſammenhang aller Dinge der Erde entgehen kann, fo wenig 
ber Einfluß der Sonne, des Mondes und der Sterne auf die Erde geleugnet wird und geleugnet 
werden kann, ebenſowenig kann, wenn man tiefer in die Geheimniſſe der Schöpfung eindringt, 
der Einfluß der Geſtirne auf die Bewohner der Erde bezweifelt werden.“ 

Nach dem Warum dieſer Kraft zu fragen, verbietet uns die Gottheit ſelbſt, die uns ewig ein 
rdtſelhaftes, großes Geheimnis bleiben wird. Nur das Wie kann ſich uns entſchleiern, fo daß wir es 
uns dienſtbar zu machen vermögen. Iſt nicht auch die Elektrizität eine Kraft, die uns wunderbar 
bleibt und die wir dennoch unterjochen zu unſerm Nutzen und Beften? Aſtrologie hat an ſich mit 
der Seheimwiſſenſchaft der Theo- oder Anthropoſophie, mit dem Okkultismus nichts gemein; 
ſie beruht vielmehr einzig und allein auf dem empiriſchen Geſetze der Kauſalität, wonach jede 
Wirkung ihre zureichende Urſache haben muß. Und in Archiven werden die Erfahrungen ge- 
ſammelt; da gibt es Horoſkope von Blinden, Rrüppeln, Ehegeſchiedenen, Selbſtmoͤrdern, und 
diefe werden wiederum in Unterabteilungen gegliedert: ob der Grund Verarmung, Liebes- 
gram, geiſtige Umnadtung, Lebensmüdigkeit uſw. geweſen iſt. 

Minder bekannt dürfte es wohl fein, daß das Wiſſen um den Zuſammenhang des Makrokosmos 
mit dem Mikrokosmos, alſo des Weltalls mit dem Einzelweſen, ſchon vor mehreren Sahrtaufen- 
den beſtanden hat. Bereits die Perſer, Babylonier und Chaldder — gewiß hohe Rulturvdlter — 
batten hiervon Runde; ja, nach den alten chaldaͤiſchen Berechnungen treffen noch heute die 
Sonnen- und Mondfinfterniffe ein, und unfere heutigen Aſtronomen haben an dieſen Formeln 
keine Rorrektur anzubringen brauchen. Auch die Prieſter pflegten dieſe Weisheit und machten 
fi mit ihren Ratſchläͤgen die Zürften untertan. In Indien, China und Agypten und Süd- 
europa ftand die Sternenweis heit in hohem Anſehen. Es iſt uns ein Spruch des griechlſchen 
Arztes Hippokrates überliefert, welcher beſagt: „Ein Menſch, der unbekannt mit der Wiſſenſchaft 


156 Die Frage ber Sternendeutung 


der Aftrologie, verdient eher den Namen eines Toren als den eines Arztes.“ Schon im Sabre 
126 n. Chr. ſchrieb Ptolemäus feine vier großen Werke nieder, die auch uns noch ihre Dienſte 
leiſten, wenngleich mit der erforderlichen Umſtellung auf unſere Zeit. Bedeutete damals eine 
ungünſtige Beſtrahlung, die wir heute für minder ſchwerwiegend erachten, Tod und Untergang, 
fo muß man die größere Gefahr jenen unſichereren Zeiten zurechnen, wo Schlachten, Raub- 
anfälle aus dem Hinterhalte häufiger eintraten als in unſerer mehr geſicherten Gegenwart. 
Dementſprechend deuten wir heute ſolche Aſpekte vielleicht auf Automobilunglüde, Sport; 
unfälle, Exploſionen, ſchlagende Wetter uſw. 

Berühmte Namen ſtehen unter denen, die ſich der Sternenkunde widmeten und ſich von der 
Richtigkeit ihres Einfluſſes auf das Menſchenleben überzeugten: Pythagoras, Plato, Dante, 
Bacon, Thomas von Aquino, Giordano Bruno, Kepler, Nopernikus, Parazelſus, Newton, 
Galilei, Melanchthon, Weigel, Spinoza, Shakeſpeare, Scott und Goethe, deſſen „Urworte“ viel 
zitierte Sternenweisheit ausſagen. 

Goethe beginnt feine Lebensbeſchreibung mit einer aſtrologiſchen Darlegung: „Die Ron- 
ſtellation war glücklich. Die Sonne ſtand im Zeichen Jungfrau und kulminierte für den Tag; 
Jupiter und Venus blickten ſich freundlich an, Merkur nicht widerwärtig. Saturn und Mars 
verhielten ſich gleichgültig; nur der Mond, der ſoeben voll ward, übte die Kraft feines Gegen; 
ſcheines um ſo mehr, als ſogleich ſeine Planetenſtunde eingetreten war. Er widerſetzte ſich daher 
meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis dieſe Stunde vorübergegangen. Dieſe 
guten Aſpekte, welche mir die Aſtrologen in der Folgezeit ſehr hoch anzurechnen wußten, mögen 
wohl Urſache meiner Erhaltung geweſen fein, denn durch Ungeſchicklichkeit der Hebamme kam ich 
für tot auf die Welt.“ Und aus Schillers „Wallenſtein“ weht uns eine geradezu aſtrologiſche Luft 
entgegen: wie klar und wiſſend er fein Schickſal überſchaut, als das Horoſkop fortſchreitend ſich nun 


ee Slüdfeliger Aſpett! So ſtellt fi endlich 
Die große Drei verhängnisvoll zuſammen, 
Und beide Segensſterne, Jupiter 
Und Venus, nehmen den verderblichen, 
Den tidijden Mars in ihre Mitte, zwingen 
Den alten Schadenſtifter, mir zu dienen, 
Denn lange war er feindlich mir geſinnt uſw. 


Die Umſtellung, welche die Aſtronomie ſeit Kopernikus erfahren hat, der bekanntlich erwies, 
daß ſich die Sonne nicht — wie Ptolemdͤus meinte — um die Erde drehe, ſondern daß die Erde 
und alle mit ihr ſchwingenden Planeten ſich um die Sonne bewegen, findet auf die Aſtrologie 
keine Anwendung. Wir bewohnen dieſe Erde; ſie iſt für uns daher der Mittelpunkt, der die 
Strahlungen empfängt. Marsbewohner würden eben den Mars als Zentrum annehmen. Sollte 
dieſe geozentriſche Einſtellung wirklich einmal durch die heliozentriſche abgelöft werden, fo müßte 
dann natürlich ein völlig neuer Aufbau von ſtatiſtiſchem Material geſammelt werden, wobei 
man ſchließlich zu dem gleichen Endergebnis gelangen würde, wie ja bekanntlich viele Wege 
nach Rom führen. Die Erfahrung muß nur die Richtung aufweiſen. 

Die Aufſtellung eines Horoftopes oder Stundenbildes iſt eine rein rechneriſche Arbeit. Aus 
den Sterntafeln wird der Stand der Planeten zur Minute der Geburt erſehen und unter Be- 
rüdfihtigung der Tierkreiszeichen, in denen ſich die Sterne gerade befinden, und je nach den 
günftigen oder ungünftigen Aſpekten oder Strahlen, die fie einander zuſenden, wird das Schickſal 
erkannt. Der infolge der Erddrehung im Often beim Augenblicke der Geburt aufſteigende Grad 
des Tierkreiszeichens heißt Aszendent; er iſt von beſonderm Einfluß ſelbſt auf das Außere des 
Menſchen; von ihm ausgehend werden die zwölf ſogenannten Felder errechnet, welche auf Be; 
gebenheiten des menſchlichen Lebens Bezug nehmen; auch fie finden durch die darin ftebenden 
Planeten entſprechende Beachtung bei der Ausdeutung. 


Ste Frage der Sternendeutung 157 


Wie nun läßt ſich der Zweck der Sternendeutung begründen? Zit es nicht wertvoll, Klarheit 
über den eigenen Geiſteszuſtand zu erlangen, um gegen die Fehler anzukämpfen, die unſern 
Charakter ftören wollen? Oder aber man lernt es, gegen die Gebrechen der Mitmenſchen Nach- 
ſicht zu üben, ſich auf ihr Weſen einzuſtellen, vielleicht jedoch auch von ihnen zu gehen, wenn ein 
Zuſammenklang als ausſichtslos erkannt iſt. Den Eltern iſt die Möglichkeit gegeben, beizeiten 
den Anlagen ihrer Kinder eine günftige Wendung zu geben, niemals Berufe zu erzwingen, 
denen der Geborene von Beginn an keine Hilfe zu danken hat. Arzte, Gerichtsperſonen, auch 
Geſchäftsleute können ſich mannigfache Erfolge verſprechen, ſobald fie voll innerſter Er- 
kenntnis, nicht aus plebejiſcher Neugierde den Rat der Sterne für ſich erbitten. Gibt nicht 
der ſeltſame Umſtand zu denken, den wir als „Ouplizität der Fälle“ bezeichnen? Auch hier der 
Einfluß der Geſtirne, daß ſich zu gleicher Zeit mehrere Fälle einer lange nicht eingetretenen 
krankheit einſtellen, oder daß ſich Brände, Exploſionen, Eiſenbahn- und Grubenunglüde häufen, 
wie fie gerade für die Gegenwart fo überaus bezeichnend find. — Auch in Ehefragen läßt die 
Ürologie deutlich die Zu- oder Abneigung zweier Menſchen erkennen oder den an einem Zer- 
würfnis ſchuldigen Teil herausfinden. Sehr deutlich ſprechen z. B. die Horoftope Goethes und 
der Frau von Stein fiber deren Liebe. Sie hatten, wie man es nennt, verſchiedene Planeten 
ausgetauſcht; ſo ſteht ſeine Sonne in 5 Grad des Zeichens Zungfrau, wo ihr Mars ſich befindet; 
und fein Mars in 3 Grad Steinbock, dem Platz ihrer Sonne. Noch guͤnſtiger verhält es fic mit 
Novalis und Sophie von Kühn: er hat die Sonne mit ihrem Mars ausgetauſcht, den Mars mit 
ihrer Venus (das ſicherſte Anzeichen für Liebe) und Mond ſteht auf Mond. 

Es iſt lar, daß in allen Fällen äußerſte Geſchicklichkeit neben tiefem Eindringen erforderlich 
iſt, denn gar manche Aſpekte zwiſchen Eheleuten können bei Niederſtehenden auf Streit hin- 
deuten, während der gleiche Sternenſtand bei geiſtigen Menſchen zu regem Gebantenaus- 
tauſche, vielleicht unter ſeeliſchen Kämpfen verleitet. 

Ein anderer Fall, der zum Nachdenken anregt, iſt jener, daß z. B. das Horoſkop eines durch- 
ſchnittlichen Diebes weit weniger ungünjtig geftaltet iſt als jenes eines gebildeten, durch die 
Verhältniſſe zum Betruge gelangten Menſchen. Erklärlich iſt es, daß den Gewohnheitsdieb ſchon 
geringe ÜUbelſcheine zum Verbrechen treiben können, während eine ſtarke Dofis von Verſuchung 
und böſer Kraft erforderlich iſt, um den Geiſteszuſtand eines Gebildeten derart zu umnebeln, 
daß er die Grenzen von Recht und Unrecht überſieht. Man hat feſtſtellen können, daß Übel- 
titer dem Einfluſſe des Mondes unterſtanden, fo daß fie in einer genauen Nacheinanderfolge 
von 23 bis 25 Tagen Brandſtiftungen unternahmen. In gleichem Verhältnis kann ein Prinz, 
der Anwartichaft auf den Thron hat, weniger beſtimmte Aſpekte zeigen, als ein Sattlergeſelle, 
der zum Reichspräfidenten aufſteigt, um fo ſtärkere Gluͤckſtellungen aufweiſen muß. 

Vielfach wird die Frage aufgeworfen: Wie nun bei Zwillingen? Müffen dieſe alſo das gleiche 
Schickſal erleben? Es werden eineiige Zwillinge geboren, die zu gleicher Zeit empfangen wurden, 
ſich durch innern Vorgang getrennt haben, in einer Umhüllung ruhen und mit nur geringem 
Zeitunterſchiede ans Tageslicht kommen; das ſind jene, von denen man zu ſagen pflegt, daß ſie 
ſich aufs Haar gleichen. Außerdem aber unterſcheidet man noch zweieiige, welche nach ein; 
ander empfangen find und in zwei Hüllen liegen; Stunden konnen zwiſchen ihren Geburten 
verſtreichen, und auch ihr Schickſal wird darum ein verſchiedenes fein. 

Geburten, die nur am gleichen Tage, nicht aber am ſelben Ort und zur gleichen Stunde er- 
folgten, werden natürlich grund verſchiedene Charaktere zeitigen. So bringt Elsbeth Ebertin 
in ihrem ſicherlich viele Lefer feſſelnden Buche „Blick in die Zukunft 1925“ (Regulus-Verlag, 
Söͤrlitz), wo fie allein ſchon nach dem Sonnenſtande zutreffende Fernblide in geſammelterer 
Form gibt, als in ihren anderen, mitunter ſtark auf den Plauderton eingeſtellten Werken, die 
gotoſkope der beiden Dichter Friedrich Lienhard und Max Halbe, die beide am 4. Oktober 1865 
geboren find, mit 11 Stunden Unterſchied. Aus dieſen Horoſkopen, die manche Zürmerlefer 
erfreuen dürften, erkennt man durch das bei Friedrich Lienhard ſtärker hervortretende Bei- 


158 Die Frage der Sternendeutung 


ſammenſtehen von Neptun und Mond ein zartes Einfühlen in Natur und Innenleben, ferner 
die Begabung, den Gemiatsregungen künſtleriſche Formgebung zu ſchenken; desgleichen die 
bei fo manchen empfänglichen Charakteren erklärbare Anziehung, wie denn auch ber Jupiter im 
Freundeshauſe reiche Anerkennung und Förderung durch mannigfache Verehrer verheißt, 
und das Zeichen Schütze an der Spitze dieſes Hauſes eifriges Werben durch anhängliche Freunde 
bezeugt. Die ſtarke Beſetzung des 8. Feldes läßt darauf ſchließen, daß ſeine Gedanken viel um 
das ewige. Leben kreiſen. Das Horoftop iſt nicht frei von ſchweren Aſpekten, wie man es immer 
bei ſtark hervortretenden Perſönlichkeiten findet — im Gegenſatz zu Stundenbildern von All- 
tagsmenſchen, denen das Schickſal nur wenig Gelegenheit zur Vertiefung durch Leid und 
Gegnerſchaft darbietet. 

Geht man nun den Geſchicken ſolcher zur ſelben Stunde Geborenen nach, fo bieten ſich über- 
raſchende Tatſachenbeweiſe. Der Engländer Samuel Hennings wurde zur gleichen Stunde, 
am gleichen Orte wie Georg III. von England geboren. Die Schickſale dieſer beiden Männer 
glichen ſich auffallend, naturlich unter Berüdfihtigung der Ebene, auf der fie lebten. Es fielen 
Regierungsantritt und Geſchäftseröffnung zuſammen, Heirat und gleiche Kinderzahl des gleichen 
Geſchlechts, und der Tod erfolgte zu derſelben Stunde. 

Ein ſehr gutes ſtatiſtiſches Material findet ſich in dem aufſchlußreichen Buche von Dr. med. 
F. Schwab „Sternenmächte und Menſch“ (Verlag H. Bermühler, Lichterfelde). Soeben hat 
auch Elfe Parker ein wegen feiner anſchaulichen Darſtellung beſonders empfehlenswertes Wert 
„Aſtrologie und ihre Verwertung fürs Leben“ veröffentlicht (in dem holländiſchen Verlage 
P. Oz. Veen, Amersfoort). Daneben ſelbſtverſtändlich find die übrigen guten Handbücher von 
Alan Leo, Libra, Oskar A. H. Schmitz, Grimm, Glahn uſw. zu Rate zu ziehen. In volkstümlicher 
Form find die wichtigſten aſtrologiſchen Fragen in dem recht unterhaltſamen und doch be- 
lehrenden Buche „Myſterien von Sonne und Seele“ von Dr. H. H. Kritzinger (Nirvana Verlag, 
Berlin SW. 48) dargelegt. Die neuen Planetenuhren und Häufertabellen (Verlag OQuphorn, 
Bad Oldesloe) ermöglichen es dem Laien, auch ohne logarithmiſche Berechnungen zum Ziele 
zu gelangen. Jedenfalls dürfen ſich nur Berufene mit der Oeutung von Stundenbildern be- 
ſchäftigen, denn Aſtrologie bleibt letzten Endes eben eine Wiſſenſchaft, d. h. ſie kann nur von 
Wiſſenden betrieben werden; es gehören Beſtrebungen auf dem Gebiete der Metaphyſik 
hinzu, fernerhin Menſchenkenntnis und in beſonders reichhaltigem Maße Erfahrung. Gerade 
infolge mangelnder Herzens - und Seelenbildung mancher Aſtrologen weiſt die Sternen 
deutung fo viele Stümper auf, welche dieſe Runft in Mißkredit bringen. Berechnungen allein 
genügen eben nicht; Intuition iſt letzten Endes alles. 

Für ſo manche Menſchen entſteht ein ſcheinbarer Widerſpruch, der den Aſtrologen häufig 
entgegengeworfen wird: „Wenn ich zeitlebens den Einflüffen der Sterne unterſtehen ſoll, wie 
kann es dann eine Moͤglichkeit geben, ihnen auszuweichen oder überhaupt Nutzen aus der Altro- 
logie zu nehmen?“ Die Entgegnung liegt in dem bekannten Worte: Die Sterne zwingen nicht, 
fie machen nur geneigt. Aber fie wirken auf die Niederentwickelten ebenſo wie auf die Hoch- 
geiſtigen, — mögen fie ſich bei dieſen auch ſtärker in Harmonie auflöfen. Entgehen kann man den 
Sternenmddten niemals, man hätte ja ſonſt den Kern der Aſtrologie nicht begriffen, wenn man 
nicht dieſe ſichere Überzeugung hegte. Aber kann man auch einem Schickſalsſchlage nicht entweichen, 
einem Sturge oder einer Krankheit, — fo vermag man doch durch Vorſicht ihn abzufhwächen, 
fo wie man anderſeits die Zeit des Rrantenlagers durch Vertiefung in nachklingende Bücher fo 
ausfüllen mag, daß aus der unfreiwilligen Muße reichſter Segen zu ſprießen imſtande iſt. 

Auch dem Tode kann man nicht entrinnen, wenn er deutlich im Horoſkope angezeigt iſt. Aber 
ob er immer und notwendig eintreffen muß, wenn man ihn nach den Regeln errechnet, iſt info- 
fern zweifelhaft, als der Grad der Aſpektſchwere für die verſchiedenen Menſchen auch ein ver- 
ſchiedener iſt. Den einen tötet ein Aſpekt, welcher dem andern nur einen leichten Schlag ver- 
ſetzen würde. Iſt eine Zeit der Ruhe und Kräftigung vorangegangen, ſo überwindet man die 


die Frage der Sternendeutung 159 


Anfechtungen um fo leichter. Fit die Lebensuhr abgelaufen, fo tötet ſchon eine Erkältung, wie 
es bei Goethe geſchah, obgleich er in feiner Jugend doch weit heftigere Anfälle überwunden 
hatte. Ohne Zweifel kann man nach Eintreffen der Ereigniffe bie feſtgelegte Spur im Horoftop 
immer verfolgen und finden, wie ja auch der Arzt häufig erſt nach der Sektion die Todesurſache 
einwandfrei feſtzuſtellen in der Lage iſt. Hier müſſen noch zahlloſe Erfahrungen geſammelt 
werden, und es iſt ſicher, daß wir manche Wirkungen noch nicht kennen, wie ja jetzt transnep- 
tumiſche Planeten entdeckt wurden, die wegen ihrer im Nachthimmel verſchwindenden bläulichen 
Farbung nur mit entſprechend lichtempfindlichen Platten aufgenommen werden konnten. 

Übrigens fei an dieſer Stelle einmal mit Nachdruck darauf hingewieſen, daß es unmöglich ift, 

die Zukunft eindeutig vorauszuſagen, und daß ſomit die auf die beharrliche Dummheit des 
Publikums rechnenden Anpreiſungen in ſo manchen Zeitungen zu unrecht beſtehen. Auch in 
deutungen wird — wie manche ängſtlichen Gemüter es befürchten — weder Lebensende noch 
Unglück vorherverkuͤndet, einzig im Darlegen der Anlagen, deren beſter Verwendung, der Be- 
tampfung von Fehlern und dem Helfen zum Emporſtieg im ethiſchen Sinne liegt das Beſtreben 
bes gewiſſen haften Seelenarztes, der ſich im Hinblick auf die ewige Sternenwelt wahrhaft ge- 
bildet hat. Wie follten bei der Geſtaltungs- und Wandlungsmöglichleit der Charaktere auch 
Siele feftgelegt werden, da doch ein jeder fein Schickſal in der eigenen Bruſt trägt! Die Ebene, 
auf der wir geboren wurden — das Einzige, was man nicht aus dem Horoſkop errechnen kann — 
laßt ja den einen ſchon an höherer Stelle beginnen, während ein anderer viel tiefer unten den 
Anfang nehmen muß und infolgedeffen, bei gleichen Fähigkeiten, doch nicht fo weit emporzu⸗ 
ſteigen vermag. ö 

an kommenden Zeitaltern, wenn das ganze Sonnenſypſtem ſich durch das Zeichen Waffer- 
mann bewegt, konnen wir noch Wunder über Wunder erwarten, fo wie es Hans Künkel in 
ſeinem anregenden Büchlein „Das große Jahr“ (Verlag Diederichs, Zena) ſehr verhelzungs voll 
zu erſchließen verſucht hat. Erſtaunten wir nicht einmal, als die Rede darüber ging, wir würden 
in Wagen ohne Pferde fahren oder durch die Lüfte fliegen? Nichts erſcheint uns heute felbftver- 
Händlicher als dies. Wie raſch haben wir uns an die ſeltſame Erſcheinung des Hdrens durch den 
Radio- Apparat gewöhnt, und vielleicht iſt die Zeit nicht ferne, wo wir neben dem Hören der Vor- 
gange auch die bildliche Darftellung werden aufnehmen konnen. Es iſt traurige Tatſache, daß 
wir uns nur allzuleicht an das große Wunderbare gewöhnen, fo daß es zur blaſſen Gelbitver- 
ſtandlichkeit herabgewuͤrdigt wird. Wie fo wenige lauſchen heute auf die geheimen Faden, die in 
der Natur ſich verweben ! Wer durchdenkt im Sinne der Aſtrologie das Rätfel der Mondſüchtigen? 
Ven erſchauert es bei der Erkenntnis, daß der Mond die Ebbe und Flut auslöſt? Daß er im 
Leben des Kindes und des Weibes eine beſondere Bedeutung empfängt? 

Somit iſt es wohl einleuchtend, daß die völlig verſchiedenen Menſchen auch verſchleden auf die 
Natur der Planeten reagieren. So werden z. B. nur jene, die wirklich von neptuniſchem Geiſte 
etwas verſ puren, die Schwingungen dieſes Planeten empfinden, nicht aber die ganz Primitiven, 
deren Mangel an Empfänglichkeit uns häufig an der Wahrheit der Aſtrologie verzweifeln laſſen 
mochte. Und doch, wenn man das Leben dieſer Einfältigen durchſchaut, fo entdeckt man, daß ein 
Kumſtwerk, ein erhebendes Ereignis fie kaum erſchüttern konnte, daß ein Tadel, der einen fein- 
nervigen Menſchen zur Verzweiflung treiben könnte, jene nur hohnlachen läßt, und daß ein 
Begräbnis ſie nur zum Poſſenreißen verführen kann. Da aber ein Niederſtehender nichts 
empfindet beim Hören einer Meſſe von Bach, beim Anblick eines Bildes von Rembrandt, — 
foll darum für die Geiſtigen das Edle und Weiſe in der Runft, in der Natur, in den Sternen 
nicht vorhanden fein? ? 

So mancher Stillvoreingenommene hat gefragt, ob es im Sinne der göttlichen Vorſehung 
geſchehe, wenn wir armen Menſchen den Schleier der Zukunft zu lüften verſuchen. Solches iſt 
niemals das einzige Streben eines ernſthaften Aſtrologen ! Für die meiſten Menſchen iſt fider- 
lich „der Irrtum das Leben und das Wiſſen der Tod“. Wer ſagt es uns, daß Gott ſelber die 


160 Oroht neue Exderfchütterung ? 


Sternenſchau verbietet? Müßten wir nicht mit dem gleichen Rechte vom Eindringen in den 
Erdenſchoß zurückgehalten werden, über den die Gottheit eine harte abſchließende Dede ſchuf? 
Ware das Graben nach unterirdiſchen Schätzen dann minder verwerflich als das Schürfen nach 
der letzten Wahrheit? Gab uns der Allmächtige nicht ſelber die Sehnſucht, dieſen brennenden 
Eifer nach Erkenntnis? 

Auch die Furcht vor dem Tode iſt im Grunde nichts als Überlieferung. Vielleicht ift fpäter 
einmal dieſes Nichtwiſſenwollen um den Tod nur ein Ammenmärchen. Die Furcht vor dem 
Sterbenmiffen, der Verluſt geliebter Menſchen ſollte uns den Sinn vor der Unerbittlichkeit des 
Sterneneinfluſſes verſchließen können? Warum ſträuben wir uns gegen das fromme Ergeben 
in die Macht des Schickſals? Was verführt uns denn, uns als unvernünftigen Spielball im Welt- 
getriebe zu bewerten? Gerade in ſolchem Nichterkennen liegt unfere geiftige Blindheit begründet. 
Warum zweifeln wir, daß ein tiefer Sinn in dem liegt, was wir als unſer notwendiges Schick⸗ 
fal erleben müffen? Und daß ein Daſein, das von ewiger Sternenmadt beſtimmt wurde, ziel- 
reicher ſei als eines, das wir ſelber ausſinnen in menſchlicher Unvollkommenheit? 

Eben darum iſt der Glaube an die waltende Gottheit keineswegs ausgeſchaltet, ſondern nur 
noch tiefer mit dem Bekenntnis an die Aſtrologie verbunden. Die letzten großen Urtatſachen 
werden uns ja immer Wunder und Geheimnis bleiben, gemäß Goethes weiſem Worte: „Oas 
größte Glück des denkenden Menſchen iſt, das Erforſchliche erforſcht zu haben und das Un- 
erforſchliche ruhig zu verehren.“ Tycho de Brahe, jener große Sternenkundige des 15. Jahr- 
hunderts, tröſtete ſich an der Erkenntnis: „Die Sterne leiten das Los der Menſchen, Gott aber 
leitet die Sterne.“ | Eliſabeth Schellenberg (Elgersburg i. Th.) 


Droht neue Erderſchütterung? 


ede Mythologie kündigt einſtigen oder künftigen, teilweiſen oder völligen Weltuntergang 
9 an. Erdbeben oder Vulkanentladung vernichten Liſſabon, San Francisco, Meſſina, Tokio, 
an Pompejis Schickſal erinnern Ischia und Mont Pelé. Von Chile, Hawai (wo der größte 
erloſchene Krater ſchlummert) bis Japan und Turkeſtan riß die Erde ſchon Abgründe auf oder 
ſchũttete Kraterflammen aus, ſubmarine Vulkane verſchlingen Inſeln im Kraterbau — oder treiben 
andere empor wie die rauchenden Eilande von Stromboli. So mag auch das tiefere Erdfeuer 
mal feine Bande ſprengen, wie der im Atna gefeſſelte Rieſe Ermelandus. Denn nur 1 Prozent 
der Erdkugel beträgt die Rinde, auf der die Menſchheit atmet, ſonſt beſteht der ganze Planet 
aus Feuerſtoff. Wie die Schöpfung felber in Feuerwirbeln begann, mag fie darin auch ihr Ende 
finden. Heut laufen allerlei Prophezeiungen um, daß in Bälde eine Erdzertrümmerung ftatt- 
finde, obwohl kleineren Stils, meiſt auf Europa beſchränkt. Für Auguſt 1922 malte ein Amerikaner 
den Teufel an die Wand, von Budapeſt her würden 70 erloſchene Vulkane ſpeien und Europa 
umſchmeißen. Dies Gemunkel überſtand man fo wohlbehalten wie einſt Falbs Drohung mit 
einem die Erdbahn ſtreifenden Kometen; nicht mal beſonderer Ephemeridenfall trat ein. Falb 
war blamiert, der noch in längerem Privatbrief an mich ziemlich deutlich bei ſeinem Glauben 
verharrte. Doch Falbs Mondtheorie gilt als bahnbrechend, er war nicht auf den Kopf gefallen, 
ſo vorſchnell er die Erde umfallen ließ. Ein anderer deutſcher Gelehrter entwickelte ſeither die 
ſeltſame Theorie, der Mond werde einſt auf die Erde fallen. Jener Newporker Prophet mit 
ſeinen 70 Vulkanen darf ſich darauf berufen, daß andre Geologen umgekehrt England und 
Nordfrankreich ein jähes Ende weisſagen. Das eigene Vaterland verſchont man ſtets dabei, 
fo etwas macht unbeliebt, doch ſollten die guten Amerikaner bedenken, daß ihre ganze Weft 
kũſte bis Südchile mit erloſchenen Vulkanen fo dicht befat iſt wie die Südfee mit Korallenklippen. 
Ein Newyorker Geologe verſicherte jüngſt, dieſe große transatlantiſche Doppelſtadt fet völlig 


Droht neue Exderfchütterung ? 161 


unterhöhlt und werde eines Tages einftürzen. Bei ſolcher Übertreibung ſollte man freilich glauben, 
daß dann jedenfalls bei größerem Erdbeben dies Schickſal ſehr möglich ſcheint, was übrigens 
auch für das ähnlich unterhöhlte Paris zutrifft. 

An Amerikas Oſtkuͤſte iſt es auch nicht geheuer, denn der Atlantiſche Ozean verfchludte einft 
ben großen Kontinent Atlantis, muß alfo noch heut von fubmarinen Vulkanen wimmeln; 
übrigens gibt das Seekrautphänomen der Sargaſſoſee zwiſchen den Azoren und Mexiko zu 
denken. Noch niemandem fiel auf, daß dies der Angabe Platos entſpricht: es habe ſich nach 
Untergang von Atlantis ein großer Schmutzabgrund gebildet, durch den man nicht hindurch 
könne. Freilich verſicherte ein deutſcher Gelehrter, er habe jenen Meerteil befahren und nie 
ein Sargaſſomeer gefunden! Unzählige Zeugniſſe dafür wären alſo Schwindel? Solche Stepfis 
muß man um fo ſkeptiſcher aufnehmen, als ja noch heut manche Gelehrte die Exiſtenz von 
Atlantis beſtreiten. Doch man braucht nicht den Überlieferungen zu glauben, trotz der neuen 
Auf ſchluüͤſſe durch Frobenius’ weſtafrikaniſche Küftenfunde, um gleichwohl den geologifch-ethno- 
logiſchen Beweiſen zu trauen, daß Kontinente und Inſeln den Meerfpiegel von den Azoren 
bis Grönland bedeckten. Dieſe Kataſtrophe ſteht ja auch nicht einzig da, denn lange zuvor im 
Sekundar zerbricht der Suͤdſeekontinent Lemurien, und es erheitert, wenn Wallace und Haeckel 
dies ohne weiteres zugeſtehen, doch ſich gegen den geradeſo beweisbaren Untergang von Atlantis 
fräuden. Nach Meinung der Okkultiſten bezieht fic) auch die bibliſche Sintflut darauf; wir 
fügen hinzu, daß das alte Sumerer -Epos darüber ein offenbar ſymboliſches Gepräge hat, 
denn „Noah“ bedeutet „Weisheitruhe“, die „Arche“ (richtiger „Schiff“) Erkenntnis. Von Über- 
ſchwemmung Kleinaſiens „am Ararat“ iſt jedenfalls geologiſch nichts nachweisbar, dagegen 
moglich, daß der Name „Sintflut“ ſich vom Indusreich Sind ableitet, wo ein drachenartiger 
Komet erfhienen und als „Stern von Sind“ großes Meerbeben verurſacht haben foll, wodurch 
ih hernach der Himalajagürtel bildete und das heutige Indien aus dem öden Abgrund ſpäter 
auftauchte. 

Was nun heutige Unkenrufe über nahende Zerſtörung betrifft, worin ſich neuerdings auch 
die Aſtrologie auszeichnet, fo darf man natürlich auf fie fo wenig Häuſer bauen wie auf Be- 
ſchwichtigungsproteſte der Wiſſenſchaft, daß Erdveränderungen nur in langen Swifdenrdumen 
allmahlich erfolgen. Davon weiß jie erfahrungsgemäß nichts. Von der letzten tertiaren Riefen- 
kataſtrophe trennt uns jetzt ſchon ein ungeheurer Zwiſchenraum, und die Plötzlichkeit iſt nicht 
ſo zu verſtehen, als ob nicht genug Zeichen vorangingen. So ſchildert es die Bibel, Noah ſieht 
fie, doch alle Menſchen lachen ihn aus. Nun, jener Ban keeprophet von 1922 erlebte ſchon die 
Senugtuung, daß Anfang 1925 wirklich heftiges Erdbeben in Ungarn losbrach, auch macht das 
erſtaunliche Herumziehen der Erdbeben aus der Weſtſchweiz bis ins Seinetal, ja bis Norwegen 
und Schottland, wo man nie fo etwas früher erlebte, jeden Unbefangenen ſtutzen. Ebenſogut 
könnte in den Tiefebenen der Elbe, Weichſel, Wolga plötzlich die Erde beben. Beſonders be- 
denklich find aber die Erſcheinungen in England, wo Weſtminſter Bridge und St. Paul ein- 
zuſtürzen drohen und jähe Überſchwemmungen durch Grundwaſſer eintreten, auch Abbrödeln 
der franzöfifchen Küͤſte iſt kein günftiges Vorzeichen. An Warnungen fehlt es alſo nicht. Übrigens 
[hob auch die Eiszeit ihre Vergletſcherung fo unvermittelt raſch vor, daß der Mammut, davon 
gewaltſam überraſcht, nicht mehr entrann wie fein Stiefbruder, der Elefant, der ſich rechtzeitig 
fübwärts verzog, wo er noch am Rhein neben den Neandertalmenſchen graſte. Damals trug 
die Hyperboraiſche Halbinſel vom Baltikum bis Kamtſchatka Palmen, auf Grönland wuchs 
der Brotbaum, in Europas tropiſchem Klima tummelten ſich Nashorn, Flußpferd, Löwen 
und als Ableger der hochbeinigen Höhlenkatze der Urtiger mit dem Sichelzahn. Dann verſchob 
ſich das Erdfeuer fo raſch zum Aquator, daß dort das Meer zur Saharawüfte austrocknete. 
Lange genug erhielt ſich Erkaltung der Erdoberfläche im Norden, heut iſt laut vielen Gelehrten 
ein Gegendruck vom Sübpol zu erwarten, wir ſehen dieſen Prozeß ſchon weit fortgefchritten: 
abnorm milde Winter im Norden, Kälte in Rom, Schneefall in Nordafrika. Wenn klimatiſche 

Der Türmer X XVIII, 2 11 


162 Droht neue Erberfgütterung? 


Anderung ſich fo plötzlich vollzieht, was könnte Hervorbrechen feuriger Erſchütterung verbieten 
oder verlangſamen? So wenig wie die entſetzlichen Erdbeben von Tokio und Meſſina braucht 
ſich Losbruch eines Weltbebens durch ſtufenweiſe Vorbereitung deutlich anzukündigen. 

Der in tauſend Splitterbrocken zerborſtene Weltteil Lemurien foll nur durch vulkaniſche 
Erdbeben ſich aufgelöſt haben, doch ein andrer Stoß traf Atlantis in ganz verſchiedener Art 
als Meerbeben. „Die Brunnen der Tiefe taten ſich auf“, „es regnete 40 Tage und Nächte“, 
merfwiirdigerweife erzählen indianiſche Urſagen das gleiche wie die Bibel, ihre Urahnen 
(die Atlantier) hätten ſich „mächtiger als Blitz und Donner“ genannt und ſeien für ihren natur- 
wiſſenſchaftlichen Dünkel beſtraft worden. Dauerregen, unaufhaltſames Grundwaſſer, deutet 
dies auf ſideriſchen, vielleicht kometariſchen Einfluß? Wer mag es entſcheiden! Daß Kometen 
zuſammenſtoß mit unſrem Planeten wegen Deckung durch die Erdatmoſphäre unmöglidy fei, 
iſt bloß Hypothefe. unmöglich? Es bedarf keines Kometen zu Dammbrüchen der ſchwachen 
Erdrinde, unterirdiſche Feuerbewegung kann dies ſchon ſelbſt beſorgen. Wo heut der Atlantiſche 
Ozean rollt, verſank das Erdreich fo raſch unter fortdauernden ſubmarinen Exploſionen, dak 
die laut Plato äußerft feetundigen und gewaltige Flotten unterhaltenden Atlantier fic nur 
ausnahmsweiſe (Noah) retten konnten. Die Erdumwandlung erfolgte alſo nicht ruckweiſe, 
ſondern durch plötzliche Gewaltſtöße. In unſern Tagen verſchwand Znfel Krakatau mit jchred- 
licher Raſchheit; man darf ſich nur an ſolche bekannten Erfahrungen halten; dem Untergang 
Tokios und Meſſinas gingen keinerlei Anzeichen vorher. Der Erdbewohner, jede Sekunde mit 
ungeheurer Schnelle durch den Weltraum geſchleudert, merkt nichts davon, und wunderbar iſt 
nur, daß wir nicht ſtündlich vernichtet werden, was beim geringſten Fehler im Kreuzen ber 
Planetenbahnen eintreten muß. Die altägyptiſchen Prieſteraſtronomen von Dendorah ver- 
zeichneten ausdrüdlich eine Konſtellation mit Sternbild des Drachen, wobei Polftellung und 
Ekliptik der Erdachſe ſich ändern: dann tritt unfehlbar Weltbeben ein. Kann dieſe Konſtellation 
nicht wiederkehren? 

Zweifellos ſcheinen vulkaniſche Hauptgebiete wie Japan, Nordillerenlande, Oceanien, 
Turkeſtan, Süditalien uſw. am nächſten bedroht, doch beim Vorrücken des Erdfeuers nord 
warts können auch Länder betroffen werden, die fonft ſtets verſchont blieben: ſchon gab es 
neulich Erdbeben in La Rochelle. Ein franzöſiſcher Aſtrologe warnt dunkel, daß 1928 Erber- 
ſchutterungen kommen follen, wo man es am wenigſten ahnt. Bedroht find beſonders Kuͤſten 
und Inſeln, wo auch alle bedeutenden Vulkane liegen, wie Atna auf Sizilien, Veſuv am Meer, 
die Krater auf Island, Nipon, Hawai. Iſt das ein Fingerzeig, daß Vulkanismus mit Mari- 
timem innerlich zuſammenhängt? Bei der gräßlichen Heklaentladung vor erſt 900 Jahren 
änderte ſich das bisher ſehr freundliche Klima ins Unwirtliche, indem der Golfſtrom plötzlich 
aus feiner Bahn geriſſen wurde. Im Stillen Ozean kündigt ſich der grauenvolle Taifun jäh- 
lings an durch erdruͤckende Schwule, als ob Hitze aus dem Meer aufſtiege und die Luft ver- 
ſengte: hängt das vlelleicht nicht auch mit ſubmarinem Vulkanismus zuſammen? Jedenfalls 
kann Weltbeben ſich ebenſowohl durch Meer als Erdbeben vollſtrecken. 

Wer je unerträgliche Sommerhitze bei Mori am Gardaſee erlebte, denkt an Römerzeit, wo 
bier heiße Quellen für Shermenbdber ſprudelten. Von den Aargäuer Schwefelquellen (Baden) 
zieht ſich über Zürich und Konſtanz bis in die Schwaͤbiſche Alp eine Erdbebenzone, die 1911 
und 1924 beunruhigte, in Italien zieht ſich ſolche Zone ſchon bis Florenz, doch ſie könnte auch 
plötzlich nördlich des Appennin in die Lombardiſche Ebene bis zu den Seen Aberfpringen oder 
ſich in Seutſchland nach Bayern und Thüringen verbreiten. Nichts ſchützt davor, nichts läßt 
ſich berechnen, Erſchütterung könnte quer durch ganz Europa rollen. Alte geologiſche Berech 
nungen, jüngft emphatiſch durch aſtrologiſche Prophezeiungen verftdrtt, verſteifen ſich indeſſen 
nur auf Untergang Englands und Nordfrankreichs. Merkwürdigerweiſe ſtimmt dies zu jener 
Stelle der Apokalypſe, wo von einem Tag in einem Sturm Babel mit ſeinen Flotten wie 
ein Mühlſtein ins Meer verſinkt. Solche wörtliche Auslegung ablehnend, müͤſſen wir doch gu 


das Erdbeben im Erlebnis ber Menſchhelt 165 


geben, daß die letzte Ausgießung der Schale ein fo groß Erdbeben verkündet, „wie die Welt es 
noch niemals fab, und es kam eine neue Erde“. Man mag es ſymboliſch auffaſſen, überhaupt die 
Möglichkeit folder Fern-Prophetie ableugnen, jedenfalls iſt die Möglichkeit eines Weltbebens 
unbeſtreitbar. Es kommt aber etwas Beſonderes hinzu. Die Tiefe des atlantiſchen Meeresbodens 
betrug früher meiſt 2000 m, heut findet das Senkblei mehrfach nur 200. Steigt aber die einſt 
verfuntene große Bergkette der Atlantis ruckweiſe wieder an die Oberfläche, jo erzeugt dies 
eine rieſige Spannung, fo daß die Wogen teils auf die amerikaniſche, teils die europäiſche Kuͤſte 
mit der Gewalt eines Schleuſenwaſſers ſtürzen müßten. Nach der ungefähren Richtung zu 
ſchlleßen, wo die Atlantiserde aufſteigen würde, wälzt fic) dies Meerbeben beſtimmt auf Nord- 
weſtfrankreich und England, das beiläufig prähiſtoriſch ſchon viermal unterging und früher als 
Halbinfel mit der Bretagne zuſammenhing. Natürlich würde der Druck auch die Niederlande 
und die deutſche Nordſeeküſte umwerfen, Dänemark entankern, man darf aber hoffen, daß der 
Stoß dann verſchäumt und das Meer wieder ruhig verdaut, nachdem es fo große Biſſen ver- 
ſchluckte. Ob dies 1927/28 geſchieht oder ob die unzweifelhaft kommenden Erſchuͤtterungen 
ſich nur mit einzelnen Teilkataſtrophen begnügen oder ob alles ſich als Illuſion in Wohlge- 
fallen auflöft — eine Heine Warnung iſt doch geboten. Karl Bl ibtr.u 


Das Erdbeben im Erlebnis der Menſchheit 


Oie Urſachen. Wahrſcheinlichkeit neuer Kataſtrophen? 


n unheimlicher Weiſe mehren ſich in den letzten Jahren auf unſerer Erdkugel die Erdbeben. 

Zweimal innerhalb zweier Jahre wurde das japaniſche Volk heimgeſucht. Und kaum haben 
wir von dem Beben in Columbia Kenntnis genommen, als uns ſchon eine neue Schreckens! 
nachticht erreicht: die Kataſtrophe von Kalifornien. 

Es iſt begreiflich, daß das Denken und Fühlen der Kulturmenſchheit durch dieſe tragifchen 
Ereignifje wieder von neuem auf das unheimliche Naturereignis hinlenken wird. Der natur- 
wiſſenſchaftlich Intereſſierte wendet ſich etwa an den geologiſchen Fachmann, um die Urſachen 
der Erdbeben zu erfahren. Er wird dahin belehrt, daß es dreierlei Beben gibt: 1. die Einfturz- 
beben. Sie entſtehen, wenn durch auslaugende Wirkung des Waſſers ſich unterirdiſche Gänge 
und Hohlräume bilden, ſo daß ſchließlich die Sewölbe die Laſt nicht mehr zu tragen vermögen, 
einſtuͤrzen und fo Erjhütterungen hervorrufen. 2. die vulkaniſchen Beben. Sie haben ihre Ur- 
ſache in der Spannung der in Spalten der Erdrinde ſich aufwärts draͤngenden Laven und 
Dampfe, aber auch in wirklichen Exploſionen. Im Mittelpunkt des Erſchütterungsgebietes liegt 
faft immer ein Vulkan. 3. die tektoniſchen oder Dislokationsbeben. Sie entſtehen durch die Ab- 
kühlung und Zuſammenziehung der gel und find die häufigiten, ausgedehnteſten und 
ſchrecklichſten Beben. 

Angſtliche Gemüter, die auf dieſe Weiſe vom Geologen belehrt wurden, fragen dann wohl 
nach der Wahrſcheinlichkeit, daß unſere Gegenden von ſchweren Beben heimgeſucht werden 
konnten. Ihnen zum Troſt darf geſagt werden, daß Erdbeben von fold’ kataſtrophaler Wirkung 
wie z. B. in Japan, bei uns in Oeutſchland auf wohl viele Jahrhunderte hinaus kaum zu be- 
fuͤrchten find. Denn erſtens find Areale mit ungeſtörter Schichtung wie die norddeutſche Tief- 
ebene, nur bddft ſelten von Erdbeben heimgeſucht. Und zweitens ftellen ſelbſt die gebirgigen 
Gegenden Deutidlands heute weſentlich zur Ruhe gekommene Erdſtuͤcke dar, in denen es zwar 
ab und zu noch einmal rollt und grollt, aber kaum ne zu ſolch fürchterlichen Erſchütterungen 
kommt wie in Japan oder Kalifornien 


164 Das Erdbeben im Erlebnis ber Menfchheit 


Magiſcher Zwang zum Wiederaufbau 


Aber ſolch geologiſche Belehrungen laſſen unſer durch die Erdbebenkataſtrophen maͤchtig 
angeregtes Denken und Fühlen gewiß nicht zur Ruhe kommen. Unſer Forſchen ſucht weiter zu 
dringen, und wir fragen uns etwa insbeſondere, woher denn die auffallende Tatſache komme, 
daß die Menſchheit an gewiſſen Stellen des Erdballs — denken wir etwa auch an Meſſina — 
immer wieder von neuem menſchliche Wohnſtätten errichtet, obſchon fie aus der Geſchichte 
weiß, daß dieſe Stätten, bald in längeren, bald in kürzeren Zwiſchenräumen, immer wieder von 
neuem durch Erdbeben zerftört worden find. So daß alſo mit größter Wahrſcheinlichkeit voraus- 
gefeben werden kann, daß auch dieſe wieder aufgebauten Wohnſtätten nach einigen Gene- 
rationen von neuem einer Kataſtrophe zum Opfer fallen werden. Man hat zur Erklärung dieſ er 
merkwürdigen Tatſache auf eine gewiſſe „apres moi le déluge“-Stimmung hingewieſen, die 
gerade bei den durch Kataſtrophen heimgeſuchten Völkern häufig einzutreten pflege. „Für uns 
und unfere Kinder wird's wohl noch halten, und darnach... mag kommen, was kommen mag !“ 
Es mag in der Tat einige Leichtfertige geben, die fo denken und fühlen, weil fie keinen Sinn 
haben für das, was Fichte als die erhabenſte Aufgabe des Menſchen und als ſeine eigentliche 
Beſtimmung bezeichnet hat: „Durch vorſorgliches Wirken für die Zukunft unſeres gemeinſamen 
Brudergeſchlechts die Unſterblichkeit an ſich zu reißen!“ Mag fein, daß manche Menſchen für 
dieſe unendliche Aufgabe des Menſchengeſchlechtes kein Verſtändnis haben: als allgemeiner 
und ausreichender Grund für die Erklärung der erwähnten Erſcheinung kann jene Gorg- 
loſigkeit für die Zukunft nicht angeſehen werden. Man hat ferner etwa auf die Analogie des 
menſchlichen Verhaltens mit dem tieriſchen hingewieſen: fo wie die Ameiſe, deren Bau man fo- 
eben mit einem Stock zerſtört hat, ſofort mit allen Kräften und mit friſchem Mut an den Wieder- 
aufbau geht und dieſes Spiel immer wieder wlederholt, ſolange wir grauſam genug ſind, unſer 
Zerſtörungswerk zu wiederholen, ebenſo handelt auch der Menſch, wenn ein grauſames Geſchick 
ihm ſeine Heimſtätte durch die verheerende Naturgewalt des Erdbebens zerſtört hat. Er folgt 
dabei einem tief in der Seele alles Lebendigen wurzelnden Inſtinkte. 

Auch dieſe Deutung — ſo richtig fie an ſich fein mag — ſcheint mir keine vollſtäͤn dige Er- 
klärung der in Frage kommenden Erſcheinung zu bieten. Man muß noch ein weiteres pſycho⸗ 
logiſches Moment zur Erklärung heranziehen, und zwar ein ſolches, deſſen Tragweite erſt die 
moderne Tiefenpſychologie voll erkannt hat: das Prinzip des „Wiederholungszwanges“. Sieg 
mund Freud hat jüngſt die Allgewalt dieſer ſeeliſchen · Srundkraft hervorgehoben. Sie beſteht 
in der paradoxen Erſcheinung, daß der Menſch Situationen, die für ihn ſchmerzlich, ja tragiſch 
waren, mit einer Swangsldufigteit, die ſtärker iſt als fein bewußter Wille, wieder und wieder 
herbeizuführen ſich getrieben fühlt. Und zwar wunderlicherweiſe nicht: obſchon jene Citu- 
ationen ſchmerzlich waren, ſondern gerade weil fie ſchmerzlich waren! Man ſieht dies Prinzip 
ſchon im Kindesleben am Werk: war etwa der Arzt beim Kinde und es hat dabei Peinliches er- 
fahren, fo ſpielt es unweigerlich bald nach Fortgang des Arztes „Onkel Ooktor“! Es fühlt ſich mit 
eigenartig ſelbſtquäleriſchem ſeeliſchem Zwange dazu gedrängt, die Situation, die ſchmerzlich 
war und peinlich — wenigſtens in der Phantaſie — wieder und wieder zu erneuern. So können 
wir auch die paradoxe Behauptung wagen, daß der durch Erdbebenkataſtrophen tragiſch heim; 
geſuchte Teil der Menſchheit den Wiederaufbau der zerſtörten Gebiete immer wieder von neuem 
„arrangiert“, nicht obſchon, ſondern gerade weil er — unbewußt! — eine Wiederholung der 
Kataſtro phe vorherahnt . 

Hiſtoriſche Trümmerſtätten 


Was nun den Anſtoß betrifft, den unſer geſchichtliches Nachſinnen durch die häufigen und 
ſchrecklichen Erdbeben erhält, fo fragen wir uns etwa, wie weit die Nachrichten zurüdreichen, die 
wir über Erderſchütterungen und dadurch angerichtete Verwüſtungen auf dem bewohnten 
Teil der Erde beſitzen. Schon aus dem ſechſten vorchriſtlichen Jahrhundert haben wir Auf- 


Das Erdbeben im Erlebnis der Menſchhe it 165 


zeichnungen, die berichten, daß damals ein ſchweres Erdbeben in Sparta gewaltige Serftdrungen 
anrichtete. Vom Taygetos, dem heutigen Pentedaktylon („Fünffingergebirge“) ſauſten ge- 
waltige Felsmaſſen zu Tal. Rund 100 Jahre ſpaͤter — Anno 464 — wurde Sparta durch eine 
ahnliche noch ſchwerere Kataſtrophe heimgeſucht, die die Stadt bis auf wenige Häufer in einen 
Srümmerhaufen verwandelte. Nach dem Bericht des Ephoros kamen dabei nicht weniger als 
20000 Spartaner ums Leben. Wir beſitzen zuverläffige Aufzeichnungen, welche melden, daß im 
Jahre 426 vor Chriſto über die Küͤſten des eubdifchen Sundes und des maliſchen Golfes ſchweres 
Verderben hereinbrach. Fünfzig Jahre ſpäter klaffte in der Landſchaft Achaia am ſuͤdlichen 
Zipfel des Golfes von Korinth ein gewaltiger Erdſpalt auf. Er verſchlang in wenigen Minuten 
das ganze Bergſtädtchen Bura und verwandelte die Seeſtadt Helite in einen Trümmerhaufen. 

In feiner „italienifchen Landeskunde“ gibt Niffen ein Verzeichnis der Erdbeben auf der Apennin- 
halbinſel. Wir ſehen daraus, daß es kaum eine Gegend Staliens gibt, die nicht ſchon im Alter- 
tum wiederholt — und manchmal ſchwer — durch Erdbeben erſchuͤttert wurde. Insbeſondere 
die Seſchichte Meſſinas iſt ja bekanntlich — wie [chon oben erwähnt wurde — die Geſchichte 
einander immer wieder folgender Zerſtörungen und Wiederaufbauungen. Am ſchlimmſten 
deimgeſucht war aber im Altertum ohne Zweifel das weſtliche Kleinaſien. Zahlreiche klein; 
aſiatiſche Städte und Inſeln find durch die Häufigkeit und Furchtbarkeit ihrer Erdbeben, zumal 
im fpäteren Altertum, zu einer traurigen Berühmtheit gelangt. Aeameia in Phrygien wurde 
wiederholt zerſtört, und dem Philoſophen Poſidonius von Apameia, der um 135 vor Chriſtus 
lebte, verdanken wir die wertvollſten Angaben über Erdbeben im Altertum. Das ſchlimmſte 
Unheil aber brach ſpãter als Poſidonius, im Jahre 17 nach Chriſto, herein. Es verwandelte nicht 
weniger als 12 kleinaſiatiſche Städte in Trümmerhaufen. Nach Tacitus leitete der Kalſer Tiberius 
eine „Hilfsaktion“ zugunſten des am ſchwerſten getroffenen Sardes ein. Er ſtellte dieſer Stadt 
Geld zur Verfügung und erließ ihr auf 5 Jahre die Zinszahlungen. Ein Senatskommiſſar 
wurde von Rom nach Kleinaſien geſandt mit dem Auftrag, auf Grund perſönlicher Beſichtigung 
die geeignetſten Hilfsmaßnahmen zu treffen. Dies war übrigens nicht die erſte, an moderne 
Zeiten erinnernde „Hilfsaktion“. Schon früher hatte Kaiſer Auguſtus den Bewohnern von 
Städten, die durch Erdbeben geſchädigt worden waren, Hilfe gewährt. Auch Syrien und die 
Südkuͤſte Phöniziens wurden im Altertum oft und ſchwer von Erdbeben heimgeſucht. Dabei 
erfahren wir aud ſchon von ſogenannten „Meerbeben“, wie fie ja 1925 in Japan, ſowie bei den 
Beben in dieſem Jahre eine unheilvolle Rolle geſpielt haben. 

Das Schüttergebiet von Saron wird um feiner Erdbeben willen noch heute in den Gebets 
riten der Juden erwähnt. Es hat in der Liturgie des „Verſöhnungstages“ ſeine Stelle. Im 
Alten Teſtament heißt es beim Propheten Amos (Kapitel I, 1): „Dies iſt's, was Amos, der 
unter den Hirten von Thekoa war, geſehen hat, zwei Jahre vor dem Erdbeben.“ Hier haben wir 
den einzigen hiſtoriſch ſichern Bericht über ein Erdbeben im Alten Teſtament. Es handelt ſich um 
das Erdbeben, das zur Zeit des Königs Uſiah um 760 vor Chriſto ſtattfand. Die übrigen Er- 
waͤhnungen von Erdbeben durch die Heilige Schrift geſtatten keine Rückſchlüſſe auf beſtimmte 
geſchichtliche Naturereigniſſe. 

Sage und Philoſophie 

Da die Erdbeben im Schickſal der Menſchheit ſeit Jahrtauſenden eine ſo große Rolle geſpielt 
haben, dürfen wir erwarten, daß fie auch die ſagen- und mythenbildende Phantaſie in Be- 
wegung geſetzt haben, ſowie auch jenes Staunen, von dem ſchon Ariſtoteles ſagte, daß es den 
Urſprung aller Philoſophie bilde. In der Tat ſpielt das Erdbeben in Sage und Philoſophie der 
Bolter keine geringe Rolle. Die Legende befchäftigt ſich vor allem mit der Entſtehung der Erd- 
beben. So berichtet eine alte ukrainiſche Sage: Als der Erzengel Gabriel von unſerm lieben 
Sotte den Auftrag erhielt, ihm neue Engel zuzuführen, da war er in der Wahl nicht ſehr genau 
und machte auch ſolche Seelen zu Engeln, die nicht ſanftmütig genug und wenig friedfertig 
waren. Die Folge davon war, daß die Engel ſich gar oft entzweiten. Erzürnt daruber befahl Gott 


166 Das Exbbeben im Erlebnis der Menſchheit 


dem Erzengel Michael, viele der Engel in die Tiefe zu ſtürzen. Da kam ein Teil von ihnen unter 
die Erde, ein anderer auf die Erde, ein dritter blieb zwiſchen den Sternen ſchweben. Wenn 
aber die Engel, die zwiſchen den Sternen ſchweben, Tränen vergießen, ſo ſehen wir dieſe als 
Sternſchnuppen auf die Erde fallen. Wenn die Engel auf der Erde weinen, ſo ſind ihre Tränen 
fo heiß, daß anhaltende Dürre entſteht. Und wenn endlich die Engel unter der Erde jammern und 
klagen, ſo empfinden wir das als Erdbeben! 

Voll Poeſie und geheimnisvoller Symbolik iſt folgende Sage der Buräten (eines in Sibirien 
wohnenden Volkes mongoliſchen Stammes): Am Anfang war ein uferloſes Meer, auf deſſen 
Boden ſchwarze Erde und Lehm war. Gott befahl dem weißen Taucher, zu tauchen und Lehm 
vom Meeresgrund zu holen. Als er untergetaucht war, brachte er im Schnabel rote und ſchwarze 
Erde herauf. Er warf es nach allen Seiten, woraus die Erde entſtand. Sie liegt auf der Meeres 
fläche und wird geftigt von einem ungeheuren Fiſch. Wenn dieſer ſich wendet, fo entſteht Erd⸗ 
beben. 

Kaum ein Erdbeben beſitzt eine ſo große geſchichtliche Berühmtheit wie dasjenige von Liſſabon 
des Jahres 1753, bei dem mehr als 30000 Menſchen umkamen. Pombal ließ den zerſtörten Teil 
der Hauptſtadt prächtig wieder aufbauen. Das furchtbare Ereignis regte nun die Phantaſie 
und den philoſophiſchen Sinn der Zeitgenoſſen mächtig an. Einen Voltaire führte es zu peffi- 
miſtiſchen und ſkeptiſchen Gedanken über die göttliche Borfehung. Von Kant beſitzen wir nicht 
weniger als drei naturwiſſenſchaftlich wie philoſophiſch bedeutſame Abhandlungen aus dem 
Sabre 1756, die ſich mit den „ſeit einiger Zeit wahrgenommenen Erderſchütterungen“ auf das 
eingehendſte beſchäftigen. In weltanſchaulicher Hinſicht gelangt Kant zu folgender Schluß 
betrachtung: „Der Anblick ſo vieler Elenden, als die letzte Kataſtrophe unter unſern Mitbürgern 
gemacht hat, ſoll die Menſchenliebe rege machen und uns einen Teil des Unglüds empfinden 
laſſen, welches fie mit ſolcher Härte betroffen hat. Man verjtößt aber gar ſehr dawider, wenn man 
dergleichen Schickſale jederzeit als verhängte Strafgerichte anſieht, die die verheerten Städte 
um ihrer Abeltaten willen betreffen und wenn wir diefe Unglüdfeligen als das Ziel der Rache 
Gottes betrachten, über die ſeine Gerechtigkeit alle ihre Zornſchalen ausgießt. Dieſe Art des 
Urteils iſt ein ſträflicher Vorwitz, der ſich anmaßt, die Abſichten der göttlichen Natſchlüͤſſe einzu- 


feben und nach feinen Einſichten auszulegen.“ 
Prof. Dr. Richard Herbertz (Bern) 


Literatur, 
Runjt — 


Sean Baul 


Ein Sedenkblatt zu des Dichters 100. Todestag 
(14. November 1925) 


tt eure deutſchen Meifter! Dann bannt ihr gute Geiſter“ — So mahnt einer unferer Größ- 
ten, Richard Wagner, der zu Bayreuth, in der lieblichen Frankenſtadt, das Ziel feiner Be- 
ſtrebungen erlangt hat. Noch ein anderer Genius, an echtem deutſchem Sinn dem fächfifchen eben- 
bürtig, lebte und wirkte in der einſtigen fränkiſchen Reſidenz und hat dort, wie Wagner, fein Stand- 
bib: Jean Paul, der größte Dichter Frankens, mit Goethe und Schiller um die Palme ringend. 
Als im November 1825 die Trauerkunde durch die Welt zog: Jean Paul iſt tot — weckte ſie 
ein lautes Echo in der deutſchen Gemuͤtswelt. Damals hielt Börne feine ergreifende Gedenkrede 
im Muſeum zu Frankfurt, in der es heißt: „Eine Krone iſt gefallen vom Haupt eines Königs! 
En Schwert iſt zerbrochen in der Hand eines Feldherrn! Und ein Hoheprieſter iſt geſtorben! 
Der Norden hat feine eiferne Kraft, der Süden feine goldene Sonne, das finſtere Spanien ſeinen 
Glauben, die Franzoſen erquickt der blendende Witz und Englands Nebel verklärt die Freiheit. 
Wir hatten Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr“... „Er war ein ſittlicher Sänger. 
Nie ſchmüͤckte er häßliche Sünde mit den Blumen feiner Worte aus; nie bedeckte er eine unedle 
Regung mit dem Gold feiner Reden ... Er ſtritt für Wahrheit, für Recht, für Freiheit und Glau- 
ben, und nie deckte bei ihm die Flagge eines mächtigen Namens fündlich heilloſes Gut, um es den 
Ungläubigen zuzuführen ... Er war der Jeremias feines gefangenen Volkes.“ | 
Und bei der 100. Wiederkehr des Geburtstags Jean Pauls, 21. März 1863, erſtrahlte Bayreuth 
im Feſtglanz. Die Schulen wallfahrteten mit ihren Lehrern zu feinem Standbild und brachten 
ihm Kranze; Feſtreden wurden allenthalben gehalten, und Hermann Lingg dichtete ein ſchwung⸗ 
volles Lied zu Ehren des Voigtländer Pfarrerſohns, der „mit knoſpender Blüte, im Amſelſchlag, 
mit der jubelnden Lerche“ am erſten Frühlingstag geboren war und als Oichterlerche fo wunder 
dolle Töne gefunden hatte, wie kein anderer vorher noch nachher. 


Es gibt kein Glüd in der Menſchenbruſt, Ich möchte den Tag nicht ſchau'n, der kalt 
Kein noch ſo ſtilles — du haſt es gewußt Von deinem Albano, von Vult und Walt, 
In den Rahmen von Perlen zu fafjen. Von deinen Lianen uns ſchiede. 

Die Perlen des Meeres der Liebe, du Stets wehe um jenes Kampanertal, 

Haft alle gezahlt und die Träume dazu Wo du mir geglänzt als Zdeal, 

Und ımbeglängt keine gelaffen... Ein ſtiller und heimlicher Friede! 

Das iſt es, was unüberwinblid ſchafft: Kometen gleich wird von Zeit zu Zeit 
Der lautere Mut und die geiſtige Kraft Dein Name ſich vor der Unſterblichkeit 
Die keiner Enttäufchung erlieget. Erhellen lichter und lichter. 

So walleſt du über dem ſchweigenden Grab Zunächſt dem Diosturenpaar 

Und rufeſt zu deinen Menſchen hinab: Sieht dich die Nachwelt immerdar, 
„Liebt, hoffet und danket und ſieget!“ Den innigſten aller Didter. 


Wie wird das nächſte Jahrhundert nach dem Todestag fic geſtalten? Soll ſich das Wort des 
vielſchreibenden Engel bewahrheiten: „Heute nur noch ein berühmter Name, nicht mehr ein ge- 
leſener Schriftſteller“? 


168 Sean Paul 


Wer ift ein geleſener Schriftiteller? 

Wenn wir die Frage jtellen nicht im Sinn eines Modeſchriftſtellers, der nach kurzer Zeit wieder 
in Vergeſſenheit fällt, wenn wir nicht einen Genfationsroman oder ein Augenblidsmeteor wie 
„Rembrandt als Erzieher“ oder Spenglers „Untergang des Abendlandes“ meinen, Schöpfungen, 
die nur blenden in einem ihrem Erſcheinen beſonders günftigen Moment, wenn wir Autoren und 
Werke von gediegenem und bleibendem Wert darunter verſtehen, die nie veralten, dann iſt in 
jedem Volk die Anzahl ſolcher nicht groß. Wenn je, dann war vor hundert Jahren eine Glanzzeit 
der Dichtung in Deutſchland wie nur ſelten irgendwo; aber was iſt denn von den Geiſtern der 
großen Literaturepoche des Klaſſizismus heute noch „lebendig“? Überbliden wir die glänzenden 
Namen, welche damals den deutſchen Parnaß zierten und von denen vier der berühmteſten: 
Goethe, Schiller, Herder und Wieland, allein im kleinen Weimar lebten, fo find die meiſten ziem- 
lich verblaßt. Klopſtock lebt noch in einigen ſeiner Oden — ſeinen Meſſias lieſt ſicher niemand 
mehr —, Leſſings Dramen muten ſchon ziemlich altväterlich an, aber er erhält ſich noch durch 
feinen meiſterhaften Stil; Herder, einft führend durch den Reichtum feiner Anregungen, wenn 
auch nicht ein ſchöpferiſcher Geiſt, ſitzt ziemlich im Hintertreffen, und Wieland, der deutſche Vol⸗ 
taire, iſt uns ungenießbar geworden. Goethe und Schiller freilich haben ſich behauptet, aber nicht 
in allen ihren Schöpfungen. Wer findet Geſchmack an den Wanderjahren, an Schillers Armenier, 
an den Aſthetiſchen Briefen? Ich glaube, unter den ſieben großen Genien der Weimarer Periode 
iſt Jean Paul der unſerem Empfinden am nächſten Stehende, der Modernſte, der Lebendigſte. 
Ex hat nie ein fremdes antikiſierendes Gewand angezogen wie die beiden Didterheroen, zu 
deren Verſtändnis man ftets ein mythologiſch erklärendes Lexikon zur Hand haben muß; er hat 
aus dem innerften Geiſt der deutſchen Volksſeele geſchaffen; feine Dichtung hat unvergleichliche 
Schönheiten, herrliche Geſtalten, dazu einen unverwelklichen Humor und die Weihe edelſter Hu- 
manität und religidfer Erhabenheit — nur haften ihm freilich Manieren der Schreibart an, die 
feine Lektüre mitunter ſchwierig machen; aud iſt der ſentimentale Gefühlsüberſchwang und die 
übermäßige Breite, zumal in den Jugendromanen, ein Hindernis ſeiner Verbreitung. Dem 
konnte aber durch eine verſtändige Kürzung abgeholfen werden. 

Wer einen raſchen Einblick in Jean Pauls Eigenart und beſonders in feinen gefühlvollen Hu; 
mor tun will, leſe „Des Amtsvogts Joſeph Freudel Klaglibell gegen feinen ver- 
fluchten Damon“ — er wird nicht aus dem Lachen kommen. Ahnlich iſt des pedantiſchen Rek- 
tors „Florian Fälbels und feiner PrimanerReiſe nach dem Fichtelberg“. Wie fein find 
bier die päbagogiſchen Fehlgriffe in komiſchen Situationen gezeichnet, und doch weht ein gemüt- 
voller Hauch über dem Ganzen. 

Oder beſſer noch: Was gleicht dem „Leben des vergnügten Schulmeiſterleins Maria 
Wuz in Auenthal“? „Wie war dein Leben und Sterben fo ſanft und meerftille, du vergniigtes 
Schulmeiſterlein Wuz!“ beginnt dieſe „Art Idylle“, wie der Dichter das Werkchen betitelt — die 
erſte rein harmoniſche Schöpfung des aus ſchweren Leibes - und Seelenkämpfen zum inneren 
Frieden erwachten Kandidaten der Theologie. 

Aber Jean Paul iſt nicht nur Humoriſt, ihm ſtehen auch erhabene Töne zu Gebote; ja fie bilden 
auch im neckiſchen Humor den tieferen Hintergrund. „Die unſichtbare Loge“ und der , Hefpe- 
rus“, dieſe feurigen Jugendromane mit ihren noch nicht ausgegorenen ſchwärmeriſchen Gefühls- 
ſchwelgereien offenbaren doch einen Flug des Genius bis zu den erhabenſten Höhen und ge- 
beimjten Tiefen des Seelenlebens. Jugendfreundſchaft und erſte Liebe — wo iſt fie ſchöner ge- 
ſchildert worden als im Seelenbündnis Viktor-Flamins mit feinen feinen Kontraſten und dem 
jähen Konflikt, den die gemeinſame Liebe zur Heldin Klotilde mit ſich bringt? Dazwiſchen immer 
wieder die komiſchen Intermezzo des Pfarrers Eymann. des Apothekers Zeuſel, des Intriganten 
Matthieu. 

Der „Quintus Fixlein“ ift eine höhere Auflage des Wuz; der erſte aber ganz von ben fenti- 
mentalen Sugendfeblern freie große Roman iſt der „Siebenkäs“. Es iſt erſtaunlich, welche Fort! 


Sean Paul 169 


chritte der Dichter hier aufweiſt. Die Erfolge des „Heſperus“ in der Wertherzeit befeuerten ihn 
gleich Goethe nur zu reineren und edleren Schöpfungen. Die Gefühlsſeligkeit iſt nun gedämpft 
zu maßvoller Gemütswärme, ber Freundſchaftsenthuſiasmus zum ruhigen, ernſten Männer- 
lieben des Armenabvokaten zu feinem Leibgeber, dieſer wundervollen Figur, einzigartig in der 
Literatur, gigantiſch, einſam durch die Welt gehend, weltverachtend, vor niemand ſich beugend, 
nur in der Freundſchaft erwarmend. Hier treffen wir auch die erſte ganz gelungene Frauen 
geftalt: Lenette, die fleißige, fromme Hausfrau, die freilich die Mängel des engen Haushalts 
recht ſchmerzlich empfindet und ſich gar nicht in den leichten Sinn und die wunderlichen 
Kaprizen des Ehemanns finden kann. In tauſend feinen Zuͤgen iſt der Gegenſatz der weib- 
lichen Pſyche zur männlichen, der Kontraſt einer kleinbürgerlichen, hausbadenen Natur zum 
weltbuͤrgerlichen Philoſophen und Humoriſten bis zur trennenden Kataſtrophe mit unerbitt- 
licher Konſ equenz ausgemalt. Der Didter hatte dieſen Kontraſt ſelbſt erlebt im Haus der 
Pfarrwitwe, als ein Stuck des Hausrats nach dem andern zum Verſatzamt wanderte und er 
allen Stoizismus aufbieten mußte, um nicht den Glauben an die Vorſehung zu verlieren. Alle 
echten Meiſterwerke find aus dem Herzblut des Genius entſprungen, und ganz beſonders die 
unſeres Dichters; hier iſt nichts Gequdltes und Erküͤnſteltes. Der „Wuz“ war die Frucht des 
Echwarzenbacher Hofmeifterlebens, wo Jean Paul an fähigen Schülern die Kindesſeele in ihrer 
[dinen Entfaltung kennenlernte, und die folgenden Romane ſpiegeln feine SEITEN 
Liebeserlebniffe. 

Her Gipfelpunkt des Jean Paulſchen Schaffens aber iſt der Titan. 

das Problem des Genies ift der Gegenftand desſelben. Es war ja die große Geniezeit über 
Deutſchland angebrochen, die Blütezeit der Dichtung und Philoſophie mit ihren Herrlichkeiten 
und Ausartungen. Auch hier fußte Jean Paul auf lebendigſter Erfahrung. Er war nach Weimar 
gepilgert, hatte hier die großen Männer, deren Werke er kannte, auch perſönlich kennengelernt, 
ihre Bedeutung, Größe, aber auch ihre Schwächen erkannt und zum Studium für feine Dichtung 
verwertet. Jetzt kann ich den Titan ſchaffen“, ſchreibt er von Weimar aus an feinen Freund Otto. 
Auch das Hofleben und die weibliche Ariſtokratie malt er nun mit Meiſterſchaft und Treue, wäh- 
tend dieſe Regionen in den bisherigen Romanen Karikaturen geweſen waren. Man erwäge nur 
feine Liane, dieſe rührende edle und zarte Mädchenfigur, im Kontraſt dazu Linda, die ehefeind- 
liche, ſelbſtgeſetzliche, dann Rabette, das Landmädchen, die dämoniſche Fürftin — welch reiche 
Galerie lebenstreuer und doch eigenartig typiſcher Geftalten! Daneben die männlichen Titanen: 
Roquairol, der geniale Wüͤſtling, fo recht ein Typus der Genieepoche, Schoppe, der wieder- 
geborene Leibgeber, auch ſelbſtherrlich, Ich Philoſoph aus der Schule Fichtes, Gaspard, der ver- 
meintliche Vater Albanos, „ein Cherub mit dem Keim des Abfalls“ — fie alle erleben ihren Ti- 
tanenſturz, und aus dem Chaos erhebt ſich der reine Fürften-Züngling Albano zur Übernahme 
einer geläuterten Regierung. 

Aberboten konnte der Titan nicht werden durch Großartigkeit des Themas und Glanz der 
durchführung; nur in der Meiſterſchaft des Stils und Liebenswirdigteit der Charaktere weiſen 
die „Flegeljahre“ noch einen Fortſchritt auf. Das Zwillingspaar Walt und Bult in feinen Kon- 
trajten und feiner Herzensgemeinſchaft ift etwas fo Einziges und echt deutſch Gemütliches, daß 
man dieſen Roman den ſchönſten Ausdruck der deutſchen Volksſeele nennen könnte, als welchen 
ein Franzoſe Wagners „Meiſterſinger“ bezeichnet hat. Ich glaube, die Flegeljahre kann man ein 
dichteriſches Seitenſtück zu Wagners Werk nennen. Hier treffen wir auch vielleicht die lieblichſte 
von des Dichters Maͤdchenfiguren: Wina, die Generalstochter, von beiden Brüdern Geliebte, 
die Walt ihr Herz ſchenkt. 

Mit den „Flegeljahren“ hatte Jean Paul den Gipfel ſeines Könnens erreicht; ein gleich be- 
deutendes dichteriſches Werk hat er nicht mehr geſchaffen. Die fpäter folgenden drei komiſchen 
Romane: „Dr. Katzenbergers Badereiſe“, „Fibels Leben“ und „Oer Komet“ bewegen 
ſich auf niedrigeren Sphaͤren 


170 Sean Paul 


Nach Vollendung oder vielmehr Abbruch der „Flegeljahre“ — denn der Roman iſt eigentlich 
unvollendet — machte Jean Paul eine längere Pauſe im Dichten und wandte ſich theoretiſchen 
Studien zu. Vor allem wollte er das dichteriſche Schaffen überhaupt einer eingehenden Analyfe 
unterwerfen und ſich über feinen Lebensberuf Rechenſchaft geben. Die Frucht dieſer lang vor- 
bereiteten Arbeit ijt die „Vorſchule zur Aſthetik“, ein Werk der feinſten und genialſten Züge, 
gleich bedeutend als Lehrbuch und Stilleiſtung. Ihm folgte „Le vana“, eine Theorie der zweiten 
von Jean Paul gehandhabten Kunſt, der Erziehung. 

Dak Jean Paul als Denker nicht minder groß wie als Dichter war, glaube ich, in meinem Wert 
„Jean Paul und ſeine Bedeutung für die Gegenwart“ (2. Aufl. bei Meiner, Leipzig 
1923), ſowie in dem Aufſatz „Jean Pauls philoſophiſcher Entwicklungsgang“ im „Ar 
div für Geſchichte der Philoſophie“, XIII. Band, bewieſen zu haben. Das „Kampanertal', 
die „Selina“ und zahlreiche Exkurſe in feinen Romanen und Einzelartikel bekunden den Fach- 
pbilofophen zur Genüge. Am nddften ſteht Jean Paul dem Gefühlsphilofophen Heinrich Jacobi, 
der die angeborenen Ideen Gott, Freiheit und Unſterblichkeit als Zeugnis der höheren. Natur 
des Geiſtes erfaßt und auf ihnen ein Gebäude der naturlichen Sittlichkeit und Religion ohne ton- 
feſſionell- kirchliche Färbung aufbaut. 

An der Seite dieſes Führers kämpft Jean Paul ſowohl gegen den Eudämonismus der fran 
zöfifchen Enzyklopädie als gegen die idealiſtiſche Schule Kant-Fichte Schelling -Hegel, welche ihm 
die Wirklichkeit zu unterhöhlen und den Gottesglauben zu gefährden ſchien. Jetzt, wo die ideal · 
ſtiſche Hochflut ſich verlaufen hat, und der Perſonalismus und gereinigte Theismus den Höhe 
punkt der Zeitpöhiloſophie bildet (ich erinnere nur an die Namen Rudolf Eucken, Heinrich Rickert, 
Ludwig Buſſe, Eduard Spranger, Henry Bergſon), ijt Jean Paul als Philoſoph ganz be 
ſonders zeitgemäß. 

Wichtig iſt noch Zean Paul als Politiker. Jean Paul hat zu den Zeitbewegungen wieder 
holt literariſch Stellung genommen — und welch einſchneidende politiſche Exeigniſſe erlebte er in 
unmittelbarſter Nähe: die Franzöſiſche Revolution, die Auflöſung des alten Römiſchen Reichs 
und der geiſtlichen Fürſtentümer, die Neugeſtaltung Europas unter Napoleon und noch deſſen 
Sturz! Wie nahm der Oichter zu all dem Stellung? In meinem Hauptwerk habe ich S. 360 
bis 391 dieſes Kapitel eingehend und mit den intereſſanten Wandlungen Jean Pauls behandelt. 
Hier nur kurz folgendes: 

Anfangs war Jean Paul glühender Republikaner à la Rouſſeau, den er tief verehrte. Die ver 
ächtliche Stellung, die er den Kleinfüͤrſten in Hohenfließ, Scherau, Flachſenfingen und ihrem Hof 
anweiſt, zeigt deutlich die ultrademokratiſche Gefinnung des Dichters. Aber der Verlauf der Fran 
zoͤziſchen Revolution und die ſchlimmen Früchte des Jakobinertums in Deutfchland machten ihn 
ſtutzig, und er bewundert ſpäter die Weitſichtigkeit Goethes, „der ſchon den Anfang der Fran- 
zöſiſchen Revolution verachtet hatte, wie wir alle das Ende derſelben“. Er wird nun ein Bewun- 
derer Napoleons, dieſes „Aſtralgeiſts und regierenden Planeten Europas“, hofft ſogar von ihm 
die Genefung Oeutſchlands, das ihm unter dem beftändigen Antagonismus Oſterreichs und 
Preußens keine ruhige Entwicklung verſprach. Dieſe Stimmung liegt der „Friedenspredigt' 
zugrunde, erſchienen 1808. Zwei fo anſehnliche Kulturvölker wie das deutſche und franzöſiſche 
ſollten ſich verföhnen, aneinander emporbilden, nicht ſich zerfleiſchen. Gegen Fichte, der gleich 
zeitig mit feinen „Reden an die deutſche Nation“ hervortrat, bemerkt er: „Oeutſchland iſt noch nicht 
verarmt. Nicht Schlachtenſiege — dieſe Kinder der Stunde, dieſe Seſchöpfe der Berechnung — 
ſind Zeichen der Kernhaftigkeit eines Volks, ſondern die Art, wie Niederlagen ertragen und Siege 
genoſſen werden ... Fichte, dieſer Polyphem mit einem Auge, jagt ſich Furcht vor möglicher 
Barbarei ein. So ift der Menſch: bei großen, fremdartigen Ereigniffen fürchtet er fic immer 
vor feinem jüngften Tag .. . Nur durch geiſtige, nicht durch kriegeriſche Überlegenheit könne eine 
Kultur eine andere überwinden.“ (Man denke an Spenglers „Untergang des Abendlandes“ 
Wie notwendig iſt jetzt der Optimismus !) Die dreifache Hydra des Luxus, der Unkeuſchheit, der 


Scan Paul 171 


Ichſucht fei ein ſchlimmerer innerer Feind als der äußere. (Barmat-Konzern !) Jean Paul ſchlägt 
Nationaltrauertage nach Analogie der römiſchen an Jahrestagen wie der Schlacht an der Allia 
bei Cannd uſw. vor, ferner Entſagungsgeſellſchaften, und beklagt die „Sonnenwende der Reli- 
gion“, hält auch „Politiſche Faſten predigten“. 

Die „Jämmerungen“ (1809) follen nach der Vorrede nicht nur eine Frühlingsdämmerung 
voll Lerchen und Blüten, ſondern auch eine Götterdämmerung bezeichnen, die ihm nahe bevor- 
ſtehend dduchte. Mit Mut tritt er der allzu hohen Bewunderung des Feldherrn und Eroberers 
entgegen und hält die Beſonnenheit und den Märtyrerſtolz in Gefahren für weit heldenhafter. 
Gin ganzes Kapitel trägt die Überfchrift „Kriegserklärung gegen den Krieg“, dieſe ſchlimmſte 
Geißel der Menſchbeit. Bereits konnte er auf Maſchinengewehre hinweiſen und fragt, wie bei 
ymehmender Technik künftig Kriege ausfallen werden. (Wir, die unter den Nachwehen des Welt- 
triegs leiden und die neuerlichen Erfindungen der Phyſik und Chemie kennen, müjfen ſchaudern, 
wenn wir einen zukünftigen Krieg uns nur vorſtellen.) 

Mit Friedrich Schlegel arbeitete Jean Paul an der Wiedergeburt Oeutſchlands auf freiheit; 
licher Grundlage und ließ im franzoſenfeindlichen „Oeutſchen Muſeum“ zu Wien 1811 feine 
„dämmerungsſchmetterlinge“ flattern. Er ſagt da: „Kein Land wird reich oder mächtig 
—vielmebr das Gegenteil — durch das, was es von außen hineinbekommt. ſondern nur durch 
das, was es aus ſich ſelber gebiert und emportreibt.“ Ruhig an Bildung und Kultur arbeiten und 
auf die Vorſehung vertrauen! „Als Rom entſeelt ohne Freiheit und Sittlichkeit dalag und an 
dem Riefenfadaver eine ganze darangekettete Welt hätte vermodern muͤſſen ... wer obfiegte der 
ungeheuren Gift- Roma? Das Oörfchen Bethlehem. Wollet alſo nicht erraten, ſondern ver; 
trauen * 

Das, meine ich, ift auch das einzige, was uns bleibt. Innere Kultur, Unabhängigkeit von 
Schlagworten, Sammlung in literariſchen Geſellſchaften, Pflege des heiligen Feuers der Gefin- 
nungstuͤchtigkeit an dem Geiſt unſerer großen Genies! Wäre nicht Jean Paul ein paſſender Ein- 
heitspunkt der deutſchen Kultur? Eine Jean-Paul-Geſellſchaft als Hüterin feines Erbes, Aus- 
legerin feiner weitragenden Ideen? Wäre das nicht ein erwünſchter Sammelpunkt über allen 
konfeſſionellen und politiſchen Parteiungen? Wie weit wir mit ihnen kommen, beweiſt der zer- 
fahrene Parlamentarismus und der Konkordatsſchacher, der mit Konservierung altersſchwacher 
Inſtitutionen das Vaterland gerettet glaubt. Eine Geiſtesariſtokratie iſt nötig, nicht eine 
auf allgemeinem Stimmrecht beruhende Maſſenherrſchaft; nur jene kann wirklich führen und ret; 
ten. Und fie muß religiös eingeſtellt fein; denn „ohne Gott“, jagt Jean Paul, „gibt's für den Men- 
ſchen weder Zweck noch Ziel, noch Hoffnung, nur eine zitternde Zukunft, ein ewiges Bangen vor 
der Dunkelheit“. 

An Werken über den Dichter ift unſere Literaturgeſchichte nicht reich. Richard Otto Spazier 
der Neffe Jean Pauls, gab die erſte Biographie heraus, die, längſt vergriffen, in der Schilderung 
des Lebens unentbehrlich bleibt, weil aus unmittelbarſter Nähe geſchrieben, aber in der Beleuch- 
tung feines Schaffens unzulänglich, was die philoſophiſche, überhaupt wiſſenſchaftliche Seite 
des Dichters betrifft, geradezu dürftig iſt. Die bislang maßgebende Biographie Paul Nerrlichs 
hinwieder enthält derartige Verſündigungen gegen primitivfte Forderungen der Wiſſenſchaft, 
der Schreibweiſe und des Geſchmacks, daß davor gewarnt werden muß. Statt ſich in die tiefe und 
teiche Perſönlichkeit des Genius zu verſenken, fein Denken und Fühlen verſtehen zu lernen und 
den Leſer in das eigenartige Schaffen des Dichters einzuführen, ſchulmeiſtert Nerrlich denſelben, 
übergießt namentlich deſſen religiöfe Ideen mit Spott und Hohn und plädiert in aufdringlicher 
Deiſe für feinen Abgott Hegel, der das Welträtſel endgültig gelöft habe, fo daß z. B. von Geiſt und 
Körper als zwei verſchiedenen Weſen nicht mehr geredet werden dürfe. 

3 habe außer meinem Werk „Jean Paul und feine Bedeutung für die Gegenwart“ 
2. Auflage bei Felix Meiner, Leipzig) auch eine „Biographie mit Spruchauswahl“ im 
Kenien-Verlag, Leipzig (Windmühlenweg 3), verfaßt. 


172 Sean Paul 


Vor allem aber tut eine Ausgabe feiner Werke not. Die Geſamtausgaben bei Reimer & gem 
pel find längſt vergriffen, auch mangelhaft in Text und Ausſtattung. Die Propylãen Ausgabe 
von Eduard Berend enthält zwei wichtige Romane nicht („Unſichtbare Loge“ und „Komet“), 
bringt im erſten Band „Satiren und Idyllen“ kunterbunt aus der erſten wie letzten Zeit des 
Dichters, alſo ohne chronologiſche Folge und ohne Einblick in die Entwicklung des Dichters. Der 
Text ijt nicht nach der letzten Geſamtausgabe, die ber Dichter ſelbſt noch vorbereitet hat, ſondern 
nach Einzelausgaben hergeſtellt; auch ſonſt find viele methodiſche und ſachliche Verſtöße zu be- 
merken; viele der ſchönſten Arbeiten fehlen; die Lebensuͤberſicht am Schluß iſt dürftig und matt. 
Es fehlt dem Bearbeiter an wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen, um einem Jean Paul gerecht werden 
zu können, am vaterländiſchen und religidfen Sinn und — last not least — an Stil und Ge- 
ſchmack. g 

Von Meyer -Benfey, Paul Harms u. a. iſt beklagt worden, daß die kleinlich philologiſche Be 
handlung unſerer Klaſſiker, wie ſie die Schererſche Schule gezeitigt und zur herrſchenden auf den 
Univerſitäten und in der Literarhiftorie gemacht hat, einer tiefer auf den Geiſt des Genius 
gehenden zu weichen habe. Meyer Benfey hat es offen ausgeſprochen, daß Scherer und feinen 
noch flacheren Schülern der Niedergang der Literaturgeſchichte zu danken ſei, die auch nicht ein 
kongeniales Werk über die großen Geiſter der ſchöͤnen Literatur ſeit fünfzig Jahren geſchaffen 
habe. Man vergleiche dagegen, was Jakob Grimm, Julian Schmidt, Rudolf Haym, Friedrich 
Theodor Viſcher, Kuno Fiſcher, Martin Deutinger, Hermann Lotze, um nur einige zu nennen, 
auf dieſem Gebiet geleiſtet haben. Nicht umſonſt iſt auch die beſte deutſche Literaturgeſchichte 
von einem Theologen (Vilmar) geſchrieben. Es follte doch einleuchten: Goethe, Schiller, Jean 
Paul, Leſſing uſw. gehören den Philoſophen, nicht den Philologen. Textkritik und was dazu ge 
hört iſt nur Vorſtufe; wo der Philolog endet, beginnt erſt die eigentliche Arbeit des Literar- 
biftoriters. Ich glaube, in Herausgabe und Erklärung einer neuen, ſtreng chronologiſchen, auch 
Perlen der erſten Schaffenszeit, die bisher ungedrudt waren, aufweiſenden Ausgabe die Ausgabe 
geftaltet zu haben, die den Dichter in dem zeigt, worin er unſterblich iſt, aber alles ausgeſchieden 
hat, was veraltet, geſchmacklos, überſentimental und burlesk iſt; denn auch Jean Paul flat 
zuweilen wie Homer. Ein vollſtändiger Abdruck alles deſſen, was er geſchrieben, kann ohnehin 
nicht geleiftet werden und wäre nur für den Spezialiſten; denn der ungedruckte Nachlaß in der 
Berliner Handſchriftenbibliothek allein umfaßt zwölf mächtige Faſzikel mit je 3000 Seiten. 
Das iſt aber noch lange nicht alles; auch in Weimar, Münden, Nürnberg und im Privatbeſitz 
find noch Reliquien. Berend ſammelt die Briefe, iſt aber erſt beim dritten Band. Dieſer Samm- 
lung haftet der Mangel an, daß ſie nicht wie die früheren gedruckten Briefwechſel die Briefe der 
Adreſſaten mit enthält, daher vielfach unverſtändlich iſt. Auch iſt die eigenſinnige Orthographie 
des Dichters, die keine Doppelkonſonanten, kein j, kein s, tein tonloſes h enthält, beibehalten, 
was die Lektüre zu einer Pein macht. Jean Paul ſchreibt z. B.: Razel für Ratfel, ietzt, Herel, 
Mädgen, Gebürg, Augſpurg. 

Jedenfalls iſt das Nötigſte, daß eine gediegene, moͤglichſt vollſtändig das Unverganglide 
gebende Ausgabe herauskommt, damit Jean Pauls Werke endlich Gemeingut des deutſchen 
Volks werden! 

(Dieſe iſt eben bei Albert Langen München erſchienen. Sie umfaßt vier Bände, à 1000 — 1200 

Seiten, und koſtet in elegantem Leinwandband nur 60 Mark. Eine ganz vorzügliche Aus- 


gabe! O. T.) 
Dr. Joſeph Müller 


173 
Neue Bücher 


nfere Zeit iſt trächtig von Keimen zu einem neuen Werden, zu neuen Formen, zu neuer 

Fille. Die ſtaatspolitiſchen und wirtſchaftlichen Umwälzungen, fo viel fie auch zerbrochen 
haben an ſcheinbaren und echten Werten, ſind nicht das Letzte des deutſchen Schickſals. Aber daß 
der Menſch, und gerade der deutſche Menſch vor dieſen ungeheuren Trümmern ſteht und über 
fie hinweg zu neuen Ufern ſtreben muß, daß in der babyloniſchen Sprach verwirrung der Oeutſche 
wieder auf die Tiefen quellen, auf die innere deutſche Stimme horchen lernt, die feines Weſens 
Vert und Weihe gebildet — daß angeſichts des Nichts und des neuen Beginnens die deutſche 
Sehnſucht aufwacht zu tätigem Leben, zu ſchöpferiſcher Lebensgeſtaltung, zur Gottesnähe: dies 
ift groß und Wende und Verheißung. 

Noch greifen nur wenige Schöpferhände in das geiſtige Chaos der Zeit, es zu formen zu Sinn- 
bildern und Erkenntniſſen des Künftigen; noch ijt die Tiefe und Zukunftsweite des deutſchen 
Schickſals nicht überall zu ſchöpferiſchem Bewußtſein gelangt. Beſonders bemerkbar iſt dies auf 
dem Gebiete der literariſchen Produktion — fo bringt auch die heutige Bücher Schau neue Ro- 
mane aus der Zeit, für die Zeit, Fernes und nah Vergangenes — — auch Künftiges? 

Ludwig Huna, der meiſterliche öſterreichiſche Erzähler, deffen ſtarken nordiſchen Wieland 
Roman wir an dieſer Stelle im Dezember 1924 angezeigt haben, hat eine beſondere Vorliebe 
für die Renaiffance. Verſchiedene Renaiffanceromane find dem neueſten Werk: Die Ver- 
ſchwörung der Pazzi (Verlag Grethlein & Co., Leipzig-Zürich) vorangegangen. Das Florenz 
der Frühren aiſſance iſt der klaſſiſch-ſchöne Schauplatz des Buches, der berühmte Runitfreund 
und Staatsmann Lorenzo de Medici und feine prunk ; und luſtvolle Künſtlerrepublik, in der die 
Botticelli, Verrochio, Ghirlandajo, Filippo Lippi und der junge Leonardo da Vinci und viele 
andere neben den Gelehrten ihr farben- und formenrauſchendes Leben führen, iſt der Haupt; 
kreis, daneben die alten Adelsgeſchlechter, voran die Pazzi, denen der Ruhm, die Würde und die 
Vollsgunft der Mediceer Antrieb iſt zu einer Verſchwoͤrung, die ein blutig - ſchauerliches und für 
die Verſchwöorer vernichtendes Ende nimmt. 

Suna übertrifft ſich in dieſem Roman in der glutenden Leidenſchaft, in der unerhörten Farben 
jomphonie, in der meiſterhaften Stimmungsfülle der Oarſtellung, die das Werk zu einer feffeln- 
den Lektüre machen. Ein Bacchanal an ſinnlichem Schönheitskult, an Formenfreude, an heid- 
niſcher Lebensluſt — oft auch eine Auferſtehung jener Boccaccio Abenteuer. Während die zahl- 
teichen Geftalten des Buches mehr oder minder plaſtiſch herausgearbeitet find, iſt Lorenzo de 
Medici eine ſchoͤne, reife und überzeugende Charakterſtudie — ein großer Mann und ein edler 
Kopf. 
Es ſei aber einem Kritiker, der über das einzelne Buch und Werk die Gegenwart und ihren 
Ruf, die deutſche Sendung und das Weſen der echten Dichtung und Perſönlichkeit nicht vergißt, 
vetftattet, aus Anlaß dieſes ſehr gekonnten Werkes und zahlreicher anderer Renaiffance- 
Erzählungen und Theaterſtücke zu bemerken: Zeit und Leben der Renaiſſance bergen keine 
Kräfte und Säfte, die unfere Zeit, unſere Not, unſer neues Werden aufnehmen könnten. Es war 
doch nur mehr eine großartig gelebte Außerlichkeit, nur mehr Sinnenrauſch und Formentult — 
ein chriſtlich nur ſchlecht verbraͤmtes Heidentum — dem der höͤchſte und geſtaltende Vert: die 
Seele, fehlte. Bei den wenigen Ausnahmen der Genies jener Zeit: das Menſchentum war gering. 
Mochte der treffliche Meiſter des Wortes Ludwig Huna ſein leidenſchaftliches Herz doch auch 
wieder in unfere Mitte ſtellen! 

an eine ganz deutſche Welt des Mittelalters und doch auch in die religiöfe Gedankenwelt unferer 
Zeit führt uns Lulu von Strauß und Torney in ihrem neueſten Roman: Lucifer (Verlag 
Eugen Diederichs, Jena). Inmitten ausdrucksſtarker Charaktere, Meiſterleiſtungen dichteriſcher 
Menſchenſchöͤpfung, die auch fofort die Balladendichterin ahnen laſſen, erleben wir mit dem 
jungen Edeling Burkard vom Haus einen furchtbaren und zutiefſt eindringenden Kampf um 


174 Neue Bücher 


Gott. Härteſte Schickſale zwingen den Züngling zu einer unerwünſchten geiſtlichen Laufbahn, 
Leid über Leid formen an dieſer urhaft deutſchen, fauſtiſchen Seele — entfremden ſie dem 
Glaubensbeſitz, liefern die Seele dem Meer von Zweifeln und bohrendem Suchen aus. An der 
machtvollen und in Rembrandtfarben geheimnisſchwer leuchtenden Geftalt des Schaumburger 
Oomherrn will dieſe Seele heimfinden zu der unſichtbaren Kirche Gottes und Chriſti, die mit 
der irdiſchen Kirche der Zeit fo wenig gemein hatte — bis neue gewaltige Enttäuſchungen 
und Erſchuͤtterungen durch den geliebten Domherrn, durch das böſe Tun der verwirrten und un- 
chriſtlichen Diener der Kirche dieſen eiſenharten Menſchen entwurzeln und letztlich zu ungeheuren 
Erkenntniſſen über das Weſen des Böſen und die Söͤttlichkeit auch Lucifers, des vierten Teiles 
aus Gott, führen. Der Minch Burkard ſtirbt den Ketzertod in Flammen — in Flammen iſt aber 
auch dies Werk getaucht, vor dem ich nur bekennen kann, daß es groß, ſtark und erlöfend iſt, daß es 
den Menſchen hinnimmt, wie es nur die Kraft des Geiſtes und der Gnade kann, und daß eine 
edle Dichterin es ſchrieb, der die Teilnahme aller Deutſchen gebührt. 

Max Ore yer, deſſen kraftvolle und fo fehr dem Leben dienende Werke noch lange nicht alle die 
erreichten, die fie in beſonderem Maße angehen, ſchrieb mit feinem letzten Roman Das Gym- 
nafium von St. Jürgen (Verlag L. Staadinann, Leipzig) ein Werk, für das ihm zunächft alle 
Eltern und Zugenderzieher dankbar fein werden. Ganz aus unſerer Zeit, befaßt ſich der Roman 
mit dem gewaltigen Problem der „neuen Schule“. Wie für manche alte Einrichtung hat das 
Nachkriegsregiment auch für die deutſche, angeblich verkalkte und fterbensreife Schule keinen voll; 
wertigen Erſatz, nichts wirklich durchdringend Neues ſchaffen können. Vom jungen ſozialiſtiſchen 
Lehrer bis hinauf zum hohen Schulbeamten ein blindwütiges „Reformieren“, mehr Zerſtören, 
ein Schwelgen in Schlagworten und dem Veſen der Schule fremden „Erkenntniſſen“ vom 
„jungen Menſchen“. Denn die alten Wurzeln geben doch nun mal nur den einen gleichen Saft 
ber, der immerhin die deutſche Jugend von 1813, 1870 und 1914 zu kraftvollen Menſchen ftählte, 
der immerhin ſo große Leiſtungen auf allen Gebieten des tätigen Lebens ermöglichte. 

An zwei prächtig gezeichneten und lebenswahren Typen des kraftvollen, gut deutſchen Sym- 
naſialprofeſſors Joachim Braß, der allem Weſentlichen und Guten im Neuen offen ſteht, ohne 
den Boden zu verlieren, der ihn bildete und trägt, und des glänzenden Redners und Pofeurs 
Miniſterialrat Falkner, eines Vertreters der Phraſe und des Umſturzes aller Werte, veranfdau- 
licht Dreyer das alte und neue Syſtem. In dieſem friſch und lebendig geſchriebenen Buch ſteckt 
eine Fülle von Anregungen, guter Beobachtung, pſychologiſcher Feinheit. Ein geſunder Lebens- 
wille ſtrömt aus ihm, und das Geſetz naturbedingter Entwicklung aus den gegebenen Grundlagen 
wird anſchaulich bekräftigt. Eine letzte Löſung kann und will das Buch natürlich nicht geben — 
aber als wichtiger lebens voller Beitrag zu der heiß umſtrittenen Frage iſt es zu begrüßen und der 
deutſchen Familie zu empfehlen. 

Ins volle Leben packt Hans He ye, der feinen erſten Roman gibt: Der Zeitgenoſſe (Verlag 
2, Staackmann, Leipzig). Nur was er in der Hand behält, ijt nicht das volle Leben mit feiner 
Fülle typiſcher Zeitgenoſſen — denn um das alles zu faffen, gehören gang ſtarke Fäuſte und vor 
allem doch eine größere Lebensſicht und Diſtanz zum Objekt dazu. Immerhin: es iſt dem jungen 
Autor gelungen, einen gut geſchauten Ausſchnitt jenes morſchen und undeutſchen Lebens 
nach 1900 bis zum Kriegsbeginn und bis in die erſte Zeit nach der ſogenannten Revolution 
zu geben, und vor allem: vor uns ſteht leibhaftig ein fatyrifher Erzähler von befonders 
kräftigem Talent auf dieſem von deutſchbewußten Autoren nur wenig beachteten oder dem 
deutſchen Rünftler beſonders ſchwierigen Gebiet. Hans Heyck führt eine glänzende, überaus treff- 
ſichere Feder, voll Witz und ſprudelnder Dialektik und verfügt über ein kompoſitoriſches Können, 
das dieſen Roman mit künſtleriſcher Spannung fättigt. Der zweite Teil des Buches, Krieg und 
Nachkriegszeit, offenbart an zahlreichen Stellen eine dichteriſche Natur von tiefem Gemuͤtsgehalt 
durchweg aber die Runft der Charakteriſierung und Fingerſpitzengefühl für die nod fo verborge- 
nen ſeeliſchen Krankheiten. 


Neue Bücher 175 


Manche Unebenheit, Unwahrſcheinlichkeit, jo der Nietzſcheaner und bäuriſche Wandervogel Pie- 
ter, ein manchmal überjchäumendes Zuviel an Witz und Satire — mindert den guten Ein druck 
dieſes Exftlings nicht. Auf daß ſich dieſes unleugbare Talent aus der Satire und aus dem Anfang 
u echtem Humor und zur Weite entwickle, iſt die Anteilnahme des geſchmackvollen Leſepublikums 
etwuͤnſcht. 

Der erſte Roman des Schwaben Chriſtoph Netzle: Fräulein Mozart (9. Haeffel, Leipzig) 

gibt die Entwicklung eines jungen ſchöpferiſch begabten Menſchen, eines Studenten, bis zur Er- 
lenntnis vom Sinn des eigenen Lebens, bis zum Sich-beſcheiden. Es find die Jahre vor dem 
Kriege, und ein nicht zu unterſchãtzender Vorzug des Buches ijt die liebevolle Zeichnung des Ortes 
der Handlung: München. Verfehlt ijt der nach Senſation ſchmeckende Titel, der auch wenig Ve- 
jehung zum Ganzen hat. Wenn ſchon der Held, der Student Hans Greder, feine Liebe und 
ſpdtere Frau in ihrem Weſen mozartiſch empfindet — der Dichter Netzle bringt in dieſem jungen 
ISabcigen Mädchen dieſes „göttlich heitere, harmoniſche“ Weſen für den Lefer nicht überzeugend 
heraus. Auch ſonſt iſt Eva Loeper ſehr unwirklich — mit 19 Jahren hat man noch nicht die ſe 
Reife und Lebensgewißheit, dieſe Beherrſchung und unbeirrbare Sicherheit, dieſes Weibtum, das 
ett des Leben ſchafft. Zumal, wenn es ſich um ein einfaches, liebes Mädel handelt. Zu dieſen 
Schwachen kommt noch die mangelnde Rompofition, der die Zucht des Aufbaues, der Verteilung 
ind Belihtung fehlt. Dennoch dürfen wir Netzle und fein Werk als die Außerung eines ringenden, 
kimpfenden Menſchen begrüßen, als einen Ausdruck jenes deutſchen Strebens, das aus dem 
Verhaftetfein an Eros und Diesſeits das in Gott ruhende Sein, die Vergeiſtigung des Lebens 
fudt. Zahlreiche allgemein menſchliche Züge machen uns dieſen Studenten Hans Greder ver- 
wandt, oft erreicht Netzle jene Höhe und Tiefe des Ausdrucks ſeiner inneren Kräfte, die ſein 
dichtertum bezeugen. Und es zieht jener Strom der Menſchlichkeit durch das Buch, der jedes 
Empfinden berührt, der Hunger iſt und Ourſt nach Weſentlichkeit. Neben der realiſtiſchen Con 
feffio iſt viel Polemik da — in ſich berechtigte, aber zügellos geformte und wieder gefhmads- 
injidere Ausfälle gegen die literariſche Kritik, gegen den entſetzlichen Betrieb bei Preſſe und 
Verlag, der ſich hinter den Kuliſſen abſpielt, oft ſtark empfundene und leidenſchaftliche Ausein- 
anderfehungen mit der religiöfen Frage unferer Zeit neben erotiſchen Leiden und Rämpfen, 
die wiederum allzu realiſtiſche und derbe Worte und Szenen bringen: aber zum Schluß der Sieg 
des Willens, des Ja zum tätigen, zielgerichteten Leben. 

die reife Erzählungskunft der jetzt 72jährigen Zſolde Kurz kommt aud in dem neuen Werk: 
der deſpot (Verlag Georg Müller, München) zu ſicherer Geltung. Gibt Netzle das Beiſpiel 
einer Lebensentfaltung am Weibe, fo geht bei Zfolbe Kurz ein Schöpfertum zugrunde am Veibe. 
der Roman ſpielt in Tübingen unter Studenten, in den Jahren vor 1870. Oer Held, aus 
Reupifchem Militäradel ftammend, iſt eine kleiſtiſche Dichternatur, ein Dramatiker, deſſen Haupt- 
wert eine Trilogie um Arminius werden ſoll. Der Erfolg eines Bühnenwerkes bringt ihn mit der 
Ligctin der Hauptrolle, einer ſchönen und wohlhabenden Schauſpielerin zuſammen — der 
Etudent verläßt die hohe Schule, verläßt die Not des inneren Lebens, um als Ehemann der wohl 
gimitigen und ihn febr liebenden, aber immerhin rein diesfeitigen und nur äuferlidem Schon; 
kitstult ergebenen Frau ungehindert feinem dichteriſchen Schaffen leben zu können. Das 
Schopfertum hat den ganzen Menſchen in Beſitz genommen, iſt der Oeſpot, der nur Ganzes gibt, 
dem er ein ganzes Leben empfangen, der rubelos und unſtet und einſam macht, aber auch 
teich und ſtark und groß. In der ſorgenloſen und überaus „kultivierten“ Umgebung wird der 
dichter unficher feines Sternes — er ſchreibt Rollen und Stücke für feine Frau, Stücke, die 
wohl bühnenmaͤßig, bühnenwirkſam find, dennoch nicht feine Werke, nicht Muß und nicht 
Hohe. Immer tiefer verfinten Menſch und Geiſt in die umgebende Welt — immer mächtiger 
wird die Erkenntnis und der Wille zum großen, einzigen Werk als der einzigen Erlöfung. 
der Krieg 1870 findet die Eheleute an der Schweizer Grenze, im Schwarzwald, in einem 
alleinſtehenden Landhaus, in dem der Gatte fieberhaft und weltvergeſſen am Arminiusdrama 


176 Reue Bacher 


ſchafft. Die liebende Frau verbirgt die Nachricht der Mobiliſierung und die Order, und als ein 
alter Freund den Dichter beſucht, den er zum Abſchied ſich rüftend wähnt kommt die Rataftropke. 
Der Dichter, ganz in feinem Werk, mit dem er dem deutſchen Volk eine ganz große Gabe ſchenken 
will, zieht nicht ins Feld — wird fahnenflüchtig — und dieſer letzte Verrat an ſich, an ſeinem 
Herkommen und Blut, an der ungeheuren deutſchen Lebenswirklichkeit verſagt ihm auch die 
erldfende Kraft zur Geſtaltung eines übermächtigen germaniſchen Dramas der Treue, Kraft und 
Hingabe ans Vaterland. Wit die ſtärkſte Triebfeder in dieſer Verkettung der Verhältniſſe iſt das 
Weib und ihre abgöttiſche, leidenſchaftliche, dennoch kleine Liebe, die nur ſich und den Mann — 
nicht die ewigen Geſetze der Natur ſah. Der Zuſammenbruch, der Tod des Veibes an Schwind- 
ſucht, der Selbſtmord des Mannes — fern der Heimat in der Schweiz — iſt unerbittliche Ronfe- 
quenz und Schickſalhaftigkeit. 

Das hochintereſſante Thema fand eine künſtleriſch vollendete Durchführung. Ruhig und ſicher, 
ohne Stocken und ohne Pauſen ſchreitet die wundervoll belebte Handlung ihren Weg. Zahlreiche 
echt deutſche Geſtalten find meiſterlich geſchaffen, ſchöͤne und bedeutende Gedanken über Didter- 
tum und das germaniſche Hermann- Orama prägen ſich ein — über allem die vornehme Rultur 
einer ſtarken dichteriſchen Perſönlichkeit. 

Welche Höhe in der künſtleriſchen Form, welche Fülle an dichteriſcher Kraft und allgemeiner 
Menſchlichkeit in der Heimatkunſt vorhanden fein kann, zeigt uns der Oſterreicher Anton Schott 
in feinem Bauernroman Die Hacker vom Freiwald (Verlag Herder & Co., Freiburg). Es ift 
im Grunde genommen die alte Geſchichte: Bauern aus alten Geſchlechtern, ſtolz, hart und nur 
auf Bewahrung, Mehrung des Familien anſehens und Beſitzes bedacht. Bauern burſchen, baum; 
feſt, ungebärdig und dickſchädelig, aber ſo ſehr Kind im tiefſten, Mädchen, frei und friſch, 
kraftvoll und geſund in Fühlen und Cun wie die Natur. Nun die leidige Familienpolitik — die 
ähnlich der fürſtlichen Hauspolitit die Menſchen zu Sachobjekten herabwürdigt. Die Natur ijt 
hier öſterreichiſche Hochebene, ein verlaſſener Winkel in den Bergen, dennoch heimlicher, karger 
Schönheit voll, ein rauher, trotziger und armer Boden — alſo Kampf um das Brot, ſchwert 
Mühe. Und die Geſchichte der Hackerbauern ein ſturmvolles Kapitel von Schuld und Sühne. 
Nun der Dichter — denn hier iſt ſchon begrenztes, aber un verfälſchtes, boden verwurzeltes 
Oichtertum: die Sprache brunnenklar und erdfriſch, humorvoll weniger im Wort als in dem gi- 
tigen Schein einfacher herzlicher Menſchlichkeit, die Menſchen köftlihe Typen und liebenswert 
oft in die Maßen, ſtark in Liebe und Haß, in herber Güte und Feindſchaft, dabei überall die alte, 
wunde, weiche Stelle, die nur der Berührung harrt durch das rechte Wort: das Herz. Die Hani- 
lung ſtraff komponiert, reich belebt, bei aller epiſchen Haltung dramatiſch zugeſpitzt. Auch Het 
ſpielt der Krieg hinein — mehr ein Wetterleuchten, als die volle Entladung. Auch hier kehrt alles 
Geſunde heim in die einzige Lebensluft: Weſentlichkeit und Liebe. 

Ein erfriſchender, reiner Trunk iſt dies Buch, aus den geſunden und ſtarken Quellen des von 
der mechaniſierten Großſtadtkultur noch nicht verdorbenen Volkstums. Ich kann mir nicht denken, 
daß ein innerlich geſtimmter Menſch ohne Gewinn und Dank dies Buch aus der Hand legt. 

Zum Schluß möchte ich die Türmer⸗Leſer auf ein ungewöhnliches Werk eines Dänen aufmer!- 
fam machen, das um fo mehr intereſſieren wird, als auch im Tuͤrmer in letzter Zeit zur religidjen 
Frage unferer Zeit Stellung genommen worden iſt. Ich meine J. Anker Larſen und feinen 
Roman Oer Stein der Veiſen (Verlag Grethlein & Co., Leipzig- Zürich). der Roman iſt in 
der dänifchen Heimat bei einem Verlags-Preisausſchreiben mit dem Preiſe von 70000 Kronen 
ausgezeichnet worden, melden die Blätter und Verlagsproſpekte, er iſt auch in viele Sprachen 
überfegt und weit über Europa verbreitet — aber feine tiefſte Weisheit, feine große menſchliche 
Schönheit werden dennoch, unabhängig von dieſen lauten Tatſachen, nur die Beſten empfangen 
können. 

Ungewöhnlich und ſonderbar iſt ſchon zunächſt die Technik des Romans. Einfach, knapp und 
oft kindlich „ungelenk“ — aber durchleuchtet von den Geheimniſſen des Oaſeins, des inneren 


Neue Bücher | 177 


Lebens reihen fid die kurzen Kapitel aneinander. Dazu wirken dieſe Kapitel, die keine fort- 
laufende Erzählung der Handlungen darſtellen, ſondern jah überfpringen zu den vielen Ge- 
ſtalten und Begebniſſen, Orten und Zeiten, wie ein Raleidoftop: aber das ganze Leben iſt in 
ihm eingefangen! Wohl ſpielt der Roman in Oänemark und gegenwärtig, aber das ungeheure 
Problem und die Macht der dichteriſchen Perſönlichkeit ſchufen ein europdifdes Werk im engeren, 
ein allgemein menſchlich gültiges Werk im weiteren Sinn. Das Problem iſt das Urproblem der 
Menſchheit: Gott. Aber Larſens große Leiſtung iſt die Beweisführung, daß das religidfe Gefühl 
ein Urtrieb und eine Lebensmacht, ein menſchlicher Weſensbeſtandteil iſt. Nicht die Kirchen und 
Religions formen find rüditändig, verflacht, eng und ohne ſpendende Kraft, ſondern das reli- 
gidfe Gefühl, die Vorausſetzung jeder Religioſität und die Quelle auch des echten Chriftentums 
iſt verflacht und erniedrigt, kraftlos und ſiech geworden in der Menſchheit der Gegenwart. 

Drei Geftalten inmitten der unendlichen Fülle von Menſchen dieſes Buches find die Träger 
der religidfen Ideen und Strömungen. Varnes, der Paſtorenſohn, der Skeptiker und Kritiker 
durchwandert das religidfe Leben bis zur Theoſophie, die ihm nichts Beſſeres und Schlechteres 
gegeben hat, als heimzufinden aus Suchen und Spintiſieren und Zweifeln zur Wirklichkeit, zum 
Virken, zum goethiſchen „Alles um Liebe“ und „Tätiges Leben“. Zens Dahl, der religiös tief 
wtanlagte, aber dennoch menſchlich ſchwache Sucher landet über die chriſtlichen Glaubens formen, 
über die Myſtiker und Theoſophen zu den Okkultiſten und zerbricht früh an der Unmöglichkeit, 
auf dieſer Erde dennoch im Zenſeits zu leben. Oer dritte Rampfer nähert ſich in der Form feiner 
Gtenniniffe und in dem Schickſalswege, auf dem er zu ihnen gelangte, ſtark dem ruſſiſchen 
teligidfen Gefühl: ein naives Jn-Gott-Gein, ein Erleben der Gottesnähe aus ſchwerer Schuld 
und Sühne, das religidfe Gefühl in der reinſten Grundform. 

Aber was iſt mit dieſen paar Sätzen vom Weſen und Gehalt des umfangreichen Buches gefagt? 
Wenig, ſehr wenig. Es iſt ein Werk von unendlicher Lebens fülle, von unſagbarer Schönheit in 
den geringften Dingen und Menſchlichkeiten, es ſind Worte in dieſer Dichtung, die noch nicht 
gejagt worden find in der Literatur. Hier war nicht nur Rönnen am Werk, fondern jenes Etwas, 
jenes Höchſte, das wir immer felten antreffen werden in Runft und Forſchung: Erleuchtung. 
Wehmut ift tiefbewegend da, aufgedeckt iſt das Triebwerk alles Menſchlichen: aber mddtig und 
geſtaltend ſchwemmt der Strom des religiöfen Gefühls die Trümmer der zuſammengebrochenen 
Myftizismen und pſeudoreligiöſen Lehren fort. Viel Rindliches, Zartes iſt in dem Buch, aber 
auch alle Schwere, aller Krampf und aller Schmutz dieſes alltaͤglichen Lebens. So verlangt das 
Werk den reifen, weltoffenen Menſchen, um ihn zu beſchenken und zu beſtärken in dem nie 
endenden Kampf des Lichtes gegen die weſenloſe Finſternis. 

Franz Alfons Gayda 


Ser Türmer XXVIII, 2 12 Bu 


Türmers Tagebuch 


Graf Überall - Die Kriegslüge und die Verbandsſtaaten 

Polens troſtloſe Lage - Drohung mit Räterußland - Locarno - 

Der Pakt - Der liebenswürdige Briand Was ihn bewog 
Die Cordelia des Völkerbundes 


isher iſt Frankreich immer Polens beſter Freund und tatkräftiger Förderer 
B geweſen. Nicht aus Nächſtenliebe, ſondern aus ruͤckverſichernder Eigenſucht. 
Allein ſelbſt ihm fällt je länger, deſto mehr der anſpruchsvolle Schützling auf den 
Nerv. Briand klagte über die läſtige Zudringlichkeit des Warſchauer Außenminiſters. 
Er möge in irgend einer Stadt Europas irgendein Hotel betreten, immer laure 
an der Türſchwelle hinter dem geſchmeidigen Pförtner auch ſchon der nicht minder 
geſchmeidige Alexander Skrzynski. Und Chamberlain klagte, ihm gehe es keineswegs 
beſſer. 

Dieſer Graf Überall iſt (hier noch rühriger als Beneſch, fein tſchechiſches Bruder 
herz. Wir tun gut, ihm immer ſcharf auf die Finger zu ſehen. Frankreich iſt gewiß 
gefährlich und bleibt es trotz des Sicherheits paktes von Locarno, allein mit Polen 
hat ſich der Völkerbund ſelber die Schlange in den Garten geſetzt. Deſſen hirnver- 
brannter Größenwahn ärgert ſich über jeden Waſſertropfen, der nicht fein Mũhlrab 
treibt. Wo Skrzynski hinkommt, da ſpinnt er auch ſchon Ranke; ſtreichelt und 
ſchmeichelt, bittet und bettelt er nach polniſcher Weiſe. Aber nicht minder nach 
polniſcher Weiſe trumpft er auch auf und fordert; ganz nach der Lage und Eigenart 
ſeines Gegenübers. Mit jenem geölten Geſchick, das nun einmal den deutſchen 
Staatsmännern, fei es durch den Zorn oder die Gnade des Himmels gemeinhin 
verſagt iſt, ſät er Täuſchungen, ſchafft er Vorurteile, fädelt er Hinderniſſe für uns 
und Erfolge für ſich. | 

Ein Genfer Geſpräch über Locarno führte er von hohem Schlachtitzenroß: 
„Wir Polen können nicht zulaſſen —“, „wir verlangen“, „der Weſtpakt wird nicht 
unterzeichnet, bevor unſer Oſtpakt unter Dach gebracht iſt“. „Was Sie nur immer 
mit Ihrem Korridor wollen? Ich kenne keinen“. Auf Chamberlains Wort von der 
Notwendigkeit einer allſeitigen moraliſchen Abrüſtung verwieſen, barſchte er mit 
hoher Naſe: „Ach laſſen Sie doch philoſophiſche Erörterungen aus dem Spiele.“ 

* % 


% 

Graf Skrzynski iſt auch Schriftſteller. In London gab er ein Buch heraus, das 
„Poland and peace“ betitelt iſt. Hier arbeitet er jedoch ſelber ausſchließlich mit den 
philoſophiſchen Erörterungen, denen er dort, wo es ihm nicht paßte, jedes Dafeins- 
recht abſprach. Wie ſegensreich nach dieſem Buche für die Welt, daß Polen wieder 
hergeſtellt wurde! Denn nirgends gibt es reinere Schwärmer für die heiligen Ziele 
des Völkerbundes als an der Weichſel. Nichts anderes erſehnt die ſarmatiſche Hoch 
herzigkeit, als Werkführer und Ehrenhort des europäifchen Friedens zu fein. Wenn 
ihm dies nur nicht ſo blutſauer gemacht würde durch die Nachbarn; insbeſondere 
das lüfterne Deutſchland mit ſeinem Heißhunger auf edelpolniſchen Mutterboden! 


Türmets Tagebuch 179 


Grell widerſprach demnach die Zunge dem Buch. Aber das Wort war diesmal 
triebhafter, alſo ehrlicher als die Schrift. Ein unbeherrſchter Augenblick hat ver- 
taten, daß der Pole ſtets Pole bleibt; gerade am meiſten ſogar dann, wenn er es 
mit glatter Rede verbergen will. 

Machen es freilich die anderen vom Völkerbund viel anders? Auch Chamberlain 
hat die moraliſche Abrüftung zwei Wochen, nachdem er fie in Genf geprieſen, mit 
ſeiner Antwort auf unſre Verbalnote zur Kriegsſchuldlüͤge gewiſſenskalt verleugnet. 
das dürfen wir trotz Locarno nicht vergeſſen. 

Von jeher wurde in England die Politik mit dem Hermelinpelz der Moral ver⸗ 
brämt. Man ſagte Chriſtus und meinte Opium in China, tat als ob man Transvaal 
der Kultur öffne und wollte doch nur die Goldminen von Kimberley. Als ein läſtiger 
Wettbewerber vom Weltmarkt verdrängt werden ſollte, entrüftete man ſich über 
den Bruch heiliger Verträge und machte uns den Krieg. Hätte ſonſt die öffentliche 
Meinung bis zu Lloyd Georges beruͤhmtem Knockout die opferreiche Heeresfolge 
geleitet? Für ſolche Fälle iſt die Moral geradezu unſchätzbar, und wenn fie nicht da 
wäre, dann müßte fie erfunden werden. Der engliſche Staatsmann gebraucht fie, 
wie der Jockey die Flaſche Sekt, die er ſeinem Rennpferd vor dem Start in den 
Rachen gießt. Das Gleichnis hinkt nur infofern, als auf dem Turf, wenn es heraus- 
kommt, der Gauner ausgeſchloſſen wird; während er in der Politik mit den anderen 
Auguren augenzwinkernd zur Pflege der Moral einen Völkerbund gründet. 

Wäre England, wie es geplant und vereinbart war, im Auguſt 1914 in Belgien 


eingerückt, dann war der Neutralitätsbruch ſonnenklares Recht; nur weil wir zu- 


* 
== 


1 
— + 


vorkamen, wurde es ſchauderhaftes Verbrechen. 

Und es ſoll auch Verbrechen bleiben. Trotz alledem, was man über die Vorge- 
ſchichte des Krieges weiß und täglich mehr erfährt. Gelaffen lieft England gegen- 
wärtig die Lebenserinnerungen Eduard Greys, worin ſich deutlich zeigt, daß deſſen 
Flottenabkommen mit Rußland es war, was in Petersburg die letzte Hemmung 
des Kriegswillens beſeitigte. Man bewundert den klugen zielbewußten Politiker, 
hält aber ſcheinbar deſto zäher feft an der deutſchen Kriegsſchuld. Unſer Einwand, 
ſo ließ Chamberlain herb erwidern, vermöge das Urteil über die Vergangenheit 
nicht zu ändern. Verſailles hat geſprochen; causa finita. 

Das dgte wie rote rauchende Salpeterſäure. Man hätte ſich ärgern können, wenn 
Ärger nicht ein Zeichen politiſcher Unreife wäre. Allerdings bei weitem kein fo 
großes, wie die Schadenfreude unſrer Linkspreſſe. Denn dieſe jubelte über „die 
ſchallende Ohrfeige“, womit unſer Kabinett abgefertigt worden fei für, die politiſche 


Laktloſigkeit“, die es „ſich auf Drängen des aufgeregten Stammtifches der penfio- 


nierten Offiziere“ geleiſtet habe. Da wurde alſo die Außenpolitik wieder einmal aus 
der Perſpektive des innenpolitiſchen Froſchteiches beſchaut. Daß wir uns dies nicht 
abgewöhnen können! Für den Verſtand des Verſtändigen liegt die Sache ganz 
außerhalb von Arger und Freude. Unſere Regierung gab ſich keinerlei Täuſchungen 
bin über die mutmaßliche Aufnahme ihres Schrittes. Aber der Politiker muß Man- 
ches tun, deſſen glatten Mißerfolg für den Augenblick er vorausſieht. um der Ehre 
willen, zur Wahrung der moraliſchen Ebenbürtigkeit und als Berufungsfall für die 
Zukunft. Kann der kluge Vatikan glauben, daß der Kirchenſtaat von heute auf morgen 


180 Türme ro Tagebuch 


wiedererſtehen werde? Trotzdem erneuert er feine Anfprüche grundſätzlich von Zeit 
zu Zeit. 

Der kennt weder die Geſchichte noch das diplomatiſche Handwerk, der da glaubt, 
wir könnten unſren 42 Gegnern von Verſailles jemals den lauten amtlichen Wider- 
ruf des Artikels 231 abzwingen. Die Entwicklung wird anders laufen, und auch hier 
gibt uns der Vatikan die Möglichkeit, ein Prophet mit rückwärts gewandtem Ge- 
ſicht zu ſein. 

Denken wir an Galileo Galilei. Auch ihm wurde ein Geſtändnis erpreßt, das 
ſowohl die Wahrheit wie ſein Gewiſſen vergewaltigte. Wie Deutſchland ſein: „Wir 
ſind trotz alledem unſchuldig“, ſo ſprach er das berühmte: „Und ſie bewegt ſich doch.“ 
Seine Werke kamen aber auf den Index und blieben drei Jahrhunderte darauf. 
Je ſieghafter jedoch die Forſchung durchdrang, deſto überlegter verſtummte der 
fundamentaliſtiſche Widerſpruch der Kirche. Immer emſiger ſchwieg fie jenen Ge⸗ 
waltakt des heiligen Offiziums tot, und eines Tages waren die verketzerten Werke 
von der Liſte der verbotenen Bücher lautlos verſchwunden. 

So ähnlich wird es auch mit dem Artikel 231 kommen. Schon gibt der Engländer 
verſtohlen zu, er ſei eine echt galliſche Dummheit geweſen, auf die Lloyd George 
ſich ſchmählicherweiſe eingelaſſen habe. Das offene Geſtändnis jedoch wird man 
jederzeit rund verweigern; es hieße ja Selbſtanklage und Verzicht auf die &- 
rungenſchaften des Gewaltfriedens. Daher möchte man, daß gar nicht mehr Darüber 
geredet wird und fertigt den Sprecher grob ab mit der Reizbarkeit des böſen Ge 
wiſſens. 

Sollten wir uns dadurch abſchrecken laſſen? Kluges Wägen fordert das Gegen 
teil, und unſre Leute handelten demgemäß. Der zartfühlende „Vorwärts“ wäre 
gewiß entſetzt geweſen, hätte er gewußt, daß Streſemann ſelber in Locarno noch 
einmal gegen die Kriegsſchuldlüge proteſtieren würde. Viel nachdrücklicher ſogar, 
als es in der Verbalnote geſchehen. Es geſchah in einer Vollſitzung und machte 
nach dem Bericht einen ſtarken Eindruck. Diesmal aber ſchwiegen die Betroffenen. 
Das iſt ſchon ein weiterer Fortſchritt. Freilich dürfen wir uns auch mit ihm noch 
keinesfalls begnügen. Auch auf den zweiten Axthieb fällt der Baum noch nicht. 
Zäh müfjen wir weiter arbeiten. Nur dann erreichen wir, daß man wenigftens fo 
tut, als ob der berüchtigte Artikel überhaupt nicht da wäre. Seine förmliche Zuruck 
nahme aber erreichen wir nie. Das ſchadet aber ſo viel nicht. Wenn nur die ganze 
Welt weiß, daß er Lug und Verleumdung iſt, dann entehrt er nicht uns, ſondern 
die Wichte, die ihn erſannen und ihre Spießgeſellen, die ihn zuließen. 

* * 


% 

Mit Vorbedacht hat Skrzynski fein moraliſch Lied in engliſcher Sprache geſungen. 
Es ging um einen großen Pump in Amerika, daher die philoſophiſchen Erörterungen. 
Allein der Anſchlag ſchlug diesmal fehl. Auch der Bankee iſt Moralift nur außerhalb 
der Geſchäftsſtunden. | 

Das hat Caillaux gleichfalls verſpürt. Er kehrt ebenſo enttäuscht aus Amerika 
zuruͤck, wie die Amerikaner enttäuſcht von ihm find. Wie an der Feſttafel nur Gelter- 
waſſer, fo ſetzte man ihm am Verhandlungstiſche nur Smartneß vor. Sein dürftiges 
Angebot wurde abgelehnt und die Gegenforderung mußte er ablehnen, da ſie ihn 


Türmers Tagebuch 181 


in Paris zu Fall gebracht hätte. So bleibt es bei einer Zwiſchenlöſung; voraus- 
geſetzt, daß franzöſiſche Volksvertretung nicht überhaupt jedes Schuldenzahlen, 
als unwürdige Verſklavung des Siegerftaates, von ſich weiſt. Der bloc national 
bat große Luft dazu. Schlimm ift, daß nunmehr obendrein auch das günftige Ab- 
kommen mit Churchill unwirkſam wird. Hin und her über das Armelmeer fliegen 
daher die Vorwürfe; ein Verbandsbruder beſchuldigt den anderen, ihn geneppt zu 
haben. Das Finanzgenie Caillaux hat demnach weder die Beziehungen zu Amerika, 
noch die zu England, noch endlich den Franken geſtützt. Nach dem Londoner Erfolg 
hoffnungsfroh geſchnellt, kümmert dieſer jetzt wieder auf dem Tiefſtand von einem 


Viertel des Nennwertes. 2 = 
4 = 


Frankreich muß fid mit Polen tröſten, und das ift bei aller Freundſchaft nur ein 
magerer Troſt. Polniſcher Größenwahn hat uns den Zollkrieg erklärt, allein binnen 
Vierteljahrsfriſt mit Schimpf und Schande verloren. Num bettelt man um den 
gandelsvertrag, den man im Frühjahr düͤnkelhaft ausſchlug. An uns iſt's jetzt, die 
Sibylle von Cumä zu ſpielen und für verringerte Zugeſtändniſſe deſto mehr zu 
fordern. 

Durch dieſen handelspolitiſchen Dummenjungenſtreich hat Polen feine Volks- 
wittidaft auch dort verwüftet, wo es noch etwas zu verwuͤſten gab. In dem ge- 
taubten Oberſchleſien nämlich. Wie gerne möchte man dort zu uns zurück! Auch 
die damals aus eigenſüͤchtigen Gründen gegen uns ſtimmten, ſind jetzt bis in die 
tiefften Wurzeln geheilt. Wie eine bleierne Ente verſackt der Sloty in den Ge- 
wäſſern der Börſenkurſe. Wo man auch anpocht, da werden Auslandskredite ver- 
weigert. Zum minbeſten bedingen ſich die Weltbanken aus, daß zuvor der Staats- 
haushalt unter internationale Finanzkontrolle geſtellt werde. 

Welche Ausſicht für den windigen Bettlerſtolz! Was nützen da die großen Worte 
Skrzynskis und des Präfidenten der Polenbank, fie würden ihr Volk ſchon vor folder 
Schmach zu ſchützen wiſſen? Was man Oſterreich ganz und mit dem Oawesplan 
zum Teil auch uns antat, das greift nun nach einem unſrer Hauptquäler, und ſelbſt 
in Frankreich dämmern ſchon trübe Ahnungen. 

Hier öffnen ſich weite Ausblicke. Chamberlain hat für die weiteren Entwicklungs- 
gänge die Staffel aufgeſtellt: Durch Pakte Sicherheit, durch Sicherheit Abrüſtung. Wer 
ſagt ihm aber, daß wenn das zweite erreicht iſt, das dritte gewollt würde? An feiner 
Leiter fehlt der harte Brettnagel des Müffens. Wenn Coolidge ein geriſſener Staats- 
mann ift, dann faßt er die Sache vom anderen Ende an. Er verzichtet auf den Ge- 
danken einer Abruͤſtungskonferenz, wobei feine gute Abſicht doch nur totgeſchwatzt 
wird. Dafür aber läßt er deſto mehr auf Frank und Sloty drücken, was der Wallſtreet 
ein Kinderſpiel iſt. Wird dann die Finanzkontrolle unabwendbar, dann kann dieſe 
gehörige Erſparniſſe bei der Wehrmacht erzwingen, und die Aufrüſtung der Wirt- 
ſchaft wird eingeleitet durch die Abrüſtung der Heere. Es ſcheint, als ob bereits, 
wahrend Chamberlain in Locarno vor den Kuliſſen den einen Weg beſchritt, ihm 
Amerika hinter ihnen auf dem anderen zu Hilfe geeilt wäre. Ä 

Wie herrlich doch die Früchte des Imperialismus reifen! Polen ift die eigenſte 
Gründung des Völkerbundes. An ihm konnte er zeigen. wes Geiſtes Kind er fei, 


182 Zürmers Tagebuch 


Man vergleiche an der Hand der Satzung mit dem, was er aus der Welt zu machen 
verſprach, das, was er aus Polen werden ließ und iſt nur noch im Zweifel Darüber, 
ob im heutigen Genf die Schwäche größer iſt oder die Heuchelei. 

Wie durfte man, wenn man ſich den Weltfrieden zum Ziel ſetzte, dulden, daß der 
neue Staat ſich erſt noch ein Schwert ſchmiedete und damit fuchtelt? Wie konnte 
man ihm im neutraliſierten Danziger Hafen auf der Halbinſel Weſterplatte ein 
Munitionslager mit Gasbomben zugeſtehen? 

Wie durfte man hinnehmen, daß er entgegen den Genfer Schiedsfprüchen 
Wilna raubte und ſich offenbar auf den Raub Danzigs ſpitzt? Statt ihm zu wehren, 


fördert man ſogar noch ſeine Eigenmächtigkeiten, wie es neulich wieder in dem 


Briefkaſtenſtreit geſchah. 

Wo bleiben ferner die gewährleiſteten Rechte der Minderheiten? Wird nicht alles 
Deutſche unterdrückt, die deutſche Schule ausgehungert, der deutſche Siedler ent- 
eignet, der Wunſchdeutſche in Nacht und Nebel über die Grenze gejagt? Polen 
übernahm 1919 in Poſen und Weſtpreußen fünf Viertelmillionen Bürger deutſcher 
Zunge. Heute ſchon ſind vier Viertel davon verſcheucht und nicht lange, dann wird 
auch der Reſt abgeſtoßen ſein. 

„Korridor? Ich kenne keinen.“ Das Wort war genau ſo wahr, wie polniſche 
Diplomatenworte immer ſind. Man kennt den Korridor nur zu gut, will aber, daß 
die Welt ihn nicht kenne. Gerade darum der Vernichtungskrieg gegen alles deutſche 
Weſen. Wenn unſer Reich die Korridorfrage aufwirft, was demnächſt ſicher der 
Fall iſt, dann will man antworten können: „Was wollt ihr denn nur? Das ganze 
Gebiet iſt doch rein polniſch.“ Auf gefälligen Antrag wird dann ein Unterfucdungs- 


ausſchuß entſandt werden; dieſer aber kann dann nicht anders, als feſtſtellen, daß 


Polen wie immer recht habe, die deutſchen Anſprüche daher abzulehnen ſeien. 
Wer erwartet mehr vom heutigen Genf? 
* * 

* 

Se mehr man die Rage ſtreichelt, defto höher trägt fie den Schwanz. Natürlich ift 
Skrzynski auch in Locarno erſchienen; naturlich mit Beneſch und natürlich ſtiegen 
beide im Palaſthotel ab, wo auch Briand wohnte. Er hat es durchgeſetzt, dabei zu 
ſein; vermutlich weil er mit Räterußland drohte. Die Warſchauer Zuſammenkunft 
mit Tſchitſcherin war zugleich eine ruſſiſche Drohung gegen uns und eine polnifche 
gegen die Weſtmächte. Es gab da zu gleicher Zeit drei Schmiede mit je zwei Eifen 
in der Eſſe. Tſchitſcherin erkundigte ſich in Berlin, ob wir mit ihm gingen oder er 
etwa mit Polen gehen ſolle. „Mit dem Rateftaat oder mit Euch“, frug Skrzynski 
nach London und Paris. „Sicherheitspakt mit Euch oder mit Moskau?“ ſo ſtellten 
wir in Locarno zur gefälligen Auswahl. Für den Briten war dies alles gleich angft- 
voll, denn er wittert in Rußland ſeinen ſchlimmſten Feind. So wurde es Chamberlains 
Hauptaufgabe, das Werden eines fo oder fo gearteten Oſtbundes zu verhüten. 
Das gab die geheime Triebfeder der Konferenz. Ihr Verlauf wird nur dann durch- 
ſichtig, wenn man ſich ſagt, daß wir und Frankreich die Geſchobenen Englands 
waren. Es iſt bezeichnend, daß das Ergebnis bei den Franzoſen und uns ſehr cubig, 
in England hingegen mit hellem Jubel begrüßt wurde. 

Der Furcht eines polniſch-ruſſiſchen Bündniſſes hat man ſich freilich zuerſt ent 


Cũtmets Tagebuch 183 


ſchlagen. So ſicher Polen geneigt war, wenn es die oberen Götter Genfs nicht er- 
weichen könnte, ſich den acherontiſchen Moskaus zu ergeben, fo wenig war dieſen zu- 
zutrauen, daß ſie dem alten Erbfeind ernſtlich die Oſtgrenzen gegen ſich ſelbſt und 
die Weſtgrenzen gegen uns verbürgten. 

Ernſter als Tſchitſcherins Beſuch in Warſchau wurde der in Berlin gewertet. 
Er brachte ja auch als Erfolg einen großen Staatsvertrag, den erſten, den Räte- 
rußland mit einer europdijden Macht abzuſchließen bisher gelang. Man fürchtete, 
daß zu ſeinen zehn aufgezählten Einzelabkommen noch ein geheimes elftes treten 
könnte. Dieſe Angſt wurde zu einem Stein in unſrem Brette; ſie iſt der Grund, 
weshalb man uns diesmal weiter als auf allen früheren Kongreſſen entgegenkam. 

Zehn Tage wurde verhandelt und am elften der ſäuberliche Pakt dem hocher- 
freuten Chamberlain auf den Geburtstagstiſch gelegt. 

Es war ein merkwürdiges Treiben am Lago Maggiore. Drei Konferenzen liefen 
nebeneinander her. Zu der erſten traf man ſich täglich im Pretorio unter den alpha- 
betiſch gereihten Fahnen der Teilnehmerſtaaten. Hier wurde das neckiſche Diplo- 
matenpoker geſpielt, um auch der kiebitzenden Welt etwas zu bieten. Die zweite 
fand meiſt unter vier Augen ſtatt, zu verſchwiegener Stunde am verſchwiegenen 
Orte oder auf der Motoryacht „Apfelſinenblüte“ während der Fahrt nach der ent- 
zuckenden Herbſtromantik der borromäiſchen Inſeln. Hier war es, wo die Dinge 
wirklich geſchoben wurden, denn der erfte von Wilſons vierzehn Punkten, daß „die 
Diplomatie fortan immer offen und vor aller Welt getrieben werden ſolle“, wird 
genau ebenſo gewiſſenhaft erfüllt wie die übrigen dreizehn. 

Drittens gab es noch die Preſſekonferenz. Wenn die Könige bauen, haben die 
Kärrner zu tun. Ein gewaltiges Aufgebot von Journaliſten war erſchienen und 
machte ſich dienſtbefliſſen zum Konferenzier der Konferenzler. Oder war es nur 
deren Beleuchtungsinſpektor? Die meiften jedenfalls ſahen es als ihre Hauptauf- 
gabe an, die Vertreter des Siebenſtaatenkongreſſes immerfort zu umſpielen mit den 
farbigen Scheinwerfern ihrer Berichterſtattung. 

Dies amerikaniſche Treiben iſt für die Alte Welt eine neue, aber ſchlechte Er- 
rungenſchaft. Mag es der Triumph journaliſtiſcher Technik fein, er ift zugleich ein 
Niedergang des journaliſtiſchen Gewiſſens. Denn die Senſation erdrückt die Ge- 
diegenheit, und der Politiker wird zum ſchmiſſigen Plauderer. Wenige Stunden 
nachdem ſich Luther und Briand in der Weinlaube von Ascona getroffen, wußte ſchon 
die ganze Welt davon. Allerdings nicht das, was dort zur Sprache kam, wohl aber, 
daß der Deutiche das Kätzchen geſtreichelt und der Franzoſe die Zeche bezahlt habe. 
In einem immerhin denkwürdigen Augenblick der Zeitgeſchichte wurde Stilleben 
gemalt, denn — die Kinder, ſie hören es gerne. 

Lange Spalten las man tagtäglich aus dem von feinem Dornröschenſchlaf jo 
jäh erwachten Badeorte. Aber immer nur das leichte Drum und Oran, das jetzt den 
Ernſt des Geſchehens in der Preſſe moosartig überwuchert. Wer auf verbürgte, 
tragfähige Nachricht begierig war, ſtatt auf Umwelt, der kam kaum auf feine Red- 
nung. Durchforſchte er gar mehrere Zeitungen hintereinander, dann las er ſich 
völlig begriffsſtutzig. Denn Schwarzmalerei und Rofigfeben, Wettergewölk und 
Silberſtreif wechſelten auch in demſelben Blatte unabläſſig, je nachdem „unſer 


184 Zürmers Tagebuch 


eigens entſandter Sonderberichterſtatter“ gerade dem einen oder dem anderen 
Preſſechef, dem lachenden oder dem weinenden Diplomaten in die Finger geraten. 
Es war wie in Raimunds Verſchwenderlied; der eine hieß den andern dumm und 
am Ende wußte keiner nichts. 7 

Noch riefen daher die Straßenverkäufer die Abendnummern mit der neueften 
Nachricht über „die dritte und ſchwerſte Kriſis der Konferenz“ aus, da wurde dies 
alles beſchämend überholt durch die allerneuſte Kunde von dem erfolgten Abſchluß. 

Wieder wird geſchimpft oder gejubelt; je nach Parteiſtandpunkt. Man täte beſſer, 
eine ganz nüchterne Beſtandsaufnahme zu machen, wie weit uns dieſer Schritt ge- 
bracht hat und dann zu überlegen, wie weit der nächſte uns bringen muß. Denn 
mit vollem Rechte hat Streſemann in feiner Abſchiedsrede betont, daß die Be- 
deutung des Vertrages von Locarno davon abhänge, ob er der Anfang einer neuen 
Entwicklungsreihe ſei. | 

Erreicht iſt, daß es künftig keine franzöſiſchen Sanktionsgefahren mehr gibt. 
Alle Streitfragen, auch die aus dem Berfailler Vertrag, werden einem Schieds 
gerichte überwieſen und deſſen Schiedsſprüche von England verbürgt. Durchgeſetzt 
iſt ferner, daß die franzöſiſche Oſtgarantie nicht in den Weſtpakt hineingearbeitet 
wurde. Überhaupt hat trotz Serzynski Befliſſenheit das franzöſiſch-polniſche Bünd- 
nis allerlei Kürzungen erlitten. Die Oſtgrenze wurde nicht garantiert; Deutſchlands 
Reviſionsrecht bleibt alſo unangetaſtet. Zum erſten Male iſt Polen in eine Gadgaffe 
geraten. Selbſt falls die ſchiedsgerichtliche Regelung einer deutſch- polniſchen Streit; 
frage nicht erzielt würde, dürfte Frankreich von feiner Bündnispflicht erſt dann Ge- 
brauch machen, wenn Deutſchland unzweifelhaft als der Angreifer erſchiene. Das 
berüchtigte Durchmarſchrecht wird in Genf derart herabgemildert werden, daß 
jedes Bundesmitglied das Maß feiner Mitwirkung an militäriſchen und wirtſchaft⸗ 
lichen Maßnahmen felber beſtimmen kann. Darüber hinaus find unfere Rapallo- 
Pflichten gegen Rußland ausdrücklich anerkannt. Das geſchah, um Rußland von 
Gegenzügen abzuhalten. 

Hingegen wurden leider nicht alle die Rückwirkungen durchgeſetzt, worauf wir 
Wert legten. Hier kamen Beſtimmungen des Verſailler Vertrages in Betracht, 
da iſt begreiflich, daß Frankreich auf dieſem Ohre taub blieb. Die Räumung der 
Kölner Zone rechnen wir nicht als Zugeſtändnis; fie iſt nur ein bislang vorent- 
haltenes gutes Recht. Die Verringerung der Beſatzung im Rheinland, die Rüd- 
kehr des deutſchen Rheinkommiſſars, Beſſerung der Saarzuſtände können wir nur 
als Abſchlagszahlungen werten. Weniger Bedenken habe ich, daß all' dies gar nicht 
im Pakt ſteht, ſondern nur durch perſönliches Verſprechen Briands zugeſichert iſt. 
Gemeinhin hält ein ſolches „gentlemans agreement“ beſſer als ein Staatsvertrag. 
Hier zumal, wo Briand und Chamberlain, wie es heißt mit ihrem Worte zugleich 
ihr Amt verpfändeten. Auch fällt der Pakt, wenn die Zuſagen nicht bis 1. Dezember 
ſchon erfüllt ſind, und Englands Intereſſe an dem Abkommen ſteckt daher drängend 
dahinter. Warten wir alſo ab. 

Manche Punkte find trotz aller Juriſtenſorgfalt doppeldeutig geblieben. Sie be- 
dürfen daher einer ſchleunigen Auslegung, die ſie reinlich und zweifelsohne macht. 
Auch dies nötigt zu einem vorſichtigen Aufſchub des Endurteils. 


Türmers Tagebuch 185 


Die Garantie der franzöſiſchen Oſtgrenze war von uns angeboten. Ohne fie gab 
es kein Locarno. Aber noch kein ewiger Pakt hat ewig gedauert und der Diplomat 
ordnet die Sehnſüchte nach dem Grade ihrer Erfüllbarkeit. Man ſoll daher unſere 
Unterhändler nicht ſchmälen; fie haben würdig, klug und zäh geftritten. 

Allerdings war auch der Briand von Locarno der Briand nicht mehr, der 
im Fruͤhjahr das deutſche Angebot mit höhnifcher Gegenforderung beantwortete, 
derſelben, die er jetzt ſo gut wie fallen ließ. Noch weniger aber jener Briand, der 
vor ſechs Jahren das linke Rheinufer für Frankreich forderte. Er hat zum erſten 
Male dem ewigen Polen Skrzynski aufgetrumpft und war gegen unſre Leute be- 
ſonders auf der Straße und vor dem Kodak ſo liebenswürdig, daß die Pariſer Preſſe 
ſchilt, er fed uns nachgelaufen und Streſemann meinte, man müſſe ordentlich Furcht 
betommen vor dieſem Abermaß von Herzlichkeit. 

Mr fühlen es ihm nach. Man verbinde damit, daß unlängſt der Kultusminiſter 
de Ronzie in Berlin war, um die geiftigen Beziehungen zwiſchen den beiden Völkern 
wieder aufzurichten. Man denke ferner daran, daß gleich danach in Mainz Tirard 
eine Rede hielt, die Rheinlandbeſatzung ſolle nicht Reibungen ſchaffen, ſondern 
Nittel fein, daß die Völker ſich näher kennen lernten! Iſt das die Schalmei des 
Rattenfängers, der argloſe Kinder in die Falle lockt? 

Bm glaube es nicht. Die Wandlung geht vermutlich auf die wirtſchaftliche Lage 
Frankreichs zurück. Dieſe macht es von England und Amerika abhängig. Beiden iſt 
das franzöſiſche Säbelraſſeln zum Ekel geworden und ihr: „Pakt oder —“ mag be- 
wirkt haben, daß Briand ſchon mit der Abſicht nach Locarno kam, nachgiebig zu ſein. 
Um Frankreichs, nicht um unſretwillen. 

Das ſchmerzlichſte an dem Abkommen iſt wohl, daß wir dadurch in den Völker- 
bund geraten. Es iſt die Geſellſchaft, die uns Oberſchleſien abſprach und bisher nie 
frug: „Was iſt Recht?“, ſondern immer: „Was ſchadet Oeutſchland?“ 

Er tritt uns auch jetzt noch mit Mißtrauen entgegen und baut unſrem Wirken 
ausgeklügelt vor. Er ſetzte nämlich feſt, daß, wenn Klagen von Minderheitsvölkern 
vorliegen, im prüfenden Dreierausſchuß der Staat nicht vertreten ſein darf, der 
mit ihnen gleichen Stammes ift. Jm Europa des Verſailler Vertrages gibt es aber 
faft nur noch deutſche Minderheiten. 

Es ift daher ein Opfer, das wir bringen, in dieſen Dunſtkreis einzutreten. Aber 
das Opfer kann zu einer Aufgabe werden. Selbſt in dieſem Völkerbunde liegen 
Anſaͤtze zu einer geſünderen Entwicklung. Die ſkandinaviſchen Staaten, Holland, die 
Schweiz find Mitglieder, aber ihr germaniſches Gewiſſen leidet unter dem ver- 
logenen Treiben, wie es in Genf ſofort Platz griff. Sie ſind machtlos dagegen, denn 
ihnen fehlt der Mittelpunkt zum Zuſammenſchluß. Deutſchland kann es werden, 
freilich nur ein Deutſchland der inneren Beſeelung und des triebkräftigen Fdealis- 
mus. Mir kommt der Völkerbund wie ein König Lear vor. Dieſer hat den heuchle- 
riſchen Schmeicheleien der Gonerils und Regans geglaubt, die unter der Maske 
der liebenden Töchter ihn ſchamlos ausbeuteten. Als er ſich aber feiner Lage be- 
wußt wurde, da flüchtete er zu der verſtoßenen dritten Tochter Cordelia. F. 9. 

(Abgeſchloſſen am 25. Oktober) 
— . ¶ — Z . ——— — 


Zur vaterländifchen Bewegung 


& ir möchten nicht den Eindruck er⸗ 
wecken, als ob wir mit dieſer Reihe 


von kurzen Betrachtungen, die an den Streit 
Jungdo-Stahlhelm (Auguſtheft) anknüpfen, 
„Polemik“ treiben wollten. Der „Türmer“ ijt 
parteilos deutſch, hat alſo keine Ein- 
ſtellung auf eine beſtimmte Gruppe; aber er iſt 
deutſch, nicht international, ſteht alſo vater- 
ländifhen Beſtrebungen freundlich nahe. 
Wieder aber find wir unfrerfeits weſentlich 
auf Kultur eingeſtellt, nicht auf Politik; auch 
einzelne Verfaſſungsfragen ſind uns vorerſt 
belanglos. Deutſchland als Ganzes muß ſich 
erſt wieder auf fein Weſ en und auf ſeine be- 
ſondre Sendung beſinnen. 

Wir gehen heute von einer ſchlichten Feft- 
ſtellung aus. Die Tageszeitung der jung- 
deutſchen Rieſenorganiſation („Der Jung- 
deutſche“), im ganzen lebendig geleitet, aber 
in bezug auf Kunſt, Kultur und Oichtung 
nicht immer von ſichrem Znſtinkt, hat über 
die Harzer Feſtſpiele während der Spielzeit 
(ſechs Wochen!) nicht den geringſten Bericht 
gebracht. Wohl aber war während der Spiel; 
tage im nahen Quedlinburg eine Ballei- 
Verſammlung, wobei der Ordensmeiſter 
Mahraun ſelber ſprach. Ein Inſerat im „Jung- 
deutſchen“ forderte zu maſſenhaftem Er- 
ſcheinen auf. Aber die Freilichtbühne in aller; 
nächfter Nachbarſchaft fab man nicht. (Erſt 
vier Tage nach Schluß der Spiele erſchien 
im „Jungdeutſchen“ ein begeiſtert anerkennen; 
der Geſamtbericht.) 

Hier könnte ja nun ein Derfdumnis des 
Arbeitsausſchuſſes vorliegen. Aber jene Spiele 
durften nicht überſehen werden. Sie waren 
ein außeror dentlich wichtiger Verſuch. Zene 
herrliche Bühne könnte eine unvergleid- 
liche Gammelftdtte für deutſche Jugend 
verſchiedener Gruppen, auch für die Jung- 
deutſchen werden. Man könnte dieſe Sammel- 
ſtätte in den nächſten Jahren planmäßig 
aus bauen. Die Führer könnten Anſprachen 
halten und das deutſche Kulturgewiſſen 


ftärten unter dem Eindruck der Spiele. 
Denn der Gedanke der Freilichtbühne hat ge 
fiegt, er läßt ſich vortrefflich in einen partei 
los vaterländifchen Sammelbegriff einfügen. 

In dieſem Zuſammenhang, doch unab- 
hängig von jenem Verſuch, ſchreibt uns ein 
rechtsſtehender Schriftſteller ziemlich herb: 
„Sehr gut finde ich die Ausführungen zum 
Streit Jungdo Stahlhelm im Auguſtheft. Ja, 
hinter den Kuliſſen kriſelt es — und das 
Fauft- und Maſſenrecht, der plumpe Geiſt der 
Zahl, des Hurrapatriotismus find ſtark dabei, 
in einer Phraſe zu erſtarren und alles an- 
fängliche Feuer und reine Wollen zu erſticken. 
Die Führer des Zungdo find in Berlin z. B. nie 
zu haben, perſönliche Ausſprache unmoglich, 
Ratichläge, Hilfe — nichts anzubringen: es iſt 
alles unterwegs zu Tagungen, Weihen, 
Reden, Märſchen, Paraden: ein Schau- 
ſtück! Oieſe Dinge find reif zur unzwei⸗ 
deutigen Entſcheidung. Mit der Fauſt iſt 
in Oeutſchland auf lange, lange Zeit nichts 
zu machen — ſchaffen die Führer ſich nicht 
eine Gefolgſchaft aus dem Geiſt e, machen fic 
ihre Organiſation nicht lebendig durch den 
Geiſt, ſo bricht naturnotwendig die innere 
Struktur zuſammen, und was bleibt, ift — 
ein Rrieger-Derein.. .“ 

Scharfe Worte der Beſorgnis, — aus Er- 
fahrung geſprochen, nicht aus Gegnerſchaft! 

In eindrucksvoller Weiſe hat ſich genau in 
derſelben Richtung mehrfach ſchon Thomas 
Weſterich geäußert („Deutſche Front“, Ham; 
burg). Unmittelbar an Ausführungen dez 
„Tuͤrmers“ anknüpfend, fährt er zuftimmend 
fort: „Ja, was tut ihr?! So möchten auch wit 
fragen. Was tut ihr, um der organiſierten 
Vermaſſung zu entgehen und dem herr 
lichen Gedanken der Reichsbeſeelung all jene 
Kräfte dienſtbar zu machen, die ſorgenvoll den 
Tagen der Prüfung entgegenſehen? Als bei- 
ſpielsweiſe in Hamburg der Reichsbund für 
deutſche Heimatbühnen die vaterländifchen 
Kreiſe zum erſten Male um deutſche Schoͤp⸗ 
fungen, vor allem um Eberhard Königs 
Dietrich von Bern fammeln wollte, blieb in 


Woe 


22 ae 


Auf ber Warte 


jenen Kreiſen — mit einer Ausnahme! — 
alles ftumm. Weder der Stahlhelm nod 
auch der Gungdo waren an dieſen Abenden 
vertreten, die doch den alleinigen Zweck der 
volll. chen „Beſeelung haben, den Zweck, die 
geiftig-jüdifchen Ketten zu brechen. Es iſt 
ſchon angebracht, nicht im Ton des überheb- 
lichen Nörglers, wohl aber in ernfter Veforg- 
nis zu fragen: „Ja, was tut ihr?“ — und erſt 
recht: „Was unterlaßt ihr! Seit fünf 
Monaten und länger führte der ‚Reihebund 
für deutſche Heimatbühnen‘, feit zwei Monaten 
bie Atbeitsgemeinſchaft ‚Nationale Bühnen- 
vereinigung’, Hamburg-Verlin-Gotha-Wien, 
ihren Befeelungstampf für den vater laͤndiſchen 
Sedanken. Ich will mich nicht darüber aus- 
lien, wo ich, in welchen Kreiſen ich bislang 
auf taube Ohren ſtieß. Parteien? Mit 
Parteien hat das alles nicht das mindeſte zu 
tun; darf es auch nicht. Es geht um die 
Seele des Volkes.“ 

Sn einer andren Nummer der „Oeutſchen 
Front“ ſetzt ſich derſelbe Vorkämpfer, der 
Harte Inſtinkte hat für die Nöte deutſcher 
Bühnenkunft, mit dem „Jungdeutſchen“ 
freundſchaftlich, doch feſt und deutlich aus- 
einander. Es iſt in der Tat ein ſtarkes Stück, 
wenn die Zeitung des jungdeutſchen Ordens 
folgendes ſchreibt: 

„Wenn die ,Deutide Front“ einfach feit- 
ſtellt, daß das ‚geiftige Deutſchland“ viel zu 
wenig führend zu feinem Recht kommt, fo 
möchten wir ihr jagen, daß gerade das ‚geiftige 
deutſchland“ ſieben Fabre Gelegenheit hatte, 
feine Fähigkeiten der nationalen Bewegung 
zukommen zu laſſen. Jetzt, nachdem die 
nationale Bewegung einſam und verlaſſen ge- 
kämpft und ſich durchgerungen hat, dürfte es 
natürlich leicht ſein, wenn „prominente 
Seiſtige ſich an deren Spitze zu ſetzen 
derſuchen (). Jedoch dürfen fie es uns nicht 
üdelnehmen, wenn wir fie fragen, was fie 
bisher geleiftet haben und wo die große 
Sefolgſchaft ihrer Lehre ſteckt (). Wir 
können felbjtverftändlih auf das geiftige 
Heutſchland nicht verzichten (1), aber 
Bücher ſchreiben und kritiſieren erſcheint 
uns denn doch etwas zu gering gegen den 
Kampf, den unfere Führer jahrelang, unter 


187 


Einſatz ihres ganzen Seins, verhöhnt oder be- 
lächelt von eben dieſen Seiſtigen (2) 
geführt haben.“ 

Diefe Entgleiſung — man kann es nicht 
anders nennen — wird von Thomas Weſterich 
milde zuruͤckgewieſen, wenn er fagt, dies fei 
„ausgeſprochen verbandseinſeitig und beinahe 
oberflächlich“. Beinahe?! Es iſt hanebüchen 
oberflaͤchlich. Das geiftige Deutſchland hat, 
wie dann auch Weſterich mit Recht betont, 
„nichtſeitſieben, ſondern ſeit 30 Jahren 
und länger gekämpft“ — als dieſe Ver- 
bände überhaupt noch nicht geboren waren. 
In den obigen Worten kennzeichnet ſich ein 
ganz bedenkliches Cpiekertum, das auf die 
„Bücherſchreiber“ herabſchaut und verächtlich 
fragt, „was ſie bisher geleiſtet haben und wo 
die große Gefolgſchaft ihrer Lehre ſteckt“ —! 
Die große Gefolgſchaft? Etwa die Maſſen, 
mit denen man dort in Parademäͤrſchen 
arbeitet, die natürli eines ftillen Buches 
Wirkung überdröhnen?! 

Freilich haben Nietzſche oder Eucken oder 
Chamberlain, um nur drei Warner und Pro- 
pheten der Jahrhundertwende zu nennen, „nur 
Bücher geſchrieben“, ſtatt an der Spitze von 
Maffen-Organifationen zu marſchieren. Aber 
es iſt denn doch eine höoͤchſt bedenkliche Ein; 
ſtellung, wenn man nicht fühlt, daß dieſes 
Wirken auf einer ganz andren Ebene liegt. 
In unverhüllter Form offenbart ſich in jener 
Außerung der Mangel an Ehrfurcht vor 
dem Geiſt und feiner ſtill umgeſtaltenden 
Macht. Es iſt eine Form des lauten und 
derben Materialismus: es iſt die heute 
allbeherrſchende Achtung vor den organi- 
ſierten Maſſen. 

Da find wir wieder bei unſrem Grund- 
bedenken. 

Nochmals bitten wir, unfre Worte nicht als 
„Angriff“, ſondern als Anregung aufzu- 
faſſen. Nämlich: unter Beibehaltung von 
Sport und Spiel und Wandern, dieſem un- 
erläßlichen Betätigungsdrang der Zugend, 
über die ſoldatiſchen Formen hinaus zuwachſen 
in Kulturaufgaben. Die Anlagen dazu 
ſind vorhanden: ſo glüht z. B. Mahrauns 
Rede am Hermannsdentmal von echtem 
deutſchem Idealismus, von Sorge um die 


188 


deutihe Seele. Und in einer kerndeutſchen 
Zeitung leſen wir folgende Worte in Fettdruck 
gegen Tagungen, die zum Selbſtzweck werden: 
„Solche Tagungen find ein KNrebsſchaden an 
der nationalen Bewegung geworden, fie täu- 
ſchen ſich und die Mitwelt Aber die Leere hin- 
weg und vertuſchen die Hohlheit und Haltlofig- 
keit der fie veranſtaltenden Verbände. Mit 
einer gewiſſen Rauſchſeligkeit wird eine Ge- 
dankenloſigkeit erzeugt, die der nationalen Be- 
wegung großen Abbruch tut. Was nützen dem 
Vaterlande der große Klimbim, die primt- 
baften Aufzüge und die ſtrahlenden Fackel 
zuͤge.“ 

Dies iſt genau das, wovor auch wir warnen. 
Und wo ſtehen dieſe Worte? Im „Zungdeut- 
ſchen“ (Nr. 25), und der Ordens -Hochmeiſter 
Mahraun ſelber ſpricht die Warnung aus. Wir 
ſtehen an ſeiner Seite und erhoffen grade von 
ſeiner Gruppe die große Wende zum Erfaſſen 
deutſcher Kult ur aufgaben. 


Eine Mahnung an die vaterländiſchen 
Verbande 


m Grunde meines Herzens widerſtrebt 

es mir, in der Offentlichkeit Stellung zu 
nehmen „gegen“ Organiſationen, bzw. gegen 
Beſtrebungen innerhalb von Organiſationen, 
die ich infolge ihrer vaterländiſchen Idee 
aufrichtig achte und fddge. Gerade dieſe 
Achtung aber iſt es, die mich veranlaßt, einmal 
ein offenes Wort zu ſprechen, in der Hoffnung, 
daß es vielleicht dazu beiträgt, rechtzeitig ein; 
zugreifen, wo es erforderlich iſt. 

Es handelt ſich um kerndeutſche Organi- 
ſationen wie „Fung deutſcher Orden“ und 
„Stahlhelm“ als die mächtigſten Vertreter 
des überparteilichen vaterlaͤndiſchen Gedan- 
fens. Selber Frontkämpfer während der 
ganzen Bauer des Krieges, fühle ich in mir 
die gleiche Liebe zum deutſchen Vaterlande 
und zum deutſchen Volke, die ich in den 
Brüdern des Zungdo und in den Kameraden 
vom Stahlhelm fpüre, obwohl ich ihren 
Organiſationen nicht angehöre. Als Auslands- 
deutſcher und häufiger Bereiſer ehemaligen 
Feindeslandes treten mir die Schwächen 
meiner Landsleute vielleicht etwas kraſſer und 


Auf der Warte 


zur Kritik herausfordernd entgegen, fühle ich 
aber auch die Verpflichtung in mir, als 
Kritiker mitzuarbeiten an der Bekämpfung 
folder Schäden. 

Bald nad dem Eintreffen in meiner 
Heimatftabt fand ich Gelegenheit zu langer 
Unterhaltung mit Verwandten, Freunden 
und Bekannten, welche entweder der einen 
oder der anderen der beiden Organiſationen 
angehörten. Was mir ſofort auffiel, war ein 
allgemeines Klagen über die zu ſtarke Aber- 
handnahme der rein geſelligen An- 
ſprüche, die beide örtliche Organiſationen 
an ihre Mitglieder ſtellten. Dabei verkannte 
man die Notwendigkeit des geſelligen An- 
ſchluſſes an ſich durchaus nicht, das möchte ich 
ausdrücklich betonen. Zuerſt wären es die 
Bannerweihen in den verſchiedenen Nach; 
barorten geweſen, welche die Mitwirkung 
meiner — ihre Pflichten ernſt nehmender — 
Freunde erforderten; nun ſchloſſen ſich aber 
in endloſer Fortſetzung die Weihungen 
von Tiſchbannern und Veranſtaltungen be- 
freundeter Vereine an, die bald von der einen, 
bald von der anderen Bruberſchaft oder 
Kameradſchaft Einladungen zur Teilnahme 
ins Haus brachten. Die Abende und Sonn- 
tage, die doch der Familie als der Urzelle 
der Vaterlandsliebe heute mehr denn je 
gehören ſollten, müßten der Organiſation 
in einem Maße geopfert werden, das einem 
läſtigen Zwange nicht unähnlich wäre. Wenn 
es nun noch bei der kurzen und eindruds- 
vollen Weihe bliebe! Es ſchließen ſich aber 
häufig recht unerfreuliche Gelage an, deren 
unausbleibliche Auswuͤchſe und Folgen von 
den Gegnern gründlich ausgeſchlachtet wür- 
den. Gn einem Orte hätte man dem „Stahl- 
beim“ fchon die Bezeichnung „Saufhelm“ 
beigelegt. Daß dieſe vielen Veranſtaltungen 
mit nicht unerheblichen perſönlichen Koſten 
verbunden wären, wurde nebenbei erwähnt. 
Wahrend der beiden Pfingſtfeiertage wären 
vom Stahlhelm oder Jungdo (ich entſinne 
mich nicht mehr genau) eine Übung im Ge 
lände angeſetzt, die die Mitglieder des srt- 
lichen Verbands für dieſe Tage ihren Familien 
entzogen. Beſonders für die verheirateten 
Kameraden ein kaum zu ertragender Zwang! 


Auf der Warte 


So und ähnlich lauteten die Klagen, die 
ich hier ſachlich berichte. 

Überſchätzen die Führer nicht die Be⸗ 
geiſterung und Hingabe an den Organifations- 
Gedanken unter den Geführten? Stellen fie 
dieſe Hingabe nicht auf eine zu harte Probe? 
Es iſt ein Unterſchied, ob man Berufsführer 
und geiſtig ausfchlieglih auf die Idee der 
Organiſation eingeſtellt iſt, oder ob man 
die Verpflichtungen eines Bundes neben 
den Berufs- und Familienpflichten zu er- 
füllen hat. Iſt nicht der Abſtieg in der Werbe- 
kaft des ſozlaldemokratiſchen Gedankens 
einer verminderten Möglichkeit des be⸗ 
dingungsloſen Folgens mit zuzuſchreiben? 
gat nicht die Schlagkraft unſeres Heeres im 
Laufe des Krieges ſtark dadurch gelitten, daß 
Sorge um Familie und Beruf die völlige Hin; 
gabe an die kriegeriſche Tätigkeit erfchwert? 
Keineswegs fei hier gegen ſtraffe Organi- 
fation oder energiſche Führung geſprochen. 
Beide ſind Vorausſetzung fuͤr das Gedeihen 
ſolch großer Bünde, wie beide Verbände es 
find. Aber Energie, gepaart mit tiefem Ver- 
ſtändnis für die zu Führenden, das gibt ein 
Seſpann von Zugkraft. 

Von den Herren der Oberleitung beider 
Organiſationen habe ich nach all den Scil- 
derungen, die man mir von ihnen und ihrer 
Tätigkeit gegeben hat, durchaus den Eindruck, 
daß fie Führereigenfchaften an und für ſich 
befigen, und der Erfolg beftätigt es ja. Große 
verantwortung ruht aber bei den Unter- 
führern, ganz gleich welchen Namen oder 
welche Rangbezeichnung fie tragen. Sie be- 
ſtimmen durch ihre Perſönlichkeit und ihr 
Birken den Geiſt in der ihnen unterftellten 
Gruppe. Unfere Oberſte Heeresleitung hatte 
mit der längeren Dauer des Kriegs, der zu- 
nehmenden Mannigfaltigkeit des Menfchen- 
materials bald erkannt, wo die Stütze für die 
Erhaltung der Schlagkraft lag und verlangte 
das Sichnãher kommen von Führern und Ge- 
führten und das Verſtändnis des Vorgeſetzten 
für mehr als rein militäriſche Angelegenheiten 
der Untergebenen. 

Die Unter führer — da ſteckt das Pro- 
blem! Sie müffen nach Lage der Verhältniſſe 
am Ort ihrer Tätigkeit wiſſen, was ſie ihrer 


189 


Gruppe zumuten dürfen. Sie müffen, von 
oben beraten, er zieheriſche Kräfte beſitzen, 
denn ſie ſind es, von denen die kleinen 
Zellenbildungen ausgehen, wo man im 
ftillen arbeitet. 

Wird übrigens tatſächlich der Klaffen- 
unterſchied immer und überall ganz außer 
acht gelaſſen? In den Kleinſtädten fpielt ja 
das Gefühl der Erhabenheit der einen Berufs- 
oder Standesklaſſe über die andere eine oft 
mehr als lächerliche Rolle. Mir wurde erzählt, 
daß auch beide Organiſationen, welche ja 
ſolche Unterſcheidungen grundſätzlich ab- 
lehnen, in vielen Einzelfällen ſich durchaus 
nicht davon freizumachen vermögen. Ich habe 
immer gefunden, daß es ſo furchtbar leicht iſt, 
ſie in jedem Kreiſe durch einige geſchickte aber 
von Herzen kommende Worte oder Hand- 
lungen nicht nur zeitweiſe zu überbrücken, 
ſondern zu beſeitigen. Gelingt das einem 
Unter führer einer vaterländifchen Organi- 
ſation nicht, ſo kann er ſeine übernommenen 
Pflichten ſelbſt beim Vorhandenſein energiſcher 
Füͤhrereigenſchaften nicht erfüllen. In einer 
gut geleiteten Gruppe barf nie und bei keinem 
Volksgenoſſen das Gefühl aufkommen, daß 
man über ihn hinwegſieht. 

Nun hat man neuerdings, ich glaube in 
beiden Organiſationen, auch weibliche Ab- 
teilungen unter ſehr ſchönem Namen ge- 
gründet, Fuͤrchtet man nicht ſtoͤrende Folgen 
diefer Ausdehnung? Fft ſchon unter Männern 
eine bedingungsloſe Kameradſchaft ein nur 
ſchwer zu verwirklichender Gedanke, fo be- 
zweifle ich nach meinen in dieſer Hinſicht ge- 
machten Erfahrungen und Beobachtungen 
einen Erfolg in der Schweſternſchaft. Neid, 
Eiferfüchteleien, berechtigtes oder unbered- 
tigtes Gefühl von Zuruͤckſetzung find in weib; 
lichen Organiſationen eine beſondre Gefahr, 
fo daß ich Bedenken hege, ob Jungbo oder 
Stahlhelm ſie kraft ihrer Idee den weiblichen 
Gruppen fernhalten können. Meine Leſerinnen 
bitte ich, mit mir dieſer Meinung wegen nicht 
zu ſcharf ins Gericht zu gehen. Ich verſichere 
ihnen, daß im übrigen — wenn ſie nicht 
„organiſiert“ find — meine Verehrung für die 
Frau im allgemeinen und die deutſche Frau 
im beſonderen eine grenzenloſe iſt. 


190 


Gungdo und Stahlhelm ſtehen fo ſcharf 
unter Beobachtung ihrer Gegner, daß ſie es 
vermeiden follen, unnötige Angriffs flächen zu 
ſchaffen. 

Git es übrigens notwendig, fo unzählig 
viel Bünde zu gründen, welche ſich doch in 
ihrer Struktur und ihren Beſtrebungen ſo 
ähnlich ſind? Ich habe immer das Gefühl, 
daß perſönlicher Ehrgeiz einzelner 
meiſtens die Veranlaſſung zur Schaffung 
neuer Vereinigungen iſt. Weshalb bas?! Sie 
zerſplittern nur, anſtatt dem Nationalismus 
die jo dringend erwuͤnſchte Einheit und Tiefe 
zu geben. Das auf uns Auslandsdeutſche ſo 
befonders traurig wirkende Bild der Serriffen- 
heit deutſcher Parlamente und ihrer dadurch 
unfruchtbaren Arbeit möge dem wiederauf- 
lebenden und aufſtrebenden Nationalismus 
eine Abſchreckung ſein! Uns retten weder 
Parlaments- noch Vereins-Reden. In dieſer 
Anſicht weiß ich mich eins mit unzählig vielen 
Deutiden im In- und Auslande. 

Hinrichs. 

Nachwort. Diefe Bedenken find uns ganz 
unabhängig von unfrer Erörterung Jungdo- 
Stahlhelm ſchon vor Monaten aus dem 
Auslande zugegangen. DO. T. 


Aus ſchleſiſchen Bergen 


eimatfeſt feiern iſt gewiß ein ſchönes 

Ding! Und doch wie oft kommt einem 
der Gedanke, daß man mit den Feſten an der 
Schale hängen bleibt und den Kern nicht 
erreicht oder daß gar die Nuß hohl! Wer mit 
Grenzgauarbeit zu tun hat, täglich den Rampf 
der Sudetendeutſchen verfolgt, der empfindet 
mit tiefem Schmerz, bei wie wenigen der 
Grenzgaugedanke als ein deutſcher erfaßt 
wird. Trotz aller Bemühungen können wir 
z. B. nicht erreichen, daß unſere Riefenge- 
birgswanderer die Tſchechenbauden meiden, 
die Bauden, deren deutſche Beſitzer entrechtet 
wurden, Bauden, die den Kohleninſeln des 
Ozeans gleich Stützpunkte unaufhaltſamer 
Tſchechiſierung find. Aus Bequemlichkeit und 
Neugier meidet der Reichsdeutſche dieſe 
Bauden — Elbfallbauden, Woſegger, Martins, 
Hofbaude — nicht und hat dann zweierlei 


Auf der Warte 


fadenſcheinige Entſchuldigungen: der Reiſc⸗ 
verkehr ift international. Und: Seid um- 
ſchlungen, Millionen ! 

Sit nicht ſolchen Redensarten gegenüber 
die Tatſache tief beſchämend, daß als Ertrag 
des Verkehrs von ein paar Feſttagen, ein 
tſchechiſcher Baudenwirt 3000 Rentenmark 
nach Prag auf die Bank bringen konnte! Die 
Regierungsleute quittieren lächend und nen- 
nen dann die Oeutſchen das national 
ſchlappeſte Volk. Die Deutſchböhmen aber 
kommen mehr und mehr zu der Überzeugung: 
von den heutigen Reichsdeutſchen kann uns 
nimmer Hilfe werden. Um wie viel bitterer 
wird dadurch ihr Rampf! 

Die Wanderer, die wir zu Tauſenden aus 
allen deutſchen Gauen grüßen durften, 
durcheilen das Bergrevier meiſt in einem 
Tempo, als könnte man vom Rilometerfreffen 
geiſtig ſatt werden. Wie viele — wie wenige 
von dieſen erleben wirklich Heimat! Von 
einer Baude zur andern preſchen, ſchwung⸗ 
volle Anſichtskarten ſchreiben, einige Lieder 
und mehrere Schoppen ſchmettern — — fo 
leicht iſt Heimat nicht gefunden. Das alles iſt 
Schale. 

Wer nicht vor der Majeftät der Berge erſt 
einmal ganz klein, ſtill und einſam geworden 
ijt, für den rauſchen Wälder und Bäche um- 
ſonſt, an den dringt nicht das Hohelied der 
Berge in ſchönem, innerlich feinem Rhythmus. 
Wo Gott nicht ſprechen kann — und Gott 
ſpricht nicht im Lärm der Menſchen — iſt 
keine Heimat. Das Wandervogelleben war 
ſchon richtig oder ſuchte wenigſtens die 
Bahnen. Aber die Maſſe — wie immer — 
hat dann alles verdorben. 

Wie dem ſei: Immer klarer erkenne ich, 
daß Heimat-Erleben und ihr dienen wenig 
mit Maſſenwandern und wenig mit 
Feſten zu tun hat — wenig mit dem, was wir 
von außen an ſie herantragen, um ſo mehr 
aber mit dem, was aus ihr ſelbſt von innen 
und natürlich hervorwächſt. Das ift die Ar- 
beit, die in ihr geleiſtet wirb, die boden 
ſtändige Arbeit, d. h. die durch Material 
und das Gewerk der Menſchen an den 
Boden gebunden iſt. Dieſe Arbeit gilt es zu 
zeigen als Heimatleiſtung, dieſe Arbeit gilt es 


Auf der Warte 


zu fordern, fie vom Kitſch zu retten, zum Wert- 
gut zu machen. Damit eben dadurch — und 
das iſt der Kerngedanke — der werkende 
Renſch nicht nur wirtſchaftlich, ſondern 
kulturell gehoben werde. 

Wir haben im Riefen- und Zſergebirge 
Leinen - und Garninduſtrie, Glasinduſtrie, die 
kunſtgewerbliche Arbeit der Spitze, am Holz 
und Metall. In Schreiberhau und Flinsberg 
babe ich Meiſter der Glasgravur kennen ge- 
lernt (die Gravur iſt ja die viel wertvollere 
Glasbearbeitung als der immer mehr in den 
VBotcdergrund tretende Schliff), deren Ar- 
deiten in ihrer angreifenden Schlichtheit und 
Echtheit klar erkennen laſſen, daß hier alles 
die Arbeit ſelbſt ijt: die Arbeit als Lebens- 
ſchaffen und Lebensfreude. Das wirtſchaftliche 
Moment tritt gegen das kulturelle zurück. 
Dasfelbe zeichnet die Arbeit Del Antonios, des 
Lehemeiſters der Warmbrunner Schnitzſchule, 
aus. Mit der Hirſchberger Füͤrſtlich Pleßſchen 
Spitzenſchule ſteht es ähnlich. Möchte ich 
helfen können, ihr neue Wege zu ebnen, denn 
die geldknappe Zeit hat fie in ſchwere Be- 
drangnis gebracht! Sie hat eine Leiterin von 
ausgezeichneter künftlerifcher Kraft, die es ver; 
ſtanden, ſich die Gehilfinnen für dieſe eben 
fo ſchwere wie tinftlerifd wertvolle Arbeit 
beranzubilden. Man muß fi einmal die 
Riibe geben, jo eine handgenähte Spitze mit 
einer Maſchinen arbeit zu vergleichen. Es 
lam dasſelbe Muſter fein und doch der Unter; 
ſchied kalter, farbloſer Gleichgültigkeit und 
ener farblichen und fadenmäßigen Lebendig; 
kit, deren Gepräge eben nur die feinfühlige 
Teichen hand dem Werk zu geben vermag. 
3a haben in Boberſtein bei Rupferberg eine 
neue kunſtgewerbliche Werkſtatt, die das 
Kupfer aus dem nahen Bergwerk hämmert 
d treibt. Es find das zwei verſchiedene kunſt⸗ 
gewerbliche Arbeitsgänge, mit denen der 
Kanſtler wirkt und feine wuchtigen Keſſel, 
Schalen, Leuchter, Glocken herſtellt, die wie 
Ursäterhausrat anmuten, fo ſchwer, gediegen 
und zweckdienlich. 

Das ſind einige unſerer Heimatarbeiten. 
Bit ihn en dürfen wir in der Welt fagen: das 
find wir — das iſt unſere Heimat. Diefe 
Arbeit bedeutet nicht nur, ſondern iſt Leben, 


191 


iſt unſer Leben. Zit aber dieſe Bergesarbeit 
Inhalt unſeres Lebens, mit aller Laſt und 
aller Luſt, dann braucht auch der Menſch ein 
Arbeitskleid, das beidem — ſonderlich der 
Luſt — Rechnung trägt. Fit die Arbeit gott- 
geſchenkter Segen der Heimat, ſo ſoll der 
Menſch nicht in Lappen und Lumpen ſeine 
Arbeit verrichten. 

Von dieſem Gedanken aus iſt mir die 
Schaffung einer neuen Bergtracht ein 
Problem und keine Spielerei. Zur Spielerei 
wird leider vielfach die Heranziehung der alten 
ſchönen Trachten zu den allerlei Feſten, die 
ihren Höhepunkt in modernen Tänzen haben. 
Vorkämpfer dieſes Trachtengedankens iſt der 
völkiſche Schriftſteller Bernhard Wilm Saal- 
berg. Auf Gedanke und Formengebung der 
neuen Tracht einzugehen, muß ich mir für ein 
andermal vorbehalten. 

Hermann Bouſſet. 


Ein Richard Wagner ⸗Saal in Ba y⸗ 


reuth 


inen Markſtein in der Geſchichte der Feft- 

ſpielſtadt Bayreuth — ſo wird man einſt 
die Gründung des Richard Wagner- 
Saales in Bayreuth nennen. Das Wort 
Saal iſt in dieſem Fall zu eng begrenzt; aber 
noch iſt die umfaſſende Bezeichnung für das 
hier zu Schaffende nicht gefunden. 

Mit dem Plan, dem klaſſiſchen Wagner⸗ 
Biographen C. F. Glaſen app ein Gedenk- 
zimmer zu errichten, kam ſeine Pflegetochter 
und Freundin Helena Wallem nach Bay- 
teuth. Dorthin hatte fie unter den den kbar 
größten Schwierigkeiten den Glaſenappſchen 
literariſchen Nachlaß aus dem bolſchewiſtiſchen 
Riga gerettet. Und nun erwuchs ihr an Ort 
und Stelle der weitausſchauende Gedanke, 
im Anſchluß an das Glaſenapp- Gedenk- 
zimmer ein Unternehmen ins Leben zu 
rufen, das den Beſuchern Bayreuths durch 
eine großangelegte Sammlung aller be- 
deutenden auf den Meifter bezuͤglichen Er- 
innerungen den Werdegang und das Wirken 
Richard Wagners im Bilde vor Augen führt 
und zu Lehr- und Forſchungszwecken lebens; 
voll ausgebaut werden ſoll — eine Aufgabe 


192 


von unuͤberſehbarer Bedeutung, wie fie nur 
durch edelſte Begeiſterung und reinſte Opfer- 
freudigkeit gelöſt werden kann. Aber Helena 
Wallem beſitzt in hohem Maße die Eigen- 
ſchaften, die ſolchem Beginnen zum Siege 
verhelfen. 

Wenig mehr als ein Jahr iſt vergangen, ſeit 
die erſte offizielle Runde von dem geplanten 
Unternehmen durch Helena Wallems „Mittei- 
lung und Aufruf“ in die Offentlichkeit drang, 
feit auch an bieſer Stelle (Cirmer, Okt. 1924) 
durch Otto Daube darauf hingewieſen ward 
— und ſchon zeigt es ſich in beglüdender 
Weiſe, wie der Gedanke Wurzel gefaßt hat 
und ins Große und Weite wachſen will. Aus 
der einen Ecke, die im Sommer 1924 den 
Feſtſpielbeſuchern ein erſtes beſcheidenes Bild 
von der im Entſtehen begriffenen Schöpfung 
vermittelte, hat ſich nun ſchon ein ſtattlicher 
Grundſtock entwickelt. Der Schätze ſind ſo 
viele geworden, daß bereits tiſchweiſe ge- 
ordnet werden konnte, was fpäter — im 
Neuen Schloß — faalweife feine Ge- 
ſtaltung finden wird. Und wie finn- und ge- 
ſchmackvoll hat die Hand der Hüterin ge- 
waltet, wie lebendig iſt die Anordnung jeder 
einzelnen Abteilung! Zunächſt der bio- 
graphiſche Tiſch: Ein beſonders fchönes, 
ſeltenes Exemplar der Beethoven -Buͤſte aus 
der Werkſtatt von Guſtav Kietz und ein 
reizendes Weber-Relief von derſelben Meijter- 
hand erinnern an die bedeutſamen Epiſoden 
der Dresdener Jahre: die Aufführung der 
9. Symphonie und die Trauerfeier für Weber, 
die Wagner mit der ganzen Znnigkeit ſeiner 
Liebe zum Schöpfer des Zreifhüß und Oberon 
und der Euryanthe verbreitet und ins Werk 
geſetzt hat. Bilder von Wagners Wohnſtätten, 
die erſten Stiche von Tann häuſer und Lohen- 
gtin, eine Aufnahme des Weimarer Hof- 
theaters aus dem Lohengrin-Jahr 1850, der 
Steckbrief Wagners vom Jahr 48 im All- 
gemeinen Eberhardtſchen Polizeianzeiger der 
„politiſch gefährlichen Individuen“ (1) — um 
nur einiges herauszugreifen — führen recht 
eigentlich in des Meiſters Leben ein. Die reiche 
Schaffenszeit der Züricher Jahre liegt in 
wertvollen Erſtausgaben vor uns: Kunſt und 
Revolution, Oper und Drama, Mitteilung 


Auf der Warte 


an meine Freunde und das Kunſtwerk der 
Zukunft mit der Widmung an Feuerbach, 
die — fo bedeutſam — in fpäteren Ausgaben, 
nachdem Schopenhauer in fein Leben gc- 
treten war, wegbleibt. Beſonders anſchaulich 
iſt die Münchener Triſtan-Zeit feſtge halten: 
am eindringlich-rührendſten vielleicht durch 
ein unſcheinbares Heft, in das Schnorr von 
Carolsfeld feine ganze Triſtan- Partie heraus- 
geſchrieben hat. Ein Ehrenplatz ward hier 
dem von der Nrongut verwaltung in Münden 
geftifteten Bildnis König Ludwigs II. ein- 
geräumt, das den königlichen Schirmherrn 
in der ganzen ſieghaft fchönen Jdealitdt der 
Erſcheinung zeigt zur Zeit feines Regierungs- 
antritts, da er den längſt verehrten Meiſter zu 
ſich rief. 

Den biographiſchen Erinnerungen ange⸗ 
reiht iſt der Tiſch der Getreuen, wo die uner- 
müdlichen Mitlämpfer, die Freunde des 
Haufes Wahnfried in Bild und Buch ver- 
treten find. Lauter Namen, die dem An- 
hänger Bapreuths vertraut find. Ich nenne 
hier nur: Hans von Wolzogen, Heinrich von 
Stein, C. T. Glaſenapp, Chamberlain, Mal- 
wida von Meyſenbug. Eine beſondere Weihe 
gibt dieſem Tiſch das in Geſtalt und Haltung 
und Ausdruck der Hand ſo ergreifende Bild 
von Liſzt am Klavier; auch die großen Schüler, 
die dieſer Getreuefte dem Meiſter zugeführt: 
Hans von Bülow, Tauſig, Klindworth be 
gegnen uns hier im Bilde. 

Ein wertvolles Andenken an die erſten 
Ring-Aufführungen 1876, das Bildnis Wag- 
ners, das er der erſten Bruͤnnhilde, Amalie 
Materna, mit der Unterfcrift: „Seiner 
Brünnhilde Wagner Wotan“ ſchenkte, leitet 
über zu dem Tiſch der Geſchichte der Feſt⸗ 
ſpiele. Hier wird vor allem durch eine Ori- 
ginalzeichnung von Hans Thoma der hohen 
Frau gedacht, die nach dem Tode des Meiſters 
das verwaiſte Werk in die Hand nahm und es 
mit unerhörter Kraft und Genialität ausge 
ſtaltete. Darunter das Bild des Sohnes, der 
als „ein Rulturträger edelſter Art“ das Erbe 
von Bayreuth lebendig welterführt. Und all 
den bewährten Helfern am Werk, den erſten 
Förderern Groß und Feuſtel, den erſten 
Dirigenten Richter, Levi und Mottl, dem 


Auf der Warte 


„Blumen vater“ Porges, dem Geſangsmeiſter 
Hey iſt hier ein Denkmal geſetzt. 

Zuletzt der Tiſch, der zur bildenden Kunſt 
hinüber weiſt, wie fie von der Anregungskraft, 
die Wagner und ſeinem Schaffen innewohnt, 
beeinflußt worden iſt. Franz Staſſen mit 
ſeinen wundervollen, ganz aus dem Geiſt der 
Muſik geborenen Ring-Geftalten ift hier an 
erſter Stelle zu nennen. Viel wäre noch zu 
jagen von großzügigen Stiftungen, die der 
jungen Schöpfung in Ausſicht geſtellt ſind, 
von opferbereiter Förderung, die ihr zuge- 
ſprochen worden iſt. Hier will ich nur noch das 
Eine betonen, daß Helena Wallem auch junge 
Kräfte gewonnen hat, die freudig bereit ſind, 
ike Arbeit dem Dienft am Werke zu weihen. 
Und dieſe Gewinnung der Jugend für den 
vayreuther Gedanken iſt von größter Wichtig- 
leit, damit die Kette der Getreuen, die ſich 
k und je für ihn eingeſetzt haben, ununter- 
brochen in die Zukunft hinüberführe; damit 
das Wort, das die große Zdealiſtin Malwida 
von Menfenbug ſchon 1901 ausgeſprochen hat, 
ſeine Geltung behalte: „Bayreuth iſt jetzt wie 
der Pol einer elektriſchen Kette, von der eine 
heilende Rraft ausgeht — dahin, wo es nottut, 
in die Jugend!“ Berta Schleicher 


Woldemar von Urkull 


er Verfaſſer des Leitaufſatzes in dieſem 

Hefte iſt ein in Deutſchland noch wenig 
bekannter baltiſcher Edelmann und Schrift- 
ſteller, der nun in Tirol lebt. Man hat ihn — ſo 
plaudert die Meraner Zeitung — den Oichter 
des KRaukaſus genannt, nicht mit Unrecht, denn 
durch feine kaukaſiſchen Werke wurde die li- 
terariſche Welt zuerſt auf ihn aufmerkſam. 
Doch Uxkull hat noch andres geſchaffen. „Ich 
würde ihn heute den Dichter der Menfchen- 
liebe nennen; denn der Riefe von Geſtalt mit 
dem gütigen Herzen eines Kindes war von je- 
her der Anwalt der Menſchlichkeit. Aus ſeinen 
geſamten Werken tönt der Ruf nach Gerechtig- 
keit, Milde, Befreiung; fei es in feinen tau- 
kaſiſchen Büchern, fei es in der ‚Lucie Bertier“ 
oder in feinem letzten Werte ‚Eine Einweihung 
im alten Agypten“, überall ruft er die hohen 
Menſchheitsgefühle wach.“ 

Der Türmer X XVIII, 2 


193 


Wir haben denſelben Eindruck, kennen frei- 
lich nur das letztgenannte Werk (München, 
Roland -Verlag, Dr. Albert Mundt; geſchildert 
nach dem Buche Toth, mit 22 Rekonſtruktions- 
Zeichnungen von Leo Sebaſtian Humer). Auf 
dieſen 121 Seiten entfaltet ſich, von nachfuͤh⸗ 
lender Phantaſie geſchaffen, klar und anfdau- 
lich, Schritt für Schritt, der Entwicklungsgang 
eines Myſten, der an der Hand feiner priefter- 
lichen Führer in höhere Erkenntniſſe vordringt. 
Uxkull hat ſich mit dieſem Gebiet viel befchäf- 
tigt; und fo dürfte auch feine verſuchsweiſe 
Nachzeichnung der Eleuſiniſchen Myſterien 
anregend ſein. 


Ein deutſches Ehrenmal 


um 1. Auguſt 1924, als dem Tag der zehn- 

jährigen Wiederkehr des Welttriegsbe- 
ginns, betonte die Reichsregierung (gleich den 
anderen Nationen), die Ehrung der gefallenen 
Söhne des deutſchen Volkes ſei eine vornehme 
Staatspflicht. Wie und wann dieſe Ehren- 
ſchuld einzulöſen fei, darüber hat ſich die Re- 
gierung jetzt nach einem weiteren Jahre noch 
nicht vernehmen laſſen. 

Der Bund der Frontſoldaten (Oer Stahl- 
beim) greift nun dem amtlichen Schnecken 
gang vor. Er wendet ſich an die Offentlichkeit 
mit einem Aufruf, der in der Schaffung eines 
heiligen Haines gipfelt. Wenn eine Män- 
nerkameradſchaft von der Größe des „Stahl- 
helm“ nach offenbar forgfamer Überprüfung 
des Objekts ſich für das Zuſtandekommen 
einer Gefallenen-Ehrung größten Stiles ein- 
ſetzt, dann läßt ſich nicht ſtillſchweigend darüber 
hinweggehn, denn den Entſchlüſſen dieſes 
rührigen Bundes pflegen Taten zu folgen. 

Der Plan des „Stahlhelms“ geht von der 
Erwägung aus, daß die Gemeinde- Ehrenmale 
für die heldiſchen Toten des Weltkrieges zwar 
nötig und [din find, nicht aber ſymboliſch dem 
ungeheuren Vorgang der heiligen Volks- 
erhebung als Ganzem gerecht werden. Auch 
die gemeinnützigen Kriegergedächtnis- Stif- 
tungen etwa in Form eines Kriegerheimes 
(wie ich an dieſer Stelle 1923 ausführte) ent- 
ſprächen nicht dem Sinn des heldiſchen Opfer- 
gedankens. Was den Welſchen und Angel- 

13 


194 
ſachſen das Sinnbild des unbekannten Solda- 
ten, das ſolle dem tiefen deutſchen Empfinden 
der in offenem Sarkophag ſchlafend nach- 
gebildete Krieger (in ÜUbermenſchenform) 
ſein: weithin ſichtbar ruhend inmitten eines 
gewaltigen Naturparks, der Eigentum der 
Nation, als ſolches ſakroſankt, geſetzlich ge- 
ſchützt und als Stätte der Verehrung und Ein- 
kehr nur unter beſtimmten Bedingungen be- 
tretbar. Ohne die Möglichkeit, den Raucher- 
und Trinkergelüſten zu fronen, darf nur der 
Einzelne zu Fuß, ohne Waffen, ohne Hunde 
die feierliche Landſchaft betreten. Eine ge- 
waltige Mauer umgibt dieſe Freizone der Na- 
tion. Nach jeder Himmelsrichtung weiſt eine 
mächtige, von zwei Türmen flankierte Pforte. 
Kriegsbeſchädigte üben den Wach- und Auf- 
ſichtsdienſt aus. Jede Mutter eines toten Krie- 
gers ſoll Jahr um Jahr die Möglichkeit haben, 
auf Koſten des Staats nach dem heiligen Ge- 
biet zu fahren und am Grabe des ſchlafenden 
Kriegers ſtill ihres eigenen Sohnes zu gedenken. 
Beſondere Reichsgeſetze haben die Strafen bei 
Sachbeſchädigungen und Profanierung zu 
regeln. Große Opferſtöcke an den Portalen 
ſammeln Spenden für edle vaterländiſche 
Zwecke: etwa für Kriegsbeſchädigtenfürſorge, 
Linderung der Wohnungsnot, Siedelung. 
Daneben beſteht nun der Plan des Tan- 
nenberg-Ehrenmals. Am 31. Auguſt 1924, 
als dem Tag der zehnjährigen Wiederkehr der 
Entſcheidungsſchlacht von Tannenberg, weihte 
der Sieger im Kampfe, Feldmarſchall von 
Hindenburg, den Grundſtein der gewaltig ge- 
dachten Anlage, deren äußeres Bild nach ab- 
geſchloſſenem Wettbewerb nun feſtliegt. Die 
Stätte ijt hier im Gegenſatz zum Stahlhelm- 
Projekt unabänderlich. Während der Bund 
der Frontſoldaten an ein möglichſt zentral ge- 
legenes, landſchaftlich erhabenes Naturgebiet 
etwa im Thüringer Wald denkt, wird 
das Tannenberg-Mal auf dem biſtoriſchen 
Schlachtfeld zu ſtehen kommen. Seine Anlage 
ähnelt dem des heiligen Hains: Auch hier 
türmen ſich klobige Mauern; auch hier fdir- 
men Wachttürme die hohen Eingangspforten, 
während im Ehrenhof mächtige Mauerniſchen 
den einzelnen Gauen und Stämmen vorbe- 
halten ſind. Möglichſt jedes einzelne Land ſoll 


Auf der Varte 


ſich feinen Wachtturm erwerben, der mit fei- 
nen gewaltigen Ausmaßen und einer Höhe 
bis zu achtzig Metern als ein Vahrzeichen 
trutzig ins Land ragen wird. 

Es iſt kaum zu bezweifeln, daß bei der 
großen Verehrung für den greiſen Marſchall 
und Führer des Reiches das Tannenberg-Mal 
durch freiwillige Spenden verwirklicht wird. 
Ebenſo iſt auch damit zu rechnen, daß bei der 
Diſziplin und den geordneten Mitteln des 
„Stablhelms“ der größere Plan des heiligen 
Hains nicht beim bloßen Vorhaben bleibt. 

Daß große einigende Werte von einem fol- 
chen geweihten Ort auf alle Lebensalter und 
Geſchlechter ausſtrahlen werden, iſt ſicher; 
ebenſo daß damit dem Ausland ein würdiges 
und warnendes Beiſpiel von der inneren Ein- 
kehr und bewußten Würde des aufſteigenden 
deutſchen Volks gegeben würde. 

Hans Schoenfeld 


Heinrich Vierordt 


3" Johann Peter Hebel und Zoſeph Viktor 
von Scheffel geſellt ſich aus dem Badener 
Land in dem ſiebzigjährigen Heinrich Vier- 
ordt ein dritter Vertreter deutſchen Schrift- 
tums, der auf dieſem Gebiet zu nicht mehr be- 
ſtrittener Geltung durchgedrungen iſt. Sein 
Zubeltag geſtaltet ſich für ihn zum Zeugnis 
allgemeiner Wertſchätzung ſeiner Verdienſte. 
Von dem gefeſtigten Ruhm ſeines Namens 
und ſeiner Schöpfungen fällt, wie von Hebels 
und Scheffels Wirken, ein Abglanz auch auf 
ſeine Heimat und ihre Hauptſtadt, in der er 
am 1. Oktober 1855 als Sohn des Ober- 
leutnants Heinrich Vierordt geboren wurde. 

Manches hat unſer Jubilar mit den genann- 
ten beiden Sanges- und Stammesgenoſſen 
in ſeinem innerſten Weſen gemein, und es 
wäre gewiß tein undankbarer Verſuch, den ver- 
bindenden Fäden dieſer natürlichen Artver- 
wandtſchaft im einzelnen nachzuſpüren. Aber 
neben jenen zweien hat Vierordt, der Menſch 
und der Dichter, doch als eigenwüchſige, felb- 
ſtändige Perſönlichkeit Anſpruch auf feinen be- 
ſonderen Platz. 

Edle, kraftgetragene Geſchloſſenheit und un- 
gezwungen vornehme Großzügigkeit bilden die 
Grundlagen ſeines Charakters und ſeiner in 


Auf der Warte 


einer anſehnlichen Bücherreihe niedergelegten 
Geiftesarbeit. Die ſtraffe Zucht des von dem 
guten Offizierston vergangener Zeit erfüllten 
Eltern hauſes und der mehrfache Wechſel des 
Wohnſitzes, durch den der lerneifrige Knabe 
die ſchöͤnſten Städte zwiſchen der Taubermün- 
dung und dem Bodenſee, Ronjtanz, Freiburg, 
heidelberg und Wertheim, genauer kennen 
lernte, waren für das Wachstum und die 
Beiterentwidlung feines früh ſchon hervor- 
tretenden poetiſchen Talents ein in jeder Hin- 
ſicht foͤrdernder und fruchtbringender Gewinn. 

Von den Zochſchulen Heidelberg, Leipzig 

und Berlin kehrte Vierordt nach der Erwer- 
bung des Doftortitels als freier Schriftſteller 
nach Karlsruhe zurück. Unausgeſetzte Befchäf- 
tigung mit den beſten Werken der Weltliteratur 
und ausgedehnte Wanderfahrten durch faſt 
alle Staaten Europas gaben ſeinem Wiſſen 
und Rönnen den für ihn wünſchenswerten Halt 
und die letzte Rrönung. Durch fein verhältnis- 
mäßig ſpãt geſchloſſenes Ehebündnis mit Anna 
Helbing, einer Tochter des damaligen Prä- 
ſidenten der evangeliſchen oberſten Kirchen 
behörde Badens, erſchloſſen ſich für ihn eben; 
falls bedeutungsreiche Möglichkeiten erweiter- 
ter Lebenserfahrung. 

Ebenſo zog Vierordt aus dem freundfdaft- 
lichen Verkehr mit den bekannteſten Größen 
des zeitgen öſſiſchen Schrifttums und mit hoch- 
geſtellten Gönnern desſelben, wie dem Groß- 
herzog Karl Alexander von Sachſen - Weimar, 
für fein künſtleriſches Schaffen manchen nach; 
haltigen Nutzen. Seine wertvollen, bei dem 
Stuttgarter Verlag von Greiner & Pfeiffer 
eben im Oruck erſcheinenden Erinnerungen 
(„Das Buch meines Lebens“) geben einen Be- 
griff von der Vielſeitigkeit dieſer Beziehungen. 
Als fein erſtes umfaſſenderes Proſawerk bezeu- 
gen dieſe Aufzeichnungen zugleich die Mujter- 
gültigleit der Sprache des bisher nur im Lied 
und in der Ballade bewährten Wortmeiſters. 
h Der peinlichen Sorgfalt in der Behandlung 
von Rang und Form, von Reim und Vers, 
haben auch feine Dichtungen ihren ungewöhn- 
lichen Glanz und die Weihe vollkommener 
Schönheit zu verdanken. Ihr maleriſcher Reiz 
übertrifft faſt noch den muſikaliſchen, und es 
muß uns wundernehmen, daß ſich nicht auch 


195 


die Künſtler des Stifts und der Palette, wie 
die Komponiſten, ihrer bemächtigt haben. 

Stofflich umſpannt Vierordts Poeſie den 
ganzen Bereich menſchlicher Erfahrung und 
Lebenserkenntnis unter beſonderer Berück- 
ſichtigung des geſchichtlich überlieferten Ge- 
ſchehens. Aus dem unerſchöpflichen Born der 
Sage und Legende fließt ihr gleichfalls will- 
kommene Nahrung zu. Die Schwungkraft einer 
ſtarkbeflügelten Phantaſie hat ihre Schranken 
noch um ein Beträchtliches erweitert. In den 
Balladen und in den oft an Heines groß- 
geſchaute Nordſeebilder erinnernden kos- 
miſchen Alfreskogemälden erreicht fie den 
Höhepunkt ihres Geſtaltungs vermögens. Die 
Stimmung getragenen Ernſtes herrſcht in ihr 
vor. Zu machtvoll geſteigerter Auswirkung er- 
hebt fie fic in den genial durchgeführten mehr; 
teiligen Geſchichtsdichtungen, die beſonders 
tragiſche Schickſale, wie das der Zuilerien- 
kinder oder das des Kaiſers Max von Mexiko, 
des Schloßherrn von Miramar, vor des Leſers 
erſchütterte Seele treten laſſen. 

Das äußere Gewand dieſer epiſch-lyriſchen 
Darſtellungen ſchimmert und leuchtet in Frei- 
ligrathſcher Farbenpracht. Geibelſche Ruhe 
und Reinheit zeichnet die zahlreichen Reife- 
ſkizzen und Naturſchilderungen aus, vor allem 
auch die ſchönen Gedenkſtrophen aus Griechen; 
land und Stalien. Und an die Zartheit und 
Innigkeit eines Storm und Mörike reichen die 
ſeelen vollen, gefühldurchhauchten Verſe heran, 
in denen der Dichter das Glück feiner Zugend⸗ 
tage, fein Vaterhaus, die ftille Fürſorglichkeit 
ſeiner Gattin und das harmlos unſchuldige 
Spiel ſeines Töchterleins beſingt. 

Heimatklänge tönen warm und herzandrin- 
gend ſchon aus der älteften Sammlung feiner 
Gedichte. Mit einem „Badiſchen Heimatbüch⸗ 
lein“ will er uns auch jetzt wieder beſchenken. 
Karlsruhe und ihre trotz der kurzen Zeit ihres 
Beſtehens überaus reichhaltige Chronik haben 
dazu manchen köſtlichen Beitrag geliefert. 
Wie ſchon in dem bekannten, wiederholt ver- 
tonten Lied „Ans Land Baden“ und in vielen 
andern Stücken aus dem Erſtlingsband offen 
bart ſich auch in dieſer neuen Gabe die rüh- 
rende Hingebung und Anhänglichkeit des Ber- 
faſſers an den angeſtammten Boden. 


1% 


Dod fiber den engeren Rreis der gelb-roten 
Grenzpfähle hinaus trägt ihn die Begeiſterung 
für das zu ſo raſch emporgediehener Macht 
oufgewachſene, nach Not und Schmach ſtolz 
und ſtark wiedergeeinte Vaterland der licht; 
vollen, nun jählings in Nacht und Dunkelheit 
binabgefuntenen Aufſtiegfrift nach dem glor- 
reichen Rrieg gegen Frankreich, während der 
er feine beſten Mannesjahre, ſelbſt in ſtetem 
Aufſtieg begriffen, der Ausübung ſeiner den 
Ruhm des Reichs mit verherrlichenden Runft 
widmen durfte. Gefdnge voll Kraft, in denen 
das reine vaterländiſche Denken und Emp- 
finden zum Ausdruck kam, beſitzen wir von ihm 
aus jenen großen, leider fo ſchnell entſchwun⸗ 
denen Tagen. Die dem Dichter zuteil gewor- 
dene Hofratswürde war der gewiß nicht un- 
angebrachte Beweis fürſtlichen Pflichtbewußt- 
ſeins dieſem ritterlich deutſchen Sinne gegen 
über. 

Feintdrnige, jedoch mit Abſicht öfters auch 
derb zugreifende Spruchweisheit bot Vierordt 
dem mitlebenden und dem nachwachſenden 
Geſchlecht bei den immer deutlicher werdenden 
Fehlgängen und Abirrungen im Wirtſchafts ; 
und Geiſtesleben, in Erziehung und Schul- 
betrieb, in Geſellſchaft und Politik, nachdruͤck⸗ 
lich zu Beſinnung und Umkehr mahnend. Die 
„Oeutſchen Hobelſpäne“ find in dieſer Hinſicht 
weit weniger zum Ergötzen als zur Ab- 
ſchreckung und Aufrüttelung ſchlafender oder 
doch gleichgültig gewordener Gemüter der 
Offentlichkeit übergeben worden. In dieſen 
epigrammatiſch knapp geprägten, höͤchſt ſchlag; 
fertigen Gedankengebilden und in den , Deut- 
ſchen Ruhmesſchildern und Ehrentafeln“, 
welche die geiſtige Struktur der namhafteſten 
älteren und neuzeitlichen Berühmtheiten, vor- 
nehmlich auf dem Felde der Literatur und 
Kunſt, blitzartig überhellen, tritt die ſprach- 
ſchöpferiſche Begabung Vierordts am auf- 
fälligſten zutage. 

Auch nach dem ſchlimmen Ausgang des 
Weltkriegs, der für des Dichters bürgerliche 
Stellung mancherlei nicht von ihm voraus- 
geſehene, heldenhaft durchgefochtene Schwie- 
rigkeiten und Nöte mit ſich brachte, blieb er 
unverbittert ſeinem nationalen Heroldsberuf 
treu. Und treu blieb er auch dem aus allen 


Auf der Warte 


ſeinen Werken klar erkennbaren Glauben nicht 
nur an das richtende, ſondern auch an das ret- 
tende Walten einer über allen irdiſchen 
Mechfelfällen ihren vorgefaßten Plan und 
Rat dennoch ans Ziel führenden göttlichen 
Obermacht. 

Das koſtbarſte Dankgeſchenk zu dem Ehren- 
tag des Gefeierten iſt für ihn die Liebe und 
Verehrung unſrer Jugend. Jung an Herz und 
Geiſt, ungebrochen auch in ſeiner körperlichen 
Erſcheinung, ſchreitet er mit uns der unge- 
wiſſen Zukunft entgegen. Mit den Zungen 
ſtärken und erwärmen auch wir Alten uns an 
dem edlen Feuer ſeiner Dichtungen und ſeiner 
ungeſchwächten dichteriſchen Schaffensluſt. 

Es iſt nicht mehr als billig, daß den Schulen 
die Berüdfichtigung der Werke Vierordts von 
angeſehenen Fachleuten immer eindringlicher 
empfohlen wird. Auch in den Sammlungen 
ausgewählter Proben deutſcher Poeſie ſollte 
ſein Name nicht mehr übergangen werden. 
In dem gediegenen Auswahlbändchen, das 
Ludwig Fulda mit tief eindringendem Ver- 
ſtändnis für des Freundes dichteriſche Lei- 
ſtungen früher ſchon herausgab, und in der 
ſoeben erſchienenen Ausleſe für Zugend und 
Volk (Verlag Zickfeldt, Ofterwied) iſt das Beſte 
zuſammengeſtellt, was der Oichter bis jetzt ge- 
ſchaffen hat. Ehriftian Schmitt 


Allerlei aus Polen 


— war es der öͤſtliche Teil des unter 
polniſcher Oberhoheit ſtehenden Lan- 
des, das ich kennen lernen wollte: von Lem- 
berg gegen Norden zu, über Sokal, Rowel, 
Breit, Bialyſtok — die öſtliche Grenzmark. 
Hinter Lemberg ſchon bekommt man das 
Polniſche immer weniger zu hören, und die 
Sprachen der Minderheiten (man muß dritter 
Klaſſe fahren) werden auf weiten Strecken 
faft alleinherrſchend, wenn man von Bahn- 
perfonal, Polizei und Militär abſieht. Auf 
Grund der vom polniſchen ſtatiſtiſchen Amt 
verfertigten Volksſtatiſtik vom 30. September 
1921 beträgt die Bevölkerungszahl Wolhy- 
niens 1433157 Seelen, worunter 207932 
Polen; von 876665 Einwohnern Poleſiens 
ſind 190 700 polniſcher Nation. Dies nur fo 


Auf ber Warte 


nebenbei. Im Eiſenbahnwagen läßt ſich nicht 
gut Statiftit machen — wenn er aud mehr 
lehrt als manches ſtatiſtiſche Handbuch — 
wohl aber manches erfahren über das Drum 
und Oran des Landes und über das Wohl und 
Wehe von deſſen Einwohnern. Es wurde faſt 
durchwegs ruſſiſch oder weißruſſiſch gefpro- 
chen, und da meine Fahrt in die zweite Auguft- 
hälfte fiel, war das Hauptthema des Geſprächs 
der Zloty und deſſen Sturz, daneben Polizei 
und Reifepdffe, woraus zu erſehen war, daß 
die zwei letzteren Themen nicht minder .be- 
druckend als der Zloty auf Land und Leuten 
luſten. 
ie berüchtigte ruſſiſche Ochrana — in Po- 
len beißt fie „Defenſywa“ — iſt im neuen 
freien Polen verſtärkt auferſtanden und iſt 
eine Macht geworden, die von Gtaatsgel- 
bern ſich mäſtend den ganzen Staat getne- 
belt hält und wie ein Alpdruck auf den Bür- 
gern laftet. Charakteriſtiſch find die Zahlen, 
wie ſie das Blatt „Reforma“ (vom 3. Mai 
1925) angibt. Darnach zählt die Staatspolizei 
d. i. die frühere Gendarmerie) 43976 Mann, 
wozu noch ein Plus von 9154 Mann Grenz- 
ſchutzpolizei hinzukommt, was zuſammen eine 
Armee von 53130 Mann ausmacht, eine Zahl, 
die ſich bald mit jener der Volks- und Bürger- 
ſchullehrer deckt (64839). Ob in dieſer Zahl 
auch die ſogenannte politiſche Polizei, die 
Trabanten und Provokateurs der „Oefen- 
owa“ inbegriffen find, weiß ich nicht. Diefe 
letzeren beſonders (ſelbſt in kleineren Städten 
find fie in Dutzenden zu finden) find nicht nur 
eine Plage, ſondern gradezu eine Schande. 
Ihr Syftem ift das der Provozierung, was 
nicht nur aus der „Wirkſamkeit“ des Defen- 
ſywamitgliedes und bekannten Provokateurs 
Ztganowſti hervorgeht, ſondern auch in einem 
offenen Briefe zu leſen war, den der demiffio- 
nierte Minifter Thugutt an den Innenminiſter 
Auteyſti ſeinerzeit (2. Juni 1925) gerichtet 
hatte, ſowie aus der vom Abgeordneten Bryl 
und Genoſſen eingebrachten Interpellation 
(Reforma“, 5. Zuli 1925). Fc laſſe den „Re- 
forma“ ſelber ſprechen: „Wir leben unter der 
Cuggeftion, das neugeborene Polen fei ein 
neuzeitlicher, demokratiſcher Rechtsſtaat von 
weſtlicher Kultur .. . Jn Polen iſt kein Zar, 


197 


aber die zariſchen Büttel leben und wirken in 
Polen und bewirken es, daß „Demokratie“ 
und „Freiheit“ in Polen nur leere Begriffe 
ſind. Das Regiment der allmächtigen Maffia 
der Ochrana feiert in Polen Triumphe. Wir 
ſind noch nicht freigeworden und werden es 
nicht werden, ſolange der Staat in den Klauen 
zariſcher Prätorianer ſich befindet ... Es 
wird der Staat das provokatoriſche Regiment 
länger nicht aushalten ... Polen muß zu- 
grundegehn und feine Unabhängigkeit ver- 
lieren, ſofern es ſich der Feſſeln dieſer fchred- 
lichſten und ſchändlichſten Sklaverei nicht ent; 
ledigt.“ Zur Ergänzung ſei noch hinzugefügt, 
daß trotz der konſolidierten Verhältniſſe und 
des feit Jahren ſchon gewonnenen Friedens 
in einem großen Landſtrich Polens noch immer 
das Standgericht waltet, und zwar blutig 
waltet. In einem Zeitraum von kaum zwei 
Auguſtwochen habe ich ſelbſt von vier Hin- 
richtungen geleſen. Rommuniften follen es ge- 
weſen fein (Botwin, Hübner, Kniewſki, Rut- 
kowſki). Die zum Tode Verurteilten und hier- 
auf Begnadigten und zum Austauſch be- 
ſtimmten Baginſki und Wieczorkewicz hat der 
Gendarmeriewachtmeiſter Muraſzka auf eigene 
Hand niedergeſchoſſen. Er kam nicht vors 
Standgericht. 

Das Kulturwidrigſte, das vom alten de- 
ſpotiſchen Rußland dunkelſter Ara abzulernen 
war, hat Polen abgelernt. Neben der Polizei 
ſind es die Päſſe. Beide bedeuten nur eine 
Vergewaltigung der ſonſt ſehr human klingen 
den Konſtitutionsfreiheiten und Bürgerrechte. 
Der Reiſepaß feiert hier Orgien und bewirkt 
es, daß Polen, welches ſich mit beſonderem 
Stolz als „Vormauer der weſtlichen Bivilifa- 
tion“ bezeichnet, durch die ſich einander über- 
flügelnden Reiſepaßverordnungen in Wahr- 
heit eine Mauer vor der weſtlichen Bivilifa- 
tion wird, zu einem verrufenen, weltfernen 
Winkel für den Weſten. Heutzutage, wo Döl- 
ker und Staaten alles dranſetzen, die ſcheiden- 
den Schranken aufzuheben oder bereits auf- 
gehoben haben, richtet Warſchau ein Gitter 
vor der Welt auf, umzäunt den Staat und 
will glauben machen, daß dies das alleinzige 
Erlöfungs- und Finanzſanierungsmittel fei. 
Ich horte vielfach ſolche Stimmen: „Warum 


198 


greifen nicht zu dieſem Mittel andere Staaten, 
um deren finanzielle und ökonomiſche Ver- 
hältniſſe es ebenfalls nicht glänzend beſtellt 
iſt? Die Not iſt heute allgemein; warum hält 
Polen das Reifepaßpatent allein für ſich re- 
ſerviert?“ Die Fragen entbehren nicht der 
Logik. Ein Reiſepaß koſtete in dieſem Jahr bei 
Anfang der Badeſaiſon 250 Zloty, d. b. 50 
Dollar. Wie fanierte dieſe Verordnung die 
Finanzen? Der Dollar, der bei Erlaß dieſer 
Verordnung 5,18 Zloty koſtete, kam mit Ende 
der Saiſon auf 7 Zloty und darüber zu ſtehen. 
Zetzt koſtet ſchon ein Reiſepaß 500 Zloty und 
ſoll — wie die Blätter verheißen —, auf 1000, 
ja auf 1500 Zloty (ift inzwiſchen ſchon ein- 
getreten) kommen. Dreihundert Dollar 
— ein Reiſepaß! Im Zahre 1925 auf 
europaiſchem Kontinent — in der Zeit bürger- 
licher Freiheiten! Wo iſt in aller Welt ein Glei- 
ches zu finden? 

Die Zölle! Eine Schutzmaßnahme ohne 
Zweifel. Aber auch hierin ſoll mit Vorſicht und 
Einſicht gehandelt werden. Statt Parfüms und 
Puder und andere zum Leben „unentbehrliche“ 
Dinge aufs Korn zu nehmen, trifft der hohe 
Zollfuß jetzt Tee, Reis und — Heringe. Wer 
wird davon betroffen? Der Bedürftigſte. 

Vor zwei Jahren noch hat die Lemberger 
Handelskammer in einem Gutachten den Fi- 
nanzminiſter vor verfrühten Zloty- und nach- 
maligen Steuererperimenten gewarnt, indem 
ſie fachmänniſch weitblickend vorausſagte, 
„eine übermäßige Steuerbelaſtung der Bürger, 
die einer Enteignung des Vermögens gleich- 
komme, ſei ein zweiſchneidiges Meſſer, das ſich 
letzten Endes gegen die Staatsfinanzen ſelber 
wenden müſſe“. Dieſe Warnungen wurden 
nicht beachtet, und wenn es bei der Über- 
nahme der Finanzen durch den jetzigen Fi- 
nanzminiſter hieß, der Bürger werde wenig, 
der Staat aber viel haben, fo iſt es jetzt klar⸗ 
geworden, daß alle beide — Bürger und 
Staat — ſich keines Überfluffes rühmen tdn- 
nen. Aus den Bürgern hat die Steuerpreſſe 
ſchon die Seele herausgepreßt. Was kann ein 
Staat von finanziell erſchöpften Bürgern ge- 
winnen? Es iſt der Humor des „Wo Nichts iſt, 
iſt Nichts zu verlieren“. Dieſe Beobachtung 
konnte ich überall machen: im Laden, im Gaft- 


Auf der Warte 


haus, auf dem Marktplatz. Dazu kommt noch 
die Kreditſperre, die Handel und Gewerbe wie 
eine Schnur an der Gurgel liegt. Das Gut- 
achten der genannten Rammer hat die Fi- 
nanzlage allſeitig beleuchtet, Mittel der Re- 
medur gezeigt und nicht unzweideutig zu ver- 
ſtehen gegeben, wo mit Erſparniſſen begonnen 
werden könne und ſolle. Zunächſt ſei die Zahl 
der vom Staat erhaltenen Perſonen über- 
wältigend (jeder Neunte iſt Beamter; auf je 
90 Einwohner entfällt ein Soldat; auf je ein 
Bahnkilometer kommen zehn Funktionäre. 
Nach „Reforma“ vom 31. Mai 1925.) Der 
Heeresetat verſchlinge den größten Teil des 
Budgets, zirka 60%. Die Zahl der Konſulate 
ſei im Vergleich mit anderen Staaten, felbft 
Großſtaaten lächerlich groß. So habe Polen 
— nach jenem Gutachten — in Dänemark 
fünf Konſuln (wo angeſichts des zwiſchen 
dieſen zwei Staaten herrſchenden „Verkehrs“ 
auch einer ſich nicht ſehr überanſtrengen 
würde), in Italien ſechs, in Deutſchland zwölf 
uſw. (Oer „Kurier ilustrowany“ brachte 
ſeinerzeit — ſo verſicherte man mir — die 
Nachricht, daß die polniſche Flotte an Marine 
dignitären nicht ärmer wäre als die engliſche. 
Ich denke aber, das mußte ein Ulk geweſen 
fein.) Faſt wäre man zu behaupten geneigt, 
es laufe auf ein Großtun hinaus, auf „ein Le- 
ben über den Stand“, ohne Riidjidt auf die 
wirklichen Möglichkeiten. In der Tat: wenn 
man in den Zeitungen der letzten Jahre blät- 
tert, findet man, daß keiner von den neu- 
errichteten und fdon gar keiner von den 
Siegerſtaaten fo viele und fo prunkvolle Emp- 
fänge bereitet hat, wie Polen. Könige, Ge- 
nerale, Diplomaten, Literaten, Miffionen, 
Studentenbeſuche, koſtſpielige Manöver uſw. 
mit Bällen, Banketten und Ausſtattungen, die 
in einer alten, gut fundierten, zumal in einer 
jungen Wirtſchaft eine nicht geringzuſchätzende 
Ausgabenrubrik bedeuten! Denn das alles 
koſtet viel; Gäſten des Auslands gegenüber 
darf man nicht knauſrig tun. Es hat keinen 
Sinn, Gäſte zu empfangen und zu füttern, fo- 
lang das eigene Hausgeſinde nicht ſatt iſt. 
Nach dem Ausweis vom 30. Zuni 1923 
(„Naprzod“ vom 23. Januar 1924) ſtellen ſich 
die Schulden Polens wie folgt: an Amerika 


ay 


A 
„ 


Auf der Marte 


186529432 Dollar; an Frankreich 779853404 
Franken; an England 4503818 Pfund; an 
Stalin 75000000 Lire; an Holland 12737520 
Gulden; an Norwegen 16526857 Rronen und 
1238 engl. Pfund; an Dänemark (wo fünf 
Ronfuln waren) 358849 Rronen; an Schwe- 
den 1957080 Kronen; an die Schweiz 73600 
Franken. Dieſe Schulden rühren von dem 
Einlauf von Kriegsmaterialien her (Haller 
armee) und von Nahrungsmitteln im Jahr 
1919 und 1920. Das zitierte Blatt fügt hinzu, 
daß dies keine Endſumme bedeute, da noch 
derſchiedene Poſten herumliefen und mancher 
lei Verpflichtungen, die Herr Paderewſki auf 
eigene Hand eingegangen und die der Staat 
dam übernehmen und zahlen mußte. Ob es 
ſeit jener Zeit in dieſer Hinſicht beſſer gewor- 
den, weiß ich natürlich nicht zu ſagen. Aus dem 
„Naptzod“ vom 24. Auguſt 1925 erfahre ich, 
daß allein im Laufe des letzten Halbjahres die 
Dedungsquote in der „Bank Polſki“ von 230 
Millionen auf 70 geſunken iſt. Woran das 
alles liegen mag? Hat jener Nauz recht, der 
beim Ausſteigen auf einer kleinen Station 
noch im Abgehen ſagte: „Es iſt ſeit dem Fabre 


- 1918 tein Ariſtides in Polen geftorben — “ 


Kt gab ſich für einen Lehrer aus, jener Kauz. 
die ganze Zeit über ſprach er nichts. Aber fein 
Geſicht redete. Armut ſprach daraus und fee- 


che Kümmernis. 


A. Albin 


Berufsſtand und Staat 
J. Heinz Brauweilers Buch: Berufs- 


ſtand und Staat (Ring verlag, Berlin) 
detrden von neukonſervativer Seite Zentral- 
probleme deutſcher Staatsgeſinnung aufge- 
tollt und zu löfen verſucht. An Staats theorien 


berrſcht bei uns zwar kein Mangel; iſt es doch 


heute eine beliebte Doktoraufgabe unſerer an- 


gehenden Volkswirte, den alleinfeligmachen- 


den Staat zu konſtruieren. Dieſes Buch aber 
it eine Leiſtung und hat Format. 

Mit ſicherem Griff ſtellt Brauweiler den 
ſtändiſchen Gedanken im Gegenſatz zum 


Aaſſengedanken in den Mittelpunkt feiner Be- 


trachtungen. In Übereinftimmung mit Som- 
bart kennzeichnet er die Stände als auf 
Lebensgemeinſchaft beruhende, in ein Ge- 


199 


meinweſen organiſch eingegliederte Groß- 
verbände; den Zwecken des über dem Stande 
ſtehenden Ganzen werden die eigenen unter- 
geordnet; die gemeinſame Aufgabe des 
Standes iſt: Leiſtung für das Ganze. Im 
Gegenſatz dazu ſtehen die Klaſſen als durch 
gemeinfame Intereſſen an einem Wirt- 
ſchaftsſyſtem äußerlich zuſammengehaltene, 
in ein Gemeinweſen mechaniſch eingefügte 
individualiſtiſche Großverbände. Ihre Ten- 
denz: Forderungen an die Allgemeinheit. 

So ſehr die Blütezeit des deutſchen Mittel- 
alters durch den deutſchen Ständegedanken 
beſtimmt iſt und der damalige Staat, das 
„Reich“, ein organiſches Weſen voll blutwarmen 
Lebens war, fo ſicher — wenn auch nicht reft- 
los — iſt unſere heutige Zeit, iſt unſer heutiges 
Staatengebilde durch das Fehlen der Stände 
und ihren Erſatz durch Klaſſen gekennzeichnet. 
Oer Staat iſt nicht mehr ein organiſches, 
ſondern ein mechaniſches, auf konſtruierter 
Ordnung beruhendes Gebilde, das faſt mehr 
deshalb am Leben bleibt, weil ſich die ftaats- 
zerſtörenden Tendenzen der Klaſſen die Wage 
halten und nicht auszuwirken vermögen, dann 
aus organiſchem opferndem Verbundenſein 
der Einzelnen und ihrer Gruppenbildung mit 
dem Staat. Wenn auch nicht reſtlos: denn 
Anfänge einer andern, organiſchen Schichtung 
der Geſellſchaft ſind erkennbar. Sie weiſen 
auf eine Umgeftaltung der Berufs klaſſen in 
Berufsſtände. Auf dieſe gründet Brau— 
weiler die neue Geſellſchaft (Beruf in weite- 
ſtem Sinne verſtanden) und damit den neuen 
innerlich befriedeten deutſchen Staat. 

„Die Berufsſtände können ſich ... be- 
teiligen an dem Ringen um die politiſche 
Macht, das in dem Kampf um die erfolg- 
teichfte Intereſſen vertretung feinen vornehm- 
lichen Inhalt hat. Der Erfolg ijt immer un- 
ſicher, weil ihm die ſichere Rechtsgrundlage 
fehlt und jede Anderung der innerpolitiſchen 
Machtverhältniſſe ihn beſtreitet. Der Berufs- 
ſtand muß nicht Macht, ſondern Recht er- 
ſtreben, fein Recht. Sein Recht aber gewinnt 
er niemals durch Intereſſenanmeldung und 
Intereſſen vertretung, ſondern nur durch 
Leiſtung und Geſamtverantwortung; Pflicht 
und Recht ſtehen in unlöslicher Verbindung. 


200 


Wer gerechtes und dauerhaftes Recht ge- 
winnen will, muß es ſich durch Leiſtung und 
Pflichterfüllung verdienen.“ 

In tiefſchürfender Unterſuchung klärt Brau- 
weiler den „deutſchen Staatsgedanken“ und 
entwickelt aus ihm heraus die deutſche Rechts- 
idee. Sie führt ihn zu einem ſtändiſchen Ver- 
faſſungsprinzip, das ſich im Weſen vom 
Staatsgedanken unſerer größten Staats- 
männer nicht unterſcheidet, aber durch Ein- 
verleibung des berufsſtändiſchen Gedankens 
unſerer Zeit angepaßt iſt. Sein Bekenntnis 
zur Notwendigkeit einer Oberſchicht (ſiehe auch 
Gleichen Rußwurm und Schotte: Zur Frage 
der Oberſchicht, Ringverlag) rundet das Bild 
ſeines organiſch gegliederten Staatsweſens. 
Bleibt zu bemerken: Das von ihm gezeichnete 


Staatsweſen iſt nicht ein im einzelnen durch- 


konſtruiertes Syſtem, ſondern ein möglicher 
Weg, auf dem der deutſche Staat ſeine Kräfte 
zu entfalten und ſich ſelbſt zu bauen vermag. 

Das Buch ijt umfaſſend und bei funda- 
mentalen Frageſtellungen weitausholend ge- 
ſchrieben. So ermöglicht es eine klare Ausein- 
anderſetzung beim Leſer — von dem es eine 
beträchtliche Reife und Intelligenz verlangt. Es 
iſt kein Buch für die breite Maſſe — aber ein Eck 
ſtein für die Grundlegung des Neuen Reichs. 

E. 3. K. 


Weimar und Potsdam 


3): Herausgeber des „Türmers“, in feiner 
Eigenſchaft als Schriftſteller und Dich- 
ter, iſt zum 60. Geburtstag mit einer ſolchen 
Fille von Glückwünſchen bedacht worden, daß 
er nicht jedem Einzelnen antworten kann. Er 
dankt hiemit herzlich auch den Türmerleſern, 
die feiner gedachten. Beſonders beglüdend 
war die Ernennung zum Ehrenbürger der 
Stadt Weimar, der Wartburg und der Uni- 
verſität Jena, dieſer drei Kulturſtätten im 
Herzen Deutſchlands. Und wörtlich mitge- 
teilt ſeien ein Glückwunſch Hindenburgs nebſt 
Antwort, die auf Anregung aus dem Büro 
des Reichspräfidenten der Offentlichkeit über- 
geben wurden. Jenes Telegramm lautete: 


Auf det Warte 


„Oem großen elſäſſiſchen Dichter ſende ich 
zum 60. Geburtstage meine aufrichtigen Glid 
wünfhe. Möge Ihnen noch eine lange Zeit 
fruchtbaren Schaffens in der neuen Heimat 
beſchieden ſein! 

von Hindenburg, Keichspräſident.“ 
Darauf dankte folgender Brief: 
„Hochverehrter Herr Reichspräſident! 

Ew. Exzellenz haben mich zu meinem 
60. Geburtstag durch ein Glüdwunfchtele 
gramm ganz beſonders erfreut und geehrt. Es 
iſt mir, dem Elſäſſer, der nun im Herzen 
Oeutſchlands wohnt, eine freudige Pflicht, 
gerade dem Manne meinen tiefgefühlten Dank 
auszuſprechen, der Deutſchlands Heer in 
muſterhafter Ordnung aus einem großen, 
ehrenvoll beſtandenen Kampfe zurückgeführt 
hat in die vom Feinde kaum berührte Heimat. 
Damals ſchrieb ich ein Gedicht, das durch 
viele Blätter ging („An das heimkehrende 
Heer“) und mit den Worten begann: 

„Ihr zieht mit eurem Feldmarſchall 
Erhaben - ſtumm nach Haufe; 
Euch grüßt nicht Chor noch Glockenſchall, 
Noch Maſſenfeſtgebrauſe“ — 
das aber in die zuverſichtlichen Worte ausklang: 
‚Helft uns mit eurem Feldmarſchall 
Ein würdig Oeutſchland bauen!“ 

Nun ſtehen Eure Exzellenz, was damals 
noch niemand ahnte, an der Spitze des Reiches 
und find für In- und Ausland ein Vordild 
pflichttreuer, vornehmer Geſinnung und jener 
Zucht und Würde, wie wir fie dem ganzen 
deutſchen Volke wünjchen. 

In folder Geſinnung ſuchen auch wir Ver 
treter deutſcher Seelenkultur parteilos 
am Herzen unſeres lieben deutſchen Volkes zu 
arbeiten. Und fo weiß ich mich mit unferem 
hochverehrten Herrn Reichspräfidenten in dem 
tiefen Wunſche einig, daß ‚Weimar und 
Potsdam“ gemeinfam an einem wür- 
digen Deutſchland bauen mögen. 

Mit vorzuͤglicher Hochachtung 

Euer Exzellenz ergebener 
Weimar, den 10. Oktober 1925. 
Friedrich Lienhard.“ 


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Herausgeber: Profeſſor Dr. Frledtich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Rontab Dürre, 

Weimar, Rarl-Alerander- Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlich keit nicht übern dernen. 

Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie ftaſten“ mitgeteilt, fo daß Rückſendung erſpart Bleibt. 

ebendort werden, wenn möglich, Zuſchriften beantwortet. Hen übrigen Einſendungen bitten wir Rückporto beizulegen. 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Christi Geburt 


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— — Dr. h.c. Sriedri 
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ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT 


Lieribhard 


28. Jahrg. GB Dezember 1925 


Doch es iſt ein ew ger Glaube, 

Daß der Schwache nicht zum Raube 
Jeder frechen Mordgebärde 

Werde fallen allezeit: 

etwas wie Gerechtigkeit 

Webt und wirkt in Mord und Grauen, 
Und ein Reich will ſich erbauen, 

Das den Frieden ſucht der Erde. 


Mählich wird es ſich geſtalten, 
Feines heil gen Amtes walten / 
Waffen Schmieden ohne Fähre, 
Flammenſchwerter für das Recht, 
Und ein königlich Geſchlecht 

Wird erblühn mit ſtarken Söhnen, 
Deffen helle Tuben tönen: 

Friede, Friede auf der Erde l 


Conrad §erdinand Meyer 


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TITTEN TOT 


202 
Jeſu Evangelium und die deutſche Seele 
Von Paul Steinmüller 


einer wird beſtreiten, daß das deutſche Volk heute arm in der Welt daſteht. 

Wer es nicht täglich der Zeitung entnimmt, der ſpürt es doch an feinem Leib, 
ſeinem Tiſch, feiner behinderten Bewegungfreiheit; und die, denen es nicht fühl⸗ 
bar wird, mögen nur dem Elend einige Aufmerkſamkeit ſchenken, in dem die Alten 
und Abgedankten ſtecken. Doch wenn auch alle unſre Armut zugeſtehen wollten — 
viele, ja die meiſten unſrer Volksgenoſſen wiſſen nicht und wollen nicht wiſſen, 
worin unſer Mangel eigentlich beſteht und warum wir unſre Verarmung in den 
dußerlichen Dingen des Lebens nicht mit Stolz tragen können. 

Wird dem heutigen Geſchlecht nie die Erkenntnis aufgehen, daß wir vielmehr 
unter den Folgen leiden, die der Zuſammenbruch einer materialiſtiſch-rationaliſtiſchen 
Kultur ſchuf? Daß die dürre Hoffnungloſigkeit unſrer Leere die Folge einer längſt 
vorhandenen, künſtlich bemäntelten und uneingeſtandenen ſeeliſchen Verarmung 
iſt? Faſt ſcheint es fo. Denn noch immer iſt der Chor der Stimmen übermädtig im 
Brauſen des Tages, die nach verjährtem Muſter wirtſchaftliche, politiſche Heilande 
fordern, die uns ein Reichwerden um jeden Preis verſchaffen; noch will man nichts 
wiſſen von der Notwendigkeit, daß die Vorbedingung für beſſere Verhältniſſe der 
beſſere, innerlich geläuterte Menſch iſt. Noch wird unabläſſig das Behagen 
des Leibes gefordert und nicht die Beſeelung. Daß der „geiftige Himmel entwölkt 
werde“, wie Lienhard es ausdrückt, das erſcheint wenigen als das Gebot der Stunde. 

Die Fieber, die durch den armen, zerſchundenen Körper des Volkes toben, ſind 
nicht nur Anzeichen dafür, daß der Körper krank iſt, ſie deuten in weit höherem 
Maß darauf hin, daß die Seele des Volkes leidet, daß ſie ohne Kraft und Betãtigung 
iſt. Viele fühlen dumpf dieſen furchtbaren Mangel und ſuchen ihn durch verzweifelte 
Mittel zu erſetzen. Daher dieſe Flucht zu den fremden Religionen, dieſes Suchen 
nach geiſtigen Surrogaten. Indiſche und perſiſche, buddhiſtiſche und mohamme- 
daniſche Kulte werden aufgeſucht, um Antwort auf nie zur Ruhe kommende Fragen 
zu erhalten. Aber der Honig, den man aus dieſen fremden Blumen ſaugt, wird 
uns nie ſchmackhaft werden, weil jede Religion dem Weſen eines Volkes gemäß 
fein muß. Oder man drängt an die Schleier, die die Grenzen dieſes Daſeins bil- 
den, verſucht fie zu heben und lauſcht auf die Stimmen im FJenſeits. Oder man 
forſcht in den Bahnen der Geſtirne, um hier einen Weiſer für unſer Handeln, 
einen Troſt für unſre Zukunft zu finden. Der Nothelfer, die man anruft, ſind 
unzählige geworden, und doch wurden wir dadurch nicht innerlich reicher, ſondern 
empfinden nur um fo drüdender das Bettelhafte unſrer Armut. 

Ungeſucht ſteht das Evangelium, das Feſus brachte, in Deutſchland da. Es ſcheint, 
als ſei die Frohbotſchaft ohne Geltung, ohne Kraft. Es ſcheint, als ſei der Strom, 
der länger als zwölfhundert Jahre die Wurzeln der deutſchen Volksſeele nette, in 
unterirdiſche Gründe geſunken, zu denen kein Brunnenſchacht mehr hinabführt. 
O ja, man redet von Feſus und feinem Werk, man ſtreitet ſich ſogar um ihn. 
Einige ſagen, er habe nie gelebt, verweiſen ihn in das geſtaltloſe Reich menfd- 
licher Hirngeſpinſte; andere befehden ihn, indem ſie ihn ſeiner Größe entkleiden; 


Ctcinmiller: Zeju Evangelium und dle deutſche Seele 25 


wieder andere machen ihn verächtlich und verunglimpfen feine Lehre, wie es ſchon 
celſus und Porphyrius im zweiten und dritten Jahrhundert unferer Zeitrechnung 
und nach ihnen unzählige getan haben. Hier ſucht ihn eine Richtung für ihre Partei- 
und Standesintereſſen als Anwalt und Wortführer zu gewinnen; dort zerrt man 
einzelne ſeiner Worte aus ihrem Zuſammenhang, deutet fie in dem gewünfchten 
Sinn um, vermenſchlicht ſie und legt die Feder mit dem erhabenen Bewußtſein 
aus der Hand, die vollkommene Unbrauchbarkeit des Evangeliums für unſre Zeit 
erwieſen zu haben. 

da, man ſpricht vom Evangelium, aber man ſpricht zuviel. Das Reden iſt ge- 
tadezu zum Geſchwätz geworden, deſſen man überbrüffig iſt. Denn das Evangelium 
beſteht nicht in Worten, ſondern in der Kraft, und was Kraft iſt, das wirkt und ſtählt 
ind erhebt, doch es verblutet ſich nicht in Worten. Liegt der Grund dafür darin, daß 
die Kultur einer eiſenknirſchenden Zeit, die Kultur der lauten übervölkerten Städte 
mit ihrer Haft, ihrem Lärm, ihren grell belichteten dürftigen Straßenzeilen taub für 
das Göttliche wurde und nur empfänglich für den hyſteriſchen Schrei ift? Ich will die 
Antwort auf dieſe Frage zurüditellen. Aber dies ſei vorweg geſagt: Die Geſchlechter 
dieſer Zeit haben ſich dem Evangelium nicht entfremdet, weil fie über es hinaus- 
gewachſen wären, es überwunden hätten, ſondern weil ihre jaͤmmerliche Seelen 
leete vor dieſer alles überragenden Höhe feiner Verkündung erſchrickt und angſtvoll 
in Riederungen flüchtet. Alle, deren Anſpruch auf Glück nichts iſt als das Trachten nach 
dem Unglüd des Nächſten, werden Jeſu Frohbotſchaft als ein Gerichtswort fliehen. 

Aber ſie kommen trotzdem nicht an ihm vorüber. Vor allem die deutſche Seele 
kann ſich ihm dauernd nicht entziehen; mag ſie bereitwillig noch ſo viele Gifte der 
Zeitſchwären aufgeſogen haben, mag fie noch fo eifrig fremdem Weſen nachgelaufen 
ſein — es iſt in ihren urſprünglichen Tiefen etwas Unſagbares, dem Göttlichen 
Derwandtes, das fie immer wieder zu ihm zurückkehren läßt, das ihr ſtets wieder 
zum Weiſer für die Straße wird, die Jeſus im Geiſt und in der Wahrheit ſchuf. 
Gewiß, es führen mancherlei Wege zu Gott. Aber fo gewiß dies iſt, fo gewiß iſt es 
auch, daß nicht jede Straße einer jeden Weſensart gemäß iſt, und daß wir, der 
einzelne ſowohl wie ein Volk, durch fein Eigengeſetz auf beſtimmte Straßen ver- 
wieſen find. Verlaſſen wir dieſe, fo gehen wir irre, und der Bruch unſrer Entwick- 
Img führt uns weit ab vom Ziel. 

Ber einmal in glüdhafter Stunde in die deutſche Seele hineinlauſchte und ebr- 
fürchtig auf die erſten vernehmbaren Laute acht gab, die noch bis zu uns dringen, 
der weiß, daß mit der Aneignung des Evangeliums durch die Deutfchen ſich ein 
wunderſames Begegnen und Finden zwiſchen Söttlichem und Völkiſchem, zwiſchen 
Alfeele und Volksſeele vollzog. In jenen Anfängen, bis zu denen wir die Rund- 
werdung der deutſchen Seele verfolgen können, ſtehen zwei Dichtungen, die Denk- 
maler der innigen Verſchmelzung von deutſchem Weistum und Evangelium ſind: 
das Evangelienbuch des Elſäſſer Venedittiners Otfried und der Heliand, deſſen un- 
belannten Verfaſſer, wie die Sage erzählt, ein Engel vom Acker fort zum Werk 
berief. Diefe beiden Epen find neben kleineren Stücken hervorragende Zeugniſſe 
dafür, daß ſich bald nach der Annahme des Evangeliums durch die Oeutſchen in 
der Volksſeele eine Vereinigung verwandter Weſensſtröme vollzogen hat. 


204 ©Stelmmüller: gen Evangelium und dle deutſche Seek 


Worin dieſes geheimnisvolle Zueinander beruht? Nun, die deutſche Seele iſt 
in ihren tiefſten unverfälſchten Gründen fromm. Sie kennt nicht jene Frömmig⸗ 
keit, die ſich zerfleiſcht und in Außerlichkeiten dienſtet, aber jene, die Ehrfurcht if. 
Ihr wird die Wahrheit, die nichts als Wirklichkeit iſt, nie genügen, fie wird fie immer 
über ſich als das Zuerſtrebende ſuchen und ſich nie in ihrem geſicherten Beſitz jat: 
fühlen mögen. Dieſe empfängliche Ehrfurcht, die Jeſus ſelig preiſt, iſt unſre unter- 
ſchiedliche Eigenart. Sie iſt uns im Umgang mit andern Völkern nur zu oft ver- 
hängnisvoll geworden, wenn wir fremde Süchte bereitwillig willkommen hießen. 


Aber im Untertauchen in die Gründe, wo Denken, Fühlen und Wollen eins wer 


den, hat ſie uns ſtets Gott nahe gebracht, der nur dem Empfänglichen begegnet. 
Sie iſt bedeutſam in die Erſcheinung getreten in dem Verhältnis der deutſchen 
Seele zur Natur und in ihren Bauwerken. 

Denn kein Volk hat in der Weiſe ſich der Natur verſchwiſtert gefühlt wie das 
deutſche. Der Kelte büdte ſich auch ehrfürchtig im Gewittertoben, und der Inder 
ſcheut vor dem Töten eines Tiers zurück, in dem er die Seele feines Ahnen ver 
mutet. Aber das Gleichnishafte, Deutungreiche des Naturlebens iſt der deutſchen 
Seele vorbehalten. Nebel und Gewölk, Sturm und Sternennacht, Schneerriſtall 


und wehende Spinnenſeide, Bäume und Falken, die den langen Frühlingstag hin- | 


durch fliegen, — alles ift Sinnbild, alles deutet auf das Geiſtige. Nennt es Wode 
oder Baldur, Tor oder Frau Frigga, ſelige Fräulein oder Alraun, Wichtel odet 
Schrat — was bedeutet der Name! Jäger, Bauer, Hirt und Wanderburſch, und 
wer ſonſt unſer Volkslied ſchuf, hörten nur auf das Echo, das die Dinge in ihnen 
weckten. Und fo iſt es bis heute geblieben. Left nur, was W. v. Humboldt über 
die Bäume ſagt; merkt, wie der junge Bauer den Tod des Vaters den Tieren im 
Stall, den Obſtbäumen im Garten anſagt; beachtet die krampfhafte Sehnſucht des 
Induſtriearbeiters nach einem Fleckchen Erde! Alles iſt nichts als das Verlangen, 
die Natur als Brücke in das Überfinnliche zu ſuchen. Denn in der Natur findet 
die deutſche Seele das Zeitliche verewigt. 

Und dann die Baudenkmäler. Wer nie in ſtiller Ergriffenheit vor unſern Homen 
geſtanden ift, der hat die deutſche Seele nie verſtanden, denn er kennt ihren flür 
miſchen Drang nach Erlöfung vom Erdenleid nicht, der in dem aufgetürmten Se 
ſtein ſeinen Ausdruck fand. Es iſt hier etwas durchaus anderes als das, was ſich in 
aſiatiſchen oder pharaoniſchen Bauten verkörpert. Der Oeutide übernahm die 
römifche Grundform feines Kirchenbaus, wie er in dem zweiten Sachſenkaiſer die 
römiſche Form der Allherrſchaft übernahm, doch in feinen Händen wurde fie Aus 
druck ſeiner Weſensart und durchaus Eigenes. Der romaniſche Bau ſtellt nach Aus 
ſcheidung der fremden Elemente eine wunderbare Frucht des germaniſchen Geiſtes 
dar. Und in weit höherem Maß tut dies die gotiſche Formungsart. Ich denke dabei 
nicht vorwiegend an die ſüddeutſche Hauſtein-Gotik mit ihren Fialen, Triforien, 
Wimpergen und dem krauſen Maßwerk ihrer Felder, ich denke an die Backſtein 
Gotik unſerer nordiſchen Städte. In ihrer ſchlichten, gewaltigen Maſſigkeit, die 
alles Zierliche und Gezierte abgeſtreift hat, iſt der Ruf nach Erlöſung erſtarrt. 
Aus der Erdgebundenheit ihrer mächtigen Turmſockel wächſt ſteil wie ein im Beten 
aufgereckter Arm der Turm empor, deſſen zum Empfangen geöffnete Hand als 


Gieinmäller: Zefa Evangelhan und die beutfche Seele 205 


weithin ſichtbares Wahrzeichen über dem flachen Land ſteht: Gib mir ein Zeichen, 
wo du biſt; ergreife mich, daß ich dich fühle! Dies iſt die monumentale Gottes- 
ſehnſucht, das ergreifende, ſteingewordene Gottſuchertum. 

Sem nach Deutung und Ausdruck ringenden Suchen der deutſchen Seele begeg- 
net das Evangelium, indem es feinem Ewigkeitverlangen Inhalt und feiner Sehn 
fudt nach Erlöſung Erfüllung gibt, und beides in einer dem deutſchen Weſen ge- 
mäßen Weiſe. Jeſus hat die Natur nicht nur mit feinem Verſtändnis erfaßt, er 
bat fie als den Garten des himmliſchen Vaters zärtlidy geliebt. In der friedvollen 
Enſamkeit der galiläifchen Berge vertiefte er ſich in fie. Er betrachtete die Abend 
tote und den flammenden Blitz, das Weizenkorn der Saat und die Arten des Frucht- 
bodens, den Sperling und den Raben, die Schlange, den ruheloſen Fuchs und die 
Lilie im Feld, die Steine am Weg und den lenzenden Baum. Und in alles, was 
er jab, deutete er die Geheimniſſe des Göttlichen, das er in ſich trug, hinein, die 
Seheimniffe des Gottesreiches. Denn dieſes war ihm nicht irdiſche Herrſchaft oder 
Beſit, ſondern Gott ſelbſt. Keiner hat fo treffend den Sinn des Gottesreichs be- 
zeichnet wie Meiſter Eckehart: „Denn Gottes Reich iſt Gott ſelber mit allem feinem 
Reichtum.“ Jeſus wählte die Natur, um das Ewige zu verzeitlichen. 

Und ſeiner Frohbotſchaft andrer Teil war die tröſtliche Antwort auf die Frage 
nach Erlöſung, die Verkündung der Gotteskindſchaft. „Seid getroſt, fürchtet euch 
nicht, frohlocket, freuet euch, ihr ſeid Gotteskinder!“ Höchſter Adel der Menſch⸗ 
beit, der erhebt und verpflichtet zugleich, ward von ihm gelehrt. Keine Weltab- 
gewandtheit, keine Flucht in das Wegeloſe, ſondern ein Tragen in dem ſtolzen Be- 
wußtſein edelſter geiſtiger Herkunft. 

Das ift der lebenskräftige Kern des Evangeliums, nicht eine Religion, nicht das 
Ehriftentum, wie man ſchlichthin davon ſpricht, ſondern das Evangelium, wie es 
Jeſus verkündigt hat. Und ohne die Wirkſamkeit dieſer Botſchaft wird das Chriſten- 
tum immer bleich und kraftlos ſein. Sicher gilt dieſe Botſchaft allen Menſchen und 
Völkern, aber der deutſchen Seele eignet fie im Beſonderen, weil fie in derſelben 
Sprache antwortet wie jene fragt. 

Und nun die Antwort auf die Frage, warum das Evangelium in unſerm Volk 
nicht kräftiger als bisher ſich betätigt hat. Die Antwort kann nur annähernd be- 
ftiebigen, denn die Gründe dafür find mit rätſelhaften Zuſammenhängen ver- 
flochten. 

Einmal ijt das Evangelium, das Jeſus verkündete, zurückgedrängt und feiner 
Kraft beraubt worden durch die Predigt des Evangeliums über Fefus. Man ſchuf 
bald nach Sefu Tod Heilstaten, die allzu ſehr mit Menſchlichem durchſetzt waren 
und Forderungen irdiſcher Art enthielten. Wohl ſtand die Verkündung von Gottes 
Reich und von der Gotteskindſchaft immer wie eine ſchöne Verheißung im Hinter- 
grund, doch ſie wurde nur zu oft von dem verdunkelt, was ſatzunggemäß war 
und den freien Sinn beſchwerte. Das Evangelium Jeju war nicht beherrſchende 
Macht. 

Sodann: Die erſten chriſtlichen Gemeinden ſahen den Stolz der Überlieferung 
darin, daß ſie das Alte Teſtament als Zeugnis für den Wahrheitgehalt ihrer Lehre 
übernahmen. Paulus und die Gnoſtiker wehrten ſich dagegen: es half nichts. Man 


206 Günther: Gott it nat 


wollte die Weisfagungen und Verheißungen nicht preisgeben. Man begründete 
die Einrichtungen der neuen Kirche, die Sakramente und ſelbſt das Prieſtertum 
damit. Auch dann noch, als das Neue Teſtament geſchaffen war, ließ man ſich den 
alten Ruhm nicht ſchmälern und ſtellte das Alte Teſtament dem Neuen gleich. 
Damit ift ein fremder Weſenszug dem Evangelium aufgeprägt worden. Man be- 
müht ſich heute in haltloſen Hypotheſen, Jeſu eine ariſche Abſtammung anzudichten. 
Als ob es nicht auf den Geiſt ankomme, der ſich ſeine Form baut, ſondern auf 
das Geblüt! Unendlich wichtiger iſt es, das Evangelium rein und ohne den Ballaſt 
der Voreingenommenheit darzuſtellen und aufzunehmen. 

Endlich verſucht man in neueſter Zeit, die Botſchaft Jeſu dadurch ſchmackhaft zu 
machen, indem man fie zerpflüdt, zerredet und mit Zeitlichem durchmengt. Man 
bringt ſie dadurch der deutſchen Seele nicht näher. Schickt das Roggenmehl immer 
aufs neue durch die Mahlgänge, es wird feiner und weißer werden, aber es wird 
auch ſeine Kraft verlieren. Das Göttliche iſt eine Macht, der man ſich nahen muß, 
aber die man nicht wie irgendeinen Stoff kneten und formen darf. — 

Rubelos irrt die deutſche Seele durch dieſe Tage. Wieder einmal ift fie auf- 
geſchreckt aus Sattſein und ſcheinhaftem Glück durch eine nothafte Zeit. Wieder 
einmal ift das große Dürjten über fie gekommen, und fie gräbt Brunnen, um ewige 
Quellen zu erlangen. Denn die tiefſte Not der deutſchen Seele iſt noch immer die 
Sottesferne. Darum helfen ihr auch nicht Verträge oder Völkerbündniſſe oder 
wirtſchaftliche Vorteile; auch kein Beten an fremden Altären hilft hier, ſondern 
allein die Einkehr zu ihrem Weſen und zu dem Gott, der in ihr wohnt. Erſt wenn 
fie ſich wieder bewußt wird, daß fie Trägerin des Gottesreiches und der Gottes; 
kindſchaft iſt, wie Jeſu Evangelium es lehrte, erſt dann wird fie den Halt in dieſer 
nothaften Zeit finden. Erſt wenn der Geiſt ihrer Söhne, die dieſes Evangeliums 
Leuchter waren, wieder in ihr lebendig wird, der Geiſt Meiſter Eckeharts und 
Taulers, Oiirers und Luthers, Jakob Böhmes und Johann Sebaſtian Bachs, dann 
wird fie ſiegreich dieſe Not überwinden. 

Das Evangelium Zefu hat ſich nicht überlebt, feine Forderungen find von ſolchet 
Höhe der Gefinnung, daß wir noch FJahrtauſende gebrauchen werden, um zu iht 
heranzureifen. Aber dieſes Evangelium muß rein gelehrt und gelebt werden, damit 
wir eine reife Frucht im Sinne ſeines Verkünders ſeien, der zugleich der Wille 


Gottes iſt. 
Gott iſt nah 


Von Herbert Günther 


Wir wandern in die Weiten, 
Die Krone 3 erſtreiten, 

Die unſre Sehnſucht ſah, 

Wir müffen all die Zeiten 
Durch Einſamkeiten ſchreiten — 
Und Gott ift doch fo nah 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens 
(Fortſetzung) 
1647 

ie Weihnacht kommt langſam heran. Titus iſt im Herbſt ſechs Jahre alt ge- 

worden; am liebſten ſpielt er in dem großen hohen Empfangszimmer, das 
nach der Straße zu liegt. Nach dem Hofgarten hin befindet ſich die Schlafſtube des 
Vaters; dorthin getraut ſich das Kind nur ſelten. Mutter iſt dort geſtorben, das 
weiß es vom Hörenſagen. Meine Mutter! Welch ein Zauber liegt in den Worten. 
Titus liebt es, fie ſtundenlang eintönig vor ſich hin zu flüſtern. Einen rechten Be- 
griff kann ſich der braune Lockenkopf nicht davon machen. Wohl weiß er, wie ſeine 
Mutter ausſah: ihre vielen Bilder reden und raunen im ganzen Haus von ihr und 
ihtem heiteren Weſen. Aber entbehren tut er fie nicht. Am liebſten fpielt er ganz 
für ſich allein. 

Bald iſt Weihnachten! Zu Sankt Nikolas hat er einen Kaſten mit hölzernen 
Bauklötzen bekommen. Damit baut er ſich immer wieder und wieder einen Stall, 
in den das Chrifttindlein hinein ſoll. Kommt der Vater, muß er jedesmal das Kunſt- 
werk wieder zerſtören. Niemand ſoll davon wiſſen, auch Vater nicht. Sonſt findet 
das Kindlein ſeinen Weg nicht zu ihm. Das hat er im Gefühl. 

Sonſt geht es vielleicht zum Vater, der ja auch das Jeſuskind liebt. Dort auf 
den beiden Bildern in goldbraunen und blauen Tönen hat er es in der Krippe ge- 
malt, in einer Scheune, die dem Maultier als Stall dient. Warum knien und beten 
all die alten häßlichen Männer um das Kind herum! Warum leuchtet es ganz 
herrlich in der Dunkelheit des ſchwach belichteten Zimmers? Hat Vater es fo ge- 
malt, oder muß es immer von felber überall leuchten, wo man es auch ſieht? Hätte 
Vater nicht ein ſchöneres Kind und ſchönere Menſchen malen können? Die ähneln 
ja den alten Männern auf der Straße. Der eine ſieht wie der Holzhändler aus, 
der ihm ein Schiff geſchnitzt hat. Der andere weint. Warum weint der Mann? 
Und wie ſeltſam ift es doch: auf dem anderen Bild find wieder andere Männer. 
Das kann der kleine Mann noch nicht begreifen. 

Wenn aber das Kindlein nicht zu ihm, ſondern zum Vater will, was dann? 
Es iſt immer ſchwer zu wiſſen, was kommen wird. 


1648 
Dielgeliebte und ehrfürchtig erſehnte Braut! 

Nach einer ſehr beſchwerlichen Reife mit der Kutſche des edeln Herrn von Breda 
bin ich glücklich in dieſer gewaltigſten Stadt der Welt angelangt, in Ihrem geliebten 
Amſterdam, und ich beeile mich dienſtfertig, Ihnen und Ihren hochverehrten Eltern 
meine Empfehlungen ſubmiſſeſt zu Füßen zu legen. Natürlich galt mein erſter Be- 
ſuch dem berühmten Meiſter des Kupferſtiches, dem Herrn Rembrandt Harmensz 
van Ryn, in deſſen Haufe ich als Lehrling in dieſer edelſten aller Künſte unter- 
gebracht bin. Leider kann ich nicht verſchweigen, daß es in dieſem Haufe keines- 
wegs fo hoch hergeht, wie wir es von meinem Leidener Meiſter vernommen. Über- 
haupt ſcheint mir der Ruhm des Meiſters Rembrandt recht winterlich verblaßt zu 


208 Martens: Der Oämon des Lichte 


fein, kann er ſich doch nicht mehr als zwei Gehilfen leiſten und foll doch früher ein 
fo ſplendides Haus geführt haben. Dieſe jungen Leute gefallen mir nicht im min- 
deſten. Sie ſind einfacher Leute Kind und führen ſich ſchlecht auf. Der Meiſter iſt 
wortkarg, und ihn bekümmert weder unſer Daſein noch der Haushalt. Die Wirt- 
ſchafterin Hendrickje Stoffels gefällt mir noch am beiten. Sie iſt tüchtig, friſch, 
hübſch, luſtig und rüttelt den in ſich gekehrten Meiſter aus feinen Grillen. Ich finde 
ihn für ſeine Zweiundvierzig ſtark gealtert und wenig lebensfreudig. Auch muß er 
ſich mit Geldſorgen abrackern. Unabläſſig ſteht ein Notar in langer ſchwarzer Tracht 
vor der Tür und präfentiert einen Schuldſchein oder irgendeine Gerichtsaufforde- 
rung. Ich muß dieſe ernſten Herren ernſt und verbindlich abfertigen. — Das liegt 
mir ja, Gravitat mit Gravitdt zu erwidern. | 

Die Frage, die Sie mit aller Genauigkeit beantwortet zu wiffen wünfchen, ob 
ich Ausſicht habe, bei einem ſolch unbekümmerten Meiſter in der Kunſt des Grab- 
ſtichels gehörig inſtruieret zu werden, kann ich nicht bejahend beantworten. Er hand- 
habt nur ſelten den Stichel, ſondern arbeitet auf ſeine ganz eigene Art mit der 
Schneidenadel auf einer gewächſten Platte. Natürlich find meine Stecherkunſt⸗ 
ftiide nach berühmten Zeichen vorlagen ſchroff abgelehnt worden. Das hat mich 
gekränkt. Meine ſchönen ſauberen Linien im Stile des Goltzius gelten hier nichts. 
Frei ſoll ich nach Vorlagen und Zeichenſkizzen mit der Schneidenadel auf der prä- 
parierten Kupferplatte arbeiten. Was dabei herauskommt, werde ich mit Derblüfft- 
heit bei vielen Stichen des Meiſters gewahr: ein ſtilloſes Hineinpfuſchen in die er- 
pubenen Richtlinien der großen unüͤbertrefflichen Meiſter von Brügge und Siena, 
von Florenz und Venedig. Er arbeitet ununterbrochen, kaum Trank und Speiſe zu 
ſich nehmend, an einem völlig unſtiliſierten Selbſtbildnis und an einem großen Blatt 
vom Heiland, der die Kranken und Breſthaften heilt. Ich begreife nicht, wie ein 
ſolch erhabener Stoff ſo durchaus alltäglich vulgär hingeſetzt werden darf: ein 
ſchmaler häßlichblonder Judentypus ſoll den Chriſtus darſtellen! Und erſt die Leute 
aus dem Volk! Keine orientaliſch blumenhaften Geſtalten, von Sonne und den 
Früchten der Wildnis lebend; gefehlt, devoteſt verehrte Braut! Nein, Bettler 
volk aus dem finſterſten Amſterdam, von deren Exiſtenz man am liebſten keine 
Notiz nimmt. Und immer wieder zerſtört der Meiſter das Geſchaffene und beginnt 
von neuem zu ſtechen, ritzen und ätzen, um niemals an ſeinem Werk Gefallen zu 
finden. 


Amſterdam iſt wahrlich eine prächtige, mit Linden und Ulmen reichlich bepflanzte 


Stadt, die immer freundlich an beiden Seiten der Randle ſtehn. Die Keizersgracht 
und die Prinzengracht mit ihren neuen Hdufern find noch großartiger, als Sie fie 
mir geſchildert. Ihre Lobpreiſungen ſind wirklich nicht übertrieben. Der Meiſter 
wohnt in einem ſchönen geräumigen Hauſe in der Anthoniesbreeſtraat. Es iſt 
prachtvoll eingerichtet und enthält Kunſtſchätze, wie ſie kein Palaſt in den ſieben 
Provinzen beherbergt. Wie ſchade nur, daß der Meiſter ſich dieſe edeln Erzeugniſſe 
einer hochentwickelten Kunſtperiode nicht zum Vorbild ſeines Schaffens nehmen 
will. Er beſitzt einen Raffael Santi, einen Giorgione, einen Holbein, prächtige 
Kupferwerkſammlungen des Lukas van Leyden, des Dürer und Goltzius. Ich glaube 
fürwahr, ich bin hundert Jahre zu ſpät auf die Welt gekommen. 


Mertens: Der Damon bes Lichte 200 


Sh kuͤſſe Ihnen ehrfürchtig die Fingerſpitzen und wünſche Ihnen und den hoch- 
verehrten Eltern einen angenehmen Aufenthalt in Scheveningen. 

Francis van Hoogepijl 
1649 

der Meiſter zog fic immer mehr vom Leben zurück. Pinſel und Grabſtichel 
wechſelten unermüdlich mit dem Zeichenſtift und der Feder. Eine unerklärliche 
Nenſchenſcheu war über ihn gekommen, bie vielleicht aus der immer ſtärker werden; 
den Überzeugung herrührte, daß in Holland in den letzten Jahren eine neue Maler- 
generation heranwuchs, die eines Tages ſeinen Ruhm verdunkeln würde. Vor 
feinen myſtiſchen Bildern mußte allerdings die Mißgunſt der gekränkten Bürger- 
Waft verſtummen, hatte er doch an ihnen feine Seele verſchwendet. Auch maleriſch 
var er immer weiter gewachſen. Eine gewiſſe Pathetik in den religiöſen und Genre- 
bildern der dreißiger Jahre empfand er ſchon heute als feiner Natur widerftrebend. 
dom und überfließende Sehnſucht, Demut und Erniedrigung, all die menſchlichen 
getzenserregungen mußten vermittelft einer innerlicheren Kunſt zum Ausdruck 
kommen als durch erklaͤrende Gebärden. Er war jetzt ein unübertrefflicher Meiſter 
geworden, durch einen unfaßbar deutlichen Ausdruck der Augen die geheimſten 
Sedanken erraten zu laſſen: unendliche Herzenseinfalt im Kampf mit der Ver- 
führung, feſter unerſchütterlicher Glaube an Gott, grenzenloſe Hingabe eines leiden; 
ſchaftlichen Weibes, bitterſte Bitte um einen frühen Tod. Und nicht die Heinfte Poſe 
war dabei; alles echtes, wahres, blutvolles Leben. Nein, das war noch nie da- 
geweſen ſeit Menſchenberichte auf uns gekommen. 

Und dies war noch nicht alles. Das ganz Unverſtändliche in der Kunſt dieſer 
Bilder war die Erhöhung der Wirklichkeit, die dichteriſche Vollendung des Ir- 
biſchen. War diefer unfaßbare Mann dem göttlichen Wirken nahegekommen? 

Wie konnte es ſich dann bewahrheiten, das Gerücht, fein Ruhm wäre im Ver- 
blaſſen? Waren es böſe neidiſche Zungen, die davon wiſperten? War die Bürger- 
ſcaft, die ſtolze, reiche Bürgerfchaft der Stadt, ſtumpfer, gleidgiltiger zu feinem 
Bert geworden? War ihr Bedarf überſättigt? Mußte fie nicht jede Gabe von 
bieſer ſchöpferiſchen neugeſtaltenden Hand dankbar hinnehmen? Warum riß fie 
id nicht um jedes Blatt, das feinen Namenszug trug? Ratfel um Ratfel. 

Einer der Jüngeren, Gerard ter Borch aus Zwolle, hatte kaum die Dreißig 
iberſchritten und war ſchon an allen großen Höfen Europas geweſen. In Münſter 
porträtiert er die Friedensgeſandten, und feine feine weltmänniſche Art ge- 
wann ihm die Herzen der Welt. Zu lernen blieb ihm nichts mehr übrig; er 
hatte ſein außergewöhnliches maleriſches Talent bis zur Vollkommenheit ſeiner 
beſonderen Art auszubilden verſtanden. Sein Lebenswerk wurde das Entzücken 
der Welt. 

Sewiß, erfreulich war die wunderbare Schlichtheit feiner Darſtellung. Freund- 
lich heitere Begebenheiten der holländiſchen Geſellſchaft; die Farbentöne kühl und 
harmoniſch ineinander übergehend. Keiner konnte ſolche Atlasſeide malen wie er. 
entzückende Refeda- und Lilatöne, und das Grün von Delasquez, bei dem er ftudiert 
hatte, und ſein venetianiſches Schwarz und Rot wurden für die kommende Maler- 
generation vorbildlich. | 


219 Martens: Oer Dämon bes Ligts 


Es waren die Bilder des guten geſellſchaftlichen Tones in aller Größe und 
Schlichtheit der Auffaſſung. 

Kein Helldunkel der Ergriffenheit: kühles holländiſches Alltagslicht. Keine welt- 
bewegende Zeugungskraft in den Augen und Zügen der Menſchen: gemeffenes 
hollandiſches Selbſtbewußtſein. Keine Spur von Größe, Genie, Gott. Nur Gentileſſe, 
die reich geſättigte Stimmung der guten Geſellſchaft. Sie ward das Entzücken der 
Welt. ö 


Eines Tages ſtand er im Vorraum des zweiten Hauſes von der Brücke aus in 
der Anthoniesbreeſtraat und fragte Hendrickje, die Haushälterin, die ihm geöffnet 
hatte: 

— Sit der Meiſter zu Haufe? — 

— Er empfängt niemand. — 

— Gag’ ibm, ſchönes Kind, Gerard ter Bord), der Hofmaler, mache es ſich zur 
Ehre, bei ſeiner Rückkehr aus der Fremde als erſtem in Amſterdam dem Meiſter 
Rembrandt ſeine ergebenſte Aufwartung zu machen. — 

— Mynbeer ter Boch, der Meiſter empfängt jelten feine ä faſt nur noch 
Bittſteller. — 

— So ſag' ihm, ein Bettler warte auf ihn. — 

— Es iſt wirklich unmöglich, ihm mit einem ſolchen Scherz zu tommen. 

So mußte ter Borch unverrichteter Dinge die Steinftufen wieder hinabgehen. 

Dann kam der Tag, an dem ſich die beiden Maler kennen lernten. Jan Lievens 
vermittelte die Bekanntſchaft. Jm Grunde konnten fie ſich gar nicht verſtehen; aber 
keiner wollte es dem andern merken laſſen. 

ter Borch war genau fo zurückhaltend wie Rembrandt. Spürten fie die grund- 
ſätzliche Verſchiedenheit ihrer Naturen? Unbeſtechlich war ihr Scharfblick. Jeder fab 
in dem anderen ſeinen ſtärkſten Rivalen und bewunderte im ſtillen die ihm ſelbſt 
mangelnden Vorzüge, die der andere Teil in fo hohem Grade beſaß. Nur Jan 
Lievens hätte die beiden mit dem wahren Maßſtab des Unparteiiſchen meſſen 
können. 

Oer Zwoller trug ſich weltmänniſch. Seine kunſtvoll gebrannten Locken fielen 
in ſchönſter Ordnung auf den kurzen weiten Mantel aus ſchwarzem Tuch herab, 
der noch gerade die ſchmalen Knie erblicken ließ. Er trug ſchwarze ſeidene Strümpfe 
und ſchwarze Halbſchuhe mit breiten rieſenhaften Schleifen. Sein Geſicht war voll 
und groß, die herriſche Naſe im Gleichmaß; die Stimme beeinflußt durch einen 
zu kurzen Hals. Das tief bis in die Brauen geſcheitelte Haar ließ keine hohe Stirn 
vermuten. An den Augen von brauner Farbe, die groß und wohlgebildet waren, 
fiel der völlige Mangel an Tiefe auf. Er mochte einen halben Kopf größer als 
Rembrandt ſein. 

Als ſie ſich nach dem erſten Beſuch verabſchiedeten, verſprach der ältere Meiſter 
dem jüngeren, ihn in feiner Werkſtatt aufzuſuchen. Über ihre Kunſt hatten fie noch 
nicht ein einziges Wort gewechſelt. Als er gegangen war, meinte Lievens: 

— Der Ariſtokrat unter uns Bauern. Ich habe mich ordentlich zuſammennehmen 
miffen, um ihm nicht fortgeſetzt auf die lächerlichen Schleifen zu treten. Der vor- 
nehme Holländer verliert doch nie den ſtockſteifen Gang und die aufgeblafene Hal- 


Martens: Der Dämon des Lichte 211 


tung einer Sans. Wie ſeltſan mag dieſer Mann fic vor feiner Staffelei aus- 
nehmen! Wir werden es ja erleben. — 

— Jedenfalls turnt er nicht vor ihr herum, wie du es tuft, langbeiniger Affe. 
Schäme dich deines loſen Maules, unverbeſſerlicher Querulant! — 


3. 

Das Gut Koſtverloren liegt auf dem linken Ufer der Amſtel, halbwegs zwiſchen 
Ouderkerk und Amſterdam. Es ſieht ganz verwahrloſt und verlaſſen aus und doch 
wurde es von einer verarmten adligen Famille bewohnt, den van der Straaten, die 
aus der Proving Antwerpen wegen Überſchuldung geflüchtet waren: Vater, Mutter 
und fünfzehn Kinder. Barmherzige Verwandte in Amſterdam hatten fie aufgenom- 
men. In den Sommermonaten hatte ihnen der Magiſtrat das verfallene Gut zur 
Verfügung geſtellt. Nur ganz heruntergekommene Flüchtlinge können hier ihr er- 
baͤmliches Leben friften. Wer an dem Gut vorbeiwanderte, ſah niemals die Eltern, 
wohl aber hörte er die vielen lärmenden Kinder ſich vergnügen. Auch das nur felten. 
Sewöhnlich ſaßen ſie trübſelig fiſchend um den Karpfenteich oder wateten in dem 
ſchlammigen Hausgraben umher, um Aale zu fangen. Das war ihre tagtägliche Be- 
ſchäftigung. Sie mußten ſonſt hungrig zu Bett gehen. | 

Zm Winter fteht das Gut ganz verlaſſen. Nur an dieſen Weihnachtstagen kann 
der nächtliche Wanderer einen geheimnisvollen Lichtſchein in den paar Räumen, 
die noch notdürftig bewohnbar find, erblicken. Hier find zwei Menſchen ftunden- 
lang durch den hohen Schnee von Amſterdam her geſtapft, und man kann an ihren 
Fußſpuren deutlich erkennen, wie ſie ſich an dem ſchweren eiſernen Tor zu ſchaffen 
machten, ehe ſie es aufzwängen konnten. Nun haben ſie in der Halle ein mächtiges 
Holzfeuer bereitet, fo daß der hohe ſchadhafte Kamin zu berſten droht vor Flam- 
men und Gepraſſel. Sie kochen ſich ihre Abendmahlzeit: es hungert ſie gewaltig. 

Es find unfere beiden fleißigen Wanderer, die jeden Winkel der Amſtel kennen. 
Hier können fie all ihrer Sorgen vergeſſen und Gott einen guten Schöpfer fein layfen. 

Zuerſt gibt Jan Six feiner Koppel Hunde zu freſſen, prächtige deutſche Schäfer 
hunde. Die Tiere find ſehr müde vom Tollen im Schnee und ſchlafen bald am Kamin 
ein. Auch ihr Herr ſtreckt ſich an der Feuerſtelle aus. Die kräftige Erbſenſuppe, die 
ſchneeige Luft, der mühſame Gang haben ihn ſchläfrig gemacht. Er ſieht nicht mehr 
ſo heiter und jugendfriſch aus wie damals, als ſie Freunde wurden; das angeſtrengte 
Leben, das er führt, geht ihm in die Knochen. Sein Ausſehen iſt das eines ernſten 
Mannes, der ſcharf nach rechts und links ausſchauen muß, will er fein Vermögen 
zuſanimenhalten. 

Rembrandt hält Wache, während ſein Freund und die Hunde ſchlafen. Eine 
Hündin hat ſich dicht an den ſchlafenden Mann gedrängt, und ihre lange ſchön⸗ 
gezeichnete Schnauze ruht ihm auf dem Oberſchenkel. 

Der Schnee fält unaufhörlich in den Kamin hinein; die Flocken glitzern, ehe fie 
in der Glut verdampfen. Der Rauchfang iſt ungewöhnlich breit und tief. Es muß 
unheimlich ſein, an ihm zu träumen, wenn der Herbſt die letzten Blätter von den 
Bäumen reißt. In dieſer Nacht rührt ſich nichts; es iſt eine der ſtillſten Weihnachts- 
nächte im Sturm der Zeiten. 


212 Martens: Oer Dämon bes Lichte 


Der Schnee fällt unabläffig. Rembrandt legt einige Scheite ins Feuer, die noch 
feucht ſind; ſie kniſtern und ſprühn Funken. Jan Six merkt davon nichts; die Hunde 
blinzeln nur und vergraben ihre warmen Schnauzen noch tiefer zwiſchen Bauch 
und Läufe. Zuweilen wimmert es im dichten Kiefernholz, das an das Gut ſtößt: 
wohl ein unter der Laſt des Schnees ſich krümmender Baum. Die Amſtel iſt noch 
nicht zugefroren; ihr Waſſer fließt ſchwarz und gurgelnd über Land. 

Rembrandt hüllt ſich tiefer in den Mantel; ihn fröſtelt. Er gedenkt früherer 
Weihnachtsfeſte, die er bei einem ſeiner Freunde, einem Mennonitenpfarrer, ver- 
brachte. Der hat ihn diesmal nicht geladen. Niemand kümmert ſich mehr um ihn, 
ſeit er ſich immer tiefer in die Einſamkeit vergräbt. 

Eine ungeheure Schwermut hat wieder die Oberhand über fein Leben gewon- 
nen. Ex muß immer an fein ſchönes Haus denken, das er nun ſeit zehn Jahren 
bewohnt und das er nur zum Teil bezahlen konnte. Er hat Mühe, die jährlichen 
Zinſen zuſammenzubringen und die alten Beſitzer zu vertröſten: auf beſſere Zeiten, 
die immer noch nicht kommen wollen und die wohl auch nicht mehr kommen. 

Eine Stimme ruft ihn. Nicht hier in der Halle; draußen, draußen ruft es ihn, 
aus dem Walde, aus dem Fluß. 

— Ach, ich mag nicht mehr leben in dieſer Wirrnis der Gedanken, die mich ver- 
folgen, ein trübes ſchauriges Heer von ſchwarzverhüͤllten Gedanken, die mir um 
den Kopf zu ſchwirren ſcheinen. Geſpenſter der tötenden Einſamkeit. Wo ich mich auch 
niederlaſſe zum Schlaf, den ich nicht mehr zu finden vermag, flattert die dunkle Schar 
um mich her und läßt mir keine Ruhe. Wie ſchön muß es fein, wie friedlich, wenn die 
Erlöſung kommt, die letzte Erlöſung, wenn ich mit ſtillen Schritten den Kerkemauern 
des Lebens entweiche. Was rufſt du mich, lockende Stimme im Ounkel der ftern- 
loſen Nacht? Ich folge dir gern, du weißt es; nichts hält mich mehr an der Kette 
des Lebens. In den tiefen ſanften Schnee des Vergeſſens will ich meinen bren- 
nenden Menſchen betten, in das weiche weiße Laken unſagbar ſüßer Erlöſung. — 

Unabläffig fällt der Schnee. Rembrandt erhebt ſich aus feiner grübleriſchen Stel- 
lung. Sein Freund ſchläft mit Falten und Runzeln im Geſicht. Verſteht der ſeinen 
inneren Menſchen? Nein, der hat ſeine eigenen Sorgen. Er mag ihn nicht quälen, 
den lieben guten offenen Mann. Verſteht ihn Jan Lievens? Nicht ganz, aber 
helfen würde er mit der ganzen Macht feiner Perſönlichkeit. Keiner iſt fo treu wie 
er. Könnte der auch ſeine Einſamkeit töten? Vielleicht. Seine Schwermut? Nein, 
das könnte nur ein liebendes Weib. Und Saskia iſt nicht mehr. Iſt nicht mehr? Sie 
ruft ihn doch? Immerzu hört er ihre volle kräftige Stimme, aber fern, fern aus 
dem Reich der Unendlichkeit. 

In allen Dörfern und Weilern beginnen die Chriſtglocken zu läuten. Aus dem 
Reich der Unendlichkeit ſcheinen ſie zu kommen, dieſe hellen jubelnden Glocken, 
dieſe tiefen droͤhnenden Stimmen, die ſich im Preiſe Gottes nicht genug tun kön- 
nen. Sie übertönen alle anderen rufenden Stimmen der Sehnſucht. 

Rembrandt entblößt ergriffen das Haupt und ſinkt in die Knie. Er betet. 

Oer Schnee fällt nicht mehr. Ein glitzernder eiſiger Sternenhimmel hat ſich auf- 
getan. Der Morgenſtern leuchtet unheimlich groß durch das ſchmale hohe Fenſter 
der Halle. 


Martens: Der damon des Lichte 213 


1650 
1. 

Renialme, nimm Platz! Rauchſt du kalt? Hier ift Tabak und Feuerzeug. — 
Ou weißt ſchon, was es zu bedeuten hat, wenn ich dich rufe. Renialme, von den 
Werken muß ich mich trennen, die mir ans Herz gewachſen ſind, und du biſt der 
einzige unter den Händlern, in deſſen Hände ich fie legen mag. Denn du haft Sinn 
für dieſe Bibelbilder. Deine Vorfahren waren Hugenotten, darum ſteckt dir der 
Zug zum Überſinnlichen im Blut. 

Sieh, Renialme, ich benötige eine größere Summe Geldes, und da du bekannt 
biſt weit über die Grenzen des Landes, der namhafteſte größtzügige Kunſthändler 
der Stadt zu ſein, wirſt du nicht lange mit mir handeln. Hier im Zimmer hängt 
alles zuſammen: Chriſtus und die Ehebrecherin, die beiden Anbetungen der Hirten, 
Ether und Ahasver und die Kreuzabnahme. Wieviel ich brauche? Breitaufend 
Gulden. Ich wußte ja, daß du einwilligſt. Lebwohl, Renialme, mein guter Freund; 
es erleichtert mir das Herz, daß ich gerade dir meine Schöpfungen verkaufen durfte. 
Gott geleite dich! — 

Rembrandt, er ging. So weit mußte es mit mir kommen, daß ich mein Hab und 
Sut vertue. Rembrandt, was ſoll aus dir noch werden? Mir bangt! So weit mußte 
es mit mir kommen, daß ich die Myſterien meines Lebens preisgebe. Wer erſt an; 
fängt, die Dinge von ſich zu geben, in denen er ſich Gott genähert, in denen er mit 
dem Schöpfer redet in dunkeln Stunden der Not, dem iſt nicht mehr zu helfen. 
Und ich vermeinte doch den Weg Gottes zu gehen. Es iſt nur gut, daß ihr längſt 
geſtorben ſeid, Mutter, Vater, ihr frommen Seelen, um jetzt nicht zu Tode er- 
blaſſen zu müſſen vor der Rache meiner Feinde. Wie Haman werde ich mich ent- 
blößten Hauptes vor ihnen demütigen müſſen. 

2. 

Eine einfache Stube mit einem geöffneten Fenſter, durch welches ſaftig grünes 
Laubwerk funkelt und der ferne Turm einer Kirche. Es iſt ein erſter warmer Vor- 
friblingstag in Amſterdam. Ein bedddtiges Holzfeuer brennt im tiefen Kamin 
aus rotem Backſtein. Ein ganz in ſich verſunkener alter Mann ſitzt daran mit ge- 
falteten Händen und ſtarrt in die Ferne ſeiner Gedanken. Der Mann atmet in 
feiner gebüdten Haltung das ganze Leid der Welt. Seine Frau ſitzt am Spinn- 
rocken und ſpinnt. Sie ſpricht zu dem Greiſe, der blind iſt, vor Kummer blind, von 
den Schlägen des Schickſals geblendet, aber zugleich auch leibhaft blind, ohne das 
Licht der Augen. Er betet zu ſeinem Gott und hält Zwieſprache mit ihm. 

Er kann die wärmende Glut des niedrigen Herdfeuers, auf dem der Waſſer⸗ 
keſſel ſingt, nicht mehr ſehen, nur noch fühlen und hören. Er kann das warme 
Leben um ihn her, den anbrechenden Frühling, feine Frau, die zwitſchernden Vögel 
im Käfig nur noch empfinden, nicht mehr mit leibhaftigen Augen ſchauen. 

Eine große Ruhe iſt um ihn her, eine große Ruhe iſt in ihm. 

Das Leben mit feinen berauſchenden Farben macht ihn nicht mehr febnfudts- 
krank. Kein {dines junges Weib macht ihn begierig nach dem Beſitz ihrer Reize. 
Langit hat er mit dem Leben abgeſchloſſen, das nur noch gedämpft zu ve une 
ihm nicht mehr um den Hals fällt, ihn küßt und ftreichelt. 


214 Martens: Oer Damon bes Lichts 


Alles dieſes ſteht in dem Bilde des Tobias, des armen alten Tobias, das Rem- 
brandt, der ganz in die Welt ſeiner Gedanken verſunken vor der Staffelei ſteht, 
ſoeben vollendet hat. 

1651 

Früher als ſonſt war der Meiſter an die Arbeit gegangen; leiſe hatte er die ſchöne 
Schläferin auf den halbgeöffneten Mund geküßt und das ſtille abgeſonderte Schlaf- 
gemach hinter ſich gelaſſen. Als Hendrickje erwachte, lag das hohe geräumige Zim- 
mer wie verzaubert vor ihren glückstrunkenen Augen: die geröteten Blätter der 
Linden und Kaſtanien in dem ſchmalen Hofgarten tanzten im herbſtlichen Wind 
und funkelten in der grellen Novemberſonne durch das breite Fenſter mit feinen 
vielen grünen und goldigen in Blei gefaßten Scheiben. Ihre ſchwankenden Schat- 
ten ſpielten auf den getäfelten Wänden, von denen die im Dämmerlicht ftrablen- 
den Bilder von des Meiſters eigener Hand in einem unbegreiflich myſtiſchen Schim- 
mer auf die üppige, kaum bekleidete Frau hinabſchauten, die ſich auf dem Baldachin 
lager nach Herzensluſt räkelte. Aus dem oberen Fenfterflügel ſtrich es wie friſche 
Seebriſe über fie hin, über dieſe berüdende elfenbeinerne Haut, über die herrlich 
gemeißelte Bruſt und die ſchwellenden Glieder, die in dem ſchaffenden Meiſter 
eine quälende Sehnſucht zurüdließen. 

Hendrickjes Gedanken legten einen langen Weg zurück; fie kamen aus dem kleinen 
Ransborp im Gelderländiſchen, dem Land ihrer harten Jugend, und verloren ſich 
hinein in dieſes Amſterdam, das ſie ſeit Jahren gefangen hielt und ſie ſeit der letzten 
Nacht als die heimliche Herrin dieſes Hauſes ſah. Dieſe reinen ſonnigen Gedanken 
einer erſchloſſenen Frauenblume füllten den flimmernden Raum und weilten bei 
den Umarmungen und dem Geflüfter der entwichenen Nacht. Sie zitterten in einem 
Raufd verhaltener Wonnen und hatten nicht mehr acht, daß ſich die Tür zaghaft 
öffnete, ein blaſſes trauriges Knabengeſicht erſtaunt ins Zimmer blinzelte und er- 
ſchrocken hinter ihr verſchwand, die ſich dann geräuſchlos wieder ſchloß. 


1654 
1. 

— Jan Giz, dein Bildnis iſt fertig, du brauchſt mir nicht mehr zu fißen. Es war 
ein hartes Stück Arbeit. — 

— Wie kam es, Rembrandt, daß dir diesmal das Malen ſo ſchwer von der Hand 
ging? — 

— Es war mir, als müßte ich dich ſezieren, um den wahren Ausdruck deiner 
Seele zu finden. Sie ſteht dir nicht mehr in den Augen! — 

— Sollte ich mich in den letzten Fahren ſo grauſam verändert haben? — 

— Du gehbſt mir aus dem Wege, Jan Six. Solang ich noch guten Mutes war, 
kamſt du täglich. Es waren ſchöne Jahre. Nun ſchlummert irgendein Schatten in 
den Spiegeln des Hauſes, und in die Ecken der Zimmer dringt nicht mehr die Sonne 
hinein. Mir iſt oft, als würde die Decke eines Tages Über mich herſtürzen. Wir 
haben uns beide ſehr verändert! — 

— Rembrandt, du haft jetzt eine liebevoll ſorgende Frau um dich. Das ſtürmiſche 
Herz deiner Hendrickje übertönt das meine. Was kann ich dir da noch fein? — 


— a - = 


Martens: Der Dünton des Lichts 215 


— Giz, du biſt ein Mann, und ich brauche einen zuverläſſigen männlichen Freund, 
der in den Dingen des gemeinen Lebens erfahren iſt; du könnteſt ein ſolcher mir 
ſein, denn du biſt mit großen Gütern geſegnet und du haſt das Anſehen und die 
Macht eines großen Handelsherrn. Seit Jan Lievens fort iſt, fteh’ ich ganz allein; 
meine Bedrängnis wächſt ins Unermeßliche. Du allein könnteſt mich und mein Werk 
vot dem Untergange retten. Doch die Seele ſteht dir nicht mehr in den Augen! — 

— Deine Worte find ſchwertſcharf; fie treffen mich hart. Du biſt bitter, du biſt 
ungerecht. — War ich es nicht, der dir die vielen Darlehen der letzten Jahre ver- 
mittelte? — 

— die Bedingungen, unter denen fie zuſtande kamen, werden mich zermalmen. 
36 habe deinen Freunden all mein Hab und Gut verpfänden müſſen. Warum bürg- 
teſt du nicht für mich? — 

— Sieh, Rembrandt, die Tuchfärberei hat ihre beſten Jahre hinter ſich. Die 
Farben ſteigen noch immer im Preiſe, die Zeit hat ein kriegeriſches Ausſehen. 
Es tiecht ſchon überall nach Pulver. Wer weiß, wir ſtehen vielleicht vor böfen 
Kriegen. — — — 

— Goll ich dir dein Bildnis zuſtellen laſſen? — 

— Vas bin ich dir dafür ſchuldig? — 

— Yu könnteſt den Betrag feines wirklichen Wertes doch nicht bezahlen. Ich 
(dente es dir. — 

— Das geht nicht an. Ou befindeſt dich in der Not. Ich will die Obligation fiber 
die zwölfhundert Gulden vermindern laſſen auf... — 

— Auf keinen Fall. Ich ſchenke dir das Bild. — 

— Wenn du unbedingt darauf beſtehſt. Aber... — 

— Willft du dein Bildnis nicht noch ein letztes Mal betrachten? Vielleicht ge- 
fällt es dir nicht. — 

— Rembrandt, ich verhehle dir nicht, es erregt mein Mißfallen, dies ſeltſam 
leblos gemalte Bild. — 

— Jan Six, wie er leibt und lebt; das beſte Bild meiner Hand. — 

— Nu ſpotteſt; es hat keine Seele. Abſcheulich will mir plötzlich dieſer Mann 
nit dem hämiſchen Lächeln erſcheinen. Und wie er abwelfenb den Handſchuh zu- 
möpft! Das ſoll ich fein? — 

— Jan Six, der ſich aufmacht. — 

— Derfprid mir wenigſtens, dieſen häßlichen hämiſchen Zug zu mildern. Oder 
it dies alles nur meiner Einbildung entſprungen? — 

— San Six ijt nicht mehr zu verändern. — Lebewohl! — Vergiß auch nicht die 

gerung meines Lebens. Dort wird es ein Schauſpiel für Kunſtſammler 
geben: die Raubvögel des Hafens, des einſtigen Ghettos werden mir die Seele 
echaden. Und vielleicht legit du dich dann ins Mittel, — wie immer! — um deinen 
Knochen zu ergattern. Ach, mich ekelt! — 


~ Sit er fort, Liebſter? — = 
en Nikolaus Maes foll ihm fein Bildnis nachtragen. Ich mag es nicht 
ſehen | 


0 


216 Martens: Oer Dämon bes Lids 


— Rem, du biſt totenblaß. Er hat dich in deiner Not verlaffen, der Treuloſe ? — 
— War’ ich doch blind, um die furchtbaren Wandlungen der Seele nicht ſehen 


zu müſſen. Bald wird auch dieſes Haus feine Seele verändern. Nun kommen die 


böſen Jahre der Heimſuchung. Ach, wär' ich blind! — 

— Rem, der Herr hat uns mit feinem Zorn geſchlagen. Wir haben in Sünde 
zuſammengelebt; der Kirchenrat hat mich wegen Hurerei mit dir vorgeladen. Auch 
ſoll die kleine Kornelia endlich getauft werden. Rem, wir haben vor Gottes An- 
geſicht gefrevelt! - 

— Verlaß auch du mich nicht, Hendrickje. Heiraten dürfen wir ja doch nicht, ſonſt 
ging uns Saskias Erbſchaft verloren. Verlaß mich nicht! — 

— Sd dich verlaffen? Was bin ich ohne dich? Laß die Welt nur wiſſen, daß 
ich dein Kebsweib bin. Es kann ihr nicht verborgen bleiben. Aber ſie ſoll auch ſehen, 
daß ich dir getreulich nachfolge, in Züchten und Ehren, als wäre ich dein ehelich 
angetrautes Weib. Niemals verlaß ich dich, Rem! — 

— Hendridje, du meiner Seele tröftendes Licht! Wie ſoll ich es dir vergelten? — 

— Behalt mich bei dir, verſtoß mich nicht von deinem Lager. Ich will dir dienen 
als deine arme niedere Magd. — 

1655 
| 1: 

Rombout Hamer an Hildegerda in Reykjawik: 

Die Wolken meiner Sehnſucht ziehen nordwärts zu dir hin bei dem warmen 
Wind. Sie ſollen dich grüßen in den Nebelwänden, die über Island liegen, und 
in denen du träumend wie gebannt ſtehſt. Ich las aus deinem langen traurigen 
Brief, es müßten die Menſchen dort droben zur Winterszeit immer im Dunkeln 


dahinſchreiten, und ihre Geſtalten tauchen auf wie die Schiffe im Nebel. — Sie 


haben wohl alle ein graues farbloſes Weſen. O du Ferne, Unerreichbare, ich möchte 
dein heißes Herz an meiner Bruſt fühlen, die ſich nach deiner fraulichen Eigenart 
ſehnt, nach der nur dir allein eigenen Art, wie du dich auslebſt und in dich hinein 
ſinkſt. Ich möchte den Widerhall deiner Schritte belauſchen, den Schall deine 
Stimme, das Rauſchen deines Blutes, den Blitz deiner Gedanken, das Unwetter 
deiner wechſelnden Stimmungen belauſchen, betrachten. Und wenn dann wedet 
Muſit, noch Wein, noch die Erzählungen der Männer dich befriedigen können, wenn 
du in kalten Nächten dich in Gedanken an mich ſchmiegſt, und die Süße der Be 
gierde dich wie ſchwerer Wein berauſcht, dann fühl’ ich dich durch die Stürme bes 
Ozeans hindurch, dann weiß ich, du biſt mein, und das Herz wird mir Har, als 
ſäubere ein ſcharfer Nordoſt aus der Wikingerecke das Meer vom Dunſte. 

Ich küffe dich, küſſe dich ſtumm und blind, und in deine Augen kommt das Licht, 
das die unendlich lange Menſchenkette ſchuf, in der wir nur Bruder und Schweſtet 
ſind. | 

Und das Meer brauft dazwiſchen feine dunkle Melodie der Vergänglichkeit. — 

Unfere „Möwe“ iſt glücklich wieder nach ſchwerer Fahrt in Amſterdam eingelaufen. 
Wir waren den halben Dezember lang auf der Reife: nach Liverpool hin und zu- 
rüd. Da hab’ ich dir vor meiner plötzlichen Abreiſe nicht mehr ſchreiben können und 
hatte doch ein ſeltſames Erlebnis zu berichten. Ich trug in dieſem Herbſt meine 


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Christus naht der Welt 


F. Haß 


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Martens: Der Oamon bes Lichts 217 


breite übermannshohe Schiffergeſtalt in den hohen dumpfen ſchmutzigen übelriechen- 
den Hafengaſſen umher und war faſt immer von kleinen ſchlechtgewachſenen, faſt 
verkrüppelten ſchwarzlockigen Männern umgeben, die ihre Waren feilboten und 
feilſchend ſich heiſer ſchrien und tobten. Es find Iſraeliten aus Portugal, Spanien 
und Polen. Sie ſprechen eine Art Rotwelſch wie die Zigeuner. Doch ich mußte an 
ihnen die Beweglichkeit ihrer Gebärden und die ſcharfgeſchnittenen blitzenden Augen 
bewundern. Hinter dieſen niedrigen Stirnen funkelt der Geiſt der Schöpfung leben; 
diger als uns blauäugigen Rieſen mit unferer roſigen Haut, die aus lauter Butter 
und Milch zu beſtehen ſcheint. Du biſt anders, du ſtammſt aus dem herben Nord 
männerland, wo deines Vaters Haus hoch auf dem Felſen thront, und der Giſcht 
der wilden See in die Stuben hineinfegt. Dort werden harte ſehnige Männer 
geſchaffen, aber im Schifferflecken Loosduinen, wo das Grab meiner Mutter 
tcãunit, ſchleicht das Leben träge daher; wir leben vom Fiſchfang und ſtellen nur 
wenig rüſtige Mannſchaft der jungen Flotte. 

An einem lachenden Tage, ein friſcher heller Wind pfiff in dieſen Höllengängen 
don Schmutz und Habgier, wollt' ich mich für eine Fahrt nach Island als Steuer- 
mann anheuern laſſen. Die hohe Luft machte mich ſehnſuchtskrank nach dem be- 
wegten Spiel der Wellen. Ich hocke vor der Schenke auf einem krummbeinigen 
Schemel und ſchaukle hin und her, um mir die Zeit zu vertreiben. Der Kapitän 
läßt auf ſich warten. Da erſpäh' ich in der Schar der Händler einen gedrungenen 
turabeinigen Mann, deſſen mächtiger Schädel mir auffällt. Er ſaß ihm wacker auf 
der breitſchultrigen Geſtalt. Dieſer Mann beſaß eine ſeltſam ſelbſtbewußte Art, mit 
der er ſich bewegte. Plötzlich läßt er ſich auf eine der hohen ſchmalen Steintreppen 
nieder, gerade mir gegenüber. Er holt Stift und Blatt aus dem Mantel hervor 
und beginnt mit fieberhaft ſchnellen Strichen das ganze Bild der belebten Straße 
zu zeichnen. Ich ſchleiche mich zu ihm hin, an ihm vorüber, einige Stufen höher als 
er, und kann nun von oben hinab jeden Strich verfolgen, den er ſtark und ſicher 
hinſetzt. In weniger als einer Viertelſtunde iſt das Werk vollendet. Du weißt, das 
Zeichnen und Malen hat mir von Jugend auf im Blut geſteckt. Es iſt wohl ein Erb- 
teil von meiner Mutter her, Gott hab ſie ſelig! 

Folgendes Geſpräch wird dich in Erſtaunen ſetzen, das er ohne umzublicken mit 
mir führte, während er jedes kleinſte Plätzchen auf dem Papier kreuz und quer 
mit dem Volk der Straße füllte: 

— Meiſter, ich möchte Euch wohl die Skizze abhandeln. — 

— ch handle nicht, Steuermann, wenn hier auch Markt iſt. — 

— Meifter, ich möchte bei Euch das Kunſthandwerk erlernen. — 

— Oer Stift ijt kein Steuer. — 

— Oer Vater meiner Mutter war Maler. — 

— Mutters Vater war Müller. — 

— ch heiße Rombout Hamer und führte ſchon manche Brigg im Sturm. — 

— Man nennt mich Rembrandt, und doch ſteh' ich erſt vor dem Tor, das ins 
Heiligtum der Kunſt führt. — Hamer, du haft einen maſſigen, etwas aufgeſchwemm⸗ 
ten Körper. Ou trinkſt gern einen Oude Klaaren. Ich ſah dich dort auf dem Schemel. 
Hätte dich deine jungenhafte Neugierde nicht getrieben, du ſtändeſt jetzt aach auf 

der SAemer XXVI, 3 


218 Martens: Der Damron des Lichts 


dem Blatt. Hamer, du bift nod ein großer Junge. Das ift das Schöne an dir. 
Nur iſt dir das eine Ohr angewachſen, und du trägſt den Kopf ſchief aus ſchlechter 
Angewohnheit. Auch iſt dein Schritt ſchlürfend, läſſig, als gingſt du in Pantoffeln. 
Du gefällſt mir trotzdem. Wenn du einen Trunk nicht verſchmähſt, komm mit mit 
in die Breeſtraat. — 

Das tat ich denn auch und ſaß dem Meiſter Modell. Er hat mich nicht etwa ab- 
konterfeit, mit nichten! Einen bleichen hohlwangigen Krieger hat er aus mir ge- 
macht. Der Kopf iſt wohl der meine, die Naſe, die Züge, aber er hat einen Aus- 
druck hineingelegt, als tam’ ich geradewegs aus der Schlacht. Als hing ein blut- 
getränkter Mantel mir um die Schultern, in dem ich erſchauerte, als wäre ich dem 
Gemetzel einer Schlacht entronnen, in deren Strömen von Blut ich gewatet, und 
als hätte ich auf der Flucht um mein erbärmliches Leben gezittert. Die Seelen der 
Erſchlagenen ſtanden in meinen Augen und ſchienen laut aufzuſtöhnen. Nie wieder 
könnte ein ſolches Geſicht im Glanze der Lebensfreude ſtrahlen! 

Hildegerda, da wurde ich ganz klein und mutlos; da bleib ich doch lieber bis an 
das Ende meiner Tage ö dein armer Steuermann. 

2. 

— Meine Tage find keine Schöpfungstage mehr. Unfruchtbar ziehen fie an mir 
vorüber. Welch eine drückende Laſt auf meinen Schultern! Wie zwingt mich dieſe 
Hilfloſigkeit vor den Dingen des Lebens in den Staub! Ich werde mit ihnen nicht 
fertig. Was hab' ich nicht alles verſucht, um mir einen dauernden Erwerb zu ver⸗ 
ſchaffen, der mich und die Meinigen ernähren könnte. Die Malerei kann es nicht 
mehr. Meine Bilder finden keine Liebhaber. Nikolas Maes mußte ich entlaſſen, 
meinen letzten Schüler. Alle innerliche Sammlung iſt mir verloren gegangen zu 
dem hohen Ziele, das mich ſeit Saskias Tod erfüllte und erhielt: Gottes Verherr⸗ 
lichung zu dienen. Das Hundertguldenblatt, an dem ich viele Monate lang arbeitete, 
brachte nicht den erhofften Verdienſt. So mußte ich erleben, daß auch die Kunſt des 
Stichels mir nicht forthalf, auf die ich meine letzte Hoffnung geſetzt, ſeit meine Mal- 
kunſt unvolkstümlich geſcholten wurde, weil fie ſich dem bunten Treiben der Menge 
fernhielt und der Eitelkeit der Welt entſagte. Nun bin ich dem Anſturm meiner 
Gläubiger hilflos preisgegeben. Die kleine bürgerliche Welt iſt der ewige Tummel 
platz unternehmungsluſtiger Geſellen, kein Obdach verſunkenen Träumern. Immer 
finn’ ich darüber nach, wie ich durch eine finnfälligere Malart, durch eine Kunſt, die 
dem Auge ſtärkere Sehfreuden bietet, meine einſtigen Gönner zurückgewinnen kann. 
Und doch weiß ich, es iſt längſt zu ſpät. Meine Verſprechungen würden nur noch 
mit einem Achſelzucken angehört werden: ich bin ein verlorener Mann. 

Leben, wie ſchwer muß ich mich an dir verſündigt haben, daß du mich jetzt aus 
dem Dämmer meiner Träume hinauspeitſcheſt in die erbarmungsloſe Menge, die 
nur den Bürgermaler in mir begreifen kann! Verſteht mich auch keiner mehr unter 
den Freunden, die einſt dieſes Haus füllten und ſich hier heimiſch fühlten? Warum 
bleiben ſie in aller ſchamloſen Gelaſſenheit dieſen zuſammenbrechenden Mauern 
fern, wo fie dieſe ſtützen müßten? Ich weiß es nur zu gut, keiner gönnt mir mehr 
die zauberhafte Sonne, die wunderbar gedämpft hereindringt. 

Sonne, einziger Troſtquell meinen getrübten Augen, geh noch nicht hinunter, 


Ganda: Gebet 219 


verweile noch und befänftige meine Hilflofigtcit, laß mich die Erde und ihre Weſen 
in einem ſanfteren Lichte ſchauen. Sonne, verlaß auch du mich nicht, der ich dir 
treu und ehrlich gedient. 

Und doch, auch ſie ging. Sie vollendet ihre Bahn. Sonnenbeſtimmung. Tu ich 
nicht dasſelbe? Muß ich nicht Kreis auf Kreis meiner Beſtimmung vollenden, 
mich immer weiter emporwagen über den Geſichtswinkel der ſtaunenden Menge? 
Sie nennen dieſes Unterfangen Iriſinn, Selbſtüberhebung. Sie glauben nicht an 
die Notwendigkeit, deren Werkzeug ich bin. Ich höre ihr dumpfes Höhnen, den 
Ausdruck ihrer Mißgunſt. Mir iſt es, als zittere die Erde unter dem Dröhnen ihres 
Anfturms. Sie werden mich ſteinigen. Und dennoch muß ich im Hagel ihrer feigen 
Geſchoſſe den letzten Kreis meiner irdiſchen Laufbahn vollenden. 

Schäme dich, Rembrandt, du weinſt? — 


3. 

— Litus, mein Junge, was treibt dich zu mir in die Malkammer? Soll es wieder 
ein Konterfei werden? — Was ſagſt du? Ou ſelbſt willſt hier pinfeln? Das magere 
hagere Büͤrſchlein will es dem Vater gleichtun? Ich muß dir abraten. Es iſt der 
bitterſchwerſte Beruf, wenn man Ehre im Leib hat, kein Pfuſcher ſein will, nicht 
der Frau Welt nachläuft! Ich verſteh, ich ſoll dein Lehrmeiſter ſein. Du kannſt 
ſchon etwas? Sieh doch an, der Knirps kann ſchon kleckſen, ganz in der neuen Art. 
das haft du mir wohl abgeguckt mit deinen großen ſtrahlenden Augen, Herzensbub? 

Komm her, Titus! Erkennſt du den Mann dort auf dem Bild? Nein? Ja doch, 
ja doch! Das iſt dein Vater, fo ſoll er jetzt dreinſchauen, ſtolz, hochmüͤtig in allem 
Jammer der Welt. Wein’ nicht, Junge, dein Vater blickt ja demütig, alt und be- 
kümmert drein. Sieh mich an: fo wird man klein in der Seele, wenn das Leben 
mit der Peitſche hinter der Tür ſteht. Werde lieber Fleiſcher, Titus! Dann mal' 
ich dir Aufhängeſchilder mit einem blutigen ausgeweideten Ochſen. Dieſer Beruf 
hat immer ſeinen Mann genährt. Titus, Titus, ich will mir Mühe geben, ſo ſtolz 
und hochgereckten Hauptes einherzugehen wie auf meinem Konterfei. Du ſollſt noch 
ſtolz werden auf deinen Vater! — 

(Fortſetzung folgt) 


Gebet 
Von Franz Alfons Gayda 


Wolleſt, Gott, in Liebe 
Meinen frühen Keimen — 
Ausgeſtrent in Furchen 
Dieſer kalten, dunklen Zeit — 
Deine hohen Gnaden ſchenken: 
eißes Sonnenlicht und kühlen Himmelstan! 
meinen jungen Saaten fpenden 
Sel'ges Blühn und ſtilles Reifen, 
Allem Sehnen, allem Wollen, 
Allem Werden ein VollendDen — 
. Rub’n und Sein in Dir! 


Weihnachtsſtimmung 
Von Friede H. Kraze 


it dem erſten Adventſonntag, wenn der grüne Kranz aufgehängt wird, be- 

ginnt bereits die ganz echte weihnachtliche Stimmung. Vier große Lichter 
trägt der Kranz und ſoviel kleine, wie es in dem betreffenden Jahre Tage gibt 
zwiſchen dieſem Sonntag der erſten ſeligen Verheißung und dem heiligen Abend 
ſelber. 

Wie war es herzbeklemmend [hin und feierlich, wenn man als Kind draußen die 
weiche Unſchuld des erſten Schnees erprobt hatte, und nun eiskalt und dennoch vor 
Erwartung glühend um die Dämmerſtunde in die geliebte Großmutterſtube trat. 
Der Bratapfelgeruch erfüllte fie ganz. Er kam aus der rieſenhaften braunen Ofen- 
burg aus der Ecke der Stube wie eine ſüße Tröſtung, denn in allen Ecken kauerten 
bedenkliche Schatten, fo daß man die Großmutter kaum erkennen konnte. Und es 
ſchien wirklich nicht ganz geheuer. Aber dann, plötzlich, hoch über einem, wie los- 
gelöft vom Raum, entdeckte man das kleine brennende Licht. Wie ein Stern ſchwebte 
es auf ſeinem Kranz aus Tannen und rotbeeriger Stechpalme. Ganz allein und 
preisgegeben ſtand man darunter — denn ich hatte keine Geſchwiſter — und ſang 
über gefalteten Händen mit einer ſehr dünnen, zitternden Kleinkinderſtimme, die 
aber immer runder und zuverſichtlicher wurde, je länger man in das geheimnisvolle 


Acht Pineinjang: nacht hoch die Tür, die Tore weit!“ 


Denn mit dieſem winzigen, ergreifenden Lichtſchein hingen doch alle Ver⸗ 
heißungen zuſammen, von ihm fiel der erſte Strahl einer unermeßlichen Freuden 
botſchaft in die dunkle Winterwelt. Das Röslein, das zu der halben Nacht erblühen 
ſollte, regte heut zum erſten Male die zarten Wurzelfüßchen in dem Geheimnis 
ſeiner Wintergruft. Jeden Tag von nun ab würde ein Licht mehr in die Welt, die 
für mich noch die Großmutterſtube bedeutete, hineinſtrahlen. Bis fie zuletzt alle 
funkelten, wenn die Zeit erfüllet war. Einmal mußte ja doch der heilige Abend 
kommen, wenn unter dem Chriſtbaum das Kripplein ſtand: Maria und Joſeph, 
Eslein und Ochs, die Hirten im Vlies, muſizierende Engel und die drei Könige aus 
Morgenland mit den ganz friſch vergoldeten Heiligenſcheinen. O Gott, würde man 
auch nicht vorher ſterben vor lauter Glück? 

Es war gut, daß es nun einen ſeltenen Feſttag um den anderen gab, an dem man 
ſich gewiſſermaßen wie an einem Geländer oder an lauter guten Händen die goldene 
Weihnachtstreppe hinauftaſten konnte, daß einen nicht der Schwindel überkam. 
Sankt Barbara war die erſte hilfreiche Hand am fünften Dezember. Wie wunder 
bar war es, wenn man unter einem rot und goldenen Frühabendhimmel — die 
Großmutter ſagte, der Himmel wäre ſo rot und golden um dieſe Zeit von dem 
Feuer der himmliſchen Backöfen, vor denen es jetzt hoch herging mit Baden von 
Lebkuchen und Marzipan — wenn man unter einem ſolchen Himmel hinaus in den 
Garten trat, und zu den Kirſchbäumen ging — die ſauren wurden bevorzugt — 
Dort machte man dem Baum eine kleine Verbeugung und bat ihn um Verzeihung, 
daß man ihm mit dem ſcharfen Meſſer ein paar Zweige raubte. Es war wohl hart, 


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Rraye: Weihnachteftimmung 221 
den Baum zu verwunden, aber eigentlich hätte doch jeder Zweig hoch aufjubeln 
muͤſſen über das Glid, das ihm bevorſtand; denn würde er nicht, in der ſchlanken 
blau-weißen Vaſe auf der Servante ſtehend, ſogleich ein wunderbares Leben in ſich 
keifen fpiiren? Das himmliſche Kind hatte ihn berührt, und an dem hochheiligen 
Geburtstag würde er in voller Blütenſchöne wie ein weißer Engel ſtehen und felig 
anbeten. 

Der nächſte Heilige, der ſchon am folgenden Tage ſich meldete, war weniger zart 
und hold. Dem Kalender nach hieß er St. Nikolas, und es war wunderbar genug, 
daß manche Kinder ihn auch den Knecht Ruprecht nannten oder St. Joſeph oder 
gar den Weihnachtsmann oder Pelzmärtel. Wie auch fein ehrwürdiger Name ge- 
weſen ſein mag, manche ſind ſogar der Meinung, daß ſein Stammbaum bis ins 
graue Heidentum hinunterreicht, und er eigentlich Gott Wotan ſelber iſt, oder der 
wilde Zäger, der ſchon lange vor den „Zwölfen“ über die winterliche Welt ſtürmt. 
Wie geſagt, wer er auch war, rauh, ſtürmiſch, mit Kettengeraſſel, im umgekehrten 
Pelz trat er auf. Aber wenn man nicht wirklich ſehr ſündhaft geweſen war, ſo 
wurde die Rute nur vielſagend geſchwenkt, die grauſam tiefe Stimme fragte: 
Könnt ihr beten?“ und kaum war es vollbracht, ſo praſſelten alle Ecken der Stube 
von Apfeln und Nüffen und den andern geheimnisvollen Herrlichkeiten feines un- 
etgründlichen Sackes. 

Jeden Tag wurde man etwas gewiſſer über Weihnachten. Jemand ging mit 
einem goldnen Finger umher, als ſei er am Throne der heiligen Dreifaltigkeit ab- 
gefärbt; ein anderer erkundigte ſich, wie es mit dem Weihnachtshahn ſtehe, der, 
ſchneeweiß, aus Hirſehäufchen den jungen Mädchen ihren Liebſten wahrfagen 
ſollte. Die Tür zur beſten Stube durfte bei Todesſtrafe nicht mehr aufgemacht 
werden; in der Schule wurden die Wunſchbogen, herrlich mit Gold und gepreßten 
Bildern verziert, bebend vor Verantwortlichkeit und mit einem ſich immer ſchwärzer 
färbenden Zeigefinger mit dem Weihnachtsgedicht beſchrieben, und eines Morgens, 
o Glad, lag in dem kleinen roten Schuh unter dem Bett eine ſüße himmliſche Gabe. 
Es war immer eine Tier- oder Menſchengeſtalt aus einem wunderbaren, weißen 
Zucker, der vollkommen wie Schnee oder Eis ausſah, um ſehr viele hilfreiche Holz- 
ſtäbchen herumgeformt, mit einem zähen, roten, lackartigen Guß, der Augen, 
Schnäbel, Knöpfe oder Zügel zu bezeichnen hatte. Nie wieder im Leben habe ich 
dieſe wunderbaren, eisartigen Gebilde geſehen, geſchweige denn gegeſſen. Wie 
himmliſches Manna zerſchmolzen fie im Munde. Überhaupt alles, was man in 
jenen Wochen an beſcheidenen oder mehr koſtbaren Leckereien verehrt erhielt, hatte 
Tier- oder Menſchengeſtalt. Damit hatte der heilige Chriſt einſtmals, um es feinen 
neuen Anhängern, den Germanen, nicht allzuſchwer zu machen, einen Brauch ihrer 
Väter aus der Julzeit, als fie den goldborſtigen Eber aus ſüßem Teige buken, lieb- 
reich geſegnet, und in feine eigene Feier hinübergenommen. Dies alles wußte ich 
freilich damals nicht. Und ich ahnte nicht, wie manches Tröpflein Heidenblut auch 
in mir noch warm und lebendig war. | 

Dann kam der ehrenvolle Tag, an dem man eingeladen wurde, beim Lefen der 
Rofinen und Auspellen der Mandeln zu helfen, und das Mohnſtampfen in dem 
alten rieſenhaften Meſſingmörſer mußte auch vor ſich gehen. Denn die Chriſtſtollen 


222 Kraze: Weihnachts ſtimmung 


waren in Sicht — wir nannten ſie Striezel — und noch bedeutungsvoller und 
eigentümlicher waren die Mohnklöße. Zwieback in ſehr ſüßem Roſenwaſſer ge- 
weicht, gehörten dazu, und ſie mußten ſamt Mohn vorher einmal gefroren ſein, 
ehe man ſie eſſen durfte, dann lagen ſie wie ein Haufen eiskalter Steine im Magen, 
ganz anders wie die Pielbeeren (Vogelbeeren), die auch erſt Froſt bekommen müſſen, 
um einen Schnaps zu ergeben, der roſenrot und heiß iſt wie das Leben ſelber. 
Aber wie es auch damit war, ein Weihnachten ohne Mohnklöße und Karpfen 
wäre eine völlige Undenkbarkeit geweſen. Eigentlich machte mir die polniſche Sauce, 
aus Pfefferkuchen und Bier bereitet, neben dem Fiſchgeruch, jedesmal etwas übel 
im Magen, ſo daß ich, um am heiligen Abend nicht direkt Märtyrer ſein zu müſſen, 
immer ein Paar Bratwürſtchen extra erhielt. Aber gerade dieſen beklemmenden 
Geruch hätte ich nicht miſſen mögen zu Weihnachten, um nichts in der Welt. Und 
auch hieran war das Tröpfchen Heidenblut ſchuld, obwohl man die ganze Zeit von 
himmliſchem Glück wie vergoldet umherging, und alle Inbrunſt auf das Kripplein 
wartete. Aber hatten nicht unſere Vorfahren zu jedem Julfeſt Klöße gegeſſen und 
Fiſch! Eigentlich gehörten ſogar neun Gerichte zu dem Feſte der Winterjul, wenn 
man nicht im folgenden Fahr eitel Unglück und Armut erleben wollte. Auf den herr 
lichen Goldborſtigen hatten wir ja längſt verzichtet, auf den Grünkohl, die Linſen, 
die Grütze, den Hirſebrei; nicht einmal Buttermilch wurde getrunken und damit 
allen Kopfſchmerzen für das Jahr Abſage gegeben. Aber die Klöße und der Karpfen 
waren doch wohl beizubehalten. Und unendlich armſelig kamen mir die Leute vor, 
die Heringsſalat am heiligen Abend aßen, bis ich viel ſpäter begriff, daß auch fie mit 
dem Fiſch dem alten Gulbraud Treue erwieſen. 

Ich will heut gar nichts erzählen vom Gang durch die ſternüberfunkelte Nacht 
zu der kleinen Kirche weit draußen im Schnee, mit den vielen brennenden 
Wachsſtocklichtlein der uralten Mütterchen, neben die ebenſo uralten Gebetbüͤcher 
geklebt, und vor dem Altar das Wunder der heiligen Geburt. Oder von dem Augen- 
blick, wenn daheim die Glocke klang, und die Tür tat ſich auf vor dem brennenden 
Chriſtbaum: dieſes find Augenblicke, in denen ein Kinderherz faſt zerbricht von 
einem Glück, das verhüllt und namenlos hinter allem Sichtbaren ſteht, und nicht 
von dieſer Welt iſt. All das erſchöpft ſich nicht in ein paar Worten. Aber davon 
möchte ich noch erzählen, wenn das ſchneeweiße, feſtliche Tiſchtuch ſorglich an den 
vier Zipfeln hochgehoben wurde, um etwa vertrümeltes Brot oder Feingebäck in 
den Garten hinauszutragen und den Bäumen hinzujhütten, daß auch fie Ehrift- 
nacht feiern möchten und den Menſchen mit Frucht lohnen für ihr liebreiches Ge- 
denken. Noch unendlich viel gab es, was dieſe Nacht ſo heilig und feierlich machte, 
daß es auch heut wieder blühende Wirklichkeit wird, obwohl die Großſtadt, der 
Krieg und viele Lebensjahre und Wanderungen und Wandlungen dazwiſchenſtehen. 
Wie angſtvoll z. B. wurde auf Treu, den Hund, aufgepaßt, daß er in der Chriſt- 
nacht nicht hinauslief, denn ſonſt ſtarb doch einer aus dem Hauſe im Lauf des Jahres. 
Alle Waſchzuber mußten randvoll in der Küche ſtehen; eine Schüffel mit Grütze 
mußte auf den Tiſch geſtellt werden, und von Abend bis Morgen durfte das Feuer 
im Ofen nicht verlöſchen, damit die Toten, die auf Wanderſchaft in der Chriſtnacht 
dieſes Haus als Gäſte ehrten, Speiſe und Trank fanden und ſich wärmen konnten. 


Wisled-Fhle: Bechnachtslegende 225 


Rie bin ich darüber hinweggekommen, daß ich kein richtiges Sonntagskind war, 
wiewohl herrlich genug geboren in der letzten Nacht der geheimnisvollen „Zwölfe“, 
mit dem ganzen Myſterium und allem Zauberſpuk getränkt aus Urväter Zeiten her, 
und dennoch geradenwegs in den heiligen Dreikönigstag hinübertretend. Aber wie 
gut hatten es doch die ganz richtigen Sonntagskinder! Wurde nicht flüfternd erzählt, 
daß zwiſchen elf und zwölf das Vieh im Stall das heilige Kind anbetete und weis- 
ſagend ſich unterredete! Aber wenn jemand zuhörte, der an einem gewöhnlichen 
Vochentage geboren war, fo mußte er ſterben. — Nun, dies konnte einem zuletzt 
doch kein Schickſal rauben, ob Sonntagskind oder nicht, ich weiß es gewiß: das 
Vaſſer, das wir aus dem Orachenbrünnlein ſchöpften um ee, es u 
wie der Wein auf der Hochzeit zu Kana. 


Weihnachtslegende 
Von M. Witzleb⸗Ihle 


In pay er Zeit, da früh der Abend dunkelt 
ndet eine alte Weihnachtsmär —, 

Entfendet Gott der Herr fein Engelsheer 

Zum Stern, der über Bethlehem gefuntelt. 


Und jeder Engel trägt mit frommer Hand 
Ein Licht, das er am Sternenglanz entzündet, 
Dann wendet er den fanften Flug und findet 
Auf dunklem Weg hinab zum Erdenland. 


Dort wandeln durch die Menſchen, ungeſehn, 
Die Himmliſchen mit ihren Strahlenkerzen, 

Dod wem fie nah' n, dem iſt ein Licht im Herzen 
So jäh entbrannt, als fei ein Glid geſchehn. 


Vielleicht wird dir der Engel heut begegnen 

Vielleicht durchſtrahlt dich heut fein lichter Sein AAN 
O laß des Herzens Türe offen fein, 

Sonſt geht er weiter, ohne dich zu fegnen! 


Das Traumgeſicht 
Von Margarete Huch 


einer rauhen Dezembernacht, gegen Weihnachten, ward in der Hütte eines 
armen Mannes ein Kind geboren. Es war ein Mädchen. 

Oer Vater hielt einſame Krankenwacht. Die hilfsbereiten Nachbarinnen waren 
ſchon wieder fortgegangen und die weiſe Frau in ein anderes Dorf geeilt, wo man 
ihrer Hilfe bedurfte. 

Oer Vater freute ſich nicht. Er ſaß gebückt in der Stube und wie zufammen- 
geſunken vor Kummer. Das Kind war ein Spätling. Diele Kinder waren ihm ſchon 
vorangegangen und die größere Hälfte noch im erſten Lebensjahre geſtorben. 
Das jüngfte lebende Kind vor dieſem Spätling war ein Knabe und war ſchon zehn 
Jahre alt. 

„Vielleicht ſtirbt es auch,“ ſagte der Mann vor ſich hin, „und gut wäre es ihm, 
wenn es ſtürbe.“ 

Da war es, als hätte die Mutter die Worte gehört. Sie tat einen tiefen Seufzer, 
fo tief und ſchwer, daß ihn der Mann in feinem ſpäteren Leben nicht mehr ver- 
gaß. Es war, als käme er aus den letzten Kammern des Herzens, wo die Mütter 
allen Vorrat ihrer Liebe aufbewahrt haben, die ſie den Kindern einſt ſchenken 
wollen. Und mit dieſem Seufzer hauchte ſie ihre Seele aus, ſtreckte ſich lang und 
verſchied. 

Der Mann hatte wohl den Seufzer gehört. Er ging ihm bis tief in feine eigene 
Seele hinein und durchfuhr ihn, als ſpuͤrte er ihn im Körper, vom Kopf bis zur Zehe. 
Aber er hatte nicht geſehen, wie ſeine Frau ſich verwandelt hatte und daß ſie mit 
dieſem Seufzer geſtorben war; denn es war dunkel in der Stube und nur ein mattes 
Lämpchen beleuchtete einen kleinen Kreis. Als der Mann nun den ſchweren Seufzer 
gehört hatte, wagte er ſich erſt recht nicht zu rühren, denn er machte ſich Vorwürfe, 
als habe er mit ſeinem unbedachten Worte die Seele ſeiner Frau aufgeſtört, die er 
im Schlafe wähnte. 

Darum ſaß er noch ſtiller und zuſammengeſunkener auf ſeinem Stuhle. Und 
ſchließlich ſchlief er vor ubergroßem Kummer und tiefer Betrübnis ein. 

Als der Mann aber eingeſchlafen war, öffnete ſich ſeine Seele im Traume, und 
er ſah umher. Da ſah er dieſelbe Stube, in der er eingeſchlafen war, und das Bett 
der Frau und daneben in einem Wäſchekörbchen, mit Kiſſen umdeckt und geſchützt, 
das neugeborene Kind. 

Aber mit einem Male ſah er alles viel heller, als er es im Wachen in der dunklen 
Stube geſehen hatte. Es war gar nicht, als wäre die Stube drückend und arm. Er 
ſah auch die Frau im Bett liegen. Und es war gar nicht, als läge da die Frau eines 
armen Tagelöhners. Sie hatte keine Runzeln oder Falten im Geſicht. Nichts war 
an ihr, das bedrückt ausgeſehen hätte oder vom Leben geſchlagen oder arm. Still 
und feierlich lag ſie da, die weiße Binde um ihre Stirn, die man in dieſer Gegend 
den Wöchnerinnen gab — voll ſtiller Würde und ſchön. 

Der Mann fragte ſich, warum er nicht immer ſein Weib ſo ſchön geſehen habe, 
denn es hatte ſich doch nichts verändert. Hatte er denn nur das abgetragene Kleid 


Huch: Das Zrammgeficht 295 


geſehen und die rauhe und übermäßige Arbeit und das dunkle Wolltuch, das fie 
dabei um den Kopf trug? Hatte er denn noch niemals richtig ſein Weib geſehen? 

Und wie der arme Mann ſo ſein Weib im Traume ſah, erfaßte ihn eine heiße und 
überſtrömende Liebe zu ihr. Er wollte zu ihr hineilen und niederknien am Bett und 
die Hand ergreifen, die ſchlaff Über den Bettrand hinüberhing, und er wollte die 
Hand mit Küſſen und Tränen bedecken, was er doch nie getan hatte in feinem Leben. 
Denn Worte hätte er nicht zu finden gewußt für feine überſtrömende Liebe. 

Aber als er hinübereilen wollte zum Bette der Frau, da konnte er nicht. Irgend 
ein Band hielt ihn mit amet gefeſſelt auf feinem Stuhle nahe dem Ofen in 
der entfernteſten Ecke. 

Mit einem Male tat ſich die Türe des Zimmers wie von ſelbſt auf, und ein Accht⸗ 
ftom floß herein und floß auf das Bett der Frau und verklärte fie. Und in dem 
Achtſtrom ſchritt ein Engel auf die Frau zu. Der Engel blieb vor der Frau ſtehen 
und ruͤhrte ſich nicht und ſchaute ihr unverwandt ins Geſicht. Es war, als könne er 
ſich nicht ſattſehen an ihren Zügen. Dann aber verneigte ſich der Engel dreimal nef 
bis zur Erde, und die Geraphsfliigel bedeckten das Bett der Frau. 

„Vas iſt dieſes?“ fragte ſich der Mann im Traume. „Der Engel tann ſich nicht 
ſattſehen an dem i meiner Frau, und dreimal verneigt er fic vor ihr bis zur 
eErxde. . 

Und wie er ſo zu ſich ſprach, erfüllte ein großes Entzücken ſeine Seele, daß ſeine 
Frau fo geehrt werde von dem Engel. Zugleich aber fühlte er, daß er nicht hinüber- 
firme in das Licht, daß er noch unbeſchienen und dunkel fei und viel zu ſchwer, um 
ſich dieſem zu nahen. Und obgleich ihn nur wenige Schritte von dem Lichte trennten 
und von dem Bett ſeiner Frau, ſo war es doch, als teen diefe wenigen Schritte ein 
Abgrund oder eine Welt. 

Da ließ er ſich im Traume von dem Stuble fallen, denn weiter tonnte er ſich 
nicht erheben, und kniete nieder auf die Erde und ſtreckte voll Sehnſucht die Arme 
nach dem Lichte aus, und die Tränen rannen ihm wortlos über die Wangen. 

Als der Mann fo in feinem Schmerze und feiner Sehnſucht derfloß, wandte ſich 
der Engel zu ihm und ſprach: | 

„Was begehrſt du?“ | 

Da der Mann aber gewahrte, daß der Engel ſich zu ihm gewandt hatte, ja, daß 
der Engel es nicht verſchmähte, ihn anzublicken und drei Worte an ihn zu richten, 
da warf er ſich im überquellenden Gefühle ſeiner Dunkelheit und Unzulänglichkeit 
mit dem Angeſicht auf den Boden und ſein Weinen ging über in ein Schluchzen. 

Nichts begehre ich, Herr, nichts!“ rief er zwiſchen ſeinem Schluchzen und wieder⸗ 
holte es immer wieder, als wollte er mit dieſen Worten ſagen: „Was bin ich, daß ich 
begehren kann!“ Und er erhob fein Angeſicht nicht von der Erde, denn er glaubte, 
nicht würdig zu fein, das Angeſicht eines Engels zu ſchauen, das weißer fein müſſe 
als die Sonne und das ihn töten würde in ſeinem Glanze. 

Da ſprach der. Engel zu ihm: „Blicke auf!“ Und der Mann gehorchte willenlos, ete 
bob fein Geficht von der Erde und blickte empor. 

„Begehre,“ ſprach der Engel, „denn ich habe dein ſtummes Bitten vernommen.“ 

Als der Mann dieſe Worte hörte, wollte er reden, aber nur ein Lallen kam über 


226 Huch: Das Traumgeſich 


ſeine Zunge. Da ſtreckte er in großer Sehnſuchtsgebärde ſeine Arme aus nach dem 
Bette feiner Frau, das der Engel mit feinen Flügeln vor feinem Angeſichte ver- 
deckte. Und auf einmal erhellte ſich ſein Geiſt, und er wußte, was er bitten ſollte, 
und da war feine Zunge gelöft. 

„Herr, — ihr alles!“ rief er — „nichts mir!“ 

Und nach dieſen Worten warf er ſein Angeſicht dreimal zur Erde nieder. 

Dieſes aber war es, was er ſagen wollte und doch nicht Über feine ſchwere Zunge 
brachte, denn abermals war ſie ihm wie gelähmt: „Immer meinte ich, ich ſei der 
Armſte unter den Armen. Aber habe ich ſie nicht nur angeſehen als meine Magd, 
die mir diente? Zwölf Kinder hat fie mir geboren und ich habe ihr nie gedankt, 
daß ſie mir die Kinder geboren hat. Ehe ich aufſtand vom Lager und zur Arbeit 
ging, war fie ſchon an der Arbeit und diente mir, und wenn ich zurückkehrte und 
Feierabend hielt, diente ſie noch allen bis in die Nacht. Ohne Raſt hat ſie gearbeitet 
und ohne Dank. Ich aber habe ſie noch geſchmäht, wenn ſie mir nicht eilig genug 
diente. Ich habe fie geſchmäht, daß fie nicht noch mehr Hände hätte, noch mehr Arme, 
noch mehr Augen, die doch ſchon Übermenſchliches tat, Herr, Herr — — fie, die 
du mit deinen Flügeln verdeckſt und die erhaben und unnahbar dort ruht! Wer 
bin ich, daß ich ſo tat — und wer iſt ſie??!“ 

Und der Engel vernahm, wie tief der Mann ſich demütigte vor feinem Weib und 
daß er fein Weib erhaben fühlte über feine Enge, feine Schwere und feine Ounkel 
heit. Und daß er ihr endlich danken und wohltun wollte für ihr ſchweres Leben. 

Da ſprach der Engel: „Nichts braucht dein Weib mehr! Alles iſt ihr gewährt.“ 

Als der Mann dieſe Worte hörte, war er froh und glücklich, obgleich er ihren Sinn 
nicht verſtand. 

Oer Engel aber ſprach noch einmal: „Begehre * 

Da beugte ſich der Mann noch einmal zur Erde und berührte fie mit ne Stirne 
und rief: 

„Nichts mir — Sere — alles ihrem Kinde!“ 

Da ſprach der Engel: „Blicke auf!“ Und der Mann gehorchte willenlos und blickte 
empor. Und er ſah, wie der Engel feinen Arm emporhob in der Bahn des Lichtes. 
Und jemand, den er nicht ſah, reichte ihm ein brennendes Herz. 

„Was halte ich in meiner Hand?“ fragte der Engel zu dem Manne. 

„Herr,“ erwiderte der Mann, „ein brennendes Herz.“ 

„Sieh,“ ſprach der Engel, „wie es nun klein wird in meiner Hand!“ 

Und der Mann ſah, wie das Herz kleiner wurde in ſeiner Hand und wie die 
Flammen, die daraus hervorbrachen, in dem Herzen verſänken, daß nur noch ein 
Lichtlein über ihm blieb wie ein kleiner Stern. 

„Ich will das Herz in das Herz deines Kindes ſenken“, ſagte der Engel. „Hüte es, 
daß die Flamme nicht erliſcht!“ 

Und der Mann ſah, wie der Engel die Bruſt des Kindes öffnete und das Herz 
darein verſenkte. Und als der Engel die Bruſt des Kindes wieder verſchloß, fab er 
den Stern am Herzen noch hindurchleuchten wie einen kleinen Diamanten. 

Da füllte das ganze Zimmer ein Raufchen, der Engel verſchwand, und der Mann 
erwachte. 


Hud: Das Traunmmgeficht 22 


Als der Mann aber erwacht war und umherblickte, bemerkte er, daß das Zimmer 
dunkel geworden war. Das kleine Petroleumlämpchen, das auf dem Tiſche ge- 
ſtanden hatte, war erloſchen. Von der einen Ecke des Zimmers her aber flimmerte 
noch ein rotes Licht. 

Der Mann mußte ſich beſinnen, wo das rote Licht her ſcheine und was es ſei. 

Da kam ihm die Erinnerung, daß die Hebamme, als die Frau in den Wehen lag, 
ein Ollichtlein angezündet hatte nach einem frommen Brauche — ein Olkerzchen, 
das in einem roten Glaſe ſchwamm, und daß fie dieſes auf das Altärchen geftellt 
hatte, das von den Leuten in einer Zimmerecke aufgebaut war. 

Dort brannte das Lichtlein vor dem Kreuzbilde und einer Figur der Madonna 
mit dem Kinde. Zwei Engelsfiguren mit Flügeln aber knieten rechts und links vor 
dem Bilde der Muttergottes. 

Dem Manne kam in den Sinn, daß auch zwei geweihte Kerzen in Leuchtern dort 
fanden. Und er erhob ſich von feinem Stuble, noch ganz vom Banne feines Traum; 
geſichtes umfangen, und ſchritt auf das rote Lichtlein zu. Da taſtete er nach den 
Leuchtern rechts und links und ergriff die Leuchter und zündete die geweihten 
Kerzen an dem roten Lichtlein an, das für die Weheſtunden feiner Frau entzündet 
worden war. 

Mit den beiden brennenden Leuchtern aber ſchritt er leiſe und behutſam zum 
Bette ſeiner Frau, und es war ihm, als hörte ſein Herz dabei auf zu ſchlagen. 

Er hielt die Leuchter über den Kopf ſeiner Frau und ſah, daß ſie bleich dalag und 
ruhig und ſchön — wie er ſie im Traume geſehen hatte — — aber er erkannte, daß 
ſie tot war. 

Und er leuchtete mit den Kerzen nach dem Kinde, das im Wäſchekörbchen lag, und er 
ſah, wie es ſeine Händchen feſt an die Ohren drückte und rot war und ruhig atmete. 

Da ſtellte der Mann die beiden Kerzen auf das Tiſchlein, das am Kopfende des 
Bettes ſeiner Frau ſtand. Sich ſelbſt aber warf er auf die Erde nieder zwiſchen dem 
Bett ſeiner Frau und dem Körbchen ſeines Kindes und warf ſein Angeſicht zur 
Erde und betete, bis die Nacht zu Ende war. 

Am Morgen kamen die hilfsbereiten Nachbarinnen und wollten nach der Wod- 
nerin ſchauen und nach dem Kinde und dem Manne. Aber als ſie die beiden Lichter 
noch brennen ſahen, wurde ihnen beklommen ums Herz. 

Die erſte trat ans Bett und ſchaute fie ftill an und fühlte ihre herabhängende 
gand und ſagte: „Sie iſt ſchon kalt.“ 

Da begannen die Frauen zu weinen aus Mitleid mit der Frau, dem Kinde und 
dem Manne. 

Als ſie ſich aber dem Manne zuwandten und ihm die Hand drücken und einige 
Troſtworte ſagen wollten, da gewahrten ſie, daß der Mann ein Leuchten in den 
Augen hatte und daß er wie verklärt war in ſeinem Schmerz. 

Da ſagte die eine: „Gott tröſte dich“ und die andere ſagte: , Gott iſt mit dir, 
was. kann noch unſer Troſt verfangen“. Und fie drüdten ihm faſt mit Ehrfurcht und 
Scheu die Hände. 

Und der Mann ſprach, und es war, als wäre es die Stimme eines heiligen Greiſes: 
„Er iſt mit ihr und Er iſt mit mir und Er wird auch unſer Kind nicht verlaſſen!“ 


Wunder im Budladen 
| Von Max Jungnickel 


n einer Straße der Weltſtadt iſt eine Buchhandlung. Hinter der Fenſterſcheibe 

ſteht, zwiſchen ſchönen Bücherbergen, eine Madonna mit dem Kinde, von 
den drei Weiſen aus dem Morgenlande umkniet. Der Bildhauer gab ihr einen 
großen Heiligenſchein. Er ſah dieſe Madonna in den Abendwolken ſchweben, da⸗ 
mals, als er auf der Landſtraße wanderte und eine Frühlingsblume zwiſchen ſeinen 
Zähnen wippen ließ. Daheim, in feiner dunklen, hungrigen Stube, hat er fie ge 
zaubert. 

Nun ſteht ſie im Ladenfenſter, dort wo die große Stadt braut und brüllt, kocht 
und brodelt. Die Bücher um ſie herum lehren und ſingen, erzählen und lachen, 
predigen und weisſagen und verkündigen, mit großen Worten, ein neues Heil. 
Maria aber ſitzt da wie aus einem Himmelstraum entſtiegen. Und wie ſie mit 
zartgeſenktem Kopf auf ihr Kind blickt, da iſt's, als ob der weiſe Weihnachtsgott 
ſeine ewigen Lieder in ihre Seele ſinken läßt. 

Oer Froſt klirrt. Vor der Scheibe drängen ſich die Menſchen, Männer und Frauen. 
Arm und reich, frierend und ſatt, Proteſtanten und Katholiken, Germanen und 
Juden, Oeutſchnationale und Kommuniſten. Alle ſtaunen fie die Madonna an. 
Das Lächeln der Mutter Gottes bindet ihre entzweiten Herzen wieder zuſammen. 
Auf ein paar Minuten umarmen ſich ihre Seelen unter dem Lächeln der Madonna 
im Buchladen. Wie verzaubert ſtehen ſie da. Sie ſind ja alle wieder Brüder und 
Schweſtern geworden — — auf ein paar Minuten ... Über die Straße kommt 
eilig, mit ſchleifenden Sohlen, ein Blinder. Es iſt, als ob ſeine toten Augen vom 
Wunder im Buchladen angeſtrahlt würden | 


Die Flucht nach Agypten 
| Von Ernft Ludwig Schellenberg 


Sie flohen, flohen in die Nacht der Fremde 

— Hoch ſchlug des Kindermordens geller Brand —, 
Der Eſel aber zauderte und ſtemmte 

Die Hufe ſtur und ſtutzig in den Sand. 


Ach, die begriffen s wohl; denn Grauen hemmte 
Sehnſucht nach ſeines Stalls geweihter Wand; 
And ſelbſt das Kind bezeigte ſich und kãmmte 
Die ſanfte Kruppe mit getrofter Hand. 


dann, als der Tau und Schlaf die Müden ſtreifte, 
Umreigte fie der Englein flinker Kranz. 
Und eins umfing des Grauen Kopf, der ſteif ° 


Und hungernd lag, und fpcifte ihn vom Glan 
Des Wunderſterns, der wie ein Fruchtkern rei 
Am Heimathimmel aufbrach und ſich ſchweifte. 


Daheim 
Ein Stimmungsbild aus der Adventszeit 


Ef duftet nach Weihnachten hier im Zimmer, denn über dem runden Tiſch, an dem ich ſitze, 
hängt der ſelbſt gebundene Adventskranz mit vier dicken Tannenzapfen, vier roten Apfeln 
und vier Lichten. Auf allen Tiſchen und Tiſchchen des Zimmers ſtehen Vaſen mit Cannengrin, 
und der weihnachtliche Duft dringt mir tief ins Herz hinein und weckt heimatliche Erinne- 
tungen 

Daheim! Als Kind war ich in meinem Elternhauſe wahrhaft daheim, und es iſt mir unver- 
geßlich, wie oft mein Vater ſagte: „Das Wort ‚Daheim‘ oder ‚Heimat‘ iſt kerndeutſch. Man 
findet es fo in keiner andern Sprache und kann es deshalb nie ganz genau überſetzen.“ Diefer 
ausſpruch meines Vaters hat mir ſchon als Kind einen tiefen Eindruck gemacht; und vielleicht 
derdanke ich es ihm, daß ich nicht nur das Wort, ſondern auch den Begriff „daheim“ fo tief emp- 
funden habe, und zwar als etwas ganz beſonders kennzeichnend Oeutſches. 

Jetzt bin ich nicht mehr im Elternhauſe, bin Frau und Mutter und habe ein eigenes „Daheim“. 
Und ich mochte in meinem Töchterchen ein ebenfo ſtarkes und deutſches Heimatgefühl wecken 
und pflegen, wie ich es aus meinem Elternhauſe mit ins Leben hinaus genommen habe. Das 
iſt heutzutage viel ſchwerer als vor dreißig Jahren. Damals hatten die Menſchen ſo viel mehr 
innere und äußere Rube, und „Nerven“ kannte man kaum. Heutzutage iſt das Leben eines 
jeden einzelnen Menſchen ſo randvoll mit Arbeit ausgefüllt, daß kaum Zeit für irgend etwas 
anderes bleibt. Aber ein wenig Zeit muß man übrig haben, um Atem zu ſchöͤpfen, um friſche 
Kräfte zu ſammeln, um ſich zu freuen! Dazu nehme ich die Sonntage, und ganz bewußt geſtalte 
ich ſie zu beſonderen Tagen, auf die ſich mein Töchterchen die ganze Woche hindurch freut. Und 
im Winter dienen mir die Sonntage dazu, dem Kind den deutſchen Begriff des Wortes 
daheim“ tief ins Herz zu prägen. 

Aber auch manchen Arbeitstag der Woche kann man zu einem heimatlich- ſtimmungsvollen 
Freudentage für das Kind geſtalten. 

Wie wunderbar heimelig iſt doch die Vorweihnachts- Stimmung! Das Felt der Liebe 
naht! Die Luft hängt voll Aberraſchungen, die von liebenden Herzen vorbereitet werden; gar 
emſig wird allerhand gebaſtelt und geneſtelt, das man zu Weihnachten verſchenken will. Das 
Herz iſt fo voll Freude! Überall daheim ift’s warm, hell und gemütlich. Selbſt in der Küche 
empfindet man fo einen eigenen Zauber, wenn die Mutter den Teig für die Pfeffernüſſe an- 
rührt, wobei das Töchterchen helfen darf, die Zutaten in die Schüſſel zu ſchütten. Ja, und dann 
probiert man den rohen Teig, der fo viel beſſer ſchmeckt als die fertigen Pfeffernüſſe, fo dak 
man gar nicht begreift, warum ſich die Erwachſenen immer noch die Mühe des Backens machen! 

Doch — halt! Jetzt kommt Auguſte, das alte Faktotum des Hauſes, und tut ſehr grimmig, 
weil Nlein-Roſe Sophie fo viel rohen Teig gegeſſen hat. Auguſte nimmt ſehr energiſch die 
Schuͤſſel und bringt fie in Sicherheit; aber wie oft noch in den nächſten Tagen, wenn Auguſte 
gerade nicht da iſt, ſchleicht ſich mein Töchterlein, unter meinem Schutze, zur Schüffel, und 
heimlich, ganz heimlich, naſchen wir beide von dem verbotenen Teig, denn ich habe natürlich 
ebenſo große Angſt vor Auguſte wie Klein- Roſe Sophie! 

Dann kommt der große Tag, an dem der Teig ausgerollt wird. Mein kleines Mädel darf die 
Figuren ausſtechen: Sterne, Herzen, Männer, Frauen und allerhand Tiere! Oh, das ift köſtlich! 
Und dann wird alles gebacken. Die Ride iſt beſonders warm, und die Bäckchen meiner Rleinen 
jind fo rot wie Weihnachts äpfel, teils durch die Nähe des Herdes, teils vor lauter Eifer und 


230 Daheim 


Freude. Wenn die Pfeffernüffe vom Blech heruntergenommen werden, gehen fie manchmal 
entzwei. Die zerbrochenen Stücke wandern in den Mund des Kindes und bewirken jedesmal 
ein dankbares Aufleuchten der großen Blauaugen. 

Sa, und dann die Sonntage! Roſe-Sophie hat eine ganze Reihe von Freundinnen. Die 
darf fie ſich zu den Winter -Sonntag-Nachmittagen einladen, denn fie hat keine Geſchwiſter, und 
man mochte doch fo gern auch andern von der eigenen Freude etwas abgeben. Schon bald nach 
dem Mittageffen kommen fie, denn der ſchöne Nachmittag muß voll ausge koſtet werden. Dann 
bringe ich die Schokolade herein, und alles ſetzt ſich um den großen, runden, urgemütlichen Tiſch. 

„Rinder,“ ſage ich, während ich die Taſſen voll ſchenke, „ich habe diesmal das Tiſchtuch von 
der vorigen Woche behalten, denn am letzten Sonntag habt ihr mir lauter Schokoladenflecke auf 
das reine Tuch geſpritzt.“ Welch froͤhliches Lachen antwortet rings um den Tiſch, denn noch 
wahrend meiner Worte hat ſich ein Strahl Schokolade aus meiner Kanne auf das Tiſchtuch 
ergoffen. „Daran hat naturlich Dorden ſchuld“, ſage ich, denn Oorchen, mit den Schelmen augen, 
ſitzt am weiteſten von mir entfernt, und wieder tönt das fröhliche Lachen um den Tiſch. So find 
wir gleich in der richtigen Stimmung: des Lachens, das aus der Herzensfröhlichkeit emporblitzt! 

Nach der Veſper werden die Lichter am Adventskranz angezündet und auch all die andern 
Kerzen im Zimmer: auf den Leuchtern an der Wand, an dem Klavier, in jeder Dafe voll Tannen 
grün ſteckt eine Kerze. Das gibt ein Leuchten, fo weihnachtlich- froh! Das ſpiegelt ſich in hellen 
Kinderaugen und ſtrahlt mir tief ins Herz. Ich hole meine Gitarre, und nun ſingen wir all 
unfere fchönen, alten, deutſchen Weihnachtslieder. 

Habt ihr ſchon einmal beobachtet, wie ſich das Geſicht eines Menſchen verändert, wenn er 
fingt? Alles Häßliche, Unharmoniſche verſchwindet, Sorgenfalten glätten fid, und die Züge find 
ganz verklärt und fo verſchöͤnt, daß man ſich kaum fatt dran feben kann. Ach, und nun erft all die 
ſingenden Rindergefidter! Zch ſchaue von einem zum andern, und das Herz wird mir warm. 

Gar {din klingt der Chor, denn es find einige recht muſikaliſche Mädels darunter, und ein 
jedes Lied wird zwei- oder dreiſtimmig geſungen. Das macht mich fo froh, denn ich meine, die 
Muſik gehört zum Oeutſchtum, fie gehört zur deutſchen Weihnachtszeit, und fie gehört zum 
„Daheim“, wo ſich das deutſche Herz freut. 

Zetzt find die Lichter am Adventskranz faſt herunter gebrannt. Yc zünde die Lampe über dem 
runden Tiſch an, und die Kinder Dürfen alle Kerzen ausblaſen. Zuerſt aber halten fie noch einige 
Tannenzweige darüber. Das kniſtert fo geheimnisvoll, und dann duftet die ganze Stube nach 
Weihnachten. Nun holen ſie alle ihre Weihnachtshandarbeiten, und emſig wird geſtickt, gehäkelt 
oder geftridt. Dazu leſe ich ihnen etwas vor: Johanna Spyri „Vom Thies, der doch etwas 
wird“ oder „Was Sami mit den Vögeln ſingt“, und wie fie alle heißen, dieſe liebe und gemüt- 
vollen Erzählungen, an denen ich wohl ebenſo viel Freude und Genuß habe wie die Rinder. 

Die Zeit vergeht wie im Fluge. Plötzlich iſt es / 7 Ahr. „Wann müßt ihr nach Haufe?“ frage 
ich. „Um 7 Uhr!“ tönt’s im Kreiſe. „Oh!“ ruft mein lebhaftes Töchterchen, „dann iſt noch eine 
Diertelftunde Zeit! Mutti, bitte, bitte, erzähl uns noch einen Schwank aus deinem Leben!“ 
ad unterdrüde ein Lachen über die originelle Ausdrucksweiſe meiner Kleinen. „Ach ja, bitte, 
bitte!“ echot es in der Runde, und fo erzähle ich denn noch einige kleine Exrlebniffe aus der eigenen 
Kindheit. Nur ſchwer trennt man ſich um 7 Uhr, und ich freue mich noch beim Abſchied über 
das Nachleuchten der Freude in den Kinderaugen. 

Unſere Sonntage find aber nicht alle gleichförmig. Meine kleine Roſe Sophie mit ihren 
vielerlei Einfällen ſorgt auch mit für Abwechſlung. Neulich hat fie ein „Orama“ geſchrieben: Die 
verzauberte Prinzeſſin Roſalinde. Das muß natürlich an einem Sonntag aufgeführt werden. 
Zwei der Kinder und ich bilden das Publikum, die übrigen find die Mitſpieler. Eine große Reife- 
decke, zwiſchen zwei Stühle gefpannt, iſt die Bühne. Dahinter hocken die mitſpielenden Kinder, 
die auf ihren Fingern die nach Rafperle-Art ſelbſt gefertigten Figuren halten. Sämtliche Röpfe 
find aus Kartoffeln geſchnitten, aus denen entzüdend bunte Stednabellnopf-Augen hervor 


Deutfhe Beihnachten an Bord elnes Kriegefchiifce 231 


leuchten. Der alte Graf Albrecht von Greifenſtein und Ritter Kuno tragen Samtbaretts mit 
Rebhuhn -Federn, Prinzeſſin Rofalinde iſt ganz in weißen Tüll auf roſa Untergrund gehüllt. 
che das Stuck beginnt, höre ich Hertha im Zlüfterton raunen: „Ach, du liebe Güte, nun iſt es 
ſchon wieder weg!" — „Was denn?“ fragt Roſe Sophie. „Ach, Ritter Kuno verliert immer fein 
eines Auge“ — „Bier iſt es!“ tönt ein Freudenſchrei — und nun beginnt die Vorſtellung. 

Mit Feuereifer find die Rinder dabei. Sie haben alle das „Drama“, das Roſe Sophie gewiffen- 
haft aufgeſchrieben hat, wortlich auswendig gelernt und ſprechen mit viel Schwung, wo es ihnen 
am Platze ſcheint. Fd ſelbſt aber habe meine ganz beſondere Freude ſowohl an dem Stück ſelbſt, 
dem erſten „Orama“ meiner Tochter, als auch an den Kindern. 

Ein andermal wird der Sonntag durch Weihnachtsengel verſchoͤnt. Exika bringt drei Paar 
Saͤnſeflugel mit. Roſe Sophie, Leni und Exika ziehen lange, weiße Gewänder an, darüber 
werden die Flügel befeſtigt. Das Haar wird aufgeldjt und ein goldenes Stirnband umgebunden. 
gn den Händen halten fie Tannenzweige. So kommen fie ins Zimmer und fingen ein Advents 


las: Leife riefelt der Schnee, 
Still und ſtarr liegt der See. 
Weihnachtlich glänzet der Wald; 
Freue dich! Chrifttind kommt bald! 


Go find unfere Sonntage daheim. Ach, dieſes traute, herzerwärmende Daheim! Zch ſelbſt 
empfinde dieſe Weihnachts Vorfreude als etwas fo Wunderfchönes, daß ich fie um keinen Preis 
der Erde miſſen möchte. Aber auch die Kinder haben fie gern, und mein eigenes * 
freut ſich von einem Mal zum andern und fagt dann abends mit tiefem Seufzer: „Ach, Mutti 
wie war das heute wieder ſchon !* 

das macht mich tief glidlid; und ich möchte wüͤnſchen, wenn fpäter einmal meine kleine 
Rose Sophie erwachſen iſt, und das Leben läßt fie nicht mehr immer nur lachen und fi freuen, 
ſondern ſtreut auch hie und da Dornen auf ihren Weg und wirft Schatten vor die Sonne, dann — 
ja dann möge fie an unfere Sonntage daheim zurüddenten, und diefes „Daheim“ mit all feiner 
Stimmung möge ſelbſt noch in der Erinnerung, ja, vielleicht gerade in der Erinnerung, mit 
warmen Strahlen nachleuchten und Freude auslöfen ! Ilſe Weſthoff 


Deutſche Weihnachten an Bord eines 
Kriegsſchiffes 


rüdend niedrig hängt der graue ODezemberhimmel über den trüben Fluten der Jade. 

Leiſe und weich ſchuͤttelt Frau Holle ſeit Stunden die weiße Schneelaſt auf die Nordjee- 

küſte nieder. Gurgeind, eintönig plätſchernd ſingt der ſtark laufende Flutſtrom fein uraltes ein- 
ſchlaferndes Lied. 

Lmienſchiff „Braumſchweig“ liegt wie eine gebändigte Dogge vor ſeiner Ankerkette, ſich mit 
weichem, wohligem Schlingern und Stampfen in der unruhigen Dünung wiegend, die hinter 
dem letzten ſchweren Nordweftiturm herläuft. Der wachhabende Unteroffizier hat durch einen 
jubenden Triller feiner Bootsmannsmaatenpfeife den tiefen Winterfrieden jäh unterbrochen, 
ſendet Lodrufe in die unteren Oecks des Schiffes und ruft dann den Befehl zur Morgenmuſterung 
aus. Achtern auf der Schanz erſcheinen einzelne Vorgeſetzte, um das Antreten der Diviſionen 
m überwachen. Die blanken Seemannsaugen der jungen Offiziere ſtrahlen freudig in den 
kalten Wintermorgen. Sie wiſſen ſchon, daß der Erſte Offizier als Dienft für den 22., B. und 
A. Dezember Vorbereitungen für den Heiligen Abend angeſetzt hat, und freuen ſich, ihren 


232 Deutide Weihnachten an Bord eines Rriegakpifies 


Mannſchaften dieſes Weihnachtsgeſchenk des Geſtrengen bekannt geben zu können, Aber der 
Burſche des Erſten Offiziers hat mal wieder nicht dicht gehalten, und fo wurde die „Über- 
raſchung“ ſchon in der Nacht von Weihnachtsengeln durch alle Räume des Schiffes gewiſpert 
und geflüjtert. 

Froh plaudernd treten die Leute an; einige Schneebälle fliegen hin und her, bis Kommando⸗ 
worte die Reihen erſtarren laſſen. Die Kehrtwendung beim Wegtreten fällt allgemein etwas 
ſchneidiger aus als ſonſt. Freudeſtrahlend in jagendem Durcheinander drängen alle durch die 
Luten die Niedergänge zu den Wohndecks hinab. Die Tiſche und Bänke werden ſchnell auf- 
geſtellt, überall in den nüchternen, kahlen Geſchützkaſematten beginnt eine emſige Tatigkeit. 

Die feit Tagen vom Kommandanten beſtimmte Weihnachtskommiſſion hat beim Cbriſt 
kindchen ſchon tüchtig eingekauft: Einige Zentner buntes Papier für Guirlanden und Blumen, 
reichlich hundert Weihnachtsbäume, Kiſten voll Silberlametta, Engelshaar, Glaskugeln, Lichter, 
Halter und Schneewatte werden an alle Tiſche verteilt. Nun entpuppen fich die Künftler unter 
den Mannſchaften, die mit einfachſten Mitteln wunderſame Papierblumen und herrliche Tam 
werftrdnge, rührend jchöne Ställe zu Bethlehem mit Krippen und allem Zubehör, dem Jefır 
kindlein, Maria und Joſeph, Hirten und Engeln erbauen. Andere malen die alte, ſchöne Weih- 
nachtsgeſchichte in mehreren Bildfolgen an die kahlen Wände; Küſtenlandſchaften, fturm- 
gepeitſchte Seeftiide entſtehen, ſinkende Schiffe und kenternde Boote angeſichts der rettenden 
Kuͤſte. Die weniger Geſchickten decken liebevoll mit bunten Flaggen die Geſchüͤtze und Munitions 
aufzüge zu, ſtellen Tiſche und Rijten auf, die, mit buntem Papier behangen, den Stahlkaſematten 
allmahlich eine mollige Einrichtung geben. Und dazu fingen fie alle mit ſchoͤnen, weichen Stim 
men Stunden um Stunden viele ſchwermuͤtig klagende Seemannslieder vom Abſchiednehmen 
und heißem Sehnſuchtsſchmerz, von gebrochener Treue und tiefem Wellengrab. Das Meer 
rauscht feine jahrtauſendalte Begleitung dazu. 


Die Offiziere baſteln derweil in ihren Kammern Weihnachtspaketchen für die Unteroffiziere 


und Mannſchaften. Damit einem jeden etwas Zweckentſprechendes, wonach fein Herz ſ ch fet 
Wochen ſehnte, geichenkt werden kann, durften fie alle v wie die Kinder daheim Wunſchzettel 
ſchreiben. 

So iſt langſam die fünfte Nachmittagsſtunde des 24. Dezember herangekommen. Eine fet 
frohe Stimmung hält die Herzen der Beſatzung gefangen. Die große Barkaß legt immer wiede 
den kurzen Weg zum Lande zurück, um die Frauen und Kinder der Verheirateten an Bord w 
bringen. Mit feligen, erwartungsvollen Augen drängen ſich die Kleinen an ihre Väter. Ken 
Fragen gibts wie ſonſt nach all den Geſchützen, Booten und Laternen. Nach und nach oer 
ſammelt ſich die ganze große Gemeinde in der Vorbatterie, die von geſchickten Händen mit 
Flaggen und Tannenbäumen für den Feſtgottesdienſt hergerichtet worden iſt. Ein einfache 
Altar, mit der alten geliebten Kriegsflagge bedeckt und mit Tannenzweigen geſchmüͤckt, nimm 
die Mitte des Raumes ein. Zu beiden Seiten erſtrahlen zwei große Weihnachtsbäume, mit 
Silberlametta, Schneewatte und bereiften Tannenzapfen geſchmückt, im Glanze der brenner 
den Weihnachtskerzen. Leiſe ſpielt die Kapelle die große Weihnachtsſymphonie, und andächtig 
verſinken alle in den immer wieder unvergleichlichen Weihnachtszauber. Es iſt rührend zu be 
obachten, wie die vom Pfarrer ſchlicht vorgetragene bibliſche Weihnachtserzählung auch dit 
rauheſten unter den Seeleuten, die alle Meere befahren haben, in vielen Stürmen und 6 
fahren dem Tode trotzend hart geworden find, tief bewegt. Erinnerungen aus längft ver 
gangener Kindheit werden wach, der Weihnachtsengel ſchwebt durch den Raum und eine 
gläubige Schar betet inbrünſtig mit dem Pfarrer zum gütigen Weihnachtsgott für alle die 
Kameraden, die jetzt da draußen in ftürmifcher kalter Winternacht auf hoher See ihren ſchweren 
Beruf erfüllen und vielleicht in diefer Nacht des Friedens in ſinkenden Booten mit dem Tobe 
ringen. Mit unſerem ſchönſten Weihnachtsliede: „Stille Nacht, heilige Nacht .“ klingt die lc 
liche Feier aus. 


— 


Maria mit dem Kind 


W. Jüttner 


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Ohne Märchen —? 233 


Nur zögernd, wie feftgebalten von dem unſagbaren Zauber, den die Weihnachtsfeier an Bord 
wie immer auf alle legte, begeben ſich die Mannſchaften in ihre Räume. 

Hier hat inzwiſchen Knecht Ruprecht viel tauſend Kerzen angezündet und die aufgeſtellten 
Teller mit Kuchen, Apfeln, Nüſſen, Apfelſinen, Feigen, Schokolade und andren Herrlichkeiten 
gefüllt, die er in ſeinem Sack hatte. Zigarren und Zigaretten hat er für ſeine großen Kinder 
nicht vergeſſen. Und jeder findet auf feinem Platz liebevoll eingepackt und verſchnürt die Er- 
füllung einer ſeiner Bitten, die er dem Wunſchzettel anvertraut hatte. Langſam löſt ſich der 
Bann. Die Kleinen werden lebhafter und hungrig, und bald ift alles in fröhlichſter Weihnachts- 
ſtimmung mit der Vertilgung der Süßigkeiten beſchäftigt. Kleine Kapellen intonieren ftim- 
mungsvolle Stückchen und Lieder. Der Kommandant geht mit feinen Offizieren durch alle 
Räume, bewundert gebührend die Kunſtwerke ſeiner blauen Jungens und findet für alle ein paar 
freundliche Scherzworte. Die jüngeren Offiziere ſetzen ſich zu ihren Mannnſchaften und der aus- 
gegebene Punſch zu dem reichlichen Abendbrot loft gar bald die Zungen zu gegenfeitiger Aus- 
ſprache. Die Verheirateten ſind längſt mit ihren Angehörigen an Land gefahren, um daheim 
im trauten Familienkreiſe den Weihnachtsabend zum zweiten Male zu begehen und ihre Kinder 
zu beſcheren. Froheſte Laune hält die übrige Beſatzung noch viele Stunden beifammen. .. 

Still ruht die Nacht. Ein ſternklarer Winterhimmel umſpannt die dunkle, ſchlafende Erde. 
Linienſchiff „Braunſchweig“ liegt ſtill vor ſeiner Ankerkette, von dem murmelnden Meer in 
Schlaf gewiegt. Ein ſeliger Friede iſt in alle Herzen eingezogen, und kinderglüͤcklich find die 
tauhen harten Männer ins Weihnachtstraumland hinübergeſchlummert. 

Topp, Oberleutnant zur See 


Ohne Märchen —? 


age ich zuviel, wenn ich eine Kindheit ohne Märchen eine halbe nenne? Denn ſie iſt um 
Unerſetzbares beraubt. 

Unſere Kinder werden groß in einer wirklichkeitsſtarken, hellhörigen und helläugigen Zeit, in 
einer Zeit, durchſchwirrt vom ſurrenden Webton der Maſchinen, vom hämmernden Stahltakt 
der Technik, die immer wieder aufs neue ſtaunen läßt über die Fülle deſſen, was Menſchengeiſt 
erſann. Sie hat den kühnen Traum des Fliegens zu überraſchender Wirklichkeit gemacht, und 
ſie iſt darum wahrlich nicht arm an Wundern. Aber es ſind nur Wunder der Vernunft, dieſe 
„Nächen“ des modernen Lebens, deren Geheimnis zuguterletzt in einem nüchternen Rechen- 
exempel aufgeht. Zwar nicht weniger groß, nicht weniger bewunderungswürdig deshalb, zumal 
wenn man den langen, den Opfer heiſchenden Weg überſchaut, der bis zu ihrer Verwirklichung 
führte. Aber der rätſelvoll anheimelnden Atmoſphäre wirklicher Märchen ift dies alles doch 
weſensfremd, wie kühle Tageshelle dem lockenden Dämmerungsſchatten. 

Der raſtloſe harte Gang einer Zeit, die auch an die praktiſchen Kräfte der Erwachſenen er- 
höhte Anforderungen ſtellt, die feſt zugreift und den langſam Beſinnlichen fortzuſchwemmen 
droht, läßt die Kinder beizeiten auf feſten Füßen ſtehen. An unſerer Hand durchſchreiten fie, 
namentlich um die Weihnachtszeit, die — Warenhäuſer, die in ihrer Lichtfülle, in der Anhäufung 
alles deſſen, was Kinderſinn begehrt, wie leibhaftige Märchenpaläſte locken. Und in deren wohl- 
geordnetem Innern doch das frohe Wunder des Schenkens aller lieblichen Verkleidungen be- 
taubt wird! In denen man wählt und feilſcht und dem Kinde, das womöglich dabei ſteht, wie 
ein gewichtiges Altmännlein, allzu koſtſpielige Wünſche ausredet. Fordert dieſe Überhelle nicht 
geradezu gebieteriſch ein Gegengewicht? 

Seit die erſte Großmutter das „Es war einmal“, dieſen ſingenden Auftakt aller Märchen, zu 
dem lauſchenden Enkel ſprach, wandelten ſich Seele und Gemüt des Kindes nur wenig oder gar 

Der Türmet XXVIII, 3 16 


234 Ohne Märchen —? 


nicht. Auch im Zeitalter des Kindes hungert es noch nach dem Überfluß bunter Bilder und 
greift mit lebhaften Händen nach allem, was dieſen Hunger ſättigen kann. Sollten wir ihm da 
nicht jene Welt finnvoller Abenteuer und heimlichen Glücks erſchließen, welche uns die Marden 
unſerer Kindheit bedeuteten? Die uns, wenn wir fie heute wieder leſen, da wir doch lebens und 
leidgebdrtet ſind, eine Ahnung jenes erſten Erſchauerns aufdämmern laſſen, mit dem wir fie in 
jenen fernen Tagen hörten! Welche Luſt iſt es nicht, Hand in Hand mit dem eigenen Kinde die 
grasbewachſenen Wege jenes zauberiſchen Jugendlandes noch einmal betreten zu dürfen! 

Es ijt das Land, in dem die Tiere reden, Bäume, Blumen und Quell reicher und wunder 
ſamer blühen, beredſamer rauſchen, wo uns die Sterne vom Himmel in den Schoß fallen, wenn 
wir fie nur beizeiten aufhalten, kurz, jedes holde Wunder moglich und denkbar iſt. Traumhaft 
belebt von den ergöͤtzlichſten Seltſamkeiten, winden ſich da die Wege. Und doch ordnen ſich auch 
in dieſem paradieſiſchen Reiche die Geſchehniſſe nach den lauteren Geſetzen uralten Sitten 
gefühls, kurzweiliger vielleicht, verſöhnlicher als zuweilen im Leben, wo die gute Fee, welche 
die Ranke ihrer böfen Schweſtern zuſchanden zu machen hat, nicht immer fo erfreulich ſchnell 
bei der Hand iſt, um die Gabe des Glücks dem Kinde in die Wiege zu legen, und die Böſewichte 
und Tunichtgute oft lange genug herumlaufen, ehe das weisheitsvolle Zauberſtäbchen fie ent- 
larvt und beſchämt. Eine Welt im Kleinen, einen winzigen Ausſchnitt des Gut und Böſe, dieſer 
beiden Wagſchalen alles Irdiſchen, bietet die Welt des Märchens darum doch, und ſchon deshalb 
mangelt es ihm nicht an bedeutſamem erzieheriſchem Wert, der verſtohlener zwar als in der 
trockenen Fabel, die von Kindern meiſt weniger geliebt wird, doch den Zweck erfüllt, die ein- 
fachſten Grundlinien alles Seins dem empfänglichen Kinderſinn einzuprägen. 

Da ſind die alten, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, innig verwoben mit 
Sagen und Mythologieſtoffen und oft prachtvoll bodenſtändig, voll ſchalkhafter Moral, wie das 
Landvolk, in dem ſie geſammelt wurden. Da iſt Muſäus, Bechſtein, Hauff, und dann vor allem, 
da iſt der große Märchenerzähler: der Däne Anderſen! Er, bei dem Einfachheit und höchſte 
Verfeinerung untrennbar in eines verſchmelzen, der die Sprache des Kindes ſpricht, wie ſo leicht 
kein zweiter: „Und da ging er in fein Königreich und ſchlug ihr die Türe vor der Naſe zu“ 
Der Eingemachtes und Pfeffernüffe bei Hofe ſervieren läßt, weil er den Geſchmack feiner kleinen 
Säſte kennt. „Aber der alte König war betrübt und konnte keine eſſen. Sie waren ihm auch zu 
hart!“ Und der dann wieder Töne findet, wie nur ein großer Oichter. 

All dieſe Märchen, aus deren Reichtum auch nur einen Strauß herauszugreifen zu viel wäre, 
müffen erzählt, dürfen beileibe nicht vorgeleſen werden, um die Geſtalten all der Rumpel 
ſtiljchen und Erbprinzeſſinnen, der Zwerg Naſe und wie fie alle heißen mögen, recht lebendig 
erſtehen zu laſſen. Ganz heimlich denkt das Kind dabei: „Vielleicht hat ſie es doch ſelbſt erlebt“, 
eine Jllufion, die es noch glühender, noch hingebungsvoller dem bunten Leben ſeiner Helden 
folgen läßt, als das nüchterne Schwarz-Weiß des Geleſenen es je vermochte. 

Man muß nicht Hans der Träumer fein, wenn man noch nicht allen Wunder- und Märchen 
glauben reſtlos Aber Bord warf. Über das Sinnend-Sinnige, das deutſche Gemüt, iſt viel 
und billig gejpöttelt worden. Heute, wo der Sturm, der über uns hinwegbrauſt, uns eindringlich 
mahnt, daß wir ganz ſchlicht und ſtolz wir ſelbſt fein müſſen, um nicht zu entwurzeln, wo alle 
Weſensfaſern ſich feſter an die Heimat klammern, bewegter nach dem Erbe der Väter greifen, 
heute ſchämen wir uns auch unſeres deutſchen Gemüts nicht. Laßt es uns nähren 
und pflegen in unfern Kindern als eine Sonnenſeite unſerer Art, die wir nicht miſſen mögen! 


Deutſche Mütter, erzählt euren Kindern Märchen! 
Walter Hammer ⸗Webs 


NB. Im „Türmer“ (März 1924) hat ſchon einmal der ſchwäbiſche Erzieher Karl Wigenmann 
auf die Wichtigkeit und das Weſen der Märchen in feiner ſinnigen und tiefen Art hingewiefen. 
Wir geben gern auch obigen Anregungen Raum. O. T. 


Weihnachtskult und Kultſtil 


De glühende Franzoſe Victor Hugo ſchrieb ſelbſt im Jahre 1870: „Der deutſche Geiſt iſt 
wie eine unermeßliche Geiſtwolke, durch welche Sterne glänzen. Der hddfte Ausdruck 
heutſchlands aber kann vielleicht nur durch die Muſik gegeben werden.“ Oamit weift er un- 
willkürlich allerdings auf ein Kulturgebiet, das nicht fo ſehr durch Seiſteskraft als durch die 
in ihm gepflegten Semütswerte ein ſpezifiſch deutſches Gebiet ijt, 

Er hätte, wie er in dieſem Zuſammenhange vorher gerade die Taten des deutſchen Genius 
in unſerer Sprache und unferem Schrifttum würdigte, auch auf die eigenartige Macht deutſcher 
Dorte hinweiſen können, die einen Klangreiz beſitzen, den nur der deutſche Geiſt ſchuf und 
lein anderes außer dem deutſchen Gemüt fo voll empfindet. So das einzige Wort „Weihnacht“. 
Und wenn wir nach einem Typus deutſchen Kulturſtiles ſuchen, können wir ihn vielleicht 
mit noch groͤßerem Rechte, als man ihn heute in dem einen Namen Richard Wagner weithin be- 
faßt ſieht, mit der deutſchen Weihnachtsfeier kennzeichnen. Sie birgt in ſich als beſten Kern 
eben einen nur uns eigenen Kultſtil. Dabei dürfen wir zunächſt mit gleichem Rechte die 
häusliche und die kirchliche Feier nebeneinanderſtellen. Nicht ohne weiteres wird man dagegen 
zugeben, daß hier zugleich die enge Verwandtſchaft des deutſchen Weſens mit der evangeliſchen 
Auspraͤgung des Chriſtentums ſich offenbart, wie es doch tieferem Nachdenken ſich darftellt. 

Zum Gegenbeweis wird man vor allem auf die gemütvolle Geſtalt ſchon der kirchlichen Weih- 
nachtsfeier vom tiefen Mittelalter her ſich berufen. 

Zu weit geht man zwar in dem heute beliebten Streben, Germanentum und Chriſtentum 
beinahe zu identifizieren oder auch zu vertauſchen, wenn man das Weihnachtsfeſt ſchlechthin 
aus der Nachahmung des Julfeſtes erklären und einen reinen germaniſchen Urſprung darin 
finden will; denn die römiſche Kirche, die das Feſt einführte, kannte damals vielmehr nur das 
Beumalfeſt des heidniſchen Rom. Und ſchon ein Auguſtin und ein Leo der Große polemi- 
ſierten gegen die heidniſche Deutung des Feſtes. Nur die Abſicht iſt nicht zu beſtreiten, daß 
das von der Kirche etwa unter Papſt Julius I. (337—352) eingerichtete Feſt gerade das heid- 
niſche Naturfeft durch die Feier der chriſtlichen Heilstatſache verdrängen, an die Stelle der 
Naturreligion die Geiſtesreligion, an die Stelle des Schattens die Wahrheit ſetzen ſollte. 354 
wird das Feſt erſtmalig im römifchen Feſtverzeichnis erwähnt. In der deutſchen Kirche aber 
des Mittelalters ward es frühe ſchon Sitte, die Kirche zu dieſer Feier feſtlich zu erleuchten, 
und bald auch in der Kirche oder einer Seitenkapelle die Weihnachtsgeſchichte ſelbſt bildlich 
darzuſtellen durch eine Krippe mit den Bildern der heiligen Jungfrau und des Chriſtkindes, 
daneben Joſeph, dahinter der aus Jeſaia I, 2 und der falſchen griechiſchen Überſetzung von 
gabakuk III, 2 entlehnte Ochs und Eſel, darüber der Engel mit der Glorie, im Hintergrund 
Hirten und Herden, ſeitwärts der Prophet Micha mit einer Schriftrolle. Solche Aufſtellung 
einer Krippe findet ſich ſchon im 5. Jahrhundert. Im Mittelalter ſelbſt wird der Brauch all- 
gemein, beſonbers wie es ſcheint, durch den Einfluß des Franziskus von Aſſiſi und des volks- 
timliden Ordens feines Namens. An die Krippe ſchloſſen ſich dann teilweiſe muſikaliſch thea- 
traliſche Darftellungen an, in denen ein Prieſter oder Sänger die Geſchichte aus dem Lutas- 
Evangelium rezitierte, ein anderer die Worte des Engels, ein Chor das Gloria in excelsis an- 
ſtimmte. So geftaltete ſich allmählich aus der Krippe auch das förmliche Weihnachts- oder 
Krippenſpiel, im 10. Jahrhundert etwa zuerſt in Wechſelgeſängen von Geiſtlichen in ent- 
ſprechender Koſtümierung, die am 1. Feſttage die Anbetung der Hirten, am 4. den beth- 
lehemitiſchen Rindermord, am „Oreikönigstag“ die Anbetung der Weiſen darſtellten. Und be- 
ſondere Vollstümlichkeit gewannen fie, als ſchon frühzeitig auch allerlei oft derbe Scherze und 
kindlich naive Beluſtigung, wie beim Kindelwiegen und den dazu üblichen Liedern, ſich damit 
verbanden. 


256 Weihnodtstult und Fultftil 


Aus dieſen wiſſenſchaftlich geſicherten Tatſachen erhellt einmal die Selbſtändigkeit des 
chriſtlichen Weihnachtskultes und zum andern die eigenwüchſige deutſche Art, die 
erſt fpäter europäifche Verbreitung fand. Das hindert nicht, daß wir ihren Kultſtil ſpäter 
beſonders im evangeliſchen Volke entwickelt finden, und die proteſtantiſche Eigenheit ſich 
beſonders innig damit verbinden ſehen. Zunächſt hat bereits Luther auch hier ſeinen alles 
andere als „revolutionären“ Sinn bewieſen, indem er die aus römiſcher Überlieferung ftam- 
mende, aber beſonders im Schoß germanifcher Völker mit ihrem Leben innig verwachſene 
Feier feſthielt. Aber die geſunde Nüchternheit feiner Kirche — nicht zu verwechſeln mit Boefie 
armut — löſte bald all das Heilige Störende, wie das Kindelwiegen und andere „Spektakula“ 
ab, bejeitigte vorſichtig alles Unevangeliſche, wie die unbibliſche Marienvergötterung, und be- 
reicherte zunächſt die kirchliche Feier durch eine Fülle alter und neuer Kirchenlieder mit um fo 
tieferer Erbauung. Und diefe Belebung der Zunge der Gläubigen ward vollends die Brücke 
zu einem häuslichen Weihnachtskult, wie ihn fo innig und reich doch wohl nur die evange- 
liſchen Häuſer kennen. Die damit belebte Hausfeier war wiederum zugleich vermittelt durch 
die mit dem Weihnachtsliede allein erklärliche kunſt- und poeſievolle Geſtaltung der Chrift- 
veſpern und Metten, deren ganze Größe und Anziehungskraft man in den Gebirgen, zu- 
mal der ſächſiſchen Grenzlande (Vogtland, Erzgebirge, Lauſitz) oder im Harz und Fichtel- 
gebirge, erleben muß, um dieſe echt volkstümliche Stilkunſt ganz würdigen zu können; 
wie man andererſeits auch hier nur die gemütvolle Volkskunſt kennen lernt, die in ihren 
Krippen, Bethlehemsbergen und -bergwerten ſowie Weihnachtspyramiden oder -fternen 
und Lichtkronen mit eigener Hand dem Chriſtkinde Wohnungen einbaut und Wege be 
reitet. Von den übrigen Zutaten der Weihnachtsbräuche zu ſchweigen, die nirgends fo wie 
in germaniſchen und proteſtantiſchen Völkern ebenfalls Volkstüͤmliches und Chriſtliches ſinnig 
vermiſchen. 

Und der Chriſtbaum zumal mag immerhin ſchon in franzöfiihen Dichtungen des 12. und 
13. Jahrhunderts (NB. auch im Grunde germaniſcher Kultur zugehörend) Erwähnung finden, 
und erſt von Straßburg her, wo er im 17. Jahrhundert feſtgeſtellt iſt, ſeit wenig über 100 Jahren 
in Oeutſchland ſich eingebürgert haben, — nirgends fo wie hier iſt er feſt eingewurzelt und 
nirgends fo verſtändnisvoll geliebt wie in unſern evangeliſchen Kreiſen. Und das ijt das Be 
ſondere an der religiöſen Stilkunſt, die unſere Weihnacht aufweiſt, und die doch ohne irgend- 
einen bewußt ſtiliſierenden Einfluß, rein aus dem Drange des Volksgemuͤtes heraus, erwadfen 
iſt: fie tut den tiefen Einſchlag der Religion in unſerer Kultur dar, und beider Verbin- 
dung erſcheint unleugbar damit als ein Lebensbedürfnis unſeres Volkes auch in der 
Gegenwart. Im milden Kerzenſchein des Feſtes aber glänzt ein Edelmetall im deutſchen Ge- 
müt auf, das vom Fluche des Rheingoldes zu erlöſen vermag: die beglüdende Kraft der 
Liebe. 

Denn hier fühlt fie fic ſelbſt aus der höchſten Liebe quellen, in der uns Gott naht, aber in 
der ſchlichteſten Offenbarung eines Kindes; denn er will durch die Einfalt und Gottinnigteit 
dieſes Weſens es uns fo leicht als moglich machen, die Kluft zu überwinden zwiſchen ihm und 
uns und — zwiſchen den Menſchen und ihren Brüdern. So kann denn auch der Weihnachts 
kult den mit Recht um unſere Zukunft, um den Untergang unſerer Kultur bangenden Geiſtern 
eins der im übrigen ſich gottlob ſtark mehrenden Anzeichen fein, daß die furchtbare Schreckens 
geſtalt des Egoismus doch nicht die Alleinherrſchaft behaupten wird. 

H. Roſenkrauz 


257 


Juden und Alexandriner in dem neugefundenen 
Brief des Kaiſers Claudius 


m Zayum ift in den Ruinen des antiken Dorfes Philadelphia ein Papyrus gefunden worden, 

befien Veröffentlichung durch H. Idris Bell (Jews and Christians in Egypt. 1924) das 
größte Aufſehen in der Gelehrtenwelt erregt und ſchon jetzt eine ganze Reihe von Abhandlungen 
hervorgerufen hat. Der Dorfſchreiber von Philadelphia hat eine zwiſchen Finanzakten frei- 
gebliebene Stelle in einer Papyrusrolle benutzt, um dort die Abſchrift des Briefes unterzu- 
bringen, den Naiſer Claudius im Jahre 41 n. Chr. an die Gemeinde der Alexandriner gerichtet 
hat. Beigefügt ift die Abſchrift eines Begleitſchreibens des Vizekönigs von Agypten, des Prä- 
fetten Lucius Aemilius Rectus, der für die Verbreitung bes kaiſerlichen Handſchreibens geforgt 
hat. Unſer Dorfſchreiber hat zwar eine recht flüffige Handſchrift gehabt, aber mit der Recht 
ſchreibung auf Kriegsfuß geſtanden, ſo daß ſeine Abſchrift von Fehlern wimmelt, die zum Teil 
aid wohl durch Verhören beim Diktat entſtanden find und keineswegs ber kaiſerlichen Kanzlei 
auf Rechnung geſetzt werden dürfen. 

Der Brief iſt dadurch veranlaßt, daß die Alexandriner dem Kaiſer bald nach feiner Thron 
beſteigung eine Geſandtſchaft geſchickt haben, um ihre Ergebenheit auszudrüden, die Erlaubnis 
zu allerlei Ehrungen für den Raifer einzuholen und, was des Pudels Kern war, eine Reihe von 
Bitten vorzutragen. Claudius erkennt die gute Geſinnung dankbar an, läßt ſich trotz feiner be- 
tonten Beſcheidenheit die Ehrungen größtenteils gefallen, beſtätigt gern die von Auguſtus der 
Stadt verliehenen Privilegien, bewilligt auch die minder wichtigen Bitten, aber in den Haupt- 
ſachen bereitet er den Alexandrinern doch eine Enttäuſchung. Einmal macht er die erbetene Ein · 
fegung des heißbegehrten Stadtrats, die eine weſentliche Steigerung der Selbſtändigkeit der 
Gemeinde bedeutet haben würde, abhängig von einer durch Aemilius Rectus zu veranſtaltenden 
Prufung der ganzen Sachlage, die ſchwerlich im Sinne der Alexandriner ausfallen konnte, und 
zweitens hält er ihnen eine energiſch klingende Standrede über ihr Verhalten gegen die in der 
Stadt lebenden Zuden. Deren Zahl war bekanntlich Legion, fie waren ſchon unter den erſten 
Ptolemdern in Maſſe dort eingewandert, bewohnten zwei von den fünf Stadtquartieren und 
bildeten einen privilegierten Teil der buntgemiſchten Großſtadtbe völkerung. Sie hatten ihre 
eigene Organiſation auf politiſchem Gebiet, die ihnen eine ziemlich große Selbſtändigkeit ge- 
währte, und fie erfreuten ſich von alters her voller religidfer Duldung, die von den Ptolemäern 
gewährt und von Auguſtus und Tiberius gewiſſenhaft beobachtet worden war. Das aleran- 
briniſche Vollbuͤrgerrecht haben die Zuden als ſolche allerdings nicht beſeſſen, wenn auch Einzelne 
von ihnen, ſei es durch Perſonalprivileg, ſei es durch Erſchleichung, dazu gelangt waren. 

Die Zuden bildeten in Alexandria wie in andern Griechenftädten eine Art Staat im Staate, 
ſie hielten unter ſich feſt zuſammen und ſtanden zu ihren heidniſchen Mitbewohnern hier wie 
überall im ganzen Bereich des römiſchen Reiches in einem dauernden Gegenſatz, der durch ihre 
Religion, ihre Raffe und, wenn auch anſcheinend in geringerem Grade, durch ihr gefchäftliches 
Sebaren bedingt war und bald hier, bald dort gelegentlich zu mehr oder weniger heftigen An- 
feindungen führte. Hätten die Zuden nicht durch die enge, ſchon in Cäſars Zeit begründete 
Freundſchaft zwiſchen dem Haufe des Herodes und dem Kaiſerhauſe eine Stütze an der roͤmiſchen 
Regierung gehabt, fo wäre es ihnen oft genug übel ergangen. Dieſe Stütze zerbrach nun unter 
der Regierung des Unbolds Caligula. Damals war es in Alexandria teils aus den üblichen 
Grinden, zum Teil aber auch durch das protzige Auftreten des eben ernannten Judentinigs 
Agrippa I. zu einem blutigen Krawall gekommen, und die Alerandriner hatten, um den nach 
göttlicher Verehrung lüfternen Raifer gegen die Juden einzunehmen, verſucht, feine Statuen 
nicht nur in alle Tempel, ſondern auch in die Synagogen hineinzubringen, wogegen ſich die 
Zuden verzweifelt aber vergebens zu wehren bemüht waren. Sie unterlagen, und da gleich; 


238 Zuben und Alexandriner in dem neugefundenen Brief des Ralfers Claus 


zeitig in Paläſtina in der Stadt JZamnia Zuden einen von Heiden für den Raifer errichteten 
Altar zerſtört hatten, fo ergrimmte Caligula gegen fie aufs beftigfte und befahl, zur Strafe 
feine Statue im Tempel von Zeruſalem aufzuſtellen. Darüber wäre es ohne Zweifel zum Ver- 
nichtungskampf gegen das ganze Volk gekommen, wenn nicht der Raifer im Anfang des Jahres 
41 n. Chr. ermordet worden wäre. 

Damals weilte fein perſönlicher Freund Agrippa I. gerade wieder einmal in Rom und er 
hat bei der Thronerhebung des wunderlichen, gelehrten Prinzen Claudius eine wichtige Ver- 
mittlerrolle geſpielt, die er bald genug geſchickt auszunutzen verſtand. Während die Zuden 
Ale xandrias eben noch hart mißhandelt worden waren, faßten fie nun wieder Mut, verſtärkten 
ſich durch Zuzug aus Paläftina wie aus Agypten und fielen nun ihrerſeits über die Gegner het, 
fo daß die römiſche Regierung Mühe hatte, dem Kampfe Einhalt zu gebieten. Auf dieſe Dinge 
beziehen ſich nun die Worte des Kaiſers, die folgendermaßen lauten: „Was aber den Krawall 
und den Streit oder, richtiger gefagt, den Krieg mit den Juden angeht, fo will ich nicht genauer 
unterſuchen, welche von beiden Parteien daran ſchuldig ift, wenn auch eure Geſandten und be⸗ 
ſonders Dion yſios Theons Sohn bei der Gegenüberſtellung ſich eifrigſt darum bemüht haben. 
Ich behalte mir aber einen unnachſichtlichen Zorn gegen diejenigen vor, die abermals mit dem 
Streit beginnen werden. Und ich ſage euch ganz offen, daß, wenn ihr nicht von dieſem verderb⸗ 
lichen und grauſamen Haß gegeneinander ablaßt, ich mich gezwungen ſehen werde, zu zeigen, 
was es zu bedeuten hat, wenn ein menſchenfreundlicher Fürſt in gerechten Zorn verſetzt wird. 
Oeswegen erſuche ich auch jetzt noch euch Alexandriner, milde und freundlich mit den Zuden zu 
verkehren, die ſeit alten Zeiten dieſelbe Stadt mit euch bewohnen, und ihnen keine Schwierig 
keiten in der Ausübung ihrer herkömmlichen Gottes verehrung zu bereiten, ſondern ihnen zu er- 
lauben, daß fie ihre Gebräuche beobachten, wie zur Zeit des unter die Götter erhobenen Auguſtus, 
welche Gebräuche auch ich nach Anhörung beider Parteien beſtätigt habe. Den Zuden anderer 
ſeits befehle ich, fic nicht mehr Rechte anzumaßen, als fie bisher gehabt haben, und in Zukunſt 
nicht noch einmal, wie wenn fie in zwei verſchiedenen Städten lebten, zwei verſchiedene Gefandt- 
ſchaften zu ſchicken, was früher nie vorgekommen iſt, noch ſich in die von den Gymnaſiarchen und 
Kosmeten veranſtalteten Kampfſpiele einzuſchleichen, während ſie doch das ihrige genießen und 
dabei zugleich in einer fremden Stadt an dem Überfluß an allen guten Bingen teilhaben. Auch 
verbiete ich ihnen, aus Syrien oder Agypten (nach Alexandria) hinabfahrende Juden herbeigu 
rufen oder bei ſich aufzunehmen, was mich dazu zwingen würde, einen ſchweren Verdacht gegen 
fie zu faſſen. Wenn fie nicht demgemäß handeln, fo werde ich auf jede Weife gegen fie ein 
ſchreiten wie gegen Leute, die eine den ganzen Erdkreis in Mitleidenſchaft ziehende Peſtſeuche 
erregen. Wenn ihr beide Parteien von dieſen Dingen ablaßt und euch bemüht, mit Milde und 
Freundlichkeit gegeneinander zu leben, fo werde auch ich eurer Stadt meine alte Zürforg 
widmen, wie ſie euch von meinen Vorfahren zuteil geworden iſt.“ 

Hier bedürfen noch einige Punkte der Aufklärung. Der genannte Dionnfios ift ein uns ſchon 
aus andern Quellen bekannter Führer der Zudenfeinde geweſen; wir haben nämlich außer det 
döchſt eingehenden Schilderung der Judenhetze unter Caligula durch den bekannten jüͤdiſchen 
Philoſophen Philo, der ſelber als Geſandter zum Raifer gekommen war, und neben dem kürzeren 
Bericht des Joſephus noch umfaͤngliche Reſte von Papyri, die ſich auf allerlei ZJudenkrawalle 
dieſer und fpäterer Zeit beziehen und durch den neuen Kaiſerbrief eine höͤchſt erwünſchte Er 
gänzung erfahren. Zofephus hat uns auch noch zwei andere Erlaffe des Claudius erhalten, deren 
einer die Rechte der alexandriniſchen Juden wahrt, während der zweite im Anſchluß daran die 
jüdiſche Diafpora im ganzen Reihe [hüten ſoll. In dieſem ſieht fi der Kaiſer veranlaßt, auch 
die Juden zu ermahnen, daß fie die religiöfen Gefühle anderer Menſchen refpettieren ſollen. 
Im übrigen ſpricht er offen aus, daß er durch feine lieben Freunde, Konig Agrippa und deſſen 
Bruder Herodes von Chalkis zu feinem Erlaß beſtimmt worden fei. Wenn Claudius den aleran- 
driniſchen Juden verbietet, ſich Rechte anzumaßen, die ihnen nicht zuſtänden, ſo meint er damit 


Juden und Meranbdriner in dem neugefundenen Brief des Raifers Claud ius 239 


den ſchon unter Caligula erhobenen Anſpruch auf das alerandrinifche Vollbürgerrecht. Als Vor- 
bedingung für dieſes Bürgerrecht galt es, daß man die höhere Jugendbildung in Alexandria ge- 
noſſen hatte. Sn allen helleniſtiſchen Städten gab es Gymnaſien, in denen die Söhne der Voll- 
burger körperlich und geiſtig geſchult wurden. Beſonders da, wo Griechen mit Barbaren zu- 
ſammen wohnten, bildeten „die vom Gymnaſium“ eine auf ihre Vorzugsſtellung ſehr ſtolze 
Oberſchicht, deren Mitglieder auch im reifen Mannesalter ihrer alten Schule mit fo viel Liebe 
gedachten wie heute der Student feiner alma mater. Die Gymnaſiarchen gehörten zu den 
höchften Beamten der Städte, in Alexandria trugen fie ſtolz ein Purpurgewand. Sie leiteten 
mit den Rosmeten (Ordnern) die Wettkämpfe, und wenn Claudius den Juden verbietet, ſich 
unrechtmäßig in dieſe Spiele einzudrängen, fo ſehen wir, daß die jüdifchen Jünglinge eben auf 
dieſem Wege verſucht hatten, ſich das Bürgerrecht zu erſchleichen, denn wer die Gymnafial- 
bildung erwieſen hatte, wurde in die Bürgerliſten eingetragen. Die Makkabäͤerbüͤcher zeigen uns, 
daß ſich um 170 v. Chr. in Zerufalem ganz ähnliche Zuſtände entwickelt hatten. Der gottloſe 
Hohe prieſter Zafon ließ ſich vom Könige Antiochos Epiphanes die Erlaubnis erteilen, eine 
griechiſche Gemeinde in Zerufalem zu begründen und das unbedingt dazu gehörige Gymnaſium 
zu bauen, in das dann zum Entſetzen der Frommen die elegante jüdiſche Jugend ſtrömte, eifrigſt 
bemüht, ihre Zugehörigkeit zum auserwählten Volke zu verſchleiern. Genau fo entruͤſtet waren 
die ſtrenggläubigen Juden auch in Claudius’ Zeit über die Sportliebe der Jugend und das 
Streben nach dem Bürgerrecht der heidniſchen Stadt, deſſen Ausübung nun einmal mit dem 
moſaiſchen Geſetz nicht wohl vereinbar war. Darauf bezieht ſich die Ermahnung des Kaiſers an 
die Zuden, nicht noch einmal zwei Geſandtſchaften an ihn zu ſchicken, was nie vorgekommen ſei. 
Merkwürdigerweiſe faſſen, foviel ich ſehe, ſämtliche Gelehrte dieſe Stelle fo auf, als tadle es der 
Raifer, daß die Zuden eine beſondere Geſandtſchaft neben der alexandriniſchen geſchickt hätten. 
Das wird erſtens ſchon durch den Wortlaut ausgeſchloſſen, zweitens hätte der Kaiſer nie ver- 
langen können, daß das jüdiſche Gemeinwefen in Alexandria feine Sache durch alexandriniſche 
Dollbürger, alſo Feinde, vertreten ließe, drittens hätten die Juden, ſelbſt wenn fie gewollt 
batten, keine Gelegenheit gehabt, etwa Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde der Geſandtſchaft 
der Gegner beizugeben, und endlich hätte Claudius unter der von den modernen Gelehrten ge- 
machten Vorausſetzung auch nicht behaupten können, das Vorgehen der Juden fei ganz unerhört, 
da er ebenſo gut wie jedes ſonſtige Mitglied der Regierung wiſſen mußte, daß ja erſt kurzlich 
unter Caligula eine Geſandtſchaft der Alexandriner mit einer ſolchen der Juden vor dem Kaiſer 
geſtritten hatte. Daß die Juden zwei Geſandtſchaften geſchickt haben, erklärt ſich eben daraus, 
daß in ihrer Gemeinde innere Streitigkeiten herrſchten, da eine Partei ſich für die Teilnahme 
am Spmnafialunterridt und die Erlangung des Bürgerrechts einſetzte, während die andere der- 
gleichen als un verträglich mit ihrer Religion verwarf und vom Kaiſer nur den Schutz ihrer alten 
Privilegien erbat. Einig gegen die Alexandriner, war die Judenſchaft im übrigen geſpalten, und 
der Raifer iſt ungehalten geweſen, daß fie ihn mit ihren internen Angelegenheiten behelligte. 
Eine ganz ähnliche Lage zeigt uns die Apoſtelgeſchichte; da ſchleppen die Juden in Korinth den 
Paulus vor den Statthalter Gallion, als dieſer aber hört, daß es ſich nicht um ein Verbrechen 
handelt, ſondern um jüdifche Religions angelegenheiten, jagt er fie von feinem Richtſtuhl fort. 
Von dieſem Geſichtspunkt aus werden uns aud einige Stellen des ſogenannten III. Makka- 
baerbuches verſtändlich, das in dieſer ſelben Zeit geſchrieben iſt und zu erbaulichen Zwecken die 
Rettung des von Caligula bedrohten Judentums ſchildert, allerdings in der Form, daß nach dem 
Beiſpiel des Buches Daniel und anderer jüdiſcher Schriften die Ereigniſſe der Gegenwart in 
eine frühere Zeit, hier die des Ptolemaios IV., verlegt werden. In dieſem ebenſo elenden wie 
ſtrengglaͤubigen Buche iſt mehrfach von Juden die Rede, welche die Sache ihrer glaubenstreuen 
Brüder verraten, um ſich dafür das alexandriniſche Bürgerrecht geben zu laſſen. Sie werden 
am Schluß, als Jahwe ſeine Getreuen gerettet hat, von dieſen zur Strafe großenteils um- 
gebracht. ö 


249 Zuben und Ale xandriner in dem neuge fundenen Brief des Kaiſers Claud hes 


Wir ſehen, mit welchen Empfindungen die Altgläubigen die Reformjuden damals betrachteten, 
und begreifen nun um fo beſſer die giftige Feindſchaft, die zur Zeit der Zerſtörung Jeruſalems 
in Alexandria wie in Ryrene zwiſchen den jüdiſchen Fanatikern und ihren wohlhabenden, mit 
griechiſcher Bildung vertrauten Stammesgenoſſen zutage getreten iſt. Diefe inneren Zwiftig- 
keiten im Judentum der Diafpora find ein noch nicht genügend erforſchtes Rapitel. Die jũdiſche 
literariſche Überlieferung ſchweigt Regereien gern tot, da müſſen wir recht dankbar fein, wenn 
uns die Papyri weiterhelfen, was hier nicht zum erſtenmal geſchehen iſt. So ſchroff ſich der 
gutmuͤtige Kaiſer in Worten gegen die Juden wendet, fo hat er ihnen tatſächlich doch große 
Geduld gezeigt, denn daß ſie nach Caligulas Tode den Streit begonnen hatten, gibt ſelbſt 
Joſephus zu. Auch in Rom haben die dort zu Tauſenden lebenden Juden gleich im Anfang feiner 
Regierung durch ihre Zänkereien fein Mißfallen erregt, und am liebſten hätte er die ganze Gefell- 
ſchaft aus der Stadt gewieſen, wenn das nur nicht bei ihrer großen Zahl mit zuviel Schwierig- 
keiten verbunden geweſen wäre. So begnügte er ſich hier wie in Alexandria mit Androhungen 
gegen die Friedensſtörer. Sie haben in beiden Fällen nicht nachhaltig gewirkt, denn wir ſehen 
aus einem der oben erwähnten PBappri, daß Claudius ſpäter Führer der Judenfeinde in Ale- 
xandria zum Tode verurteilt hat, und aus der Apoſtelgeſchichte iſt es ja allgemein bekannt, daß 
er im Jahre 51 n. Chr. tatſächlich ſämtliche Juden aus Rom vertrieben hat. Damals ſcheint es 
ſich dort um Streitigkeiten zwiſchen Juden und den zunächſt noch zu ihnen gerechneten Chriſten 
gehandelt zu haben. Das hat den Pariſer Akademiker Salomon Reinach verleitet, auch in un- 
ſerem neuen Kaiſerbrief einen Hinweis auf das Chriſtentum finden zu wollen. Unter der von 
Claudius erwähnten, die ganze Menſchheit bedrohenden Peſtſeuche ſei das Chriſtentum, die 
meſſlaniſche Agitation, zu verſtehen, die fo gefährlich erſcheine, weil fie dem Kaiſerkultus feindlich 
gegenüberftebe, der ein wichtiges Band der Reichseinheit geweſen iſt. Tatſächlich kann aber keine 
Rede daopn fein, daß der Kaiſer an dergleichen gedacht hat, ſondern jene allerdings wenig 
ſchmeichelhafte Vergleichung iſt durch die in jener Zeit an den verſchiedenſten Orten hervor- 
tretende Neigung der Juden zur Selbſtüberhebung und Unruhenſtiftung hervorgerufen worden. 

Prof. Dr. Hugo Willrich 


+ 


OFFene Hall . 


Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden Einfenbungen 
ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Die Aſtrologie als Natur⸗ und Geiſtes⸗ 
wiſſenſchaft 


u dem bereits im „Türmer“ berührten Problem ve Sternen-@inflüffe feien nod einige 
Ausführungen erlaubt. 

Was denjenigen Teil der Aſtrologie betrifft, der ſich im engeren Sinn auf den Menſchen 
bezieht, gibt es zwei Grundſätze, die ſich ſcheinbar widerſprechen. Der eine heißt: der Menſch 
wird nur, was er iſt; der andere: der Menſch iſt ſeinem Schickſal überlegen (der Weiſe regiert 
die Sterne). 

Beides iſt wahr, aber wahr von verſchiedenen Geſichtspunkten aus. Der eine Geſichtspunkt 
liegt im „Diesſeits“, der andere im „Jenſeits“. 

Im Oiesſeits kann der Menſch auch bei höchſter Anſpannung aller ſeiner Kräfte durchaus 
nichts erreichen, was nicht bereits bei ſeiner Geburt anlageartig vorhanden war. Aller Fort- 
ſchritt innerhalb eines Menſchenlebens iſt nichts anderes, als Entfaltung des gegebenen 
Schickſals. Je reiner und inbrünſtiger der Menſch nach vorwärts, nach aufwärts ſtrebt, — nach 
Erfolg im Guten, nach Segen für feine Arbeit, nach Fruchtbarkeit, — um fo mehr wird er 
erreichen: nicht das Erſtrebte, ſondern das Beſtimmte. Ein dunkles, ein belaſtetes Schickſal 
zieht ſich dunkel und ſchwer zuſammen; und je tiefer und ſehnender die Seele nach Licht lechzt, 
je ſtärker fie lebt in dieſem reinen Orange, deſto ſchwerer ſenkt ſich die Finſternis und die Laſt 
auf ſie herab. Und ein geſegnetes Schickſal entfaltet ſich unter denſelben Bedingungen immer 
teicher und fruchtbarer und ſtrahlender. 

Die Freiheit alſo innerhalb der irdiſchen Möglichkeit liegt nur darin, zu werden oder nicht 
zu werden, was man iſt. Freiheit iſt nicht tun können, was man will, ſondern tun wollen, was 
man muß. Freiheit iſt die ſeltene Fähigkeit, ſein Schickſal zu erfüllen. 

gm allgemeinen widerſtreben wir unſrem Schickſal, halten dadurch unſer Leben auf und 
verwickeln es. Was bei unſerem Eintritt ins Leben ſchon in der Anlage aus früheren verborge- 
nen Urſachen her verwickelt genug iſt, das verwirren wir noch mehr aus Mangel an dieſem 
teligidfen Willen, der uns in die Freiheit führen würde. Wir find betäubt von der Tragik 
unſeres Daſeins, und wir leiden alle an Lebensohnmacht. Wir bleiben daher paſſiv gegenüber 
unfrem Schickſal, wir erleiden es, anſtatt es zu erleben, und wir erliegen ihm, anſtatt es zu 
überwinden. 

Unfrei alfo find wir, ſolange wir fo das Leben verneinen, ſolang uns die Unluſt zu tragen 
und zu dienen beherrſcht, ſolang wir einen irgendwie gearteten Genuß für uns wollen. Frei 
werden wir, wenn wir unſer Schickſal bejahen können unter allen Umſtänden, wie immer es fei. 
Zwiſchen dieſen beiden Extremen liegt eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Dafeins- 
möglichkeiten, die alle ein und denſelben aſtrologiſchen Ausdruck haben, die alle aſtrologiſch 
nicht unterſcheidbar find. Wie kommt das? Das kommt daher, weil hier dieſe Kraft im Men- 
[den auftritt, die im Jenſeits verankert iſt und mit der er den phyſiſchen Geſetzen nicht unter- 
worfen iſt. Da haben wir die Unabhängigkeit gegenüber dem durch das Horoſkop ausgedruckten 
Sdhidjal. Sie iſt fo groß, daß es durch fie dem Aſtrologen unmöglich wird zu ſehen, welche 
Stufe in dem Spielraum der durch ein und denſelben Aſpekt bezeichneten Möglichkeiten, in 
bieſem Spielraum zwiſchen Keim und vollendeter Frucht, dieſer Welt von Verwandlungen, 


242 Die Aſtrologle als Natur- und Geiſteswiſfenſchaft 


der Menſch einnimmt. Oer Aſtrologe muß zum Seher werden, um da einigen Aufſchluß zu 
erhalten. 

Oieſes Geſetz der vielfältigen Verwandlung innerhalb einer Ordnung iſt ein Naturgeſetz, 
und man kann es z. B. an den perennierenden Pflanzen erkennen. Mir fiel es auf, als ich in 
meinem Garten die Blumen wachſen ſah: ein Same wird in die Erde gelegt, es wadft eine 
Pflanze, ſie erreicht eine gewiſſe Höhe und ſtirbt ab, wenn der Winter kommt, verſchwindet 
vollſtändig von der Erdoberfläche, aber im Frühjahr wächſt fie wieder aus der Wurzel, die in 
der Erde war, fie wächſt höher und fie blüht; im nächſten Jahr wächſt und blüht fie noch höher 
und reicher, fie trägt Frucht uff. Es gibt auch Pflanzen, die viele Jahre vergebliche Anſtrengungen 
zur Sonne hin machen, bevor ſie einmal blühen können. Alle dieſe Daſeinsſtufen kamen aus ein 
und demſelben Keim. Das für die Oberfläche des Lebens der Pflanze unſichtbare Element, in 
welchem fie wurzelt, ohne ſichtbar zu ſein, ift die Erde. Das Element, in dem die Menſchenſeele 
unſichtbar wurzelt, iſt die Ewigkeit. Der Menſch wie die Pflanze, fie ſterben für die Sicht; 
barkeit, für das Diesſeits ab, ohne ihre Beſtimmung zu erfüllen. Das gilt nicht nur für die Uni- 
verſalität des Menſchen und fein Univerſalſchickſal, ſondern ebenſo für jedes kleine, zeitlich be- 
ſtimmte, verfließende Einzeldafein im Strom des Werdens. Es kann vergehen, oftmals ver- 
ſchwinden von der irdiſchen Oberfläche, ohne fein Schickſal zu erfüllen, immer nur einen Teil 
desſelben erfüllend. Der Reinfarnationsgedante liegt hier nahe, er wäre die Schlußfolgerung 
aus dieſer Tatſache, die für jeden Forſcher zu erleben iſt, aus dieſer Tatſache des relativen Wer- 
dens, dieſes Wachstums ohne Vollendung, dieſer Stufenfolge vom Nichtwerden zum Werden, 
für welche ſich ſicher zahlloſe Korreſpondenzen finden laſſen in der Natur. Ferner können wir 
dieſes Lebensgeſetz in der Geſchichte erkennen, im Wachstum der Raſſen und Kulturen. die 
entſtehen, blühen und abfterben, um wiederzuerwachen in andrer Form, zu blühen und abzu- 
ſterben. Aber jedesmal erfüllt ſich nur ein kleiner Teil aus der Fülle des Möglichen, „Aus un- 
zähligen Verwandlungen geht es in immer reiferen Geſtalten erneut wieder hervor“, ſagt 
z. B. Novalis vom Werden in der Geſchichte der Menſchheit. 

Im Geſamtſchickſal wie im Einzeldaſein bezeichnen die aſtrologiſchen Symbole nur die großen 
ideellen Typen, Formen höherer ungeſchaffener Wirklichkeit, innerhalb derer der freie 
Menſchengeiſt zu Werke gerufen iſt und die er ſchafft. Es liegt hier dasſelbe Geheimnis zu- 
grunde, wie bei der Erſchaffung der Welt von Gott und ihrer Wiedergeburt durch den Men- 
ſchen. Alles iſt gegeben, vorgeſetzt, exiſtierend jenſeits der ſinnlichen Greifbarkeit, aber der Menſch 
muß es aus eigener Kraft zum Leben bringen. In ihrer Ungeborenbeit find die Kräfte, die hinter 
dieſen großen aſtrologiſckh en Symbolen liegen, jenfeits von Gut und Böſe, und erſt der Menſch 
drückt ihnen den Stempel feines guten oder böſen Willens auf in vollkommener Freiheit. 

In der Aſtrologie als Wiſſenſchaft haben wir diejenige, die den Zuſammenhang zwiſchen 
Naturkraft und Seelenkraft bloßlegt. Die Aſtronomie und die ſphäriſche Mathematik erforſcht 
die Exiſtenz der jphärifchen Körper und ihre Vewegungsgeſetze im Kosmos; die Aſtrologie 
zeigt, daß dieſe kosmiſchen Geſetze nichts anderes find, als der ſichtbare und erkennbare finn- 
liche Ausdruck jener überſinnlichen, vorgeſetzten Dafeinsbedingungen, die das Leben des Men; 
ſchen umgrenzen. 

Diefe Tatſache allein, in ihrer ganzen Tragweite erfaßt, ift der ungeheuerlichſte naturwiſſen⸗ 
ſchaftliche Beweis für die Tranſzendenz alles menſchlichen Lebens, der ſich denken läßt. Des- 
halb iſt die Aſtrologie die einzige Wiſſenſchaft, welche das Gebiet des Seeliſchen mit Recht 
zum Inhalt hat, denn fie fügt nicht durch ſpekulatives Denken die Zuſammenhänge zwiſchen 
Körperlichem und Seeliſchem aneinander, fie ſchließt auch nicht von einem auf das andere, 
ſondern ſie erforſcht den lebendigen Zuſammenklang beider Reiche. Ihre Methode iſt weder 
die geiſtabgewandte der Naturwiſſenſchaft, noch die naturfremde vieler Geiſteswiſſenſchaften, 
ſondern fie ift die Vereinigung des naturwiſſenſchaftlichen und des geiftes- 
wiſſenſchaftlichen Forſchungsweges. 


die Aftrologte als Natur- und Ge iſteswiſſenſchaft 243 


Aus dem Grund dieſer vereinigenden Rolle ſcheint mir die Aſtrologle von fo ganz befonderer 
Bedeutung gerade in unferer Zeit, in welcher das materielle Denken foviel Unheil geboren 
hat und das ideale Denken in feiner ideologiſchen Entartung unter dem Orud des Materialis- 
mus alle Lebenskraft verloren zu haben ſcheint. 

Die Kenntnis der Aſtrologie iſt deshalb gleichzeitig die allerweſenhafteſte und die allerbelang- 
loſeſte Möglichkeit für menſchliches Wiſſen. Denn ſie bringt uns ganz nahe an das Geheimnis 
des Lebens, fie zieht den Schleier von verborgenſten Zuſammenhängen des Seins und Wer- 
dens — aber im nächſten Augenblick ſehen wir, wie unweſentlich dieſe Entdeckungen find bei 
aller furchtbaren Gewalt und Unausweichlichkeit gegenüber dem in uns, was nicht von 
dieſer Welt ift. — 

Es handelt ſich alſo bei einer richtigen Anwendung der aſtrologiſchen Kenntniſſe nicht um die 
immer größere Vertiefung aller der Ausdeutungsmoͤglichkeiten für den Charakter und das Schid- 
ſal, weil man damit in einem Gebiet bleibt, welches nicht über ſie hinaus führt. Erſt dann, 
wenn man über die Aſtrologie hinauskommt, iſt es möglich, fie richtig zu verwerten. Man er- 
fährt, daß es im Leben auf die Gewinnung einer inneren Haltung ankommt, aus der heraus 
jedes Schidjal und jedes Einzelereignis einzig und allein gelöft wird, und daß das aſtrologiſche 
Seſetz ungeheuer viel und kompliziert von dieſem Schickſal oder Ereignis verrät, aber gar nichts 
davon, ob der Menſch jene innere Haltung gewinnt. Oenn mit dieſer ſteht er eben 
in dem dritten Reich, in welchem die Freiheit herrſcht und es kein Geſetz gibt. Man erfährt 
die Belangloſigkeit des Geſetzes und zugleich feine eiferne Notwendigkeit und Unumſtößlichkeit, 
mit der es dem Menſchen Grenzen auferlegt, die er niemals überjteigen kann; und nur wenn 
man dieſe beiden Reiche verbinden kann, lebt man in Wahrheit. 

A. v. Morawitz - Cadio 


Literatur, 


Bücher für Weihnachten 


nter den allgemeinen und wirtſchaftlichen Nöten in Oeutſchland leidet das wertvolle und 

ſchöpferiſche Buch beſonders empfindlich: das Buch, dieſer ſtärkſte Schöpfer und Mittler 
geiſtiger Kultur, in dieſen Zeiten auch der Freude, des Troſtes, der zielweiſenden Aufrichtung. 
Viele unferer beſten Dichter und Schriftſteller leiden ſchweigend erbarmlide Not, mancher Ver- 
lag kämpft um ſein Daſein. 

Auch der Glanz deutſcher Weihnacht wird oft karger, die Freude ſchwerer fein — dennoch wird 
das weſentliche Buch Licht und Segen, Freude und Kraft ſpenden können, darf im weihnacht⸗ 
lichen Geben und Nehmen, gerade in dieſer Zeit, beſondere Beachtung fordern. Die nachſtehende 
Auswahl will in dieſem Sinne der deutſchen Familie, den verſchiedenen Bildungsſtufen und Be- 
duͤrfniſſen Anregung bieten. Die Ausſtattung der Bücher ijt faſt durchweg gut, jedenfalls all; 
gemein befriedigend, während manche Werke beſondere Liebe und Sorgfalt ihrer Verleger er- 
fahren haben. 


Proſa-Werke. 


Friedrich Lienhard, am 4. Oktober ſechzig Jahre alt geworden, beſchließt mit ſeinem neuen 
Werk „Unter dem Roſenkreuz“ mit dem Untertitel „Ein Hausbuch aus dem Herzen Oeutſch⸗ 
lands“ (Türmer Verlag, Stuttgart, M 6.—) die beiden vorangegangenen Wander- und Plauder 
bücher, die frühlinghaften „Wasgaufahrten“ und das ſommerliche „Thüringer Tagebuch“. Vom 
herbſtlichen Hügel des Lebens ſchaut der Dichter über das Suchen und Kämpfen, aus Enge und 
ſchaffender Tat mündet die Lebensmelodie in den Frieden der Weisheit, ins Licht der Lebens; 
verfldrung. Ein Buch vom Engen zum Ewigen. Ein Lebensweg, der in jene geiſtige Heimat ge- 
führt hat, darin Weimar, der Montſalvat, das Roſenkreuz, Wartburg und Golgatha die Sym- 
bole hohen Menſchtums ſind. Das Werk iſt erleſen ausgeſtattet. 

Eberhard König gibt uns in der „Geſchichte von den hundert Goldgulden“ (Türmer- 
Verlag, M 2.80) eine neue meiſterliche Variation feines großen dichteriſchen Themas: Läuterung 
aus unbewußtem rein ſtofflichem Oaſein zur Erkenntnis, zur Weſenhaftigkeit, zu ſeeliſcher Reife 
und Verklärung, zu erlittenem und errungenem Menſchentum. Die Geſchichte einer großen Liebe 
und einer großen Wandlung, zart bei aller Urwüchſigkeit, ganz deutſch in der Gedankenfüͤlle und 
Bewegtheit des Herzens, in der mannhaft kraftvollen Sprache. Ein hohes Lied auf die erkämpfte 
Ehekamerabſchaft. 

Ludwig Mathar iſt mit feiner traurig-luſtigen Geſchichte „s Zunggejellen und 1 Kind“ 
(Verlag Herder & Co., Freiburg, M 3.—) fo etwas wie der Anfang zu einem rheiniſchen Wilhelm 
Raabe. Der Humor des Herzens und der wiſſenden Güte umgibt die fünf drolligen Junggeſellen 
aus einer kleinen Mofelftabt mit einem leiſen Glanz. Das traurige Schickſal einer verratenen 
jungen Ehefrau, die ſich mit ihrem Kinde aus der Fremde in dieſe ihre Heimatſtadt flüchtet, er- 
fährt durch das prächtige fuͤnfblätterige und in der Tat glüdbringende Kleeblatt eine wahrhaft 
fröhliche und herzlich- erheiternde Löſung. 

Das erſte Proſawerk „Novellen“ von Guſtav Renner (Verlag Vong & Co., Stuttgart) iſt 
hervorragend geeignet, dieſem noch viel zu wenig bekannten Dramatiker und Lyriker die Beach- 
tung und Verehrung breiter Kreiſe zu ſichern. Einzelſchickſale geſtaltet der Dichter zu ſchmerzlichen 
Symbolen des Lebens, die Verhängniſſe ehelicher Wirrungen, ſeeliſche Konflikte und Kataſtro⸗ 


. © * 8 
— — — — — * 


Sucher für Weihnachten 245 


phen im Schoße der Familie. Eine novelliſtiſche Meiſterleiſtung gleich die erſte Novelle „Auf 
Vorpoſten“ — während dem ganzen Werk eine große Menſchlichkeit und ein ſtarkes, reifes Künft- 
lertum unvergeßliche Erlebniskraft geben. 

Werner Janfen, der Meifter des hiſtoriſchen Romans, gibt mit feinem neuen Werk „Hein- 
rich der Löwe“ (Verlag Georg Weſtermann, M 6.—) einen dichteriſch wertvollen Beitrag zu 
dem vielgedeuteten Konflikt Heinrichs des Löwen mit Friedrich II. Das Herz des Dichters ſchlaͤgt 
für die dunkle Hagengeſtalt des Löwen, indes das Licht der Siegfriedgeſtalt des Hohenſtaufen 
manche Trübung erfährt. Glanz und Größe und die mächtige Geſchichte des deutſchen Hohen; 
ftaufer-Raifertums hat Janſen bannen können in einem ſtarken und echt deutſchen Kunſtwerk. 
Die Wucht und das Leuchten der Sprache, wie die Charakterſchöpfung der beiden deutſchen Hel- 
den, machen dieſen Roman zu dem bisher bedeutenditen dieſes Dichters. 

Adolf Koelſch gibt mit ſeiner neuen Erzählung „Longin und Dore“ (Grethlein & Co., 
Leipzig Züri, M 5.—) die Geſchichte einer unfeligen Liebe, inmitten ſchwerer und ungewöhn- 
licher Schickſalsverkettung. Das tragiſche Motiv eines von der Mutter des Geldes wegen ver- 
kauften Kindes. Tiefe Seelenkunde und eine zarte Hand zeichnen den Derfaffer aus; den hidften 


Kunſtwert in dieſer reifen Erzählung hat die erleſene Sprachformung, die die entfernteſten Ge- 


fühls quellen der erkrankten und irrenden Seelen erſchließt. Das Buch iſt vorzüglich gedruckt und 
gebunden. 

Will Veſper, der ausgezeichnete Novelliſt und Lyriker, beweiſt mit ſeinem Novellenband 
„Porzellan“ (Verlag 9. Haeſſel, Leipzig, M 3.—) erneut, daß der Deutſche jeder Formmeifter- 
ſchaft fähig iſt und Franzoſen und Südländer leicht und glänzend erreicht und übertrifft. In der 
Tat wie feinſte Porzellanfiguren erſcheinen die graziöfen oder gewaltigen Liebeshelden und -hel- 
dinnen des Rokoko und der Renaiſſance, die durch dieſe Novellen in heißer Leidenſchaft, in leich; 
tem Spiel huſchen, leben oder heroiſch untergehen. Köſtlicher Humor und überlegene Ironie find 
die beſonderen und wertvollen Merkmale dieſer Veſperſchen Kunſt. 

Mit hoher Spannung lieſt ſich der Hecht Roman „Schnock“ von Spend Fleuron (Verlag 
Eugen Oiederichs, M 4.—). Fleuron iſt mir der Meiſter des Tier Romans; keine abſtrakte Erfin- 
dung — ſondern durch unermüdliche, ſcharfſinnig⸗geſchulte Beobachtung gewonnene Natur- 
erkenntnis, geformt in einer ſchönen dichteriſchen Sprache. Neben der Erzählung vom Leben des 
gechtes, reich an Abenteuern und Kämpfen, find die prachtvoll anſchaulichen Schilderungen all 
des Lebens in See und Sümpfen ein wichtiger Teil dieſes gut überſetzten däniſchen Romans. 

Karl Hans Strobl hat mit dem neuen Werk „Das Geheimnis der blauen Schwerter“ 
(Verlag L. Staackmann, Leipzig, M 5.—) einen feiner beften Romane gegeben. Es iſt die Darftel- 
lung der Erfindung des deutſchen (Meißener) Porzellans durch Joh. Friedr. Böttger, der an- 
fänglich Apotheker in Berlin, Goldmacher und endlich der Entdecker des nun weltberühmten 
Meißner Porzellans geworden iſt. Alle Geiſterei der Alchemie ſpukt in dieſem hervorragend inter- 
eſſanten und höchſt lebendig geſchriebenen Roman um 1700. Eine kulturgeſchichtliche Studie von 
hohem Wert und feiner Pinchologie. 

Paul Steinmüller: „In Allmutters Garten“ (Türmer-Verlag, M 2.50). Als Herr auf 
Holthof geht der Dichter durch die Jahreszeiten der Natur — offenen Herzens, beſeelten Auges 
fängt er die Stimmen und Gefidte auf, die alles Leben in Wald und Feld erfüllt. Ergriffen tan- 
det er die Schönheit, Gewalt und ſtille Tiefe der Dinge fernab der ſteinernen Stadt. Natur; und 

BWanderfreunden ift das kleine Buch zunächſt zugedacht, allen anderen mag es die Augen putzen, 
das Herz bewegen und Sehnſucht erwecken nach Allmutters Garten. 

„Hölderlins Einkehr“ von Wilhelm Schäfer (Verlag Georg Müller, München). Oieſe 
Novelle von Hölderlins irrender Wanderſchaft in Frankreich iſt eine Dichtung von außerordent- 
lich gepflegter Sprachkunſt. Hölderlins Erdenferne und Götternähe, fein griechiſcher Schönheits ; 
traum, der Hauch feiner Rhythmen — das alles webt in dieſer Novelle von vollendeter innerer 
Form, in Worten, Bildern und Gleichniſſen, deren Glanz kaum noch überboten werden kann. 


246 Bucher für Weihnachten 


Der ſoeben bei J. F. Steinkopf, Stuttgart, erſchienene neue und große Roman von Wilhelm 
Kotzde „Die Burg im Oſten“ — das Schickſal einer Ritterſchaft — (Preis M 10.—) kann hier 
nur kurz angezeigt werden. Auf 650 Seiten entwickelt Wilhelm Kotzde in machtvoller Erzählung 
das Schickſal der deutſchen Ordensritter im Often des Reiches, geftaltet deren Kampf und Unter- 
gang zu einem bedeutenden heldiſchen Epos. Kotzdes Meiſterſchaft der kulturgeſchichtlichen Ver- 
lebendigung bewährt ſich insbeſondere in dieſem Hauptwerk feines Lebens, das zugleich ein echtes 
deutſches Volksbuch iſt. | 

Lyrik 

Es iſt ſchwer, über bedeutende lyriſche Werke auf kleinem Raum Weſentliches auszufagen, da 
die beſte Anſchauung durch das zitierte Gedicht gegeben wird. Immerhin bietet das Schaffen der 
Oichter, die hier genannt ſind, einen ungefähren Maßſtab für Weſen und Wert. 

Die „Gedichte“ von Ricarda Huch (Verlag H. Haeſſel, Leipzig) tragen den Stempel der 
Perſönlichkeit dieſer großen epiſchen Dichterin, find ſtarke Erlebniſſe Geiſtes und der Seele. 
Lebensglut und Verklärung, zarteſte weibliche Naturhaftigkeit und philoſophiſche Gedanklichkeit 
werden durch die klare, kühn geſchwungene innere Linie ihres Weſens verbunden. 

Oer noch viel zu wenig bekannte bedeutende Erzähler Zulius Havemann gibt im Antäus- 
Verlag, Lübeck, feine geſammelten „Gedichte“ heraus, mit der Widmung „Meiner Heimat“. 
Eine ausgeprägte, ſtarke Perſönlichkeit ſchuf dieſe durchgeiſtigten, meiſt von leiſer Schwermut 
durchtönten Gedichte von vielfältiger Form. Die ewigen und großen Gegenſtände der lyriſchen 
Dichtung haben hier oft jene küͤnſtleriſche und eigenartige Geſtaltung gefunden, die zahlreiche 
Gedichte unſerem Herzen unvergeßlich machen. | 

Herbert Eulenbergs genialiih-romantifhes Dichtertum erglänzt in einer vollkommenen 
Reinheit und Schönheit, wie fie ſeine Dramen und epiſchen Werke ſelten aufzuweiſen haben, in 
den „Oeutſchen Sonetten“ (Verlag J. Engelhorn Nachf., Stuttgart). Hier iſt hohe Kunſt, 
abſichtslos aus dem unfaßbaren Geheimnis der Schönheit ſtrömend, leuchtend und beglüdend. 
Die Sonettform hat ihre akademiſche Haltung vor dieſen urſprünglichen Fluten des dichteriſchen 
Genius aufgeben müſſen — Form und Inhalt find eins geworden. 

Recht in unſere Zeit gehört „Der Fahnenträger“, unter welchem Titel Bruno Golz In der 
Hanſeatiſchen Derlagsanftalt, Hamburg (Preis MK 6.—) eine Auswahl von Liedern und Balladen 
des Grafen Moritz Strachwitz herausgibt. Wie aus Romantiter- und Ritterzeiten, wie 
Schwertſchall, Gläſerklang und Harfenſchlagen wirken dieſe brauſenden Lieder, die großen Bar 
laden vom heldiſchen Leben, von Todestreue, von Manneswürde, von Weibes Wonne. Oer 
Weſenshauch dieſes Dichters des „Herzens von Douglas“ muß unſerer Jugend erhalten bleiben; 
in ihm wogt das Leben, das nicht nach der Zahl, nach dem Genuß, nach dem Vorteil fragt, das 
eherne Geſetze in der Bruſt trug und nach unſichtbaren Kraͤnzen rang. Das herrlich gebundene 
Buch, auf Kunſtdruckpapier gedruckt, bildet eine befondere Überraſchung durch die Wiedergabe 
zahlreicher Bilder von Alfred Rethel. Bild und Wort vereinigen ſich in gleicher Gefinnung zu 
einem machtvollen Zuſammenklang. 


Oer deutſche Gedanke 


Die Gewißheit auf Deutſchlands Wiederaufſtieg aus den Nöten Leibes und der Seele zu neuer 
Würde und neuem Wert gibt uns die Überall aufteimende Beſinnung. Aber dieſe eherne Zeit 
will das Bewußtſein um den deutſchen Gedanken, da mit dem Gefühl allein lebendiges, 
tätiges und ſchaffendes Weſen nicht geftaltet werden kann. Ausdrucks möglichkeiten, auf dieſem 
Gebiete zu wirken, gibt es zahlreich, entſprechend der Vielfalt von Formen und Weſenheiten 
des Oeutſchen. 

Hugo von Hofmannsthal leitet die von ihm unter dem Titel „Oeutſches Lefebud* 
(Verlag der Bremer Preffe, München, 2 Bände M 12.—) herausgegebene Auswahl deutſcher 
Profaftüde aus dem „Jahrhundert deutſchen Geiſtes“, 1750—1850, mit den Worten ein: Es IR 


Bacher für Weihnachten 247 


nichts Geringes, ob eine Nation ein waches, literariſches Gewiſſen beſitze oder nicht, und gar die 
unfere; denn wir haben nicht die Geſchichte, die uns zuſammenhalte — bis ins ſechzehnte Jahr 
hundert haben wir keine Gemeinſamkeit aller Volksteile in Taten und Leiden, und auch das 
Geiſtige iſt nicht gemeinſam. „Nur in der Literatur finden wir unſere Phyſiognomie, da blickt 
hinter jedem einzelnen Geſicht, das uns bedeutend und aufrichtig anſieht, noch aus dunklem 
Spiegelgrund das rätfelhafte Nationalgeſicht hervor.“ „Stil iſt ungerteilte Einheit des höheren 
Menſchen“ — unter dieſem Geſichtspunkt wählt der Herausgeber Proſaſchriften aus jenem leuch- 
tenden Jahrhundert höchſter Entfaltung deutſchen Geiftes. So ift ein Buch entſtanden, das eine 
Quelle geiſtiger Bildung ift. Ein Schriften verzeichnis der hier vertretenen ſlebzig Geiſter wird 
viele weiterhin anregen. Druck und Ausſtattung ſind jedes Lobes würdig. (NB. Wir urteilen 
über dieſes Buch etwas zurückhaltender: man {pict bei der Auswahl den Aſtheten. H. T.) 

Karl Weidel vereinigt in feinem Werk „Oeutſche Weltanſchauung“ (Hanfeatiihe Ver- 
lagsanſtalt, Hamburg, M 8.—) Stimmen der großen Oeutſchen zu dem gewaltigen Thema, das 
der Titel nennt. Bedeutend in geiſtigem Gehalt und in der Sprachformung, die einfach und warm 
iſt, in der Beherrſchung des unũberſehbaren Materials iſt des Herausgebers Einleitung: hier kann 
der bildungsfähige, einfache Deutſche aus dem Volke Stufen der Erkenntnis beſchreiten, die ihn 
zum Gipfel führen, zur Schau der Welt aus deutſchem Geiſt und Herzen, aus ungetrübtem Auge. 
Gn Buch aus heißer Liebe zum Volk geboren, rein und ſtark, wird es Führer fein konnen durch 
die Wirrnis weltanſchaulicher und religiöfer Fragen und Wandlungen, auch durch die Irrtümer, 
denen ſich noch fo viele Volksgenoſſen heute hingeben, indem fie Schlagwörtern und Cinfeitig- 
keiten, der Enge und dem unklaren Gefühl ſich hingeben. Das ſchön ausgeftattete Werk enthält 
zahlreiche gute Kunſtbeilagen. 

Hermann Meyer, Rechtsanwalt in Leipzig, hat das längſt notwendige Buch geſchrieben, 
das den geiſtigen und ſeeliſchen Weſensgehalt der voͤlkiſchen Erneuerungsbewegung welt- 
anſchaulich beſtimmt und wiſſenſchaftlich begründet. Die völkiſche Bewegung wird nur ſein 
und ſich entwickeln, wenn fie aus den Niederungen heutiger Parteipolitik als geiſtige Idee ihre 
Menſchen ergreift und bildet. Das bedeutende und umfangreiche Werk, das unter dem Titel 
Der deutſche Menſch“, Völkiſche Weltanſchauung und Deutſche Volksgemeinſchaft (im Ver- 
lage J. F. Lehmann, München, M 9.—) erſchienen iſt, teilt fic in die beiden Abteilungen, die der 
Untertitel angibt, und iſt auf den neueſten Erkenntniſſen aufgebaut. Allgemeinverſtändlich ge- 
khrieben, weiſt dieſes erſte Buch geiſtiger Begründung des vöͤlkiſchen Gedankens in der Vielfalt 
des Stoffes und ſeiner Behandlung eine Bedeutung auf, die im Rahmen dieſes Aufſatzes nicht 
näher behandelt werden kann. 

Dieweil die bedenklichen Friedensglocken von Locarno ein Zeitalter des Händlergeiſtes ein- 
lauten wollen, regt ſich der Geift des heldiſchen Gedankens immer wieder ans Licht. Hans F. K. 
Sdnther, der Verfaſſer der raſch weit bekannt gewordenen „Raffentunde des deutſchen Volkes“, 
gibt in feinem Werk „Ritter, Tod und Teufel“ (Verlag J. F. Lehmann, & 4.50) eine Wefens- 
beftimmung des heldiſchen Gedankens im Leben, in der Sittlichkeit, in der Staatskunſt, in Glau- 
ben, Liebe und Runft. Das Feuer eigener Überzeugung und Leidenſchaft gibt dem Buch einen 
hinreißenden Schwung, Wahrheit und Vorbildlichkeit, wie denn das Heldiſche tief und einfach 
erfaßt wird als eine Kraft, die innerſt in der Seele daheim iſt. Insbeſondere ein Buch für die 
denkende Jugend. 

Den Helden felbft erleben wir an Oskar Fritſch' Oarftellung „Friedrich der Große“ 
(Verlag 3. F. Lehmann, München, & 5.—). Unter den vielen Fritzen Büchern hat das vorlie- 
gende den Vorzug, daß es nicht ſo ſehr den Verfaſſer und allerhand Geiſtreichigkeiten zur Geltung 
beingen will, ſondern nur dem „Helden und Führer“ dient, daß es keine Intimitäten und Akten, 
keine langen Staatsaktionen vorbringt: Friedrich als der ſittliche Held, als der deutſche 
Mannescharakter lebt hier und ſpricht zu uns in Worten und Taten, die immer wieder die 
Herzen erfchüttern. Was Friedrich war und wie er ward — knapp und anſchaullch, unterftügt von 


248 Bacher für Weihnachten 


vielen Menzelſchen Zeichnungen und vor allem von 31 wundervoll ausgeführten Tiefdruckbildern 
auf Tafeln, erzählt der Verfaſſer der deutſchen Jugend, der deutſchen Familie die Heldenmäre, 
die einſt Leben war: und gewiß Leben bleibt in deutſchen Herzen. 

Der Verlag Eugen Diederichs, Jena, hat ein neues und großzügiges Unternehmen begonnen, 
eine illuſtrierte billige Reihe in farbigen Pappbänden: „Deutſche Volkheit.“ Es iſt eine Quel- 
lengeſchichte deutſchen Volkstums, die hier geboten wird; Mythos, Glaube, Dichtung, Brauch 
und Geſchichte find die Kulturprovinzen, aus denen dieſe Sammlung das Abbild der deutſchen 
Volkheit geben will. Ein neues Mittel, Deutſchtum als Bewußtſein, als Beſitz von Blut und 
Phantaſie zu geſtalten, Volkheit als Verbindung vieler Teile und Strömungen darzuſtellen. 
Namhafte Herausgeber zeichnen für dieſe bedeutungsvolle Buchorganiſation; Druck, Papier und 
Bildermaterial find ausgezeichnet und der Preis von 2 & für jeden Band ſehr billig. Es liegen 
vor: Das Volksbuch von Barbaroſſa, Altgermaniſches Frauenleben, Marienlegenden, Alte 
Bauernſchwänke, Landsknechtſchwänke, Pflanzen im Volksleben, Vlämiſche Sagen, Wendiſche 
Sagen, Oäniſche Heldenſagen, Nordiſche Heldenſagen. Wir werden die Entwicklung des Unter- 
nehmens weiter beachten. 

Zur Literatur 

Albert Soergel, der Verfaſſer der volkstümlichen Literaturgeſchichte „Dichtung und Oichter 
der Zeit“ gibt ſoeben eine „Neue Folge“ unter dem gleichen Titel heraus, eine Schilderung 
der deutſchen Literatur der letzten Jahrzehnte, mit dem Untertitel: „Im Banne des Erpref- 
fionismus“ (R. Voigtländers Verlag, Leipzig, Gangl. K 24. ). Die Vorzüge des erſten Goergel- 
ſchen Werkes weift auch die neue Folge auf: Objektivität, gute Stoffanordnung, klare und viel- 
ſeitig abgehandelte Begriffsbeſtimmung des viel und oft falſch gedeuteten Expreſſionismus. 
Soergel urteilt nicht ſchnell ab, ſondern erklärt das Weſen der Dichtung aus ihrer Zeit heraus, 
geht dem Wollen dieſer Dichtung nach, aber auch den Urſachen und geiſtigen Wandlungen, die 
dieſe Richtung möglich gemacht haben. In rund 900 Seiten entwickelt der Verfaſſer ein monu- 
mentales Bild der deutſchen Literatur zwiſchen 1900 und 1920 — und gibt dem Zeitgenoſſen 
fomit die Möglichkeit, aus dem verzerrten Antlitz der expreſſioniſtiſchen Kunſt die bedeutenden 
und ſchickſalsmäßigen Züge zu erkennen, die weltanſchaulichen, ethiſchen, künſtleriſchen und poli- 
tiſchen Tendenzen auseinanderzuhalten und zu verſtehen. Als Einführung, nicht als letztliche 
Beurteilung, ift das Buch gedacht. Eine beſondere Bewertung verdient der überaus reiche bild; 
neriſche Teil von 342 Abbildungen, zumeiſt von Kunſtwerken der Zeit, ferner Handſchriftproben, 
Karikaturen ufw. Angeſichts des würdig und ſolide ausgeſtatteten, ſichtlich aus jahrelanger Mühe 
und liebendem Mitgehn gewordenen Werkes, angeſichts der vielen kleinen und nur typiſch be; 
merkenswerten Geiſter, die hier Darſtellung finden, angeſichts auch der ewigen ſtillen Tragödie 
vom Verſchweigen und Beiſeitelaſſen deſſen, was nicht laut im allgemeinen Chore tönt, möchten 
wir wünfchen, in der neuen Ausgabe des erſten Teiles alle diejenigen dargeſtellt zu finden, die 
im deutſchen Geiſte ſeit 1900 Bedeutendes ſchufen. Das ift uns Soergel nach dieſem Doku- 
ment der Objektivität doppelt ſchuldig! [Wir unterſtreichen dieſen Wunſch auf das ſtärkſte; es geht 
doch nicht an, in einem breiten Buche über die Zeit von 1900 bis 1920 Namen wie Bonſels, Löns, 
Lienhard, Lilienfein, Schaffner, König, Geude, Renner uſw. überhaupt nicht zu nennen! O. L.] 

In die nicht leicht verſtändliche, aber ewiger Schönheit volle dichteriſche Welt Hölderlins führt 
den literariſch nicht beſonders Vorgebildeten Beate Berwin mit ihrem Buch „Friedrich 
Hölderlin“ (Union, Stuttgart, 4 4.—) trefflich ein. Ganz durchſichtig klar und in knappem 
Rahmen erſchöpfend gibt Beate Berwin nach einer Darſtellung des Lebens eine Einführung in 
die Gedanken- und Formwelt dieſes edlen und echt deutſchen Schönheitsſuchers und Griechen 
teäumers. Die Reinheit und Harmonie dieſes Dichtertums kommt in dem ſchlicht geſchriebenen, 
befeelten Buch zur Geltung, wie das eigentümliche Weſen Hölderlinſcher Sehnſucht. Zahlreiche 
Zitate unterftügen die Anſchaulichkeit der Darſtellung; Abbildungen und Handſchriftprobe er- 
ganzen fie. 


5: “a * 
—— — 


Biicher für Weihnachten = 249 


Es gibt doch immer wieder etwas, was nod nicht dageweſen ijt: Aus dem unüberfehbaren 
Schatz deutſcher Briefliteratur hat Dr. Hans Zimmer einen über 400 Seiten ſtarken Band 
„Hichterweisheit in Briefen“ (Türmer-Verlag, K 9.—) zuſammengeſtellt und damit ein 
notwendiges und echtes deutſches Hausbuch geſchaffen, von großer kultureller, insbeſondere päd- 
agogiſcher Bedeutung. Aber auch für den praktiſchen Gebrauch im Berufe, für die Schriftſteller, 
Lehrer, Geiſtliche und Redner iſt das Buch ein neuer und reicher Behelf, durch ein wohlgewähltes . 
Zitat zu zünden und zu bilden. Das Buch iſt bereits im „Zürmer“ beſprochen; es genüge dieſer 
Hinweis. 


Geſamtausgaben 


Friedrich Lienhards „Geſammelte Werke“, deren erſte Reihe, die erzaͤhlenden Werke, 
in 4 Bänden Weihnachten voriges Jahr erſchienen find, kommen ſoeben mit zwei Reihen, Lyrik 
und Dramatik 5 Bände, Gedankliche Werke 6 Bände, zum Abſchluß. Damit liegt das Schaffen 
von drei Jahrzehnten vereinigt in würdiger Ausſtattung, weißem Leinenband mit feiner Gold- 
derjierung, vor. Zwiſchen der Vernuͤchterung und flachen Aufklärung des 19. Jahrhunderts und 
den beiden periodiſchen Literaturepochen des Naturalismus und Expreſſionismus ward von 
wenigen ein Weg zum deutſchen Idealismus freigehalten, den heute die deutſche Erneuerungs- 
bewegung beſchreitet. Zu dieſen wenigen Wegbereitern und Platzhaltern gehört Friedrich Lien- 
bards Werk — und darum immer ins Haus und Herz der Deutſchen. 

Conrad Ferdinand Meyer, deſſen 100. Geburtstag am 10. Oktober gefeiert worden iſt, 
gehört ohne Zweifel zu den großen deutſchen Künſtlern monumentaler epiſcher Dichtung und 
formedelſter Lyrik. Glanz und Größe der Stoffe, die zumeiſt hiſtoriſch find, fanden überwälti⸗ 
genden ſprachlichen Ausdruck. Die Landſchaftsſchilderung, beſonders der ſchweizeriſchen Heimat 
der Alpen und blühenden Täler, zeugt für ein zartes Gemüt, wie die Wucht und der Ernſt der 
Schickſale für die ethiſche Tiefe des Charakters. Die Lyrik vereinigt die einfachſte Naturempfin- 
dung mit dem großen Zug gedanklicher Dichtungen und der dramatiſchen Kraft der Ballade. 
Unerreicht ſind viele Gedichte in der vollendeten Form. So wird der Dichter immer ein bleibender 
und bedeutender Stern am Himmel deutſcher Oichtkunſt fein. Der Verleger Conrad Ferdinand 
Meyers, H. Haeſſel in Leipzig, hat jetzt eine vierbändige Dünndrudausgabe der Werke heraus“ 
gebracht (& 40.—), die durch eine ausgezeichnete und kenntnisreiche Studie von Robert Faeſ 
über Leben und Schaffen eingeleitet wird. Auch dieſe ſchöne Ausgabe iſt ein beſonders feſtliches 
Geſchenk für den Weihnachtstiſch. 


Lebensbeſchreibungen 


Oer 70jährige Dichter Ernſt von Wolzogen, der feine Humoriſt, ſchreibt unter dem Titel 
„Wie ich mich ums Leben brachte“ (Verlag Georg Weſtermann) feine Erinnerungen und Er⸗ 
fahrungen. Das Buch ijt meiſterlich geſchrieben, voll Witz, Scherz, Zronie und tieferer Bedeutung, 
führt eine Fülle von Geſtalten aus dem literariſchen und künſtleriſchen Leben vor, insbeſondere 
um die Jahre 1890 bis zur Jahrhundertwende, und endet mit einem Aufruf und Bekenntnis zu 
den deutſchen Idealen und zum deutſchen Menſchen. Ein überaus vergnüglich zu leſendes Werk. 

Der 60 jährige Bodenreformer Adolf Damaſchke erzählt fein Leben in dem kultur; und zeit; 
geſchichtlich überaus bedeutſamen Erinnerungsbuch „Aus meinem Leben“ (Verlag Greth- 
lein & Co., Leipzig). Der Aufſtieg vom Kind der einfachen Handwerkerfamilie aus den Miets- 
kaſernen Berlins zum Führer einer der zukunftsträchtigſten ſozialen Bewegung, zum Dottor der 
Rechte ehrenhalber, zum vielgeleſenen Schriftſteller und Redner, führte über die deutſche Volks- 
ſchule, und durch die Zielſtrebigkeit eines ſtarken Charakters zur Entwicklung einer bedeutenden 
Perſönlichkeit. 

General Eduard von Liebert, der 70jährige, berichtet ein Stück politiſcher und militärifcher 


Geſchichte in feinem Erinnerungswerk „Aus einem bewegten Leben“ (Verlag 5 a: Leh- 
der Tirmer X XVI, 3 


250 Bucher Me Weihnachten 


mann, München, M 7.—). Das Leben eines Patrioten, eines Streiters für deutſche Macht und 
Größe, entwickelt ſich hier in manchmal dramatiſchen Bildern. Bei der Truppe, im Kriegsmini- 
ſterium, im großen Generalſtab, als Gouverneur von Deutſch-Oſtafrika, als Politiker, wiederum 
als Heerführer im Weltkriege, begleiten wir den Verfaſſer in ſeinem Wirken, das vorbildlich iſt 
für die Erziehung der deutſchen Jugend zu Mannhaftigkeit, Ehrenhaftigkeit und Baterlandsliede. 


Für die Jugend 


In die edelſte deutſche Sagenwelt führt die deutſche Jugend Leopold Weber mit den erzäh- 
lenden Werken „Dietrich von Bern“, „Die Hegelingen“, „Asgard“ und „Midgard“. 
Neben den Götterfagen erhebt ſich die germaniſche Heldenſage durch die Kraft und Unbedingtheit 
ihres Ethos zur un vergänglichen Geltung. In dieſem Reich der Gage find die Wurzeln oder zu- 
mindeſt früheſte Ausdruckskrafte nordiſch-deutſcher Sittlichkeit, die heldiſch ift und klares Ja und 
Nein. Leopold Weber hat dieſe Sagen neu geſtaltet und ſprachlich für unſere Zeit verlebendigt 
in einer Form, die die Erzählung fließend entwickelt und durch die Kraft der Anſchaulichkeit zur 
ſpannenden Lektüre macht. Die ſchönen Einbände und die Orucktypen find dem Inhalt angenähert 
und ergeben eine einheitliche Wirkung. 

Im gleichen Verlag (K. Thienemann, Stuttgart) liegen in neuer Auflage und in neuen, 
Schönen Einbänden Eberhard Königs ſtarke Zugenderzählungen vor: „Der Dombaumeifter 
von Prag“ und „Ums Heilige Grab“. Die erſte Erzählung behandelt das Lebensſchickſal des 
Sombaumeiſters Peter Parler, die andere den Kreuzritterkampf ums Heilige Grab. Die kernige, 
mannhafte Sprache, der hiſtoriſch überaus lebendige Hintergrund, die bedeutende Charakter- 
zeichnung der führenden Geſtalten — dieſe Elemente ſchufen echt jugendtümliche Bilder von 
ſtarker Eindrucks kraft. 

Ebenfalls bei Thienemann, Stuttgart, erſcheint feit Jahren das „Oeutſche Knaben buch“ 
und das „Deutſche Mädchenbuch“: beide Bücher kann man Jahr um Jahr heranwachſender 
Jugend auf den Weihnachtstiſch legen. Oasfelbe gilt von den entſprechenden Veröffentlichungen 
des Verlages Herder & Co. in Freiburg i. Br., z. B. „Die Frühlingsreiſe“, ein Buch für 
junge Mädchen, herausgegeben von Charlotte Herder und „Der ährmann“, ein Buch für 
werdende Männer. 

Naturwiſſenſchaft und Märchenwelt, Fabel und Tatfachen vereinigt in famoſer friſcher Sprache 
das Werk „Max Butziwackel, der Ameiſenkaiſer“, von Luigi Bertelli, deutſch von Luiſe von 
Koch, mit zahlreichen Zeichnungen von Karl Elleder. Ein Buch von köſtlicher Erfindung und fin- 
niger Naturbetrachtung, das nicht nur die Jugend, ſondern auch die „Alten“ anregen und be- 
ſtimmen wird. Der Verlag Herder & Co. hat dieſem ergdgliden Ameiſenkaiſer (ein unartiges, 
müßiges Buͤrſchchen, das in eine Ameiſe verwandelt wird und nach genügend Erfahrungen und 
Lehren als ein brauchbares Kerlchen zurüdverwandelt ~~ ein fürftlides Gewand (zum bil- 
ligen Preife von 4.50) gegeben. 

Unter dem Titel „Der deutſche Spielmann“, 8 Dr. Exnſt Weber, erſcheint bei 
Georg O. W. Callwey, Münden, ein eigenartiges und bedeutendes Unternehmen. In Bändchen 
von etwa 80 Seiten werden Auswahlen aus dem Schatze deutſcher Dichtung geboten, geordnet in 
ſinnvoller Form, alle originell von lebenden Künſtlern farbig und ſchwarzweiß illuſtriert, auf 
gutem Papier vorzüglich gedruckt. Aus Erzählung und Verstunft iſt das Beſte gefhöpft, was der 
Jugend und dem Volk dargeboten werden kann zur Freude und Belehrung, zur Beſinnung und 
Führung. Heiter und licht iſt die ganze Sammlung, tiefjinnig und vielfältig und ganz beutfd. 
Es hält ſchwer, die Stoffgebiete zu kennzeichnen: es iſt halt alles da, Geſchichte, Landſchaft, Sage, 
Jahreszeiten, Fabelreich, Gejpeniter ... und alles volkstümlich, einladend, gehalt: und wertvoll. 
In dieſer Art und Billigkeit eine einzigartige Leiſtung von bunter Auswahl, da bereits 40 Bänb- 
chen vorliegen. (Preis 4 1.20.) 


7 


Bader über biidenbe Runt 251 


Für die Jüngſten 


Über Kinderbücher dürften nur Leute ſchreiben, die ſelbſt Kinder haben und die Wirkung der 
Bücher an ihnen erprobt haben. Das ift hier der Fall! Der Bilderbücher Verlag Zoſ. Scholz, 
Maing, iſt der alljährliche Lieferant all der bunten, feligen Kinderfreude, da ijt diesmal ein 
„Nein -Kinder - Buch“ mit Verſen von Frida Schanz und den immer wieder prächtigen Bildern 
von Lia Doering, von jener Kinderanſchaulichkeit, die den kleinen Leutchen die Augen blank, 
die Baden rot macht und ihre Händchen in Bewegung fest. Far die bißchen größeren Kinder 
haben beide Kuͤnſtlerinnen ein frdhlides Werkchen „Kinder und Blumen“ geſchaffen, darin viel 
buntes Blumenleben, ein prächtiger Hochzeitszug und echte Kinderverſe. Wiederum für mehr- 
jährige Kinder iſt das Bilderbuch: „Für Buben und Mädels“ beſtimmt, wahrend das köſtliche 
Auswahlbuch „Goldene Ernte“ mit Liedern und Gedichten deutſcher Dichter und den voll- 
endet märchenhaften und entzückenden Bildern von Hans Schroedter ſchon für die Abefhüßen 
in Betracht kommt. Einen reizvollen Anſchauungsunterricht über Leben und Verkehr, über die 
Großſtadt bieten zwei andere dauerhaft gebundene Kinderbücher, die insbeſondere in der Klein- 
ſtadt und auf dem Lande begrüßt werden: „Ein Spaziergang durch die Großſtadt“ mit Bildern 
von Rob. Fuchs, Verſen von Rich. Klement, und „Leben und Verkehr“ mit Bildern von Fof. 
Danilowatz und Verſen von Rich. Klement. Wieviel haben die Augen zu feben, wieviel Anlaß zu 
Fragen und Lachen und Freude, wie heiter und leicht die Verſe! 

Franz Alfons Gayda 
NB. Wir bitten die Lefer, in Ergänzung zu dieſem Überblick auch den „Büͤchertiſch“ noch zu 
berüdfichtigen. Es iſt unmöglich, die ganze Fille der (oft zu ſpaͤten) Eingänge zu berüdfichtigen. 


Bücher über bildende Kunſt 


Alle Kmſtgeſchichten, mögen fie nun Malerei, Muſik oder Dichtung behandeln, find — fo- 

fern fie nur von einem Verfaſſer herrühren — notwendigerweiſe beſchränkt und ein- 
kitig. Es ift bei der Ausdehnung der Gebiete nicht denkbar, daß ein einziger Kopf den Stoff 
volfländig beherrſche und kenne; gewiſſe Unebenheiten werden darum unvermeidbar fein. 
Anders freilich, wenn verſchiedene Mitarbeiter tätig find und jeder nur innerhalb der Grenzen 
heimiſch bleibt, die ihm Studium und Liebhaberei angewieſen. So finden wir es auch bei der 
allbekannten und mit Recht geſchätzten Kunſtgeſchichte von Springer, deren erſter Band 
ms vorliegt (Kröner, Leipzig) und durchaus würdig, äußerlich wie innerlich, auf den Plan 
kitt, Diefe zwölfte Auflage, umfaffend die Kunſt des Altertums, wurde von Paul Wolters 
bearbeitet. Vortrefflich vor allem die zahlreichen Abbildungen, die ja erſt die wahre Anſchauung 
befördern; aber auch der Umfang iſt beträchtlich gewachſen. Diefer erſte Teil umfaßt den Orient, 
Siedhenland und Stalien. Neueſte Forſchungsergebniſſe wurden verwendet, der Text iſt flüffig 
und ohne unnötige fachwiſſenſchaftliche Auswüchſe. Auffallend gering iſt dagegen die ur- 
germaniſche Kultur beriidjidtigt; oder wurde fie dem zweiten Bande vorbehalten? Es würde 
zu weit führen, Einzelheiten zu betrachten; unſeren Leſern genüge der Hinweis, daß hier ein 
zuderlaſſiger, gründlicher Führer geboten iſt, dem man ſich wohl anvertrauen darf. Mögen die 
folgenden Teile ebenſo günftig und wirkſam fein! — Ein Sondergebiet behandelt Otto Höver 
in feiner „Vergleichenden Architekturgeſchichte“ (Allgemein. Verlagsanſtalt, München), 
einem Werte, das trotz mancher anregenden und fleißigen Durchführung dennoch unbefriedigt 
läßt. Es iſt nicht der durchaus katholiſche Standpunkt, der verſtimmt; aber die einfeitige Ver 
hertlichung des „deutſchen“ Barocks mutet fonderbar und fragwürdig an. Barock iſt eben un- 
deutsch, iſt Fremdgut; es mag wohl kirchlich; atholiſchem Empfinden nahe fein, niemals aber 
germaniſchem. Und darum hat dieſe Arbeit, die übrigens auch mit guten Abbildungen gezlert 


252 Bücher über Bildende ung 


ijt, keinen überzeugenden Eindruck erwecken können. — „Orbis Piotus“ heißt eine neue, 
ſchmucke Sammlung (Exrnſt Wasmuth, Berlin), die in einzelnen ſchmalen Bänden gewiſſe 
Einzelgeblete der Kunſt behandelt; die Einleitungen ſind zumeiſt knapp und kurz; die Bildet, 
gut in der Wiedergabe, ſollen Anregungen vermitteln. Es liegen folgende Bände vor: Indiſche 
Baukunſt; Alteſte deutſche Malerei; Altruſſiſche Kunſt; Fflamifdhe Baukunſt; Mittelalterliche 
Elfenbeinarbeiten. Man kann ſich der einzelnen Studien erfreuen, wenn auch für den Laien 
mitunter eine nähere Auskunft erwuͤnſcht wäre, damit er fic beſſer und ſicherer zurechtfinde. 
Als Beigabe zu jeder KNunſtgeſchichte aber werden dieſe Abhandlungen ſicherlich ihren Zweck 
erreichen. — Wie alles, was Hans Much geſchrieben, fo ift auch fein neueſtes Buch „Rings 
um Zeruſalem“ (Einhorn -Verlag, Dachau b. München) voll wichtiger und guter Aufſchlüͤſſe. 
Dieſe Briefe, geſchrieben auf zwei Tuberkuloſe-Forſchungsreiſen durch Paläſtina, befaffen ſich 
befonders mit kuͤnſtleriſchen Fragen. Much hat helle Augen, klaren Blick; was er ſagt, über- 
zeugt und regt zu weiteren Studien an. Ein Kapitel wie dasjenige über Heimatkunſt ſollte 
namentlich in der Gegenwart immer wieder beachtet werden. Dem fdin gedruckten Werle 
ſind einige treffliche Bildtafeln beigegeben. — Nun ein Blick in die Kultur unſerer Vorfahren, 
die man bisher fo jpärlich beachtet und viel zu gering gewertet hat. Georg Wilke unterſucht 
„Die Religion der Indogermanen in archäologiſcher Betrachtung“ Curt Kabitzſch, 
Leipzig); man ift noch viel zu wenig den Quellen unſerer Geſittung und Geſinnung nach 
gegangen, hat ſich zumeiſt mit Vermutungen oder Ablehnung ſogenannter barbariſcher Zeiten 
begnügt; wer genauer zuſieht, wird ſehr bald finden, daß diefe als roh verſchrienen Völker 
einen wertvollen Beſitz ſelbſterrungener Güter ihr eigen nennen durften. Der Verfaſſer bietet 
eine Fille feſſelnden und überzeugenden Materials, nebſt nützlicher Textabbildungen. Auch 
das kleine, aber ſehr unterrichtete Büchlein „Aus Oeutſchlands Urgeſchichte“ von 
G. Schwantes (Quelle & Meyer, Leipzig) kann warm empfohlen werden und follte be- 
fonders von Lehrern fleißig benutzt werden. Wer nach Lektüre dieſes an ſich jo knappen Bänd- 
chens nicht erkennt, daß unſere Altvordern keineswegs die „Barbaren“ und „Hunnen“ waren, 
als die man fie heute noch ablehnen mochte, an dem iſt jeder Bekehrungsverſuch umſonſt. 
Ins Mittelalter führt uns „Der Cicerone“ von Jacob Burckhardt, der jetzt wieder in 
feiner Urgeſtalt erſchienen iſt (Alfr. Kröner, Leipzig); das an fic ſehr wertvolle Buch hat feine 
Wirkung geübt, freilich — wie nicht zu überſehen iſt — in einer durchaus undeutſchen Art, 
indem der Renaiffance und ihrer individualiſtiſchen Rultur eine viel zu nachdrückliche Be 
deutung für unſer Geiſtesleben überlaſſen wurde. Burckhardt, der einem Rembrandt gegen; 
über von ſchmachvollſter Unkenntnis war, hat ſchließlich nur noch der römiſchen Welt ein Da- 
ſeinsrecht zugegeben. Und nun blicke man etwa nach Marburg und ftudiere einmal aufmerk 
ſam die umfangreiche, emſige Arbeit über „Die Eliſabethkirche zu Marburg und ihre 
künſtleriſche Nachfolge“ (Kunſtgeſchichtl. Seminar zu Marburg), die Rich ard Ham ann 
und Kurt Wilhelm Käſtner beſorgt haben. Dieſer erſte Teil beſchränkt ſich nur auf die 
Architektur, und ſchon hier iſt eine erſtaunliche Menge überraſchender, aufſchlußreicher Tat- 
ſachen ausgebreitet. Nach Limburg, Wetzlar, Haina, Wetter, Friedberg werden die deutlichen 
Spuren verfolgt, und fo gewinnt man einen überaus gründlichen Einblick in die Baugeſchichte 
dieſer altberühmten, ehrwürdigen Kirche. Nach Erſcheinen des zweiten Bandes wollen wir 
ausführlicher das Werk betrachten. Hier mag auch gleich die hübſche, bildergeſchmuͤckte Schrift 
von Joſeph Boymann, „Marburg als Runftitadt“ Erwähnung finden (derſ. Verlag), 
die ſehr unterhaltſam und aufklärend alles Wiſſenswerte beibringt und darum allen Beſuchern 
Marburgs willkommen fein wird. — Köſtliches und wahrhaft Germaniſches bietet das prad- 
tige Werk „Oeutſche Bildhauer des 13. Jahrhunderts“ von Hans Zantzen (Infel- 
verlag, Leipzig). Die Dome von Straßburg, Bamberg, Naumburg und Magdeburg werden 
mit einer Gründlichkeit und ſachlichen Wärme behandelt, daß man empfindet, welch un ver 
gänglich große, ragende Kunſtwerke hier zu einer armen und getnedteten Gegenwart reden, 


Bucher Ader bildende Runft 253 


mahnenb, warnend, aufridtend. Ja, es ift etwas Wundervolles um fold bobenftdndige Runft, 
um fold fromme Aufrichtung! Oer Verfaſſer verfteht es, fein Thema feffelnd zu entwickeln; 
die Bilder find ausgezeichnet und beſonders wirkſam. — Zn der tüchtigen, von Hans Much 
herausgegebenen Reihe der Norddeutſchen Heimatbücher hat Oskar Beyer einen Bei- 
trag zur „Norddeutſchen gotiſchen Malerei“ geliefert (Weſtermann, Braunſchweig). Es 
find ja beſonders Meifter Bertram und Meiſter Francke, die in Betracht kommen; wer einmal 
in der Hamburger Runfthalle vor ihren Bildern geftanden, der wird wiſſen, welche Schätze hier 
faſt unbeachtet waren. Beyer ſuchte vor allem den geiſtigen Hintergrund jener gotiſchen Ge- 
ſinnung und Auswirkung zu geben; er hat vornehmen und ſicheren Tones ſich ſeiner Aufgabe 
entledigt, indem er vor allem auch das bisher geltende Bild der Gotik ſehr richtig nach der nord- 
deutſchen Geſtaltung diefer urgermaniſchen Kunſtrichtung korrigiert und klarſtellt. — Willy 
Paſtor, dem wir fo manches aufſchlußvolle Buch über deutſche Art verdanken, hat nun auch 
fiber Rembrandt geſchrieben (9. Haeſſel, Leipzig), und wie innerlich, wie ergriffen und er- 
greifend! Er behandelt dieſen Difiondr zugleich als den Geufen, den Eingeſeſſenen, Boden 
ſtandigen. Das gar nicht umfangreiche Buch bringt mehr Erlebtes als mancher gelehrte Walzer, 
weil es aus perſönlichſter Teilnahme erwachſen iſt.— Oer Neuzeit nähern wir uns mit dem 
entzüdenden Büchlein über „Schwediſche und Norwegiſche Kunſt feit der Re- 
naiſſance“ von Albert Dresdener (Ferd. Hirt, Breslau); ijt doch eine fo verwandte Kunſt 
bier gegenwartig, die ſich zwar auch nicht den Einflüffen von außen verſchlie ßen konnte — nicht 
immer zum Vorteil —, aber doch, wie die Bilder beweiſen, die beigefügt find, bis heute Kraft 
und Friſche bewahrt hat. Das gleiche gilt von der „Modernen Malerei der deutſchen 
Schweiz“, die Wilhelm Schäfer zu deuten unternimmt (9. Haeſſel, Leipzig); wer könnte 
Namen wie Hodler, Welti, Böcklin oder Buri überſehen! Auch hier eine aufrechte, ehrlich ge- 
willte Runft, trotz mancher Übertreibungen und „Modernitäten“, die nun einmal nicht zu ver- 
meiden find, wo man nach neuen Tönen ringt. Übrigens iſt Schäfers Text ſehr klar und takt⸗ 
voll gehalten. Einer dieſer Schweizer Maler, Ernſt Würtenberger, hat auch über den kuͤrz⸗ 
lich verſtor benen Altmeiſter Hans Thoma ein recht unterhaltſames, aus perſönlicher Kenntnis 
geſchrie ben es Büchlein veröffentlicht (Rotapfelverlag, Erlenbach - Zurich), das mancherlei kleine 
Züge dieſes einſt fo bitter verkannten Schwarzwäldlers nahebringt, u. a. einige Ausfpride, 
bie fo recht das un verdorbene Weſen Thomas offenbaren, etwa das Scherzwort: „Das Wort 
Kunſt kommt von Können; wenn es von Wollen käme, fo müßte es Wulſt heißen.“ — Einem 
andern deutſchen Rinftler, Ludwig Fahrenkrog, gilt eine ſehr anſprechende Monographie 
von Kurt Engelbrecht (Verlag der Schönheit, Dresden), die aber vor allem Wert empfängt 
durch die zahlreichen, zumeiſt vorzuͤglichen Bildbeigaben, aus denen man dieſen eigenwilligen, 
jo durchaus germaniſch beſtimmten Maler lieb gewinnen muß, auch wo ſich Idee und Aus- 
führung nicht immer vollkommen einen, wo der Gedanke in ber Form nicht reſtlos aufgegangen 
it. Zmmer aber fühlt man den hohen Willen, die unbeugſame Rraft, die Sehnſucht nach innerer 
Schönheit, die zum Lichte ringen. 

Zum Schluß ein paar Mappen. Da iſt zunächſt das „Oeutſch-Römiſche Skizzen buch“ 
(O. C. Recht, Minden), eine Gabe für alle Freunde der Romantik, denn hier find in vor- 
trefflicher Wiedergabe Handzeichnungen namhafter Künſtler aus dem Beginn des vorigen 
Jahrhunderts vereinigt: Koch, Fohr, Horny, Schnorr, Rohden, Richter, Preller u. a. Wieviel 
Liebe und Sorgfalt redet aus dieſen Blättern, un verwüſtliche Treue und Freude am Schaffen! 
Eine köſtliche, herzlich zu begrüßende Gabe, der man nur eine Fortſetzung bzw. Erweiterung 
winfden möchte. — Ein anderer glidlider Gedanke war es, die vergeſſenen Stahlſtiche Lud; 
wig Richters aus dem Harze neu herauszugeben (Schwanecke, Quedlinburg); bisher ſind 
zwei Reihen erſchienen, die uns die Berechtigung dieſer wertvollen Ausgrabung vollkommen 
erkennen laſſen. Wir wünfchen dem ſchönen Unternehmen weiteres Gedeihen und einen reichen 
Erfolg. Vielleicht findet ſich auch einmal ein Verleger, der Richters Stahlſtiche aus Franken 


254 Unfere Runfidellogen 


neu veröffentlicht. — Nachdem Philipp Otto Runge Auferſtehung gefeiert, findet man überall 
Nachbildungen ſeiner Werke; ſelten aber wird man ſo große, klare, fehlerloſe ſehen, als die drei 
Mappen, die Ludwig Benninghoff unter dem Titel „Runge und die Myftil", „Runge 
und der Menſch“ und „Runge und die Natur“ zuſammengeſtellt hat (Hanfeatifhe Ver⸗ 
lagsanſtalt, Hamburg). Es gehört ſicherlich zu den ftärkiten Eindrüden, wenn man in der Ham- 
burger Kunſthalle vor Runges Gemälden ſtehen darf und erkennen kann, daß dieſer Fruͤhver⸗ 
blichene keineswegs nur ein ſtarker Theoretiker, ſondern auch ein ſehr unmittelbarer Ranfiler 
geweſen iſt, der ſehr wohl zu malen verſtand (was man den Nomantikern ſo gern abgeſtritten 
hat). Fehlen auch hier die Farben, fo wird doch die fchöne Wiedergabe zu entſchaͤdigen wiſſen; 
der begleitende Text iſt voll Wärme und Verſtändnis, wie denn dieſe drei Mappen eins der 
wertvollſten Geſchenke bedeutet, die uns letzthin beſchert worden find. — In das ftille Weimar 
führen uns ſodann zwei ſehr anmutige Sammelbücher, die der raſtloſe Wilhelm Bode zu- 
ſammengeſtellt hat: „Das Leben in Alt Weimar“ und „Damals in Weimar“ 
(Y. Haeſſel). Wer die ehrwürdige Klaſſikerſtadt kennt, wird an den beiden reizenden Büchern 
beſondere Freude erleben; aber auch jeder Außenſtehende muß alsbald erkennen, daß hier ein 
Stück Rultur gerettet iſt, das beinahe wehmütig in unſere verworrenen Tage hinüberklingt, — 
eine Vergangenheit, in die man ſich ſo gern und dankbar verliert. Manche bisher unbekannte 
Bilder find hier vereinigt, fo daß auch der Kunſtkenner gewiß auf feine Roften kommen wird. — 
Karl Thylmann, der früh Verſtorbene, iſt mit einer anmutigen „Märzſerie“ vertreten 
(Verlag Der Kommende Lag, Stuttgart), die uns den Verluſt des verheißungs vollen Rünftlers 
von neuem ſchmerzlich fühlen läßt; eine kleine Mappe „Burgen und Schlöſſer aus dem 
mittleren Saalegau' wird allen Thüringern lieb fein; die ſauberen, mitunter etwas flachen, 
aber ſehr eindringlichen Zeichnungen Max Schambergers werden begleitet von ſachkundigen 
Ausführungen Otto Engelhardts (Hohe Schwarm -⸗Verlag, Saalfeld i. Thür.). — Ben Be- 
ſchluß aber möge ein Rünftler bilden, deſſen hier ſchon (Dezember 1924) ausfuhrlich vom Heraus 
geber gedacht wurde, der es aber verdient, daß man nochmals auf ihn hinweiſe: F. Haß. 
Seine Mappe erſchien bei Otto Wilhelm Barth, München ; eingeleitet von Mid. Georg Conrad. 
Nun erſcheint mir dies das Beſtimmende: daß die „okkulten“ Erlebniffe und Bilder fo reſtlos 
kuͤnſtleriſch geſtaltet find; daß hier trotz perſönlichſter Exfahrniſſe dennoch eine gewiſſe Objettivi- 
tät erreicht wurde. Dieſe ſieben Bilder gehören zu den ſtaärkſten Eindrüden, die ich in den letzten 
Jahren gewonnen babe, weil hier ein Rünftler am Werke iſt, der ſich nicht im Abſtrakten ver- 
liert (alle Ideen malerei bleibt letzten Endes befangen und nur für den Schaffenden ſelbſt über! 
zeugend), ſondern das, was er zu künden hat, in einer Form gibt, die zwar das Letzte verſchweigt 
oder nur andeutet — wie alle große Kunſt —, dennoch aber ihre ernſte Einſamkeit nicht eifer- 
füchtig verſchließt, ſondern für alle Teilnehmenden ausſtrömen läßt zu Gewinn und Gegen. 
Ernſt Ludwig Schellenberg 


Unſere Kunſtbeilagen 


an muß die drei Bilder unſeres Weihnachtsheftes eigentlich in folgender Reihenfolge be- 

trachten: 1. Chriſtus naht der Welt, 2. Chriſti Geburt, 3. Maria mit dem Kinde. Aber 
den myſtiſch geſtimmten Künſtler Fritz Hab haben wir uns ſchon früher im Tuͤrm er ausführ- 
lich und anerkennend geäußert. Sein Chriſtus naht aus geheimnisvollen Tiefen unſrem liebeloſen 
Stern, der zu erſtarren droht; er kommt als Licht und Liebe, als kosmiſche Sonne und ſtrahlt 
die verhärtete Menſchheit erwärmend an. Oieſes kosmiſche Ereignis hat ſich in dem zweiten 
Bilde (Chriſti Geburt) noch ſtärker herausgeſtaltet; die Lichtgeſtalt ift dem großartig überleuchteten 
Planeten Erde nun ganz nahe. Und im dritten Bilde des Malers W. Zuttner ſehen wir die 
Geburt vollzogen: Chriſtus liegt in Kin desgeſtalt auf dem Schoße der nährenden Mutter. Oer 


im. m - 


NONE anf Gepeent 1025 255 


Sdnee rund herum („mitten im kalten Winter“: auch der Herzen ) iſt angeleuchtet von der 
monumental aufgefaßten Gottesmutter, dieſem Gefäß der Gottheit. Die Geftalt der Madonna 
wirkt wie ein Kirchenfenſterbild in eigenartig eindrucksvollen Farben. 

Pie drei Bilder in ihrer Zuſammenfaſſung haben meditativen Wert. Sie tönnen jeden be- 
ſinnlichen Beſchauer zu vertlefter Auffaſſung des Chriftus-Ereigniffes anregen. 

Über den München er Runſtmaler Fritz Haß haben wir, wie gefagt, bereits im „Türmer“ be- 
tichtet (Oez. 1924, S. 24 ff.). Willy Züttner lebt (ſeit 1911) gleichfalls in München. Er iſt 
1886 zu Leubus in Schleſien geboren, hat die Runftatademie in Breslau beſucht und ſich durch 
Studienreiſen nach Holland und Paris vervollkommnet. Er hat einen ausgeſprochen en Sinn für 
das Dekorative, fo zwar, daß er durch feine überraſchend klingenden Farben und durch höhere 
konſtruktive Werte gerade hierin echte Nuͤnſtlerſchaft zeigt. 


Rückblick auf Bayreuth 1925 


aß die Spiele im vorigen Jahr überhaupt wiederaufgenommen werden konnten, war eine 

Groftat. An geweihter Stätte fanden ſich viele altgetreuen Bayreuther, die ein Wieber- 
ſehen kaum mehr zu hoffen gewagt, mit neuem Lebensmut zuſammen. Von feindlicher Seite 
war mancher Einwurf und Vorwurf zu erwarten, vornehmlich die Behauptung der Rüdftändig- 
keit gegenüber den andern Theatern, wenn Bayreuth sunddft ein fach an die Überlieferung von 
1914 wieder antnüpfte. Um die Kräfte zu prüfen, war doch nur dieſer Weg gangbar und, wie 
ſich alsbald zeigte, mit ſchoͤnſtem Erfolg. 

der Wiederaufnahme von 1924 folgte 1925 ein gewaltiger Fortſchritt, der ſich auf allen 
Gebieten bemerkbar machte. Dem Feſtſpielgaſt fiel zuerſt die Erweiterung des Hauſes ins 
Auge. Urſprünglich (1876) waren nur die beiden Hauptteile, das hochragende Bühnen haus und 
der niedrigere halbrunde Zuſchauerraum errichtet worden. Bereits 1882 kam der Vorbau als 
Aufgang zur Rönigslaube hinzu; bald folgte ein Anbau rüdwärts an der Bühne zur Aufbewah- 
tung der Ausſtattungsgegenſtände. Oieſer Anbau iſt jetzt beträchtlich vergrößert worden, in 
feinem untern Teil eine ausgedehnte, für die Inſzenierung bisher noch nicht verwertete Hinter; 
bühne, im oberen Stockwerk ein geräumiger Probefaal. Das Haus gliedert ſich alſo außer dem 
Vorbau in drei Hauptteile, die ſich ſchon duferlid gegeneinander abſetzen. Das Dach des Zu- 
ſchauerraums iſt mit einem patinadhnlichen grünen Anſtrich verſehen worden, der mit der matt; 
toten Farbe des Mauerwerks vortrefflich zuſammenſtimmt. Der ſchlichte Fachwerkbau, der 
naͤchſtens 50 Jahre alt wird, hebt ſich aus dem Grün der hochgewachſenen Bäume in leuchtender 
Schönheit heraus: wir ſchreiten durch den Hain zum Heiligtum empor, worin das deutſche 
Meifterdrama ſich lebens voll geſtalten foll. 

Das Bühnenbild verlangt heute andere Mittel als vor 30 oder 40 Zahren. Nach wie vor 
bleibt die einzige Aufgabe, das vom Oichter geſchaute Bild fo deutlich und eindrucksvoll als 
moglich zu erftellen. Die grundſãtzliche Wendung zur Stilbühne iſt für Wagners Werke durchaus 
verwerflich. Aber die bemalte Leinwandfläche iſt veraltet. Wir wünfchen den faltenloſen Rund- 
horlzont und körperliche Verſatzſtuͤcke, die auf naturliche Weiſe beleuchtet werden können und 
den Darftellern zwangloſe Bewegung verſtatten, jo daß ein der Wirklichkeit entſprechendes 
Seſamtbild ſich ergibt. Diefe Forderung ift bereits großenteils erfüllt worden, namentlich in den 
Felslandſchaften des Rings. Eine vollſtändige Erneuerung war in dieſem Fahre noch nicht 
möglich, ſo daß zuweilen Altes und Neues unvermittelt nebeneinander ſtand. Der Parſifal z. B. 
wurde mit Ausnahme von Klingsors Zauberturm, der auffällig moderniſiert ſich darbot, in der 
alten Form belaſſen. Zm Zaubergarten behalf man ſich mit Lichtwirkungen, die Gewänder der 
SBlumenmadden waren erneuert. Die meiften Bühnen find in ähnlichem Übergang der Aus- 


256 RAAdlia auf Bapreuth 1925 


ftattung begriffen wie Bayreuth. Die nddjten Feſtſpiele werden ficherlich eine durchgreifende 
Neugeftaltung des Bühnenbildes bringen. 

Einige wichtige Rollen waren neu beſetzt. Überrafhend groß war der Wotan Friedrich 
Schorrs. Wort, Ton und Gebärde deckten ſich vollkommen, ſo daß alle Vorzüge der früheren 
Oarſteller ſich zu einer Geſamtleiſtung von bezwingender Gewalt zu vereinigen ſchienen. Von 
einer ſo überragenden Perſönlichkeit getragen, ward der Ring wirklich zum Wotansdrama. Fritz 
Wolff, der in Bayreuth zum erſten Male die Bühne betrat, erwies ſich mit feiner hellen Stimme 
und feinem züͤngelnden Spiel als ein vielverſprechender Loge, deſſen Geſtalt bei verdunkelter 
Bühne mit feurigen Linien umriſſen war, deſſen neues Gewand dem unheimlichen Feuergeiſt 
aber weniger angemeſſen erſchien als das frühere, in deſſen Rot und Gelb die Flamme fichtbar 
ward. In den Meiſterſingern erfreute Claire Borns jugendlich anmutige Eva, deren Stimme 
befonders in der hohen Lage aufleuchtete. Die übrige Beſetzung entſprach meiſt der vorjährigen, 
aber mit merklicher Vertiefung und Steigerung der Einzelleiſtungen. Der erſte Aufzug der 
Walkuͤre (Sieglinde Emmy Krüger, Siegmund Melchior) war urwidfig und urgewaltig, aus 
innerſtem Miterleben geſtaltet. Die Rundry von Frau Barbara Remp iſt als eine Wiedergabe 
von unheimlich dämoniſcher Größe zu rühmen, namentlich in den Wandlungen des zweiten 
Aufzugs, die eindrucksvoll herausgearbeitet waren. Auch hier war Melchior ein ebenbürtiger 
Parſifal, deſſen Stimme jede ſeeliſche Regung austönte. Die ſtimmgewaltige Brünn hild von 
Frau Bloms iſt in großem Stil gehalten, vornehmlich aufs dramatiſch Wuchtige angelegt und 
daher in der Sötterdämmerung am bedeutendſten. Jede Geſtalt hat in Bayreuth ihren eigen- 
artigen, ſorgſam ausgewählten Vertreter, der in der ihm zugewieſenen Aufgabe völlig aufgeht. 
Das gilt namentlich auch von den kleineren Rollen, die mit derſelben Wichtigkeit wie die großen 
behandelt werden. 

In die Leitung des ganz einzigen, unübertrefflichen Orcheſters teilten ſich diesmal Muck, 
Balling und Naehler. Jn Mucks Parſifal lebt die erhabene alte Bayreuther Überlieferung weiter, 
in der trotzdem ſeine ſtark ausgeprägte Perſönlichkeit ſich geltend macht. Seine Meiſterſinger 
unterſchieden ſich ſchon im Vorſpiel durch ein faſt jugendliches Feuer von dem behäbigen wurde; 
vollen Glanze der Auffaſſung Hans Richters. Über dem Ring unter Balling ſchwebte ein un- 
beſchreiblicher Zauber überirdiſcher Verklärung z. B. in den nur für Bayreuth möglichen breiten 
Zeitmaßen der Todkündung und der Eroica auf Siegfrieds Tod. 

Die Götterdämmerung vom 17. Auguſt war Ballings letzte Tat im Dienſt Bayreuths. Als 
ein Todgeweihter verließ er nach übermenſchlicher Anſtrengung das Feſtſpielhaus. In der Nacht 
vom 1./2. September ſtarb er in Oarmſtadt. Am 4. September, am 101. Geburtstag Anton 
Bruckners, wurde er beſtattet. Der Geiſtliche wählte ſchöne und treffende Bibelworte: „Ich habe 
einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.“ — 
„Der Meifter iſt da und rufet dich!“ 

Die von Rüdel eingeübten Chöre waren muſterhaft. Die nirgends ſonſt auch nur annähernd 
erzielte muſikaliſche Sicherheit ermöglicht z. B. allen Chorſängern handgreifliche Mitwirkung 
an der Prügelei, die anderwärts von der Statiſterie beſorgt wird. Neben dem Wach auf Chor 
war der Mannenchor der Götterdämmerung eine bisher unerhörte muſikaliſch dramatiſche Ge- 
ſamtleiſtung. 

Der künſtleriſche Erfolg des Bayreuther Feſtſpiels beruht auf der ſorgfältigen Vorberei- 
tung. Jeder Mitwirkende wird zum Stil erzogen. Die ſich vertiefende Erkenntnis der hohen 
Aufgabe erweckt Luft und Liebe zur Arbeit, zum Dienſt am Kunſtwerk. Allein ſchon der Um- 
ftand, daß die Sänger und Muſiker eine Zeitlang dem ermüdenden und zerſtreuenden Alltags- 
betrieb entrückt find, um fic auf ein einheitliches Ziel zu ſammeln, ſteigert die Leiſtungsfähigkeit 
des Einzelnen. Die Führer und Leiter gehen mit dem guten Beiſpiel raſtloſer Tätigkeit voran 
und finden durchweg willige Nachfolge. So formt und bildet ſich das Kunſtwerk langſam aus 
ſeinen innerſten Geſetzen heraus, als wäre es eine völlige Neuſchöpfung. Abgeſehen von allem 


[2 
— — 


Emil Mattiefen 257 


andern ift die Bayreuther Stilbildungsſchule für die nach hohen Zielen ſtrebenden deutſchen Büp- 
nen unentbehrlich. Die Rückwirkung der Feſtſpiele auf die ſtändigen Theater ijt von größter Wich- 
tigkeit. Zm Laufe der Zahre von 1876 bis 1914 hat das Bayreuther Vorbild auf den meiſten 
Theatern die Vorſtellungen überhaupt weſentlich gehoben. Die Kunſt iſt ein Dienft am Gral, 
ber in Bayreuth in reinſtem Lichte erſtrahlt, anderswo aber doch im Abglanz und Nachhall zu 
erkennen iſt. Der einzigartige Vorzug und die Berechtigung der Bayreuther Runft und Rultur 
it darin begründet, daß fie, dank der treuen Hut des Hauſes Wahnfried, noch unter uns lebt, 
obwohl der Meifter vor 42 Jahren aus dem Leben ſchied. 

Allem Außeren abhold, verzichtet Bayreuth auf die Feier der 50. Wiederkehr des erſten Feſt⸗ 
jpieljahres 1876. Im nächſten Jahre bleibt das Haus geſchloſſen. Um fo gruͤndlicher werden die 
Vorarbeiten für 1927 betrieben, wo ſtatt den Meiſterſingern neben dem eiſernen Beſtand des 
Rings und Parſifal, die alljährlich wiederkehren, ein anderes Werk — man ſpricht vom Fann- 
bdujer — zur Aufführung gelangen ſoll. Von 1876 bis 1925 welche Entwicklung! Niemals ein 
Stillſtand, jedes Jahr brachte Neues, freilich nicht im Sinne einer aufſehenerregenden Mode, 
die um jeden Preis ändern will, ſondern in ruhiger, wohlbedachter Geſtaltung des Didter- 
willens, der in der Partitur mit ihren geſchriebenen und noch mehr ungeſchriebenen Weiſungen 
ſich kundgibt. Das Drama kommt zur Erſcheinung ganz und gar aus dem Geiſte der Muſik, der 
es entſtammt. | 

Auch in dieſem Jahre hatte ſich eine begeiſterte Zuhörerſchar aus Deutſchland in Bayreuth 
eingefunden. Am Schluſſe des Parfifal tiefe ſchweigende Ergriffenheit, am Schluſſe der Meifter- 
ſinger heller Zubel! Die Wagner feindliche Preſſe hatte im Vorjahr die Spiele ins politiſche 
Getriebe herabgezogen aus Anlaß einer gut gemeinten, aber nicht ſehr geſchmackvollen gefang- 
lichen Kundgebung der Zuhörer am Schluſſe der erſten Aufführung der Meiſterſinger. Das Zeit- 
ſpiel von 1925 ſtand jenſeits jeglicher politiſcher Außerung im guten oder böſen Sinn. Oes 
Meiſters Runft iſt grunddeutſch, aber überzeitlich, fie wirkt einzig und allein durch ſich ſelbſt. 

Endlich darf an dieſer Stelle auch der Bayreuther Stadtverwaltung und ihrer in jeder 
Hinfidt muſterhaften Vorkehrungen mit dankbarer Anerkennung gedacht werden. Die heutigen 
Leiter des Gemeinwefens walten ihres verantwortlichen und ſchwierigen Amtes durchaus im 
Seiſte der Männer, die einſt mit rechtem Gefühls verſtändnis und entſchloſſener Tatkraft Richard 
Bagner zur Seite ſtanden. Prof. Dr. W. Golther 


Emil Mattieſen 


in deutſcher Gelehrter und Muſiker iſt in dieſem Fahre fünfzig Jahre alt geworden, und 
nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Freunden und Verehrern feiner Runft hat des 
Mannes gedacht, der wie wenig andere der ſchaffenden Künſtler unſerer Gegenwart einer von 
den Etillen iſt, die nicht um die Gunſt der breiten Maſſe buhlen, ſondern einer, der unbekümmert 
um allen nichtigen Scheinglanz feinen Weg geht, dem inneren Geſetze feiner Runft folgend. 
Emil Mattiefen iſt Balte von Geburt. Dorpat iſt feine Vaterſtadt, wo er am 24. Januar 1875 
als Sohn des Bürgermeifters und Chefredakteurs Mattieſen geboren wurde. Hier beſuchte er das 
Symnafium und für kurze Zeit auch die Univerfität. In Leipzig, wo er zu Gelehrtenkreiſen enge 
detwandtſchaftliche Beziehungen hatte — der Philoſoph Strümpell war ſein Großvater und 
der jüngft dort hochbetagt verſtorbene bedeutende Kliniker Adolf Strümpell fein Oheim — hat 
er ſeine muſikaliſchen und philoſophiſchen Studien zum Abſchluß gebracht. Hier wurde er im 
Jahre 1896 auf Grund einer Abhandlung über das Thema „Über philoſophiſche Kritik bei Lode 
und Berkeley“ zum Ooktor promoviert. Auf weiten, jahrelangen Forſchungsreiſen, die ihn 
nach Nordamerika, Mexiko und Oftafien führten, wurde er in die Lage verſetzt, eindringende 


258 Emil Mattiefen 


ethnologiſche und religionswiſſenſchaftliche Stublen zu treiben. Der Vertiefung und Grwei- 
terung feiner wiſſenſchaftlichen Arbeit diente dann ein vlerjaͤhriger Aufenthalt in Cambridge und 
London. 

So legte er in umfaſſenden Vorarbeiten den Grund zu feinem philoſophiſchen Lebenswerk, 
bas unter dem Titel „Der Jenfeitige Menſch“ bei de Gruyter in Berlin erſchlenen iſt (1925). 
Diefes „Monumentalwerk“, wie es einer der beſten Renner diefes Stoffgebietes bezeichnet hat, 
zeigt uns den Gelehrten Mattieſen von ſeiner beſten Seite; denn er hat mit dieſer Einführung 
in die Metapſychologie der myſtiſchen Erfahrung“ der deutſchen VWiſſenſchaft eine Arbeit ge- 
ſchenkt, gründlich und breit angelegt“ — das Werk umfaßt mehr als 800 Seiten — „und dabei 
tief in allen ihren Teilen“, die in ihrer Eigenart und wiſſenſchaftlichen Genauigkeit wohl ihres; 
glelchen ſuchen dürfte. So bedeutet dieſes Buch mit allem, was es enthält und was noch aus 
ihm hervorwachſen kann, fürwahr ein monumentales Lebenswerk, deſſen Abfaſſung ſchon ein 
Menſchenleben wert iſt. Die gütige Natur aber hat dieſen Mann noch reicher beſchenkt, indem 
fie ihm die höͤchſte Gabe, das ſchaffende und geſtaltende Rünftlertum verliehen hat, und gerade 
als deutſcher Mufiter hat Emil Mattieſen unſerm Volke beſonders viel zu fagen. 

Vor zwölf Jahren erſchienen in dem Muſikverlage von Peters, ber das große Verdienſt 
bat, Mattieſens Erſtlingswerk aufgenommen zu haben, obwohl es keinen Gelderfolg verſptach, 
und der auch alle fpäteren Werke Mattieſens verlegt hat, die „Balladen vom Tode“ als 
Opus 1. Das war ein eigenartiges, urwüchſiges Werk, das von der erſtaunlichen Geftaltungs- 
kraft feines Schöpfers Zeugnis ablegte und das dei Fachleuten allergrößte Aufmerkſamkeit er; 
regte: „ein ſeltſames Opus 1, ſeltſam in Stoff, Form und Farbe; ſeltſam auch in der Gelbft- 
verleugnung, mit der ſich fein Schöpfer von den Wahrſcheinlichkeiten und Möglichkeiten des 
modernen Konzertſaals entfernt, von der Gunſt der breiten Offentlichkeit, von der Gewohnheit 
der Sänger und Hörer.“ Es erſchien ,diefes kühne, gewaltige Balladenwerk“ als eine Offen; 
barung wie einſt zu Schuberts und Loewes Zeit die Vertonung des Erlkönigs. Man rühmte in 
dieſen Balladen die ſichere Beherrſchung der „modernen Harmoniſierungskunſt“, den „Melodiker 
von überraſchender Erfindungsgabe und Vielſeitigkeit, dem der Ausdruck nie verſagt“, den 
„Kontrapunktiker, für den es keine Klippen gibt“. Und was Mattiefen als Schöpfer in dieſem 
erften Werke verſprochen, hat er in feinen fpäteren Tondichtungen gehalten. Er iſt ſtets der 
innerlich vornehme Muſiker geblieben, der es verſchmaͤhte, der Maſſe des Publikums irgend; 
welche billigen Sugeftdndniffe zu machen um der Beliebtheit willen, der ſich auch niemals ver- 
ſtiegen hat zu der manierierten Eigenwilligkeit der ganz Modernen, um womöglich dadurch von 
ſich reden zu machen. Immer wahrt er in all ſeinen Werken die große muſikaliſche Linie, immer 
bleibt er ein echter Muſiker, weiterbauend auf dem Grunde unſerer größten Meiſter und doch 
dabei ein ganz Eigener. 

Mattieſen iſt Liederkomponiſt, und ſeine Schöpfungen bisher bewegen ſich ganz auf dieſem 
Gebiet. Seine Stärke liegt in der Ballade oder, beffer geſagt, auf dem Gebiete folder Did- 
tungen, die den Untergrund für ein muſikaliſches Gemälde zulaſſen. Und inſofern berührt er 
ſich in ſeiner Eigenart in mancher Hinſicht mit Hugo Wolf, „mit dem er auch die Empfindlichkeit 
für dichteriſch wertvolle Texte teilt“, wobei allerdings Mattieſen auch für moderne Dichtungen 
wie von Schaukal, Münchhauſen, Ricarda Hud, Liliencron, Morgenſtern und anderen ein 
feines Ohr beſitzt, während Hugo Wolf „Modernes nun einmal nicht komponieren“ konnte. 
Auch hat Mattieſen als Norddeutſcher eine ganz andere Wefensart als der unglücklich veranlagte 
Oſterreicher. 

Seit 1913, wo die „Balladen vom Tode“ als Opus 1 erſchienen, ijt eine ganze Reihe wert; 
voller Schöpfungen entſtanden, und gerade in den letzten Jahren iſt der muſikaliſche Quell bei 
Mattiefen beſonders ſtark gefloſſen. Zunächſt noch ein kurzes Wort über jenes bereits erwähnte 
Erſtlingswerk. Schon der Titel beſagt, daß alle Balladen von ein und derſelben Geſtalt, dem 
Tode, beſeelt ſind, und es mag gleich hier geſagt ſein, daß Mattieſens Lieder und Balladen faſt 


Emil Mattiefen 259 


alle nach inneren Gefidtspuntten (3. B. „Künſtlerandachten“, „heitere Lieder“, „Liebeslicher 
des Hafis“, „Balladen von der Liebe“, „Stille Lieder“, „Bwiegefänge zur Nacht“) zuſammen⸗ 
gefaßt find. Man hat bei Schuberts „Vinterreiſe“ bewundert, daß er in immer neuen, durchaus 
eigenartigen Tönen jener großen Symphonie des Schmerzes hat Ausdruck verleihen können. 
Bei Mattieſen könnte man von einem muſikallſchen Totentanz großen Stiles ſprechen; denn 
eine ganze Anzahl feiner Schöpfungen find Gefänge vom Tode. Wie abwechſelungsreich und 
vielfarbig ſchon die erſten fünf Tongemälde: die meiſterhafte „Lenore“, „ein Roloffalgemälde, 
das an die mittelalterlichen Darftellungen vom Tode gemahnt“, das in feiner Muſik an, Schrecken 
und Qual, an Schauer Erregendem“ zum Ausdruck bringt, wie es einft im „Triumph des Todes“ 
in den „Fresken des Piſaer Friedhofes feſtgehalten iſt“; dann weiter der „Glockenguß von 
Breslau“, ein Gedicht in Tönen, ein wahres Meifterftüd von echt deutſchem Gehalt, aus innerer 
Liebe zur deutſchen Weſensart geboren. Dann jener geniale „Pidder Lüng“, das hohe Lied 
von deutſcher Freiheit, der rührende Sang der Treue in der Ballade „Oer Bettler und fein 
Hund“ und zuletzt die Worttondidtung des fluchbeladenen, ruheloſen Romfahrers „Lord 
Athol“ mit dem wundervollen, Erlöſung verheißenden Ausklang. Alles ſchwere, wuchtig einher⸗ 
ſchreitende Tondichtungen, „intuitiv geſchaute dramatiſche Szenen von wundervollem Stim- 
mungs zauber“ und einer erſtaunlichen ſuggeſtiven Kraft“. 

Dod noch in anderer Geſtalt läßt uns Mattieſen den Tod in feinem Reigen ſchauen, fo zu- 
nddft als „Feind“ in jenem grandios angelegten Hymnus „Einen kenne ich“ (op. 2 „Zwölf Ge- 
dichte). Man kann ſich kaum etwas Erſchuͤtternderes vorſtellen als dieſes gewaltige Lied. Das 
Staufen vor dem Tode aber überwältigt uns in der Ballade „Der Freier“ (op. 10 „Balladen 
von der Liebe). Hier erkennt man deutlich, wo der Dichtung die Grenzen geſetzt find und was 
andrerſeits die Muſik auszudrucken vermag: das unheimliche Vorwärtstappen des bleichen Ge- 
ſellen, der ſich mit grauenhafter Gier auf das junge, blühende Maͤdchenleben ſtuͤrzt, bis es in 
einem Aufſchrei des Entſetzens verröchelnd erſtickt — das läßt ſich mit Worten nicht malen, ſolche 
Stimmung ſchreit nach Muſik. Das gilt nicht minder, wenn auch in andrer Weiſe, vom „Tod 
in Ahren“ (op. 2), einem muſikaliſchen Stimmungsgemälde von äußerſter Feinnervigkeit, 
welches das bekannte Liliencronſche Gedicht in völlig neuem Lichte erſcheinen läßt. 

Schon aus dem bisher Geſagten iſt es deutlich geworden, daß Mattieſen beſonders Gedichte 
ernſten und ſchweren Inhalts bevorzugt hat, und ſie nehmen tatſächlich den breiteſten Raum 
unter feinen Schöpfungen ein. Auch die neueſten feiner Balladen, die „Balladen von der 
Liebe“ (op. 10), ſchließen fi in dieſer Beziehung der erſten Balladenreihe (op. 1) aufs engſte 
an. Dort waren es allerdings ältere Meiſter, denen der Romponift den Stoff entnahm, hier 
treten uns in der Mehrzahl die Namen moderner Balladendichter, wie der eines Münchhauſen, 
Falke und Morgenſtern entgegen. Wieder wie in Opus 1 find es fünf Balladen in dieſem Werte, 
auch hier wieder Meiſterwerke der muſikaliſchen Erfindung, Charakteriſierungskunſt und in- 
ſtrumentalen Bearbeitung. Das letzte Werk in dieſer Sammlung „Oer Gott und die Baja- 
dere“ ſtellt wohl das Reichſte und Vielgeſtaltigſte dar, was Mattieſen bisher als Balladen 
komponiſt geleiſtet hat. 

Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen dieſen Balladen und den Liedern im eigentlichen, engeren Sinne 
des Wortes nimmt eine Reibe von Rompofitionen ein, die Mattieſen mit dem Ausdruck „Ge- 
ſänge“ bezeichnet hat. Es handelt ſich hier um muſikaliſche Stimmungsgemälde, wie es z. B. 
die bereits angedeutete Rompofition „Tod in Ahren“ iſt. Beſonders charakteriſtiſch für dieſe 
Gattung iſt „Venedig“ (op. 3 „Lieder und Gejänge“), ein Tongemälde von überwältigendem 
Stimmungszauber. Auch die Ricarda Huch-Kompoſitionen (op. 8 „Sieben Gefänge“) gehören 
hierher, wenngleich hier bei einigen Geſängen ſchon die Grenze des Liebmäßigen geſtreift wird. 
In dieſem Zyklus erſcheint uns neben der „Erinnerung“, deſſen zartinnige Begleitung wie 

Spharenmuſik erklingt, das dramatiſch bewegte „Heimatlos“, „vom Zauber blühendſter 
Harmonik durchtränkt“, als ganz beſonders wertvoll. Auch hier wieder ein wundervoller Schluß, 


260 Emil Mattiefen 


im muſikaliſchen Grundgedanten jenem in „Lord Athol“ vergleichbar, da beide den Erlöfunge- 
gedanken, jeder in ſeiner Art, in ergreifender Weiſe zum Ausdruck bringen. 

Es iſt nicht möglich, die Schönheiten und Eigenart aller dieſer Gefänge in kurzen Worten 
zu charakteriſieren. Im letzten Grunde iſt auch mit einer Umſchreibung dieſer Tondichtungen 
nicht viel getan. Nirgendwo empfindet man die Ohnmacht des Wortes fo ſehr als bei der Wieder 
gabe muſikaliſcher Eindrüde. Daher können ſolche Ausführungen auch nur Hinweiſe zum Werke 
ſelber fein, Anregungen, ſich mit dem Künſtler und feinen Schöpfungen zu befchäftigen. Freilich 
iſt der Weg, der zu Mattieſen führt, anfangs ſteil und ſchwierig, wenigſtens für den nicht aus- 
übenden Muſiker. Aber dafür iſt der Blick von der Höhe um fo ſchoͤner und lohnender. Mattieſen 
hat allen mufikaliſch Gebildeten und wahrhaft Empfänglichen etwas zu ſagen. Wer ſich aber in 
ſein Werk verſenken will, der nehme zunächſt die „Stillen Lieder“ (op. 11 und 12) zur Hand. 
Sie ſprechen eine ſchlichte, edle Sprache und laſſen kaum ahnen, daß ihr Schöpfer und der der 
„Lenore“ ein und derſelbe iſt; denn hier liegen die größten Gegenfäße: dort der Dramatiker, 
deſſen Weg zum muſikaliſchen Drama zu weiſen ſcheint, hier der zarte Lyriker, der Finder neuer 
Weiſen von faſt volksliedmäßiger Schlichtheit. Hier haben wir Hausmuſik in des Wortes edelſter 
Bedeutung, und Lieder wie das wohlig-verfonnene „Mit meinem Liebchen Hand in Hand“, 
der faft überzarte „Abſchied“, die „Weißen Wolken“, die wie ein Hauch in klarſtem Himmels- 
blau dahinſchweben, oder die tiefſte Seelenruhe bringende „Entſchlummerung“ müßten in 
jedem deutſchen Haufe, wo man noch auf die Pflege edler Muſik hält, geſungen werden. Auch 
Opus 3 enthält ſolche intimen Lieder, wie das verklärte „Wenn du einſt alt fein wirft“ 
und das beſonders eigenartige „Schließe mir die Augen beide“, das wie kaum ein anderes 
zeigt, wie ſehr der Komponiſt den inneren Gehalt der Dichtung erfaßt und muſikaliſch vertieft 
bat und wie wenig er geneigt iſt, dem billigen Geſchmack eines verbildeten Publikums Zu- 
geſtändniſſe zu machen. Von den eigentlichen Liedern Mattieſens aber ſind die größten und 
hehrſten die glutvollen „Liebeslieder des Hafis“ (op. 9). Mit verſchwenderiſchem Reichtum 
der Erfindung ausgeſtattet und einer muſikaliſchen Behandlung ohnegleichen ſtellen ſie wohl 
die Rrone der Liederfhöpfungen Mattiefens dar. 

Eines aber iſt in den bisher beſprochenen Tondichtungen Mattieſens noch nicht berührt worden, 
ſeine Lyrik des Humors. Wie alle großen Künſtler hat auch er der heiteren Seite des Lebens 
küͤnſtleriſchen Ausdruck verliehen, und feine humorvollen Lieder ſtehen nicht hinter den übrigen 
zurück. Zwar find ihrer bisher nicht allzu viele, aber ſchon die wenigen laſſen darauf ſchlie ßen, 
daß auch dieſe Weſensſeite Mattieſens ſtark entwickelt iſt, und es iſt wohl kaum zu verwundern, 
daß gerade dieſe Lieder die Pioniere ſeines Werkes geworden ſind und ihn beſonders bekannt 
gemacht haben. „Wahre humoriſtiſche Kabinettſtücke hat er in dem entzückenden Liede „Von 
Katzen“ und in Kellers „Berliner Pfingften’ geſchaffen.“ Von den „Heiteren Liedern“ 
(op. 7) wirken „Oer fröhliche Muſikus“, ein köſtlicher Fugenſcherz in altdeutſchem Gewande, 
und das reizende, ſtimmungzaubernde „Ständchen“, das als Zugabe wohl in keinem Mattiefen- 
konzert mehr fehlt, beſonders ſtark. 

Eine ganze Reihe namhafter Künſtler hat in letzter Zeit Mattieſens Namen und feine Ton- 
dichtungen bekannter gemacht, und der Kreis der Verehrer und Freunde ſeiner Kunſt iſt ſtändig 
im Wachſen. Freilich iſt er keiner von denen, die es lieben, viel von ſich reden zu machen. Er 
hält es mit dem Worte Hugo Wolfs: „Fit es nicht viel beſſer und ſchöner, von einigen Menſchen 
geliebt und verſtanden zu werden, als von Tauſenden gehört und geſchmäht zu ſein?“ 

Dr. Alfred Huhnhäuſer 


Ein Gleichnis Vom Doldftoß - Die Abrüſtung als deutfche 

Waffe Muſſolini, der neue Cäſar - Chamberlains Liebesbecher 

Franzöſiſche Not Romantiſche Politik. Üble Folgen nach 
Außen und Innen Die Kriſe und Hindenburg 


enken wir uns einmal einen Schiffskapitän. Oer ſalzflutgegerbte Seebär hat 

jahrzehntelang einen Dampfer gefahren. Das war ein ſchmucker Burfche, 
in dem der volle Herzſchlag einer tüchtigen Maſchine pulſte, der daher feinen acht- 
baren Knoten lief und wikingskeck gegen Wetter, Wind und Wellen anging. 

Im Kriege aber wurde er Feindespriſe, und der Kapitän hat jetzt nur noch einen 
beſcheidenen Gaffelſchoner. Es wird ihn weidlich wurmen, daß er nicht mehr ſo 
dreiſt in die See ſtechen kann wie einſt, unbekümmert um Dünung und Schlagfeite. 
Als gewitzter Menſch verſucht er's auch lieber gar nicht mehr, ſondern ſtellt ſich von 
Dampf und Schraube auf Tau und Takelung um. Das iſt fogar eine Rüͤckkehr zu 
der echten, feinen, alten Seemannskunſt. Wer nur Topp- und Gaffelſegel richtig 
zu ſetzen weiß, der liegt immer hart am Winde und kommt ſo, langſam aufkreuzend, 
dennoch ans Ziel. | 

Vom deutſchen Volke erzähle ich dieſes Gleichnis. Heißer Zorn brennt denen, die 
aus ſpartakiſtiſcher Büberei oder rotem Hammelherdentum unſeren Reichswagen in 
den Elendsſumpf kippten. An jenem trüben Novembertag wurden wir der letzte, aber 
beſte Verbündete unſerer Feinde. Wohl war alles ausgemergelt, aber ſelbſt Marſchall 
Foch gab zu, bis zum Rhein hätte es noch fünf Großkampfmonate gekoſtet. Das hielt 
auch der Gegner nicht mehr aus. Wenn wir ihm daher zuriefen, wie die hungernden 
Geufen den Spaniern: „Wir wollen unſeren linken Arm eſſen, aber mit dem rechten 
widerſtehen wir Euch!“ dann hätte kurze Endnot uns Not ohne Ende erſpart. 

In München erklärte ein Sachverſtändiger, die Revolution ſei eine Folge der 
Niederlage, nicht aber die Niederlage eine Folge der Revolution. Räumen wir's ein. 
Wie ſteht es jedoch mit dem Schmachfrieden? Rechtfertigte ihn etwa ein Sieg des 
Feindes, der uns rettungslos aufs Haupt ſchlug? Oder kam er bloß, weil unſer 
heimgeſchicktes Heer ſich in revolutionierter Etappe unter der ftilvollen Mißwirtſchaft 
der Soldatenräte verkrümelte und daher dem Feinde Wortbruch kein Riſiko mehr 
war? Die freiwillige Revolution zwang uns zum unfreiwilligen Frieden. Das iſt's, 
was vom Dolchſtoß ſtets bleiben wird. 

Mit Wirklichkeiten muß man aber rechnen; weder Klage noch Anklage können ſie 
wenden. Weit wichtiger als der Streit: „Wie gerieten wir ins Unheil?“ iſt daher 
das Wägen: „Wie kommen wir wieder heraus?“ Sollen wir tun, als ob unſer 

Gaffelſchoner ein Dampfer wäre, oder iſt's ratſamer, ihn nach feiner Art, aber nach 
beſten Kräften auszunützen? Die Antwort gibt ſich ſelber. Unbildlih geſprochen 
heißt dies, daß unſere Politik der Macht beraubt, mit den Winden, den Weltftim- 
mungen arbeiten muß. 


282 Birmers Tagebuch 


L 


Wir Oeutſche find ein waffenfrohes, aber keineswegs kampflüſternes Volk. Wir 
haben den Krieg immer nur bereitet, weil wir den Frieden wollten; Schwerter nur 
geſchmiedet, weil man ſolche gegen uns ſchmiedete. Sie wurden uns abgeſprochen, 
aber die Gegner tragen ſie noch. Frankreich hat jetzt 9000 Offiziere mehr als wir 
im Frieden hatten. Dadurch ſind wir Kleinmacht gegen Großmächte, nicht mehr 
Gleicher unter Gleichen. Aber wir haben den Trieb, es wieder zu werden. Indem 
wir uns bewaffnen? Dann würde die Welt über uns herfallen. Bleibt alſo nur der 
andere Weg, zu erreichen, daß die anderen ſich entwaffnen. 

Abrüftung iſt heute das Weltſchlagwort. Der Völkerbund hat es auf feinem Pro- 
gramm, was an ſich freilich noch nicht viel ſagen will. Aber die Hauptmilitärftaaten 
Europas ſind bis auf die Haare des Kopfes verſchuldet, und der amerikaniſche 
Gläubiger fordert rückſichtslos: „Weniger rüſten, mehr zahlen.“ 

Unſerem Gaffelſchoner ſitzt alſo endlich ein günſtiger Wind im Nacken, und wir 
wären Toren, wollten wir nicht alle Segel ſpannen. 

Wir treten für Entwaffnung ein. Das hat mit hindumäßiger Entſagung nichts 
zu tun; iſt überhaupt, ganz wie Freihandel oder Schutzzoll, gar keine Frage des 
Grundſatzes, ſondern der nüchternen Nützlichkeit. Wir hatten vorm Kriege mit 
unferer Rüftung friedliche Abſichten, die Feinde hingegen betrieben kriegeriſche mit 
Abruͤſtungsvorſchlaͤgen. Weshalb ſoll uns jetzt der Genfer Artikel 8 nicht Mittel wer- 
den zum Wiedergewinn unſerer Weltgeltung? 

Bisher hat Frankreich immer pazifiſtiſch getan, aber ſtramm militariſtiſch gehan- 
delt. Es könne nicht anders, ſo entſchuldigte es ſich, ſein aufrichtiges Wollen ſcheitere 
an dem ewigen deutſchen Vergeltungsgelüft. Es galt alſo, ihm dieſen Vorwand zu 
nehmen, und dies geſchah in Locarno. 

Unfern Nachbarn in Weft und Oft gaben wir die Gewähr, daß wir Zwiſte nicht 
vor die Klinge, ſondern vor den Kadi bringen wollten. England verbürgt ſich den 
Franzoſen, daß wir ſie nicht überfallen; uns, daß wir nicht überfallen werden. 

Das macht Frankreichs Furcht, alſo Frankreichs Einwand nichtig. Ferner iſt dann 
die Beſetzung des linken Rheinufers ſinnlos geworden. 

Nicht alles auf einmal erwarten wir. Es gibt Rückwirkungen, die wir jetzt voraus 
ſetzen dürfen, und wir haben Vorausſetzungen geſchaffen, die ſich in Zukunft auszu- 
wirken haben. Der Vertrag iſt uns noch lange kein Ziel, ſondern bloß ein erſter 
Schritt darauf zu. Gar mancher muß noch folgen, ehe wir wieder das ſind, was wir 
fein wollen und zum Beſten Europas fein muͤſſen. Der „Türmer“-Leſer weiß, mit 
welchem Mißtrauen wir dem Gang der Dinge folgten. Sie ſtanden monatelang auf 
Biegen oder Brechen. Ein gerechter Urteiler muß jedoch zugeben, daß in Locarno 
nicht Luther umfiel, ſondern üͤberraſchenderweiſe Briand. Aus Gründen, die zum 
einen Teile den innerpolitiſchen Verhältniſſen Frankreichs entſpringen, zum andern 
wohl durch geheime Einflüffe der beiden Angelſachſenſtaaten bedingt find. Natürlich 
arbeiteten dieſe nicht für uns, ſondern für ſich, aber es ſprang dabei wider Erwarten 
für unſere Abfichten allerlei heraus. Es war günftiger Wind, und wir ſetzten die Segel. 

Auch heute noch mißfällt mir vieles an dem Vertrag. Aber wer nehmen will, der 
muß auch zu geben wiſſen. Wir ſchlucken feine Nachteile mit dem Gefühl, daß nun 
ſofort die Aufgabe erſteht, ſie wieder wett zu machen. 


— — —— — — eee — „ 


Turnen Togedud) 205 


Heiße Kämpfe erwarten uns im Völkerbundsrat. Natürlich denken wir nicht 
daran, der Karpfen im Hechteteich zu fein. Welche ſpaßig-ernſte Katzbalgerei wird 
{hon über das uns zugeſicherte Kolonialmandat entbrennen ! Denn Frankreich und 
England ſind zwar einig, daß wir eins bekommen ſollen; jeder meint aber, daß juſt 
der andere es abzutreten habe. 

Auch öffnet ſich uns ſogleich unſer künftiges Hauptarbeitsfeld. Am 3. Dezember 
ſollen in Genf Vorſitzungen zu einer Abrüſtungskonferenz beginnen. Frankreich 
zeigt jetzt ſchon einen verdächtigen Eifer; mutmaßlich, um uns den Rang abzu- 
laufen. Bereits hat es eine Oenkſchrift fertig, die den Gedanken auf neue Grund- 
lagen ſtellen ſoll. Auf ſolche nämlich, durch die der franzöſiſche Militarismus im Ver- 
hältnis nichts verliert. Denn nie wird er ſich grundſätzlich einſchränken, höchſtens 
auf Zeit und umſtände, weil das Geld nicht mehr zu erſchwingen iſt. Vorläufig hat 
er zur Einleitung der Abrüſtungskonferenz Damaskus in Trümmer geſchoſſen und 
dadurch ganz Syrien zum Aufſtand gebracht. Geſetzt, wir hätten die berühmte 
Noſchee der Omaijaden derart gefährdet: als was für Barbaren hätte uns die Welt 
derſchrien! | | 

Offenbergiger ift Muſſolini. Sein märchenhafter Aufſtieg vom Proletarierkind 
zum Ouce hat ihn berauſcht. Durch die Fauſt iſt er emporgekommen, und die Gewalt 
nennt er feine Göttin. Er war zwar auf der Konferenz, allein des Geiſtes von 
Locarno hat er keinen Hauch gefpürt. Kaum zurück, drohte er offen und erklärte, 
dtalien brauche ſtarkes Heer, tüchtige Flotte und wagefrohe Luftgeſchwader. Gein 
Farinacci ſtellte feſt, der Brenner fei keineswegs Italiens Grenze, ſondern das 
Ausfallstor nach Nordtirol. Bei dem gewalttätigen Charakter des Faſzismus können 
wir uns daher dort unten auf Grenzzwiſchenfälle gefaßt machen; ähnlich den 
griechiſch-bulgariſchen bei Petrich. Sollten gar die bayriſchen Königsmacher, wie 
die Links preſſe behauptet, an eine Donaumonarchie denken, dann würde auf diefen 
willkommenen Vorwand hin Muffolini alſobald Innsbruck beſetzen. 

Ob dann wohl der Völkerbund ebenſo handeln würde, wie bei den Kleinen am 
Doiranſee ? Terrier und Seidenpinſcher treibt man kühn auseinander, wenn es ſich 
aber um einen Bullenbeißer handelt, dann ſchrecken die gefletſchten Zähne. Alle 
elt ſieht ja, wie ſtiernackig Muffolini feine Ziele verfolgt. Wie er die italieniſche 
Preſſe ihrer Freiheit, die Gemeinden ihrer Selbſtverwaltung, die Oppoſition ihrer 
bürgerlichen Rechte beraubt und wenn der Vorwand fehlt, ihn im Handumdrehen 
zu ſchaffen weiß. Ein 75jähriger General ſoll ein Attentat mit anſchließendem Auf- 
ſtand vorbereitet haben. Ganz Stalien ift aufgewühlt durch die Windwirbel des 
Abſcheus und der Begeiſterung. Die nationalliberale Partei beſchloß auf die Kunde, 
ſich der faſziſtiſchen zu verſchmelzen. Das Liktorenbündel iſt ja das einzige Zeichen 
geworden, das zu Mandaten und Ämtern verhilft. Der abergläubige Italiener ver- 
traut auf Muſſolinis Cäſarenglück und fett daher auf ihn wie auf eine Terne des 
Lottos. Aber auch er ſelber glaubt an fic und beutet feine Lage mit gewalttätiger 
Kühnheit aus. „Wer ſich mir widerſetzt, den zerſchmettere ich.“ Zn Oeutſchland 
wurde einft das Wort geſprochen; in Rom wird es getan. Da der verhaftete General 
Freimaurer ift, erſtand ein vortrefflicher Anlaß, die Logen zu ſperren. Die geſamte 
Ankspreſſe wurde unterdrückt, da fie andeutete, mit dem Anſchlag fei es nicht recht 


264 Tirmets Tagebuch 


juft; an der ſchwarzen Mache erkenne man deutlich den weißen Nähfaden eines 
frechen Faſziſtenſchwindels. 

Ein Teufelskerl iſt dieſer jetzt in ganz Italien tofend bepalmte und bepfalmte Duce 
ja ohne Zweifel; der einzige Staatsmann großen Kalibers, der im heutigen Europa 
emporkam. Aber ſchon macht es den Eindruck, als ob ſein Vertrauen auf ſich ſelbſt 
und den „superiore intelletto latino“ fich bereits übernehme. Fit er erſt Jtaliens un- 
umſchränkter Herr, dann wird es zu Zerwürfniffen mit Europa kommen. Er iſt Manns 
genug, den ganzen Völkerbund in Scherben zu ſchlagen, wie Mephiſto die Töpfe 
und Tiegel der Hexenküche: „Entzwei, entzwei! da liegt das Glas; der Takt, du Aas, 
zu deiner Melodei!“ Das weiß man im vorſichtigen Genf und hütet ſich, mit ihm zu 
brechen. 

Es wird daher ſaure Arbeit fein, aus dem jetzigen widrigen Konventikel auf Gegen- 
ſeitigkeit etwas zu formen, was feinen eigenen Satzungen nur halbwegs nahe- 
kommt. Aber der Verſuch muß gemacht werden, nachdem, wie ſo manches andere 
Mitglied zuvor, auch wir wider Willen und Luſt in den Bund hineingezerrt wurden. 
Unfer Wiederaufkommen fordert's. 

Das iſt nun einmal die Art, praktiſche Politik zu treiben. Voll Hohn ſahen Poincaré 
und Clemenceau in Verſailles, wie Wilſon ihnen ſein Steckenpferd vorritt. Aber vor 
den Kopf durfte man den Empfindlichen nicht ſtoßen, das hätte alle Erfolge in Frage 
geſtellt. So tat man für den Völkerbund begeiſtert und legte eifrig an den Ausbau 
Hand; freilich nur, um das Gegenteil deſſen herauszumodeln, was im Denkbilde 
gelegen. Das gelang denn auch in ſolchem Maße, daß die Amerikaner hinterher 
ſelber ſich weigerten, dieſen Wechſelbalg als Kind anzuerkennen. Die franzöſiſche Ab- 
ſicht war tückiſch, aber die Methode klug. Was die Franzoſen zu unſerem Nachteil 
taten, ſollen wir's nicht zu unſerem Beften tun? 

In der Politik iſt jedes dogmatiſche Denken von Übel. Bismarck fagte, das hieße 
Feſtungsmauern mit Flaumfedern beſchießen. Napoleon riet, niemals „niemals“ 
zu ſagen, und das japaniſche Sprichwort findet es ganz natürlich, wenn der Teufel 
von geſtern heute als Staatsgaſt mit fürſtlichem Gepränge empfangen wird. 

Auch der Engländer handelt danach. Chamberlain hat auf dem Guildhallbankett 
dem deutſchen Votſchafter den Liebesbecher zugetrunken. Nur der Tod der Königin 
Mutter verhindert das Feſteſſen im Buckinghampalaſt, wobei zu Ehren Locarnos auch 
Luther und Streſemann von dem berühmten goldenen Tafelgeſchirr der Auserwählten 
ſpeiſen ſollten: als die erſten Deutſchen nach dem Kriege. Der „Hunne“ wird damit 
amtlich für tot erklärt. Neulich ſchon hat der General Charteres geſtanden, daß die 
Mär, wir Oeutſche verarbeiteten Leichen zu Fett, zum Zwecke der Kriegsverleum- 
dung von ihm perſönlich erſonnen und ausgeſtreut worden ſei. Gewiſſensbiſſe hatte 
er nicht und Abbitte wird er auch nicht tun; er erzählte es einfach bei einem amerika- 
niſchen Bankett als einen blendenden Streich, worauf er heute noch ſtolz iſt. 

Der „Hunne“ ift tot. Mit dem „Boche“ wird es länger dauern. Schon deshalb, weil 
er keineswegs alles zahlen wird. Vielmehr fällt auch jetzt, ganz wie nach 1871, die 
Hauptlaſt wieder auf den Steuerträger zurück. Der ſtillvergnügte Zinspicker bildet 
einen vieltöpfigen Stand in Frankreich. Dieſer ijt durch die Entwicklung der Dinge 
derartig enttäuſcht, daß er im ſtillen — freilich nur ganz im ſtillen — lieber Elſaß⸗ 


Zimmers Tagebuch 265 


Lothringen wieder in deutſcher Hand, als feine Rente beſteuert fähe. Noch mehr wie 
anderswo hört gerade bei ihm in Geldſachen die Gemütlichkeit auf. Die „Sieges 
anleihe“ — nun das klang hübſch, erſchien patriotiſch und zinſte brav; aber Kapitals! 
abgabe und Notopfer nach einem ſolchen Erfolge können einem Krieg und Kriegs- 
geſchrei fuͤr immer verleiden. 

Die Deutfdnationalen wollen die alte deutſche Größe. Im Ziele mit ihnen daher 
eins, freue ich mich oft ihres tapferen vaterländiſchen Wollens. 

Aber ihr Verfahren iſt verkehrt. Sie träumen davon, daß das Verſailles von 1919 
durch ein Gegenverſailles beſeitigt werde, ganz wie jenes das von 1871 zerbrach. 
Das iſt romantiſche Politik, der andächtig ſchwärmen mehr zuſagt, als kluges Han- 
deln. Sie haben die Feſtigkeit des Ziels, und das iſt gut, aber ihnen fehlt die Ge- 
ſchmeidigkeit der Mittel, und das ſetzt ihre ganze Tatkraft leider in fruchtloſe Ver- 
neinung um. Blindläufige Geſinnung iſt ebenſo verderblich, wie geſinnungsloſe 
Rugheit. Auch in der Politik rächt ſich das Bitterwerden. Sie iſt ein Syſtem von 
Aushilfen; um fo unbedingter, je übler die Lage und je größer die Schwäche. Und 
darum ift es ſchlimm, wenn das Anpaſſungsvermöoͤgen erſtarrt. 

Noch ein zweites Gleichnis. Zwei Gefangene liegen unſchuldig im Verließ. Wer 
wird eher frei fein: der eine, der in monatelanger Emſigkeit die Gitter zerſaͤgt 
und einen Maulwurfsweg unter der Ringmauer hindurch ins Freie wühlt, oder 
der andere, der darauf beharrt, den Kerker nur dann zu verlaſſen, wenn der 
Gewaltherr felber vor ihm erſcheine, ihm eigenhändig die Schellen löfe und ſich 
entſchuldige? 

Es iſt kinderleicht, Finten und Fallen herauszuleſen aus dem Locarnovertrag. 
Wer kann es uns freilich verdenken, wenn wir nach all den Rechtsbrüchen und Ge- 
walttaten mißtrauiſch geworden ſind wie ein Unterſuchungsrichter gegen einen oft 
ſchon überführten Häftling? Was ſich gegen Locarno fagen läßt, wurde ſchon gegen 
das Oawes-Abkommen gefagt. Auch dieſes brachte uns drückende Auflagen, allein 
es hat die Ruhr befreit, und das iſt mehr. Den Achaiern vor Troja hat offenbar 
Odyſſeus beſſer genützt als der zürnende Pelide, und des biegſamen Streſemanns: 
Durch Opfer zur Freiheit“ erreicht immerhin manches, wo es, wenn wir dem Oran- 
gen der „Alles- oder Nichts“ Starrheit folgten, unfehlbar bei dem Nichts fein Be- 
wenden hätte. . 

Der deutſchnationale Austritt aus dem Kabinett ift kein Meifterftüd politiſcher 
Kugheit gewefen. Er war ohne Weitſicht und zum mindeſten voreilig. Hätte man 
doch wenigſtens gewartet, bis der erſte Dezember heran war, unter ſcharfer Beto- 
nung des Standpunktes: Ohne Rückwirkungen kein Fa! Dann ging man einig mit 
dem Kabinett und allen übrigen Parteien. Die Piſtole, die man denen draußen ſo 
auf die Bruſt ſetzen konnte, iſt aber in die Luft abgeſchoſſen worden. Flugs regte ſich 
der franzöfifhe Nationalblock. Was denn der Locarnovertrag überhaupt für einen 
Zweck habe, wenn die ſtärkſte deutſche Partei ihn verwerfe? Man merkte ſofortige 
Verſteifung in den rheiniſchen Fragen. Marſchall Foch, der Vater aller Hinderniſſe, 
kam wieder auf; ebenſo Tirard, der das beſetzte Gebiet auch weiter wie eine Neger- 
kolonie behandeln möchte. Neue Schwierigkeiten wegen des Generals von Seeckt 


und der Schupo wurden ausgekramt; Chamberlain mußte vermitteln. Aber auch er 
Der Tüurmer XXVIII, 3 18 


266 Zürmers Tagedud 


erreichte bloß, daß die Räumung der Kölner Zone mit dem erſten Dezember be- 
ginnt, an dem ſie nach dem Geiſt von Locarno eigentlich beendet ſein mußte. 

Mit großer Mühe gelang es vor neun Monaten, die Deutfchnationalen ins Reichs 
kabinett zu bringen. Ein Kurs, würdig nach außen, zuverläſſig gegen radikale Quad- 
ſalberei im Innern ſchien dadurch geſichert. Damit hat es nun ein Ende. Das 
Kabinett Luther iſt nur noch ein Stuhl mit drei Beinen. Das rechte Zentrum, von 
deſſen Kräftigung viel abhing, wendet ſich verärgert ab und erklärt, es werde mit fo 
unficheren Kantoniſten nie wieder arbeiten. Das linke aber freut ſich und hält Joſeph 
Wirth als nächſten Kanzler in der Hinterhand. 

Dieſer unentwegte Erfüllungsmann iſt mit geſchwellten Hoffnungen aus Amerika 
zurückgekehrt. Auf dem Kaſſeler Parteitag bekannte er ſich als unbeugſamer 
Republikaner. Er tat es „mit leuchtenden Augen und ehrlicher Begeiſterung“. 
Ein deutſchnationaler Entſchluß, der ſolche Folgen zeitigt, ob dies nicht ein Fehl 
ſchritt war? 

Mit einem ganz bedenklichen Streiche drohen die Sozialdemokraten. Die Rechte 
dürfe nicht aus der Verantwortung herausgelaſſen werden. Wenn ſie gegen 
Locarno ſtimme, würde man es auch tun, alſo den Vertrag damit zu Fall bringen. 
Hier entblößt der Parlamentarismus ſeine übelſte Seite. Um den innerpolitiſchen 
Gegner durch ein kaudiniſches Joch zu zwingen, bereitet man dem eigenen beſſeren 
Wollen eine außenpolitiſche Niederlage, ohne Anſehen der Tragweite für Volk und 
Reich. Auch ein Volksentſcheid wird gefordert. Höchſt demokratiſch, aber auch höͤchſt 
ſinnlos. Bei ſolchen Scherbengerichten entſcheidet nicht der Sachverſtand, ſondern 
die Maſſe, will ſagen der Schreier. Wenn nur ſtimmen dürfte, wer das feinmaſchige 
Gewebe des Abkommens in ſeinen rechtlichen, politiſchen und ſeeliſchen Bedingt 
beiten ſelber geprüft und erfaßt hat: wie viele unſerer 40 Millionen Urwähler ge 
langten da überhaupt an die Wahlurne? 

Seltſam ift, daß auch die Deutſchnationalen, der Demokratie ſpinnefeind, in det 
eigenen Partei ganz demokratiſch handeln. Der alte tonfervative Wahlſpruch: 
„Autorität, nicht Majorität“ wurde ſtill beifeite gelegt. Führende Männer des Land- 
bundes, des Handels und der Induſtrie haben die Fraktion beſchworen, unſere Wirt- 
ſchaftskriſe zu bedenken, die nur bewältigt werden könne durch langfriſtigen Aus 
landskredit bei tragbarem Zins. Amerika aber leiht bloß, wenn der Locarno Vertrag 
die Befriedung Europas bringt. 

Allein man wog die Stimmen nicht, ſondern zählte fie. So wichen die drei deutſch⸗ 
nationalen Miniſter dem Oruck der Fraktion, wie dieſe zuvor dem Maſſendruck der 
vaterländiſchen Verbände gewichen war. 

Im Novemberheft hat eine andere Feder beſorgte Kritik geübt an den Entwid- 
lungsgängen dieſer fo wacker gedachten und unſerer Zeit fo notwendigen Bünde. 
Es iſt zuviel Fahnenſchwenken darin, zu viel Fanfarengeſchmetter, zu viel Präfen- 
tier- und Parademarſch mit dem hoͤrbaren Augendruck und dem forſchen Schmiß der 
Beine. Man ſieht in der Geſte ſchon die Tat; der Schein wird Selbſtzweck, und aus 
ſteten Raufhändeln mit dem Reichsbanner erwächſt das Vorurteil, daß das wirt- 
ſamſte Werkzeug der Politik nicht der Kopf ſei, ſondern die Fauſt. Schnell fertig iſt 
daher die Jugend mit dem Urteil und berauſcht ſich an Blücherworten von dem 


Türmers Tagebuch 267 
verfludten Kroppzeug der Diplomaten, das mit Feder und Zunge verdirbt, was 
immer nur in der Schwerthand bleiben müſſe. 

Unter ihrem Drängen wurde der Schritt getan, von dem einer der rechteſten 
Fuhrer der Partei, Schlange Schöningen nämlich, zuvor gefagt, feine Folgen wür- 
den alle Anfänge des Wiederaufbaus zerſtören. Blinder Eifer hat das Ende nicht 
bedacht. Er hat äußeren Schaden wie innere Kriſen hervorgerufen und ſich ſelber 
obendrein jeden Rückweg verbaut. Denn kann man ſich jenen geſellen, die man als 
Kaulquappen und Schaukelpferde verhöhnte, Miniſtern zuſtimmen, von denen man 
ſagte, ein Franzoſe, der ſolche Ergebniſſe aus Locarno mitbrächte, wäre wie ein 
gund erſchlagen worden? Mit Eifer verlegt ihnen auch die Linke jede Möglichkeit, 
den Anſchluß wieder zu finden. Das iſt der ſchlagende Beweis, daß man in ein 
parteipolitiſches Sedan geraten iſt. 

Die Volkspartei hat bisher ſtets Anſchluß rechts geſucht. Sie wird nunmehr ge- 
nötigt fein, nach links Fühlung zu nehmen, um ein Kabinett Wirth zu verhindern. 
die große Koalition taucht wieder auf, weil ſie immer noch beſſer als die kleine, 
die Weimarer iſt, die ſonſt käme. Aber bedauerlich bleibt es doch; bedauerlich um 
des Vaterlandes, um unſerer Entwicklung, um Hindenburgs willen. Waren es nicht 
bie Deutichnationalen, die den widerſtrebenden Greis am Portepee faßten und auf 
den Präſidentenſtuhl zogen? Er übernahm das ſchwere Amt, um die parteipoliti- 
iden Gegenſätze durch das Gewicht feiner Perſon zum Ausgleich zu bringen. Seine 
abgeklärte Klugheit hat auch bereits viele Gegner feiner Wahl bekehrt. Selbſt das 
Ausland, das ihn zuerſt als Militariſten beargwöhnte, iſt längſt anderen Sinnes. 
on Amerika wird „old Hindi“ bereits populär, und Engländern wie Franzoſen 
gilt ein Vertrag, dem er zuſtimmt, dreimal ſo viel als einer, der Marxens Segen 
hätte. | 
on allen kernig kurzen Gruß- und Dankreden auf feiner ſüddeutſchen Befucs- 
teife hat der Reihspräfident immer wieder mehr Geſchloſſenheit in den großen 
lebenswichtigen Entſcheidungen und mehr gegenſeitiges Vertrauen gefordert. Es 
betrübt ihn, daß feine Mahnung gerade bei denen unfruchtbar blieb, die fic fo 
gerne ſeine Partei nannten. Es kann eine Reichstagsauflöſung kommen und bei den 
Vahlen ſtünden ſie dann gegen ihn. Sicher zu ihrem eigenen Schaden, denn viele 
Setreue würden ſagen: „Tut, was ihr wollt, ich gehe zum Hindenburg.“ 

F. H. 


Abgeſchloſſen am 21. November 


Für die vaterländifhe Bewegung 


it laffen heute gleich drei Stimmen aus 

dem ,gungdeutiden Orden“ hinter- 
einander das Vort; dazwiſchen auch einem 
Vertreter des „Stahlhelms“. Alle drei gehen 
von der Empfindung oder Vorausſetzung aus, 
daß es ſich bei unfrem Mahnwort um einen 
„Angriff“ handelte — was ganzlich abwegig 
iſt. Alſo: 

Lieber Türmer! 

Vielleicht hat man Sie unter den Zuſchriften 
auf Ihren erſten Vorſtoß gegen (7 O. T.) den 
Orden nicht darauf hingewieſen, daß wir, das 
heißt die Führer im Orden über die Ver- 
dußerlichung der nationalen Bewegung 
gen au fo denken wie Sie, daß unſer Hoch; 
meiſter, {don ehe Ihr Auguſtheft den Artikel 
brachte, genau dasſelbe geſagt und gedruckt hat. 
Ich ſetze es noch einmal hierher. (Wir haben es 
bereits, von uns aus, der jungdeutſchen Zei- 
tung entnommen. Vgl. Novemberheft ! O. C.) 
Es dürfte Ihnen auch klar fein, daß hier und 
da Veranſtaltungen wie die in Leipzig und 
Detmold nötig find, daß man aber von ihnen 
aus nicht die ganze Bewegung beurteilen 
kann. Es iſt darum bedauerlich, daß Sie von 
ſolchen Veranſtaltungen aus ſchließen, daß der 
Orden auf „Stille Vertiefung nicht eingeſtellt“ 
fei. (Nein, wir gehen nicht von Einzelnem aus, 
ſondern ſprechen von der Geſamtaufgabe. 
O. T.) 

Wenn Sie einmal die Tageszeitung „Der 
Jungdeutſche“ vielleicht einen Monat lang 
durch feine Beilagen verfolgen und mit ande; 
ten nationalen Blättern vergleichen, müͤſſen 
Sie zugeben, daß Sie kaum irgendwo ſoviel 
Hindrängen auf Vertiefung und Beſeelung 
finden wie dort. Beilagen wie der „Arm- 
leuchte“ im „Stahlhelm“ finden Sie im 
„Jungdeutſchen“ nicht. (Wir leſen den „Jung- 
deutſchen“ ſchon lang und achten jene Be- 
ftrebungen. D. T.) 

gn der Sonntagsnummer vom 4. Oktober 
1925 find Friedrich Lienhard, dem Heraus- 
geber des „Türmers“ vier ganze Seiten ge- 


er 


widmet, in welcher Zeitung haben Sie das in 
aͤhnlichem Ausmaße gefunden? Daraus nur 
das Vorwort über die „Oeutſchen Meifter, die 
die geiſtigen Vorkämpfer für unſere gegen- 
wärtige vaterländiſche Bewegung find“: „Aus 
der Reihe dieſer Meiſter begrüßen wir heute 
Fr. Lienhard als beſonders volkstümlichen, 
geiſtigen Führer, in deſſen Schaffen und Ideen 
wir oft Leitſätze des Zungdeutſchen Orden 
vorgeftaltet wiederfinden. Die deutſche Not 
iſt vielgeftaltig und groß — möchte die vater; 
landifhe Bewegung ſich der feelenbildenden 
und Vorwärtswillen ſpendenden Krafte im 
Werke dieſes deutſchen Dichters bedienen, 
dieſen und andere Meiſter einbeziehen in den 
Bau des neuen Deutidlands, das nur fein 
wird, wenn es vom Geiſte erfüllt wird.“ 
Genügt Ihnen das nicht zur Rennzeichnung 
unferes Strebens nach „ftiller Vertiefung“, 
wenn das nicht nur in unſerer Zeitung ge- 
ſchrieben, ſondern auch in unſern Bruder- 
abenden behandelt wird? Gerade der Zung- 
deutſche Orden iſt ehrlich bemüht, mehr Ber- 
innerlichung zu treiben als andere Ver- 
b an de, wenn er auch bel manchen äußerlichen 
Aufzügen mitwirkt und vor die Öffentlichkeit 
tritt. Paſtor Kirchhoff 
NB. Oer Verfaſſer meint in einem Schluß; 
fag, daß wir durch unfren „verlegenden Ton 
der guten nationalen Bewegung geſchadet 
haben. Ahnlich wird uns von einem perſoͤnlich 
uns befreundeten Stahlhelm-Manne ge 
ſchrieben: „Als Stahlhelm - Mann war ich 
ſchmerzlich berührt von dem Artikel (Oktober) 
über die Deräußerlichung des vaterländiſchen 
Gedankens. So ſehr es auch mir notwendig 
erſcheint, daß wir uns auf „ſeeliſches Gebiet“ 
befinnen, fo beſtreite ich entſchieden, daß weder 
Sungdeutide noch Stahlhelm auf ftille Ber- 
tiefung eingeftellt ſeien. Dem Zungdeutſchen 
Orden wird damit beſonders unrecht getan. 
Der Stahlhelm hat allerdings viel Arbeit 
draußen auf der Straße zu tun. Man ſollte ihm 
das aber nicht zur Laſt legen, vielmehr dem 
Stahlhelmkameraden dankbar ſein, daß ſie 


manche ſtille Stunde im Heim opfern, um 


! oS a ee, 


Auf der Warte 


nationale Leute im roten Induſtrie zentrum 
aufzurütteln. Nur dem Stahlhelm iſt es zu 
verdanken, daß Mitteldeutſchland nicht mehr 
die gochburg der Rommuniften iſt. Allerdings 
hat mancher Stahlhelmer fein Leben für die 
gute Sache hergeben miiffen. Geſtern war der 
große Tag in Leipzig! Wie dankbar grüßten 
uns unzählige alte und junge Leute! Das rote 
Leipzig ſah mal wieder Hunderttauſende jun; 
ger und alter Krieger auf einem Platze zu- 
ſammen. Das Verlaſſenheitsgefühl fo manches 
Einzelnen mag geſchwunden fein, er mag wie; 
der Hoffnung und Mut zu „itiller Vertie fung“ 
ins Heim mitgenommen haben. Wie tot lag 
das Juden Frankfurt am 10. Mai d. J. da, als 
wir damals morgens früh dort einrüdten, und 
welch Zujubeln der wie erlöften nationalen 
Bevölkerung am Abend beim Abriiden! Heute 


ift der Stahlhelm Frankfurts bis Offen bach, 


eines der ſchlimmſten roten Neſter, vorge- 
dringen! Er darf fic wieder zeigen, fo und 
ſo viel Schlafmützen ſind aufgewacht! Da 
ſollte der Farmer, den ich ſonſt fo gerne leſe, 
nicht fold harte Worte ausſprechen !* 

Haben wir denn eigentlich von dem hier Ge- 
ſagten etwas beſtritten? Wenn wir mahnten, 
die organiſierten Maſſen nicht einſeitig zu 
üderſchãtzen, fo wird dies als „harte Worte“ be- 
klagt; auch eine dritte Zuſchrift „verbittet ſich 
energiſch“ jeden „Angriff“! Gleichzeitig wird 
aber von derſelben Seite zugegeben, daß die 
Führer über die Veraͤußerlichung des natio- 
nalen Gedankens „genau ſo denken wie der 
Türmer“ ! Ja wie iſt es denn nun eigentlich?! 

DO. T. 


Ein Wort für den Jungdeutſchen 


Orden 
an ſchreibt uns weiter zu der neulich 
angeſchnittenen Frage „Veräußer⸗ 
lichung des nationalen Gedankens“ Folgendes, 
das mit derſelben Feſtſtellung beginnt: 

„Wir Zungdeutſche ſind uns vollkommen 
dewußt, daß die gegenwärtige vaterländiſche 
Bewegung der Verflachung anheim ge- 
fallen iſt. Wir ſahen die Gefahr in unſerer 
Organiſation heraufdämmern und ſetzten fe- 
fort mit dem erſten Gegenſtoß ein: Cinfdran- 
kung ſämtlicher Rundgebungen und Ver- 


269 


anftaltungen. Zu gleicher Zeit wurden die 
erſten Meiſterſchulen zur Heranbildung tüdy- 
tiger, geeigneter Fuhrer ins Leben gerufen, 
eine innere, vertiefende Ausgeſtaltung der 
Bruderabende durchgeführt. Unterſtuͤtzt wird 
dieſer Kampf gegen die Verflachung in 
muftergültiger Weiſe durch unſere Ordens 
zeitung, der, Zungdeutſche“. Die täglichen Bei- 
lagen und Sonderbeilagen (Eberhard König, 
Friedrich Lienhard, die Deutfche Nordmark 
uſw. ) find die Werkzeuge, die dauernd an dem 
großen Verke der Vertiefung arbeiten. 

Wenn der ‚Zürmer‘ zum Schluß feiner Aus- 
führungen kurzerhand das vernichtende (7 9. 
T.) Werturteil über uns fällt, fo beweiſt er da- 
mit, daß ihm die großen Hinderniſſe für eine 
ſittliche Wiedergeburt Deutſchlands nicht ge- 
nügend bekannt find (1 O. T.). Jeder, dem es 
um die geiſtige Erneuerung Ernſt iſt, muß ein- 
mal den Mut aufbringen, die Gerhdltniffe 
heute ſo zu ſehen, wie ſie ſind und nicht wie 
man ſie ſich vorſtellt. Und die gegenwärtige 
Lage ergibt, daß Egoismus und kraſſe Genuß; 
ſucht weit tiefer ins Volk eingedrungen ſind, 
als man gemeinhin annimmt. Seien wir doch 
ehrlich: Wer kauft ſich heute ein gutes 
Buch und wer lieſt es? Ooch nur ein klei- 
ner, beſchraͤnkter Kreis von ideell eingeſtellten 
Menſchen. Soll es aber bei dieſen wenigen 
Idealiſten bleiben? Nein, denn ſonſt wäre ja 
die anerſtrebte ſittliche Erneuerung Oeutſch⸗ 
lands nur eine fhön klingende Phraſe. Die 
breiten Maſſen des geſamten Volkes müffen 
doch erfaßt und allmahlich umgewandelt und 
veredelt werden. Bücher und Zeitſchriften 
kommen — ohne etwa ihren außerordentlichen 
Erziehungswert beeinträchtigen zu wollen — 
bierfür nur im beſchränkten Maße in 
Frage, da ſie eben nur von einer beſtimmten 
Menſchengruppe geleſen werden. Wollen. wir 
nun unſer Ziel wirklich erreichen, fo müffen wir 
dem Beiſpiele geſu folgen: Hinein in das 
Volk, durch Vorbild und Hintanſetzung der 
eigenen Perſon unermüblid arbeiten, ſich 
durch nichts beirren und verbittern zu laſſen. 
Das hat der Jungdeutſche Orden getan und tut 
es tagtäglich. Aber erſt der, der mitten im 
Volke ſteht und in ihm arbeitet, ſieht ſich mit 
einem Male Schwierigkeiten und Hinderniſſen 


270 


entgegengeftellt, die er vorher nicht geabnt 
hat, ſieht, welch ungemein ſchweres Aderfeld 
das heutige Deutſchland für ideale Ziele ge- 
worden iſt. Vom grünen Tiſch aus laſſen ſich 
leicht Programme für eine ſittliche Umgeftal- 
tung aufſtellen, läßt ſich leicht Kritik an der 
Arbeit der vaterländiſchen Verbande üben, 
aber in der rauhen Wirklichkeit iſt die Durch; 
führung all dieſer ſchöͤnen Gedanken oft mit 
Scheitern und zähen, harten Widerſtänden 
verknuͤpft. 

Und eben weil die Schwierigkeiten ſo groß 
ſind, dürfen wir die Erwartungen nicht allzu 
hoch ſtecken und muͤſſen uns mit kleinen, be; 
ſcheidenen Erfolgen für den Anfang zufrieden 
geben. Von heute auf morgen läßt ſich kein 
Umſchwung herbeiführen. Zit es nicht ſchon 
ein Schritt vorwärts auf dem Wege zu unſerem 
großen Ziele, wenn im Zungdeutſchen Orden 
Menfchen zufammengeführt werden, die bisher 
fremd und achtlos aneinander vorübergingen, 
ſich gegenſeitig die Bruderhand drücken, ſich 
an einen gemeinſamen Tiſch ſetzen und für 
einander einſtehen? Zit es dem ‚Zürmer‘ 
nicht bekannt, daß an dem großen jungdeute 
ſchen Tage in Leipzig alte Generäle mit dem 
Pour le mérite neben ungedienten jungen Ar- 
beitern Glied in Glied im gleichen Wind- 
jackenrock an ihrem gemeinſamen Führer, 
einem jungen Hauptmann, vorbeimarfcier- 
ten? Will er diefer Tatſache nicht Rechnung 
tragen und der bier ſichtbar zum Ausdruck ge- 
kommenen Einigung deutſcher Männer, der 
Vorbedingung für den Aufbau unſeres Vater; 
landes, die Augen verſchließen? Wenn ſie 
nicht alle von der gleichen Idee tief erfaßt 
wären, würden fie nicht die vorher muͤhſam 
erſparten Koſten für Bahnfahrt, Feſtbeitrag 
uſw. ausgegeben haben und ſich nicht Reihe 
in Reihe mit fremden Menſchen ftellen. Zch 
würde dem, Tuͤrmer! raten, ſich einmal andere 
nationale Verbände nach dieſem letzten Ge; 
ſichtspunkt anzuſehen, wo heute ſchon wieder 
eine kaſtenartige Gliederung gewiſſer Gruppen 
unſchwer zu erkennen iſt. 

Das gemeinſame ‚An-einen-Tifch-fegen‘ er- 
fordert von jedem einzelnen Zungdeutſchen 
Opfer, die nicht zu niedrig anzuſchlagen ſind. 
Die perſönlichen Bedürfniffe, das eigne Ich 


Auf der Bart 


muß zugunſten der anderen Brüder zurüd- 
geſtellt, von gewiſſen äußeren Lebensformen 
Abſtand genommen werden. Wie viele, die 
ihr Vaterland mit heißem Herzen lieben, bon ⸗ 
nen ſich dazu aufſchwingen, das Wort in die 
Tat umzuſetzen, wenn es gilt, neben Menſchen 
der verſchiedenſten Berufsſchichten Platz zu 
nehmen, fie als Gleichberechtigte anzuſehen, 
Anteil an ihren Lebensverhältniſſen zu ner 
men und ihnen, wenn fie im ſchlichten Verl 
tagsgewande auf der Straße erſcheinen, aus 
ehrlichem Herzen, ohne ſich zu ſchämen, einen 
fröhlichen Gruß zurufen. Ach, es iſt nur ein 
beſcheidener Teil! | 

Die Zugehörigkeit zum Orden iſt auch ſonſt 
noch mit mannigfachen Opfern an Zeit und 
Geld, an Schuhwerk und Kleidung verbunden. 
Ob Sonn- oder Verktags: jede freie Zeit 
ftellen wir dem Ordensdienft zur Der 
fügung. (Eine beſcheidene Zwiſchenfrage: wo 
bleibt die Familie? O. T.) Keine Entfer- 
nungen find zu groß, keine Unbilden der Witte 
rung können uns abhalten, unſere Ordens 
pflicht zu erfüllen. Und wir, die wir mit 
Luft und Liebe dem Jungdeutſchen Orden an- 


‚gehören, tun es gern, weil uns eine tiefe Adee 


befeelt. Um diefer Idee willen find wir in den 
Orden eingetreten und haben freiwillig Laſten 
und Opfer auf unſere Schultern genommen. 
Betrachtet der ‚Türmer‘ einmal die Geſamt 
zahl der Deutiden mit der Zahl der Deut 
ſchen in den nationalen Verbänden, fo muß 
er feſtſtellen, daß ſich nur ein ganz geringer 
Prozentſatz (1) in dieſen dem Vaterlande zur 
Verfügung geſtellt hat, aus Idealismus her- 
aus. Bei der allgemein tiefftebenden me 
terialiſtiſchen Lebensauffaſſung im heutigen 
Oeutſchland ift dieſe Tatſache nicht zu niedrig 
zu werten; denn das Zeitalter der Freiheits · 
kriege iſt vorbei, wo Dienſt fürs Vaterland 
ſelbſtverſtändliche Pflicht eines jeden Deut 
ſchen war. Heute lautet die Antwort, die man 
bei der Werbearbeit ſtets zu hören bekommt: 
Es ſollte mir wohl einfallen, fürs Vaterland 
noch etwas zu tun, mögen es doch die machen, 
die den Wagen in den Ored gefahren haben. 
Oder: „Ich möchte ſchon gerne in den Orden 
eintreten, aber dann habe ich zu viele Ger- 
pflichtungen, dann muß ich dauernd meine 


— 


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Auf bee Barte 


freie Zeit opfern und Geld bezahlen, dann 
babe ich nichts von meiner Jugend und das 
Geld kann ich beſſer verwerten. Nein, dann 
kann ich nicht eintreten‘ ufo. Wenn es uns 
dann trotzdem gelingt, nach zäher Arbeit einen 
ſolchen Menſchen davon zu überzeugen, daß 
er in heutiger Notzeit nicht das Recht als 
echter Deutſcher hat, nur an ſich zu denken 
und auch für feine Mitmenfhen Opfer zu 
bringen hat, dann dürfte der Orden wohl wie; 
der einen Schritt weiter auf ſeinem großen 
Vege getan haben, wie auch der ‚Zürmer‘ zu; 
geben muß. 

3h mochte, ohne den Orden etwa pharifäer- 
haft zu rühmen, nur kurz einige Tatſachen 
anführen: Lebensmittel und Gachwertfamm- 
lungen für bedürftige Volksgenoſſen wurden 
veranſtaltet, Geufentiden eingerichtet, eine 
Tageszeitung aus eigenen Mitteln ohne einen 
Pfennig fremden Geldes, die ſich die Zurüd- 
führung Deutſchlands zum deutſchen Weſen 
als Ziel geſetzt hat, ins Leben gerufen. Jung; 
deutſche wurden wegen ihrer Zugehörigkeit 
zum Orden beim Einbruch der Franzoſen ins 
unbeſetzte Gebiet 1923 verhaftet, ins Gefäng- 
nis geworfen; in vielen tommuniftifd-fogia- 
liſtiſch verſeuchten Gegenden find die Ordens; 
brüder wüften Mißhandlungen (f. ‚Der Zung- 
deutfche"), die auch in mehreren Fällen zum 
Tode führten (3. B. Jungbruder Spiecker⸗ 
mann), ausgeſetzt. Bei der Reichspraͤſidenten · 
wahl in dieſem Sabre trat der Orden im zwei; 
ten Wahlgange fofort für Exzellenz von Hin; 
denburg ein, hatte einen heftigen Rampf mit 
dem Loebell⸗Ausſchuß zu beſtehen. Zur Finan- 
zierung des Wahlkampfes erließ dann unſer 
Hodmeifter das bekannte Verbot, Rauchen 
und Trinken für eine Woche einzuſtellen und 
das hierdurch erſparte Geld der Hindenburg; 
wahl zur Verfugung zu ſtellen. 

Es ſoll dem , farmer’ unbenommen bleiben, 
Kritik an der vaterländiſchen Bewegung, auch 
an uns, zu üben. Aber wenn er von einem 
objektiven Urteil redet, ſo kann man doch 
zweifellos erwarten, daß er auch in derſelben 
Veiſe den, Stahlhelm“ einer näheren Prüfung 
unterzieht. Aus welchem Grunde der ‚Zür- 
mer nicht zu den ,fittlid vertiefenden Arm · 
leuchter· Beilagen der Stahlhelmzeitung und 


271 


manchen darin angebotenen Büchern (‚Eine 
Ladung Frontwitze) Stellung genommen 
hat, bleibt mir ein Rätfel. Sollten fie dem 
„Türmer“ unbekannt fein, fo rate ich ihm, fie 
zu leſen; fie find wirklich ſehr erhebend.“ 
Karl Go ßmann 


Ein weiteres Wort von ſungdeutſcher 
Seite 


ſoll hier neben den andren Platz finden: 

Auf Ihren Artikel im Oktoberheft über Ver; 
äußerlihung des vaterländiſchen Gedankens 
geſtatten Sie mir eine Entgegnung, wie Sie 
eine ſolche vor einigen Jahren auch einem 


_ Geiftigen aus den Reihen Adolf Hitlers ge- 
ſtattet haben (Taube). Hitlers Bewegung iſt 


inzwiſchen infolge der Putſchbeſtrebungen au- 
ſammengebrochen; der Orden, durch ſeinen 
Hochmeiſter vor gleichen Fehlern bewahrt (und 
deshalb als unvoͤlkiſch beſchimpft), blüht heute 
mehr denn je zuvor. Als Ausweis und Be; 
rechtigung diene für mich, daß ich Vater meh; 
terer Rinder bin, einen mich voll in Anſpruch 
nehmenden Beruf ausübe, 41 Monate in der 
Front geſtanden habe und feit vier Jahren der 
jungdeutſchen Bewegung angehörte. 

1) Gegen die Veraußerlichung der vater 
ländiſchen Bewegung durch Paraden und 
„deutſche Tage“ tdmpft wohl kein Menſch fo 
intenſiv wie unſer Hochmeifter, weswegen der 
Orden ſchon oft genug als nicht national von 
allerhand Gprubeltöpfen geſchmäht wurde. 
Mahraun hat immer wieder in Wort und 
Schrift darauf hingewieſen, daß die vielen 
Feſte zu einer Verflachung unſeres Hoch- 
gedankens führen müßten. Nun iſt die Teil- 
nahme an den gar nicht fo häufigen Tagungen 
aber notwendig, weil die jungdeutſchen Brü- 
ber wenigſtens einmal im Jahre ihren Hoch · 
meiſter ſehen wollen. Dann iſt aber auch ein 
ſolches Zeit jedesmal, und zwar nach Mah- 
rauns Willen, ein ſchweres Exerzitium im 
Aus halten von Anſtrengungen und Entbeh- 
rungen jeder Art, wie ich es in gleicher Schwere 
ſelbſt beim Militär kaum je erlebt habe. Dazu 
gehört eine ganze Portion jungdeutſchen 
Idealismus. Der im „Türmer“ beanftandete 
Bericht des „Jungdeutſchen“ mußte fo aus- 


272 


fuͤhrlich fein, weil faft alle nationalen Blätter 
eine einfeitig entſtellende, verkleinernde Dar- 
ſtellung brachten. Bel dieſer Gelegenheit 
möchte ich auch auf einen Irrtum des „Tür⸗ 
mers“ hinweiſen, namlich als ob wir eine 
Zugend bewegung wären: Der Orden baut ſich 
auf dem Fronterlebnis auf und iſt in ſeinem 
Kern immer eine Vereinigung von Front- 
tämpfern geblieben. Doch zurück zum „Zung- 
deutſchen“ und ihren Berichten! Hat denn 
eine Zeitſchrift, die die Gedanken einer Per- 
ſoͤnlichkeit vertritt, nicht das Recht und die 
Pflicht, den Mund gehörig voll zu nehmen, 
befonders, wenn dieſe Gedanken überall fonft 
totgeſchwiegen werden? 

2) Der „Türmer“ ſchreibt: Uns hilft jetzt nur 
Beſinnung auf unſer ſeeliſches Gebiet, wo das 
Geheimnis der Kräfte aud für die vater 
ländiſche Bewegung zu ſuchen iſt. Es fehlen 
der vaterländiſchen Bewegung die meta- 
phyſiſchen Hintergründe... Was die meta- 
phyſiſchen Hintergründe betrifft, fo erſetzen 
wir dieſe durch treues Feſthalten am Chriften- 
tum und Oeutſchtum, und ich meine, das iſt 
kein ſchlechter Erfah. Bezüglich der ſeeliſchen 
Vertiefung jedoch rate ich dem „Türmer“ 
dringend, einmal unſeren „Zungdeutſchen“ 
recht aufmerkſam durchzuleſen, ebenfalls die 
Abende einer gutagleiteten Bruderſchaft zu 
beſuchen und ihr Getriebe kennen zu lernen. 
3m glaube, er wird beſchämt von bannen 
gehen oder noch beffer, er wird fid zur Auf- 
nahme melden. Grade dieſe ſeeliſche Ver- 
tiefung ſuchen wir ja zu erreichen in unſeren 
Einheiten, wobei wir allerdings unter fee- 
liſcher Vertiefung nicht irgendwelches ver- 
blaſenes Aſthetentum (1 Als ob der „Türmer“ 
fo etwas wiinfdte! Wir bedauern dieſen gan- 
zen Ton. D. T.) verftehen, ſondern die gegen; 
ſeitige Erziehung zu den verlorengegangenen 
ſeeliſchen Werten der Treue, des Gehorſams 
und der Brüderlichkeit, des Vertrauens und 
des Glaubens. Außerdem aber iſt jeder Meiſter 
beſtrebt, in wiſſenſchaftlichen und künſt⸗ 
lerifchen, ſowie ſozialen Fragen feine Einheit 
dauernd durch Zuhilfenahme ſchaffender Brü- 
der zu unterrichten. Und hat der „Türmer“ 
einmal etwas gehört von dem Liebeswerk des 
Ordens, dem Einſatz ſeiner Kräfte für not; 


Auf der Wette 


wendige Zwecke der Geſamtheit, wie z. B. die 
Seuſenküchen? Ich glaube, ich könnte un; 
ſchwer nachweiſen, daß beſonders im Zahte 
1923 ein Großteil der Gefamt-Liebestätigteit 
vom jungdeutſchen Orden getragen worden 
ijt. Zch kann wohl an viele Krit. ker ur.feres 
Wollens die Frage nach ihrer Liebestätigkeit 
in jener ſchweren Zeit richten und bekomme 
keine oder nur verlegene Antwort. (Wir haben 
gegen ſolche Tätigkeit nicht nur nichts einzu- 
wenden, ſondern freuen uns darüber und 
fordern fie auch im „Zürmer“ ; überhaupt geht 
auch dieſe Entgegnung immer von der törid- 
ten Vorausſetzung eines „Angriffs“ aus und 
vergreift ſich mehrfach im Ton. Wir ſpra⸗ 
chen im „Türmer“ von der „ vaterländiſchen 
Bewegung“ insgeſamt und von ihren Ge- 
fahren, als Mahnung, nicht als Kritik oder 
Spott! D. CT.) 

3) „. . Thomas Weſterich, der unter den 
vaterländiſchen Führern vielleicht mit am 
beſten weiß, worauf es ankommt —“ Zch ſtehe 
feit Nriegsſchluß in der vaterländiſchen Be 
wegung und glaube die Fuhrer derſelben zu 
kennen, aber dieſer Name iſt mir gänzlich 
unbekannt, und das will bei einem alten 
jungdeutſchen Rämpen ſchon etwas beißen, 
der noch die Kampfe mit der Orgeſch mit 
gemacht und durchgekämpft hat. Wir ver 
ſtehen unter einem Führer nicht nur einen 
Mann mit klugen Gedanken (ſolche gibts viel 
zuviele in Oeutſchland), ſondern einen ſolchen, 
der es verſtanden hat und verſteht, eine 
größere Anzahl von Menſchen jeden Alters 
und Berufs für feine Gedanken erſt zu er 
wärmen und dann zu ſammeln, um dann, 
geſtützt auf dieſe Gefolgsmannen, mit 
feinen Gedanken in der Öffentlichkeit zu wir 
ten. Nach dieſer Begriffsbeſtimmung wird det 
„Türmer“, wenn er ernſt genommen zu wer 
den wünſcht (1 O. T.), nicht mehr fo ſchnell 
mit dem Ehrentitel „Führer“ bei der Hand 
fein. Solcher Fuͤhrerſchaft haben ſich bislang 
erſt wenige würdig und mächtig gezeigt, und 
der im, Tuͤrmer“ genannte Herr gehört m. B. 
nicht dazu. (Diefes Geſtaͤndnis, deſſen Ton wit 
bedauern, beſtätigt ſchlagend unſre Beſorg 
niſſe: Thomas Weſterich, Herausgeber det 
„Deutſchen Front“ in Hamburg, bat eine Reihe 


Auf der Warte 


don tlefernſten bramatiſchen Myſterien (3. B. 
„Der weiße Herzog“) geſchrieben, die von 
Hildebrant wirkſam vorgetragen zu werden 
pflegen, und bemüht ſich beſonders um eine 
nationale Bühne. Und der nationale Nachbar 
Dr. guchzerme her hat noch nicht einmal feinen 
Ramen gehört! Vermutlich kennt er auch 
nicht den Charaktertopf Wilhelm Stapel, 
Herausgeber des „Oeutſchen Volkstums“ in 
gamburg. O. T.) 
gn der bekannten Evangelien - Aberſetzung 
deutet Goethe den „Logos“ nacheinander als 
Bort, als Sinn, als Kraft und als Tat. Das 
ſind für uns vier Typen der nationalen Be- 
wegung. Mit den Anhängern des Wortes, 
den Schlagwortdurſtigen und Phrafen- 
ſchluckern, mit der ganzen Rauſchſeligkeit des 
vier haus patriotismus (Als ob das „Wort“ 
nur in ſolcher Verzerrung zu werten wäre! 
9. T.) wollen wir nichts zu tun haben. Unfere 
jungdeutſche Treue iſt nicht etwas, was in 
tedenerzeugter auflodernder Begeiſterung un; 
bedacht geſchworen wird, ſondern was in har; 
ten Kämpfen mit dem eigenen ſelbſtſuͤchtigen 
3 und mit widrigen Einflüffen der Außen 
welt gehalten wird. 


Ver heute begeiſtert Treue ſchwört 
Und hat's morgen abgeſchworen, 
Oer zeigt, daß er zum Pöbel gehört, 
Der hat ſeinen Adel verloren.“ 


Aber auch der Sinn kann uns nicht helfen, 
nicht die feelifche Vertiefung (1 vgl. oben: 
grade dleſe ſeeliſche Vertiefung fuchen wir — ! 
O. T.), wie der „Zürmer“ fagt, fo ſehr wir 
beſinnliche Menſchen auch in unſere Reihen 
wünſchen. „Wo viel Weisheit iſt, da iſt viel 
Srämens“, fagt die Schrift, und zu gräm- 
lichen Raffeehaus-Literaten (1 O. T. Als ob 
der „Lürmer“ ſolche Leute empföhle, nachdem 
beffen Herausgeber lebenslang dieſe Sorte 
bekampft hat! Verehrteſter, hier werden Sie 
platt! D. T.) haben wir alten Frontkämpfer 
jo gar keine Eignung: da paßt für uns ſchon 
beſſer das dritte: „Im Anfang war die Kraft“. 
Und doch, Oank ſei unſerem Hochmeiſter, daß 
et uns vor der richtungsloſen Rraftentfaltung 
Hitlerſcher Richtung, dem Putſchismus faſt 
gegen unſeren Willen bewahrt hat, wo ſogar 


275 


der fo kritiſche „Türmer“ dieſem wilden 
taumelnden Aktivismus durch Frhr. von 
Taube einen Dithyrambus anſtimmte. (Zn 
der Abteilung „Offene Halle“, bitte, und als 
Entgegnung! O. T.) 
Unfer iſt das vierte: Zm Anfang war die Tat! 
Tatgemeinſchaften wollen wir ſein im 
jungdeutſchen Orden, und wir vertrauen unfe- 
rem Hochmeiſter, der uns nie falſch geführt hat, 
daß er uns weiter zur jungdeutſchen Tat 
führen wird. 
Dr. Huchzermeyer, tgl. Oberarzt d. R. a. O., 
jungdeutſcher Ordensbruder. 


Nachwort. Wir freuen uns Ihrer Treue, 
Herr Doktor, aber Sie betonen hier Dinge, die 
wir nie und nimmer beanſtandet, und Sie 
be kämpfen anderes, was wir nie gejagt haben. 
Dazu verzerren Sie manches, z. B. wenn Sie 
ſagen, „auch der Sinn kann uns nicht helfen, 
nicht die ſeeliſche Vertiefung“ — ja, zum 
Kuckuck, was denn nun eigentlich?! Im 
übrigen iſt dieſer Artikel durch unſre feit- 
herigen Ausführungen im Novemberheft zum 
Teil überholt. Und jeder Unbefangene wird 
mit uns den Eindruck haben, daß die ſe Art 
der Erörterung unfruchtbar iſt. Wir hatten die 
vater ländiſchen Verbände aufgefcrdet, ſich 
planmäßig großen Kulturaufgaben zu 
widmen. Die deutſche Bühne z. B. iſt unpeil- 
voll verloddert, deutſche Dichter wie Eb. König 
hungern, deutſche Maler und Bildhauer leiden 
bitterſte Not uſw. Alſo das, was wir meinen, 
iſt überhaupt nicht N worden. Wir 
brechen ab. D. T. 


Theaterelend 

Kein lebender deutſcher Dichter auf 

Berliner Bühnen! Dreizehn Berliner 

Theater ſpielen allabendlich auslän- 
diſche Autoren! 2 


ie Unverſchämtheit diefer Bühnenleiter 

kann kaum noch überboten werden. Im 
gut geleiteten Feuilleton des „Mannheimer 
Tageblattes“ finden wir unter obigen Aber- 
ſchriften die folgende Betrachtung. Wann wird 
denn endlich die einmütige Empörung des 
deutſchen Volkes dieſer Mißwirtſchaft ein Ende 


machen? 


274 


Die Berliner Spielpläne bringen alſo in 
dieſen Wochen (Anfang November) nicht ein 
einziges Stuck von einem lebenden deutſchen 
Dichter. Einzig der Name Klabund fdr nte ge- 
nannt werden, aber unter Einſchrän kungen; 
denn der „Kreidekreis“, den das Oeutſche 
Theater ſeit einigen Tagen ſpielt, iſt nur eine 
Nachdichtung nach dem altchineſiſchen Stück, 
kein Originalwerk des Dichters. Dreizehn 
Bühnen fpielen allabendlich aus län diſche 
Autoren. Ganze drei Theater widmen 
ſich deutſchen Oichtern: freilich nicht 
lebenden deutſchen Didtern, ſondern er- 
probten Klaſſikern und Längſtverſtorbenen 
— Schiller, Goethe, Leſſing und Grabbe. Es 
find dies die zwei Berliner Gemeinfchafts- 
theater: das Staatsſchauſpielhaus (mit ſeiner 


Filiale, dem Schiller Theater) und die Volks- 


bühne, ferner das Theater in der Röniggräßer 
Straße (in dem Barnowfli an mehreren 
Abenden der Woche Grabbes „Don Zuan und 
Fauſt“ aufführt). 

Zehn Berliner Schauſpielbühnen 
haben in dieſer Saiſon überhaupt noch 
keinen deutſchen Oichter, nicht einmal 
einen verſtorbenen, geſpielt. Das gilt 
eigentümlicherweife in erſter Linie von den 
drei Reinhardt⸗Bühnen. Max Reinhardt 
brachte ſeit Spielbeginn folgende Stüde zur 
Aufführung: in der Komödie am Rurfürften- 
damm „Madame Bonivard“ von Biſſon, 
„Herz iſt Trumpf“ von Gandéra, „Gefell- 
ſchaft“ von Galsworthy; in den Rammeripie- 
len „Sechs Perſonen ſuchen einen Autor“ von 
Pirandello, „Wolluſt der Anſtändigkeit“ von 
Pirandello, „Mann, Tier, Tugend“ von 
Pirandello, „Parable will nicht heiraten“ von 
Jerome K. Jerome; im Oeutſchen Theater 
„Wan kann nie wiſſen“ von Shaw, „Dr. Knock 
von Zules Romains, „Die heilige Johanna“ 
von Shaw. Hierzu kämen allen falls der 
deutſch- chineſiſche „Kreidekreis? und der 
„Strom“, der zum 60. Geburtstag Max Halbes 
zwar einſtudiert, aber alsbald wieder vom 
Spielplan abgeſetzt wurde. (Von dem gleich 
falls 60 jährigen Lienhard nahm keine einzige 
Bühne Notiz.) 

Dem Beiſpiel Max Reinhardts folgten die 
meiſten anderen Berliner Theaterdirektoren 


Auf der Bari 


ohne Bedenken. Das Renaiſſance- Theater 
ſpielte Strindbergs Stücke „Totentanz“ und 
„Scheiterhaufen“, Arzybaſchews „Rampf der 
Geſchlechter“ und bereitet jetzt Pirandellos 
„Das Leben, das ich dir gab“ vor. Im Theater 
am Kurfuͤrſtendamm: „Der gläferne Pan- 
toffel“ von Molnar, „Wenn ich wollte“ von 
Geraldy. Im Kleinen Theater: „Beſſer als 
früher“ von Pirandello, „Hochzeitstage“ von 
Geraldy. In der Tribüne: „Zurück zu Methu- 
ſalem“ von Shaw. Im Luſtſpielhaus: „Ritter 
Blaubarts achte Frau“ von Savoir. Im 
Theater am Schiffbauerdamm: „Lady Fanny 
und die Dienftbotenfrage* von Zerome K. Je 
rome. Im Theater in der Rlofterftraße: Frau 
Warrens Gewerbe“ von Shaw. 

Abgeſehen von den drei Theatern, die heute 
als die einzigen in Berlin deutſche Stücke [pie 
len, brachten vier andere Bühnen nach Saifon- 
eröffnung zunädjft zwar deutſche Autoren her 
aus, erſetzten ſie dann aber ohne Ausnahme 
alsbald durch ausländiſche Namen. Fm W- 
mödienhaus folgte auf Georg Kaiſers „Mar- 
garine“ — „Kopf oder Adler“ von Berneuil, 
im KLeſſing- Theater auf Goethes „Sötz“ — 
„Gier unter Ulmen“ von O'Neill, im Reſidenz⸗ 
Theater auf Fuldas „Zugend freunde“ 
„Arces Heirat“ von Picard, im Trianos - 
Theater auf „Epſteins Witwe“ (Schwank det 
Brüder E. u. A. Gols) — „Zm Bamencoupt’ 
von Sennequin und Nitſchell. Einzig de 
Staatstheater widmete ſich Goethe, Schilke, 
Leſſing, Grabbe, Halbe (neben Shaw, Bde 
how, Ibſen und den Oſterreichern Anzen · 
gruber und Schnitzler) und die Volksbühnt 
ſpielte Schiller und Gerhart Hauptmann 
(neben zwei Shakeſpeare Stücken). Sieht man 
von den Schwankdichtern E. u. A. Golz und 
von einem Volksſtückautor (der in einem 
Filialtheater der Volksbühne geſpielt wird} 
ab, fo find feit Beginn der Saiſon in Berl n 
summa summarum folgende lebende deutſch 
Dichter aufgeführt worden: Hauptmann, 
Halbe, Fulda, Georg Kaiſer. Hauptmann, 
Halbe und Fulda als Repräfentanten des 
Dramas von 1890. Georg Raifer als der ein · 
zige Vertreter der jüngeren Generation. Sein 
Stück iſt inzwiſchen bereits vom Gpielplas 
verſchwunden 


Auf ber Warte 


Es wurden in Berlin feit Anfang der Saifon 
geſpielt: fünf Stücke von Pirandello, ſechs 
Stücke von Shaw, vier Stücke von anderen 
Engländern, neun Stücke von Franzoſen, vier 
Stücke ruſſiſcher, ungariſcher und amerika 
niſcher Herkunft (abgeſehen von fünf Shake; 
ſpeare-, Ibſen · und Strindberg⸗ Dramen). Die 
Mehrzahl der Stüde hat, kuͤnſtleriſch gewertet, 
eine Aufführung überhaupt nicht oder kaum 
verdient. Andrerſeits kann man ohne weiteres 
zwanzig junge deutſche Dichter aufzählen, die 
zum mindeften ebenſo wertvolle, in vie- 
len Fällen bei weitem wertvollere Stücke 
ſchrieben 

Soweit das „Mannheimer Tageblatt“. Eine 
Zwiſchenbemerkung desſelben Blattes, bei 
wirklicher NRunſt dürften nationale Gefidts- 
punkte „überhaupt nicht mitſprechen“, lehnen 
wir in dieſer Allgemeinheit rundum ab. Das 
verſklarte Deutſchland, das feine Dichter hun · 
gern läßt und mittelmäßige Ausländer bezahlt, 
demnach ebenſo wie ſchon der Film maffen- 
daft deutſches Vermögen ins Ausland 
ver ſchwendet — das iſt ein himmelſchreiender 
Skandal! 


Wilhelm II. und wir 


ie Worte ber Überfchrift bilden den Titel 
des Kaiſerbuches von Berthold Otto, 
das ſoeben erſcheint. Wenn hier die Raifer- 
Artikel des „Oeutſchen Volksgeiſtes“, der Zeit- 
ſchtift Ottos, geſammelt vorgelegt werden, wie 
ſie geſchrieben ſind, ſo ſchadet die Entſte hung 
der einzelnen Aufſätze zu verſchiedenen Zeiten 
(von 1919 bis 1925) dem Werke weniger, als 
fie vielmehr, ihm den Charakter einer niemals 
wanlenden monarchiſtiſchen Uruͤberzeugung 
verleihend, günftig ift. 

Denn das will ſchon etwas heißen, wenn 
ein Mann von Geift und umfaſſendſter Kennt- 
nis, wie er im November 1918 und ſtets zuvor 
tat, ſo auch heute mit ſolcher Unbedingtheit 
für Wilhelm II. eintritt. Dieſe Soloſtimme 
bat Gewicht, weit mehr als die unzähligen 
billigen Chorſtimmen der Anklage. 

Ich möchte das Buch nicht eine Berteidi- 
gungoſchrift nennen, weil es viel eher als An · 
griff auf die Feinde des Raijers anzuſehen iſt; 


215 


aber feinem Wefen nad fpringt es natur- 
gemäß dann doch in die Breſche für das Hohen; 
zollerntum und für Wilhelm II. Am fchärfiten 
geht es gegen die unechten Monarchiſten vor, 
die zwar behaupten, für das Raifertum zu 
fein, aber in ihrer Kritik des vorigen Kaiſers 
jedes Maß vermiſſen laſſen. 

Berthold Ottos ruhige Art iſt bekannt. Er 
wirkt nicht mit Gefühlen, nicht mit Redens- 
arten, ſondern durch volksſeelenkundlich ver- 
tiefte Darſtellung deſſen, was geweſen iſt, 
deſſen, was hätte ſein und nicht ſein ſollen, 
deffen, was moglich und unmoglich war. Da; 
durch entlaſtet er Wilhelm II., indem gezeigt 
wird, wie nach und nach eine Gruppe nach 
der andern vom Raifer abfiel, eine nach der 
andern vergiftet wurde von undeutſcher hand; 
leriſcher Gefinnung, wobei trotzdem gerade 
Berthold Otto den unerhörten Leiſtungen des 
deutſchen Heeres gerecht wird wie nur 
einer. 

Es iſt ein Wagnis, für den Raifer einzuz 
treten, weil in der Tat jeder, auch der gerigſt; 
Oeutſche ſich anmaßt, genau zu wiſſen, was 
Wilhelm II. hätte tun und laſſen ſollen, und 
weil es keinen Fehler und kein Verbrechen 
gibt, deſſen den Raifer nicht irgend jemand 
ſchuldig fände. Es gibt ſchwerlich in der ganzen 
Weltgeſchichte einen Menſchen, der fo ver- 
leumdet und mit Eſelsfußtritten behandelt 
worden ift. Die Feinde Deutſchlands freuen 
ſich, daß wir dabei mittun, aber uns iſt's eine 
Schande. 

Darum gerade muß man diefes Buch aufs 
wärmfte empfehlen, aber freilich zu gründ- 
lichem Studium. Denn es handelt ſich hier um 
einen vollftändigen Geſinnungswechſel, der 
dem Leſer zugemutet wird. Haben wir uns 
doch faſt alle gewöhnt, die Phraſen der Raifer- 
hetze gedankenlos nachzubeten. 

Ottos Satz, daß nicht der Kaiſer uns ver- 
raten habe, vielmehr wir ihm die Treue 
gebrochen hätten, wird ungeſtümem Wider 
ſpruch begegnen, aber ich bitte doch auch die 
Gegner Wilhelms II., ſoweit fie im nationalen 
Lager ſtehen, die Dinge unter dem Gefidte- 
winkel zu prüfen, wie weit zuruck etwa die 
Wurzeln des von Otto behaupteten Treu- 
bruches reichen! Langſam ſeit Jahrzehnten 


276 


ift die monarchiſche Geſinnung auch in denen 
unterwühlt worden, die ſich noch für Monar- 
chiſten hielten, als ſie ſchon mit Wilſon und 
dem Mammonismus liebäugelten. 

Berthold Otto lehnt den Ausdruck: „wil- 
helminiſches Zeitalter“ ab und ſchlägt vor, die 
Jahrzehnte ſeit 1870 etwa das ,mammo- 
niſtiſche Zeitalter“ zu nennen. Inwiefern 
dieſes begründet war und heute noch iſt, weiſt 
er ausführlich nach. Wie hätte ein einzelner 
Mann das wenden follen! Pas Urteil nach 
dem Erfolg allein, in dieſem Fall alſo Miß 
erfolg, iſt ungerecht. Man denke an Friedrich 
den Großen unter der Vorausſetzung, Elifa- 
beth von Rußland wäre nicht in der Zeit ge- 
fährlichſter Zuſpitzung der preußiſchen Dinge 
geſtorben! 

Man findet bei Otto eine vollkommene und 
erſchütternde Schilderung des jüngſten deut; 
ſchen Trauerſpiels, mit vielen Einzelzügen, die 
ganz zu unrecht beiſeite geſchoben worden ſind. 
Wenn Überzeugung je überzeugen kann, ſo 
muß ſie es hier tun. ö | 

| Rudolf Paulſen 

NB. Der Verfaſſer ſchreibt uns in feinem 
Begleitbrief: „Ich wende mich voll Vertrauen 
an die Tirmerlefer. Das deutſche Volk handelt 
wur delos an ſich ſelbſt, wenn es dauernd den 
befudelt und beſudeln läßt, den es 30 Jahre 
bewundert und ertragen hat. Die Geredtig- 
keit und einfachſter menſchlicher Anſtand ge- 
bieten mir, mit Berthold Otto für den Kaiſer 
einzutreten, zu deſſen Anbetern ich nie ge- 
bört habe. Aber feine, des Kaiſers Sache, 
wurde am 1. Auguſt 1914 von jedem Deut- 
ſchen gewollt; und es iſt nicht vornehm, die 
unterlegene Sache zu verleugnen. Doch unſer 
Volk läßt ſich die Hetze gegen Wilhelm II. ge- 
fallen, weil er den Mißerfolg hatte. ‚Wilhel- 
miniſche Ara! — 2 Gehörte etwa Rarl Gott- 
lieb Schulze nicht zu jenem Zeitalter? Zch 
habe andererſeits jenes Zeitalter nie bewun- 
dert, aber aus Gerechtigkeitsdrang muß ich 
verteidigen, was ich früher aus ganz andren 
tiefen Gründen bekämpft habe. Schulze war 
nicht beſſer als Wilhelm II. Leider hatte Wil- 
helm II. in der Hauptſache lauter Schulzes 
um ſich ... Diefe Geſichtspunkte erſchöpfen 
zwar das Problem nicht, aber ſie ſind an ſich 


x 


Auf ber Werk 


richtig, und wir gaben Paulſen darum gem 
das Wort in dieſer Zeit, wo Emil Ludwigs 
Bud unliebſame Senſation macht. O. T. 


Zwei niederdeutſche Dichter 


er Hanfeate Wilhelm Scharrelmann 
und der Weſtfale Wilhelm Lenne- 


mann begingen im September ihren 50. Ge- 
burtstag, der erſte am 3., der zweite am 
24. September. Beide beſitzen die kernige 
Kraft niederdeutſchen Volkstums und zugleich 
feine ſeeliſche Keuſchheit, die Klarheit und die 
Helle und den inneren Reichtum charakter 
voller, reiner und reinigender Geſinnung, die 
Lichtgedanken gütiger Herzen. In ihnen ift 
nichts von haltloſer und zerrüttender Ent ⸗ 
artung, auch nichts von weichſeliger Rührfam- 
keit, nichts vom Strohfeuer ſchwülſtiger Hohl 
heit. Sie ſtelzen nicht mit der löcherigen Würde 
literariſcher Stöͤckelſchuhträger ſelbſtbewußt 
und großſprecheriſch einher. Von Befrudten- 
dem, Samen Streuendem, für ein mannbaftes 
Leben Ausrüſtendem find ihre allem Aufputz 
abholden Bücher erfüllt. Es iſt mehr von 
ſozialem Empfinden, von Menſchenſeelen Auf- 
bauendem und Ausgleichendem darin als in 
ſo wackeren wie langatmigen Tendenzſchriften, 
ohne daß es den Dichtern um ſolche ethiſchen 
Wirkungen groß zu tun wäre. Oenn nichts if 
bei ihnen auf Effekte eingeſtellt, nichts Made 
riſches iſt in ihnen und an ihnen, wie nidts 
Artiſtelndes. Da iſt alles einfach und innig, 
echt und ehrlich, wahr und warm empfunden. 
Und beiden eignet ein ungeſuchter, behaglicher 
Humor zuzeiten, der Humor aufrichtender 
Menſchenliebe. Lennemann ſteht als Lyriker 
am höͤchſten („Saat und Sonne“, Shine 
mann in Bremen). Da fließt es quellfriſch aus 
den Tiefen feiner ſuchenden Seele, die zwi 
ſchen Sternenſehnſucht und Schollengluͤck hin 
und her wandert, ein wenig ſchwerſinnig, ver 
träumt, wehſüß; aber doch immer wieder hebt 
ſich über alle Erdenſchwere fein freier Geiſt. 
Seine Erzählungen („Auge um Auge, Zaln 
um Zahn“, „Das Geheimnis der alten Bibel“, 
Flemming & Wiskott in Berlin, ufw.) in ihrer 
gediegenen und gefunden Treuſinnigkeit ge 
hören in alle Volksbibllotheken. Scharrer 


' 


{ 


Auf der Warte 


manns Profa iſt um vieles feiner als die 
Zennemanns. Es find die ganz zarten Schwin- 
gungen der Seele, denen er nachgeht. Seine 
erſten Erzählungen ſchon (genannt ſeien nur 
Piddl Hundertmark“, „Rund um St. An- 
nen“, „Täler der Jugend“) haben eine eigene 
leife Melodie, einen duftigen Schmelz, Spitz 
wegiſch · Altertümliches, Romantifches, Trau- 
lich Verſchliſſenes, Dämmerig-Dunſtiges bei 
aller nie beſchönigenden geradſinnigen Herb- 
beit. Und er ſtieg auf zum großen Ernſt 
der Bändigung, zu beherrſchter Prieſterherr 
lichkeit, zu apolliniſcher Abgellärtheit in feinen 
letzten edelſchönen Werken „Sejus der Züng- 
ling“ und „Die erſte Gemeinde“ (alles bei 
Quelle & Meyer in Leipzig). Wie der junge 
geſus die heimliche Krone auf dem Haupte 
trägt, das iſt von göttlicher Reinheit und Lieb- 
lichteit, das iſt durchhaucht von dem holden 
duft einfachſter Worte, wie der Duft un- 
ſcheinbarer Blüten in Gottes Garten. Pie 
Tabea - Epiſode in „Zeſus der Jüngling“ iſt ein 
ſttahlendes Kleinod deutſcher Poeſie. Von 
beiden Dichtern dürfen wir Schönes, wahr- 
ſcheinlich das Beſte noch erwarten. 
Paul Wittko 


Alexander von Gleichen⸗Rußwurm 


chillers Urenkel iſt am 6. November 60 
geworden. Man darf dieſem kultivierten 
und beleſenen Manne herzlich Glück wünfchen 
zu einem neuen Lebensjahrzehnt. Dem hub; 
ſchen Buch, das ſein Verlag Julius Hoffmann 
in Stuttgart bei dieſem Anlaß herausgibt, 
ſteht ein Leitwort von O. A. H. Schmitz 
voran: „Alexander von Gleichen Rußwurm 
iſt einer der ſehr Wenigen, in denen das 
Deutide ins Europalſche gewachſen iſt, ohne 
ſeine Wurzeln zu verlieren.“ Und in einigen 
Vidmungen und Zuſchriften, die das Buch 
beſchlle zen, ſchreibt Franz Rarl Ginzkey ein 
lobendes Wort, wie ſchöͤn es iſt, in gigantiſchem 
Schatten ein Eigener zu fein“. Ebendort be · 
zeichnet ihn Raoul H. Francé als „eine 
Becke, auf der zwei Welten und Kultur- 
epochen ſich begegnen“. 
Gleichen Rußwurm iſt in gutem Sinne ein 
äfthetifcher Menſch, ohne Aſthet zu fein. Er hat 


277 


ſich im Sinne Schillers gebildet ohne deſſen 
ſchöͤpferiſches Pathos, das ſich dort dramatiſch 
entlädt; aber er iſt immerhin nicht ohne 
dichteriſchen Einſchlag. Seine Art iſt freilich 
mehr kulturgeſchichtliche Beſchaulichkeit, Le- 
bens weisheit, Verſtändnis für den Wert der 
Perſönlichkeit als Kunſtwerk. Und da find 
Männer mit ſolcher Einſtellung in unſrem 
entſeelten und mechaniſierten Zeitalter von 
beſondrem Wert. 

Die ſchlanke hohe Geſtalt hat im Profil 
Ahnlichkeit mit dem großen Oichter. Er iſt, ſo 
viel uns bekannt iſt, Schillers letzter Urenkel. 
Mit einer leiſen Wehmut ſpricht man das aus; 
doch es iſt ein wuͤrdiger Ausklang. 


Emil Peters 


uch dieſen kerndeutſchen Mann, der auf 

der Sonnen hohe feines Lebens allgufrih 
dabinging, darf man zu den gulunftweifen- 
den Zdealiften zählen, zu den Fackelträgern 
des neuen Geiſtes, der allein imſtande iſt, 
Deutfchland wieder groß und frei zu machen. 
Unterbrochen durch eine trübe Epoche ma- 
terialiſtiſchen Denkens, fett die Weltanfchau- 
ung der „Goethezeit“ ihren Siegeszug fort. 
Männer wie Eucken und Lienhard dürfen 
wieber von den metaphyſiſchen Hintergründen 
des Lebens ſprechen, von der Macht der Seele, 
von den geheimnisvollen Kräften des Ge- 
mits. In echter Jüngerſchaft folder Neu- 
idealiſten, und doch eigengeartet, hauptſächlich 
durch die Rede wirkend, ſpricht Emil Peters 
von den Strahlenden Kräften, von den 
ſeeliſchen Mächten als den Quellen der Wieder; 
geburt des Menſchen, von den , Glidstrdften 
der Liebe“. Zu einem Kulturphiloſophen be- 
ſonderer Prägung wird Peters durch ſeine 
biologiſch-phpſiognomiſche Einſtellung. Wie 
er in feiner Perſönlichkeit den Oichter, den 
Ethiker, den Lebens- und Menſchenerkenner 
vereinigt, ſo erſcheint er uns als ein Typ des 
neuen Menſchen. Im Gegenſatz zu den meiſten 
geiſtigen Fuͤhrern iſt er eine total gebildete 
Perſönlichkelt geweſen, einer von den wenigen 
Oeutſchen, die geiſteswiſſenſchaftllch und 
lebenswiſſenſchaftlich gleich gruͤndlich geſchult 
waren. So konnte er auch ein Vorkämpfer 


278 


für die Aufartung unſeres Volkes werden, 
weil er nicht nur den ethiſchen, ſondern 
auch den biologiſchen Wert der Ehe und 
der Familie erkannte. Dieſer mutige Kampf 
für Volkskraft, fuͤr „Schaffen und Leben“, 
kann in der Zeit eines faſt hoffnungsloſen 
Niedergangs der deutſchen Familie gar nicht 
hoch genug bewertet werden. Peters, der bei 
all feinen hohen Geiſtesgaben auch über eine 
hinreißende Beredſamkeit verfügte, hätte — 
wäre er am Leben geblieben — auf dieſem 
Gebiete eine geradezu reformatoriſche Arbeit 
leiften können. Vom wiſſenſchaftlichen Stand; 
punkt aus wird Peters als Phyſiognomiker 
hochgeſchätzt. Sein Werk: Menſchengeſtalt und 
Charakter, das auf genauen Meſſungen von 
Tauſenden von Schädel und Geſichtsformen 
beruht, gibt uns einen wertvollen Schlüuͤſſel 
zur Erkenntnis der menſchlichen Pſyche, den 
freilich meiſterhaft nur Peters ſelbſt kraft 
feiner Intuition handhaben konnte. — Peters 
Werke („Vom mutigen Leben“, „Strahlende 
Kräfte“, „Menſchen in der Ehe“, „Frauen- 
leben — Frauenliebe“, „Glückskräfte der 
Liebe“) find im Volks kraft-VBerlag, Ronftanz, 
erſchienen. Die Tuͤrmerleſer werden in dieſen 
gedankenreichen und mit plaſtiſcher Bildkraft 
geſchriebenen Büchern eine ihnen feelen- 
verwandte Natur finden. 
Dr. Oürre 


Eliſabeth Kulmann 


Zur Erinnerung an ihren Todestag 
vor 100 Jahren 


A: einem rauhen Zrühwintertage des Jah; 
res 1825 bewegte ſich ein ärmlicher Lei- 
chenzug in Petersburg nach dem Smolenſki⸗ 
ſchen Gottes acker. Man begrub die ſterblichen 
Aberreſte eines noch nicht 18jährigen Mäd- 
chens. Beweint von den Ihrigen, trauerten 
um dieſe liebliche Rnofpe vor allem die Gro; 
Ben im Reiche der Geiſter. Trotz ihrer Jugend 
hatte ſie ſchon deren Anerkennung erworben 
gehabt. Dichterin war ſie in 3 Sprachen und 
beherrſchte, wie ihr Grabdenkmal mitteilt, 
11 Sprachen. Ein Meteor ihrer Zeit! 
Clifabeth Kulmann (geb. 17. Juli 1808, 
geft. 1. Dezember 1825) entſtammte einer 


Auf ber Warte 


ruſſiſchen Militärfamilie und war in Peters; 
burg geboren. 

Ihr von Speyer gebürtiger Vorfahr war 
unter Zar Alexei Michailowitſch, dem Vater 
Peter des Großen, um die Mitte des 17. Jahr; 
hunderts in ruſſiſche Militärdienſte getreten. 
Die Eltern waren Boris Feodorowitſch RNul- 
mann und Maria, geb. Rofenberg. 

Früh vate rlos wuchs fie wohl unter febr 
armlichen äußeren Verhältniſſen auf; die 
Menſchen aber, die um fie waren, bildeten 
einen Kreis „johanniſcher Geſtalten“, die ſich 
an Liebe und Güte gegenſeitig verfdwen- 
deten. 

Mit ſtiller Wehmut können wir, im Zeit- 
alter des ödeſten Materialismus, jenes har; 
moniſchen haͤuslichen Bundes gedenken, wo 
unter der Herrſchaft des ſelbſtherrlichen Zaren 
Deutide und Ruffen, Orthodoxe, Katholiken 
und Lutheraner mit Liebe, Achtung und Der- 
ſtändnis für die gegenſeitigen Schwachen in 
Eliſabeths Hütte ein und aus gingen. Und mit 
welcher Ergebenheit trug ihre Mutter ihr har; 
tes Schickſal! Hatte fie doch nicht allein den 
Ernährer verloren, ſondern auch noch von 
7 Söhnen vier, welche das Leben für ihr 
Vaterland hingegeben hatten. 

Einen eigentlichen Schulunterricht hatte 
Eliſabeth nie genoffen, aber fie hatte prächtige 
Lehrer. Da waren vor allen ihr ſpaͤterer Heraus; 
geber, der rechtsrheiniſche Pfälzer Karl Fried; 
rich von Groß heinrich, ein Zurift, Karl von 
Kretty, ihr Zeichenlehrer und ihr Haus vater, 
ein würdiger alter Prieſter, Iwan Zegoritfch. 

Ihre Werke umfaffen: I. Die Gemälde 
ſammlung in 60 Sälen. II. Anakreons Dber- 
ſetzungen in 8 Sprachen. III. Die Aberſe tzung 
von Oferovs Trauerſpielen ins Peutfche. 
IV. Die Überfegung zweier Trauerſpiele Al- 
fieris ins Oeutſche und deffen Saul ins Ruf- 
ſiſche. V. Ihre poetiſchen Verſuche in deut- 
ſcher, italieniſcher und ruſſiſcher Sprache. 
VI. Überfegungen von Griates Fabeln aus 
dem Spaniſchen. Bruchſtücke von Camoens 
Lufiade und Miltons Verlorenem Paradieſe. 
VII. Die ausländiſchen Märchen in ruffi- 
ſcher Sprache, davon Dobrüna Nilititſch und 
Aladins Wunderlampe deutſch. VIII. Ihr 
Schwanengeſang, den fie unter den heftigſten 


u | 
* N ae OE Tes 
za es - * 


Auf der Warte 


Huftenanfallen niederſchrieb, war die Aber; 
ſetzung neugriechiſcher Volkslieder. 

Sie hatte zweifelsohne ein durch Homer, 
die Raffiter des Altertums und durch die 
Bylinen ſtark beeinflußtes epiſches Talent. 
Sei ihren Gedichten in ungebundener Rede, 
die ſich durch tiefe Wahrheit und Anſchaulich⸗ 
keit auszeichnen, hat man oft, wie Joh. Hein- 
tid Voß ſich einmal äußerte, das Gefühl, daß 
man die Aberſetzung eines unbekannten ttaf- 
ſiſchen Werkes vor ſich habe. 

Trotzdem fle den Reim nicht liebte, be- 
herrſchte fie ihn doch, und z. B. die Schilde 
tung des Urwaldes in einer der, Afrikaniſchen 
Szenen“ ift ſicher ein Rabinettitid erften 
Ranges. Ihre Volkstümlichkeit in deutſchen, 
vor allem füddeutfchen Landen, verdankte fie 
aber ſicherlich der Bearbeitung unſerer Sagen. 

Der Freiſchuͤtz hatte feinerzeit auf das 
l5jabtige Mädel großen Eindruck gemacht; fie 
wollte etwas Ähnliches ſchaffen und nahm ſich 
den Rodenfteiner zum Vorwurf, leider kam 
dieſe Arbeit nicht zum Abſchluß; obenerwähn- 
ter Zeichenlehrer hatte ſchon dazu Roftüme 
und Kuliſſen ausgearbeitet. 

Venn man die ſtattliche Anzahl ihrer Werke 
überblidtt, beſchleicht einen aber das Gefühl, 
daß hier ein ungeheurer Raubbau am Leben 
und an der Geſundheit eines Rindes getrieben 
wurde. Man legt ſich rein menſchlich die Frage 
vor: war denn da niemand, der dies zarte Ge; 
khöpf an der Überarbeit hätte hindern kön- 
nen? Sie hätte vielleicht noch einige Jahre 
gewinnen und die Welt mit reiferen Werken, 
mit Werken, geboren aus der Tiefe eigenſten 
tiefften Exlebens und Füuͤhlens befdenten 
konnen. 

Das Lob und die Würdigung ſo hoher 
Seiſter wie Goethe, Jean Paul und Karamſim 
ſtachelten zu ſehr ihren Ehrgeiz an, mehr als 
iheer Seſund heit zuträglich war. 

Ihre Heimat Rußland erkannte fie als große 
Didterin an, und die Akademie der Wiſſen⸗ 
ſchaften gab in zwei Auflagen ihre ruſſiſche 
und in zwei Auflagen ihre deutſchen und ita- 
lleniſchen und in einer Auflage ihre fämtlichen 
Werte heraus. (Ob ſich wohl dieſe Akademie 
und das Bergeorps, wo die Oichterin und 
ihre Mutter eine Zeitlang die Wohnung Joan 


279 


Zegoritſchs teilen durften, bei ihren jüngften 
Zubelfeiern ihrer erinnerten 7) 

Die deutſchen Werke erlebten in Deutfd- 
land eine ſehr große Zahl von Auflagen. 
„Biedermeiers“ Töchter vor allem ſchwaͤrm⸗ 
ten für die Gedichte und Sagen dieſes armen, 
früh verſtorbenen Maͤdchens. Großheinrichs 
Ausgabe mit den entzückenden Lithographien 
des Heidelberger Romantikers Philipp Schmitt 
(Vater von Guido Schmitt) nach Zeichnungen 
von Rretty, war ſehr beliebt. Aber raſch ver- 
blaßte auch ihr Ruhm. 

Der große Meyer vom Jahre 1854 brachte 
einen langen Artikel über fie mit einem prdd- 
tigen Stahlſtich nach einem Bilde von Catozzi, 
der ſie in einem reichen römiſchen Gewande 
darſtellte. Welch ein Hohn auf die Wirklichkeit, 
auf Eliſabeths brüdendfte bitterſte Armut! 

In der Geſchichte der deutſchen National- 
literatur von Kurz 1857 iſt fie noch behandelt, 
während die Literaturgeſchichten der Ger 
Jahre ihren Namen ſchon nicht mehr führen. 

Dr. G 9. 


Der Walzerkoͤnig Johann Strauß 
im Roman und in der Novelle 


U? du biſt Johann Strauß! Pu bift 
ewig! Oeine Geige ſingt weiter, dein 
Taktſtock weckt Lebensfreude und ſchwingt 
über der Welt. Ou biſt der lachende Geiſt, der 
klanggeformte Dafeinsjubel. Du Freuden 
bringer in Not und Jammer, du Bezwinger 
der ringenden Zeit, du jauchzende Valzerluſt, 
du lebſt! Zn dir iſt Wien, Wien biſt du; du 
biſt Welt, weil du die klingende, ſingende 
Freude biſt, der Lenz der Tone, der in allen 
Herzen blüht!“ — ſo beſingt Fritz Lange 
am Schluſſe feines ſoeben erſchienenen Strauß; 
Romans (Verlag Rid. Bong, Berlin) den 
walzerſeligen Meiſter aus der muſikfrohen 
Stadt am Donauftrande. Wie von dem Ver- 
faſſer einer trefflichen Johann Strauß; und 
Lanner- Biographie (Fritz Lange: Fofef Lan- 
ner und Johann Strauß. Ihre Zeit, ihr Leben 
und ihre Werke. 2. Aufl. Leipzig, Greit- 
kopf & Hartel) zu erwarten war, ijt dieſer in 
allen Teilen feſſelnde Roman mit einer ftau- 
nenswerten Beherrſchung der einichlägigen 


280 


Literatur und aus dem inbrünftigen Gefühl 
einer ſchwärmeriſchen Verehrung für den Hel- 
den und das Wienertum überhaupt gefchrie- 
ben worden. Wir erleben die Glanzzeit des 
Vaters Strauß; wir dürfen den Meifter im 
Kreiſe ſeiner Muſikanten belauſchen und Zeuge 
von nicht immer erquicklichen Familienſzenen 
im Hirſchenhauſe fein, wir hören, wie dieſer 
muſikaliſche Freudebringer umbrandet iſt von 
den Begeiſterungswogen ſeines Publikums in 
den Wiener Nonzert alen und gärten. Wie 
fein Vater ſich vom kümmerlichen Wirts haus- 
muſikanten zum gefeierten Walzerkönig Wiens 
emporarbeiten mußte, ſo blieben auch dem 
jungen Zohann Strauß Irrungen und Wir- 
rungen in feinem von Sturm und Orang er- 
füllten Rünftlerdafein nicht erſpart. „Wellen 
und Wogen“ tauft er deshalb ſinn voll einen 
feiner ſchonſten Walzer. Aus Enge und Zwang 
eines widerwillig ergriffenen Studiums an 
der Hochſchule befreit ihn ein kuhn verübter 
Streich, und in der Nachfolge feines ruhm- 
reichen Vaters ſieht er ſich bald auf den Son; 
nengefilden beglidenden Rünftlertume. . . 

Ole mit friſchem Temperament und er- 
leſener Stilkunſt geſchrlebene Novelle „Der 
Frühlingswalzer“ des öſterreichiſchen Oichters 
Robert Hohlbaum (Verlag Gebrüder Stie- 
pel, Reichenberg i. Böhmen) ſtellt Vater und 
Sohn Strauß als ſich gunddft ſcharf betamp- 
fende Gegenſätze in die Wirren der auch bei 
Lange geſchilderten Wiener Revolution von 
1848. Die tollen Ereigniffe find aber mit köͤſt ; 
lichem Humor aus aller dumpfen Schwere 
befreit. 

Mit neckiſchem Humor und beflügelter 
Phantaſie plaudert Walter Möller in fei- 
nem muſikaliſchen Novellen ⸗ und Skizzen; 
bande „Von Bach bis Strauß“ (Verlag von 
Wilh. Möller, Oranienburg bei Berlin) von 
Erlebniſſen des Walzerkönigs beim Einlaß 


Auf ber Baue 


begehren in den Himmelsraum. Eft dent 
der Füͤrſprache feines Freundes Johannes 
Brahms, der die Himmelsſeligen mit einer 
gar herzrührenden Geſchichte von der walzer 
feligen Kunſt des Meiſters von ihrer Weige- 
rung des Einlaſſes abzubringen weiß, darf 
Sobann Strauß die breiten, goldenen Stufen 
der Himmelstreppe emporſchrelten. 
Dr. Paul Bülow 


Weltrekord 


urch die Berliner Preſſe ging kürzlich 

die Nachricht, Deutſchland hätte einen 
neuen „Weltrekord“ in Gold- und Wert: 
paplerſendungen auf dem Luftwege auf 
geſtellt. Und zwar war dieſer Weltretordfiug 
die Aberſendung unſerer fälligen Reparations- 
zahlungen von 9660000 Pfund in Oawes⸗ 
Anleiheftüden durch Flugzeug von Berlin 
nach London. 

— Auch ein Weltrekord, dieſer Goldflug! 
Es werden ja heutzutage ſoviel Rekorde auf- 
geſtellt, warum foll man das fliegende God 
nicht einmal meſſen? Doch haben wir wahr 
lich keinen Grund, hierauf ſtolz zu fein ober 
davon Weſens zu machen. Kann man dem 
dabel vergeſfen, daß dieſes Gold Mühe und 
Arbeit unſeres Volkes bedeutet, kann men 
vergeſſen, daß unſer verftlavtes Deutidland 
einen Weltrekord im Schulden zahlen au 
geſtellt hat? 

Seber einzelne von uns hat es bitter fühlen 
müffen, daß wir ein befiegtes, der Wilde 
fremder Machtſtaaten ausgeſetztes Volk ſind. 
Und nun liefern wir unſer Gold, die Arbeit 
von Tauſenden deutſcher Männer und Frauen, 
im „Weltrekord“ mit Eilflug nach England... 

Sollte uns nicht endlich dieſes Poſſenſpiel 
zum Bewußtſein kommen 7! Weltrekord, ja 
wir ſtehen in der Tat an der Spitze: in der 
Verſklavung! Hans-Heinz Albrecht 


Herausgeber: Profeſſor Dr. Friedrich Lienharb in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Kontab Olee, 

We imat, Racl-Aleranber-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen 

Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie ftaſten“ mitgeteilt, fo bak Rüdfenbung erfpart bleibt. 

Ebenbort werden, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſendungen bitten wir Rückpocto beizuieget: 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


Wo der Wald sich lichtet Prinz Eugen von Schweden 


Penn für ec und Geist 


ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT 


1 — von Prof. Dr. h.c. Friedrich Lierrhard 


28. Jabra. 


Januar 1926 


Immer ſtärker empfinden wir die Notwendigkeit 
einer neuen Syntheſe des Lebens, die Notwendig 
keit einer zuſammenfaſſenden und befeſtigenden 
Gedantenwelt. Eine ſolche kann aber unmöglich 
aus der Jerſtreuung des unmittelbaren Dafeins 
hervorgehen, fie fordert eine Umkehrung deffen: 
fie verlangt eine Wendung zur Metaphyſik. 
die Wahrheit des Hegelſchen Wortes, daß ein 
gebildetes Volk ohne Metaphyſik einem ſonſt 


mannigfaltig ausgeſchmückten Tempel ohne Aller. 

heiligſtes gleiche, läßt ſich immer weniger leugnen. 

Wir beginnen der bloßen Gelehrſamkeit ebenfo 

ſatt zu werden wie der Verflachung und Ver⸗ 

neinung ; denn wir ſehen unſer geiftiges Selbſt 

und mit ihm die Möglichkeit aller und jeder 
Wahrheit bedroht. 


Rudolf €uden 


Der themes XXVIII, 4 


egränder: Seannot Emil Sreiherr vor Grotthup 


Heft 4 


282 
Das Einheitsſtreben in der neueren Philoſophie 
Von Rudolf Eucken 


Der greife Geheimrat Prof. Dr. Eucken ſtellt uns freund- 
liche rwe iſe in un verminderter Friſche dieſe Gedanken zur 
Verfügung. Mir beglückwünſchen den Alimeiſter deutſch⸗ 
idealiſtiſcher Philofophie herzlich zu ſeinem achtzigſten Ge- 
burtstag. ®. T. 


er Beginn der Neuzeit brachte einen ſchroffen Bruch zwiſchen Menſch und 

All, wie er wiſſenſchaftlich namentlich in der Gedankenwelt von Descartes 
zum Ausdruck kam. Die Aufklärung ſuchte den Spalt durch eine Verſtändigung 
von Menſch und Welt zu überwinden; fie hat hervorragenden Scharfſinn an dicfe 
Aufgabe gewandt. Aber dem geſchärften Denken Kants entging nicht der Wider- 
ſpruch des Unternehmens, zugleich zu ſcheiden und zuſammenzubringen; ſo hat er 
eine neue Bahn eingeſchlagen, indem er innerhalb des menſchlichen Bereiches ein 
ſchaffendes Leben aufdeckte, den Menſchen von dem Druck einer außer ihm befind- 
lichen Welt befreite und aus ſeiner Selbſttätigkeit eine Welt hervorgehen ließ, 
die keiner Derbürgung ihrer Wahrheit von draußen bedurfte. Hegels Gedanken- 
arbeit entfernte ſich in ihrer näheren Faſſung weit von Kant, aber gemeinſam iſt 
beiden Denkern das Streben, im Menſchen ein geiſtiges Schaffen anzuerkennen, 
das die Enge des bloßen Menſchen überſchreitet, ſich als einen völligen Gelbft- 
zweck gibt, ein Geſamtreich der Tätigkeit, eine Tatwelt, bildet. Das bedeutet eine 
völlige Umkehrung des ſinnlichen Anblicks der Dinge; dieſer führt nur zu einer 
Erſcheinungswelt, den Philoſophen aber macht eine ſolche Wendung zum Ent- 
decker und Weiterbildner einer echten Wirklichkeit. 

Aber innerhalb des verwandten Strebens bilden Kant und Hegel einen ſchroffen 
Gegenſatz, die moraliſche und die intellektuelle Löſung des Problems treiben nach 
entgegengeſetzter Richtung. Kant gewinnt den entſcheidenden Punkt erſt durch eine 
gründliche Scheidung und Verneinung, theoretiſche und praktiſche Vernunft treten 
ihm deutlich auseinander; erſt indem feine einbohrende Arbeit die ſinnliche Welt 
herabſetzt, gelangt er zu einem ſicheren Reich der Wahrheit. Es geſchieht das aber 
nach feiner Überzeugung in der Welt der Moral; dieſe bildet hier nicht ein bloßes 
Stück eines weiteren Lebens, ſondern ſie erweiſt ſich als den Kern alles geiſtigen 
Lebens. Hier vermag unter der Leitung der praktiſchen Vernunft die Tätigkeit eine 
volle Wirklichkeit zu erzeugen, welche über der Beſonderheit und der Begrenztheit 
des bloßen Menſchen liegt und als die Tiefe aller Wirklichkeit gelten darf. Damit 
wird die Kluft, welche ſonſt zwiſchen dem Menſchen und dem All lag, von innen 
her überbrückt; es eröffnet ſich eine in der moraliſchen Freiheit begründete Welt, 
als Teilhaber an dieſer Welt erlangt der Menſch eine unvergleichliche Größe und 
Würde. Von dem Grundgedanken dieſer Überzeugung aus klären und vertiefen 
ſich hier alle einzelnen ethiſchen Grundbegriffe, wie Pflicht, Perſönlichkeit, Cha- 
rakter uſw., ſonſt nur vereinzelte Stücke, greifen ſie jetzt eng ineinander, erhalten 
jie eine feſte Grundlage und eine ſchärfere Faſſung, ſteigern fie weſentlich ihr Ber- 
mögen. 

Auch Hegel verficht ein ſelbſtändiges Wirken weltſchaffender Art, auch er erſtrebt 


Euden: Das Einheitsſtreben in ber neueren Phlloſophle 285 


ein inneres Verhältnis des Menſchen zur Wirklichkeit. Aber er ſieht ein ſolches 
Wirken im Denken, in einem autonomen Denken, das ſowohl die menſchlichen 
Vorſtellungen als die menſchlichen Zwecke überſteigt, in ſich ſelbſt ein Geſetz und 
eine Kraft fortſchreitender Bewegung trägt und alle Umgebung in dieſe Bewegung 
hineinzieht. Das ſo verſtandene Denken ſteht nicht neben den Dingen, ſondern es 
wird zu einem Erzeugen der Dinge: in ihm finden dieſe ihr eignes Weſen und ihre 
volle Wahrheit. Wie bei Kant, ſo bildet auch bei Hegel die Freiheit den höchſten 
Vert und das letzte Ziel; aber fie verlegt ſich hier aus dem Moraliſchen ins Intel- 
lettuelle, aus der Geſinnung der Perſönlichkeit in das geiſtige und intellektuelle 
Virken. Es fehlt hier keineswegs eine Moral, aber fie erhält die höchſte Aufgabe 
darin, den Menſchen ganz und gar in das objektive und univerſale Denken zu ver- 
legen und allen Eigenſinn des Individuums zu brechen; die in fic ſelbſt vertiefte 
Sejinnung weicht hier der Hingebung an den überlegenen Geiſtesprozeß. Das 
denken wird damit über die einzelnen Lebenskreiſe hinausgehoben, es wird zu- 
gleich als eine im Menſchen wirkende und ihn bezwingendg Macht anerkannt. 

Was immer an Hegels Leiſtung angreifbar ſein mag, ſein Unternehmen iſt der 
letzte Verſuch, das Problem einer innern Verbindung des Menſchen mit dem All 
durch eine heroiſche Umkehrung zu löſen. Seitdem hat die Philoſophie ein ſolches 
tibnes Schaffen als ein gefährliches Wagnis aufgegeben und auf alle ſelbſtändige 
Metaphyſik verzichtet. Aber mit der Gefahr hat fie zugleich auf eine innere Größe 
und auf eine weſenhafte Bedeutung für das Ganze der Menſchheit verzichtet. 

Von beiden Löſungen des Weltproblems ſind eingreifende Wirkungen auf das 
geſchichtliche Leben ausgegangen; fie haben nicht bloße Theorien entworfen, fon- 
dern ſie haben das gemeinſame Daſein umgeftaltet. Kants Steigerung der mora- 
liſchen Gedankenwelt ift ein Hauptſtück einer inneren Kräftigung unferes deutſchen 
Dolkes geworden. Mit Recht hat Goethe ihm ein „unſterbliches Verdienſt“ zu- 
erkannt, „uns von jener Weichlichkeit, in die wir verſunken waren, zurückgebracht 
zu haben“. Die moderne Kulturidee aber hat keine bedeutendere Faſſung erlangt, 
als Hegel ſie ihr gegeben hat. Durchgängig war er beſtrebt, die Gedankenmaſſen 
auf einen zuſammenhaltenden Begriff zu bringen und ſie mit einer aufhellenden 
dee zu durchwirken; namentlich Geſchichte und Geſellſchaft haben dadurch viel ge- 
wonnen, ohne Hegel iſt der geiſtige Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht zu verſtehen. 

Aber wie hoch wir dieſe beiden Lebensbewegungen ſchätzen, und jo unentbehr- 
lich ihr Wirken iſt, ſie laſſen ſich unmöglich unmittelbar zuſammenfügen; ſie geraten 
leicht in einen Zwieſpalt, ihre Ziele und ihre Werke gehen vielfach auseinander. 
Dieſer Zwieſpalt führt letzthin auf den prinzipiellen Unterſchied von Moral und 
Kultur. Die moraliſche Geſtaltung des Lebens neigt dazu, die intellektuelle Leiſtung 
als eine Nebenſache zu behandeln, umgekehrt geſchieht es, wenn die intellektuelle 
Geſtaltung ſich dem moraliſchen Verhalten überlegen dünkt. Das Vermögen und 
das Selbſtvertrauen der Kultur erſcheint der Moral oft als eine ungebührliche Über- 
ſpannung menſchlicher Kraft; die von der Moral hochgehaltene Geſinnung der 
Aufopferung, der Ehrfurcht und Demut aber dünkt oft der Kulturarbeit als matt 
und ſchwächlich. Auch unſere Zeit leidet an einem Zwieſpalt dieſer Strömungen 
und Stimmungen. 


284 Freptag-Loringhoven: Wei 


Unmögli kann jedoch dieſer Zwieſpalt das letzte Wort bedeuten. Die Menschheit 
bedarf zur Erreichung ihrer Höhe unbedingt ſowohl einer Unterordnung unter eine 
geiſtige Macht, als auch der mutigen Aufbietung des eigenen Vermögens; wir ver 
fallen einem gefährlichen Dualismus, wenn wir die beiden Bewegungen vor 
einander trennen. Dieſer Dualismus muß konſequent durchgeführt die Gedanken- 
welt zerreißen, jede der beiden Mächte bedarf zur Aneignung des ganzen Mer 
ſchen einer Begründung in einem ſchaffenden weltüberlegenen Leben. Aber wie 
ſoll beides zuſammenkommen, wenn die beiden Anſprüche fi durchkreuzen, ja 
ſich gegenſeitig ausſchließen? Dieſe Erwägungen drängen dahin, dem Streben 
eine breitere Grundlage zu geben, welche den Gegenſatz von Moral und Kultur 
umfaßt und jeder Seite ihr Recht innerhalb des Ganzen zuerkennt. Eine ſolche 
Grundlage kann aber unmöglich durch eine Zuſammenſetzung auf dem Boden det 
Erfahrung gelingen; fie fordert eine Umwälzung des gegebenen Dafeins, fie for 
dert ein Wirken einer ſchaffenden Geiſtigkeit, ſie fordert damit ein eigentümliches 
Geſamtbild des menſchlichen Lebens und feiner Stellung im All. Ein ſolches Biel 
muß auch dem heutigen Streben vorſchweben, wenn wir der immer wachſenden 
Zerſplitterung einen Damm entgegenſetzen wollen. Die Richtung zum Welt⸗ 
problem haben uns jene beiden großen Denker gewieſen, aber es gilt für uns 
was in ihnen an Gegenſätzlichem liegt, zu überſchreiten und im engen Zuſammen⸗ 
hang mit dem Weltproblem eine überlegene Einigung anzubahnen. 

Meine eigne Lebensarbeit diente an erſter Stelle dieſem Problem. Ich habe 
ſchon in meiner erſten Schrift zur prinzipiellen Philoſophie, in der „Einheit des 
Geiſteslebens“ (erſte Auflage 1888, zweite unveränderte Auflage 1925), jene Frage 
als die entſcheidende behandelt und ſie immer von neuem hervorgehoben. Man 
möchte meinen, daß bei dem heutigen Zerfall des geiſtigen Lebens dieſes Der 
langen nach innerer Einheit und zugleich nach einer engeren Verbindung 
des Menſchen mit dem All immer dringender wird. 


Adel 


Von Gunda von Freytag⸗Loringhoven 


Trag die ſieben Zinken deiner Krone 

Und den alten Namen des Geſchlechts! 

Ob mit Hohn und Spott die Welt es lohne — 
Trag fie frei und ſchau' nicht links noch rechts! 


Aber wehe, wenn die ſtolzen Zeichen 
Viel zu groß für deine kleine Tat! 
Wachſen mußt du, um hinanzureichen 
An dein reichsfreiherrlich Baronat. 


Start in Demut! Hodgemut und linde! 
Ritterlid, und wärſt du auch ein Knecht, 
Wärſt du auch dein eigenes Gefinde: 
Bleibe adlig! Bleibe es — erſt recht! 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens 
(Gortfegung) 


1656 
m einen reichgedeckten Tiſch ſitzen drei würdevolle Männer, ehrenwerte Amiter- 
bamer Bürger. Sie figen im Ornat ihrer amtlichen Würde und beſprechen mit 

harten ſtarren Lippen und verſchloſſenen Mienen, was aus Rembrandt, dem Maler, 
werden ſoll, der ihnen viele tauſend Gulden ſchuldet. Sie wiſſen, er kann ſeine 
Gläubiger nicht bezahlen. Sein Pinſel könnte es, wenn die Stadt ihm einige be- 
deutende Aufträge geben würde. Das neue Rathaus ſoll mit großen Vildern der 
Landesgeſchichte ausgeſchmückt werden. Aber ſie kennen den Starrſinn dieſes 
Mannes, der nicht zu beugen iſt. Ihm geht der einſame Weg ſeiner eigenen Natur 
über alles. Sie wagen nicht, ihm perſönlich den erlöſenden Auftrag zu bringen. 
Nach beſtimmten Wünſchen der Stadtverwaltung würde er feine Malweiſe doch 
nicht einrichten. Die Kunſt ſei keine Dirne. So würde er ihnen antworten. | 

Das alles befpreden fie ernſt und mühſam. Keiner will dem berühmten Mann 
zu nahe treten, keiner will ihm ein Leid antun. Aber auf ihr Geld wollen fie auch 
nicht verzichten. Sie blicken ſich nicht in die Augen. Frage und Antwort geht ihnen 
ſo ſchwer von der Zunge wie dem Könige Ahasver beim Gaſtmahl der Eſther. 

Ihre Gedanken weilen bei Rembrandt. Sie wiſſen, fein Haus ijt mit Kunſt⸗ 
ſchätzen angefüllt, die einen hohen Wert beſitzen. In der Konkursmaſſe ließen ſich 
dieſe billig erſtehen. Zum zehnten Teil ihres wirklichen Wertes. Man würde reichlich 
auf ſeine Koſten kommen. So denkt ein jeder, aber keiner wagt es auszuſprechen. 
So find die Menſchen, ſelbſt bie wüͤrdevollſten. 

Armer Mann, du bift verloren, weil du ein Haus beſitzeſt, das mit Kunſtſchäͤtzen 
angefüllt iſt. Nur aus dieſem Grunde biſt du dem Untergange geweiht. 

Die drei ernſten ſchweigſamen würdevollen Männer im Ornat n ganz 
im Stillen ihrer Seele deinen Konkurs. 


Das Buch der Heimſuchung 


1658 

Wieder tauchſt du vor mir auf wie damals in der ſtürmiſchen Nacht am Meere: 
gebückt und grau, nicht vom Alter ergraut, ach nein, von der ewigen Angſt, dem 
Zorn und der Rade deiner Verfolger überantwortet zu werden. Wo malſt du 
deine ſpärlichen Bilder? Niemand weiß es. In irgend einem verborgenen Keller, 
in den der Schimmer des Tages geheimnisvoll hereindringt? In der Dachkammer 
eines beiner früheren Schüler, der in alter Treue die Staffelei mit dir teilt? 
| Gin Heim haft du nicht. Ein Verfolgter hat kein Heim. Wenn das Dunkel der 
gũtigen Nacht feinen Mantel über die Geächteten breitet, ſchleichſt du zu Hendrickje 
und Titus und zu deiner kleinen Kornelia, die kein Püppchen hat, an das ſie die 
Zärtlichkeit ihres Kinderherzens verſchwenden kann. Deine Lieben ſind heimatlos 
wie du ſelber; ſie ſind faſt mittellos und ziehen von Herberge zu Herberge. 


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286 Martens: Der Dämon bes Lichts 


Im Hintergrunde lauern die Gläubiger auf die Wunder deines Pinſels, die fie 
bereits im Geifte in Gold und Silber ummünzen. Wiſſen fie nicht, daß du ſchon 
lange kein Anſehn mehr haft in den Paläjten der Reichen? Sollte ihren fpürfinnigen 
Augen verborgen geblieben ſein, daß ein Künſtler, den die Prinzengracht, die 
Keyzersgracht geächtet haben, vogelfrei ijt? Sein Genius zählt nicht mehr, und 
könnte fein Flug um das funkelnde Weltall mit all feinen Rätſeln und Wundern 
kreiſen; ſeine Seele iſt ihnen ein verwehendes welkes Blatt, eine Woge im Weltmeer. 

Und du warſt doch ein großer Herr, ehe dein reichbeladenes Kauffahrteiſchiff an 
der Küſte der Mißgunſt zerſchellte! Nun trieb das Leben einen Schiffbrüchigen auf 
den Wellen. 

Einen Schiffbrüchigen und einen Verſtoßenen. Za, hdtteh du noch zu rechter 
Zeit ehrfürchtig vor dem Geſchmack der Reichen deinen Hut gezogen, wie es ſich 
doch für einen überſchuldeten Künſtler geziemt hätte, dir wäre noch zu helfen ge- 
weſen. So aber erlitteſt du Schiffbruch, du ſtolzer eigenſinniger Mann, bis eine 
gnädige Woge dich an die Küfte des Elends warf. 

Da ſchleppteſt du dich weiter, treuer Diener des Lichts, mit zerſchlagenen Händen 
auf den ſteilen Wegen, die zu den ewigen Höhen der Hoffnung führen, die in 
unvergänglicher Schönheit das Tal des Lebens überſtrahlen. 

O, ihr glühenden Höhen der Sehnſucht, ihr unerreichbaren Berge des Lichts! — 

Gebüdt und grau gehſt du deinen harten Weg. Voller grauſamer Begebenheiten 
und Demütigungen waren die beiden letzten Jahre. Schau nicht mehr zurück! Das 
alles muß dich nicht mehr quälen. Es harren deiner noch große Taten, deren Wert 
nur du zu ahnen vermagſt. Die Menſchen find ein kleines grauſames erbärmliches 
Zwergengeſchlecht, das hätteſt du in deine Lebensrechnung einftellen müſſen. Es 
geht aber auch ohne Reichtümer, wenn ein hilfreicher Freund ſich aufmacht in der 
Ferne. Kein Freund wie Jan Six, der reiche Tuchfärber, wenn er auch {pater einmal 
in feiner Vaterſtadt Schöffe, ja am Ende ſogar, in dreiunddreißig Jahren, Bürger- 
meiſter von Amſterdam wird. Du brauchſt einen Kerl wie Jan Lievens, der weiß, 
welch eine majeſtätiſche Seele du haſt. 

Lebſt du noch, Jan Lievens? Hielten dich Ruheloſen die Wälle von Amſterdam 
umſchloſſen, es wäre nicht jo weit gekommen mit deinem Jugendfreund. Und ſollte 
dich eines Tages die Sehnſucht heranführen, wiirbeft du ihn auch finden können 
in den Hafenſpelunken, in denen er ſich, ein wertloſer Wurm, verkrochen? Gelänge 
es dir doch, Prachtkerl, ihn von der Branntweinflaſche fortzulocken und in das 
blendende Tageslicht hineinzuſtellen, der du noch im Anſehn der Welt ſtehſt! 


1659 
1. 

— Spiegel, bier fiß ich wieder wie in beſſeren Tagen. Sie haben dich mir gelaffen, 
wie ſie mir mein Werkzeug ließen. Du einziges Prunkſtück in dieſen kahlen feuchten 
Wänden, ſeltſam nimmſt du dich aus! Ich ſtreichle dich wie eine Haarlocke Saskias. 
Ach, Saskia! Aber arbeiten kann ich nicht, ich bin wie gelähmt. Es dämmert. Schon 
ſteigt das Sonnenlicht wieder hinauf zur Decke. Der milde Lenztag macht mich 
ganz krank. Lichter, warum bleibt ihr ſtehn auf meinen Händen, auf meinem Haar? 


Martens: Der Dämon des Lichte 287 


Welch ein zartes Licht umwebt mir das Haupt! Narrſt du mich, Spiegel? Niemals 
ſah ich mich mit dieſen wehen Augen, die nach innen zu blicken ſcheinen. — Spiegel, 
Spiegel, das iſt nicht mehr der harte ſtolze einſame Mann, der mich angeiſtert; 
nimmer der um Unabhängigkeit kämpfende todwunde Ritter, der niemals vor der 
Dirne Welt Haupt und Knie beugte. Rembrandt, wende dich ab von dieſem hohl- 
wangigen Geſpenſt. Was hab' ich dir getan, trübſinniger Geiſt im Spiegel? Nie- 
mals fab ich ein gottähnlicheres Licht, einen tieferen inneren Glanz in ein Paar 
Menſchenaugen! Ob ich fie jemals vergeſſen kann? Ich müßte fie denn malen. Ge- 
wiß, ich habe nicht immer wie ein guter Chriſt gelebt: ich habe Saskia vergeſſen 
und gurerei getrieben. Ich betrinke mich jetzt oft bis zur Beſinnungsloſigkeit, tage- 
lang, nächtelang. Vis in den Straßenkot habe ich meine Seele entwürdigt. — Ver- 
zeih mir, Chriſtus, Heiland! Oder... nein, nein... follte dies dort im Spiegel 
meine arme gekreuzigte Seele jein? 
2 

— Mann, wer biſt du und woher kommſt du? — 

— Mas ſchert es dich, Wirt, du dickes Schnapsfaß! — 

— Will ich doch wiſſen, wer diejenigen meiner Gäjte find, die auf Borg aus find. — 

— Hier verkehren nur ſolche, die ihren Namen längſt vergeſſen haben. — 

Nimm's nicht krumm. Ich drüd’ ja gern ein Auge gu. — 

— Schon recht. Da brauchſt du nicht lange zu drücken, bei deinen Schweinsäug- 
lein. — 

— Aber, Mann, eine Frage tu mir beantworten. Wer iſt der Schweigſame, der 
ſchon manchen hier gegen Entgelt zeichnete? — 

— Vielleicht ein Verfolgter, ein Geächteter, jedenfalls keiner von den Unfrigen. — 

— Woran ſiehſt du das? — 

— Er läftert nicht und ſpeit nicht aus. Aber der Teufel ſoll mir in bie Hofe fahren, 
wenn ich mehr weiß als dies. Doch will ich dir's auskundſchaften, wenn du ein Fläſch- 
lein Beſſeren ausgibſt. — 

— Mad)’ deine Sache gut. Dort kommt er! — 


— Guten Frühmorgen, Bruder! Noch krähten die Hähne nicht zum erſtenmal. — 

— Die Stunde der Häſcher und Verräter! — 

— Ou ängftigft mid! Iſt Gefahr im Anzug? — 

— Sh gedachte des Heilands. — 

— Wirt, Schnapsfaß, einen Korn für den Bruder und mir einen Höllenbrand! — 

— Dante, ich trinke heute nicht. — 

— Da foll der Himmel einfallen, und die Engel ſich zu uns an den Tiſch ſetzen. 
Su trinkſt nicht? — \ 

— Sch feiere im ftillen den Tag meiner Geburt. — 

— Nie hab’ ich den meinigen in Erfahrung bringen können. Meine Eltern konnten 
ſich nicht drauf beſinnen. — 
An die Mutter muß ich denken; ſie war eine herzensbrave niidterne Frau. — 
Bruder, du tuft recht daran. Meine Mutter ſelig hab' ich tief in dies verlotterte 
Herz geſchloſſen, lehrte fie mich doch das Trinken. Sie wurde fo ſchwermütig, daß fie 


288 Martens: Oer Dämon bes Lichts 


ohne ihre Buſenfreundin, die Flaſche, den Jammer des Lebens nicht ertragen konnte 
bin ich doch ſogar im Rauſch in dieſe Welt der Schrecken gekommen. — 

— An die Schweſter muß ich denken, die gut war und rein. — 

— Die meine trieb ein trübfinnig-luftiges Handwerk. — 

— An den Jugendfreund muß ich denken. — 

— Darauf ſtieß' ich mit dir an, wenn du heute nicht von abſonderlichen Mucken 
beſeſſen wäreſt. Nicht zwiſchen baumhohen Pfoſten, die der Staat vortrefflich zu er- 
richten verſteht, bleicht der meine an luftiger Stelle, der Beneidenswerte. Er war 
ein fröhlicher Burſche, trieb es mit jedem Mädel, das er den Bauern im Geelän- 
diſchen entführen konnte, in natürlichſter Weiſe, bis er zur Oeportation verurteilt 
wurde. Da wiegelte er während der Überfahrt feine Sträflingskumpane zu einer 
Verſchwörung auf, Kapitän und Mannſchaft verſchwanden nach entſetzlichen Fol- 


terungen in den Wellen, und die Seeräuberbrigg kreuzte mit der blutroten Fahne 


lauernd auf allen Meeren, bis ſie ein Engländer in den Grund bohrte. Meinen 
Freund wollte dies Lumpenvolk an der erſten beſten Palme an der afrikaniſchen 
Küfte dem Himmel weihn, doch er entwich. — Aber, Meiſter Namenlos, wie kommt 
es, daß du den Stift ſo wacker zu führen verſtehſt? — 

— Das bißchen Zeichnen hab' ich mir ſelber beigebracht. — 

— Beim Schwanzende des Satans, im Lügen biſt du kein Meiſter! — 

— Warum lächelſt du ſo verſchmitzt? — 

— Nicht unwirſch werden. Du trägſt zu dick auf wie die ſchlechten Maler. — 

— Nun muß ich aber ſelber lächeln. — 

— Spotteſt du meiner? Mein Meſſer ſoll dir die Zunge vierteilen, Hundsfott! — 

— Nimm's gemütlich. Du haſt eine große Schulweisheit zum beften gegeben. — 

— Eine Schulweisheit? Was meinſt du damit? — 

— Bin nämlich der Meinung, daß auch gute Meiſter dick auftragen ſollen. — 

— Aha! Du biſt Maler? — 

— Wer ſagt das? — 

— Wirt, haft du gehört? Meiſter Namenlos ift Kunſtmaler. Er ſoll uns alle a> 
konterfeien wie Meiſter Frans Hals. — 

— Meifter Namenlos, wenn du der Meiſter Rembrandt fein ſollteſt, fo wandte 
weiter. Man fahndet nach dir. In der Nacht kam ein vornehmer Mann hier vor- 
über mit einem flämiſchen Bart. Vielleicht ein Verkappter. — Der fragte nach dem 
Maler Rembrandt. — 

| 3: 

— Zum gebegten tollwütigen Hunde ward ich, der ſich umſtellt weiß und mit dem 
Schädel an die Mauern der Sackgaſſe anrennt. O Herr der ewigen Natur, wie kam 
ich in deinen furchtbaren Zorn, daß jeder Stein, auf den mein Fuß tritt, zum 
glühenden Eiſen wird? 

Schweigend hab' ich gelitten all die letzten Fabre, dieſe unendlichen Jahre, ohne 
Murren geſchaut, wie mein Werk und mein Werkzeug von gierigen Kunſthyaͤnen 
zerſtreut und zerſtört wurden. Die Tauſende von Blättern meiner Hand, die dem 
Leben abgeſchaut und dir, Schöpfer des ewigen Lichts, dienen ſollten zum Preise 
als geringe Gabe des geringſten deiner Knechte, find ihres heiligen Zweckes beraubt. 


Martens: Oer Dämon des Lichte 289 


Dies alles erduldete ich ftill und ergeben, denn du haſt es fo befohlen. Aber der 
Stachel, die Peitſche meiner Verfolger quält mich ohn’ Ende, finde ich doch nicht mehr 
die Ruhe zum Arbeiten, um deiner Verherrlichung zu leben. Meine Tage eben 
nutzlos, und mein Hirn zerglüht zu Wide. 

Warum gabſt du dem Skorpion den Stachel. ſich ſelbſt zu töten, und ine kein 
Recht, das gleiche zu tun? Ich aber ſchaudere davor zuruck, Hand an mein Leben zu 
legen, bin ich doch ein Menſch, ein wiſſender Menſch, der das Licht der Sonne und 
der Vernunft als Strahlen deiner Güte empfindet und die Farben des Regenbogens 
als glühende Zeugen deiner Allmacht. O Herr, nimm mir die Bürde des Lebens, 
ſende die Peſt in dieſe Laſterhöhle, in der ich hauſe, daß ſie mich bette au meinen Dä- 
ten! — 

4. 

— Nicht mehr zu zeichnen wage ich das verlorene Völkchen dieſer verlorenen 
Welt, um nicht die Diener des Gerichts auf meine Spuren zu locken. Hier kann mich 
ſelbſt der Teufel nicht mehr finden. Es iſt die verborgenſte Höhle der Stadt, über die 
der Fluß hinrauſcht. Es muß einſtmals ein geheimer Gang geweſen fein. Jetzt ver- 
deckt altes roſtiges Schiffsgerümpel den Eingang. Hier gebietet kein Verräter von 
einem Wirt. Die ſeltenen Stammgäſte teilen ſich in ein geſtohlenes Faß bitteren 
Fuſels. 

Ich höre deutlich Schritte. Wer kommt die ſteinerne Wendeltreppe herunter? 
Das ſeh' ich? Ein großer Mann mit einem flämiſchen Bart, den mächtigen Hut tief 
ins Geſicht gedruckt. Halte dich ruhig, Rembrandt, unmöglich kann er dich in der Dun- 
kelheit entdecken. Es wird der Mann ſein, der mich ſucht; doch welch eine Geſtalt 
begleitet ihn? — Rembrandt, die Fuſeldünſte des Kellers ſcheinen deine Gedanken 
mit einem Nebel zu umgeben, denn du haſt doch heute noch keinen einzigen Tropfen 
getrunken! — Einen ſtrahlenden Jüngling ſeh' ich, von einer unſagbaren Schönheit. 
Seine Haltung drückt göttliche Erhabenheit aus. — Schön und ähnlich dem Titus 
iſt ſein zartes reines Antlitz, nur noch viel viel ſonnenhafter! — Er iſt am Fuß der 
Treppe angelangt und wendet ſich. Ich kann es nicht faſſen: er hat große leuchtende 
Flügel. Ach, ein Engel, Rembrandt, ein wirklicher Engel! Ich bin wie geblendet. 
Mit der Rechten deutet er nach mir hin. 

Nun iſt alles wieder dunkel. Er entſchwand. 

Aber der Bärtige taſtet nach mir hin in der Dunkelheit. Jetzt nimmt er den Hut 
ab und ſchwenkt ihn mir entgegen. Ich erkenne ihn, er iſt's, Jan Lievens, mein alter 
Jan, mein lieber guter alter Freund! — 

Ach, Rem! — 

— Halt an did, Jan, Zunge! — 

— Rem, wie war es nur moglich? — 

— Die Schande, der Schuldturm! Da löſchte ich mich ſelber aus wie einen gar- 
ftigen Flecken. — 

— Lange ſuchte ich dich vergebens. Mich trieb es wieder her zu dir, in dieſe Stadt 
der Fiſchbäuche, die ich mit der Spitze meines Degens kitzeln möchte. Du biſt alt ge- 
worden, Rem! — 

— Und du jung und immer noch berühmt geblieben, Jan Lievens! — 


RSIY OF MICHIGAN LIBRARIES 


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290 Martens: Der Dämon des Lichte 


— Was ſprichſt du mir von Ruhm! Did, den Größeren, hat die Welt bereits 
wieder vergeffen! — 

— Nur meine Gläubiger nicht. Darum ſitz' ich hier in dieſer Kloake und ver- 
komme! — 

— Nie wird dir dieſe Todſünde verziehen werden! — 

— $c kann nicht anders, ich kann nicht anders! . 

— Wein’ nicht jo herzbrechend! — 

— Ich konnte mein Schickſal nicht vergeſſen. Und ich will, ich muß vergeſſen! Hier 
öffnet ſich mir der Himmel der Viſionen. Hier kennt mich niemand, hier ſtört mich 
niemand. Hier fühl’ ich mich Chriſtus, hier fühl’ ich mich Gott! — 

Armer Rem, an der Staffelei wärft du einer. Hier narrt dich der Geiſt in der feu- 
rigen Flaſche. Immer biſt du dem Weg des Lichts gefolgt. Warum haſt du den Glanz 
in dir erftidt? Kehr“ wieder heim! Ach, Rem, ich habe immer an dich geglaubt, wie 
ich an Gott glaube. Laß mich dir zu Füßen um eine einzige Gunſt betteln, um eine 
einzige: trinke nicht mehr, Rembrandt, ſei wieder Menſch, fei wieder unſer. Kehr 
heim! — 

— Qu guter Jan, du mein einziger Freund, ich will dir folgen. Alle andern haben 
mich verlaſſen. Hilf mir! — 

— Die Welt ſoll dich wieder haben, ihren vergeſſenen Sohn! — 


1660 
1. 

Nun hält er dich feſt, nun läßt er dich nicht mehr los, der prächtige Menſch. Er 
bringt dich zu Hendrickje und Titus und beſpricht mit ihnen die Lage der Dinge. Sie 
kommen zu einer Verſtändigung. Ihre Geſichter glänzen. 

Hendrickje nimmt die Ausführung des Plans energiſch in die Hand. Jan Lievens 
hilft ihr. Ein beſcheidener Kunſtladen wird mit dem geretteten Vermögen des Titus 
aus dem Nachlaß feiner Mutter errichtet. Der Vormund des jungen Mannes, der 
Notar Louis Crayers, gibt ſeine Einwilligung. Du, Rembrandt, wirſt Angeſtellter 
der Gemeinſchaft, die ſich verpflichtet, dich Zeit deines Lebens zu beköſtigen. Ihr 
gehört von jetzt an dein Malwerk und, geſchützt vor der Meute der Gläubiger, ge- 
winnſt du die alte Ruhe und Sicherheit zurück. 

Sie können dich nicht mehr bedrüden! Du haft die Ellbogen frei bekommen, um 
mit den Gefährlichſten von ihnen zu verhandeln. Und es geht. 


2. 

O der demiitigenden erniedrigenden Zeit des langſamen Verfalls, die vor den 
Selbſtbildniſſen dieſer Jahre uns bitter werden läßt. Sie reden von der Zerſtörung 
durch Trunkſucht; die Züge ſind vergröbert, die Trinkernaſe ſchlägt alle Zweifel zu 
Boden. Und doch wieder welche Größe des Künftler- und Menſchentums: da gibt es 
tein Verbergen, kein Verſchönern. Wir müſſen vor dieſen Zeugen einer unfaßbaren 
Größe ergriffen die Seele beugen. 

Als der Meiſter aus dem Dunkel der Vergeſſenheit in das grelle Licht des Amfter- 
damer Lebens wieder auftauchte und er Jan Lievens auf langen Spaziergängen 


Martens: Der Dämon des Lichts 291 


durch die Stadt begleitete, erkannte ihn kaum noch einer. So hatte er ſich verändert. 
Aber ſein Genius ſuchte die Wolken. 

Er war auch ſeeliſch ein anderer geworden; jeder Schiffbruüchige wird ein anderer. 
Und ſeine Kunſt hatte ihr Angeſicht völlig gewandelt. 

Der Meiſter der zauberhaften Myſtik war nicht mehr, der auf beſchränkter Fläche 
das phantaſtiſche Reich der menſchlichen Seele nach den Vorgängen der Bibel malte, 
leuchtend im Schmelz der Farben, herzinnig in der Tiefe der Empfindung, zauber- 
voll-rätfelhaft in dem Helldunkel der Viſion. Der Höhepunkt der nordiſchen Malerei 
war überſchritten: ihrer Myſtik war die Seele ihres größten Darſtellers verloren 
gegangen, eine Seele, die in den windſtillen Tagen ihres Lebens ſich ihr hingegeben 
hatte wie eine liebende Frau. 

Rembrandt war kein Myſtiker mehr. Der Zauber ſeines Lebens war gebrochen, 
das innere Licht war ihm verjchüttet. 

Seine Seele wuchs ſich aus ins Gigantiſche. Kein Haarpinſel, keine Schneidenadel 
konnte dem Fluge ſeiner Einbildung mehr folgen. 

Nicht mehr feſt auf der Erde ſtanden ſeine Geſtalten, nicht mehr mit feſten ſicheren 
Strichen hingeſtellt. Ein Flimmern und Flirren war in ſeine Kunſt gekommen: die 
Erde kreiſte, nichts hatte mehr Beſtand; Liebe, Freundſchaft, Reichtum, Ruhm, alles 
kreiſte. Und ein Strömen von oben nach unten, wie unter dem Oruck der Atmoſphäre, 
ſchien von jetzt ab durch ſeine Bilder zu gehen. 

Die Gebilde ſeiner Phantaſie hatten die Verbindung mit dem Volk der lebendigen 
Straße verloren. Stille, in ſich verſunkene Weſen, krankhaft-leidenſchaftliche Seelen 
bedeckten die Leinwand, eine ganze Welt von Trauer und Verſunkenheit. Und er 
malte ſie, zitternd vor Leidenſchaft, mit dem großen gewaltſamen Strich ſeines 
Borſtenpinſels. Dick war der Farbenauftrag und gewaltig die Malfläche. 

Und wie fein Leben hart und eintönig in ſteter Arbeit dahinging, jo hart und ein- 
tönig wurden in dem erſten Jahr feiner Auferſtehung feine Farbentöne. Raftlos ar- 
beitete er an der Malart, die ſein verdunkeltes Weſen zum Ausdruck brächte, ſeine 
verdunkelte Welt der verhüllten Leidenſchaften. 

So glich ſeine Seele dem gefeſſelten Prometheus. Sie hatte den Menſchen Licht 
und Wärme gebracht und verfiel der Rache der dunkeln Gewalten. An ihr fraßen die 
Seier der Erinnerungen. Ihr geblendeter Dämon rang in der Finſternis. 


1661 
1. 

Aert von der Neer, wie eng iſt dein Reich geworden! Einſt Maler und Poet, 
jetzo Wirt im Grafen von Holland! Er hat mich rufen laſſen, und mich Menfden- 
ſcheuen verbirgt die dunkelſte Ecke. 

Nein, Jan, ich trinke nicht. Biſt du auch Maler? — Ein zarter Junge! Zart wie 
Titus, aber keiner hat ſeine Geſtalt und ſein verdunkeltes Weſen eines verarmten 
Königsſohns. 

Ich weiß nicht, was Aert von mir will. Ob meine Lieben ſich um mich ängſtigen, 
weil ich ihnen davongeſchlichen bin? Schiefmäulige rotznaſige Kinder haben mich 
mit Steinen beworfen, mit dem Unflat ihrer Mäuler, mich, der niemals einem Kind 


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292 Martens: Der Dämon des Lichts 


ein Leid angetan. So ift der Lauf der Welt! Wie arm und notdiirftig wir nod immer 
find! Doc ich darf nicht klagen. Wenn Jan Lievens nicht wäre, ja, dann ... Ich 
wage nicht daran zu denken. Einen prächtigen Auftrag hatte er mir verſchafft: das 
Mahl des Claudius Zivilis. Über dreißig Ellen im Geviert. Wie oft tauchte ich da 
meinen Borſtenpinſel in die Farbentöpfe und ſtrich das Ganze in dreimal dreißig 
Tagen herunter wie ein Anſtreicher. 

Die Staalmeeſters waren geſtern bei mir. Ich ſoll ſie in meiner alten Manier, klar 
und ſonnenbeſchienen, malen. Zwölfhundert Gulden haben ſie mir geboten; aber 
dieſe feine Arbeit kann ich nicht mehr allein bewältigen. Hätt' ich nur einen einzigen 
Schüler! 

An dem großen Fenſtertiſch geht es luſtig her! Es ſcheinen große Herren zu ſein; 
ihre Federhüte fegen bei jeder neuen Begrüßung den Boden. Welche dröhnenden 
Ovationen ſie den Neueintretenden bereiten! Aber ihre Degen ſcheinen noch kein 
Blut gerochen zu haben. Dieſe Herren werden Hollands Ruhm nicht über den Ozean 
tragen. Ihr Geſchnatter wird keine Kanone übertönen, ihr Maulgeplänkel keine Gee- 
ſchlacht ſchlagen. 

Wer mag der Prahlhans in ihrer Mitte ſein? Dieſe Stimme kennſt du doch! 
Natürlich: Bol, Ferdinandus Bol. Wie vornehm er geworden iſt, einer meiner ärm- 
ſten Schüler! Was ſchreit er? Rembrandt ſei eine überlebte Größe? Auch van der 
Helft pflichtet ihm bei, er, der Abgott von ganz Amſterdam, der geborene Schützen- 
königmaler! Nun ja, die glatte italieniſche Manier des großen Rubens, ſein helles 
Licht begeiſtert ſie alle, dieſe Modemaler, und die Welt gibt ihnen recht. Ich wollte 
eine bodengewachſene holländiſche Malkunſt ſchaffen. Mein Helldunkel ſei aber eine 
deutſche Gemitstrantheit aus vergangenen Jahrhunderten, ſagten die großen Mode 
papageien, und jetzt pfeift es jeder Straßenlümniel nach. 

Da kommt van der Neer! — Laß das Verbeugen, Aert! Einſt galt ich etwas, jetzt 
ſteht ein alter gebrochener Mann vor dir. Bleib hier. Laß dich nicht von den großen 
Herren Malermeiſtern dort am Tiſch kujonieren! Sogar unter Preis ſollſt du ihnen 
den Burgunder verſchänken? Laß fie alle zum Teufel gehn. Undankbares Volk! — 
Du, laß das! Küß mir nicht den alten ſchäbigen Rockſaum! Aert, du biſt ja viel 
größer als all dieſe Herren dort! 

Wen bringſt du da? Arent de Gelder aus Dordrecht, ſechzehn Jahr alt, emp- 
fohlen von ſeinem Meiſter Salomon van Hoogſtraaten, fleißig und geſchickt in der 
Zubereitung und der Miſchung der Farben, das ſteht hier alles auf dem Papier. 
Wie, ſagſt du, er will mein Schüler werden? Unmöglich, Aert, es geht nicht, beim 
beiten Willen nicht. Bei mir iſt auch kein Platz für einen Schüler, und ich bin zu arm, 
um ihn zu ſpeiſen. Er ſoll ſich doch ein Beiſpiel an denen dort nehmen! Keiner von 
ihnen iſt an meiner Kunſt glücklich geworden, weil ſie alle lahme Seelen haben. Er 
ſoll zu den Italienern gehen, dort hinüber an den Tiſch. Er will nicht? Er will feinem 
Meifter Hoogſtraten keine Ehre machen? Was ſagſt du, Arent? Ou willſt zu keinem 
andern als zu mir? Du wäreſt der Sohn wohlhabender Eltern, du könnteſt dich 
ſelbſt beköſtigen? Welch ein unternehmender Burſche! Ich ſegne dich, mein Sohn! 
Komm zum alten Rembrandt! 

Aert, laß gut ſein, ich finde ſelbſt hinaus. Halt dich wacker, du feiner Poet! Aber 


Martens: Oer Dämon des Lichte 295 


wo ſind ſie geblieben, die großen Herren? Hat ſie meine Stimme verſcheucht? Und 
du haſt das Nachſehen davon, Aert! — 

Sollte es wirklich wahr ſein? Noch bin ich nicht tot für die junge Generation? 
Noch verläßt einer Heim und Vaterſtadt, um mir zu dienen? Rembrandt, jetzt kannſt 
du die Staalmeeſters malen! 

2. 

— Arent, du hilfſt mir getreulich. Die Staalmeeſters find der Vollendung nahe. 
Morgen kann das ſauber gemalte Bild gefirnißt werden; das Bleiweiß ſcheint bis 
auf den Malgrund eingetrocknet zu ſein. Endlich wieder ein alter Rembrandt, werden 
die Leute ſagen; doch ich kann nicht beteuern, meine ganze Seele hinge an dieſem 
Werk. Immer bleibt es nur ein beſtelltes Bild, kein großer Wurf. 

Mit dem auferſtandenen Heiland ift es ein anderes. Niemals werde ich es voll- 
enden können, dieſes große ſchöne erhabene edelgeſchnittene Angeſicht eines Juden, 
das mir lieb geworden iſt. Immer wieder muß ich mich in dieſe Züge vertiefen, in 
dieſe rätſelhaften Augen, fo daß mir oft ſchwindelt und ich Luft verfpüre, dies alte 
elende Leben von mir abzuſchuͤtteln, das mich immer fo breitbeinig, fo unumgänglich 
umfteht. Wie würde ich mich gluͤcklich fühlen, wenn ich nur ein einziges Mal fold ein 
Werk vollenden könnte nach meinem Sinn; aber es kommt ein anderes dazwiſchen, 
das mich quält und berauſcht, mich erniedrigt und erhöht. Eine ewig lange Reihe von 
Schattenweſen ſteht im Untergrund meiner Seele, die alle lebendig werden möchten. 

Und dann kommt mir immer bei jedem neuen Wurf die bange Frage an das 
Schickſal: Werde ich je wieder fold einen Flammenbogen der Phantaſie in mir auf- 
glühen fũhlen, je wieder ſolch geheimnisvoll dunkles Urland betreten, das noch 
keiner erfchaute? 

Dod immer weiter muß ich wandern, immer weiter durch nie geforſteten Forſt, 
auf nie gepflügter Erde, ich Wanderer zum Licht. — 


1663 

— Die aufrühreriihe Sturmluft hindert mich heute am Schaffen. An dieſen war- 
men Sturmtagen erſcheint mir das Leben faſt noch rdtfelbafter als ſonſt. Ja, uner- 
gründlich rätjelhaft iſt mir der Sinn des Lebens geblieben. Ich habe nie etwas von 
feinem Walten begriffen. Was allen andern klar erſcheint, iſt mir ganz unverſtändlich. 
Sie gehen ſo ſicher durchs Leben, dieſe Menſchen. Fühlen ſie denn nicht die blinden 
Sewalten der Natur über ihrem Haupt, fpüren fie ſich nicht eins mit dem Gang der 
Sterne, die ich oft von Sonnenuntergang bis -aufgang ſehnſuͤchtig betrachten muß? 
Wiſſen ſie nicht, daß all ihr Wiſſen, all das, was ſie mit dem Geiſt und den Sinnen 
wahrnehmen, nur die Oberfläche der Dinge iſt, daß ihr ganzes Leben nur ein Schein 
leben ift, kein wirkliches? Dieſes beginnt erſt mit der Erkenntnis, daß unſer Unter- 
bewußtſein, unſer Inſtinkt das feinſte Organ iſt, mit dem die Natur uns ins Dunkel 
dieſes geheimnisvollen Lebens hineinſtellt. Inſtinktloſe Menſchen ſind mir immer 
unerträglich geweſen. Sollte dies der Grund ſein, weshalb ich die Kultur der Athener 
nicht als den tiefſten Ausdruck der Seele empfinden kann? Sie reizt an mir den 
Künftler der Sinne und der geiſtvollen Betrachtungen; aber meinen tiefſten Men- 
iden, deſſen Wurzeln bis in den Mittelpunkt der Erde hinabreichen, und deſſen Fabl- 


294 Martens: Der Dämon des Lich 


hörner die Sterne berühren, läßt dieſe Kultur nicht warm werden. Sie befähigt den 
Menſchen, ein Leben frohen und harmoniſchen Wirkens zu führen. Das mag ihr 
Verdienſt fein. Aber ich will im Menſchen neben feinen Kulturzügen auch fein zweites 
Geſicht ſehen, ſeine geheimnisvolle wirkliche Natur, ſeinen Gott und ſeinen Dämon. 
all das Unausſprechliche, das ſich nur erfühlen läßt. 

Blindlings in den Tag hineinzuleben, mich dem Walten der Natur in köftlicher 
Ruhe hinzugeben, was mein Auge, mein äußeres und mein inneres, um mich he 
erſchaute, ins Maleriſche umzubilden und naturwahr zu geſtalten, das alles iſt det 
Inbegriff meines Weſens. 

Nichts hat mich fo beſchäftigt, über nichts habe ich fo nachgeſonnen und gegrübelt, 
wie über die Darftellung unſeres wirklichen Menſchen, den die klaſſiſche Kultur tot- 
ſchwieg. Was weiß fie vom ewigen Licht, das nur dem inneren Auge erſchloſſen wird! 
Vielleicht war ich auserwählt, die Darſtellung unſerer über- und unterirdiſchen 
Kräfte in der Welt der äußeren Erſcheinungen zu verwirklichen. 

Was frommt es auch, darüber nachzuſinnen! Ich war nicht geſchaffen, in Handel 
und Wandel mich glücklich zu betätigen; ich mußte meine Seele und meinen Reich 
tum der ewigen Sehnſucht opfern, den Menſchen und die Natur in ihrer geheimnis 
vollen verſchleierten Wirklichkeit darſtellen zu können. Nur ſo konnte ich Gott und 
der Menſchheit dienen! 

Wie fern glühſt du in meine Einſamkeit hinein, du Berg der ewigen Sehnſucht! 
Der Weg iſt noch weit, und je weiter ich wandre, um ſo ferner ſcheinſt du mir zu 
entrüden, o du Berg der ewigen unerfüllbaren Sehnſucht! — 


1664 
he 

— Hendrickje, du haft deinen ſchönen Tag. — 

Ach, du lieber Schäker, und du deinen glücklichen. — 

— Za, mein Prachtmädchen, am Eingang des neuen Jahres find alle guten Geifter 
in mir wach. Komm, Kätzchen, auf meinen Schoß. — 

— Du alter grauer Rater, was ſchnurrſt du des Nachts auf dem Söller umher? — 

— Der Kater ſucht das Licht der Sterne. Ich muß den Odem des funkelnden Welt- 
alls einatmen, um an meinen Werken arbeiten zu können. Und dann die Einſamkeit 

— Rembrandt, mir wird oft angſt vor deiner Flucht in die Stille der Nacht. — 

— Wieder eiferſüchtig? — 

— Doch nicht! Einſt war ich es; deine Kunſt machte mich neidiſch. Jetzt bin ich 
tiefglücklich in dem Glauben an deine Größe. — 

— Hendrickje, glaubſt du wirklich an meine Kraft? — 

— Rembrandt, es iſt keiner gleich dir. Du bift immer ein König unter den Großen 
geweſen. Eines Tages wird ganz Holland, vielleicht die ganze Erde zu deinem Grabe 
pilgern! — 

— gch bewundere dich, Weib meines Herzens. Warſt du immer glidlid, immet 
gewiß, dich keinem Minderwertigen geſchenkt zu haben? — 

— War doch ein einfaches Mädchen! Da erhobſt du mich zu deiner Geliebten. 
Es gibt keinen ehrenvolleren Tag in meinem Leben! — 


Martens: Der Dämon des Lichts 295 


— Lieb, auch damals, als ich mich vergaß und trank, pochte da nicht die Reue hã⸗ 
miſch an dein Herz? — 

— Selbſt damals nicht, da ich zu den blutigen Fleiſchbänken der Hafenſtadt hin- 
ſchlich, in der Frühe des Morgens, um im einfachen Kopftuch mir den Abfall zu er- 
betteln, und betrunkene Matroſen mich beläftigten. Seit ich dich kenne, konnt' ich 
jede Stunde meines Frauenlebens in Ehren halten, da ich nur deinem Willen 
gelebt. — 

— O du Gute und Treubeſorgte, niemals zweifelteſt du an meiner Liebe? — 

— Seit ich die Bildniſſe erlebte, die du von mir in tiefer Erfaſſung meines um 
dich leidenden Weſens ſchufeſt, verſtummte = Zweifel. Ich wurde gewahr, wie 
tief ein Künſtler verehren kann. — 

— Und wenn ich dir jetzt ſage, daß ich nur eine Frau verehrt habe, nur eine ein- 
zige, und daß dieſe Frau nicht Hendrickje hieß, was ſagſt du dann? — 

— Du alter grauer Kater, Hendrickje hat feine Ohren. Sie hört dein ſtilles ge- 
beimes Lachen in den Worten. Du mich nicht lieben? Die Welt zerbräche cher in 
Trümmer als deine Liebe. Ich muß dich küſſen, alter Schäker; zu neuen Taten will 
ich dich entflammen. — 

— Du bleibſt doch mein unverbeſſerliches Prachtmäͤdel. O Herr über den Sternen, 
bewahre ſie mir und ihren Glauben. — 

2. N 

— Vater, komm hinaus in den hellen Tag! Er iſt ſanft wie Kornelias Schweiter- 
küſſe.— 

— Titus, Junge, du ſiehſt, ich bin beſchäftigt. — 

— Das ſagſt du jeden Morgen. Und arbeiteſt doch nicht. — 

— Laß mich zufrieden! — 

— Immer vor den Bildniffen der ſeligen Hendrickje zu ſitzen und ſich mit ihnen zu 
unterhalten, Vater, dazu iſt deine Zeit zu koſtbar. 

— Vitus, laß mir meinen Willen, wenn es mich glücklich macht. Mein Glück 
ſchrumpft immer mehr! — 

— Leb wohl, Vater; einige Gänge eilen. War nicht Jan Lievens hier? — Da 
kommt einer die Treppe herauf. Er wird es ſein; Kornelia wird ihm geöffnet haben. 
Leb wohl! — 


— Rem, guten frohen Morgen! Was macht mein alter Freund? — 

— Du ſiehſt, Jan, ich lebe der Vergangenheit! — 

— Rem, das liegt mir nicht. — 

— Jan, ſie war doch ein Prachtmädchen, meine Hendrickje, und ſauber treu und 
herzensgut, ein richtiges Prachtmädchen. — 

— Hort geht Titus über die Straße! Du, das iſt doch der zaubervollſte junge Mann, 
den ich je geſehen habe. Zart und geſchmeidig. Ein junger Held im Königsmantel. 
Und wie ſchön muß ſeine Mutter geweſen ſein! — 

— Saskia? Meinſt du Saskia? — 

— Ja, Saskia! — 

— Komm, Jan, wir wollen ins Freie! — (Fortſetzung folgt) 


AN UNS 


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296 
Malwida v. Meyſenbug an Heinrich v. Stein 


Un veroffentlichte Briefe, mitgeteilt von Dr. Gotz von Selle 


Nachfolgende Briefe Malwidas an Heinrich von Stein galten bislang als verſchollen. (Vgl. 
Briefe von und an M. v. M., herausgegeben von Berta Schleicher, S. 188.) Der Zufall ließ ſie 
im Nachlaß Heinrich von Steins (im Beſitz der Freifrau von Stein, Schwägerin Heinrichs) wieder 
auftauchen; neunzehn von ihnen ſollen hier, mit einigen Streichungen, der Öffentlichkeit über- 
geben werden, da fie uns von manchem zntereſſantes zu berichten wiſſen. So erfahren wir, wie 
Malwida Heinrich von Stein in den Bannkreis Wagners brachte, wir ſehen die Wirkung dieſer 
überragenden Perſönlichkeit auf Heinrich von Stein ſich in den Antwortbriefen Malwidas an 
Stein widerſpiegeln, dies um fo bedeutungs voller, da uns direkte Zeugniſſe über Wagners Ver⸗ 
hältnis zu Stein fo gut wie ganz fehlen. Wir erleben die Trauer der nächſten Freunde bei Wagners 
Tod in dieſen geiſtvollen und doch ſo menſchlich warmen Briefen, die uns in eine uns Heutigen 
noch nicht als Ganzheit begreifliche Periode deutſchen Geiſteslebens einen Blick werfen laffen. 
Neben Wagner und feinem Werk intereſſiert Malwida naturgemäß in erſter Linie Stein felbft 
und feine Arbeit. Manch kluges Wort findet fie zu der Tätigkeit Steins, für die Beurteilung diefer 
liebenswürdigen Perſönlichkeit uns heute von Wert. Daneben hören wir von Nietzſche, von den 
unglaublichen Spannungen, in denen ſich ſein Geiſtesleben bewegte, von ſeiner Begegnung mit 
Heinrich von Stein. Ferner treffen wir B. Foerſter, den ſpäteren Gatten Clifabeth Nietzſches, 
mit feinen Rolonifationsideen. Paul Ries, des Freundes der Lou Galomé, ſtart erſchütterte Ge- 
ſundheit erweckt mehr als einmal das Mitleid unſerer Briefſchreiberin. Auch Lenbach beginnt 
bereits in den Geſichts kreis Malwidas zu treten. 

Rein äußerlich fei zu dieſen Briefen bemerkt, daß fie im großen und ganzen vollſtändig wie 
dergegeben find, an einzelnen Stellen waren Streichungen unvermeidlich. Wo es zur Orientie- 
rung wünfchenswert erfchien, find in Anmerkung einige Notizen gegeben. Einige Schwierigkeiten 
bot die Datierung, da die Briefe zum größten Teil ohne Jahresangabe ſind. Von ſpäterer Hand, 
anſcheinend vom Bruder Heinrich von Steins, ſind in den Originalen Jahreszahlen vermerkt, 
die aber z. T. irrig geſetzt find. Abkürzungen im Text find (in eckigen Klammern) zum Wort ver- 
vollſtändigt. 

Herr cand. phil. Wahnes macht mich dankenswert auf die von Berta Schleicher im Bapreuther 
Feſtſpielführer 1924 veröffentlichten Briefe Heinrich von Steins an Malwida aufmerkſam. Die 
Publikation iſt mir leider nicht zugänglich, und beſchränke ich mich auf die Mitteilung des Herrn 
W., nach der die Briefe vom 30. 9. 81 zum Brief X, vom 24. 5. 83 zu den Briefen XIV und XV, 
vom 11. 1. 85 und 19. 3. 85 zum Brief XVII in Beziehung ſtehen. 


* * 
* 


Bayreuth, 11. September [1878] 
Lieber Herr von Stein 

urch Roe erfahre ich endlich Ihre Adreſſe und will nicht einen Augenblick zögern, 

Ihnen einen Gruß aus nächſter Nähe zu ſenden. Ich verließ Rom ſo eilig, um 
nach Paris zu Olga, welche krank war, zu gehen, daß ich nicht mehr Zeit fand, Sie 
zu benachrichtigen, um ſo mehr, da ich eigentlich glauben mußte, Sie hätten Italien 
bereits verlaſſen, ohne Rom noch einmal zu berühren. Nun weiß ich, daß Sie auch 
wieder im grauen, nebeligen Vaterland weilen, und ich vermute, daß Ihre Gedanken 
noch öfter in die lichterfüllten Gegenden zurückwandern, in denen auch Ihnen wohl 
erſt die Wirklichkeitsphiloſophie [Dührings] ihren wahren Inhalt erſchloſſen hat. 


Selle: Malwiba von Mepfendug an Heinrich von Stein 297 


Gern und dankbar gedenke ich der Stunden, wo Sie fic fo freundlich meiner Ein- 
ſamkeit anſchloſſen und mein altes Gehirn mit Ihrem jungen Wiſſen erfriſchten. 
Stein hielt Vortrage über dle Wir klichteltopdiloſophle vor Malwida und Olga Monod.] 

Auf meiner Ridreije von Paris hierher verlebte ich am Rhein ein paar ſchöne 
Tage mit Ree, der zu dem Zweck von der Oſtſee hergekommen war. Trotzdem zwi- 
ſchen unſeren Anſichten ſtets eine bedeutende Differenz beſteht, ſo habe ich mich doch 
innig gefreut, den lieben Freund wiederzuſehen, der mir als Charakter ſo ſympathiſch 
iſt und deſſen Intellekt, gerade durch die Kontroverſe, mich immer zu Gedanken an- 
regt. Was haben Sie zu Nietzſches letztem Buch gejagt? Imenſchuches, Allzumenſchliches. 
Alle ſeine nächſten Freunde ſind empört darüber, und mir mißfällt es auch durch 
den leichtfertigen Ton, mit dem es ſich auf einem Gebiet bewegt, auf welchem N. 
nie einheimiſch war und wo er daher inkompetent und oberflächlich iſt. 

Dak wir fo ziemlich das Gleiche empfinden bei den Vorgängen in Deut. Iſchland], bin 
ich überzeugt. IMordanſchlage auf Ratfer Wilhelm 1.) Ich dachte nicht, daß ich noch einmal fo 
etwas erleben müßte, und das Schmerzlichſte dabei iſt, daß die Pflanze, die wir 
lieben, nun in das Exzeſſive aufſchießen wird, anſtatt ruhig, naturgemäß zu wachſen 
und zu gedeihen. Aber der alte Streit iſt noch nicht ausgekämpft in der Geſchichte, 
und wer weiß, ob er es je wird! 

Meine Arbeit I, etimmungebilder“, darin tt das Kapitel „Wirtlichteltsphlloſophle des Todes“ enthalten, 
bas ben oben erwähnten Dortroͤgen Steins feine Entſtehung verdankt] iſt fertig, bedarf nur noch des 
Durchſehens und dann des Verlegers. Wegen letzterem bin ich noch nicht entſchieden. 

Was machen Sie, was find Ihre Pläne, welches Ihre Beſchäftigungen? Ich 
hätte vielleicht eine, Wünſchen von Ihnen entſprechende, für Sie in Ausſicht. 

Auf Nachricht von Ihnen hoffend, grüßt Sie herzlich 

Ihre M. v. Meyſenbug 


* 
*. 


II. . 
Bayreuth, 17. September [1878] 
Lieber Herr von Stein 

Seſtern erhielt ich Ihren Brief und heute ſchreibe ich ſchon wieder, nur um 
Ihnen Näheres über den angedeuteten Plan zu einer Beſchäftigung, die Ihnen zu- 
ſagen dürfte, zu ſagen, da es ſich darum handelt, Ihre Anſicht hierüber zu kennen. 
Ich ſprach nämlich hier von Ihnen und erwähnte Ihres einmal ausgeſprochenen 
Wunſches, die Erziehung eines hochbegabten Kindes unter beſonderen, Ihnen zu- 
ſagenden Verhältniſſen, machen zu können. Wagner war ſehr ergriffen von dieſer 
Mitteilung und ſagte, das treffe mit ſeinem höchſten Wunſch für ſeinen herrlichen 
Heinen Siegfried zuſammen. Er will ihn weder in eine Schule ſchicken, noch für den 
Staatsdienſt uſw. erziehen, ſondern einen freien Menſchen aus ihm machen, und er 
verſicherte mir wiederholt, daß ihm kein Opfer zu groß fein würde, wenn er den 
geeigneten Freund und Führer für den Knaben fände. Alles, was ich von Ibnen 
ſagte, war W.’s ſympathiſch und fie beauftragten mich, bei Ihnen anzufragen, ob 
Ihnen eine derartige Aufgabe lockend fein könnte. Ich kann Ihnen nur folgendes 


ſagen: das Kind iſt herrlich angelegt, eine liebenswürdige Natur, eine klare heitere 
Der Tünner XXVIII, 4 20 


298 Selle: Malwiba von Mepfenbug an Heinrich von Sten 


Intelligenz. Er iſt 9 Jahr, alfo gerade im Alter, wo die Erziehung von Wichtigkeit 
wird. Mit ihm würden Sie es leicht haben. Daß Sie als Freund im Hauſe ſein 
würden, verſteht ſich von ſelbſt. Was Ihnen der Umgang mit W. und feiner berr- 
lichen Frau ſein würde, brauche ich Ihnen kaum zu ſagen. Das Leben hier iſt ein 
Zaubereiland, wie es in unſerer armſeligen Zeit kein zweites gibt, ja wie es wohl 
kaum je ein ähnliches gegeben hat. Ihre Tendenzen würden hier faſt in allem An- 
klang finden. [Diefe deiden Sätze hat Stein in fein Tage tuch einge tragen, aus dem Fr. Lienbarb fie in 
einem Aufſatz über H. v. Stein in den „Wegen nach Weimar“ (I, 236) mitgeteilt hat. Bgl. auch B. Schlelcher, 
Briefe von und an M. v. N., S. 186]. Ich brauche Ihnen nur zu jagen, daß Dühring eben 
aufgefordert worden iſt, für die Bayreuther Blätter zu ſchreiben und es zugeſagt hat. 
Wann geht Ihr Dienſtjahr zu Ende? Die Form Ihrer Familie gegenüber würde 
ſich wohl finden laſſen. Ich gehe heute auf nichts anderes in Fhrem Briefe ein, da 
ich keine Zeit habe und dies Wichtigſte erſt erledigen wollte. Alſo bitte ſehr baldige 
Antwort. Herzlichſten Gruß von Ihrer 
| M. Meyſenbug 


III. 

| Bayreuth, 26. September [1878] 
Ein Beſuch, welcher mehrere Tage hier war und alle meine Zeit in Anſpruch 
nahm, hat mich verhindert, Ihnen, lieber Freund, früher eine Antwort zu geben. 
Nein, gewiß verlaſſe ich Sie nicht, da mir ſelbſt zuviel daran liegt, Sie zu jo ſchö⸗ 
nem Werke gelangen zu ſehen und, durch Sie, für das liebe Kind zu ſorgen, deſſen 
Zukunft auch mir am Herzen liegt. Wagners nehmen alſo den Aufſchub an und 
rechnen auf Sie nach Verlauf desſelben. Es ſind bereits proviſoriſche Einrichtungen 
getroffen. Machen Sie alſo Ihre diſziplinariſche Schule durch und lernen Sie 
darin auch nicht bloß für Sie ſelbſt, ſondern auch für dieſes Ziel, welches am Ende 
derſelben Ihrer harrt. Halten Sie, wie Ihren Geiſt, fo auch Ihr Herz frei von 
jeder Zerſplitterung bis dahin. Ich möchte Sie frei, mit offenen Augen und offenen 
Sinnen in dieſe einzig ſchöne Welt hier treten ſehen, wo der Genius, wo die höchſte 
Frauenſchöne, wo jugendliche Anmut und kindliche Heiterkeit ein Ganzes bilden, 
wie es auf der Welt kein zweites gibt. Wenn nicht ein Dämon fein Spiel dagwifden- 
treibt, jo kann vielleicht Ihre ganze Zukunft in edelſter Weiſe aus dieſem Anfang 

ſich entwickeln. Ich würde glücklich ſein, die Vermittlerin dazu geweſen zu ſein. 
Wenn Sie im Verlauf des Jahres einmal herkommen können, um die perfön- 
liche VBekanntſchaft zu ermöglichen, fo wird es W.s lieb fein. Sie brauchen dann 
nur ein paar Worte an M. oder feine Frau zu ſchreiben, um Ihren Veſuch anzu- 
kundigen. Mit herzlichem Gruß Ihre 

| M. Meyſenbug 
[Stein genügte feiner Militärpflicht in Torgau beim 3.-R. 72, im Batalllon feines Bruders Auguft. Ste in 
ſchrelbt in feinem Tagebuch, 27. Sept. 1886: „Ich wäre ein guter Offizier gewo. den. trotz der Abſurd itãten ber 


militäriſchen Zwecke, fo ſta. k iſt dieſe Form.“ Sein Bruder mag über die milltät iſche Befähigung anders gedacht 
haben, denn er neckte ihn gern. 


Selle: Malwida von Mepfenbug an Heinrich von Stein 299 


IV. 3 via della Pol veriera 
Rom, 6. Februar [1879] 
Lieber Herr von Stein 

Ich dachte immer, Sie würden mir einmal ein Lebenszeichen ſenden, aber ver- 
gebens. Nur einmal kam es, in Form eines Freundes, des Ocltors Poske Iveritarb 1925 
ais Seh. Reg. Nat in Berlin, bekannt als Herausgeber der Steinſchen Schriften), welcher aber leider nur 
mit einem Beſuche erſchien und auch nichts Näheres wußte. 

Nun will ich direkt anfragen, wie es Ihnen geht und noch einiges andere. Zu- 
nddjt möchte ich wiſſen, ob Sie Ihren Befuch in Bayreuth noch nicht haben aus- 
führen können? Ich glaube, man wäre dort recht froh geweſen, Sie für ein paar 
Tage zu ſehen und kennen zu lernen, was Sie ja ſelbſt als gegenſeitige unerläßliche 
Bedingung einer etwa zu treffenden Vereinigung anerkannten. Sollten Sie noch 
denfelben Wunſch hegen wie vorigen Herbſt, fo würde ich Ihnen raten, fic in 
B. [ayreuth] bei Frau W. agner] anzumelden, damit die Zeit, allen Teilen genehm, 
beftimmt würde. 

Ferner möchte ich Sie fragen, ob ich Ihnen mein, nun fertiges, M. S. zur Durch- 
ſicht ſchicken dürfte? Hätten Sie Zeit, es zu leſen und mir Ihre Anſicht zu ſagen? 
Ich weiß, daß es nur unter Geſinnungsgenoſſen Anklang finden wird und daß 
jetzt in Oeut. Iſchland] kaum jemand den Mut haben wird, es zu drucken. Von weib- 
licher Seite habe ich ſchon mehrfache enthuſiaſtiſche Zuſtimmung gehabt. Ich möchte 
aber wiſſen, wie es auf einen jungen Mann wirkt und ob Sie glauben, daß es des 
Verſuches wert iſt, es Ihren Verlegern in Köln zu ſchicken? Wenn Sie das denken, 
würde ich Sie bitten, es zu tun. Wenn nicht, ſagen Sie es mir aufrichtig und ich 
ſage Ihnen dann, was ferner damit zu tun. Bitte, ſchreiben Sie mir umgehend, 
ob meine Bitte Sie beläſtigt oder in irgendwelcher Weiſe ſtört, oder ob ich das 
M. S. ſchicken darf. Daß ich mir die volle Wahrheit der Kritik erbitte, verſteht ſich 
von ſelbſt. 

Vor allem aber ſagen Sie mir, wie es Ihnen geht und ob die Aufgabe, die Sie 
jetzt durchmachen, Sie mutig und freudig läßt, was Sie ſchaffen, und ob Ihnen der 
Herbftplan noch ſympathiſch iſt. 

Jetzt blühen die Mandelbäume und der Lenz beginnt, aber es war ein ſchlechter 
Winter, trüb und feucht, indes es iſt immer Rom! 

Mit herzlichem Gruß und unveränderter Geſinnung Ihre 

M. Meyſenbug 


* * 
& 


V 3 via Polveriera 
Rom, 17. Februar [1879] 
Lieber Herr von Stein 
Ich denke, es wird alles in Ordnung ſein, Ihrem ebenſo klaren als verſtändigen 
Programm entſprechend, welches ich unverweilt Wagners übermittelte. loieſer wichtige 
Sele Steins hat ſich bislang nicht auffinden laffen. Er wird vermutlich im Gapreuther Archiv fein.) Die An- 
frage wegen Ihres Beſuches entſtand wohl nur daher, weil Sie ſelbſt fold eine 
Abſicht andeuteten in Ihrem Briefe an mich nach Bayreuth, wenigſtens hatte 


300 Selle: Malwiba von Mepfendug an Heinrich von Stein 


ich verftanden, daß Sie den Beſuch nod dieſen Herbſt machen wollten. Es bedarf 
nun, glaube ich, keiner weiteren Verhandlung. W.s werden walten, und ich würde 
mich um ſo mehr freuen, wenn der Herbſt die Erfüllung unſeres Planes brächte, 
weil W.s die Abſicht haben, den nächſten Winter in völlig eingerichteter Häuslich- 
keit am Golf von Neapel zu verbringen, wo auch wir uns dann natürlich wieder; 
ſehen würden. 

Das M. S. wird in dieſen Tagen wohl in Ihre Hände gelangen. Inzwiſchen 
hatte Frl. Ginsberg, welche ich durch Ihren Freund Poske kennen lernte, die Freund- 
lichkeit gehabt, an Ihren andern Freund Simon Mathematiter, auch detannt durch Meine 
Novellen uſw.; endete ſpäter durch Selbſtmord. Einige Nachlaßſtücke dat W. v. Vaſiclewskl.; in Bonn über 
die Sache zu ſchreiben, und ihm würde ich Sie dann bitten, das M. S. zuzu- 
ſenden, wenn Sie es zunächſt für würdig halten, gedruckt zu werden, zweitens 
wenn Sie glauben, daß es jetzt in Deut. Jſchland] gedruckt werden kann ohne augen- 
blicklich auf den Index zu kommen und über meinem Haupte eine Donnerwolke 
zuſammenzuziehen. Nicht daß ich mich fürchte, Sie wiſſen, daß ich, gleich Gieg- 
fried, das Fürchten nicht kenne. Aber es würde mich ein öffentlicher Sturm jetzt 
vielleicht aus mancher ftillen, perſönlichen Wirkſamkeit heraustreiben, die auch 
ihren Wert hat. Dennoch, wenn es nützen kann, ein paar kräftige Worte in die Welt 
hinauszurufen, fo iſt auch vielleicht der Moment wieder günftig, um manch zweifeln 
des Gemüt zum Ausharren zu ermutigen. Jedenfalls freue ich mich der Bundes- 
genoſſenſchaft mit ſoviel trefflicher Jugend, von der mir Frl. Ginsberg auch noch 
vieles erzählt hat. Darum den jungen Wirklichkeitsphiloſophen Gruß und Heil 

M. Meyſenbug 


* * 
* 


VI. 3 via Polveriera 
Rom, 1. März [1879] 

Lieber Freund, ich danke herzlich für Ihren Brief, der mir große Freude ge- 
bracht hat, da ich mit Recht von Ihnen vorausſetzen darf, daß Sie die reine Wahr- 
heit ſagen. Daß die Schrift ein beredtes Zeugnis unſerer Geſinnungen ſei, iſt das 
einzige Lob, welches ich erſtrebe, und obgleich ich im voraus weiß, daß ſie viel 
ſchärferen Tadel erfahren wird als die Memoiren einer Idaaliſtin] jo tut mir das 
gar nichts, denn ich habe mich nie darüber getäuſcht, daß dort der Erfolg zum Teil 
den Schilderungen anziehender Perſönlichkeiten und Erlebniſſe zu danken war, 
während vor der ſcharf ausgeſprochenen Geſinnung (die man mit dem Alter viel- 
leicht ſogar ſchon geſchwächt, „weiſe gemildert“, glaubte) viele mit Grauen ſich 
wegwenden werden. Das iſt gleichgültig; wird es gedruckt, ſo weckt es vielleicht 
auch wieder manchen verwandten Klang, und daran iſt mir einzig gelegen: die 
Gemeinde zu mehren, die ſich gleicher Ziele bewußt iſt und ſich gleichem Tun ge 
lobt. Ich verſammle dazu auch heute abend wieder einen kleinen Kreis tüchtiger 
Frauen, welche die Sympathie mir zugeführt hat, nur um durch das Bewußtiein 
der Gemeinſamkeit ſich zu ſtärken und zu edler Propaganda Mittel und Wege zu 
beraten... Ihre 
M. Meyſenbug 


Selle: Malwiba von Mepſenbug an Heinrich von Stein 301 


VII. 
Paris, 3. November [1879] 

Mit herzlicher Freude begrüßte ich Ihre Zeilen, junger Freund. Ich wußte 
nichts von Ihrem Eintritt in Wahnfried, da ich lange keinen Brief gehabt hatte 
und mir daher auch Wagners Telegramm gar nicht deuten konnte. 10g. Siaſenapp, 
das Leben R. Wagners, vı, 270.) Möge es von beiden Seiten fo bleiben, wie es begonnen 
hat. An die Neckereien W.s müſſen Sie ſich gewöhnen, das iſt ſeine Art und keiner 
entgeht dem, auch ich nicht. Aber das iſt ja auch nur die heitere Arabeske zu dem 
unendlich Großen, Anregenden, Fruchtbringenden, was man täglich von ihm 
empfängt. Ja, wohl freut es mich, daß Sie, mit Ihrer gefunden, empfänglichen 
Seele, an dieſen gewaltigen Menſchen herangetreten ſind. Sie werden an ſeiner 
Größe reifen, nicht daran zerbrechen, und ein ſchönes Mittelglied zwiſchen Vater 
und Sohn bilden. Daß Ihnen daneben in Frau W. das ſchönſte Bild edelſter Weib- 
lichkeit vor Augen iſt, iſt ein Gewinn jenes Aufenthalts, für deſſen Wert es gar 
keinen Ausdruck gibt, und ich rate Ihnen, auch ſich ihr mit Kindesoffenheit zuzu- 
wenden und überall Rat und Wink von ihr zu empfangen. 

Wiſſen Sie etwas über Nietzſche? Indirekt ging mir die Nachricht zu, er ſei tot, 
doch habe ich noch keine direkte Beſtätigung. Ich kann es nur wünſchen, denn feine 
Zukunft wäre nur Qual geweſen. 

Dak aber Ihr Lehrer, Dühring, geſtorben, wird Ihnen ein großer Schmerz ge- 
wefen fein. 10. ſtarb erſt 1920.) Ein unerſchrockener Kämpfer weniger! — Roe iſt auch 
immer leidend. 

Leben Sie einftweilen, froh der gegenwärtigen Aufgabe, wohl, bis auf hoffent- 
lich heiteres Wiederſehen am ſchönen Golf. Herzlich grüßt 

M. Meyſenbug 


* * 
* 


VIII. 3 via d. Polv. 
Rom, 26. Dezember 80 
Lieber Freund 

Leider komme ich erſt heute dazu, Ihren mir ſo lieben Brief zu beantworten. 
Dielleicht indes waren Sie noch in Bayreuth, als mein Brief an Coſima, der ſich 
mit dem Ihren gekreuzt hatte, dort anlangte, und hatten Sie wenigſtens fo in- 
direkt Nachricht von mir. 

Daß mir Ihr Scheiden von dort beinah ebenſo nahe ging wie Ihnen, können Sie 
denken. dem Wunſche feines Vaters folgend hatte Stein feine Stellung im Haufe Wagners aufgehen müffen.] 
BH empfand es ganz, wie wohltätig die äſthetiſche und ſittliche Freiheit der Atmo- 
ſphäre für Ihre Entwicklung fein mußte und wie wichtig wiederum Ihr Einfluß 
auf Siegfried war. Doch verſtehe ich auch, daß Sie es tun mußten und daß in einem 
ſolchen Opfer zugleich eine ſo hohe Kraft der Entſagung ſich bewährt, daß man 
danach ſich beinah als geſtählt gegen alles Schickſal anſehen kann. Daß deſſen un- 
geachtet die Bande, die Sie mit B. [ayreuth] verknüpfen, ſich feſt erhalten werden, 
bin ich überzeugt. Wenn das Geſchick nicht wieder, wie es pflegt, dämoniſch ver- 
fährt, fo finden wir uns im Jahr 82 dort wieder alle zuſammen und feiern wieder 


302 Selle: Malwiba von Menyfendug an Heinrich von Stem 


eins von jenen Feſten, wie fie von Zeit zu Zeit den Sterblichen beſchieden fein 
müßten, um ihnen zu zeigen, daß das Leben doch etwas anderes ift, als „I'infinite 
vanita del tutto“. Mögen nur vor allem dem Meiſter dafür die Kräfte friſch bleiben, 
doch er iſt ja ein Titan, welcher die Schickſalsmächte beſiegt. Hoffen wir alſo! Be 
gierig bin ich, zu erfahren, wie ſich nunmehr Ihr Leben geſtalten und welches die 
Beſchäftigung fein wird, die Sie zunächſt erwählen. Faſt möchte ich es gut heißen, 
daß Sie in einem kleinen, gleihgültigen Ort find, fo zieht Sie nichts von der Haupt- 
richtung Ihrer Gedanken und Ihrer Intereſſen ab und Sie können denſelben beſſer 
ohne äußere Anfechtungen freu bleiben. Was ſagen Sie zu der Agitation Förſters, 
lipater Gatte von Niegfhes Echweſterl, den Sie ja doch auch kannten? Mir iſt dieſe ganze 
Judenhetze ſehr widerwärtig. So ſehr ich den Einfluß und die Macht des jüdischen 
Elements beklage, ſo ſcheint mir dies Mittel ganz unwürdig und ein klägliches 
Armutszeugnis für die chriſtliche Geſellſchaft. Nachdem fie erſt die Fuden als Sklaven 
behandelt und fie zu allen Mitteln, mit denen Sklaven ſich an ihren Unterdrückern 
rächen, gezwungen, dann fie emanzipiert haben, um ſich ihres Geldes bedienen zu 
können, erſchrecken ſie nun vor der Gefahr, ihre eigne nationale Individualität zu 
verlieren und wollen die Sache mit der Gewalt korrigieren. Wenn ſie kein anderes 
Mittel haben, den deutſchen Geiſt vor dem Semitiſchwerden zu beſchützen, dann 
ijt es gut, wenn Deutſchl. [and] zum neuen Paläſtina wird, vielleicht erſteht dann 
auch einmal wieder ein neuer Meſſias in ihm. 

Ich lebe äußerſt ſtill in den Zhnen bekannten Räumen bis jetzt noch, doch wird 
mich die Bauwut wohl zwingen, auszuwandern. Es iſt göttliches Wetter bis jetzt, 
der wahre römiſche Winter, und das bält ſchadlos für vieles. 

Herzliche Wünſche zum neuen Jahr. Möge es Ihnen des wahren Guten viel 
bringen. Schreiben Sie mir von Zeit zu Zeit. Ihre 

M. Meyſenbug 

Wenn Ihr G. Bruno fogt. „Aer die Bedeutung des bichteriſchen Elemente in der Ppilofophie bes 
Giordano Bruno jezt in „Zur Kultur der Seele“, her. von F. Poste, G. 231) nicht gedruckt wird, wollen 
Sie mir dann die Freude machen, mir die Sonette abzuſchreiben? 


* * 
* 


IX. 3 via Pol veriera 
Roma, 7. Juni 11881] 
Lieber Freund 
Ihre wertvolle Gabe, begleitet von ſo innigen Worten, habe ich mit dankbarem 
Herzen empfangen. O ihr lieben jungen Menſchen, Jünglinge und Jungfrauen, 
ihr Träger der Zukunft, bewahrt mir ein liebevolles Andenken, wenn ihr das 
heilige Feuer des Ideals hitet, fei es auch im Verborgenen bis auf die Zeit, wo 
es wieder frei aufflammen darf am lichten Tag. Meine Zeit iſt bald um, aber es 
gibt mir keine ſchönere, tröſtendere Hoffnung als die: fortzuleben in den Herzen 
der Jugend, welche weiter baut an dem Tempel, in dem der Altar ſteht, dem un 
bekannten Gott geweiht. Sie gaben mir dafür wieder ein warmes Zeugnis und 
ich danke es Ihnen warm. Mit der Gewißheit, welche Sie über ſich ſelbſt im Herzen 


Seile: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein 303 


haben, wird Ihnen vielleicht auch die gezwungene Wirkſamkeit nicht allzu ſchwer 
werden und finden Sie vielleicht durch anregende Wirkung auf ein oder das andere 
Gemüt wirkliche Befriedigung. Ich habe Ihren Bruno wieder mit großem Intereſſe 
geleſen, und wenn er manches Wertvolle hat einbüßen müſſen, ſo tritt doch, wie 
Sie ganz richtig ſagen, die Hauptſache auf das klarſte hervor. [ie gen. Schrift diente 
Stein als Habilitationsſchrift in Halle, er mußte fie mehrfach umarbeiten, ehe fle der Fakultät genehm war.] 

Ich gedenke jetzt oft der ſchönen Tage im vorigen Jahr um dieſe Zeit; fie leuchten 
mir noch herüber in die ziemlich große Einſamkeit, die mich augenblicklich umgibt, 
die überhaupt freundlich mit Geiſtern belebt iſt, als „hätt' ich alles, was ich je ge- 
noſſen“. — Sie wiffen vielleicht durch Wagners, daß ich diesmal meine Winter- 
ruhe unterbrochen habe, um zwei Monate mit Olga in Cannes zuzubringen, wohin 
dieſe, wegen ihrer und der Kinder Geſundheit geſchickt war. Es war eine ſtille, 
aber, abgeſehen von der Geſundheit, liebe Zeit. Seit Anfang Mai bin ich wieder 
hier und gedenke den Sommer einmal wieder in Italien, wenn auch natürlich nicht 
in Rom, zu verbringen, da die weiten Reifen mich zu ſehr ermüden und für dies- 
mal, nach der Frühjahrsreiſe, auch ſonſt unmöglich ſind. Zum Wiederſehn richtet 
ih das Hoffen auf nächſtes Jahr, beim Parſifal. Von Vayreuth hatte ich lange, 
lange keine Nachricht, trotz mehrmaligen Schreibens meinerſeits. Hoffentlich iſt 
es Glück, welches fie ſtumm macht, ſollte aber etwas vorgefallen fein, fo bitte ich 
um ein paar Worte der Benachrichtigung. Daß Nee, nach dem Tod des Vaters, 
eine Gehirnentzündung hatte, wiſſen Sie wohl? Ich bitte auch von dort vergebens 
Nachricht. 

Möge es Ihnen gut gehn. In herzlicher Freundſchaft denkt Ihrer 

Ihre M. Meyſenbug 


* * 
* 


X. 
Vicenza, 26. September [$1] 

Lieber Freund, erſt heute komme ich dazu, Fhnen für Ihren Brief loom 28. August 
1881; vg. Brie ſe von und an M. v. Menfenbu; ed. B. Schleicher, S. 130 f. und für den wunderſchönen 
Artikel über W. Meiſter zu danken. 1, Ader Goethes Wanderjahre jetzt in Zur Rultur der Seele“, 
6. 20 f..] Der letztere hat mich ganz entzückt und mich viel in Gedanken beſchäftigt 
und tut dies noch. Er hat mich beſonders veranlaßt, über zwei Probleme viel nach; 
zudenken; das der Möglichkeit einer neuen reineren Kulturmitte durch Auswande- 
tung in Klimate, wo die Bedingungen normaler Exiſtenz gegeben find und zwei- 
tens: warum und inwieweit die Renaiſſanceepoche nicht fruchtbringend geweſen ſei; 
beides Themen Ihrer letzten Artikel. I. ehateſpeare als Richter ber Renalſſance“, vgl. a. a. O. G. 1 fl. 
Sie erinnern ſich vielleicht, daß bei unſerem erſten Zuſammenſein in Rom wir 
uns auf den gleichen Gedanken über ein Kultur- Nomadenleben fanden. Es iſt dies 
ſeit über 30 Jahren ein Lieblingsgedankenkind von mir geweſen. Ich war auch 
ſchon mehr als einmal der Ausführung nah, damals mit einem Teil der freien 
Gemeinde in Hamburg, wo das Ganze wirklich jenem Goetheſchen Bild ſehr ähn- 
lich war; damals brachte ich der Mutter das Opfer, und es war gut, denn das 
Idealbild war drüben zur traurigſten Wirklichkeit geworden. Nachher noch einmal 


304 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein 


und zuletzt in Sorrent, wo die Ausführung einzig an Nietzſches und Rees Schwanken 
ſcheiterte. fügt. Hierzu u. a. R. Meyer, Metzſche G. 158; a. a. O. B. Schleicher, N. v. Mepfenbug, ein Lebens 
bild. Aber, lieber Freund, es find eben arge Bedenken dabei; wie oft ift’s ſchon ver- 
ſucht und nicht ohne ein neues, ſittliches Ideal, wie Baboeuf, wie Robert Owen, 
von denen beſonders der letztere ein vortrefflich entwickeltes Erziehungsſyſtem 
hatte, durch welches eine neue Menſchheit hätte herangebildet werden müſſen. Ja, 
ihm fehlte auch die künſtleriſche Seite nicht. Und dennoch ſcheiterte das alles, 
und ich glaube, wir müſſen da auf ganz andere Gründe, metaphyſiſche (Sie wiſſen, 
was ich darunter verftche) und hiſtoriſche, zurückgehen, um dieſe Unmöglichkeiten 
zu erklären. Sehen Sie Nordamerika an; alle Bedingungen der freieſten Entwick- 
lung vorhanden und ein großes Prinzip verwirllicht: daß der Fluch von der Arbeit 
genommen iſt und daß ſie ehrt, anſtatt zu erniedrigen. Nun: die zwei edelſten 
Präſidenten, die ſie gehabt haben, Lincoln und Garfield, ermordet und das Spiel 
der böſen Leidenſchaften ebenſo mächtig wie in der alten Welt. Wollten wir aber 
mit Nibel. ungen] und Parſifal jetzt hinüberziehen in eine jener paradieſiſchen Oaſen 
Südamerikas, fo wären wir es (geſetzt, man könnte das überhaupt verwirklichen), 
die es dort genießen und begreifen würden wie hier, aber keine andern. Und unſer 
Meiſter — wodurch iſt er der große Held und Überwinder geworden, der er iſt, 
als durch die Gegenſätze, die er vorfand und an denen fein Gedanke zu feiner jetzigen 
Größe reifte. Ach. es iſt eine jo lange Geſchichte, dies alles zu beſprechen, und nun 
erſt das Thema der Renaif.[jancc], da empfindet man es immer ſchmerzlich, daß 
man nicht zuſammen iſt und mündlich verhandeln kann. — 

Ich gönne Ihnen von Herzen die wonnevolle Zeit in Bayreuth und beneide 
Sie zugleich um den Vorgeſchmack künftiger Seligkeit in Anhörung der Proben 
zum Parſ. [val]. Ja, davon geht eine Wirkung aus, die nicht zu berechnen iſt, wie 
es auch kommen mag; es wird ein Licht fein, welches durch die Wolken der Reaktion 
bricht, die ſich über Deutſ. [chland] zuſammenziehn. | 

Geſtern bin ich äußerlich an das Vayr.[euther] Theater erinnert worden, indem 
ich hier in dem ſchönen Paladio-Theater der Prüfung eines Volkskindergartens 
beiwohnte, die darin gehalten wurde. Das Theater faßt 2000 Menſchen und war 
gedrängt voll, fo daß der Anblick an B. erinnerte. Es war überhaupt ſehr hũübſch, 
aber lieber hätte ich noch Salvini als Odypus hier gehört, was einmal vorgekommen 
ijt. — Ich lege Ihnen eins der Spaziergangsgedichte aus Pieve bei, nur damit 
Sie meine Stimmung dort ſehen. Tauſend Grüße allen Wahnbefriedeten und 
Ihnen M. M. 


* * 
* 


Du eilft zu Tal, du muntres Alpenſöhnlein, 
Mutwillig ſpringſt du über Stock und Stein, 
In kindlich frohem Übermute ſcherzend; 

Denn dir erneuert ſich die Jugend ewig 

Aus friſchen Quellen ſchneebedeckter Höhn. 
Mir ſchwand ſie längſt, die holdeſte der Gaben, 
Die uns Natur verleiht und wieder nimmt, 


Geile: Malwida oon Mepfenbug an Heinrich von Stein 308 


Und einſam wandle ich die ſteilen Pfade 
Des Alters, fort bis zu der letzten Höh'. 
[wei Zeilen des Manuſtripts find zerftört.] 

Da fließen ewig jung der Liebe Quellen, 

Des heil'gen Mitleids milde Harmonien, 

Und durch die Seele ziehen Geiſterſcharen 

Erhabener Gedanken, ſel' ge Chöre 

In Hymnen deutend einen neuen Tag. 

Du muntrer Bergſtrom, eile ſcherzend weiter; 

Nicht neide ich dir deiner Jugend Glück! 

** Pr * 
XI. 
Rom, 16. November [1881] 
Lieber Freund, ich wende mich an Ihre Güte, um Roe das einliegende Brief- 
chen zukommen zu laſſen. Er hat mir von Leipzig aus geſchrieben, aber ohne eine 
Adreſſe anzugeben. Es freut mich, daß Sie ſich wiedergeſehen haben und daß Rée 
wieder etwas aufzuleben ſcheint. Sie werden die Verödung von Bayreuth ſchwer 
empfinden, und ich kann mir denken, daß, wie Daniela es mir ſagte, es für die 
am Theater Beteiligten ein großer Schreck geweſen iſt, den Meiſter ziehn zu ſehn. 
Hoffen wir, daß alles gut geht und daß die Wunder des Südens wieder ihren 
heilſamen Einfluß üben. Hätte ich eine Ahnung gehabt, daß W.s wieder kämen, 
fo hätte ich mich nicht hier für den Winter eingerichtet und wäre auch nach Siz. lilien] 
gegangen, um dieſes Zaubereiland auch noch einmal und in dieſer Geſellſchaft! 
zu ſehen. So wird es nicht möglich fein, um fo weniger als das viele Hin- und Her- 
teilen im Sommer mich ſchon ſehr ermüdet hatte und ich mich nicht ſehr wohl 
fühle. Dan. febe ich leider nicht fo oft, wie id wünſchte, fie iſt zu ſehr von der über- 
nommenen Pflicht und von den durch Liſzt unvermeidlichen neuen Bekanntſchaften 
in Anſpruch genommen. Doch freue ich mich bei jedem Zuſammenſein ſehr an ihr. 
Über den letzten Artikel von W.[agner] in den B. Bl. hätte ich gern mit Ihnen münd- 
lich ſprechen mögen, der Anfang iſt herrlich, dann aber kommt Bedenkliches. [aus- 
füpeungen zu „Religion und Runft . Heldentum und Christentum. Bapreutder Blatter, Sept. 188 1. Wenn 
Zeit und Augen es erlauben, ſchreibe ich einmal länger darüber. 
gerzlichſte Grüße von Ihrer M. M. 


(Schluß folgt) 


Am dammernden Abend 
Von Baul Bülow 


m dämmernden Abend lege ich die Feder aus der Hand, die tagsüber Bogen 
auf Bogen gefüllt bat. 
Von draußen raufcht ein unfreundlicher Regenſturm an die Scheiben meiner be 
haglichen Arbeitsklauſe. 
In mir aber iſt wohlige Ruhe, die ſich allem Toſen der Außenwelt zum Trotz feſt 
behauptet. 
Dieſe Ruhe entſtrömt vollendeter Pflicht. 
Pflicht iſt Lebensrhythmus. 
Ohne ſolchen Rhythmus zerflattert unſere beſte Kraft in Nichtigkeit und Schlaff⸗ 
heit. 
Auch der kleinſte und dürftigſte Lebensinhalt bedarf eines ſolchen Rhythmus, 
wenn er dem Ganzen fördernd zu dienen befliſſen iſt. 
Wohl dir, wenn am dämmernden Abend der Rhythmus deiner Tagespflicht aus 
klingt in zielgekrönter Erfüllung ! 
Aber ſolchem Leben blühen unzählige Roſen; und die herbe Pflicht iſt im Glanze 
edler Schönheit von innen heraus verklärt. 


Nächtlicher Wind 
Von Rudolf Paulſen 


O Nauſchen lind, 

Du wunderdunkle Halle 

Der nahen Nacht, erfüllt vom Atemwind! 
Wie wir doch alle 

So tiefbeglüdte junge Kinder find! 

O ſpottet nicht des lieblichen Entzüdens, 

Das von den Sternen felig niedertropft, 

Es will die Seele labend auferquiden, 

Wenn unfer Herz im großen Einklang klopft. 
Köſtliche Nacht, berauſchendes Getränke, 

Das ringsum wie ein Tau aus Blauem träuft, 
Derzaubert find wir, wenn das All Geſchenke 
Don Märchenpracht auf unfre Erde häuft. 

Da weinen viele Augen trunkne Tränen, 

Und zieht ein Duften wie von Blüten zart: 

So hebt ein edelfrommes tiefes Sehnen 

Uns hoch in das Bewußtſein anfrer Art. 

Vom Himmel find wir, und die ſchönen u 
Sind uns verwandt, verwandt wie unfer Blut, 
An uns und allem wächſt die lichte Schwinge, 
Wir ſchweben mit, wie Nachtigallen gut. 

Das Lied der Nacht ertönt aus allen Sphären, 
Das leiſeſte und traumhaft reinſte Lied 
Raufcht in den Herzenswogen, rauſcht aus allen Meeren: 
Die hohe Nacht ſteht glückhaft im Zenit. 


Die Kunſt der Reklame 


Von Alexander Freiherrn von Gleſchen⸗Rußwurm 


eklame, gewaltiges Zauberwort, das „Seſam öffne dich!“ des Erfolges im 
N geſchäftlichen Leben — ein Kind ser Neuzeit in der Erſcheinungsform und 
doch uralt wie Handel und Verkehr, ſeit Waren ausgetauſcht werden unter Völkern 
und Ländern, ein Kind der Neuzeit, bunt und laut, aufdringlich und unabwend- 
bar, manchmal feinerzogen mit allen Anſätzen der Kultur, dann wieder in den 
Flegeljahren unleidlich und roh .. ihr Wertmeſſer und dennoch allzu oft ſelbſt 
der Kultur entbehrend ... die Vermittlerin zwiſchen Erzeugung und Ger brauch. 

Zum Vermitteln gehört in allen Lebensäußerungen, mag es ſich um Piplo- 
matie oder Geſchäft, Staats- oder Familienangelegenheiten handeln, als erſtes Er- 
fordernis Geſchmack, der ſich in taktvollem, entgegenkommendem Benehmen zeigt. 
Alſo bedarf auch die Reklame, jede Reklame Geſchmack und Takt. Ihre Kultur 
beſteht darin, daß ſie dieſe Vorbedingung erfüllt, weit hinaus erzieheriſch wirkend 
nach ethiſcher und äſthetiſcher Seite. 

Sind aber Geſchmack und Reklame vereinbar, waren ſie es je, können ſie es je 
werden? 

Oringt man tiefer in den Geiſt dieſer Fragen ein, darf man nicht nur die größten 
und wichtigſten Arten der Publizität betrachten, man muß jede Art von Einwir- 
kung auf die Offentlichkeit berückſichtigen, denn die Reklame bedient ſich der ver- 
ſchiedenſten, oft geheimnisvollſten Wege. Seit fie im Konkurrenzkampf der Waren 
und Menſchen emporgekommen und eine der größten Weltmächte geworden iſt, 
zeigt ſie ſich allzu oft plump und protzig, geradezu vernichtend für den Geſchmack. 

Dies ſcheint jedoch in führenden Kreiſen zum Bewußtſein zu kommen, und wo 
von Propaganda die Rede ift, ſehnt man ſich, der Anpreiſung Kultur, dem Erfolg 
ethiſche Begründung zu geben. In Amerika, wo die Reklame ausgeſprochenſte 
Triumphe feierte, wo ſie im modernen Sinn ſo recht eigentlich erſt erfunden wurde, 
erfuhr fie zuerſt Kritik, die immer ſchärfer auftritt, und die „Advertising clubs of 
the world“ gehen daran, in jährlichen Kongreſſen die Auswüchſe zu beſchneiden 
und dem Geſchäftsleben — ich möchte ſagen: in feinem Miniſterium des Außeren — 
einen einwandfreien Charakter zu geben. 

Der Wunſch aufzufallen, um zu gefallen, um Aufmerkſamkeit, um Kaufluſt zu 
erregen, der Orang, möglichſt bunt und laut zu wirken, iſt fo alt wie die Welt. 
Auf jedem Jahrmarkt ging es in dieſem Sinn marktſchreieriſch zu. — Seitdem der 
Jahrmarkt aber nicht mehr zeitlich und örtlich gebunden, ſeitdem die ganze Welt 
ein Jahrmarkt geworden iſt, geht es eben auf der ganzen Welt marktſchreieriſch zu. 

Einſt lockten einzelne Buden auf dem dazu berufenen Platz mit Wort und Bild, 
in den Städten hatten einzelne Geſchäftsviertel in ihren dieſem oder jenem Handel 
gewidmeten Gaſſen wetteifernd entſprechende Schilder aushängen, heute kreiſchen 
Wort und Bild vernehmlich allüberall, verſchonen keinen Platz, keine Straße, keine 
Landſchaft, und die Reklame artete vielfach zu koloſſaliſchem Unfug aus. Zum 
etſtenmal äußert ſich das Bedenken: Fit dies wirklich unerläßlich für modernes 
Leben, für modernen Handel und Wandel? 


308 Gleichen · Rußzwurm: Die Runſt der Nelamı 


Die „Advertising clubs“ erklären aus der allgemeinen Pfuſcherei eine Kunſt zu 
machen, ſie ſuchen die Publizität wiſſenſchaftlich zu betrachten. Es handelt ſich hier 
um eine Difgiplin des menſchlichen Geiftes, die nicht mehr dem Zufall überlaſſen 
werden darf, der Willkür und ſkrupelloſen Gier, der beſchämenden Geſchmaclloſig- 
keit. Dieſe im neuzeitlichen Leben fo außerordentlich wichtige geiſtige Angelegen⸗ 
heit beſchäftigt in Amerika die Univerſitäten, wo ſich eigene Inſtitute bilden, die 
Geſetze der Reklame zu erforſchen. Die Bewegung begann zu Ende des 19. Jahr- 
hunderts mit einer Abwehr des Charlatanismus, als John A. Wanemaker, ein 
bekannter Geſchäftsmann, ſeinem Kollegen Powers die Frage ſtellte: „Alles iſt 
ſchon verſucht und abgetan auf dem Weg der Reklame, wiſſen Sie etwas Neues, 
um unfere Waren anzupreiſen?“ und Powers ihm die Antwort gab: „Verſuchen 
wir es einmal, ganz ehrlich zu ſein. Das wäre das Neueſte, das hat noch niemand 
probiert.“ Um dieſe Zeit begann im „Ladies House Journal“ ein Feldzug gegen 
marktſchreieriſche und ſchwindelhafte Annoncen unter dem Titel „Wahrheit, Auf- 
richtigkeit!“ Dieſer Anregung danken die „Advertising clubs“ ihr Entſteben, und 
es bildete ſich zunächſt in den Geſchäftskreiſen ſelbſt eine ſtrenge Kontrolle aller 
Ankündigungen und Prüfung des wahren Sachverhalts bei Anpreiſung von Waren, 
eine Art freiwilliger Handelspolizei. Die Käufer fanden ſich beſchützt und verteidigt, 
Abſchlüſſe durch Brief und Telephon mehrten ſich infolge wachſenden Vertrauens. 
Die Kultur der Reklame hängt feſt zuſammen mit dem Vertrauen, das fie einzu 
flößen imſtande iſt. 

Gleichzeitig mit dieſem ethiſchen Gebot machten ſich die äſthetiſchen Forderungen 
bemerkbar. Die Geſchäftswelt ſah ein, daß mit fortſchreitender Ziviliſation jede 
häßliche, unkünſtleriſche Reklame ſich überlebt hatte. Man rief die Kunſt, man ruft 
die Literatur, die man auf dieſem Gebiet lange entbehren zu können glaubte. 

Künſtlerplakate winken von Mauern und Säulen, in anmutig belehrenden Dar 
ſtellungen wirkt der Schriftſteller für dieſes oder jenes Induſtrieerzeugnis oder 
kleidet die Annonce, die bisher lediglich Straßenanzug getragen, in Frack und 
weiße Krawatte. Eine aufdringliche, geſchmackloſe und unwahre Reklame wird bald 
überhaupt nicht mehr lohnend fein, denn jede mit Hilfe von Häßlichkeiten ar 
geprieſene Ware wird bei einem kultivierten Publikum nur Widerwillen erregen. 
So hoffen wenigſtens die Vorkämpfer der veredelten Reklame. 

Durch berechtigtes Wohlgefallen ſoll die Aufmerkſamkeit zu den angeprieſenen 
Dingen gelenkt und nachher durch unentwegte Zuverläſſigkeit und Tüchtigkeit die 
Kundſchaft erhalten werden. Dann genügt es, wenn die Reklame leiſe mahnt und 
immer wieder künſtleriſche Befriedigung erweckt. Die praktiſche Erfüllung dieſes 
Ideals, das erſtrebt werden ſoll, wenn es auch nicht immer erreichbar iſt, bringt 
Kultur in die Reklame und verſöhnt oder vermählt ſie vielmehr endgültig mit dem 
Geſchmack. 

Ein Witzbold hat einmal auf die Frage, wann die erſte Geſchmackloſigkeit ent- 
ſtanden ſei, geantwortet: „Ich fürchte, mit der erſten Reklame.“ Und als ihn die 
Anweſenden, die alle in Reklame arbeiteten, bedrängten, hinzugefügt, daß wit 
aus dem griechiſchen Altertum nur von politiſcher Propaganda Nachricht hätten, 
dieſe ſei aber durchaus geſchmacklos geweſen (und iſt es bis heute geblieben). Es 


leichen · Nußwurm: Die Runft ber Reklame 309 


wird immer noch nicht viel anders gemacht, als wie es Alkibiades in Athen getan, 
als er ſeinem Hund den Schwanz abhieb, damit die Leute von ihm ſprechen. Der 
Theaterdirektor, der einem jungen Autor riet, ſich von einem Auto überfahren zu 
laſſen, damit ſein Stück aufgeführt werden könne, ſteht ganz auf derſelben Stufe. 

Von eigentlichen Geſchäftsempfehlungen der Antike haben wir kaum Nachricht, 
doch hat in helleniſtiſcher Zeit wie in den Jahrhunderten des kaiſerlichen Rom der 
hochentwickelte Welthandel jedenfalls ſtarke Propaganda getrieben, wahrſcheinlich 
durch Geſchäftsreiſende, die ſich als echte Griechen durch ungeheure Geſchwätzigkeit 
auszeichneten und ihre mitgebrachten Waren mit wohlgeſetzter Rede anprieſen, 
wohl auch einflußreiche Perſonen durch Geſchenke gewannen. 

Sn Rom wurde maleriſch zur Schau geſtellt, was es an Luxusgegenſtänden gab, 
im Porticus, wo die reiche und vornehme Welt auf und ab wandelte, und die Ver- 
käufer machten laut darauf aufmerkſam, hier fei das Neueſte aus dem Morgenland. 
Sa mag Ovid unter anderen eleganten Jünglingen ſich bemüßigt gefühlt haben, 
dies und jenes für die vielgeprieſenen Schönen zu kaufen. Ahnlich war es in den 
andern reichen Städten. An den Läden machten die Geſchäftsinhaber auf ihre 
Waren aufmerkſam durch anmutige oder humorvolle Fresken, wie manches Beiſpiel 
in Pompeji zeigt. 

Schilder als Geſchäftszeichen beginnen im Mittelalter die Gaſſen zu beleben, 
eigenartig, bunt und doch vorzüglich eingepaßt in das engbewegte Städtebild. Mit 
ſeltſamen Wahrzeichen, Wandmalereien und Marktgeſchrei mußte ſich die Reklame 
begnügen, folange das Publikum noch zum großen Teil des Leſens unkundig war 
oder nur mühfam und nicht gerne las; aber fie hatte die Kultur ihrer Zeit und ſtand 
in Harmonie mit den übrigen Außerungen des öffentlichen Lebens. Der Medizin- 
mann, der Charlatan, der mit Geheimmitteln im Lande herumzog, gab die groteske — 
manchmal vielleicht tragikomiſche Note; im Handel und ehrſamen Handwerk hielten 
Innung und Zunft auf ſtrenge Zucht und Ordnung auch in bezug von Anpreiſung 
der Waren. Charlatan iſt übrigens ein bezeichnendes Wort für den damaligen Aus- 
wuchs der Reklame, es ſtammt aus dem Ztalieniſchen, von „ciarlare“, ſchwätzen, 
und iſt die klaſſiſche Bezeichnung für den Marktſchreier geblieben. 

Kultur und Art der Reklame änderten ſich, als der Buchſtabe überhandnahm und 
die gedruckte Welt das ganze Leben überdeckte. Man glaubte in jeder Beziehung 
dem Buchſtaben, und die Anzeige bekam abſolut ſuggeſtive Wirkung. Vilder wur- 
den zwar noch zu Hilfe genommen, aber die Hauptſache lag in den Worten, in den 
möglichſt geſchwollenen, ruhmredigen Worten, die der Druck verbreitete, in der 
Aufſchrift, die klang und lockte. Sprang ſie ins Auge, verfolgte ſie hartnäckig den, 
der fie einmal geleſen, war die Sache gewonnen, das Geſchäft gemacht. 

Tatſächlich wurde mit den beiden Mitteln, die aus dieſer Entwicklung hervor- 
gingen, dem Plakat und der Annonce, viel erreicht, und ein erfolgreicher Geſchäfts⸗ 
gang ohne deren Wirkung ſcheint faſt unmöglich. Die Technik der Anzeige kommt 
pſychologiſch dem Vuchſtabenglauben entgegen, drückt ins Gehirn, was eingeprägt 
werden ſoll, reizt die Neugier und hält, geſchickt gemacht, die Aufmerkſamkeit wach. 
Aber ſie ſcheint heute zu Tode geritten, ſie hat längſt ihre Ethik eingebüßt und ſpielt 
mit der Aſthetik allzu oft ein frivoles Spiel. Sie wirkt nicht mehr, weil ſie, ungeheuer 


310 Gleichen Rußwurm: Ole Kunſt der Reklame 


übertrieben, ſtatt zu feſſeln und anzulocken, ſchließlich nur Widerwillen erregt oder 
in ihrer Maſſe dem Auge ſo gleichgültig und gewohnt erſcheint, daß wir ſie in ihren 
Einzetheiten gar nicht mehr merken. 

Gelegentlich des diesjährigen Reklamekongreſſes in London bemerkte ein eng- 
liſches Blatt mit Humor, es wäre am beiten, wenn es ein Abrüſtungskongreß 
würde, wenn ſich die leidenſchaftliche Reklame, die allmählich die ganze Welt ver- 
unziert, zur Abrüſtung gezwungen fähe, denn ihr brutales Vorgehen fei unleid- 
lich, ihr Uberſchreien und Übertölpelnwollen verſchlinge die Stimme des einzelnen, 
und die Luſt, den Konkurrenten zu erdroſſeln, ſpreche zu deutlich, grobe Reklame 
ſei ohne Kultur und eine Beleidigung für den ziviliſierten Menſchen. 

Erbittert über die zu ſeiner Zeit einſetzende Welle der Geſchmackloſigkeit hat 
Ruskin das Wort geprägt, eine einzige Banauſenvilla könne eine ganze Dynaſtie 
königlicher Berge entthronen. Dasſelbe gilt heute für das Plakat in der Land- 
ſchaft. Seine gewöhnliche Aufdringlichkeit zerreißt die Harmonie der Gegend, wirft 
eine falſche Note in die Stimmung. Und ſolches iſt nicht gleichgültig. Denn der 
Menſch ijt fo beſchaffen, daß er das unbefleckt Erhabene braucht, um ſich aufzu- 
richten, die königliche Stille einer großen Natur nicht entbehren kann. Vornehmes 
und Anmutiges iſt notwendig, ihn zu erquicken. Wenn Bierplakate einen blauen 
Gee entweihen, wenn der Wald nur dient als Hintergrund für eine Pneu- oder 
Schokoladenreklame, wenn das Bauernhaus den Titel eines ſogenannt „ver- 
breitetſten“ Provinzblättchens hinausſchreit, iſt die ungeheure Sehnſucht betrogen, 
die den Städter ins Grüne lockt, und er fühlt ſich wie in böſem Traum von den 
Plakaten verfolgt. Jedes Stück Natur, nach dem die Seele des Wandernden mit 
Verlangen greift, ſieht er von den Dingen geſchändet, denen er draußen entfliehen 
möchte. 

Die als mißverſtandene und mißverſtändlich ausgeübte Reklame follte ſich endlich 
als wahrhaft überlebt erweiſen, nicht nur weil ſie ſchädigend, alſo in gewiſſem 
Sinne unſittlich ijt durch ihre Rückſichtsloſigkeit, ſondern auch weil fie ſich mehr und 
mehr als unpraktiſch erweiſt, denn ſie überrennt das eigene Ziel. Banauſen, die 
äſthetiſch nicht beleidigt werden, find überhaupt jo abgeſtumpft, daß fie derartige 
Reklamen nicht mehr ſehen, wie ſich das Ohr an ein dauerndes Geräuſch gewöhnt, 
jo daß man es gar nicht mehr hört. Empfindliche, denen die Geſchmackloſigkeit auf- 
fällt, werden verſtimmt und gegen die angeprieſenen Dinge eingenommen, ſtatt 
für ſie gewonnen. Dieſe Reklame ohne Kultur läßt alſo kalt oder erweckt Antipathie. 

Der Zweck wohlverſtandener Propaganda iſt aber Intereſſe, möglichſt bleibendes, 
nachhaltiges und ſympathiſches Intereſſe in kaufkräftigen Kreiſen zu erregen. Ein 
ſolches entſteht durch Wohlgefallen, durch angenehm geſpannte Neugier und wird 
erhalten durch Vertrauen, durch gute Erfahrung, die man macht. Die Zahl der 
Dummen, die auf Marktgeſchrei hereinfallen, iſt zwar beträchtlich, letzten Endes 
triumphiert aber doch das wirklich Gute und Brauchbare und mit ihm die ſchon 
erwähnte innere Kultur der Reklame. 

Wirkſame Propaganda, wie jeder andere Erfolg, läßt ſich im heutigen Maffen- 
daſein vom einzelnen ſelten und ſchwer erreichen, meiſtens bedarf er einigen Zu- 
ſammenarbeitens. Das Ideal einer zeitgenöſſiſchen Reklamekultur wäre ein ge 


Glekgen Rukwurm: Die Runft der Reklame 311 


meinfames Wirken verſchiedenſter Kräfte. Das rechte Taylorſyſtem auch in der Ar- 
beit kultivierter Propaganda liegt darin, daß kein unnötiger Kraftaufwand erfolgt, 
keine Zeit und keine Luſt vergeudet wird, alſo keine unnötigen Koſten entſtehen. 
Der Reklamechef eines großen Betriebs muß ein beſonders fein gebildeter, allſeitig 
unterrichteter Menſch fein, taktvoll und diplomatiſch im beiten Sinn, niemals von 
der Anſicht beſeſſen, ein Recht auf roh verletzendes Vorgehen mit Farben, Formen 
und Worten zu haben. 

Brutalität erzeugt auf die Dauer immer Mißbehagen, Widerwillen, im großen 
angewendet ſogar nationalen Haß. Wie in der Medizin haben in der Reklame, 
wenn man ihre Wirkſamkeit hiſtoriſch überfiebt und einſchätzt, die ſtetig wirkenden, 
milden Mittel den beſſeren Erfolg davongetragen. Gefälligkeit, Zuvorkommen, ja 
Witz und Humor find den Reklamechefs zu empfehlen, wenn fie Kulturträger fein 
wollen, Intrigen und neidiſche Schädigungen rächen ſich unabwendbar. Mand- 
mal tut aber ein guter Einfall Wunder. In einer großen ausländiſchen Schokoladen- 
fabrik zeigte es ſich, daß die rieſigen Vorräte einen weißlichen Schimmer bekamen, 
und von allen Seiten beſchwerten ſich die Abnehmer darüber, dem Haus drohte 
Ruin, da kam dem Reklamechef in feiner Todesangſt ein Gedanke, der Telegraph 
ſpielte nach allen Richtungen und die führenden Zeitungen brachten das Inſerat: 
„Die Schokolade X iſt die einzige auf der Welt, die weiß wird im Liegen.“ Und 
das Geſchäft war gemacht. 

Meiſter in der Reklame find — man kann ſagen ſeit Jahrhunderten — die führen- 
den Modehäufer. Die Herren und Herrinnen der „haute couture“ (man ſpricht fo 
von ihnen, wie man von der „haute finance“ ſpricht) wiſſen ſich ſo vortrefflich 
in Szene zu fegen, daß ihr Preſtige internationale Geltung hat. Sie empfangen in 
wahrhaft fürſtlicher Weiſe und wiſſen wetteifernd jeder Modeſchau den Charakter 
des geſellſchaftlichen Ereigniffes zu geben. Es handelt ſich nicht mehr um Schneiderei, 
fondern der Eindruck ſoll geweckt fein, daß den Damen Kunſtwerke vorgeführt wer- 
den, würdig die eigene Schönheit zu ſchmücken, Kunſtwerke, wie fie der Modemaler 
im Atelier zeigt — womöglich mit Muſik und Tee. Dieſe bis zu geſellſchaftlicher An- 
mut geſteigerte Werbungsform geht auf vornehme Tradition zurück. Schon die 
Modehäufer des 18. Jahrhunderts waren ein Stelldichein der eleganten Welt und 
zeigten geſchmackvolle Aufmachung, die namentlich in Paris und Wien den Frem- 
den unvergeßlich blieb. Mit der Revolution verſank dieſe Herrlichkeit, um nur zur 
Zeit des Wiener Kongreſſes kurz aufzuleben, dann legte ſich das 19. Jahrhundert 
mit bleierner Schwere auf die Eleganz, machte den Laden reizlos und nahm dem 
Seſchäft den äſthetiſch mondänen Beigeſchmack, auch die Schaufenſter dienten nur 
mehr zu beliebiger Aufſtapelung von Waren. 

Es iſt noch nicht allzu lange her, daß hierin Wandel eintrat und namentlich die 
Schaufenſter zu einem wirklichen Ausdruck fortgeſchrittener Reklamekultur wurden. 
In den Großſtädten entwickelte ſich eine eigene Kunſt, der Schaufenſterdekorateur 
gab dem Straßenbild eine neue, erfriſchende Note, die Waren wirkten durch ſich 
ſelbſt mit Farbe und Form, eine die andere ergänzend und hervorhebend. Wie der 
Plakatmaler braucht der Schaufenſterdekorateur feinſtes Empfinden für die Werte 
der einzelnen Farben, Phantaſie und Geſchmack. Selbſt in einförmig grauer Haujer- 


312 Slelchen· Nutzwurm: Die Kunſt ber Neklame 


reihe läßt ſich durch die Schaufenſter Schönes und Erfreuliches erreichen. Indem 
ſie die Ware ſelbſt zeigen, locken ſie ohne den Umweg über Plakat und Annonce 
und üben dadurch namentlich auf das leichter beeinflußbare weibliche Geſchlecht, 
pſychologiſch ſicher begründet, ihren Einfluß. Sie find auch in den meiſten Fällen 
wahr und aufrichtig, denn die Sache ſelbſt lügt weniger leicht als ihr Bild. 

Neuerdings wird verſucht, Plakat und Annonce durch Ankündigung im Radio 
zu erſetzen oder vielmehr zu ergänzen, alſo das Ohr ſtatt dem Auge zu beeinfluſſen. 
Damit ſtellt ſich der mündliche Vortrag der künſtleriſchen und literariſchen Reklame 
zur Seite, die Überredung ohne das perſönliche Fluidum, das ſonſt vom Redner 
zum Hörer ſtrömt und das eigentliche Weſen der Lockung bildet. 

Mag nun die Reklame durch den Radio an das Ohr, durch das Plakat an das 
Auge oder durch das gedruckte Wort an den Verſtand ſich wenden, jedenfalls erwächſt 
für Kunſt und Literatur ein ungeheueres Arbeitsfeld, wenn es ihren Vermittlern 
vergönnt wird, äußerlich und innerlich das Weſen der Reklame zu veredeln. So- 
genannte Künſtlerplakate und gereimte Annoncen genügen durchaus nicht, der 
Propaganda kulturellen Anſtrich zu geben. Das Plakat muß nicht nur wirkſam, nicht 
nur künſtleriſch gut und geſchmackvoll gemalt fein, es muß an richtiger Stelle an- 
gebracht werden. Die Innenräume von Geſchäftslokalen, Warteſäle beſonders in 
öffentlichen Gebäuden brauchen durchaus nicht troſtlos öde oder barbariſch protzig 
zu fein, ſondern geeignete Reklame kann fie beleben. Überall, wo man wartet, wo 
man warten muß, hilft ſolche Dekorierung über die Zeit, man merkt ſich etwas 
davon, man behält den Eindruck — fo iſt die Zeit weniger verloren und die Propa- 
ganda geglückt. 

Ihre feinere, ja feinſte Form — die wohl auch beim Aufenthalt in irgendeinem 
Wartezimmer am leichteſten wirkt — iſt die in jüngften Jahren aufgetauchte lite 
rariſche Reklame, die in Erzählungsform, in Vers und Witz, in belehrender Dar- 
ſtellung über irgendeine Technik die Aufmerkſamkeit auf gewiſſe Waren lenkt. Der 
Schriftſteller tritt dadurch mit dem praftifden Leben in engere Berührung und 
hat (anfangs wohl notgedrungen) die Scheu aufgegeben, ſeine Arbeit in den Dienſt 
der Induſtrie zu Stellen. Man braucht freilich mit dieſer Propaganda nicht ſoweit zu 
gehen wie ein engliſcher Dichter vom Ende des 18. Jahrhunderts, der ſich in einer 
Werbeſchrift für die Impfung zum Vers verſtieg: 

„Steig, Pockenimpfung, Himmelsmaid herab!“ 

Bei manchem Erfolg wirkt die Reklame ſehr geſchickt zuerſt im Geheimen. Plöß- 
lich iſt irgendein Artikel Modeartikel, irgendein Buch Modebuch. Niemand weiß, 
wieſo und warum. Eine hübſche literaturgeſchichtliche Anekdote macht klar, wie 
Unbedeutendes zu plötzlichem Ruhm gelangt. Frau von Krüdener, die mritiide 
Freundin des Zaren Alexander I., wußte ihre Perſönlichkeit durch allerlei Reklame 
gut in Szene zu ſetzen. Als ſie ihren Roman „Valerie“ herausgegeben, fuhr ſie in 
Paris von einem Modegeſchäft zum andern und verlangte Bänder und Hüte & la 
Valérie. Herablaſſend lächelte fie, als man damit noch nicht dienen konnte. In den 
Salons erzählte fie aber, ihr Roman fei bereits fo beliebt, daß die neueſten Mode 
ſchöpfungen à la Valérie hießen. Die Damen verlangten nun ihrerſeits dieſe Dinge, 
und bald gab es in Paris kein Modegeſchäft, das nicht Putzwaren & la Valérie führte. 


Stockholmer Schloss Prinz Eugen von Schweden 


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Wotzegen: Dos letzte Licht 313 


Ahnlich wird auch noch heute die große Glocke geſchwungen und der Snobismus 
adoptiert pſeudowiſſenſchaftliche oder pſeudoliterariſche Bücher, Afterkunſt und an- 
geptiefene Häßlichkeit, indeſſen Dinge von höchſtem Wert unbemerkt von der Mit- 
welt vorübergehen. Wie denn Schwindel und Betrug auf dem Gebiet der Re- 
tame — wie auf jedem anderen — zwar Tageserfolge feiern, aber endlich doch 
immer wieder ans Licht kommen. 

Auf die Dauer iſt Tüchtigkeit, iſt Weſensechtheit das beſte Geſchäft, und die ebr- 
liche, die von Kultur getragene Reklame gewinnt. Traurig bleibt, daß nur wenige, 
die Tuͤchtiges leiſten, verſtehen, ſich bekanntzumachen. Sie find oft ſonderlich, zu 
ſtolz oder zu ſchüchtern und fallen in die Hände von Ausbeutern. Man hat aus- 
gerechnet, daß in der Regel bei irgendeiner Erfindung der eigentliche Erfinder nichts 
verdient, der zweite, der die Sache begeiſtert, aber ohne Kenntnis von Menſchen 
und Bingen in die Hand nimmt, den Einſatz verliert und erſt der dritte oder vierte 
den Nutzen zieht. Künſtler, Erfinder, Enthuſiaſten, Pfadfinder aller Art find Träu- 
mer und große Kinder. Ihr Gehirnapparat kann nicht dem Traum dienen, das 
Verk ſchöͤpferiſch geſtalten und gleichzeitig deſſen praktiſche Verwertung durchſetzen. 

Nichts wäre fo wünſchenswert als eine großzügige Vermittlung, ein ideales 
Reklamebureau, das Wertvolles auf verſchiedenen Gebieten bekanntmacht und 
vertreibt. 

Auf die Öffentlichkeit geſchickt und nachhaltig zu wirken, ift eine eigene Kunſt, 
wohl auch ein eigenes Talent, ein angeborener Inſtin't. Die Zuſammenarbeit dieſes 
Talentes mit anderen Talenten gehört für die heutige Welt zu den Notwendigkeiten, 
um den ſchöpferiſchen Geiſt aus Vereinſamung, Hoffnungsloſigkeit und oft aus 
tragiſcher Not zu befreien. Der Mann aber, der auf die Öffentlichkeit wirkt, muß 
dadurch emporgehoben werden, daß er den Schöpferiſchen nicht mehr als Aus- 
beutungsobjett betrachtet, ſondern ihm feine praktiſche Überlegenheit in der Technik 
des Bekanntmachens zur Verfügung ſtellt, um gemeinſam mit ihm der Sache zu 


dienen. 


dies iſt der Weg, auf dem die Propaganda ethiſch und äſthetiſch ſowie praktiſch 
zu einer ernſt zu nehmenden Kultur gelangt — vom ſchwindelhaften Marktgeſchrei 
zu vornehm überzeugender, weithinreichender Empfehlung. 


Das letzte Licht 


Von Hans von Wolzogen 


Und wenn das letzte Licht vergangen, 
Das auf der Berge Haupt erglüht, 
Die Wolke hat's noch aufgefangen, 
Die zart am Himmel aufgeblüht. 


Der Erde den le Herrlichkeiten 
Derbämmern in die frühe Nacht — 
Sieh, wie der Ruhm vergangner Zeiten 
In Dichters Himmelslicht erwacht! 
der Tümner X XVII, 4 21 


314 
Empfängnis 
Von Gertrud Burdett⸗Burchard 


I: es Abend wurde, legte der Dichter das Buch, in dem er geleſen hatte, 
beiſeite und ſchaute hinaus. 

Verſchwiegen und geheimnisvoll breitete ſich das Land in der Dämmerung. 
Wolken zogen von Norden nach Süden wie ſilbergraue Vögel, aber hinter ihnen 
ruhte eine dunkelblaue Klarheit. 

Traumhaft ſtill war es, und doch ging ein Weben zwiſchen Himmel und Erde, 
und eine Trunkenheit durchwogte die Luft. 

Plötzlich fühlte der Dichter, daß er nicht mehr allein war, daß etwas zu ihm 
gekommen war und ihn anblickte. 

„Wer biſt du?“ fragte er. 

„Ein Hauch, ein Gedanke, ein zudendes Fünkchen, — — vielleicht ein Nichts, 
vielleicht ein Alles!“ 

„Und woher kommſt du?“ 

Da ſchwieg der kleine Gaſt und lächelte rätſelhaft und unirdiſch. 

Draußen ſtieg über fernen Baumwipfeln eine ganz ſchmale Mondſichel empor; 
irgendein verlorener Vogelſchrei durchbrach die Stille. 

Der Dichter ſaß reglos, und war doch von einem tiefſten Autatmen durchſtrömt. 

„Was willſt du von mir?“ fragte er bewegt. 

„Du ſollſt mir Leben ſchenken! Ein Leben voll Kraft und Schönheit. Ou ſollſt 
mir Blut und Herzſchlag geben! — — “ 

„Kann ich es denn?“ fragte der Dichter in ſcheuem Wunder. 

„Du kannſt es“, fagte das Ratfelwefen bittend und zugleich dringlich. 

Ein Schweigen fant nieder. Aber das Schweigen war voller Sehnſucht: Sehn⸗ 
ſucht des Ungeborenen nach Daſein, Sehnſucht des Schöpfers nach Geſtaltung. 

Und in dieſer unbeſchreiblich heiligen Stunde ſchien es dem Dichter einen Atem 
zug lang, als öffne ſich ihm brauſend der Himmel, als höre er das Herz der Erde 
pochen, als fühle er ſich ſelber tönend im Zuſammenklang aller Dinge. 

„Du biſt zu mir gekommen,“ ſagte er endlich mit zitternder Inbrunſt; „ieh het! 
Meine Seele ift offen; tritt ein! Ich will dich hüten und tragen, bis du zur Frucht 
gereift biſt, bis du unter ſeligen Schmerzen dich von mir löſeſt — —“ 

So, in der filbernen Dämmerſtunde, während die Wolken zogen, und das Land 
wie ein Garten ruhevoll lag, bot der Dichter dem Gaſt aus einer andern Belt 
ſeine ſehnſüchtige Seele dar, und ein Glücksſchauer ging über ihn hin, wie er det 
nun empfangenen Koſtbarkeit ſich bewußt ward. 


— — 


315 
Herdglück 
Von Hans Gäfgen 


in ſchönes Wort voll Innigkeit und Stille! | u 
E Ein Wort, in dem deutſches Weſen leuchtet, warm, wie Wälder im Abend- 
ſonnenſchein. 

Ein wenig Spießertum, aber viel, viel Freude und Glidjcligtcit iſt lebendig in 
dem Worte Herdglück. 

Ich las es neulich irgendwo, in einem Buche oder einer Zeitſchrift. 

9a war mir, als läutete eine Oorfglocke, und Herden zogen heim im fanft ver- 
daͤmmernden Tage. 

Ich ſah Menſchen in ſtiller Stube bei ſtillen Büchern und andächtigen Bildern 
figen, Hand in Hand in ſchweigendem Glide. 

Mufit war in der Kammer, aus traumweiter Ferne niederſtrömend und fanft 
im Abend verklingend. 

Kerzen brannten in Leuchtern aus Urgroßvaters Tagen, und ihr Schein legte 
ſich wie Sonnengold auf das Antlitz der Menſchen. 

gerdglück! Wenigen iſt es heute noch beſchieden. Die Gegenwart und ihre Haft 
hat die Ruhe und den Frieden aus den Herzen der Menſchen geriſſen; im Strudel 
des Tages, in ſinn- und berzloſen Vergnügungen ſuchen ſie ihre Erholung. 

Herdglüd! 

Stillmenſchen empfinden den Zauber, der in dem Worte ſchwingt. Ihre Augen 
werden heller, wenn das Wort, wie eine ſanfte Taube, niederſchwebt in den leiſe 
verllingenden = und ihn leuchten läßt innig und mild, wie eine ſtille, ſchöne 
Sommerblume . 


Der Dichter 
Von Heinrich Leis 


Als hätte ich Geſchlechter ſchon erlebt 

Und trüge, wie fie wuchfen und vergingen, 

Geheimes Wiffen und im Ohr ein Klingen N 
Uralter Weiſe, die den Naum durchwebt: 


So bin ich mit Geſichten angefüllt, 

Und Weſen, die ich mir aus Träumen ſchuf, 
Umſchweben mich, gehorſam meinem Ruf. 
Schickſal-verkettet fügt ſich Bild zu Bild. 


In meinem Blutbann bin ich nicht allein. 
Es tönt aus mir die Stimme all der Dielen, 
Die gleichen Bluts, der Phantaſie Geſpielen. 


Und deren Wünſche, Sorgen, Glück und Leiden, 
Wie Licht und Schatten wechſelnd, mich umbreiten. 
Das in mir ſchlägt, das Herz der Welt iſt mein. 


Die Staatengründungen der Nordmänner 


as es bedeutet, einen Staat zu ſchaffen, in einem Staate zu leben, feine Kultur durch 

einen Staat beſchützt zu wiſſen, das hat bisher immer nur eine kleine Minderheit im deut 
ſchen Volke wirklich begriffen. Seit 1918 fängt es auch die Mehrheit zu lernen an, und die 
zwanzig Millionen Oeutſchen, die in fremden Staaten leben müjjen, werden es uns allmahlich 
immer beſſer lehren. Damit werden wir auch einen richtigen Maßſtab für unſere Vorfahren 
bekommen: für jene „nordiſchen Barbaren“, die in der Völkerwanderung nicht das römifche 
Reich zertrümmerten, ſondern an Stelle des in voller Selbſtzerſetzung begriffenen Reiches neue 
Staaten gründeten — und ebenſo für die zweite Welle des germaniſchen Vorſtoßes nach dem 
Süden, die der Wikinger. 

Auch fie haben als Staatengründer, wenn ſie ſonſt nichts geleiftet hätten, ihre ſchöpferiſche 
Fähigkeit bezeugt. Das Herzogtum der Normandie war ihre erſte Staatengründung auf roma- 
niſchem Boden, von der bekanntlich der moderne engliſche Staat durch Wilhelm den Eroberer 
feinen Ausgang nahm. Kurz vor Wilhelms Zug war von der Normandie aus ein anderer Wi- 
kingerſtaat begründet worden, ber als „Königreich beider Sizilien“ auf dieſer Inſel und in Unter- 
italien bis 1860 beſtanden hat. Die heutigen italieniſchen Schulkinder lernen als größtes welt; 
geſchichtliches Wunder den „Zug der — angeblich — Tauſend“, mit denen Garibaldi 1860 die 
Inſel überrumpelte. Die Normannen haben 1061, hundert und einige Ritter ſtark, vom italieni- 
ſchen Feſtlande aus der Herrſchaft der kriegeriſchen Sarazenen über Sizilien ein Ende bereitet. 
Herzog Robert Guiscard, der gewaltigſte Rriegsfürft, der Heinrich von Kleiſt zu feinem herrlichen 
Oramenfragment begeiſterte, ſtand zugleich unter den Förderern mittelalterlicher Wiſſenſchaft 
in erſter Reihe. Seine Gründung iſt die Univerfität Salerno, deren mediziniſche Fakultat jahr; 
bunbertelang führend blieb. Der Ruhm Friedrichs II., des großen Staufers, als des Urhebers 
moderner Verwaltungseinrichtungen, beruht, wie wir jetzt wiſſen, zum großen Teil auf der 
Politit feiner Vorfahren mütterlicherſeits, der Normannentdnige, die er fortſetzte. 

In der Normandie müffen die Wikinger noch verhältnismäßig zahlreich geweſen fein; Zeugnis 
dafür legt die Häufigkeit der hochgewachſenen hellen Geſtalten unter ihren Bauern und Gee- 
leuten ab. In Unteritalien und Sizilien dagegen iſt der nordiſche Typus ſelbſt unter dem Adel, 
auf den er von vornherein beſchränkt war, verſchwunden. 

Die erſtaunlichſte nordgermaniſche Staatengründung, heute noch nicht in ihrer ganzen Bedeu⸗ 
tung gewürdigt, iſt die des oſteuropäiſchen Großreichs. „Swithiod hin mikla“: Groß Schweden, 
fo haben es die ftammverwandten Isländer genannt. Seine ſchwediſchen Gründer werden zu- 
erſt von ihren finniſchen, dann auch den ſlawiſchen Nachbarn „ruotsi“, „rusj“, Ruſſen, genannt; 
und ſo iſt das Reich als Rußland in die Weltgeſchichte eingetreten: auch dieſer Name bedeutet 
„Land der Schweden“. 

Die Ausgrabungen haben den Beweis erbracht, daß die Ausbreitung der Nordgermanen von 
Schweden nad Oſten viel weiter zurüdreicht, als man früher wußte. Funde aus der jüngeren 
Steinzeit an der Weſtküͤſte Finnlands geben Kunde davon, daß dort rund 2000 Jahre vor 
Chriſti Geburt bereits eine germaniſche Bevölkerung mit verhältnismäßig hoher Kultur an- 
ſaͤſſig war. Vor die eigentliche Wikingerzeit fällt der noch halb legendäre, in der Bnglingafaga 
berichtete Zug des Königs Anund gegen Eſtland. Ein in der Ansgarlegende überlieferter Krieg 
der ſchwediſchen Wikinger am Ende des achten oder Anfang des neunten Jahrhunderts führte 
zur vorübergehenden Eroberung Kurlands. Im heutigen Rußland war zu Anfang des neunten 
Jahrhunderts am Ladogaſee eine Wikingerherrſchaft begründet worden, deren Mittelpunkt 


die Staatengründungen der Norbmänner 317 


die heutige Stadt Ladoga bildete, die damals mit finniſchem Stamm und germaniſche Endung 
Aldeigfuborg“ hieß. 

Damit wurden die Schweden Nachbarn der oſtſlawiſchen Stämme, der Kriwitſchen, Weſen, 
Meren, Boljänen, Orewljdnen und Radimitſchen. Wie wenig dieſe ſelbſt ſtaatenbildende Kraft 
beſaßen, druckt naiv der Bericht des älteften ruſſiſchen Chroniſten, Neſtor, Aber die Landnahme 
der Norbmänner aus. Unter den Landeseinwohnern, berichtet Neſtor, habe Zwletracht und 
Uneinigkeit geherrſcht; da hätten fie Gefandte zu den Rufj geſchickt mit der Botſchaft: „Unfer 
Land iſt groß und fruchtbar, aber Ordnung herrſcht nicht darin, kommt alſo und regiert über uns.“ 
Darauf ſeien die Ruſj gekommen unter Führung dreier Brüder; Rjurik (Rörid) ließ ſich in Now⸗ 
gorod nieder, Sinjeus (Signjut) am See Bjelofero und Truwar (Thorward) in Isborſk. Neſtor 
ſetzt die Landnahme ins Jahr 862. Zwei Jahre darauf ſeien die Brüder Sinjeus und Truwar 
geftorben und Rjurik habe ihr Gebiet unter feine Mannen verteilt. Die Ausbreitung der Nord- 
männer über die weiten Ebenen Oſteuropas mit Hilfe der ſchiffbaren Ströme dürfen wir uns 
ſehr raſch denken. Oer glüdlihfte Vorſtoß war der zweier Leute Rjuriks, Askold und Oir in 
Neſtoro Bezeichnung — Haskuld und Opri find häufige nordiſche Namen. Sie bemädtigten ſich 
der ſüdruſſiſchen Hauptſtadt Kiew im Gebiete der Poljänen. Die Herrſcherfamilie wollte aber 
ſolche Sonderbildungen nicht dulden. 882 entriß Rjuriks Nachfolger Oljeg (Helgi) den beiden 
Wikingern Kiew und ließ fie töten. Nowgorod oder Holmgard im Norden und Kiew oder Rönu- 
gard im Süden — die damalige flawifche Form ift entſprechend Kijangorod — waren nun die 
beiden gutgewählten Mittelpunkte des neuen großen Wikingerreiches. 

Für den vorwärtsftürmenden Sinn der Nordmänner iſt es bezeichnend, daß fie, noch ehe ſie 
in Rußland feſten Fuß gefaßt hatten, bereits ihre Blicke weiterſchweifen ließen: nach der glän- 
zenden Welthauptſtadt an der Grenze Europas und Aliens, der Kaiſerſtadt Konſtantinopel. 
Miklagard, die große Burg, nannten ſie es. Vereits 865 hatten Askold und Dir einen Angriff 
auf die Stadt mit 200 Schiffen gewagt; aber ein Sturm hatte den größten Teil der Flotte zer; 
kümmert. Im Jahre 907 rüftete Oljeg einen neuen Zug. Mit angeblich 2000 Schiffen zog er aus, 
plünderte die Ufer des Schwarzen Meeres und die Vorſtädte Konſtantinopels. Die Byzantiner 
hatten das Goldene Horn abgeſperrt, um der Flotte das Eindringen zu wehren. Da ließ Oljeg 
die Schiffe an Land ziehen und auf Räder ſetzen. Der Wind war guͤnſtig und mit vollen Segeln 
rollte die Flotte auf die Hauptſtadt zu. Die entſetzten Byzantiner erboten ſich zur Zahlung von 
Sſegeld und zum Abſchluß eines Friedens- und Handelsvertrages. 

Dieſer Vertrag von 907 ift eines der packendſten Ereigniſſe der Geſchichte, die erſte Berüh- 
rung zweier tief verſchiedener Welten. Den „ruſſiſchen Kaufleuten“ wird Frieden, Sicherheit, 
das Recht halbjährigen Aufenthalts in Konſtantinopel, Zollfreiheit für ihre Waren, ſowie das 
Recht zugeſichert, ſich mit Proviant und Ausrüftung für die Heimreiſe zu verſehen. Von bygan- 
tmifher Seite beſchworen den Vertrag die Kaiſer Leo und Alexander; fie ſchwören als Chriſten 
bei dem heiligen Kreuz. Auf normanniſcher Seite ſchwören Oljeg und ſeine Fürſten. Ihr Schwur 
iſt ein doppelter: bei ihren Waffen, nach echtem Wikingerbrauch, und bei zwei flawiſchen Göt- 
tern: dem Donnergott Perun und bei Wolos, dem Gott der Herden. Es iſt bezeichnend, wie un- 
gefeftigt die Religion der Germanen war; fie haftete an der Heimaterde, wenn die Germanen 
das Land wechſelten, wechſelten ſie leicht die Götter; daher der müheloſe Sieg des Chriſtentums 
bei den Stämmen der Völkerwanderung, und der ſchwere Kampf gegen das Heidentum der 
Sachſen, die auf Heimatboden geblieben waren. 

Nach der Überlieferung hat Oljeg ſeinen Schild als Siegeszeichen an die Stadtmauer von 
Bpzanz geheftet. Die „Ruſſen“ follen mit ſeidenen Segeln, die ſlawiſchen Mannſchaften mit 
Segeln aus Neſſeltuch die Rückfahrt angetreten haben; die letzteren aber hätte der Sturm zer 
tiſſen, fo daß fie wieder zu ihren groben Leinſegeln griffen. „Denn es iſt den Slawen nicht ge- 
geben, mit feinen Segeln zu fahren“: ein bezeichnender Satz, der wohl beweiſt, daß die bei Perun 
und Wolos ſchwoͤrenden Ruſſenfuͤrſten keine Slawen waren! 


318 Die Staatengründungen der Rotdmannet 


Der Handelsvertrag wurde fo eifrig benutzt, daß ſich ſchon nach vier Jahren eine genaue Feft- 
ſetzung feiner Beſtimmungen nötig zeigte; Oljeg ſchickte daher eine Geſandtſchaft von vierzehn 
Mannern nach Konſtantinopel. Der neue Vertrag wurde von den drei Kaiſern und den vierzehn 
Geſandten unterzeichnet. Von dieſen hatten fünf ſchon den erſten Vertrag unterſchrieben: Karl, 
Farulfr, Vermundr, Hröleifr und Steinvidr. Dazu kamen noch Ingjeldr, Gudi, Hrovaldr, Kerni, 
Fridleifr, Hroarr, Angantyr, Thröandr und Vefaſtr. Die Staaten, zwiſchen denen das Ab- 
kommen von 911 getroffen wird, find als „Chriſtenland“ und „Rußland“ bezeichnet. 

Ungefähr ein Jahrzehnt nach Abſchluß dieſes Ergangungsvertrags hielt ſich ein Geſandter des 
Kalifen von Bagdad namens Ibn Fahdlan bei dem Volke der Wolga Bulgaren auf. Ibn Fahdlan 
lernte dort Männer aus dem ſeinen Landsleuten bisher unbekannten Volke der „Rus“ kennen. 
Er fab fie die Wolga von Norden herabfahren und an ihren Ufern Lager aufſchlagen. Die Schil⸗ 
derung, die er von ihrem Ausſehen gibt, lieſt ſich wie die antiker Schriftſteller beim erſten Anblick 
der Germanen: 

„Niemals habe ich fo hochgewachſene Männer geſehen. Sie find fo hoch wie Palmbäume, rot- 
backig und rothaarig. Sie tragen weder Rock noch Kaftan, ſondern die Männer tragen nur einen 
groben Mantel, den fie über die Schulter hängen, fo daß eine Hand freibleibt. Jeder Mann trägt 
eine Axt, ein Meſſer und ein Schwert bei ſich, ohne dieſe Waffen ſieht man ſie niemals. Oie 
Frauen tragen auf der Bruſt eine Kapſel aus Eiſen, Silber, Kupfer oder Gold, je nach dem Ver- 
mögensgrade ihres Mannes. An der Kapſel iſt ein Ring, und an dieſem iſt, ebenfalls auf der 
Bruſt, ein Meſſer befeſtigt. Um den Hals tragen die Frauen goldene und ſilberne Ketten.“ 

Auf den gewaltigen Oljeg oder Helgi folgte als Großfürſt Igor, wie er ſlawiſch heißt; „König 
Inger“ nennt ihn der langobardiſche Biſchof Liutprand von Cremona mit feinem germaniſchen 
Namen, indem er ſein Volk, die Ruſſen, ausdrücklich als , Nordmannen“ bezeichnet. Deſſen Sohn 
und Nachfolger Swjatoslaw iſt der erſte Herrſcher mit rein flawifhem Namen. Doch war der 
Zuſammenhang mit der nordiſchen Heimat noch nicht zerriſſen. Noch in der übernächften Genera- 
tion ſtoßen wir auf einen nach germaniſchem Füͤrſtenbrauch auf Heirat beruhenden Oreibund 
der nordgermaniſchen Mächte: von den beiden Töchtern König Olafs von Schweden iſt die eine, 
Aſtrid, mit König Olaf dem Heiligen von Norwegen, die andere, Ingigerd, mit dem Großfürften 
von Rußland, Jaroslaw, dem Enkel Swjätos laws, vermählt geweſen. 

Dann aber riß der Zuſammenhang ab. Den entſcheidenden Schritt dazu hatte bereits Faros- 
laws Vater, der Großfürſt Wladimir oder Waldemar getan. Er nahm das Chriſtentum an und 
führte es in feinem Reiche ein. Aber es war nicht das Chriſtentum des heiligen Ansgar, des hei- 
ligen Olaf, ſondern das griechiſch-katholiſche Chriſtentum, die Religion der Weltſtadt Byzanz. 
Wladimir fühlte ſich geehrt, die Kaiſertochter Anna zur Gemahlin zu erhalten, und byzantiniſche 
Mönche predigten den Ruſſen den Chriſtenglauben. Damit war die Scheidung Rußlands vom 
ſtammverwandten Abendland und ſeiner Kultur vollzogen. 

Eine Möglichkeit hätte es noch gegeben, der ſkandinaviſchen Herrenſchicht des ruſſiſchen Reiches 
friſches Blut zuzuführen. Noch immer zogen abenteuerluſtige Nordlandsjöhne nach Südoſten. 
Aber mehr als die Fürſtenhöfe Holmgard und Könugard lockte fie die gleißende Kaiſerſtadt am 
Goldenen Horn. Statt Gefolgsleute der ruſſiſchen Fürſten zu werden, nahmen ſie lieber Sold 
in der kaiſerlichen Leibgarde zu Konſtantinopel. Die „axttragenden Barbaren aus Thule“, die 
nordiſche Leibgarde, das war die feſte Mauer, die die geheiligte Majeſtät des Autokrator ſchuͤtzen 
mußte gegen Meutereien ſeiner Soldaten und Aufſtände ſeines Volkes. Wie zahlreich dieſe 
Garde war, beweiſt die Tatſache, daß 1195 Kaiſer Alexius III. Boten nach den drei nordiſchen 
Ländern ſchickte, um in jedem tauſend Mann anzuwerben. Die Truppe beſaß eigenes Recht und 
eigene Gerichtsbarkeit, wie ja nach germaniſcher Vorſtellung jeder fein angeborenes Recht mit; 
nimmt. Wir kennen die Laufbahn eines Führers dieſer erwählten Schar. Der norwegiſche Wir 
ting Harald Sigurdſohn ging nach Rußland und gewann Ehre und Reichtum in der Grenzwacht 
Großfürſt Jaroslaws; aber das genügte ihm nicht; mit fünfhundert anderen Wikingern zog er 


es ieee — ——ä — —— — 


Scheilpfel kultur 319 


1034 nach Byzanz, in den Dienſt der Kaiſerin Zoe. Als Hauptmann der Leibgarde Haraltes 
führte er ihre Kriege gegen die Sarazenen, die Normannen in Unteritalien und die Bulgaren. 
Als der von Zoe zum Kaiſer erhobene Neffe ihres verſtorbenen Semahls, Michael V., ihr die 
Herrſchaft entriß, blieb Harald der Herrin treu, nahm an der erfolgreichen Gegenrevolution teil 
und blendete Michael mit eigener Hand. Auf die Nachricht, ſein Stiefneffe Magnus ſei König 
don Norwegen geworden, kehrte er in die Heimat zuruck. Als Harald Jardrade hat er nach des 
Reffen Tod ſelbſt den norwegiſchen Thron beſtiegen und im Kampf gegen England den Schlach- 
tentod des echten Wiking gefunden. Im byzantiniſchen Dienſt hatte er es, wie berichtet wird, bis 
zur 10. Rangflaffe unter 18 Klaſſen gebracht — ein erſtrebenswertes Ziel für einen Nordmannen 
aus Koͤnigsgeſchlecht! 

Was hätte es bedeutet, wenn dieſer Harald und tauſend andere ſeiner Art immer wieder ihre 
Fahrt nach dem großen Oſtreich der Nordgermanen gelenkt und damit ſeinen nordiſchen Ein- 
ſchlag ftändig erneuert hätten! So aber iſt die größte Staatengründung der Nordmänner ein 
uns völlig fremdartiges Gebilde geworden: eine ſlawiſche Macht im morgenländiſch- byzanti- 
niſchen Religions- und Kulturbereich. Dr. W. Herfe 


Schnipſelkultur 


ielleicht iſt „Schnipſel“ nicht recht ſchriftgemäß; der Philologe mag ſagen, daß es Schnitzel 

beißt. Aber das immerhin weit verbreitete Wort meint nicht nur Abfälle, die beim 
Schnitzen entſtehen, einer vielleicht zwecklichen Tätigkeit, ſondern es geht wortmalend auf das 
Kappern einer Schere zurück, die ins Gelade hinein ein Stück Zeug oder Papier in „Schnipfel“ 
verwandelt. Das Wort hat daher etwas Verächtlicheres, und das ſoll es eben. Ich will das, worauf 
wir anſcheinend unrettbar zuſteuern, beim moͤglichſt zutreffenden Namen nennen: es iſt Schnipfel- 
kultur! 

Bel keiner irgendwie vernünftigen Tätigkeit find unſere Wertpapiere zu „Schnipſeln“ ge 
worden; unſere Geldſcheine mit den ſektionsweiſe aufmarſchierenden Nullen waren Schnipſel. 
Und ſinnlos aneinandergelegte Schnipſel tuſchen unſere tiefgründigen modernſten Genie- 
Embryos zu futuriſtiſchen Gemälden, häufen in grellen Farben zeitverſtehende Publikumfänger 
auf Rieſenplakate. Das iſt die offene Signatur der Zeit. Könnte man aber die Gedanken aus 
den Köpfen der Menſchen jchütteln, fo würden ſich auch dieſe in erſtaunlich vielen Fällen als 
Schnipſel erweiſen: Abfälle von tauſend mehr oder minder papierenen Dingen, die wie in einer 
Lottotrommel beieinander lagen. Und wie viele meinen, es ſei ein Hauptgewinn darunter, 
ein Auto, ein Pelzmantel, ein „feſches Mädel“, ein Totaliſatorgewinn, ein Geſchäftstipp und 
was weiß ich! — 

Lieber Himmel, das Leben, beſonders in der Großſtadt, iſt ſo „unendlich reich“ und mannig- 
faltig und verſchiedenartig geworden, daß man es ſchon frikaſſieren muß, um wenigſtens einige 
Schnipfel davon in den immer überreizten geiſtigen Magen zu bringen! Freilich, man munkelt, 
daß in einem Frikaſſee meiſt nicht juſt die beſten Stücke verarbeitet find, ja, daß manche Schnipjel 
von den früheren Gäſten auf dem Teller liegengelajjen wurden. Nun, was dann in geiſtigen 
Magen ſich unverdaut häuft, iſt oft nicht einmal zweiter Hand, ſondern fünfter und ſechſter. 
Es iſt in den großen Zerreißmaſchinen, den Zeitungen, für möglichſt viele Bezieher vorgeriffen. 
Schon Goethes Theaterdirektor war auf Publikumfang eingeſtellt; und daß deſſen Leitſpruch 
Ver vieles bringt, wird jedem etwas bringen“, vom Dichter ironiſch genug gemeint war, haben 
die Verleger und notgedrungen auch deren Vorſchneider bei geiſtiger Maſſenabfuͤtterung längft 
hinter der Reklamefahne „Bildungsverbreitung“ verſteckt. 

Das iſt kläglich, aber es iſt entſchuldbar, da es unabänderliche Notwendigkeit iſt. Ein „ſchäd⸗ 


320 Sonipfethuttur 
licher Zirkel“: Die breiten, tauben Maſſen müſſen Bezieher werden; nur dann läßt fid die 
Zeitung durchhalten und — was doch der Normalkreis des Verlegers iſt — zur reichlich melken; 
den Kuh machen; die Maſſen find töricht; fie wollen vielerlei Schnipſel, um überall „mitreden“ 
zu können, — fragt mich nur nicht, wie?! Folglich muß vieles gebracht werden, folglich, aus 
Raumrüdjichten, in Schnipfeln; an ihnen aber ver, tapert“ die Menge noch mehr, als fle’s von 
Haus aus war. 

Hieran ijt nicht zu rütteln, nichts zu beſſern. Man ſieht es an dem faſt alle Quartal auf- 
tauchenden Reformblättchen irgendeines feelenguten weltfremden Klüͤngels, das ſchon nach 
Nr. 2 in der Furcht des Herrn Abonnenten lebt und Quengelbriefe erhält, weil nicht einmal 
im Klüngel Übereinftimmung über das notwendigſt und ausfuhrlich zu Sagende beſteht. Oer 
Zeitpunkt des tödlichen Ausgangs hängt dann einzig davon ab, wie viel Kapital an die fo „edle 
und unaufſchiebbare Sache zu verplempern“ war! 

Erwägen wir hierzu, daß von der Schulbildung ins Leben hinaus aud meiſt nur Schnipfel 
getragen werden, da Gedddhtnisdberfiitterung noch immer trotz aller Schulreformen bei den 
Herren Scholarchen Trumpf iſt, ſchon damit ſie bei den Prüfungen genug zu fragen haben; 
und weil das Hirn in Selbſthilfe den Ballaſt dann wahllos wieder ausſpeit, erwägen wir, daß 
von da ab meiſt nur noch die Zeitung das einzige Bildungsmittel iſt, fo wird der geiſtige Sammer 
zuſtand der Menge, die doch wieder eine furchtbare geiſtige Macht — nur eine negative — ift, 
erklͤrlich. | 

Beſtand aber dieſer ſchädliche Zirkel ſchon zur Zelt der ſogenannten Blüte des Reiches, die 
doch eben nur eine ädußerliche der Wirtſchaft und Macht war, fo muß er ſich unter den jetzigen 
Verhältniſſen geradezu zu einer Schlinge zuſammenziehen, die alle wahre Kultur erwürgt. 
Die elenden Wirtſchaftsverhältniſſe zwangen alle Zeitungen, ihren Umfang erheblich einzu- 
ſchränken; daß die Parlamentsberichte dabei gefallen ſind, iſt vielleicht das einzige Gute, denn 
fie gaben jedem Philiſter nur, was er hören wollte und unterſchlugen grundſätzlich, was er vom 
Andersdenkenden hören müßte. Aber wo kann man noch reingeiſtige Themen ausführlich er- 
örtert finden? Was von ſich reden macht, wird „feuilletoniſtiſch“ in höchſtens zwei Spalten 
als Schnipſel gebracht. Die Kunſtberichte, namentlich über Muſik, werden mehr und mehr bloße 
Zenſuren des allein zenſurfreien Kritikers. Denn Kunſt-, Geſchmack- oder gar Oenkprobleme 
zu erörtern, würde ja obenein Seine Majeſtät den Abonnenten langweilen; fein Schnipfel- 
verlangen geht auf Artikelchen, die nur als Beiguß um Kliſchees herumgarniert find. „Bilder- 
beſehen“ geht eben noch ſchneller als Leſen; man iſt befriedigt von unzufammenhängenden 
Nervenirradiationen; die daraufhin gebannten plakatierten neueſten Wochen- und Monats- 
ſchriften in den Zeitungsſtänden finden ihr würdiges Publikum! 

Aber nun find doch weite Kreiſe, beſonders abſeits der Großſtädte, voll Sehnens nach ge⸗ 
diegener Geiſtesnahrung. Auch verſpürt man doch wohl ein fortſchreitendes Aufraffen zum 
Kampf gegen die Schnipſelkultur —? Gewiß! Es ijt rührend, mit welcher Illuſionsfähigkeit 
die Mitglieder von Theatervereinigungen gediegene Stücke auf duͤrftigſten Bühnen mit dritten 
Kräften in ſich aufnehmen, wie Vereinszeitungen mit ehrlichſter Begeiſterung um ihr Dafein 
ringen. Aber es fehlt eben überall die wirtſchaftliche Unterlage; die Bildungskreiſe ſind arm. 
Das aber iſt noch nicht das Schlimmſte; auch hier würden viele Wenige ein Viel ausmachen. 
Verhängnisvoller iſt's, daß dieſe Kreiſe nicht einheitlich gerichtet ſind; ſo wird alle Kraft 
zerſplittert. Jeder vierte deutſche Denker iſt ein Eigenbrödler, und auf deren hundert 
kommt ein entſchloſſener Weltverbeſſerer, der einen — Verein gründet! Auf die Wonne der 
Satzungsberatung folgt das Weh des Kaſſenwartes. Aber ein Vereinsorgan muß ſein, um der 
Schreibſeligkeit der Mitglieder das Oruckpapier bereitzuhalten ! — Ach, man möchte ja fo vielen 
wirklich etwas Sagenkönnenden vermehrte Abſatzmoͤglichkeiten wünjchen, da fie nun doch einmal 
den dornigen Wüjtenweg des Literaten eingeſchlagen haben! Aber viel über gefinnungs- 
tüchtigen Dilettantismus kommen jene Blättchen doch nicht hinaus; die honorarfreien Beiträge 


Schniplettuttur 321 


der guten Freunde müffen ihnen lieber fein als zu bezahlende — und doch jedenfalls erbärmlich 
bezahlte — Aufſätze von geiſtigen Ubermittelgroßen. So wird denn von mittelmäßigen Ham- 
meln immer nur das Parteidogma ausgeſchmiedet, ausgebalgt oft genug zu engſtirniger Über- 
peblidteit, Unbelehrbarkeit und Unduldſamkeit, ja, Haß gegen jeden Heterodoxen, zum wahren 
Wohle einzig dem nicht pumpenden Papierhändler, Zur unfreiwilligen Verengung des Gelichts- 
kreiſes durch die Not kommt die freiwillige durch die zu früh und zu billig fertiggewordene Partei- 
überzeugung. 

Auch hier ift kaum von Schuld zu ſprechen. Angeborene deutſche Eigenſchaften und die Zer- 
ſpliſſenheit unſerer Oaſeinsverhältniſſe laſſen kein anderes Ergebnis zu. Wir müßten die Groß- 
ſtädte ſchleifen, die Induſtrie nach Patagonien oder ſonſt wohin verbannen, den „geſchloſſenen 
Handels ſtaat“ durchführen und ein auf dreißig Millionen verringertes Volk von Kleinſiedlern 
werden, um uns ein es Sinnes zu machen, „Stil“ in unſeren Volkscharaktet zu bringen. 
Aber auch dann noch ijt zu fürchten, daß grimmigſte Geiſtesfehden ausbrechen, ob der freie 
Schollendeutſche langes oder kurzes Haar, Schuhe, Sandalen oder gar kein Fußwerk tragen ſoll. 

Im Ernſt: es iſt keine — oder doch, um alle Möglichkeiten zukünftiger Schicksale en 
noch keine Ausficht, von unferer kleinlichen Schnipſelkultur loszukommen! 

Yum iſt es die Eigenſchaft des geordneten deutſchen Bürgers, nach Feſtſtellung eines mißlichen 
Zuſtandes zu glauben, daß eben dieſe Feſtſtellung ſchon der Übergang zu deſſen Veſeitigung fei. 
Man habe nun nur noch zu beſchließ en. Ein verſtändiger Entſchluß hat ihn ja im Leben immer 
vorwärts gebracht. Und ſchlimmſtenfalls: wo nichts zu ändern ift, muß man ſich eben ins Un- 
dermeidliche ſchicken, ohne noch groß davon zu reden. Mein mit hartem Griffel gezeichnetes Bild 
iſt alſo überflüffig, wenn ich kein Mittel angeben kann, das Unheil zu wenden. — Hm! — Daß 
ein einzelner Weltverbeſſerer oder deſſen obligater Verein das Ungeheure einer Kultur ſoll 
modeln können, iſt eine Annahme, die eben nur — Schnipſelkultur „denkeln“ kann. Nur Welten- 
ſchickſal kann jie ändern, das nicht vorauszudenken iſt. Weshalb aber auch nicht der Untergang 
der Kultur des Abendlandes mit Sicherheit vorausgeſagt werden kann. Wer will ſagen, welche 
Keime vielleicht gerade in der Fäulnis unferer platt materialiſtiſchen Geiſtesrichtung, die viel- 
leicht ſchließlich am Ekel vor ſich ſelbſt zugrundegeht, noch einſt emporgedeihen wie die Blumen 
im Kompoſthaufen! Darum heißt es trotz alledem: „Verzage nicht, du Häuflein klein!“ Es gilt 
einerſeits, den Kopf nicht in den Sand zu ſtecken, ſondern die ganze Größe des Unheils klar zu 
erkennen, auf daß ſich entſchloſſen jeder für ſich ſelbſt abwende von aller gleißenden Induſtrie 
der Schnipſelkultur. Und andererſeits, daß man jene Keime ſorglichſt hate und pflege. 

Alſo doch das Rezept all jener kleinen idealen Klüngelblättchen? — Eben das nicht! Wie 
darf eine ſo kleine Minderheit ihre Kräfte auch noch verzetteln? Welches Anſehen können die 
in Sonderbeſtrebungen und oft ſpieleriſche Sektierereien zerſpliſſenen „Idealiſten“ bei den 
Oraußenſtehenden gewinnen? Und welches eigentlich vor ſich ſelber, wenn fie ſich jeder anderen 
Meinung verſchließen und nur ihre eigene immer wieder hören wollen und dadurch beweiſen, 
daß ſie eben auch nur in Schnipſeln denken? 

Wir brauchen wenige wirklich führende Organe, geleitet von welterfahrenen, weitblickenden, 
charaktervollen und weithin anerkannten Männern, Organe für Tage, Wochen und Monate, 
ohne Bilderchenblendwerk, ohne andere Parteinahme als die für das Gediegene, Unaufgeregte, 
Seſunde. Meinethalben geſchieden nach den zwei Hauptcharakteren der Oeutſchen, den ethiſch 
und den äfthetifch gerichteten. Denn es iſt einmal unſere vielleicht zu beklagende Art, daß der 
eine alles nach der Geſinnung, der andere nach der Form bemißt. Erſtere iſt uns zweifellos 
nötiger; wir brauchen vor allem Charaktergeſundung. Aber Kunſt iſt und bleibt doch Gipfe- 
bung menſchlichen Schaffens und auch noch in ihren minder gewaltigen Außerungen ein Quell 
reiner Freuden] 

Daf auch eine Minderheit ſolche Zeitſchriften fordern, erlangen und aufrechterhalten könnte, 
wäre trotz allem in dem Augenblick möglich, wo alle Sonderintereſſen zuruͤckgeſtellt werden und 


322 Die deutſchen Geenglade 


eine gewiſſe Entſagung geübt wird. Wirtſchaftlich, inſofern man an feine geiftige Nahrung etwa 
ſo viel ſetzt wie der Sozialdemokrat an ſeine Parteikaſſe; geiſtig, inſofern nicht jeder ſich gedruckt 
ſehen und einzig feine Meinung hören will. Wer auf letzteres nicht verzichten kann, möge zum 
Wohle der Verleger und der Literaten ſein Bundesblättlein weiter halten, aber doch auf weiter 
ausſchauende Nahrung nicht verzichten. Für Liebhabereien findet ſich immer Geld; geiſtige 
Fortentwicklung aber müßte ſich jeder etwas koſten laſſen. 

Das Ergebnis ſolcher Fortentwicklung aber, der freiere, weiterblickende, vielverſtehende, 
freundliche und darum glücklichere Menſch, er, der den anderen ein Beiſpiel wird, daß jen- 
ſeits der Schnipſelkultur erſt ein Leben innerer Befriedigung und frohen Wachstums möglich iſt: 
er allein kann all das Seine, alles überhaupt nur mögliche, zur Bekämpfung unſerer verderb- 
lichen Zeitrichtung tun. Der Glückliche gibt ein Beiſpiel, und ein Beiſpiel iſt eindringlicher 
als hundert Lehren. 

Glaubet darum noch nicht an einen ſchnellen Sieg; eine Welt ſteht gegen euch, aber doch nur 
eine ſchwach und verzagt gewordene Welt. Werdet der Sauerteig, wie es einſt Chriſti Lehre 
war! Ein „Häuflein klein“ hat doch zuletzt der faulgewordenen antiken Kultur den Garaus ge 
macht. Und fraget nicht, was die Zeit an Abwegigem aus Chriſti Lehre gemacht hat. Der Ruhm 
der erſten Künder bleibt unbefleckt, und ihr Beiſpiel wirkt noch heut in den Reſten ehemaliger 
Kultur. Hans Schliepmann 


Die deutſchen Grenzlande 


ax Hildebert Boehm ſchenkt uns nach knapp einem Jahr ein neues Buch, das ſich wieder 

mit den Problemen des Grenzdeutſchtums befaßt. Nach „Europa irredenta“ folgen 
„Die deutſchen Grenzlande“. In ſeinem Vorwort kennzeichnet der Verfaſſer die Verſchiedenheit 
zwiſchen den beiden Büchern folgendermaßen: „Wandte ſich jenes Buch an die immerhin 
begrenzte Zahl derer, die im In- und Auslande für geſamteuropäiſche Schickſalsfragen Anteil 
nahme und Verſtändnis haben, ſo ſteht mir hier die breite Führerſchicht des deutſchen Volkes 
vor Augen, der es an einem brauchbaren Wegweiſer durch die Lebensfragen Grenz- Deutſchlande 
noch immer fehlt.“ „Europa irredenta“ behandelte die europäijche Grenz- und Doltsnot. Das 
deutſche Leid ſtand zwar auch hier den Tatſachen entſprechend im Mittelpunkt. Immerhin ergaben 
ſich eine Fülle Verflochtenheiten und Beziehungen zu anderen Völkern und dadurch ganz von 
ſelbſt die Notwendigkeit, Einzelheiten fortzulaſſen. 

Das vorliegende Buch iſt allein den deutſchen Grenzlanden gewidmet. In dem Vorwort 
ſchreibt der Verfaſſer, daß er die wiederholt ſchmerzlich empfundene Lüde einer Gejamtdar- 
ſtellung der deutſchen Grenzgebiete habe ausfüllen wollen, um denjenigen, die von der hohen 
Aufgabe des neuen deutſchen Menſchen erfüllt feien, „eine zuſammenfaſſende und grundlegende 
Geſichtspunkte herausarbeitende nationalpolitiſche Darſtellung“ zu bieten. Als Einleitung bringt 
Boehm eine inſtruktive Betrachtung über Grenzland und Grenzvolk. Es folgen die einzelnen 
Grenzgebiete im Weſten, Norden, Südoſten und Nordoſten. Den Schluß bilden zwei Kapitel, 
die gerade dem ſchon einigermaßen Unterrichteten beſonders willkommen ſein dürften. Sie find 
überſchrieben „Das mitteleuropäiſche Vorfeld“ und „Grenzdeutſch und Großdeutſch“. 

Boehm müßte kein deutſcher Gelehrter ſein, wenn er nicht zu Beginn ſeines Buches eine 
ſehr eingehende Analyſe der Begriffe Grengvol und Grenzland vornähme. Ich gebe gerne zu, 
daß er damit recht getan hat, weil die von ihm gegebenen Formulierungen für die praktiſche 
Arbeit notwendig find. Nachdem er konfeſſionelle, ſprachliche und ſtaatliche Hemmniſſe grenz- 
deutſcher Erkenntnis an Beiſpielen aus der Wirklichkeit vorgeführt hat, ſagt er mit Recht: „Fort 
deshalb mit allen dugerliden und gedankenloſen Bezeichnungen! Grenzland iſt kein Begriff, 


ar 17 GT 


Die deuiſchen Grenzlande 323 


für den die Juriſten eine ſtaatsrechtliche Schablone finden können, kein Begriff auch, für den 
Sprachforſcher, Statiſtiker, Hiſtoriker, Geographen für ſich zuſtändig wären. Grenzland iſt ein 
nationalpolitiſcher Begriff. Er umfaßt rein deutſche oder gemiſchte, abgetretene oder nur be 
drohte, beſetzte, neutraliſierte oder zwangsweiſe verſelbſtändigte Gebiete. Grenzland iſt überall 
da, wo deutſche Menſchen Grenzſchickſal leibhaft erfahren, wo ſie um den Zuſammenhang mit 
der nationalen Gemeinſchaft ringen. Grenzland begreift eine Forderung in ſich.“ 

Eine allgemeine hiſtoriſche Betrachtung leitet den Weſten ein. Luxemburg, Elſaß, Lothringen, 
das Saargebiet, Eupen, Malmedy, Rhein und Ruhr werden anſchließend einzeln behandelt. 
Es kann auffallen, daß trotz der Erwähnung Luxemburgs der Flamen nicht beſonders gedacht 
wird. Boehm erwähnt ſie nur auf Seite 49 im Zuſammenhang mit regionalen Strömungen 
in Frankreich. Ich hätte es gerne geſehen, daß gerade bei der Betonung der Geſchichtsloſigkeit 
des belgiſchen Staates den Flamen ein beſonderer Abſatz gewidmet worden wäre. Um jo mehr 
freue ich mich über die Luxemburg gewidmeten Ausführungen, weil gerade dieſes Gebiet auf 
das Eindringlichſte zeigt, wie ſchnell ein Land dem angeſtammten Mutterlande verloren gehen 
kann. Wer erinnert ſich heute noch der Tatſache, daß fünf luxemburgiſche und limburgiſche Ab; 
geordnete der Paulskirche angehört haben? Und weiß man heute noch, daß der Führer der 
Sozialdemokratiſchen Partei Bebel im Norddeutſchen Reichstag gegen die Ausſtoßung Luxem- 
burgs aus dem deutſchen Geſamtverband Einſpruch erhoben hat? Wer hat denn in Oeutſchland 
nach 1871 die Pflicht empfunden, die fortbeſtehenden wirtſchaftlichen Beziehungen geiſtig und 
national-tulturell zu vertiefen? Die traurige Antwort muß lauten: Nahezu niemand. Gerade 
die Ahnlichkeit der Luxemburger Verwelſchung mit der elſaß-lothringiſchen, belgiſchen und zum 
Teil auch der ſchweizeriſchen erhöht die Bedeutung des Vorganges. Es iſt deshalb beſonders 
zu begrüßen, daß Boehm zwei Männer erwähnt, die dieſe Zuſammenhänge in hervorragendem 
Make beleuchtet haben: Friedrich König und Paul Wentzke. Es handelt ſich um den überall 
im Weſten erkennbaren Vorgang, daß das Franzoſentum als liberaler Geiſt in die Bourgeoifie 
und damit in das parlamentariſche Leben und die Verwaltung eindrang, während das in der 
breiten bäuerlichen Maſſe und der geiſtlichen Führung erhaltene Deutſchtum an Einfluß ein- 
büßte. „So konnte fid das Unerhörte begeben, daß ein rein deutſches Land wie Luxemburg 
die franzöſiſche Amts- und Parlamentsſprache annahm und eine rein franzöſiſche Regierung 
duldet.“ 

In dieſem Zuſammenhang gewinnen die Vetrachtungen, die der Verfaſſer an den Anfang 
des Kapitels Aber Rhein und Ruhr ftellt, beſondere Bedeutung. Wir ſehen, wie vor 130 Jahren 
beim Anſturm des revolutionären Frankreich der ganze Puppenſtaat zwergdeutſcher Herrſchaft 
zuſammenbricht. Die 200 Staatsgebilde am Rhein waren zu jedem ernſtlichen Widerſtand 
unfähig. Das Verſagen der herrſchenden Geſchlechter und des Großbürgertums war offen- 
kundig. Handwerksburſchen war die Vertreibung der Franzoſen aus Frankfurt zu verdanken, 
der ehrenwerte Rat lehnte die Verantwortung für ſolch turbulente Szenen ab. Auch die Ent- 
wicklung des Rheinlandes im 19. Jahrhundert war nicht dazu angetan, die Erkenntnis grenz- 
deutſcher Aufgaben zu erwecken. Das gilt, wie Voehm ſehr fein nachweiſt, ebenſoſehr für das 
preußiſche Gebiet wie für Heſſen und die Rheinpfalz. Der Verfaſſer jagt, daß er an die geſchicht⸗ 
lichen Vorgänge nur erinnere, um die Erklärung zu geben, „warum der verwöhnte Liebling 
des deutſchen Volkes bis zu November 1918 feine Grenzaufgabe nicht erfaßt hat. Die Rhein- 
lande, das Quellgebiet alter deutſcher Reichsherrlichkeit, find ſelber bis an die Schwelle unſerer 
Tage ihrem ſeeliſchen Zuſtand nach Binnenland geblieben. Und dieſes Binnenland mit ſeiner 
geiftigen Stärke und politiſchen Schwäche wurde über Nacht Grenzland“. 

Es iſt notwendig, bei dieſer bedeutenden Feſtlegung einen Augenblick zu verweilen, weil 
gerade anläßlich der Jahrtauſendfeiern wieder Ausſprüche erklangen, die bewieſen, daß man 
den Begriff „Grenzland und Grenzgeiſt“ noch nicht richtig erfaßt hat. Man hörte die Worte 
dom kerndeutſchen Rheinland, das kein Grenzland fei. Zweifelsohne follte damit gejagt fein, 


324 Die deutſchen Stenglonde 


Grenzland iſt ein Land, das zum mindeſten in ſeinen Anſchauungen nicht einheitlich deutſch iſt. 
Wenn das in gemiſchtvoͤlkiſchen Gebieten zum Teil aud der Fall ijt, fo iſt doch die Feſtſtellung 
der Gegenſãtzlichkeit Kerndeutſch und Grenzdeutſch ebenſo einſeitig wie unglücklich. Gerade die 
Notwendigkeit des täglichen Selbſtbehauptungskampfes ſchafft in den Grenzgebieten einen 
Geift ſelbſtloſer VBaterlandsliebe und Volksbegeiſterung, den wir im fatten Binnen- 
land ſelten finden. Das Rheinland hat in den letzten Jahren erkennen müfjen, wie notwendig 
dieſer Grenzgeiſt iſt. Es hat ihn in der Stunde der Not aus ſich ſelbſt entwickelt. Es hat alle 
Veranlaſſung darauf ſtolz zu fein, und ſich laut zum bedrohten Grenzgebiet Oeutſchlands zu 
bekennen. Boehm formuliert an anderer Stelle, das was wir hier einfügen, in ähnlicher Weiſe. 

Der Verfaſſer wendet ſich zu Anfang mit Recht gegen eine zu ſchaffende „reichsdeutſche 
Irredenta“. Wohl mit um feine Auffaſſung zu belegen, behandelt er die geſchichtliche Entwicklung 
des Suͤdoſtens eingehend. Ich begrüße das und hoffe, daß vor allem die reichsdeutſche Jugend 
dieſes Kapitel beſonders aufmerkſam durchlieſt. Die völkiſchen Leiſtungen des bayrifchen, die 
politiſchen des fränkiſchen Stammes in früheren Jahrhunderten werden aufgezeigt. An unſeren 
geiſtigen Auge ziehen die Namen der Awaren, Magyaren, Mongolen und Türken vorbei. Wer 
von uns muß nicht bekennen, daß ihm in der Schulzeit der enge Zuſammenhang mit der dort 
für das Deutſchtum geleljteten Arbeit nicht ganz aufgegangen ift? Und wenn wir an das 19. Jahr 
hundert und den dort aufkommenden Allflawismus zurüddenten? Nimmt fic nicht heute das 
Vorſpiel zum Weltkriege in Serajewo ganz anders aus, da wir ſehend geworden find? Allzu- 
lange haben wir die Deutſchen jenſeits der Reichsgrenzen als Ausländer betrachtet. Allzulange 
haben wir für deren Leiden und Sorgen kein Intereſſe gehabt. Es wird Zeit, daß wir volks⸗ 
deutſch denken lernen und das Burgenland ebenſo zu uns rechnen wie den bedrohten Rhein 
oder die Inſel Oſtpreußen. 

Bei der Betrachtung über den neuen Staat Polen erwähnt der Verfaſſer Vorgänge, die in 
Oeutſchland noch zu wenig beachtet ſind. Sie ſtehen unter dem Motto: „Wer andern eine Grube 
gräbt, fällt ſelbſt hinein“. Auf unſeren Fall übertragen, ergibt ſich die erfreuliche Tatſache, 
daß ein Teil des Streudeutſchtums in Kongreßpolen, Südſlavien ebenſo wie in Rumänien 
und der Slowakei durch die Neuordnung der Verhältniſſe einen ſtarken Auftrieb erhalten hat. 
Anlaß war in erſter Linie geſchloſſenes Deutſchtum, das durch die Gebote der Pariſer Vor- 
ſtädte Reichsdeutſchland entriſſen und zu den Fremdͤſtaaten geſchlagen wurde. Feine Ironie 
des Schickſals bedeutet dieſe Erſcheinung, die glüdlicherweife uns Gutes bringt und die wir 
deshalb ſehr begrüßen können. 

„Die Würdigung des grenzdeutſchen Schickſals zeigt mit erſchütternder Eindringlichkeit, daß 
wir in einem Zeitalter der Grenzrevolutionen leben. Alte landſchaftliche und ſtaatliche Einheiten 
ſind zerſtört und neue aufgebaut worden, deren Beſtandfeſtigkeit und Lebensdauer fragwürdig 
ijt.“ So deginnt Boehm fein Kapitel Aber das mitteleuropäiſche Vorfeld. Er führt uns darauf 
in großangelegter Dolte um Deutſchlands Grenzen, zeigt an Hand hiſtoriſcher Vergleiche die 
grundſtürzende Veränderung der Verhältniſſe, deutet den geheimnisvollen Ooppelſinn des 
Begriffes Grenzdeutſchtum an, der unter anderem in der Überwindung der bloßen fprad- 
geographiſchen Vetrachtungsweiſe liegt, zeigt an den Bevölkerungszahlen des frangdjifden und 
deutſchen Volkes (36 zu 80 Millionen) im mitteleuropäifhen Raum den ganzen Irrſinn und 
Frevel der Verſailler und anderer Diktate, weiß die dadurch erneut eingetretene Bedrohung 
Hollands, Belgiens, Luxemburgs und der Schweiz nach und zeigt letzten Endes, wie im Oſten 
bei den neugeſchaffenen Staaten Wahlgeometrie und Verwaltungsautokratie trotz tatfadlid 
vorhandenen zahlenmäßiger Unterlegenheit das Deutſchtum zu unterdrücken, ja auszurotten 
verſuchen. 

Im Schlußkapitel ftellt Boehm nochmals den Gefamtgebietsverluft zuſammen. Er unter- 
ſcheidet zwiſchen 1. bedingungslos abgetretenem, 2. durch Abſtimmung verloren gegangenem 
bzw. gefährdeten, 3. beſetztem, 4. zwangsweiſe verſelbſtändigtem, 5. neutralifiertem und dauer 


a1 1 — — 


Die deuiſche Bauernhochſchulbewegung 325 


bedroptem Gebiet. Die knappen Angaben wirken beſonders erfchütternd, Wir erkennen, daß 
heute eigentlich jedes deutſche Land Grenzgebiet und damit bedroht iſt. Pommern im Oſten, 
Sachſen und Bayern nach Südoften, Baden, Oldenburg, Heſſen, Weſtfalen im Weiten. Mit 
Recht ſagt Boehm, daß die Bedrohung nach der Verſtümmelung viel größer iſt als früher. Er 
weiſt in dieſem Zuſammenhange auf Beſtrebungen holländijcher Kreiſe hin, die Oſtfriesland 
für fig beanſpruchen, auf die während der Inflationszeit aus der Schweiz kommenden Verſuch 
Vorarlberg und einige Kreiſe Suͤdbadens für die Schweiz zu gewinnen. Gerade dieſe heute 
kaum mehr glaubhaften Erſcheinungen follten auch dem Letzten die Augen öffnen über die 
Bedrohung, dem das Oeutſchtum jetzt ausgeſetzt iſt. Viel gefährlicher ſind natürlich die immer 
wiederkehrenden Verſuche der Franzoſen, Polen, Tſchechen, Suͤdſlaven und Italiener, deutſches 
Land zu verwelſchen. In dieſen Zuſammenhang gehören die franzöſiſchen Kulturbeſtrebungen 
im Rheinlande, ſowie die tſchechiſche Propaganda in der Lauſitz und in Niederöſterreich. Die 
für die Abwehr geſtellten Aufgaben find jo zahlreich und groß, daß man kaum weiß, wo be- 
gonnen werden ſoll. Boehm ruft daher Hilfskraͤfte aus allen Richtungen auf; er erwähnt befonders 
die Wiſſenſchaft, die Kunſt und die Wirtſchaft und hofft auf deren eindringlichſte Unterjtüßung. 
dch möchte hinzufügen, daß in Erwägung des ungeheuren Ernſtes der Lage überhaupt kein 
Hilfsmittel, und fel es auch noch fo beſcheiden, entbehrt werden kann. Wir ſtehen wirklich vor 
einer entſcheidenden Wende. 

Ich habe mich im weſentlichen darauf beſchränkt, in großen Zügen eine Inhaltsangabe von 
Boehme Buch zu geben. Nur an ganz beſonders augenfälligen Stellen ſchob ich Kritik, An- 
regung, Beurteilung ein. Zum Schluß muß ich doch wohl ein paar Worte mehr in dieſer Richtung 
jagen. Boehm wollte mit feinem neuen Buch eine Lüde füllen. Das hat er zweifellos getan. 
Trotzdem muß ich ausſprechen, daß ich auch jetzt noch eine Lücke empfinde. Vielleicht liegt es 
daran, daß Boehm zuviel wollte und deshalb zuviel angefangen hat. Die Folge muß ſein, daß 
man an manchen Stellen etwas vermißt, was erwartet werden mußte. Boehm ſagt, er habe 
Einzelangaben moͤglichſt vermieden und nur allgemeine Linien gezogen. Er iſt aber nicht tonfe 
quent geblieben. Bei Oberſchleſien finden ſich ſehr viele mir willkommene Zahlen, andere 
Gebiete find dagegen in biefer Hinſicht zu dürftig abgeſpeiſt. Vielleicht läßt ſich bei der zweiten 
Auflage eine Ergänzung ermöglichen. Dann wird das Buch in noch erhöhten Maße ein nicht 
zu entbehrendes Hilfsmittel fuͤr jeden Deutſchen werden. Schon jetzt aber gebührt dem Verfaſſer 
Dank für feine Arbeit, die zum erſtenmal alle deutſchen Grenzlande zuſammenfaſſend behandelt 
und eine Fülle neuer Anregungen bietet. Otto Kaiſer 


Die deutſche Bauernhochſchulbewegung 


at eigentlich Fichte, unfer großer Nationalerzieher, feine berühmten „Reden an die deutſche 

Nation“ vergeblich gehalten? Oder nur für die Zeit der damaligen Freiheitskriege? Wohl 
darf oder muß man fo fragen; denn von dem heldenhaften Geiſte dieſer Reden ſpürt man in 
mifern meiſten Schulen wenig oder nichts. 

Was war wohl der tiefſte Kern des Fichteſchen Erziehungsplan es? Nicht die Anhäufung eines 
ungeheuren Wiſſenſtoffes, ſondern Charakterbildung und Vaterlandsliebe; glühende, lodernde 
Bede zum Vatetlande und deutſchen Volke! Das deutſche Volk ſollte nach Fichtes Plan feine ihm 
angeborenen un vergleichlichen Geiſtes - und Gemütsgaben im gelduterten, durchgeiſtigten Sinne 
zur höchſten Höhe entfalten und ſteigern, aber nicht Schaden nehmen an feiner Seele, an feiner 
innerften adligen Art. Es ſollte Ehrfurcht vor Gott empfinden und das Unerforſchliche ſchweigend 
derehren. Es ſollte das Erforſchliche mit allen Mitteln ſachlich und ehrlich erforſchen. Es ſollte 
den Leib als einen Gralstempel alles Hohen und Edlen betrachten und ſtählen. Es ſollte gerecht 
gegen die anderen Baller fein — fie aber niemals über ſich Herr werden laſſen. | 


326 Die deutſche Bauernhochſchuldewegung 


Sein großer Zeit-, Bluts- und Geiſtesgenoſſe Ludwig Zahn faßte alles, was Fichte in dieſem 
Sinne verlangte, zuſammen in die beiden Worte: „Volkstum und völkiſch.“ Wir ſollten unſer 
deutſches Volkstum zur adligſten Ausgeſtaltung entwickeln, in ihm nächſt Gott das Hddfte auf 
dieſer Erde ſehn, von freudigem Stolze darauf erfüllt fein, Blut und Leben entſchloſſen und 
furchtlos dafür hingeben: wir follten „völkiſch“ fein. Dieſes Erziehungsideal iſt erhaben. Wollten 
wir im Geiſte Flügel der Morgenröte nehmen und vom Aufgang zum Niedergang allen Lichts 
alle alexandriniſchen Büchereien Aber Erziehungsfragen durchſtoͤbern, wir fänden nichts Herr- 
licheres, aber auch nichts Ein facheres, nichts, was mehr zum Herzen, aber auch zum Geiſte fprdde. 
Glaubt irgend jemand im Ernſte, unſer Siegfriedsſchwert des Weltkrieges wäre durch die 
Kurtiſanenliſt unſerer inneren und äußeren Feinde, durch irgendein Verſailles zerbrochen 
worden, wenn Fichte und Jahn in den Herzen unſerer Lehrer — von der Univerfität bis zur 
Volksſchule —, in den Herzen unferer Fürſten und Staatsmänner, unſerer Prieſter und Schrift- 
ſteller, unferer deutſchen Männer und Frauen lebendige Wegweiſer geweſen wären? Sie hätten 
die leuchtenden Dioskurenſterne auf dem Meere des deutſchen Geiſteslebens fein muͤſſen. Sie 
waren es nicht, fie wurden verdrängt und ausgelöſcht durch fremde, feindliche, lebensgefährliche 
Gewalten, Lehren, Menſchen. 

Wir büßen es nun. Der Nibelungen Not, mit der unſere Nationalliteratur tiefſinnig anbebdt, 
laftet heut in furchtbarſter Weiſe auf unſerm unglücklichen Volke. Alle Rettung hängt davon ab, 
ob wir zu Fichte und Jahn zurückkehren. 

Vor allem, weil dieſe beiden großen Erzieher zur ganzen Nation ſprechen, keinen Un terſchied 
machen zwiſchen Klaſſen, Ständen und Bildungsſchichten, weil ihnen unabänderlid der Gedanke 
an das unteilbare, untrennbare gemeinſame deutſche Blut und Volkstum vorſchwebt. Weil ſie 
die unterſte Schicht, die älteſte. wichtigſte, das Bauern tum nicht nur nicht ausnehmen, ſondern 
bewußt und unbewußt als Grundlage der ganzen Nation, als unerſchöpfliche Erneuerungs⸗ 
quelle betrachten. 

Es iſt bezeichnend und beſchämend für unſer Volk, daß auch hier andere uns ausgenützt haben. 
Oer Däne Grundtwig und feine Schüler haben Fichtes und Jahns Erziehungsſyſtem in den 
däniſchen Bauern hochſchulen tiefgründig und umfaſſend zur Anwendung gebracht. Als 
Dan emark unter den Schwertſtreichen der preußiſchen und öſterreichiſchen Heere widerſtandslos 
zuſammenbrach und rettungslos verloren ſchien, da haben die im Geiſte Fichtes und Jahns ge 
leiteten Grun dtwigſchen däniſchen Bauern hochſchulen den däniſchen Bauern fo geſchult, daß er 
die Lenkung des dänischen Staates übernehmen und Dänemark retten konnte. 

Warum iſt denn hier der Bauer ſo nachhaltig und wuchtig betont? — Nun, weil das übrige 
Volk aus dem Vauerntum hervorgegangen iſt, geht und gehen wird. Wir wiſſen ſeit geraumer 
Zeit, daß die Großſtädte die Gräber der Menſchheit find, daß die Städter in wenigen Genera- 
tionen rettungslos ausſterben. Die ausgezeichnet geführten Polizeiakten von Paris lehren uns, 
daß von den vielen Hunderttauſend Pariſern der ſogenannten „Großen franzöſiſchen Revo 
lution“ heut nur noch wenige Tauſende direkter Nachkommen in Paris leben, nicht etwa, weil 
die Nachkommen jener Pariſer inzwiſchen von Paris aufs Land gezogen, ſondern weil ſie bis 
auf winzige Reſte ausgeſtorben find. Gerade in neueſter Zeit lehrt uns Raoul H. Francs in den 
vielen Büchern feiner objektiven Philoſophie die Gefahren der Großſtädte und ihres ımor- 
ganiſchen, lebensfeindlichen „Lebens“. In tiefgründigen Schriften weiſt er darauf hin, daß wir 
eigentlich ein Waldvolk find und nur ſolange Ausſicht auf Leben, Kraft, Geſundheit und Kultur 
haben, jo lange wir die Lebensgeſetze des Waldes, der uns organischen Kultur, folgerichtig an- 
wenden. 

Noch heut ijt der Bauer verhältnismäßig geſund und unverdorben. Aber eben nur „der 
bältnismäßig“ ; denn in tauſend Kanälen fließen die lebensfeindlichen Gifte der Großftadt aufs 
Land, in die Adern des Bauerntums. Der Landſchullehrer bezieht letzten Endes ſeine Bildung 
und Erziehung nicht nur von den Hochſchullehrern der Großſtadt, ſondern auch durch andere 


Die deutſche Bauernhochſchulbewegung 327 


Erziehungsquellen: Zeitungen, Zeitſchriften, Theater, Filme, Warenhäuſer, Parlamente, 
Volksverſammlungen. Wenn nun auch die ewige, große Natur des Landes, der Wald und Acker, 
jene ſchaͤdlichen Einflüffe der Großſtadt ſehr weſentlich beſchränken und ausbalanzieren, fo ge- 
ſchieht dies doch in immer geringerem Maße. Man denke nur daran, daß durch eine an ſich wert- 
volle Einrichtung des Staates vor der Revolution jeder wehrfähige junge Bauer für zwei oder 
drei Jahre in die Stadt, ins Heer ziehn mußte und hier einer ganzen Pan dorabüͤchſe von Ent- 
artungserſcheinungen ausgeſetzt war, in der aufnahmefähigſten Zeit ſeines Lebens, und dieſe 
Gindriide mit nach Haus brachte! 

Die verderblichen Wirkungen dieſer Eindrücke find uns wohlbekannt: Landflucht, Gering- 
ſchätzung der heiligen Scholle, Abnahme der natürlichen Fruchtbarkeit, Zweikinderſyſtem, Rentner 
pſychologie, Verachtung der väterlichen Sitten, Hochſchätzung des ſtädtiſchen Flitters, Inftintt- 
unſicherheit, Neigung zum Marxismus, zur internationalen Preſſe, Verluſt von Nationalge- 
ſinnung und Raſſenſtolz. Wenn nun aber die Wurzel unferes Volkstums, der Bauernſtand, fo 
verderblicy entartet, was iſt dann von den Städtern zu erwarten? Jedes Handbuch der Bevöl- 
kerungsfrage lehrt uns die ſchauerliche Tatſache, daß wir aus einem Bauernvolke zu einem 
Zn duſtrievolke geworden find. Ein ungebrochen es Bauern volk hätte ſich das Schwert nach 
ein em fo unvergleichlich ruhmvollen Kriege von fremdblütigen Agenten unſerer Todfeinde nicht 
aus der Hand winden laſſen. Es hätte dieſe Agenten zu Paaren getrieben oder ſofort vernichtet, 
es hätte keine „Deſerteurräte“ geduldet, es hätte zu ſeinen angeſtammten Führern gehalten 
und bis zum Siege durchgehalten. Es hätte gelacht ob der Lehre von der Gleichheit der Menſchen, 
don der Liebe unſerer Feinde zu uns. Es hätte kein Parlament geduldet, das mit den heiligſten 
Gütern der Nation Schindluder treibt und uns die Verachtung der Welt eingebracht hat. Ein 
Oswald Spengler hätte unmöglich fein Buch vom „Untergang des Abendlandes“ ſchreiben 
können, wenn die Mehrheit der Nation noch ungebrochenen vöͤlkiſchen Willen im Leibe gehabt 
hätte, wie es bei einem reinen Bauernvolk der Fall iſt. 

Während nun Preſſe, Parlament und Volksverſammlungen die Rettung unſeres Volkes mit 
patlamen tariſchen Mitteln, das heißt: die Quadratur des Kreiſes, erörtern, find andre tatkräftig 
ans Werk gegangen: kerndeutſche, vaterlandsbegeiſterte, kluge und nachdenkliche Männer und 
Frauen, an ihrer Spitze der Oberlauſitzer Bauer Bruno Tan zmann! Er iſt aus der gleichen 
Segend wie Fichte, Leſſing, Böhme, Gregor, Mendel und viele andere Führer unſeres Volkes. 
Er hat nach Grundtwigs Beiſpiel — aber in völlig deutſchem Sinn und Geiſte — die deutſche 
Bauern hochſchulbewegung ins Leben gerufen, eine Bewegung, an der man nicht vorüber 
gehn und ſehn darf, wenn man die rettenden Kräfte und Ideen ſucht. Sie geht „aufs Ganze“. 
Sie packt Leib und Seele des deutſchen Menſchen, vor allem des Bauern an. Sie zeigt ihm, wie 
tief der deutſche Menſch, der deutſche Bauer, geſunken iſt und wie hoch er ſtehn, wie gewaltig er 
wirken und ſchaffen müßte. Vor allem, daß er Herr im Hauſe ſein und die Lenkung im Staate 
haben müßte Sie zeigt dem jungen Menſchen ſeine Verantwortung vor der Zukunft ſeines un- 
glücklichen, aber großen Volkes. Sie feuert ihn an, ſich nicht vor jedem hergelaufenen fremd- 
blütigen Schwager und Agenten ins Mauſeloch zu verkriechen, ſondern in Preſſe und Parlament 
(wie der alte Feldwebelſohn Auguſt Bebel einmal großzügig ſagte) „Fraktur zu reden mit der 
Raſſelban de“, daß ihr Hören und Sehen vergeht. Sie lehrt den Zungbauern und jeden aus Stadt 
und Land, der ſich innerlich mit Leib und Seele zur Scholle, zum Land, zum Vaterland bekennt: 
ein Stũck Bauerntum hat noch, Gott fel Dank, die ungeheure Mehrheit der Nation im Blut, 
meiſt unbewußt freilich! 

Es gilt nun, dies Stück Bauerntum zu retten, zu ſchirmen, zu ſtärken, lebendig zu machen, 
damit es ſich auswirke zu rettender Tat! Denn eher kann es unter keinen Umjtänden beſſer werden, 
ehe nicht der Bauer in dieſem Sinne wieder das Regiment im Staate übernimmt und das ganze 
Volk mit eiferner Bauern fauſt und ungebrochenem Bauerngeift im Sinne von Fichte und Jahn 
lenkt und leitet. Dann freilich dürfen wir Hohes erwarten. Nicht Zulaſſung zum Völkerbunde, 


328 Die beutſche Sauernbohfhuibewegung 


Anerkennung als demokratiſches, modernes Volk und wie der Schwindel fonft heißt, fondem 
Freiheit, Ehre, Vaterland; dann dürfen wir eine heilige Burſchenſchaft, ein eiſernes Korps, 
eine farbenbunte Landsmannſchaft, ein ſtolzes, kraftvolles, zukunftgewiſſ es Herrenvolk von echter, 
hoher, ariſcher Kultur ſein und bleiben. 

Nun ijt das Programm der deutſchen Bauernhochſchule derart, daß es dem einfachſten Bauern; 
jungen, dem einfachſten, aus Bauernblut ſtammenden Arbeiterkinde klar ein leuchtet. Denn 
zunächſt eignet ſich die Lehrſtätte ausgezeichnet Für dieſe Lehre: Irgend wo ba draußen auf dem 
Lande, auf einem alten Schloß, in einer Parklandſchaft, auf einer Burg, in einem großen deut 
ſchen Bauern hauſe, im Gebirge, in der Flachlandſchaft, am Ufer der donnernden Salzflut finden 
Lehrgänge ſtatt; das heißt, in unmittelbarer Nähe der deutſchen Lan dnatut. In aller Stille 
und Reinheit! In friſcher Luft und vor weiten Horigonten! Dort nun kommen Lehrer und 
Hörer aus rein beutſchem Blut und Geiſt freundſchaftlich, brüderlich in der Form der Lebens; 
gemeinſchaft zuſammen. Man iſt den ganzen Tag miteinander vereint, bei ernſter Arbeit und 
frohem Spiel. Alle Saue und Stämme der deutſchen Nation ſind hier vertreten: Schwaben, 
Franken, Alemannen, Sachſen, Weſtfalen, Rheinländer, ſchwerwuchtige Pommern und Oft- 
preußen, fröhliche Böhmen, nachdenkliche Siebenbürger, ſelbſtbewußte Bayern, gewandte Ge 
birgler aus Tirol und Steiermark — ſoweit die deutſche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder 
ſingt. 

Wie geht es da zu, in einer ſolchen Bauernhochſchule? Früh morgens weckt ein Hornſignal 
oder ein Landsknechtslied die Schar der Schläfer; er geht hinaus zu einem Oauerlauf, einem 
Stafetten lauf; die Glieder werden gehörig bewegt. Es wird beim Überbringen des Stabes hin · 
gewieſen auf die uns von der Entente geraubte allgemeine Wehrpflicht, die herrliche ariftotratijd- 
demokratiſche Schöpfung des hann overſchen Bauernſohn es Scharnhorſt, ohne bie wir nicht wieder 
aufſteigen koͤnnen aus Schande und Nacht zu Ehre, Freiheit und Macht. Je nach der Jahreszeit 
und Ortlidtelt wird ein Schwimmbad genommen oder ein Kampfſpiel im Schnee und Eis auf 
geführt. Dann in ſchnellem Lauf, daß der Schweiß von der Stirn rinnt, nach Haus! Hier wird ein 
einfaches, kräftiges Mahl eingenommen, meiſt eine Roggenmehlſuppe und ein Stück Roggenbrot. 
Dann geht es nach einem vom Hochſchulmeiſter geſprochenen ſchöͤnen, tiefen Spruch an die Ar- 
beit, meiſt zunächſt an ein Stück Kulturgeſchichte des Bauern. Es wird gezeigt, daß alle 
wahrhaft großen deutſchen Männer von echtem Bauerngeiſt befeelt geweſen find: Hermann der 
Befreier, Wittekind, Luther, Frundsberg, der Alte Fritz, Arndt, Jahn, Stein, Blücher, Gnei⸗ 
ſenau, Scharnhorſt, Fichte, Bismarck, Treitſchke, Richard Wagner, Schopenhauer und fo fort. 
— Daß inſonderheit alle Staatsmänner großen Stils echte Bauern waren. Denn der Staat if 
doch auch einmal erbaut worden. Und vom Bauen hat der Bauer ja feinen anſchaulichen Namen. 
Alſo wird der Bauer auch den Staat wieder aufbauen können, freilich nur, wenn er richtig ge 
ſchult und erzogen iſt. Dann wird eine halbe oder ganze Stunde draußen geturnt, damit das 
Blut in ſchnellen Umlauf gerät und das Hirn tüchtig und friſch durchblutet. Hernach wird bes 
Mittagsmahl eingenommen, einfach aber kräftig, wie es ſich für einen Bauern gehört. Später 
werden die wichtigſten Gedanken aus dem am Vormittag Gehörten niedergefdrieben, von den 
Lehrern durchgeſehn und miteinander beſprochen. Dabei herrſcht echt deutſche Kameradſchaft. 
Nachmittags werden Gegenſtände aus der Staaten kunde, Volkswirtſchaft, Verfaſſung, Kunſt, 
Naturwiſſenſchaft erörtert. Etwa ſolche Fragen: Wie iſt das Deutſche Voll raſſiſch zuſammengeſezzt, 
wie erhält es ſich raſſiſch rein und geſund? Welche Zuſtän de herrſchen an den Schulen und Hoch 
ſchulen, in den Akademien und Parlamenten, vor allem in der Preſſe? Es wird gezeigt, warum 
unſer unglüdliches Volk fo wenig über feine Sklaverei unterrichtet iſt, weil die ungeheure Mehr 
beit der Preſſe undeutſch iſt. Der Wert einer eigenen, freien, unabhängigen, echtdeutſchen Peeſſe 
wird erörtert. Die wichtigſten deutſchen und undeutſchen Blätter werden ſorgſam beſprochen. 
Die Lehre von Darwin und ihre Überwindung durch Gregor Mendel, Inzucht, Gattenwahl, 
Heiratspolitik, Ehe, Erziehung bilden den Gegenſtand der eingehendſten Betrachtung. dam 


Die deutihe Bauernhochſchulbewegung 329 


und wann wird ein Muſtergut befucht, oder auf einem Ausflug wird wohl mit dem Geologen- 
hammer ein Stück Humus auf feine Feſtigkeit hin geprüft. Da wird gelegentlich geſagt: Seht, 
wenn dieſer Humus nicht feſt auf feinem Grunde haftet und ihn der Gewitterregen hinwegſpült, 
dann ſtirbt mit ihm die grüne Saat, der grüne Wald, die reifende Ernte; aber wenn ihr Bauern 
jungen vom Lande in die Stadt als Schollenflüchtlinge zieht, in die Warenhäuſer, Filmhöhlen, 
Bordelle, dann ſtirbt mit euch die Nation, denn ihr ſeid der Humus des Volkes. Oder am Abend, 
wenn der Himmel ſternklar iſt, wird auf die funkelnden Sternbilder hingewieſen und geſagt, 
daß die meiſten Sternbilder wie der große und kleine Wagen, das Füllen, die Taube, der Orion, 
die Zungfrau mit der Ahre echt agrariſche Bilder und Schöpfungen agrariſch, nicht nomadiſch 
eingeſtellter Menſchen find. Daß lange vor den ſemitiſchen Babyloniern und Aſſprern, lange vor 
den Agyptern indogermaniſch redende Menſchen wie die Sumerer dieſe Sternbilder umriſſen 
und bezeichnet haben. Und am Abend werden alte Volkslieder geſungen unter Begleitung der 
Geige oder Laute. Unbeſchreiblich feierlich klingt es, wenn ſchließlich unſer prächtiger Lieder 
meiſter Fritz Hugo Hoffmann aus Deutſchböhmen zur Laute das Nachtwächterlied ſingt: „Hört, 
Ihr Herrn, und laßt Euch fagen, unſre Glock hat zwölf geſchlagen; zwölf das iſt die Zahl der Zeit, 
Menſch, gedenk' der Ewigkeit!“ — Wie oft jah ich Tränen in den Augen der unverbrauchten 
jungen Menfchen ! 

Schön und grok ift die ſeeliſche Wirkung des Ganzen. Wer die deutſche Bauernhochſchule be 
ſucht hat, der iſt für immer gefeit gegen die Anfechtungen der Internationale und des Marxis- 
mus. Kern feſt erwächſt hier eine den Stürmen des kommenden Lebens trotzende nationale 
Seſinn ung; Ehrfurcht vor Gott und großen Menſchen, Stolz gegenüber den fremd- 
blütigen Agenten des Auslandes und Mammons, Verſtändnis für das Weſen der 
deutſchen Volks gemeinſchaft, in die wir alle verhaftet ſind, ob Fürft, Ritter, Bürger, 
Bauer, Arbeiter. Der großdeutſche, alldeutſche, völkiſche, volksariſtokratiſche Sedanke faßt in 
dieſen jungen Seelen Wurzel. Sie haben ja nicht nur die Anſichten ihrer Lehrer gehört, fie haben 
die Namen der deutſchen Denker und Dichter in ihre Herzen geſchrieben. Sie haben mit Lienhard 
„Wege nach Weimar“ gewandert, haben Fichtes „Reden an die Deutſche Nation“, Jahns „Deut- 
ſches Volkstum“, Goethes „Fauſt“, Schillers „Tell“, Bismarcks „Taten und Reden“ gehört. 
Sie gehn nun hinaus als Jünger und Apoſtel eines veredelten Deutſchtums. Sie predigen es dort 
draußen in der deutſchen Landſchaft oder Stadt, in der Irredenta, in Böhmen, Mähren, Schleſien, 
Oſterreich, Poſen, Weſtpreußen uff. Der alte eiferne Arndt würde feine Freude haben, wenn 
er in mancher mondbeglänzten Zaubernacht auf den Alten Zoll hinaustreten und über den zur 
Zeit unfreien Strom hin fein herrliches Eifenlied aus deutſchem ZJungbauernmunde hören würde. 

Wirkt fic die deutſche Bauern hochſchule kraftvoll aus, dann kommt die Zeit, wo nicht zweihun- 
dert Marxiſten im Reichstag ſitzen und etwa zwanzig Bauern, ſondern zweihundert Bauern und 
keine Marxiſten. Denn die deutſche Menſchheit kann wohl Jahrtauſende beſtehen ohne marxiſtiſch 
verſeuchte Reichstagswähler — aber keine Woche ohne die Arbeit deutſcher Bauern. 

Die deutſche Bauernhochſchule, die im Auslande, beſonders in Amerika mit größter Aufmerk- 
ſamleit beachtet wird, iſt zurzeit von der marxiſtiſchen Preſſe in Deutſchland noch totgeſchwiegen. 
Unter der Leitung von Bruno Tanzmann erſcheint in Hellerau bei Dresden das Organ ber 
Deutiden Bauern hochſchule völkiſcher Richtung: „Die Deutſche Bauernhochſchule“. An 
der Spitze der Bewegung ſteht die „Schirmherrſchaft der deutſchen Bauern hochſchule“. Ihr ge- . 
hören Namen von edelſtem Klange an. Alle ſchaffenden, aufbauenden Stände und Schichten 
der Nation, Rünftler, Schriftſteller, Beamte, Unternehmer, Arbeiter, Kaufleute, tun gut daran, 
wenn fie dieſe Bewegung unterjtüßen, Sie wirken damit für die Nation. 

dieſe Bewegung arbeitet kraftvoll ohne Regierungsunterſtuͤtzung für die jo wichtige Siedlungs- 
frage und Landarbeiterfrage. Hier hat fie das „Artamann entum“ geſchaffen, durch welches etwa 
fünfhun derttauſend polniſche Landarbeiter aus deutſchen Landen verdrängt werden follen. 


Es iſt nicht auszuſagen, welcher Segen damit eintreten wird. Denn wie ſollen wir „Gen Oft- 
Der Curmer XXVI, 4 22 


330 Die deutſche Bauernhochſchulbewegung 


land reiten“ und ſiedeln, falls einmal Deutfchland wieder zur Macht und Freiheit gelangt, wenn 
wir nicht einmal dieſe Schädlinge in Geſtalt der halben Million fremder Landarbeiter verdrängen 
können! Das Artamannentum ſtellt — nach Willibald Hentſchels Vorſchlag — eine organiſche 
Form der deutſchen freiwilligen Arbeitsdienſtpflicht dar. Wie viel wird darüber nicht ge 
redet! Bruno Tanzmann hat ſcharf zugegriffen und dieſe Arbeitsaufgabe der deutſchen Bauern- 
hochſchulbewegung angegliedert, fo daß fie ein organiſches Stück von ihr iſt. 

Es wäre noch zu bemerken, daß dieſe Bewegung nicht etwa — auch nur von ferne — einen 
Gegenſatz zum Reichslandbund darſtellt oder zu den fachwiſſenſchaftlichen Landwirtſchafts⸗ 
ſchulen. Vielmehr in engſter Zuſammenarbeit mit dieſen genannten Faktoren, in Ergänzung und 
Unterſtreichung ihrer Richtlinien betätigt ſich die Hellerauer Bauernhochſchulbewegung. Das 
ſieht man unter anderm auf dem Gebiete der Religion. Hier bewegt ſich die deutſche Bauern; 
hochſchule durchaus im Sinne der Richtlinien des Reichslandbundes. Sie iſt nicht konfeſſionell 
gefärbt, aber durch und durch religiös abgeſtimmt: „Durch das Bekenntnis zum Chriſten tum ſoll 
das Bekenntnis zu einer deutſchen Frömmigkeit nicht ausgeſchloſſen ſein!“ Viele ausgezeichnete, 
weithin bekannte chriſtliche Pfarrer gehören der Schirmherrſchaft und der ſonſtigen Vertretung 
der deutſchen Bauernhochſchule an. Damit wird ſicherlich allen denen Genüge geleiſtet, die mit 
Recht in der Religion des Herzens das Wichtigſte für unſer Erdenwallen ſehn. 

Zurzeit befinden ſich ſolche Bauernhochſchulen auf nationaler Grundlage und in Form der 
Lebensgemeinſchaft in Henkenhagen in Pommern, Wiligrad in Mecklenburg, Aurich in Oftfries- 
land, Bruchſal in Baden, Lorch in Württemberg, Herrnhut und Neukirchen in Sachſen, Geltid- 
bad in Böhmen, Tanzenberg in Kärnten, Hermannſtadt in Siebenbürgen. Neben Tanzmann 
ſeien hier als führende organiſatoriſche Perſön lichkeiten genannt: Dr. Prieſter in Mecklenburg, 
David Egger in Kärnten, Franz Heller, Mitbegründer und Abgeordneter des Bundes der Land 
wirte in Böhmen, Prof. Meyer von der Landwirtſchaftlichen Hochſchule Hohenheim, Kammer 
berr von Arnim, Schloß Kriebſtein, Großbauer Kurt Andrä, Rittergutspächter Obendorfer in 
Sachſen, Dr. Roſikat, Prinz Schönburg-Waldenburg in Schleſien, Pfarrer Schmidt⸗Wodder, 
Abgeordneter der Deutſchen im Däniſchen Folkething, Dr. M. Maurenbrecher, Graf zu Revent- 
low, Kapitän von Müller ⸗Berneck, Wilhelm Kozde, Bundesvater der Adler und Falken. Die 
paͤdagogiſchen Führer find in der Hauptſache Georg Stammler und Tonſcheidt, die aus dem 
Lietzſchen Landerziehungsheim hervorgegangen ſind und dann durch die Hellerauer Lehrgänge 
das neue Erziehungsfeld geſichtet und geklärt haben. 

Die älteften ländlichen Volkshochſchulen find durch den geiſtigen, bzw. politiſchen Wettbewerb 
mit den däniſchen Volkshochſchulen entſtanden; Mohrkirch-Oſterholz unter Leitung von Heinrich 
Harms ift wohl die älteſte. Dann iſt u. a. zu nennen Tiegloff-Rendsburg. Dieſe Anſtalten tragen 
mehr heimatkundlichen Charakter und find mehr auf praktiſchen Schulunterricht mit Fortbil- 
dungsſchulfächern zugeſchnitten. Führende Männer find hier Rektor Henningſen und Wilhelm 
Stapel. 

Die nächſtſtärkſte Gruppe hat ſich im Verband der chriſtlichen Volkshochſchulen zuſammenge⸗ 
ſchloſſen. Ihr Mittelpunkt iſt die alte Miſſionsanſtalt Hermannsburg in Hannover unter Führung 
von Dr. Addickes. Zu ihr gehört die Schule Neudietendorf in Thüringen; Pfarrer Weigelt leitet 
ſie unter ſtrenger Betonung der kirchlichen Form und liegt daher mit der Hellerauer Richtung in 
Fehde. 

In Bad Ullersdorf in Mähren iſt unter Leitung des Diplomlandwirts Bürger, getragen von 
der Mähriſchen Landwirteorganiſation, eine kräftige Volkshochſchule. Leider will ſie nicht auf 
die Zuſchüſſe des tſchechiſchen Staates verzichten und lehnt daher bedauerlicherweiſe die Ver⸗ 
bindung mit den Schulen im Reich ab. — Die ländliche Volkshochſchule in Burgſchwalbach am 
Rhein ſteht unter den Geſetzen des beſetzten Gebietes und muß ſich daher neutral verhalten. 
Zuletzt wäre noch die Bauernhochſchule Neu-Ruppin zu nennen. Der Wehrgedanke iſt ihr 
Merkmal. 


Die deulſche Bauernhochſchuldewegung 331 


Bis auf die Auslandſchulen haben ſich alle einzelnen Gruppen auf Grund einer Einladung des 
Reichs lan dbundes zu einer Arbeitsgemeinſchaft zuſammengeſchloſſen. Die Führer dieſer Ar- 
beitsgemeinſchaft find: Rittergutsbeſitzer von Wilamowig-Möllendorff, Major Kriegsheim und 
Geheimrat Gerſten hauer. Beſonders Geheimrat Gerſten hauer, der geiſtige Führer des Deutſch⸗ 
bundes, erweiſt ſich hier als ein ftets wachſamer, ſtaatsmänniſch beſonnener, felbftlofer, vater- 
landsbegeiſterter Eckart des deutſchen Gedankens, der in allen wichtigen deutſchen Doltsbelangen 
von hoher Warte herab darauf achtet, daß die getrennt Marſchierenden auf dem Wege zum ge- 
meinſamen Ziele vereinigt ſchlagen. 

Bemerkenswert find auch die Mädchen lehrgänge für Spinnen und Handweben, welche von 
der Schirmherrſchaft der deutſchen Bauernhochſchule veranſtaltet werden. Zn dieſen Monaten 
fanden ſolche Lehrgänge auf Rittergut Limbach in Sachſen ſtatt. Man denke hierbei nicht an die 
abgeſtorben e Handweberei, ſondern an die Wiedererweckung einftmaliger deutſcher Volkskunſt, 
die wir heut ja nur noch in Muſeen vorfinden. Auf der Leipziger Meſſe, auf landwirtſchaftlichen 
Ausſtellungen, auf der Oresden er Textilſchau nahmen die künftlerifchen Erzeugniſſe deutſchen 
Frauen fleißes eine hervorragende Stellung ein. Man wolle dieſe Betätigungen nicht unter- 
ſchätzen! Auch Gandhi, der indiſche Freiheitskämpfer, hat das Handweben als Mittel gegen die 
Untultur der Fabrikware auf feine Fahne geſchrieben. Denn es iſt wohl geeignet, das nationale 
Selbſtbewußtſein und die nationale Wirtſchaft zu ſtärken. 

Dr. Alfred Seeliger 


© F one alle 


Die hier „ dem TR Meingsanstauf dienenden ae 
ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Zur Alkoholfrage 


Vorbemerkung. Es gibt einige Gebiete, denen der beſonnene Menſch in der öffentlichen 
Erörterung auszuweichen pflegt, weil eine ſachliche Erörterung ſchlechthin unmöglich ſcheint. 
Dazu gehören z. B. der Spiritismus nebſt Theoſophie und Anthropoſophie, der Antiſemitismus 
und — last not least — die Alkoholfrag e. Wir haben dieſe letztere Frage gelegentlich im „Zür- 
mer“ nur geſtreift; aber eine Bemerkung von Frau Toni Harten-Hoende im Septemberheft 
(über „Amerika Unfug“, wobei das Alkoholverbot berührt wurde) hat einige Männer auf den 
Plan gerufen, die auf dieſem Gebiete kampfgeüͤbt find. Wir geben ihnen im folgenden das Wort. 

O. T. 


L 
Iſerlohn in Weſtf., 11. 10. 1925. 
3 Lieber Tuüͤrmer! 
m Septemberheft bringſt Du in der Abteilung „Auf der Warte“ S. 567 einen Artikel von 
Toni Harten-Hoencke „Amerika-Unfug“. 

Ich bin ſeit Jahren Leſer des Türmers, auch ſchon vor dem Kriege. Mit dieſem Artikel begibt 
ſich, ſoweit ich das überſchaue, der TZürmer zum erſtenmal auf den Kampfplatz der fog. „Alkohol- 
frage“. Der Kampf der Tatſachen wie der Meinungen wogt aber noch auf und nieder. Ich, der 
ich feit 20 Jahren in dieſem Kampfe mit offenem Blick für beide Seiten ſtehe, auch die Kampf- 
methoden kenne, legte die bisherige Schweigſamkeit des „Türmers“ ihm als kluge Zurückhaltung 
aus. [Gang richtig! O. T.] Und das wäre wohl gut, ja ein haltbarer und verſtändlicher Zuſtand 
geweſen, wenn man weiß, wie ſchwer es für vielbeſchäftigte Schriftleiter iſt, ſich ein objektives 
Bild in dieſer Frage zu verſchaffen. 

Nun iſt aber beſagter September - Artikel einſeitig gefärbt. Wäre es da nicht eine Forderung 
der Billigkeit, wenn jetzt auch die andere Seite im „Türmer“ zu Worte käme?! Sollten jedoch 
dazu Bedenken beſtehen, dann bringe der „Türmer“ wenigſtens Hinweiſe auf ſachliche Schriften, 
wovon ich ihm zwei Stücke beilege und ſeiner Bücherei ſchenke: Dr. Hans Boguſat, Das Alkohol- 
verbot in den Vereinigten Staaten, Berlin 1924, C. A. Schwetſchke & Sohn: Prof. Dr. Kraepelin, 
Alkohol und Tagespreſſe, Berlin 1923, Verlag Jul. Springer. 

Der Türmer frage doch bei ſeinem Herausgeber an, wie vergleichsweiſe auf dem Kampf- 
platz „Elſäſſiſche Frage“ vor dem Kriege Kämpen erſchienen, die mit unlauteren Mitteln kämpften, 
die wiſſentlich oder ſelbſt irregeführt die Luft vergifteten und ſo dazu beitrugen, daß die Frage 
eher verwirrt als geklärt wurde. Ich ſelbſt bin dreißig Jahre im Elſaß geweſen, din aus dem 
ſchönen mir zur Heimat gewordenen Lande vertrieben und bin unterrichtet. 

In ähnlicher Weiſe kämpft ſeit jeher das Alkoholkapital. (Vgl. anl. Schrift von Univ.-Prof. 
Kraepelin „Alkohol und Tagespreſſe“, S. 12. Vgl. auch die auf Tatſachen beruhende prächtige 
Schilderung der Sitzung der Brauer und Brenner in Poperts „Helmut Harringa“, Verlag Ale- 
xander Köhler-Leipzig, herausg. vom Dürerbund!) 

Dak in U.-G.-Amerita leider gerade Deutſche wie deutſche Abkömmlinge neben anderen Aus- 
ländern und ſonſtigen Geſetzesübertretern das Verbotsgeſetz bekämpfen, ijt für uns beſchämend. 
Das Latfadhen- und Stimmenmaterial der Verfaſſerin kann ich nicht nachprüfen, aber vergleiche, 
lieber „Türmer“, dazu das anliegende auf amtlichem Material fußende Schriftchen von Ober- 
regierungsrat Dr. 9. Boguſat vom Keichsgeſundheitsamt (bitte S. 3 ſehr beachten . Es heißt 


Gur Alkehotfrage 333 


da: Die Frage nach den Wirkungen des Verbots wird noch heute in der (amerilaniſchen) Cages- 
preſſe ſehr oft, zumeiſt in einfeitiger, vielfach leibenſchaftlicher Parteinahme für oder gegen die 
Prohibition erörtert. 

Die übrige ſo reichhaltige Literatur der alkoholgegneriſch eingeſtellten Forſcher und Führer in 
der deutſchen Enthaltſamkeitsarbeit kannſt Ou ftets erfahren von der Reichs hauptſtelle gegen den 
Alkoholismus, Prof. Dr. h. c. Gonfer, Berlin-Dahlem, Werderſtr. 16. 

| G. Wolff. 


II. 
Iſt das amerikaniſche Alkoholverbot wirklich ein Unfug? 


Dr. R. Hercob, Direktor des Internationalen Büros zur Bekämpfung des Alkoholismus in 
Lauſ anne, bittet uns um Aufnahme der folgenden Entgegnung: 

Frau Toni Harten-Hoende veröffentlicht in Ihrer Zeitſchrift eine ſehr ſtrenge Verurteilung 
des amerikaniſchen Alkoholverbotes. Es fei mir erlaubt, darauf einige Morte zu erwidern, wobei 
ich betone, daß ich keineswegs ein Anhänger des Verbotes um jeden Preis bin, ſondern mich 
ehrlich bemühe, mir mit Hilfe guverlafjiger Statiſtiken und der in mehreren Reijen in den Verei- 
nigten Staaten geſammelten Beobachtungen ein unparteiiſches Urteil zu bilden. 

Frau T. H.-H. ſtößt ſich an einem in einer Tageszeitung veröffentlichten Satz, „der kluge 
Amerikaner habe in etwa hundertjähriger Erziehungsarbeit fein Volk zu dieſer moraliſchen 
Selbſtüberwindung herangezogen“. 

Wenn damit gemeint wird, die Amerikaner ſeien ein engelbaftes Volk, wie Frau T. H.-H. 
ironiſch bemerkt, grenzt naturlich eine ſolche Beurteilung an das Lächerliche. Tatſache aber iſt, 
daß der Kampf gegen den Alkohol feit mehr als hundert Jahren in den Vereinigten Staaten 
planmäßig geführt wird, daß zuerſt Tauſende von Ortſchaften den Alkoholverkauf verboten 
haben, dann eine Reihe von Staaten, und zwar in den meiſten Fällen infolge einer Voltsabftim- 
mung, und endlich kam das vom Kongreß in Waſhington angenommene, von den geſetzgebenden 
Körperſchaften in 46 Staaten beftätigte Landesverbot. Dies zeugt zweifelsohne dafür, daß die 
Amerikaner ſich der Gefahren der Trunkſucht bewußt und bereit find, zu den radikalſten Mit- 
teln zu greifen, um das Übel zu befeitigen. 

Nach Frau T. H.-H. war vor dem Verbot das amerikaniſche Volk auf dem beften Wege dazu, 
die goldene Mäßigkeit zu erreichen. Ich hatte die Gelegenheit, während einer Studienreiſe in 
Amerika im Jahre 1914 bie damaligen Trinkſitten in mehreren Großſtädten, Neupork, Chicago, 
Philadelphia, Baltimore zu beobachten, und es iſt mir im Gegenteil aufgefallen, daß das Trinken 
in den „Saloons“ der Arbeiterbevölkerung, ſowie in den Bars der großen Gaſthöfe die wider- 
lichſten Formen annahm. Oer Durchſchnitts amerikaner iſt nicht der Menſch des goldenen Mittels, 
er liebt die Extreme; entweder betrinkt er ſich oder verzichtet ganz auf die alkoholiſchen Getränke. 

Was lehrt uns nun die amtliche Statiftik, die doch zuperläſſiger iſt als die Außerungen 
einiger vielleicht parteiiſchen Perſönlichkeiten, über die Folgen des Verbotes? 

Das Verhältnis der Todesfälle infolge von Alkoholismus war für die letzten Jahre dies: 

Alkoholismus Todesfälle auf je 100 000 Einwohner: 
1914: 4,9 1916: 5,8 1918: 2,7 1920: 1,0 1922: 2,6 
1915: 4,4 1917: 5,2 1919: 1,6 1921: 1,8 1923: 3,6 
Lehrreich ift die Statiftit der Todesfälle infolge Leberzirrhoſe (= Schrumpfung), einer 
ſpezifiſch alloholiſchen Krankheit: 
Todesfälle infolge Zirrhoſe für je 100 000 Einwohner: 
1914: 13,0 1916: 12,3 1918: 9,3 1920: 7,1 1922: 7,5 
1915: 12,6 1917: 11,4 1919: 7,9 1921: 7,4 1923: 7,2 
Die Kurve der Erſtaufnahmen wegen Alkoholismus in den Srrenanftalten des 
Staates Neupork gibt folgendes Bild: In den Jahren 1909— 1913 bleibt die Kurve faſt auf 


354 Zur Alto hol frage 


gleicher Höhe (ungefähr 10% der Aufnahmen), dann kleine Abnahme der Fälle für 1914—1916, 
dann wieder eine Zunahme im Jahre 1917, und ſchließlich ſeit der Einführung des Verbotes 
eine deutliche Abnahme, fo daß im Jahre 1924 der Prozentſatz der Alkoholiker unter den Erft- 
aufgenommenen nur noch 5,4 beträgt. Es muß hier bemerkt werden, daß die Ergebniſſe der zwei 
letzten Jahre nicht fo günitig find, wie in den erſten Verbotsjahren. 

Sehen wir uns einmal die Verbrechenſtatiſtik, und zwar für den Staat Neunort an (der 
Kürze wegen vergleiche ich nur die zwei Jahre 1914 und 1925, das letzte Jahr, für das amtliche 


Statiftiten vorliegen): 
Geſamtaufnahmen wegen Betrunkenheit 
Männer Frauen Männer Frauen 
1914: 155 981 22 697 28 189 5945| 
1923: 82642 8 870 10 249 ; 912 


Dabei darf man nicht vergeſſen, daß die Bevölkerung in dieſem Zeitraum um 10 Prozent 
zugenommen hat. 

Es ließen ſich aus anderen Staaten der Union ähnliche Zahlen mitteilen: fie zeigen deutlich, 
daß das Verbot günftige Folgen auf mehreren Gebieten des ſozialen Lebens hatte, obgleich nicht 
fo günjtige, wie viele fie erwartet hatten. Man kann auch daraus ſehen, daß wohl infolge des 
beſſer organiſierten Schmuggels und der Geheimherſtellung von Alkohol die Ergebnijfe in den 
zwei letzten Jahren ſchlechter ſind als während der erſten Verbotzeit. 

Was die „Korruption“ anbetrifft, die jetzt das ganze amerikaniſche Leben beherrſchen ſoll, ſo 
leugnet niemand, daß viele ſolche Fälle tatſächlich vorgekommen find; es ſcheint übrigens, daß 
wir auch in Europa ſolche Beſtechungsfälle uff. zur Genüge kennen. Es iſt aber unzuläſſig, zu 
verallgemeinern und zu vergeſſen, daß in Amerika wie bei uns die Mehrheit der Beamten un- 
beſtechlich find, daß namentlich die Bundesverwaltung mit einem alle Achtung verdienenden 
Eifer gegen die Mißbräuche kämpft. Es ift auch Eprenpflicht, zu geſtehen, daß fie ſchon bedeutende 
Siege gewinnen konnte, namentlich in ihrem Kampfe gegen den Schmuggel: die berühmte Rum 
flotte, die vor Neuyork und Boſton kreuzte, iſt faſt ganz verſchwunden, und die profitgierigen 
Großſchmuggler aus Europa die gehofft hatten, ſehr bald Millionäre zu werden, ſind nun bankrott. 

Nach meiner Meinung iſt es noch zu früh, um ſich endgültig über das Verbot zu äußern: ein 
ſolches Experiment kann erſt nach 15 oder 20 Jahren vollſtändig gewürdigt werden. 

Dr. R. Hercod 


III. 


Blan, Poft Paternion in Oberkärnten, 
an Martin Luthers Geburtstag 1925. 
Vorgeſtern, am 8. November, fand hier in unſerem Bergdorf auf 800 m Höhe die Gründung 

einer Ortsgruppe der Deutſchen Gemeinſchaft für alkoholfreie Kultur ſtatt. Dabei teilte ich den 
verſammelten Einheimiſchen und Auswärtigen mit, daß der „Türmer“ in feiner September 
nummer 1925 „Auf der Warte“ einen Beitrag von Toni Harten-Hoende „Amerika-Unfug“ ge- 
bracht hat, in dem offenſichtlich tendenziöfe und vom Alkoholkapital merkbar beeinflußte (2 O. C.) 
Nachrichten über die ungünſtigen Wirkungen des amerikaniſchen Alkoholverbots sufammen- 
geſtellt werden, deren Weitergabe im „Türmer“ jedenfalls den Zweck haben ſoll, die Prohibition 
nach Moglichkeit herabzuſetzen und, wie am Schluß durchſchimmert, einem Alkoholverbot in 
deutſchen Landen entgegenzuwirken (? O. T.). Da anzunehmen iſt, daß durch die Abftinenz- 
bewegung jeder Gebildete wenigſtens einigermaßen über die verheerenden Wirkungen des 
Alkohols in unſerem Volksleben aufgeklärt iſt, iſt jedes weitere Wort über dieſes Vorgehen Toni 
Harten-Hoentes überflüffig. Der ganze Gau Kärnten der Deutſchen Gemeinſchaft für alkohol 
freie Kultur hat mich aber durch feinen Obmann erſucht, dem „Türmer“ darüber zu ſchreiben, 
und ſo ſchreibe ich denn: 


Hur Altoholfeoge 335 


1. Es iſt unbegreiflich, wie der „Türmer“ in ſeiner Septembernummer nicht etwa in der 
„Offenen Halle“, fondern in einem Teil, den er ſelbſt verantwortet, dem „Amerika-Anfug“ 
Raum geben kann, in der Oktobernummer aber unter derſelben Rubrik einen fo trefflichen Bei- 
trag gegen den Alkohol bringt „Das kleine Glas“. Darin liegt ein Widerſpruch, den ſich der 
„Tuͤrmer“ in einer der lebenswichtigſten Fragen des deutſchen Volkes nicht zuſchulden kommen 
laſſen ſollte. (Nein, darin ſehen Sie unſere Unbefangenheit und Undogmatik! Denn über die 
Schädigungen des Alkohol⸗Mißbrauches find wir alle einig, nicht jedoch über das Mittel, die 
„Prohibition“. Gegen dieſe wandte ſich Frau Harten-Hoencke. D. T.) 

2. Wir bitten den „Türmer“, wenn er wirklich für die innere Erneuerung Oeutſchlands ein; 
treten will, keinen Beiträgen, die ſich gegen die Bekämpfung des Alkohols richten, mehr Raum 
zu geben in feinen Spalten. Unter den zahlreichen Gluͤckwunſchſchreiben, die wir zur Gründung 
unſerer Ortsgruppe bekommen haben, waren zwei Spruchkarten mit Verſen Friedrich Lien- 
hards aus der Reihe „Oeutſche Innerlichkeit“. Wir glaubten annehmen zu dürfen, daß Sie auf 
unſerer Seite ſtehen und N in dieſem Glauben nicht durch die Haltung Ihrer Zeitſchrift 
enttauſcht werden. 

Mit deutid-evangelifhem Gruß 
Hans Kirchmayr, Pfarrer 


(NB. Berehrter Herr Pfarrer, laſſen Sie ſich folgendes erwidern: Wir achten jede Überzeugung, 
die auf Grund von Renntniffen und eigenen Beobachtungen gewonnen iſt. Frau Harten-Hoende, 
die Gattin des Profeſſors Dr. Schönemann, war eine ganze Reihe von Jahren in Amerika 
und hat die dortigen Dinge perſönlich beobachtet. Sie iſt ſeit Jahren unſre Mitarbeiterin; 
wir glauben ihre Überzeugung ebenſo achten zu müſſen wie die Zhrige. Genau genommen 
hätten wir ja als Schriftleitung eine einſchränkende Bemerkung beifügen können; aber das 
, wollten wir nicht; denn unfre Lefer find hoffentlich reif genug, ſelbſtändig zu den einzelnen Bei- 
traͤgen Stellung zu nehmen. Die geſetzmäßige „Prohibition“ iſt in der Tat ein noch umſtrittenes 
Mittel, auf ein Volk einzuwirken. Im übrigen erſehen Sie aus dieſem Sprechſaal der „Offenen 
Halle“, daß wir reichlich auch die andre Seite zu Worte kommen laſſen. D. T.) 


IV. 


„Hinein in das Reſtaurant“ —? 


Geſtatten Sie, lieber „Türmer“, auch mir ein Wort zur Alkoholfrage! 

Mit dem obigen Wed- und Hilferuf ſoll das deutſche Volk von den deutſchen Gaſtwirten und 
am Weinbau intereſſierten Rreijen in einem umfaſſenden, großzügig gedachten Verbefeldzug 
aus der Gleichgültigkeit geriſſen werden, mit der es bisher am — Wirts haus vorüber ging! 
So lautete eine Mitteilung und Ankündigung, die auf dem neulich in Harz tagenden Harzer 
Hotelinduſtriellen Verbande“ von dem Redakteur der Zeitſchrift des Reichs verbandes gemacht 
wurde. Jeder Gaſtwirt wurde aufgefordert, dieſe Werbung nachdrüͤcklichſt durch Verteilung von 
Poſtkarten, Werbeblättern uſw. zu unterſtützen. 

Uns ſcheint, als ob die Nachkriegszeit, die ja allerhand ſeltſame Ausgeburten der Phantaſie 
gezeitigt und die der Entwicklung des Bar-, Café- und Dielen betriebes recht günſtig war, hier 
etwas ſehr Abwegiges zuſtande gebracht hat. Unfer verarmtes, wirtſchaftlich geſchwächtes Volk, 
deſſen Familienſinn erſt langſam wieder zu erwachen beginnt — der zu früh verſtorbene 
„Türmer“ Schriftleiter Rarl Storck hat ein fo prächtiges Buch „Die deutſche Familie“ ge- 
ſchrieben, das ich bei dieſer Gelegenheit nachdrücklichſt in Erinnerung rufe —, deſſen Jugend 
allmählich wieder zurüdfindet zum Elternhaus: unſer Volk ſoll nun mit allen Mitteln der Re- 
klametrommel auf die Segnungen des Gaſthofes und die Vorzüge des deutſchen Weins hin; 
geſtoßen werden! Wir wiſſen ein gutes Glas Wein zu ſchätzen, mag er nun vom Rhein, von der 
Mofel, aus der Pfalz, aus dem ſchönen Maintal ſtammen; wir verſtehen auch, wenn der deutſche 


336 Zur Altobholfeace 


Weinbauer und der deutſche Weinhandel die Aufmerkſamkeit auf die Vorzüge und die Werte 
des deutſchen Erzeugniſſes lenkt: aber eine derartige Werbung unter dem Motto: „Hinein in 
die Reſtaurants“ zu veranſtalten, ift nicht nur reichlich ungeſchickt, ſondern für unfer ſchwer be- 
drängtes Volk geradezu unge hörig und un würdig in höchſtem Maße. Wer eine Gaftſtätte 
braucht, wird fie zu finden wiſſen, die beſonderen Vorzüge des einen oder anderen Gaſthofes 
oder Rurortes hervorzuheben, mag der jeweiligen Propaganda vorbehalten bleiben. Eine 
Sammelwerbung aber in obigem Sinne iſt entſchleden zu verurteilen, iſt geſchmacklos und 
unmoraliſch. Vielleicht genügt dieſer Hinweis, um den Übereifer eines allzu rührigen Werbe- 
fachmannes zu dämpfen oder in beſſere Formen zu lenken. F. O. 


V. 
Alkoholverbot in Amerika und in der Türkei 


Das „fünfjährige Jubiläum“ der Trockenlegung Nordamerikas iſt in den deutſchen Zeitungen 
und Zeitſchriften gebührend beachtet worden. Gar mancher Bericht von ſolchen, die was davon 
wiſſen muͤſſen“, nämlich von Berichterſtattern aus den Vereinigten Staaten war zu finden. 
Wer aufmerkſam und kritiſch zu leſen verſteht, wird bei den faſt durchgehend ablehnenden, dem 
Enthaltſamkeitsgeſetz feindlich geſinnten Aufſätzen einen inneren Widerſpruch gefunden haben. 
Man mußte den Eindruck gewinnen, als fei eigentlich der weit überwiegende Teil des ameri- 
kaniſchen Volkes Gegner des Alkoholverbotes, und als fei diefer durch die kleine Minderheit 
vergewaltigt worden. Wie ſtimmt denn das zu der fo ũberlaut geprieſenen vorbildlichen Oemo⸗ 
kratie Amerikas, wo das „freie Volk“ ſich ſelbſt regiert? Wurde man erſt einmal ſtutzig beim 
Leſen dieſer Berichte über den Wert und die Wirkung des umſtrittenen Geſetzes, ſo konnte man 
vor allem zwei wichtige Ertenntnifje zwiſchen den Zeilen entnehmen: 

Zum erſten, daß der Widerſtand gegen die Trockenlegung aus den Großſtädten kommt; und 
daß die Bewohner des flachen Landes die eigentlichen Enthaltſamen ſind. Auffällig war mir, 
daß auf die Landbevölkerung in Amerita von den Großſtädtern ſcheinbar noch verächtlichet 
herabgeſehen wird als bei uns, und daß die großſtädtiſche Preſſe ihren Vert ftark zu überſchätzen 
ſcheint. 

Zum andern iſt bemerkenswert, daß dieſe Berichte für unſere deutſchen Zeitungen alle von 
deutſchſtämmigen Amerikanern kommen. Die Oeutſchen find diejenigen, die am ftärkften dem 
Alko holgenuß anhängen. Eine Tatſache, die ich im Ausland oft beobachtet habe. 

Was aber beſonders hervorgehoben und entſchieden abgelehnt werden muß, das ift die Tat- 
fade, daß alle dieſe Jubiläumsartikel dazu dienen fellten, auf Grund der fünfjährigen G- 
fahrungen kritiſche Urteile über die Wirkung nach der guten oder ſchlechten Seite des Raufd- 
geträntverbots zu fällen. Gegen ſolche Oberflächlichkeit ſollte man ſich entſchieden wehren. Es 
iſt doch ganz klar, daß die Generation, zu deren Lebensgewohnheiten der Alkoholgenuß gehöoͤtt, 
ſich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zur Wehr ſetzen wird gegen einen ſtaatlichen 
Zwang, den fie nicht nur als überflüffig und ſchädlich, ſondern auch als einen dem Staat nicht 
zuſtehenden Eingriff in ihre perſönlichen Rechte empfindet. Erſt das nachfolgende Geſchlecht, 
das auf alle Fälle zu überwiegendem Teile nicht mehr gewohnheitsmäßig Rauſchgetränke zu 
ſich nehmen wird, kann eine neue alkoholfreie Lebensform ſchaffen; und erſt an der Abernadften 
Generation wird man die erſten Wirkungen feſtſtellen können. 

Will man wirklich aus den Erfahrungen anderer Völker lernen, dann verſtehe ich nicht, warum 
man nicht das tuͤrkiſche Volk als Muſter nimmt, bei dem eine jahrhundertelange Enthaltſamkeit 
ſich im Volksleben und Volkscharakter voll und ganz hat auswirken können. 

Nach meinen langjährigen ernſten Beobachtungen des türkiſchen Volkes habe ich die Uber 
zeugung gewonnen, daß die wundervolle feine Kultur des Alttürkentums, die ſich nicht nut 
in der Sachkultur darſtellt, ſondern auch in manchen Zügen der Menſchen, wie z. B. in det 


gur Altcholfrage 3357 


überrafhend hohen Würde auch der einfachen Menſchen, unbedingt der Enthaltſamkeit von 
Rauſchgetranken zuzuſchreiben iſt. 

Es lag naturlich für mich nahe, die Türkei und Amerika nebeneinanderzuſtellen, und zu ver- 
ſuchen, aus den Verſchiedenheiten der Wirkung des gleichen Verbotes dem ganzen Alkoholſtreit 
tiefer auf den Grund zu kommen. Und ich glaube, auf dieſem Wege wirklich den tieferen Sinn 
der Streitfrage erkannt zu haben. 

Für den Türken bedeutet das Gläschen Schnaps, das er trinkt, eine Sünde; denn feine 
Religion, der Iſlam, verbietet es ihm. Das iſt etwas im Wefen anderes, als wenn der Ameri- 
toner ein Gläschen Schnaps trinkt; denn er übertritt dabei nur eine ſtaatliche Verordnung, die 
er zudem innerlich nicht anerkennt, ſondern fie als eine „Vergewaltigung feiner Rechte“ emp- 
findet. Für den Türken hat das Verbot: Ou ſollſt kein Raufchgetränt an deine Lippen führen! 
göttliche Autorität. Die Autorität für das amerikaniſche Geſetz iſt ein — Parlament, das der 
Betroffene ſelbſt gewählt hat, und das er im Prinzip wieder abſetzen kann, wenn deſſen Geſetze 
ihm nicht paſſen. Mit andern Worten: dieſem Geſetze fehlt überhaupt die Autorität. Und darum 
bat das Geſetz eines demokratiſchen Staates keine ſittlich bindende Rraft, wie wir in der Tat 
ſehen. In der Türkei iſt die ganze weltliche (ſtaatliche) Ordnung auf religiöfem Grund erbaut 
und braucht darum nicht einmal die dußere Stütze der Autokratie, die ihr bislang auch noch zur 
Verfügung ſtand. (Dak die verblendeten modernen „Reformer“ der Türkei im vorigen Zahre 
durch die unglüdfelige Abſchaffung des Kalifats ihrer Rultur den Boden unter den Füßen weg- 
gezogen haben, mag nur nebenbei mit Bedauern erwähnt werden.) 

Nach dieſem Vergleich der verſchiedenen Verhältniſſe in der Türkei und in Amerika ergibt ſich 
der ernſte Schluß: daß die Enthaltſamkeitsbewegung trotz ihrer Fortſchritte und ſcheinbaren Er- 
folge nie ſiegen wird, ſolange fie nicht religiös fo verankert iſt, daß ihre Forderung als ſittlich 
verpflichtendes Gebot in jedein Einzelmenſchen befeſtigt iſt. 

Bedeutet das dann die Unmöglichkeit des endlichen Sieges überhaupt, da unſere Religion 
doch das Verbot der Raufchgetränte nicht kennt? 

Goethe wußte das beſſer. Er konnte auch ſolche Forderung religiös begründen aus dem 
Ehriftentum. In „Wilhelm Meiſters Wanderjahren“, jenem Buch voll Goetheſcher Lebens- 
weisheit, das unſerm Volk ein Buch mit ſieben Siegeln zu fein ſcheint, wird uns eine vorbild- 
liche Neuſiedlung gezeigt. Ein deutſcher Volksteil wandert aus nach Amerika. Nicht planlos und 
einzeln wie heute noch zu großem Teil, ſondern geſchloſſen und gründlich vorbereitet. Damit 
fie drüben gleich einen Muſterſtaat bilden können, iſt von den Führern auch die zukünftige Ver- 
faſſung des neuen Staates bedacht und eingehend feſtgelegt. (An anderer Stelle halte ich unſern 
Verfaſſunggebern ven 1918 vor, daß fie ſich nicht einmal die Mühe gemacht haben, Goethes 
Verfaſſungsentwurf zu ſtudieren, obgleich fie doch den „Geiſt von Weimar“ in unſerer neuen 
Verfaſſung lebendig machen wollten !) In dem Goetheſchen Verfaſſungsentwurf ſteht der Satz: 
Branntweinſchenken werden bei uns nicht geduldet! Woher nehmen die Führer die 
Autorität, fo zu ſprechen? Werden die Mitglieder des neuen Staates darin auch nur menſch- 
lichen Willen oder Eigenfinn ihrer Führer fehen wie die heutigen Amerikaner in dem befehdeten 
Geſetz? O nein, die Führer, die jene Verfaſſung in den „Wanderjahren“ aufſtellten, waren ſich 
darüber klar, daß jede ſtaatliche Ordnung gegründet fein müffe auf: „Religion und Sitte“. 
Dies ſind die beiden Grundpfeiler ihrer Verfaſſung. 

Und ihr Gedankengang geht weiter: von allen Religionen kommt nur die chriſtliche als die 
bidfte in Frage. 

giernach muß ſich alſo nach Goethes Meinung aus der chriſtlichen Religion das Verbot der 
Branntweinſchenken herleiten laſſen? Wer die „Wanderjahre“ auch nur oberflechlich kennt, 
der weiß, daß Goethe gerade hier über Religion mehr ausſagt als an einer andern Stelle ſeines 
Sefamtwerts. Ex bekennt ſich zur Religion der drei Chrfurdten: der Ehrfurcht vor dem, was 
über ums iſt, vor dem, was unter uns ift, und zur Ehrfurcht vor uns ſelbſt. Und dieſe Ehrfurcht 


338 Zur Altoholftage 


vor uns felbft ſchließt doch in fich das Gebot der Ehrfurcht vor unſerm Rörper, den wir gefund 
und rein zu halten und über den wir uns ſtets die Herrſchaft zu erhalten haben, um unſete 
Menſchenwüͤͤrde zu wahren. 

Darin löſt ſich auch der endloſe Streit um die Frage: Mäßigkeit oder volle Enthaltſamkeit? 
Aus göttlihem Gebot der Ehrfurcht vor mir ſelbſt, wie ich es mit Goethe aus der chriſtlichen 
Religion herleite, bekenne ich für mich verpflichtend das Gebot: Du ſollſt Ehrfurcht haben vor 
deinem Korper! 

Das zwingt mich zwar nicht, wie den Mohammedaner ſeine Religion, zu voller Enthaltſamkeit, 
ſondern läßt mir durchaus die Freiheit, mäßig im Genuß von Raufchgetränten zu bleiben. Und 
dieſe Freiheit kann ich, wenn ich will, benutzen zugunſten einer ganz alkoholfreien Lebensform, 
deren ſegensreiche ſittliche Wirkungen auf die Volkskultur ich bei den Türken beobachtet habe. 
So bleibt mir als Chriften hier wie immer die Freiheit des Handelns innerhalb der göttlichen 
Geſetze. 

Und das iſt für mich eine reſtloſe Loͤſung der „Alkoholfrage“. 

Georg Kleibömer 


LTitoratur, 
2 


Der Dichter Erwin Guido Kolbenheyer | 


ieh um bid, mein Bafil, und du wirft finden: wenig fein, fo im eignen Odem leben, 
fo mit eignen Sinnen die Welt umfahen, fo ein Herz in der Bruſt tragen, ſtark und voll 
Eigentum. Sie ſchielen alle fürjichtig zur Seit, ſcharen ſich, fluſtern einer dem andern ein lauſigs 
Wohlgefallen zu, auf daß der ander ihnen mit gleichem Bettel das Gewiſſen krauele. Da tritt 
einer unter ſie, kunnſt nit ſagen, was an ihm ſeie, daß er andre Schritt, andre Blick, andre Wort 
mit ſich führe — trägt dieſelben Lederſoblen an den Füßen, hat auch nur Menſchenaugen und 
führt nur Menſchenwort. Allein er iſt wie ein Wein, von dem ein Schmack aushauchet, lebens- 
voll und gewaltig, daß eines jeden Nüftern beben, eines jeden Bruſt ſchwillt. Er läßt die Augen 
aufleuchten und den Mündern gibt er das Gewißheitslächeln. Bafil, der iſt ein Zauberer, ein 
Herenmeifter, aber kein unheiliger — er iſt ein Eigener, ein Sohn Gottes und nit fein Affe. 
Er hat an den Quellen der Menſchwerdung getrunken als der Heiland. Alle Herzen rings um 
ihn ſchlagen nach ſeines Herzens Schlag, ſei's in Zorn und Freuden, ſei's in Haß und Liebe, 
das iſt gleich — ſie müſſend ſich alſo drein ſchicken. Die Verzagten werden kühn unter ſeinem 
Blick und die Feigen entbrennen nach Mannestat. Er formt fie alle, ohnbewußt, aber unent- 
rinnbar. Als Gott das irden Kloß formet und ihm ſein Odem einblus, allſo füllet er ſie mit 
eim höhern Leben. Sieh um dich, mein Baſil, und ſo du einen Eigenen gewahrſt, freue dich 
deines Augenlichts, dann du erſchauſt den Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Aus Kolben- 
heyers „Meiſter Joachim Pauſewang“.) 

Solch ein Einſamer, Stolzer, Starker, Lebensvoller und Eigener, der vom Atem Gottes 
angehaucht und nun von ewigem Unfrieden verzehrt iſt, ſein Selbſt zu ſchauen, ſolch ein Zauberer, 
der alle, die noch der Erhebung und Eyrfurcht fähig find, mit ſich zu reißen verſteht in feine 
eigene „Gottesverſtricktheit“, in feinen eigenen „Sehnſuchtstraum“, fold ein Führer zur Wahr- 
heit, Schönheit und edlen Menſchlichkeit iſt der raſtlos nach Vollendung ſtrebende Dichter Erwin 
Guido Kolbenbepyer. 

Der Künftler entſtammt einem alten deutſchen Geſchlecht, das zuletzt in heißumſtrittenen 
deutſchen Grenzlanden nachweisbar iſt und das ihm als Erbe hinterließ ein ſtarkes männlidy” 
deutſches Empfinden, frei von engſtirnigem Kantönlitum. Sein Urgroßvater war Fabrikant 
im öſterreich- ſchleſiſchen Bielitz, fein Großvater evangeliſcher Pfarrer zu Odenburg in Ungarn, 
ſein Vater endlich wirkte als hochbegabter Architekt zu Budapeſt, wo er die größeren Bauten 
des ungariſchen Unterrichtsminiſteriums auszuführen hatte. Dort ward Erwin Kolbenheyer 
am 30. Dezember 1878 geboren. Mit Recht aber nehmen ihn die Deutſchböhmen als ihren 
größten Dichter für ſich in Anſpruch, denn nach dem vorzeitigen Tode des Vaters zog die Mutter 
mit dem erſt zweijährigen Kinde in ihre böhmiſche Heimat, und Erwin Kolbenheyer ver- 
lebte feine Kindheit und Jugend zu Karlsbad und Eger. Auf der Univerfität Wien erwarb 
er ſich mit einer Arbeit aus der experimentellen Pſychologie die Würbe eines philoſophiſchen 
Doktors. Dann lebte er bis zum Weltkrieg als freier Schriftſteller in der öſterreichiſchen 
Hauptitadt. 1903 erſchien fein erſtes größeres Werk: die Tragödie der Renaiffance „Gior- 
dano Bruno“. Darauf aber widmete er ſich ganz dem Roman und geſchichtlichen und philo- 
ſophiſchen Studien. Nach dem Kriege, den er als Etappenoffizier mitmachte, ſiedelte er (1919) 

nach Tübingen über. 


340 Der Dichter Erwin Guido Roldenhepe 


„Ich habe mein Geſamtwerk,“ jo führte der Dichter kürzlich aus (Hannoverſcher Kurier, 
vem 1. Januar 1925), „nach drei Richtungen hin auszubauen. Die eine Richtung, welche Welt⸗ 
anſchauung, vor allem deutſche Weltanſchauung der Vergangenheit bringt, iſt fo ziemlich aus- 
gebaut. Sie greift von der Blütezeit Hollands (der E pin oza- Roman ‚Amor Dei‘) über die 
Zeit des Oreißigjährigen Krieges (Jakob Böhmes Gedankenwelt in ‚Meifter Joachim 
Pauſewang) zur Reformationszeit zurück (Par acelſus“ Trilogie) und wird ihren Abſchluß 
in einem Werke aus der Myſtikerzeit finden müͤſſen. In dieſer Folge von Dichtungen will ich 
das weltanſchauliche Erbe unſerer deutſchen Sinnesart neu beleben. Das Abſchlußwerk iſt 
noch nicht geſchrieben. — Die andere Richtung meines Geſamtplanes wendet ſich Teilproblemen 
der Gegenwart zu. Die Folge dieſer Dichtungen iſt noch weniger vollftändig (Montſalvaſch', 
„Ahalibama“, „Klein-Rega', ‚Drei Legenden). Ein Sammelband ‚Gedichte‘ gehört in 
dieſe Reihe. Er iſt faſt abgeſchloſſen ...“ Soeben iff ein Werk erſchienen, „das die dritte Seite 
meines Geſamtplanes vertreten wird: ‚Die Bauhütte, Elemente einer Metaphpſit der 
Gegenwart‘. Oeutſche Weltanſchauung der Vergangenheit und weltanſchauliche Gegenwarts- 
fragen in Einzeldarſtellungen können in dichteriſcher Form wirkſam vorgetragen werden, der 
Weg zu einer Metapbyſik aber, die Ziel und Richtung des geſamten Anpaſſungskampfes bezeid- 
net, in dem die weiße Menſchheit heute ſteht — dieſer Weg kann mit den Oarſtellungs mitteln 
der Poeſie nicht eröffnet werden, denn er weiſt in die Zukunft. Vorerſt müffen Elemente eines 
ſolchen zukünftigen metaphyſiſchen E yftems neu erſtellt fein. Wir beſitzen heute kein weltanfchau- 
liches E yſtem, das genügen könnte. Wir müffen weltanſchauliche Fundamente und Richtlinien 
erft wieder gewinnen. Dem foll die Bauhütte dienen.“ 

überſchaut man Kolbenheyers Dichtungen als Ganzes, fo erkennt man ſchon an der Über- 
ſchrift feiner Hauptwerke: Giordano Bruno, Paracelfus, Jakob Böhme, Spinoza, Montſalvaſch 
die Richtung feines küͤnſtleriſchen Strebens. Unabläͤſſig ſuchen ſeine Helden mit geiſtiger Leiden- 
ſchaft die Gralsburg der Erkenntnis und Wahrheit. Sle alle, fo verſchieden ihr äußeres Leben 
verlaufen iſt, ſtehen in naher geiftiger Berwandtſchaft zueinander. Giordano Brunos Lehre ift mit 
der des Paracelſus und Spinoza verwandt, Paracelſus hinwiederum hat Jakob Böhmen ufs 
ſtärlſte beeinflußt, und Ulrich Bihander, der Held des zeitgenöſſiſchen Studentenromans „Mont- 
ſalvaſch“, iſt durch Epinozas Pantheismus hindurchgegangen. „Vom Adlerſchrei des Gewiſſens 
geweckt“, ſind ſie alle ihren weiten einſamen Sehnſuchtsweg geſchritten, haben ſie mit heißem 
Herzen ihr Selbſt, ihre Aufgabe geſucht und erkannt, unbekümmert um Neſtbehagen und Schollen 
glück, jederzeit bereit, alles, auch das Leben, zu opfern für ihr Werk: „Wachſen, das iſt alles, 
Sott in uns, Gott der Welten und Hmmel. Nit Werden noch Vergehen, nit Rennen noch 
Ruhen, kein totes Spiel, das in ſich zurückkehrt! Wachſen — vom Yd) zum Selbſt und weiter 
über dein Selbſt hinaus! Das iſt Weltleben, nur das iſt Gott!“ („Meifter Pauſewang“.) „Was 
iſt das Leben eines, der unter Gottes Zeigefinger ſteht? Zeichen ſelber, Kreuz und der Gekreuzigte 
daran. An einem ſolchen wird das Werk, darin die andern plätſchern, zum Schickſal, das er 
mit dem Leben büßt.“ („ Paracelſus“, III. Teil.) Reines Gewiſſens nehmen fie den Kampf 
auf gegen die Vielzuvielen, gegen eine in toten Formen aufgeblähte Gelehrſamkeit, gegen die 
Wortſchlemmerei der Scholaſtik, bis fie gelernt haben, alles Weltgeſchehen zu beurteilen unter 
dem Geſichtewinkel der Ewigkeit, bis ſie die Einheit alles Seins entdeckt, bis ſie Ruhe gefunden 
haben in der Gewißheit: , Gott iſt überall, in Höhen und in Tiefen, im Kleinſten und 
im Größten — die ganze Welt ein gewaltiger Leib, von Gottes Fülle durchflutet ... Urewig- 
teitegefang aus allen Weſen! Steigen und Fallen, Werden und Schwinden nur die Melodie 
des endloren, unſtörbaren Welteinklangs ... Wir gleichen der Knotung zahlloſer Fäden, die 
von Ewigkeit her einander durchdringen und umſchlingen und nach gleichen Geſetzen in der 
Zeit das Bild formen.“ („Amor Dei“.) Die ernſte Gregartigteit folder Weltauffaſſung wird 
auch der willig zugeſtehen müffen, der des Lebens Ratfel im Sinne des Heilandes zu löfen 
trachtet. 


Der Didter Erwin Guldo Rolbenbeyer 341 


Am eindrucksvollſten hat Kolbenheyer einen ſolchen von Unfrieden und Sehnſucht ſich ver- 

zehtenden ruheloſen und gehetzten und doch durch ſeinen Glauben an ſein Werk gefeſtigten und 
zuletzt beſeligten Menſchen verkörpert in dem Helden ſeiner gewaltigen dreiteiligen Dichtung 
Paracelſus“ („Die Kindheit des Paracelſus“ (1917), „Das Geſtirn des Paracelſus“ 
(1922), „Das dritte Reich des Paracelſus“ (1926). Den Marterweg dieſes Lebens, wie 
es dem Weiſen bei der unerwarteten Berufung an die Vajeler Hochſchule blitzartig-ſchmerzvoll 
an den Augen vorbeizieht, hat der Dichter mit den Worten geſchildert: „Sein verhehlter Schmerz, 
ſein bitterer Trotz loderten auf, ein kaum bezwingbares Schamgefühl überkam ihn: Montpellier, 
Paris, Dangig, Wilna, Wien, Tübingen, Freiburg — überall hohmütige, höhniſche Geſichter 
unter den Baretten, und überall neiderfüllte, haßkalte Blicke. Und fein Herz vor Verlangen 
berſtend, ihnen mitzuteilen, was den Geiſt in Überlaft der Eckenntniſſe, Geſichte und Er- 
fahrung bedrängte. Er war bettelnd von Stadt zu Stadt gewandert, daß fie ihn hörten und 
in der Kunſt vom alten Wahne ließen. Er war überall geächtet worden und ſtets im Wett- 
uuf der Zungen unterlegen. Nichts galt der Ruhm, den er von Krankenbetten holte, fie glaubten 
ihm nicht — hätte er Tote erweckt, die glaubten ihm nicht, weil ſie nicht ſehen wollten. Und 
Was ſich zu ihm hielt, das ſuchte ihn um Handgriffe zu belauern.“ Erſt am Ausklang jeiner 
langen Lebens fahrt überkommt ihn heiliges Eckennen, daß er, der Anfang war einer neuen Kunſt, 
als Knecht des ſchaffenden Gottes ſtändige Verkennung dulden mußte und daß dieſe Anfechtung 
notwendig war zur reſtloſen Entfaltung feines Innenlebens. Auf dem eingeſunkenen Grabhügel 
ſeines treuen Vaters zieht endlich heiliger Frieden in ſein ſturmerfahrenes Herz: „Da fühlte 
Theophraſt von Hohenheim, daß feines Lebens Weg, den er ſtets ſehnſuchtsvoll vor ſich geſehen 
hatte, von einer ſanften Hand in feine eigene Bruſt zurüdgeleitet wurde. Er, der des Wegs 
gelebt, der ſich Monarcha, das iſt ein Anfang und kein Ziel, genannt hatte, wußte nun, daß 
er auch End und Ziel geweſen fei, Biel aller feines Stammes, deren Element und Stern zerfallen 
wf, ihrer aller letztes, äußerſtes Leben auf Erden.“ Und ein Wort des Herrn zieht ihm bei 
dieſer Lebensrüdichau durch den Sinn: „Der Fuchs hat fein’ Gruben, der Vogel hat fein Neſt, 
des Menſchenſohn hat nicht, wo er fein Haupt hinlege .. .“ 
Wie hellſichtig und genial der Dichter das Leben und die Bedeutung diefes großen Vorläufers 
der modernen Medizin, Arzneilehre, Mineralogie, Chemie und Naturphiloſophie gedeutet und 
geftaltet hat, das zeigt ein vergleichender Einblick in das glänzend geſchriebene Werk von Annie 
Francé-Harrat „Die Tragödie des Paracelſus“. Es erſcheint uns heute möglich, ja wahr- 
| ſcheinlich, daß die Geſtalt vom Dr. Fauft nichts anderes iſt als eine Zuſammenfaſſung von all 
dem, was Sage und Überlieferung aus dem als Schwarzkuͤnſtler und Schwindler verſchrienen 
Paracelſus gemacht haben. 

Fauſtiſcher Erkenntnis trieb lebt auch in dem Helden des faſt überreih mit Gedanken befrad- 
teten ſtudentiſchen Entwicklungsromans „Montſalvaſch“, einer überaus feſſelnden Erzählung 
aus dem Wien der Vorkriegszeit. Der Student der Philoſophie Ulrich Vihander, der rein 
und unerfahren wie Parzival die Burg des Lebens fucht, gelangt vom Wort zum Wiſſen, 
„über die Perjon zur Perſönlichteit, über das ſelbſtbewußte Ich zur ſelbſtfühlenden Sehnſucht“. 

urch ein ſchweres Liebesabenteuer, das ihn zeitweilig ſeiner Aufgabe zu entziehen droht, 
wird fein Streben nach der Gralsburg noch vertieft, wird ihm die Gewißheit: „Die Begriffe, 
nach denen ein Menſch lebt, vulgät oder nicht, find traurige Stützen. Sie gertniden unter der 

ungewöhnlichen Lebenslage. Nichts Armſeligeres als ein Leben auf Begriffen. Das 
. Immer und überall bleibt nur das Herz. Wer ein Herz verachtet, iſt verwirrt oder 
n.“ 

Man ertennt ſchon aus dieſen Andeutungen, daß es in allen Dichtungen Kolbenheyers um 
a Fragen, böchſte Werte geht, und fo find feine Romane kein leichter Leſeſtoff, ſondern 
ungen ein williges Mitgehen und Mitarbeiten mit dem Künſtler. Dafür winkt aber auch 

eicher Sewinn. Dieſer gedankenſtarke Dichter beſchenkt uns mit ſolcher Fülle prachtvoller. 


342 Der Dichter Erwin Guido Ratderiheyer 


kräftiger Lebensweisheit, daß man unſchwer mit Kernſprüchen feiner Dichtungen ein feines 
Büchlein füllen könnte, gewiſſermaßen ein Gegenſtück zur Raaben Weisheit von Wolzogen, 
wie denn Kolbenheyer in mehr als einer Hinſicht an dieſen Meiſter gemahnt. Wie dieſer liebt 
er kraftvolle, herbe, beſinnliche deutſche Männer, liebe, lebenstapfere Frauen, kühne, fternen- 
zugewandte Jünglinge, keuſche, liebliche Mädchen, iſt er tief eingedrungen in des deutſchen 
Volkes Seele, umfaßt er in inbrünftiger Liebe und mit verſtehender Güte alle Tugenden und 
Fehler feiner Deutſchen. Beſonders der „Meiſter Joachim Pauſewang iſt ſolch ein ſtilles, 
feines, beſinnliches Werk, köſtlicher Erkenntniſſe voll. 

Auch an den wunderlichen Käuzen der Schuſterzunft auf der Breslauer Rauffergaſſen hätte 
Wilh. Raabe fein herzliches Vergnügen gehabt. Er hätte ſich aber ebenſo ergößt an dem ſtarken, 
eigenwilligen Vater Pätzke Pauſewang, dem hoheitsvollen Wirte und Laienprediger von Exlau, 
den die Sehnſucht nach Freiheit verzehrt, bis er fein letztes Faß mit feinen Gäften ausgetrunken 
und damit ſein Erbgut verzehrt hat und nun als Landsknecht vor Paris ziehen kann, wo des 
Heißblütigen Herzblut verſtrömt. Ganz Raabefd empfunden und geſchaut iſt auch der alte im 
Ruheſtande lebende Finanzrat in „Montſalvaſch“, ein menſchenverachtender Philoſoph, der 
jein feines und reines Herz, das er mit ſtachligen Worten fist, nur offenbart und ausftrömen 
läßt in der Muſik. 

Humordurchſonnt, dabei im tiefſten Grunde tragiſch, iſt im Novellenbande „Ahalibama“ 
die ſeeliſch feine Erzählung, die dem Werke den Titel gab. In den drei Novellen handelt es 
ſich aufs neue um die Frage: Wie gelangt der Menſch in die Welt ſeines innerſten Eigentums? 
Wieder iſt's ein philoſophierender Schuſter, dem der Name von Eſaus Weib, „Ahalibama“, 
den Zugang eröffnet zu der Erkenntnis, daß alle Lebensäußerungen der Menſchen nichts find 
wie Übertreibungen — und dabei ahnt der Gute nicht, daß er ſelbſt das Opfer ſtärkſter Über- 
treibung wird! (,Abalibama, welch ein Ungetüm an Übertreibung! Was für eine Orgie an 
Konſonanten und Vokalen! Was für ein Kerl muß Eſau geweſen fein, wenn er ſolch eine un- 
erhörte Übertreibung ehelichen konnte, ohne daran zugrunde zu gehen.) 

Die ſtarke Begabung Kolbenheyers für zeitgenöſſiſche Satire beweiſt die köſtliche Legende 
vom „Klaas J, dem großen Neutralen“ (in den „Drei Legenden“), der, ein zweiter 
Ehidder, wieder einmal die Welt beſucht, um der Frage nachzuſpüren: Was die Menſchen 
unter Glüd verſtänden. Dabei hat er ſich dieſes Mal Deutſchland nach dem Weltkrieg ausgeſucht 
und erlebt nun ſcharfen Blickes den Wahnwitz der Schieber - und Valutazeit mit, er findet 
aber auch inmitten aller Raffgier einen ſchlichten Künſtler, der in der Schöpfung eines reinen 
Werkes fein Glück findet und der fein entbehrungsſtarkes Weib an ſeiner hohen Stunde teil- 
haben läßt. 

Am ſchönſten erſchließt ſich einem das Herz des Dichters, wenn man feine mit feinſter Be- 
obachtungsgabe, keuſchem Einfühlungspermögen, ehrfurchtsvollem Staunen und liebevoller 
Schalkheit gezeichneten Kinderbildniſſe betrachtet. Schon „Amor Dei“, noch mehr die rei- 
zende Studie „Klein-Rega“ und „Meiſter Pauſewang“ bieten Beiſpiele hierfür, am koöſt⸗ 
lichſten aber iſt die Entfaltung der „ſchwebenden Keime des Menſchentums“ in dem ein- 
ſamen, eigenwilligen, gefühlsreifen und ſcharf ſchauenden kleinen Paracelſus zur Anſchauung 
gebracht. 

Alle ſeine Geſtalten aber hat der Oichter hineingeſtellt in ſtarkes geſchichtliches Geſchehen, 
in große Kulturbilder, die packend geſchaut und geſtaltet ſind. Dabei kommt ihm zu Hilfe eine 
ungewöhnlich ſichere Beherrſchung aller geſchichtlichen und kulturgeſchichtlichen Quellen, ſelbſt 
auf recht entfernten Gebieten, wie der Alchimie und mittelalterlichen Medizin, und dieſe Quellen 
find ihm nicht Prunkſtück, Zierat, Selbſtzweck, ſondern Mittel zur Belebung künſtleriſcher Kraft, 
Eigenart und Anſchaulichkeit. So feſſelt ſelbſt das beſcheidene, zurüdgezogene Gelehrtenleben 
Spinozas, das doch nur in ſeinem Ourchringen zur geiſtigen Unabhängigkeit, in ſeinem Streite 
mit feiner Familie und feinen Raſſegenoſſen der Dramatik nicht entbehrt, indem wir das reiche, 


Ser Dichter Erwin Guido foldenheper 343 


meerbeherrſchende Holland mit feinen fiirftliden Kaufherren, feinen feinen Gelehrten und 
Kimftlern (Rembrandt) und feinen behäbigen Bauern kennen lernen und Einblick gewinnen 
in die äußeren Kämpfe um die Vorherrſchaft mit England und Frankreich, in die inneren Streitig 
keiten zwiſchen Oraniern und Republikanern (Jan de Witt), Orthodoxen und Freigeiſtern. 
Beſonders eingehend und farbenfroh iſt das eigentümliche Ghetto von Amſterdam geſchildert. 
Sicherlich iſt es dem Dichter hier wie im erſten Teile der Paracelſustrilogie nicht immer geglückt, 
das Kulturgeſchichtliche in Einklang zu bringen und zu beziehen auf ſeinen Helden, gar oft 
erſcheint die Verbindung loſe und äußerlich. Am beſten iſt ſolche Forderung erfüllt im „Meiſter 
Pauſewang“, in „Montſalvaſch“ und in den andern Teilen vom „Paracelſus“. Der „Meiſter 
goachim Pauſewang“ bietet anziehende Bilder von einem geſuchten Gaſthofe an der „Hohen 
Landſtraße“ (Leipzig Breslau) als Mittelpunkt eines armen, vom Grundherren mißhandelten 
Dorfes und vom Leben und Treiben im belagerten Breslau während des Dreißigjährigen 
Krieges. Im „Montſalvaſch“ ward der Gegenſatz der unheimlich haftenden, geiſtig regen Millionen; 
ſtadt und den ſtilleren erinnerungsreichen Vorſtädten (Heiligenftadt!) wirkſam und lebensvoll 
geſchaut. Sanz überreih an Abwechſlungsfülle aber iſt die Paracelſusdichtung. Das ruheloſe 
Banderleben des Weiſen bringt es mit ſich, daß immer neue Landſchaften, Menſchen und 
Begebenheiten auftauchen, jo daß wir ein vielfarbiges, kräftiges Riefengemälde dieſer regen 
und erregten Zeit in unvergeßlich packender Geſtaltung empfangen. 

Man hat die Darftellungstunft von Kolbenheyer naturaliſtiſch genannt, das iſt aber nicht 
richtig. Sewiß beſitzt der Dichter eine ſcharfe Beobachtungsgabe, die nichts beſchönigt oder 
verhüllt, aber zugleich ſpürt man doch überall den Drang und das Vermögen, die Ereigniffe 
zu ſchauen von einer höheren Warte, fie zu erheben ins Allgemeine, Symboliſche, fie einzu- 
ordnen ins ewige Weltgeſchehen mit der ruhigen Abgeklärtheit und Gelaſſenheit reifer Kuͤnſtler⸗ 
ſchaft. 

Die Sprache aber ift ihm in feinen letzten großen Werken („Meiſter Pauſewanig“, „Para- 
celfus“) Ausdrucksmittel höchſter Art, bald knapp, karg, klar, gedrungen und urwüchſig, fo daß 
man an Oürers Holzſchnitzkunſt, an Böhles Realiſtik oder Hodlers ans Übermenſchliche ge- 
ſteigerte Wildheit gemahnt wird, bald weich und reich, fließend und farbenfroh, beſinnlich und 
behaglich, immer aber klanglich und rhythmiſch abgewogen, fo daß ihr voller Reiz erſt beim 
lauten Vorleſen wirkſam wird. Während ber „Meifter Pauſewang“ ganz in der altertümlichen 
Sprache des Dreißigjährigen Krieges erzählt, find die eingeftreuten Reden der „Paracelfus- 
dichtung“ in den Mundarten der Reformationszeit geſchrieben. Aber der Dichter iſt der großen 
Gefahr der Kuͤnſtelei entgangen, indem er dieſe Sprachen wirklich beherrſcht, oft fo meiſtervoll 
wie ein Luther, ein Grimmelshauſen und ein Jakob Böhme, dann aber auch, weil ihm das 
Zuſammenklingen von Form und Gehalt, Wort und Handlung tatſächlich gelungen iſt, fo daß 
wir dieſes Kunſtmittel bald als einzig paſſendes, reizvolles Gewand empfinden. Freilich wird 
dadurch der Zugang zu Kolbenheyers Werk aufs neue erſchwert — aber vielleicht iſt es gut, 
daß oberflächliche Leſer abgeſchreckt werden, ein Heiligtum zu betreten, in dem ſich eine große 
Küͤnſtlerſeele hüllenlos offenbart. 

Es iſt erfreulich, daß gerade ein Teil unſerer reifſten Jugendbewegung in ein enges Verhältnis 
zu dieſem ſtark männlichen, frommen und tiefen Oichter getreten iſt; ſie hat ſich damit einen 
techten Führer zum wahren Oeutſchtum erwählt, auf den man die Worte anwenden könnte, 
die der Dichter feinem Meiſter Pauſewang im Hinblick auf Jakob Böhme in den Mund legt: 
Es iſt doch der deutſch Großmeiſter von der himmelstiefen Beſinnlichkeit, wurzelſtändig im 
Eigentum und voll hoher Träum'.“ 

(Die meiſten Romane erſchienen bei Georg Müller in München, „Klein- Rega“ ift in der Samm- 
lung „Der Schatzgräber“ (Nr. 92), die „Drei Legenden“ als Volksbuch der Deutſchen Oichter⸗ 
Sedachtnisſtiftung (Nr. 49) herausgekommen. Die Tragödie „Giordano Bruno“ (Wien, W. Stern 
1903) ift ſeit Jahren vergriffen. „Die Bauhütte“ brachte Albert Langen, München, heraus. 


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544 Briefe, Erinnerungen und Ledensdlider 


Der Jugendbewegung ijt ein Auswahlbändchen aus Kolbenheyers Dichtungen gewidmet: 
„Ein Gruß vom Wege — Eurem Weg“, im Greifenverlag Rudolſtadt, 1925. Endlich fei 
auf des Dichters ausgezeichnete Überarbeitung von Grimmelshauſens „Simpliziſſimus“, 
Volks verlag der Bücherfreunde 1920, hingewieſen.) Dr. Martin Treblin 


Briefe, Erinnerungen und Lebensbilder 


oviel man im Zuſammenhang mit der allgemeinen Wirtſchaftslage von der Not auch 

des deutſchen Buches hört und weiß — die Fülle der Neuerſcheinungen an Briefen und 
Dentwirdigteiten läßt nicht erkennen, daß in dieſem Bereich das Vertrauen auf die Aufnahme- 
und Raufwilligteit des Publikums geringer eingeſchätzt würde. Aus faſt allen Rulturgebieten, 
aus Literatur und Runſt „Wiſſenſchaft und Politik liegt eine faſt unüberfehbare Menge ſolcher 
unmittelbaren Lebensurkunden vor, und wer über fie berichten will, hat Mühe, ſchon dem wirk- 
lich Wertvollen gerecht zu werden. 

Weit hinaus über den Kreis der zünftigen Geſchichtsforſcher verdient das Werk Aufmerkſam- 
keit, das Guſtav Berthold Volz, der Herausgeber der politiſchen Rorrefpondenz Friedrichs des 
Sroßen, unter dem Titel „Friedrich der Große und Wilhelmine von Bayreuth, 
Zugendbriefe 1728 — 1740“ (Verlag K. F. Koehler, Leipzig) der Öffentlichkeit übergab. Aus den 
vielen Hunderten von Briefen des geſchwiſterlichen Schriftwechſels wird zum erſtenmal eine 
einigermaßen erſchöpfende Ausleſe geboten, die F. R. von Oppeln Bronikowski in gutes Deutfch 
übertragen hat. Sowohl für die Jugend Friedrichs, für die bekanntlich die Quellen fpärlich 
fließen, als für die Geſchichte der Markgräfin, deren vielberufene „Oenkwürdigleiten“ längſt als 
Zeugniſſe von zweifelhafter Zuverläſſigkeit erkannt find, iſt die Sammlung von hoher Wichtig 
keit. Das Drama zwiſchen Vater und Sohn, neuerdings fo häufig auch dichteriſch behandelt, 
wird in feiner ſchroffen Entwicklung lebendig. Neben der Rüftriner Kriſe tritt die der Jahre 
1734/35 in ein neues, bedeutſames Licht. Ich laſſe dahingeſtellt, ob die von Volz vertretene An- 
ſicht, daß dieſe zweite Rrife, die Zeit der ſchweren Erkrankung und Wiedergeneſung des Vaters, 
dle noch gewichtigere war, den ungeteilten Beifall der Hiftoriter finden kann. Jedenfalls tritt aus 
den Briefen jener Jahre der klaffende Gegenſatz zwiſchen dem wildwüchſigen Knorren Friedrich 
Wilhelm I. und dem Kronprinzen, der ſich vom Vater „wie die Sünde“ gehaßt weiß, zum zweiten; 
mal mit erſchreckender Härte hervor. „Meine Feinde verbünden ſich jetzt mehr denn je gegen 
mich“, lefen wir in einem Brief vom 18. November 1734, „fo daß ich mich, wenn das ſchickſals- 
volle Ereignis nicht eintritt, auf die ſchlimmſte Zukunft gefaßt machen kann.“ Als das ſchickſals- 
volle Ereignis ausbleibt, ſchreibt Friedrich nicht ohne Bitterkeit: „Du kannſt es mir glauben, liebſte 
Schweſter, er hat Gott ſei Dank eine Bärennatur und wird das künftige Geſchlecht überleben“ 
und weiter unten im felben Brief: „Allerſeits von der Welt angewidert, überlaffe ich mich der 
ftillen Betrachtung. Sie zeigt mir mehr und mehr, daß es hienieden kein dauerndes und beitän- 
diges Glüd gibt“... Friedrich taucht feine wunde Seele in das ſtählerne Bad der Philofophie ; 
die erneute Prüfung ſteigert ihn der endgültigen Reife zu. Die Rheinsberger Zeit beginnt. Bis 
zum Tod des Vaters endet zwar das „Fegefeuer“ nicht, aus dem der Sohn ſich „nach Erlöſung“ 
ſehnt; er bleibt der „Prügelknabe“ des väterlichen Zorns und bäumt ſich wohl auf: „Sicherlich 
haben die Soliman, Feodorowitſch und Caligula nicht zu klagen, daß ihr Geſchlecht ausſtirbt“ .. 
aber der Stoiker in ihm behält den Sieg: „Für Unvermeidliches gibt es keine Abhilfe. Das beſte 
iſt, ſich darein zu fügen und das Unabdnderlide hinzunehmen.“ — Die Liebe der Geſchwiſter 
findet durch alle Wandlungen ihrer Perfönlichkeit in ihrem Schriftwechſel eine reiche Spiegelung; 
er berichtigt das fait gebäſſige Bild, das Wilbelmine unter dem Eindruck des Zerwüuͤrfniſſes der 


m. DaB — — 


Beiefe, Erinnerungen und Lebensbilder 345 


fpäteren Jahre in den , Oentwiirdigteiten* von ihrem Bruder entwarf — jenes Serwiirfniffes, 
das in den Jahren 1742 bis 1744 ſich mehr und mehr vertiefte, bis 1747 mit dem Beſuch der 
Markgräfin in Berlin die Verſöhnung und die Erneuerung des innigen geſchwiſterlichen Bundes 
eintrat. 

„Deshalb find Briefe fo viel wert, weil fie uns das Unmittelbare des Dafeins aufbewahren“ — 
mit Recht ftelit John Ries dies Goethewort vor die „Briefe der Elife von Türkheim“, die 
er, unter Mitarbeit von Ernſt Marckwald und, ſoweit nötig, in der Verdeutſchung von Richard 
Dofe, im Auftrage des Wiſſenſchaftlichen Inſtituts der Elſaß- Lothringer im Reich (Verlag 
Englert & Schloſſer, Frankfurt a. M.) herausgegeben hat. Der ſtattliche Band, der alle bisher 
aufgefundenen Briefe in teilweiſe gebotener Kürzung vereinigt, wird diejenigen enttäuſchen, 
die in ihm neue Aufſchluͤſſe über Goethes Verhältnis zu feiner Lili ſuchen; wohl aber iſt er ganz 
dazu angetan, die reife Frau, die Gattin Bernhard Friedrichs v. Tuüͤrckheim und Mutter von fünf 
Söhnen, kennen zu lehren und aus ihrem Bild Beſtätigung für das Urteil Otto Heuers zu geben: 
„Gewiß trägt die Geftalt, die uns aus dieſen Briefen entgegentritt, andere Züge, als die des froh 
in die Welt hinausblickenden jungen Mädchens, das Goethe liebte. Aber eine edle Pflanze er- 
waͤchſt nur aus gutem, gefunden Keim, und in der Blüte kündigt ſich ſchon die reife Frucht an. 
Gereift iſt Life v. Tardheim durch Leben und Leiden, aber Lili Schönemann war ihr wefens- 
gleich.“ Wenn auch die ernſte Goethe forſchung lange ſchon davon abgekommen iſt, die Gründe 
für die Löſung des Verlöbniſſes in der Oberflächlichkeit und Vergnügungsſucht der Sechzehn; 
jährigen, ftatt im Weſen Goethes und feiner naturgebotenen Entwicklung, ſowie im Ui terſchied 
geſellſchaftlicher Verhältniſſe zu ſuchen: das Bild der eitlen und koketten „niedlichen Blondine“, 
die dem Genie des Dichters nicht genügen konnte, ſpukt noch immer in den Köpfen. Neben dem 
jo anders lautenden Zeugnis des ſpäteren Goethe bietet das ſchlichte Denkmal, das fic die treue, 
bodfinnige und warmherzig vornehme Frau im Schriftverkehr mit ihrer Familie und Männern 
wie Lavater und F. 9. Redslob geſetzt hat, die willkommenſte Berichtigung. — Die Briefe der 
Elife v. Türtheim umſpannen die Jahre von 1785 bis 1816; den Zeitraum von 1794 bis 1820 
umfaßt ein anderes Lebensbild mit noch geprägterer Eigenart. Unter dem Titel „Voſſiſche 
Hausidylle. Briefe von Erneſtine Voß an Heinrich Chriſtian und Sara Boie“ (Rarl Schüne- 
mann Verlag, Bremen) bringt es Ludwig Bäte ans Licht. Die wackere Frau des Homerüber- 
ſetzers und Joyllikers iſt den Literaturfreunden ſchon durch ihre „Mitteilungen (Aus dem Leben 
von 3. H. Voß)“ wert geworden. Die Briefe, die an den Bruder und ſpaͤter an deſſen zweite 
Frau gerichtet find, zeigen Erneftine fo, wie ſchon Raroline Herder fie ſah: „Eine treffliche Frau 
von einer feften und liebenden Seele zugleich, eine Heldin, die für Mann und Rinder alles unter- 
nehmen und alles tragen kann.“ Der Vater Voß in feiner niederſächſiſchen Bauerngeradheit er- 
greift nur felten zu einer flüchtigen Nachſchrift das Wort. Ob es „Die Welt um Klopſtock“ in 
Eutin iſt, ob das Leben in Jena, im Schatten der Weimarer Großen oder in Heidelberg „Neben 
den Gärten der Romantik“ — es bleibt dieſelbe idylliſche Kleinwelt, in der wir bei Voſſens at- 
men — etwas eng, etwas ſpießbuͤrgerlich, aber in ihrer Stuben und Hausgartenluft voll Ur- 
vaͤterbehaglichkeit und gemütvoller Wärme. Beſſer als jede Beſchreibung wird fie durch ein paar 
herausgehobene Briefſtellen anſchaulich. Da heißt es am 15. Februar 1800 (aus Eutin): „Geſtern 
hat Voß die allerliebſte kleine Ode an die Sina Roſe gemacht. Du wirſt dich wohl freuen, daß 
wir den Winter fo fdhine Blumen haben. Noch keinen Winter iſt es uns fo gut geworden. Die 
Blumen müffen Ahndung haben, daß Voß fie brauchen kann. Erſtlich haben wir einen Sirenen- 
buſch mit einem großen Strauß, das war eine Freude. Dann kam ein Topf Maililien, der nun 
ſchon in die fünfte Woche blüht. Zu meinem Geburtstag kam ganz unbemerkt die wohlriechende 
kleine Tulpe. Und nun ſteht auf Voß feiner Stube, neben der kleinen Sina-Roſe ein großer 
Rofenbufd mit ſieben Knoſpen! und unten in meiner Stube ſchöne Hyazinten ..“ „Nach- 
mittags beim Tee lieſt Voß mir aus deutſchen Dichtern vor. Klopſtocks Oden hatten wir guerft, 
die machten uns aber oft unwillig. Dann nahmen wir Raniler, Bürger, Kleiſt vor, die uns viel 

Der Zünnes XXVIN, 4 23 


346 Briefe, Erinnerungen unb Ledensbilbe 


Freude gegeben haben. Abends nach Tiſch nutzen wir die Sider aus der Leſe-Geſellſchaft, wenn 
wir ſonſt nichts haben; dieſe Woche hatten wir eine angenehme Reife nach China. Morgens beim 
Kaffee plaudern wir.“ Aus Jena unterm 15. Zuli 1803 wird im Glück über zwei neue, brauchbare 
Mägde, „die mit der Rage ein ſchönes Kleeblatt ausmachen“, gemeldet: „Nun kann ich ihn mehr 
pflegen ... und kann ihm immer ein heiteres Geſicht zeigen, wenn ich, nicht mehr rot von der 
Glut, eine mühſam und oft mit Arger bereitete Schüſſel auf den Tiſch bringe. Heute abend 
bringe ich ihm: Zuckererbſen in Schoten und junge gebratene Küͤchlein! und kann hier wie eine 
Dame am Schreibe pult ſitzen“, und am 5. Dezember des gleichen Jahres: „Goethe iſt jetzt oft in 
Jena und ſehr heiter. Zetzt ſitzt er gerade mit Voß am Tiſch, und fie leſen Horaz. Goethe iſt ein 
gar angenehmer Menſch, er hat foviel frohe Laune und legt in unſerer Wohnſtube alle feine Steif- 
heit mit dem Mantel ab, in den er immer eingehüllt ins Zimmer tritt. Auch Schiller war neulich 
einige Tage ohne feine Frau in Jena, und einen Mittag und Abend bei uns. Mit dem fühlt man 
ſich aber viel herzlicher und wohler, ganz fo, als ob er einem angehört. Sie iſt mir auch ſehr lieb ... 
Und über den Zahnarzt, der von Weimar kommen ſollte, bin ich gar mit ihr in Briefwechſel ge- 
raten“... In Heidelberg, wo Voß die einundzwanzig letzten Zahre feines Lebens verbrachte, 
herrſchte, wie ein gleichgeſtimmter Zeitgenoſſe es nennt, die „Schmach der Görres-Brentano- 
Arnimſchen romantiſchen Wut“. Nur zu begreiflich, daß Voß, der die ihm fo ſchmerzlichen Erfah- 
rungen mit Fritz Stolberg wie eine immer neu aufbrechende Wunde mit ſich trug, ſich mit ſeinem 
begrenzten Rationalismus gegen den unbegreiflichen Geiſt der jungen romantiſchen Generation 
ingrimmig auflehnte. — Den vollen Abſtand zweier Zeitalter ermißt man, wenn man neben 
der „Voſſiſchen Hausidylle“ zu „Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren 
Briefen“ greift (Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G., Gotha-Stuttgart). Heinrich Meisner, 
dem die ſchöne dreibändige Ausgabe der Schleiermacher Briefe zu danken iſt, hat fie nach den 
Originalen herausgegeben. Nach der hausbackenen Behaglichkeit und rechtſchaffenen Dernünf- 
tigkeit dort — wie anders hier die bewegliche, überfeinerte Geiſtigkeit, die bis zur Selbftbefpiege- 
lung gefteigerte Gefühlskraft, die ſtimmungsmäßige Verſenkung in die Natur! Qiefer Alexander 
Marwitz, gleich ſeinem Nachfahren Bernhard, über den im Dezemberheft 1924 des „Türmers“ 
berichtet wurde, ein Frühvollendeter, ſchon in der äußeren Erſcheinung eine glänzende Edel 
mannsgeftalt, ift Vollblut- Romantiker: „Wäre der Wille, ftatt ſich in einzelnen Phaſen zu ver- 
lieren, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet geweſen, hätte er den Weg verfolgt, den ihm Geburt, 
Bildung und Gelegenheit bot, ſo wäre er vielleicht ein Staatsmann geworden von der Art eines 
Humboldt oder Niebuhr. So aber verlor er ſich in dem Beſtreben, immer mehr werden zu wollen, 
und blieb .. . ein zwiſchen klaſſiſcher Bildung, feurigem Patriotismus und ſuchender Menfchen- 
liebe hin und her geworfener Mann.“ Zn Rahel Levin, der feinſpürigen, genialen Anempfin- 
derin und Geſelligkeitskünſtlerin, findet der anfangs der Zwanziger Stehende „wohl jetzt das 
größte Weib auf Erden“. Die faſt hundert Briefe, die er und die zu Beginn der Freundſchaft 
ſchon 38jährige, mit Varnhagen fo gut wie verlobte Rahel im Zeitraum von wenigen Jahren 
wechſeln, find für die Pſychologie der Romantik und die Eigenart ihrer Seelenbündniſſe be- 
ſonders kennzeichnend; die Marwitzſchen find nach Stil und Inhalt gerundeter, erſchöpfen gründ- 
licher den Gegenſtand — fei es im Urteil Aber Menſchen oder in der Schilderung der Natur; 
Rahel, die vielbefreundete und vielbeanſpruchte, iſt in der Form flüchtiger, launiſcher, voll geift- 
reicher Einfälle, Phantaſie und ſenſibler Stimmungen. Beide treffen ſich in einer überlegenen 
Offenheit des Geſtändniſſes, ob es ſich um Marwitz' Leidenſchaft für die junge Henriette Schleier 
macher oder um Rahels früheren Verlobten, Raphael d Urquicho und den ſpaͤteren Gatten Barn- 
hagen handelt. Und doch iſt überall, bei ihm wie bei ihr, zugleich ſchon der bewußte, literariſche 
Briefſchreiber am Werk, und man tut gut daran, Rabels ſpãteres Wort ſich gegenwärtig zu halten: 
„Wir find eigentlich, wie wir fein mochten, und nicht fo, wie wir find.“ — Die vielſeitigen Strö⸗ 
mungen und Strebungen, die wir gewohnt find, unter den Namen Klaſſizismus und Romantik 
zu begreifen, fanden einen geſchäftlichen und geiſtigen Mittelpunkt in der Perſon des damals 


Briefe, Erinnerungen und Lebensblider 347 


beherrſchenden Derlagsbudhdndlers Johann Friedrich Cotta. Es iſt freudig zu begrüßen, daß 
der Cottaſche Verlag ſich entſchloſſen hat, ſein ſo reiches Archiv aufzuſchließen und von Maria 
Fehling die „Briefe an Cotta“ herausgeben zu laſſen, die in ihrem erſten, jetzt vorliegenden 
Band, das Zeitalter Goethes und Napoleons (1794—1815) umfaſſen (J. ©. Cottaſche Buch- 
handlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin). Die erleſenſten Geiſter unferer dichteriſchen Ver- 
gangenheit geben ſich in dieſem Buch ein Stelldichein. Neben Schiller und Goethe, Wieland 
Hölderlin und Kleiſt, neben Voß und Seume der romantiſche Kreis der Gebrüder Schlegel, 
Tieck und Zacharias Werner, Oehlenſchläger und Jean Paul; die Philoſophen Lichtenberg, 
Fichte, Schelling; das politiſche Zeitbild in Männern wie Poſſelt, Sulzer, Reinhard, Bsttiger, 
Oelsner und vielen andern. Außer den Briefen Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleiſts iſt 
damit ein bisher unbekannter Schatz ans Licht gehoben, der nicht nur dem Forſcher Ausbeute, 
fondern jedem Gebildeten Anregung in Fille bietet. Inmitten der langen und ſtolzen Reihe 
feiner Rorrefpondenten ſteht Cotta — mehr als ein füͤrſtlicher Raufmann: ein treuer Freund, 
Berater, Helfer, ein hochgerichteter, weitſchauender Menſch 

Naher an die Gegenwart führt Ernſt Hartung mit dem Buch „Gottfried Keller“, das, in die 
Reihe der bekannten „Bücher der Roſe“ geſtellt, Briefe und Gedichte des großen Schweizers 
mit lebensgeſchichtlichen Verbindungen zuſammenfaßt (Wilhelm Langewieſche Brandt, Eben- 
haufen bei München) und wohl geeignet iſt, das Leben und Schaffen Rellers vielen in neuer 
Friſche nahezubringen. — Ein Lebendiger, der über fein Leben ſich und uns erzählend Rechen- 
ſchaft gibt, iſt Heinrich Vierordt, der eben fein ſiebzigſtes Lebensjahr angetreten hat. „Das 
Buch meines Lebens“ heißt er feine Erinnerungen (Türmerverlag Greiner & Pfeiffer, 
Stuttgart), und wer ihn bisher nur als Lyriker und kernigen Spruchdichter kannte, wird es nach 
dem Leſen dieſes Buches bedauern, daß Vierordt nicht auch und erſt recht den Erzähler in ſich 
ausgebildet hat. Die Stätten feiner Knaben jahre, Rarlsruhe, Raftatt, Freiburg, Konſtanz und 
Vertheim erſtehen in fatten Bildern; über die Studienzeit in Heidelberg, Leipzig, Berlin geht 
die Wanderfahrt durch halb Europa, um wieder im heimiſchen Rarlsrube zu enden. Vierordt ift 
Meiſter im ſcharfgeſchauten Nleinbild; im Moſaikſtil fügt er Zug zu Zug, bis das fertige Abbild 
einer Zeit, einer Stadt und Landſchaft, einer Perſönlichkeit greifbar daſteht. Von den vielen 
namhaften Menſchen, mit denen ihn der Weg zufammenführte, hat er Scheffel, die Familie 
Freiligrath, Seibel, den Großherzog Narl Alexander von Sachſen-Weimar, um nur einige zu 
nennen, befonders eindrucksvoll geſchildert und ihre Porträts mit manchem feinen und neuen 
Zug bereichert. Liebenswert in feiner ſchauenden Dafeinsluft, feinem Gemüt, feiner barod- 
deutſchen Ganzheit hebt er ſich ſelber aus dieſen Blättern ab. 

Neben der Literatur iſt die Kunſt im weiteren Sinn mit einer Reihe lebenskundlicher Neu- 
erſcheinungen zu nennen. „Gerhard von Kügelgen, ein Malerleben um 1800“ be- 
titelt Leo von Kügelgen die umgearbeitete und erweiterte Ausgabe eines mit vielen Abbildungen 
ausgeftatteten hüͤbſchen Buches (Chr. Belſer A.-G., Verlagsbuchhandlung, Stuttgart), das auch 
die andern ſieben Ranftler der Familie“ behandelt. — Monika Hunnius, die Sängerin und 
Geſangslehrerin, Schülerin von Stodhaufen und Zur-Mühlen, gibt den Freunden der Muſik 
in ihrem Erinnerungsbuch „Mein Weg zur Runft“ eine ſeeliſch feingeſtimmte Oarſtellung 
ihrer baltiſchen Heimat, ihres Lebens- und Werdegangs. — „Aus der Theaterwelt, Erleb- 
niſſe und Erfahrungen“ (Verlag C. F. Müller, Karlsruhe) heißt ein ſchmaler, aber inbalts- 
reicher Band aus der Feder des jüngſt verſtorbenen Eugen Kilian, der die Entwicklungen und 
Kampfe des begabten Bühnenmannes mit dem Schmerz um feinen Verluſt ins Gedächtnis ruft. 
— dn gehörigem Abſtand fei in dieſem Zuſammenhang, wegen feines verdienſtlichen Wirkens 
für die ſchwediſche Nachtigall“ Zenny Lind, Phineas Taylor Barn um mit feinen unter dem 
Titel „Die große Trommel“ (Verlag Otto Wiegand, Leipzig) neu aufgelegten Lebenserinne- 
tungen angefügt, die O. E. Sutter Barnums Memoiren nacherzählt: unterhaltend, beluftigend 
und belehrend entrollt ſich die laute, bunte Welt dieſes Reklametrommlers von außergewöhn- 


348 Briefe, Erinnerungen und Lebensbilder 


lichen Maßen, des Kaufmanns, Zournaliften, Schauftellers, Smprefarios, Raritätenfammlers, 
Zirkusbeſitzers und — Menſchen. 

Die Wiſſenſchaft der verſchiedenſten Gebiete iſt mit fo zahlreichen Brief- und Erinnerungs- 
büchern vertreten, daß es im begrenzten Rahmen nicht moͤglich iſt, fie ausführlich zu würdigen. 
Noch einmal ins 18. Jahrhundert führt ein von Dr. Auguſt Nebe (in der Buchhandlung des Wai- 
ſenhauſes, Halle a. S.) herausgebrachtes Bändchen „Aus der Brautzeit eines deutſchen 
Gelehrten 1788-1791“, in dem der junge Lehrer des Staatsrechts Friedrich Auguſt Schmel- 
zer, der auch poetiſchen Neigungen huldigte und der Muſik zugetan war, ſich mit ſeiner Braut 
Sophie Beckmann unterhält und im empfindſamen Ton der Zeit, aber doch mit anſprechender 
Schlichtheit vom Leben und Treiben in Helmſtedt, Regensburg, Wetzlar, Wien berichtet und den 
Prunk der letzten Frankfurter Raifertrönung ſchildert. Auch der Humor fehlt ihm nicht, wie die 
Erzaͤhlung des Beſuchs im Tübinger Stift beweiſt. — Von gewinnendem Humor zeigt ſich der 
unlängjt verſtorbene Archäologe Robert Roldewey in einer Sammlung ven Briefen, die 
Karl Schuchardt veröffentlicht („Robert Roldewey. Ernfte und heitere Briefe aus einem deut 
ſchen Archaologenleben“, G. Groteſche Verlagsbuchhandlung, Berlin). An die Suͤdküſte der 
Troas, nach Aſſos; auf die Inſel Lesbos, nach Sizilien und ins innerſte Babylon begleiten wir 
den Forſcher auf ſeinen Ausgrabungsreiſen; aus jeder Zeile, im Scherz und tiefen Ernſt, ſpricht 
die ſtarke, in ſich geſchloſſene Perſönlichkeit, die ihren opfervollen, weiten Weg unbeirrbar dahin 
ſchreitet. — Die mediziniſche Wiſſenſchaft iſt durch zwei hervorragende Kliniker vertreten: „Aus 
dem Leben eines deutſchen Klinikers“ gibt der Leipziger Profeſſor Adolf Strümpell 
feine Erinnerungen und Beobachtungen (Verlag von F. C. W. Vogel, Leipzig); und der ver- 
ſtorbene Straßburger Univerſitätskliniker Profeſſor Dr. B. Naunyn tritt ihm mit nicht minder 
gehaltvollen „Erinnerungen, Gedanken und Meinungen“ (3. F. Bergmann Verlag, 
München) an die Seite. Die beiden Gelehrten geben nicht nur anziehendes perſönliches Erleben, 
in dem bedeutende Menſchen vorüberziehen, ſondern auch tiefen, dem Laien verftändlichen und 
nützlichen Einblick in die Entwicklung der kliniſchen Wiſſenſchaft. — Hinter der Medizin ſteht die 
Theologie nicht zurück. Aus den Zugendtagebuͤchern Johann Hinrich Wicherns hat Martin Ger- 
hardt, der Archivar des Rauhen Hauſes, mit kundiger Hand ein Buch „Der junge Wichern“ 
aufgebaut, ein Bildnis des Werdenden aus der Erweckungsbewegung, des dem Religionspfydo- 
logen und Nirchenhiſtoriker, aber auch einem weiteren Leſerkreis ſich empfiehlt (Agentur des 
Rauhen Hauſes, Hamburg). Aus vielſeitiger kirchlicher Wirkſamkeit erzählt Ernſt Haack, der lang; 
jährige Leiter der mecklenburg-ſchwerinſchen Landeskirche, unter dem Titel Führungen und 
Erfahrungen, Lebenserinnerungen aus 70 Jahren“ (Verlag Friedrich Bahn, Schwerin i. M.). 
„Ein Herrnhuter Wirtſchaftsmenſch des 18. Jahrhunderts“ tritt uns in „Abraham Oadrninger* 
entgegen; dem fchöpferifhen Kaufherrn und zugleich metaphyſiſch veranlagten, frommen 
Glaubensmann hat Herbert Hammer eine (im Furche Verlag, Berlin, erſchienene) leſenswerte 
Darſtellung gewidmet. Einem Nationalhelden der Siebenbürger Sachſen, dem tapferen Pfarrer 
Ste phan Ludwig Roth, der 1849 von ungariſchen Soldaten als „Rebell“ erſchoſſen wurde, gilt 
„Stürmen und Stranden, Ein Stephan-Ludwig-Roth-Buch“ (Ausland und Heimat Ver- 
lags-A.-G., Stuttgart), das Otto Folberth zuſammengeſtellt und eingeleitet hat. 

Mit Stephan Ludwig Roth iſt wieder das Gebiet der politiſchen Geſchichte betreten, von dem 
unfere Uberſchau den Ausgang nahm. An den Anfang des vergangenen Jahrhunderts, feiner 
Kriegs- und Nachkriegsnöte leitet ein populär gehaltenes Jabnbud, „Fr. L. Zahn, Eine Wür- 
digung ſeines Lebens und Wirkens“ von Fritz Eckardt, herausgegeben im Auftrag der deutſchen 
Turnerſchaft (Wilhelm Limpert Verlag, Dresden). Es nimmt als Leitſatz das Wort Dieſterwegs: 
„In jeder großen Not des Vaterlandes wird man auf Zahn und feine erhabenen Ideen zurüd- 
greifen. Auf ihn zurückgehen, heißt auch heute noch vorwärtsſchreiten“ und feiert den wunder 
lichen, in feiner Beſchränkung ſtarken Turn vater als Sprachmeiſter, Vorbild eines wackeren deut; 
ſchen Mannes, einen der größten Zugend- und Volkserzieher und Vorkämpfer für Einheit und 


Belefe, Erinnerungen und Lebensbilber 349 


Reich, an dem fich fein eigener Ausſpruch erfülle: „Die Nachwelt ift das höchſte irdiſche Gefdwo- 
renengeridt !“ ... Der 1819 als Demagog verhaftete, durch ein ſchmahliches Urteil in den Kerker 
geworfene Jahn, gehörte 1848 in der Paulskirche zu den Männern der äujterften Rechten. Der 
um ein Menſchenalter jüngere Otto von Cor vin, ehemaliger preußiſcher Offizier, ftand mitten 
in den revolutionären Rämpfen von 1848 und 49, leitete als Generalſtabschef die Verteidigung 
der in der Hand der badiſchen Aufſtändiſchen befindlichen Feſtung Raſtatt und bezahlte feinen 
Freiheitsdrang mit einer harten ſechsjährigen Haft im Bruchſaler Zuchthaus, um dann in Lon- 
don, fpäter in Amerika als Schriftſteller zu leben und endlich wieder in Deutſchland fein an Er- 
lebniſſen überreiches Daſein zu beſchlie ßen. Es iſt ſehr zu begrüßen, daß Hermann Wendel die 
Erinnerungen Corvins unter dem berechtigten Titel „Ein Leben voller Abenteuer“ (Frank- 
furter Sozietäts-Oruckerei, Abt. Buchverlag, Frankfurt a. M., 2 Bände) wieder ausgegraben 
bat. Sie feſſeln von Anfang bis zu Ende durch die Friſche ihrer Darſtellung, die Fülle der Ereig- 
niffe und nicht zuletzt durch die im bunten Wechſel des Geſchehens immer gleiche, offene, wage; 
mutige Natur ihres Helden. Für die noch immer merkwürdig ungekannte und doch fo tennens- 
werte achtund vierziger Zeit ſind ſie ein nicht genug zu ſchätzender Beitrag. — Mitten in die 
ſoziale Bewegung unferer Tage führt das Buch „Minna Cauer, Leben und Werk“, das die 
jüngere Freundin und Mitarbeiterin der bekannten Frauenführerin, Elfe Lüders, an Hand der 
Tagebücher und nachgelaſſenen Schriften (im Verlag Friedrich Andreas Perthes, Gotha Stutt- 
gart) veröffentlicht hat. Die von liebe vollen Eltern gehegte Kindheit im Pfarrhaus zu Frenen- 
ſtein (Oſt priegnitz); die glückliche, fpäter durch die ſchwere Krankheit des Mannes fo leid volle erſte 
Ehe mit dem jungen Arzt Dr. Auguſt Latzel; nach vollendetem Lehrerinexamen die ſchwere 
Pariſer Zeit als Erzieherin in einer franzoͤſiſchen Familie; der reife zweite Lebensbund mit dem 
hervorragenden Schulmann Eduard Cauer, der ihr nach zwölf für ihre Entwicklung beſtimmenden 
Zabren (1869 — 1881) durch den Tod entriſſen wurde — dieſe Stufen bilden den Unterbau zu 
einem öffentlichen Leben voll hingebender Arbeit im Dienſt einer großen Zdee, zu Erfolgen 
und zu nicht minder reichen Enttäuſchungen. Die Perſönlichkeit der charaktervollen, hochbegabten 
Frau, in deren Weſen ſich verborgene Weichheit und unbeugſame Härte ſo ſchickſalsvoll miſchen, 
entfaltet fic tragiſch in den Blättern des Gedentbuds — freilich nicht, ohne daß ein ungelöfter 
Reit bleibt, den wohl die gebotene RAdjidt auf Lebende erklärt. Hervorleuchtend im Bild Minna 
Cauers, wie es hier erſteht, iſt ihr ethiſcher Ernft — „Ja, rein erhalten, dazu gehört fo viel Kraft“; 
ihre ſuchende Frömmigkeit, ihre glühende Vaterlandsliebe — „Mein geliebtes Vaterland, meine 
liebe Heimat, mein deutſches Volk“ klingt es immer wieder unbeirrt aus allen Bitterniffen und 
hellſehenden Urteilen der Kriegs- und Zuſammenbruchszeit —; der heilige Glaube an die neue 
Sendung der Frau, die fie verficht. Die gemein- irdiſche Bedingtheit alles politiſchen Wirkens hat 
im tapferen Leben dieſer Frau zur Tragik ihrer Natur die unausweichliche einer ewig gültigen 
Erfahrung gefügt. — Ein zweiter, anders gerichteter ſozialer Vorkaͤmpfer, der bekannte Boden- 
reformer Adolf Damaſchke, ergänzt das Zeitbild der Gegenwart und der Jahrzehnte, aus 
denen ſie hervorwuchs, durch ſein Erinnerungsbuch „Aus meinem Leben“ (Grethlein & Co., 
Leipzig und Sarid). Eine eigenſtarke Perſönlichkeit, ohne Wanken im Oienſt des Volkes feinem 
Ziel zugekehrt, geht auch er ſeinen Weg. Freunde und Feinde ſeines Ziels, die Lehrerſchaft und 
vor allem die Jugend, um die er mit feinem jungen Herzen wirbt und zu deren Seelenkunde er 
durch frühe Tagebuchblatter Wertvolles beiträgt, werden mit Genuß und Gewinn feine Erinne- 
rungen leſen. [Wir kommen an anderer Stelle darauf zuruck. O. T.] 

Das eingreifendſte Erlebnis, das uns Heutigen beſchieden war, der Weltkrieg, ſpiegelt ſich 
ſchon erſchüͤtternd in dem eben beſprochenen Minna Tauer-Buch. In voller Unmittelbarkeit gibt 
es ein Dichter, Rudolf ©. Binding, in feinen Feldzugsaufzeichnungen „Aus dem Krieg“ 
(Lit. Arftalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.). „Venn ich tief in ihn hineinſehe, fo iſt er doch 
wohl ein Zenſeits, aus dem nicht nur die nicht zurückkommen, die man leiblich begräbt, ſondern 
vielleicht keiner. Um dieſem Zenfeits zu genügen, müßte eine beſondere Sprache erwachſen, von 


350 Ein ſchwediſcher Rinfilec 


uns zu erlernen, von euch ewig unverſtanden“ — dieſe vorangeftellten Zeilen ermißt in ihrer 
ganzen Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nur der, der felber im Feld mitgeftritten und gelitten 
hat. Und doch, dem Dichter Offizier war es vergönnt, etwas, nein viel in jene „beſondere Sprache“ 
zu überſetzen, und auch die unter den Niht-Mitlämpfern, die feine Sinne haben und ihr Urteil 
nicht von irgendeinem billigen, lügneriſchen Parteigeſchrei, welcher Seite immer, hoffnungslos 
ſich verbilden ließen, können verſtehen. Die Rüdjicht auf die feine, wiſſende Seele deſſen, der 
dies Buch von ſchlichter und edler Zeugnisgewalt uns ſchenkte, verbietet es, einzelnes aus dem 
Zuſammenhang des künſtleriſchen Ganzen zu heben. Die Wahrheit allein, ob ſchmerzhaft, ob 
füß, ſchafft reinigende Wandlung. Heinrich Lilienfein 


Ein ſchwediſcher Künſtler 


Zu unſren Bilderbeilagen 


icht ſenden in die Tiefe des menſchlichen Herzens — das iſt der Beruf des Künſtlers“, ſchrieb 

Robert Schumann. Ich mochte hier von einem bildenden Nünſtler erzählen, der am 1. Auguft 
auf ſechzig Lebensjahre zuruͤckſchaute und Über deſſen Lebenswerk dieſe Worte als Kennwort 
ſtehen könnten. Von feiner Ausſtellung, die zu Anfang dieſes Zahres in feiner Heimat Stockholm 
veranſtaltet wurde, ſagte mir eine Beſucherin: „Man wird ſo froh und gut vor dieſen Bildern.“ 
Und der alte Türhüter am Eingang: „Wir haben noch keine Ausſtellung gehabt, von der alle fo 
befriedigt fortgegangen ſind.“ 

Die Schweden neigen ganz und gar nicht zum Bypzantinismus, wie vielleicht mancher denken 
könnte, wenn er nun lieſt, daß dieſer Maler der Prinz Eugen von Schweden iſt. Als vierter 
Sohn des Königs Oskar II. und feiner deutſchen Gemahlin (Prinzeſſin Sophie von Naſſau) ge- 
boren, iſt der Prinz ſeit feinem 21. Jahr in ernſter Arbeit und ſtrengſter Selbſtkritik beſtrebt ge- 
weſen, feine hervorragende Begabung zu ſchulen und zu immer höherer Kuͤnſtlerſchaft zu führen. 
Er iſt ſeit Jahren der anerkannt erſte Landſchaftsmaler ſeines Landes. Vor dem Krieg hat er 
mehrfach in größeren deutſchen Städten ausgeſtellt. Er kennt unſere deutſchen Kunſtſchätze beſſer 
als viele Deutſche und hat mit manchem deutſchen Künſtler und Kunſtgelehrten (3. B. mit Licht; 
wart) Beziehungen angeknüpft und feſtgehalten. Er iſt Mitglied der Goethe- Geſellſchaft und 
Ehrenmitglied der Berliner Akademie der Rünfte. Als dem Ehren vorſitzenden der ſchwediſchen 
Sammlung für deutſche Studenten iſt ihm unſer Vaterland zu beſonderem Dank verpflichtet. 
Hat doch dieſe Sammlung nach dem Ausſpruch eines Berliner Gelehrten „weſentlich dazu bei- 
getragen, daß die deutſche akademiſche Jugend heute wieder ein hoffnungs volles Deutſchland 
vertritt“. 

Die Ausftellung des Prinzen gab eine Überfchau über Werke aus etwa vierzig Jahren, die Lebens- 
arbeit eines Meiſters, fo umfaſſend wie fie andere Rünitler ſelten bieten können, die oft nicht ein; 
mal wiſſen, wo ihre Bilder gelandet ſind. Von den erſten Studien aus ſeinen Lehrjahren in Paris 
wuchs er in aufſteigender Linie zu vollkommener Beherrſchung der Technik und immer ernfterer 
Vertiefung, immer innigerem Einfühlen in die Natur feines Landes. Wenn man in der nordiſchen 
Kunſtgeſchichte verfolgt, wie ſich etwa im 12. Jahrhundert eine ſchwediſche Eigenart heraus- 
kriſtalliſiert, fo erſtaunt man über die einfach vornehme Ruhe der Geſtaltung im Vergleich mit 
den Kunſterzeugniſſen anderer Völker zur ſelben Zeit. Es iſt wie ein Widerſpiegeln der großen, 
ruhigen Linien der ſchwediſchen Landſchaft. Dieſe dem Schwedenland eigentümliche, monu- 
mentale Linie bringt kein anderer Maler in der gleichen klaſſiſch- harmoniſchen Ruhe zum Aus- 
druck wie Prinz Eugen. Wenn es möglich iſt, daß man dies Land in feiner Eigenart, mit dem 
Zauber der hellen Nächte und der langen Dämmerungen jeder Jahreszeit aus Bildern verſtehen 
und lieben lernen kann, fo müßte es durch feine Gemälde geſchehen. Ich wage die Möglichkeit 


Cin ſchwebiſcher Runitler 351 


nicht beſtimmt zu behaupten, denn ich kannte und liebte Schweden, ehe ich Bilder ſeines erſten 
Landſchafters zu ſehen bekam: daß feine Gemälde aber das Verſtändnis für die Eigenart des 
Landes vertiefen und neue Schönheiten erſchließen — das habe ich erfahren. Ich lernte die 
„innere Landſchaft“ ſehen. 

Von den 350 ausgeſtellten Ölgemälden, Aquarellen und Zeichnungen kann ich hier nur wenige 
nennen und zu ſchildern verſuchen. Die erſten bedeutenderen Bilder zeigen meiſt nur Natur. Wo 
Gebäude mit darauf find, gehören fie ganz dazu, ſcheinen aus dem Boden hervorgewachſen. „Wo 
der Wald ſich lichtet“ läßt durch weit auseinanderſtehende Fichtenſtämme einen verſchneiten Hof 
ſehen, von Abendglanz übergoldet, von den blauen Schatten der Winterdämmerung eingehüllt: 
ein Bild tiefen Heimatfriedens. „Der Wald“ zeigt ebenfalls ſchwediſchen Fichtenwald. Hier wird 
er zum Tempel, durch deſſen unzählige aufſtrebende Säulen das Myſterium der Sommernacht 
wie eine heilige Flamme hereinleuchtet. Sommernädte im Stockholmer Skärgarden, im gol- 
digen Schimmer oder wie unter dem grünlichen Dämmerungsſchleier ſchlummernd, werden ge- 
ſchildert. Auch das „Stockholmer Schloß“ zeigt uns der Meiſter in einer ſolchen Zaubernacht. Es 
iſt kein Bild, ſondern das Bildnis eines Gebäudes. Teſſins ſchlicht-vornehmer Bau erzählt in 
der Stille der Nacht die Geſchichte der Vergangenheit, wie man ſie in den Zügen der Männer 
und Frauen Rembrandts lieſt. Ebenſolche Hausportrats find „Schloß Torup“, das „Unbewohnte 
Haus“ und der „Balkon“. Die letzteren beiden find auch Bämmerungsbilder und geben einen Aus- 
blick über den Stockholmer Hafen mit fern aufflammenden Lichtern. Mit den Jahren malt der 
Rinftler immer öfter Stätten menſchlicher Arbeit. Da liegt am Waſſer eine aus mehreren Häu- 
fern beſte hende Fabrik. Die Aber dem Hauptgebäude hängende dunkle Rauchwolke, viele ſtarke 
Lichter aus Fenſtern und von Booten ſpiegeln ſich im leicht bewegten Waſſer: ein Hohelied der 
Arbeit. Ein reizendes Stimmungsbild einer Winterabendddmmerung gibt „An der Eiskante“. 
In einer Bucht bei Stockholm überwinternde Schiffe, die dicht an der für die Dampfer offen 
gehaltenen Fahrtrinne liegen, ſich dunkel von dem Blauweiß des Eiſes und Waſſers und vom 
drüben nebelhaft ſichtbaren Ufer mit bereits angezündeten Lichtern abhebend. Wunderbar le; 
bendig, als fähe man fie ziehen, find die Wetterwolken gemalt, die ſich über dem roten Turm einer 
Landkirche zuſammenballen. Oder ein Zrühlingsbild von der Terraſſe von Waldemarsudde, 
der ſchönen Halbinſel an der Stockholmer Hafeneinfahrt, wo ſich der Prinz eine Villa erbaut hat. 
Auf der Terraſſe ſteht ein Bronzeabguß des Nike Samotrake Torſos. Die vorwärtsftrebende Ge; 
ſtalt der kraftvollen jungen Siegesgöttin — auch in der Verſtümmelung noch ſchoͤn — erſcheint 
wie ein Symbol des in der Natur vorwärtsbrauſenden Frühlings. Auf der Terraſſe und auf den 
gegenüberliegenden Felfenhiigeln ſchmilzt der Schnee, das ſtahlblaue Oſtſeewaſſer wogt ftür- 
miſch, und die grauweißen Wolken werden vom Lenzwind gejagt. 

Von den großen monumentalen Gemälden, die der Prinz im Laufe der Fabre für Theater ; 
vorfäle, Schulgebäude, eine Kirche in Riruna (Nordſchweden) und zuletzt für das Stockholmer 
Stadthaus ſchuf (uͤber letztere durfte ich den Türmerleſern im April 1924 berichten), brachte die 
Ausſtellung Skizzen und Kartons. Nach Vollendung der Wandbilder im Stadthaus malte der 
Künſtler faſt ausſchlie lich Bilder in kleinerem Format. „Als eine Art Aue ruhen“, fagte er mir. 
Zum Teil find es italieniſche, meiſt römiſche Bilder von einer Reife im Winter 1923/24. Der 
Prinz weilte ſchon früher mehrmals in Stalien, feine küͤnſtleriſche Ausbeute war aber klein. Auch 
bier mußte ſich der ernſte Rünftler die Natur erſt ganz zu eigen machen, ehe er fie wiedergeben, 
ausſchöpfen konnte. Auch in diefen kleinen Gemälden tritt die monumentale Linie für den auf- 
merkſamen Beobachter überall hervor. Unwillkuͤrlich überſetzt man fie ſich im Geiſte in größeres 
Format und iſt dann gar nicht erſtaunt, wle ausgezeichnet dieſer Verſuch in Wirklichkeit ausfällt: 
Prinz Eugen malte zwei größere Kartons nach kleinen Olbildern, „Weg durch die Campagna“ 
und „Grotte der Egeria“, und die klaſſiſche Ruhe der Linien, die meiſterliche Behandlung von 
Ferne und Nähe tritt nur noch ſchöner hervor. Aber die wärmſte Leuchtkraft, die tiefſte Berinner⸗ 
lichung findet fein Pinſel auf den Heimatbildern, wovon manches Stimmungsbild von feinen 


552 Theodor Rirchner und bic Wiedergeburt der Hausmuſu 


geliebten Stodholmer Ufern oder den weiten väftergötlandifchen Gefilden aus den letzten Zahren 
aufs neue zeugt. Und diefe Bilder atmen eine ſolche Kraft und dabei eine fo tiefe, weiche, gefam- 
melte Harmonie, daß man hoffen darf, der fechzigjährige Meiſter werde noch viel Schönes zu 
ſchaffen vermögen. Sophie Charlotte von Sell 


Theodor Kirchner und die Wiedergeburt 
der Hausmuſik 


Zu unfrer Muſikbeilage 


s könnte als ein Widerſpruch erſcheinen, wenn man ſeit längerer Zeit in mufit- und fogial- 
E pdbagogifden Kreiſen darüber klagt, daß die Hausmuſik bereits einer entſchwundenen 
Kulturepoche angehöre, während ſich doch jeder leicht davon überzeugen kann, wie bis zur Läftig- 
keit die Mietskaſernen der Großſtädte namentlich in den Abendſtunden mit Muſik erfüllt find. 
Aber die Muſik, die da gepflegt wird, iſt zum größten Teil weit davon entfernt, Hausmuſik im 
guten Sinne des Wortes zu fein; und die Ausübenden geben ſich allzu große Mühe, die Wahr⸗ 
heit folgender Worte Wilh. Buſchs nachzuweiſen: 

Muſik wird oft nicht ſchöͤn gefunden, 
weil fie meiſt mit Gerdufd verbunden. 

Nun ſind ja die Bewohner der Mietskaſernen noch lange nicht das Volk, ebenſowenig wie nur 
in den Haͤuſern der Großſtädte Muſik getrieben wird. Gleichwohl find die erſteren bei der Se 
urteilung der Muſikkultur des geſamten Volkes unbedingt, wenn nicht hauptſächlich, mit in Se 
tracht zu ziehen. Und ſteht denn die Muſik, die man in Villen und Paläften treibt, durchweg auf 
der Höhe des guten Geſchmacks? Wenn man den Menſchen, die auf Motorrädern ſpazieren 
fahren, im Auto ihre Dispoſitionen treffen oder im Eindeder Kreisgänge in den Azur unter- 
nehmen, nicht zumuten will, daß fie noch Gefallen an Kompoſitionen im Plepelſchen Schlaf- 
mützenſtil finden follen, fo ift es um fo erſtaunlicher, daß in manchen Häuſern folder Menſchen 
noch die Klingeleien der muſikaliſchen Schaumſchlaͤger wie: Leföbure-Wely, Ketterer, Badarc- 
zewska, Richards, Eilenberg und — Karl Heins ertönen. Ja, letzterer, der als Komponiſt einen 
noch etwas tieferen Rang einnimmt als die Courthe-Mahler in der weitverbreiteten Kunſt des 
Romaneſchreibens, übertrifft an Popularität manchen bedeutenden Vertreter der pianiſtiſchen 
Kleinkunſt. Sogar einen der genialften, den Oeutſchland bis jetzt aufzuweiſen hat: Theodor 
Kirchner (geb. 1823 in Chemnitz, lange Jahre Organiſt in Winterthur, geft. 1903 in Hamburg), 
auf dieſem Gebiet der unmittelbare Nachfolger Schumanns, über den Rob. Franz ſagte, daß 
er Schumannſcher ſchreibe als Schumann. Oieſer ſelbſt batte auf Kirchner die Öffentlichkeit ſchon 
nach dem Erſcheinen feines op. 1 (Lieder) mit folgenden Worten in der „Neuen Zeitſchrift für 
Muſik (1845) aufmerkſam gemacht: „Man ſchreibe ſich ſchon jetzt den Namen dieſes talentvollen 
Muſikers zu denen, die einen guten Klang in der Folge zu bekommen verheißen.“ Nun ſchreibt 
freilich ſchon A. Niggli in feinem biographiſch-kritiſchen Eſſay Aber Kirchner, daß deſſen Ton- 
ſprache viel zu feinfinnig, zu geiſtig vornehm, zu ſubjektiv zugeſpitzt fei, als daß feine Klavier“ 
dichtungen je die Menge anziehen, in allen Kreiſen Verbreitung finden könnten. Wenn aber 
Kirchner heute auch noch nicht ganz das Schweigen teilnahmsloſer Vergeſſenheit deckt — dazu 
iſt er bei Kennern zu hoch angeſchrieben —, fo müßte er doch in weit größerem Maße zur Haus- 
muſik weiter Kreiſe herangezogen werden als das bisher geſchehen iſt. 

Der Oeutſche beging ja ſchon ein Unrecht gegen ſich ſelbſt, indem er den um 20 Jahre jüngeren 
Norweger Grieg ſo begeiſtert huldigte und ſo eifrig ſpielte, ohne ſich vorher die Mühe zu geben, 


Speodor Kirchner und die Wiedergeburt der Hauremufit 355 


erſt einmal feinen Landsmann Kirchner, auf den ſtolz zu fein er alle Urſache hat, kennen zu 
lernen. Verleger und Herausgeber mögen da auch nicht ganz frei von Schuld fein. Von den zahl- 
reichen Sammelwerken klavieriſtiſcher Hausmuſik habe ich nur eines gefunden, in dem Theodor 
Kirchner mit vertreten iſt, und zwar das im Verlag von E. Bisping erſchienene „Am Klavier“ 
von Alfred Roſe. Der als Klavierpädagog rühmlichſt bekannte Prof. Karl Zuſchneid hat leider 
auch keinen Kirchner mit in ſein zweibändiges Sammelwerk „Ausgewählte Vortragsſtücke“ 
hineingenommen; wohl aber Mayer - Mahr eine ganze Reihe von Stücken verſchiedener Schwie- 
tigkeitsgrade in feinen ſoeben erſchienenen dreibändigen „Klavierunterricht“ (Simroch. Natürlich 
ſteht in den acht Bänden des größten und leider verbreitetſten Sammelwerkes „Sang und Klang“, 
die insgefamt 800 Stüde enthalten, nicht ein einziges von Kirchner, wohl aber eine große Zahl 
folder von Dvorak, Tſchalkowſky, Nostowsti, Leoncavälle, Poldini, Godard, Chaminade, 
Debuſſp, Tellier, Torquay, Mac-Dowell, Powell und anderen nichtdeutſchen Komponiſten. 
Sewiß, unter letzteren befinden ſich Meiſter von Weltruf. Aber bevor man Spindler, Guftav 
Lange und Eilenberg mit aufnimmt, follte man erſt einmal Kirchner einen Ehrenplatz ein- 
träumen. (Die Sammlung iſt allerdings noch nicht abgeſchloſſen; damit iſt die Möglichkeit ge- 
geben, daß in den folgenden bzw. bereits wieder erſchienenen Bänden Kirchner die längft ver- 
diente Beruͤckſichtigung findet.) 

Denn gerade dieſer Vollblutmuſiker, deſſen Sondergebiet die muſikaliſche Kleingeſchmeide⸗ 
kunſt blieb, hat darin die höchſte Meiſterſchaft erlangt und gerade in feiner Mufit find in glüd- 
lichſter Weiſe diejenigen Eigenſchaften vereinigt, die wir von beſter deutſcher Hausmuſik fordern: 
Hohe Geiſtigkeit mit tiefem Seeliſchen bei zum Teil geringerer Spielſchwierigkeit. Wie 
in Schumanns Miniaturmalerei, fo bedeutet auch in Kirchners Phantafie- und Eharatterftüden 
„jeder Zentimeter eine kleine Welt“. Deshalb iſt ja keine feiner zahlreichen Klavierkompoſitionen 
zum Primaviſta Spiel geeignet, weil die verblüffende Prägnanz feiner Schreibweiſe ſogar beim 
leichteſten ſeiner Stücke — ſobald der Spieler dem Inhalt vollauf gerecht werden will — ein 
gewiſſes Studium fordert. 

„Das letzte Ziel aller Lyrik ift Lied zu werden.“ Wie felten bei einem Vertreter der Schu- 
mannſchen Schule bewahrheitet ſich dieſes Wort Zul. Babs bei dem genialen Tondichter Kirchner. 
Pflegte letzterer ſchon zuerſt mit Vorliebe und großem künſtleriſchen Erfolg das Lied, fo find 
auch die meiſten feiner Klavierkompoſitionen mehr oder weniger liedmäßig gegliedert. Dasfelbe 
gilt von feinen wenigen, aber ebenfalls meifterhaften und empfehlenswerten Rammermufit- 
werken, mit Ausnahme des Streichquartetts, op. 20, in dem er ſich in den weiten Fermen des 
Sonatenſatzes bewegt. Und alle Schöpfungen haben die charakteriſtiſchen Merkmale feines 
Stiles: Prachtvolle Geſchloſſenheit der Form, geiſtreich motiviſcher Aufbau, wunderbare, oft 
überrafchende, immer aber ungeſucht und natürlich ſowie in leuchtender Schönheit erſcheinende 
harmoniſche Wendungen. Poeſievoll, aus tiefſter Seele heraus empfunden, einige ergreifend, 
zeichnen ſich Kirchners Kompoſitionen noch dadurch aus, daß ihnen keinerlei Süßlichkeit oder 
Weichlichkeit anhaftet. Stärkere Männlichkeit iſt nicht der einzige Vorzug, den er bei dem nahe 
liegenden Vergleich mit Chopin vor dieſem voraus hat. Soll auch deſſen überragende Größe 
unbeſtritten bleiben, ſo fehlt ihm doch meiſt eine ſchätzenswerte Eigenſchaft, über die Kirchner 
reichlich verfügt und die er in einigen ſeiner Werke in recht herzerfriſchender Weiſe zum Ausdruck 
bringt: Humor. Außer auf die köſtlichen Humoresken op. 48 ſei in dieſer Beziehung noch auf 
die „Plaudereien am Klavier“ op. 60, auf die übermütige Nummer 22 der „Oreißig Kinder und 
Küͤnſtlertaͤnze“ op. 46 und auf das drollige, zum Lachen reizende Intermezzo „Oer Klavier- 
ſtimmer kommt“ zwiſchen den Nummern 9 und 10 der Neuen Albumblätter op. 49 hingewieſen. 

Es iſt natürlich unmöglich, hier auf all die über 60 Klavierwerke, deren faſt jedes aus mehreren 
Stuͤcken beſteht, näher einzugehen. Liebt es doch Kirchner, verſchiedenartige Blumen zu einem 
Strauß zu flechten, ganze Serien von Stücken unter einem Geſamttitel zu vereinigen, der in 
ſeiner Allgemeinheit oft die mannigfaltigſten Gebilde deckt“. Techniſch ziemlich leicht und für 


354 Theodor Kirchner und die Wiedergeburt der Housmu 


Hausmuſik beſonders geeignet find die „Dorfgeſchichten“ op. 39, die bereits oben erwähnten 
„Plaudereien“, „Humoresken“ und „Neuen Albumblätter“ (2 Hefte), das „Album für Klavier“ 
op. 26, die „Alten Erinnerungen“ op. 74 (2 Hefte), die „Albumblätter“ op. 7 und op. 80, das 
„Neue Klavierbuch“ op. 52 (3 Hefte) ſowie die „Studien und Stücke“ op. 30 (4 Hefte). Nr. 3 des 
letzten Werkes, das auch ſchon ſchwierigere Stücke enthält, zeichnet ſich durch feine rührende 
Innigkeit ganz beſonders aus. Reizvolle und liebenswürdige Klavierkompoſitionen für die 
Jugend ſind die „Neuen Kinderſzenen“ op. 55, „Spielſachen“ op. 35 und „Miniaturen“ op. 62. 
Ausgeſprochen Unterrichtszwecken dienen die ebenfalls für die Jugend beſtimmten ausgezeidh- 
neten Prdludien op. 65 und die noch reichlichere Schäße bietenden „100 kleinen Studien“ op. 71. 

Nur wer ji in den allen Vertretern der Schumannſchen Schule eigenen, wie feine Filigran- 
arbeiten anmutende Verwebungen der Stimmen leicht zurechtfindet und ſonſt über größere 
Spielfertigkeit verfügt, möge ſich an die drei Hefte „Phantaſieſtücke“ op. 14, an die „Phantaſien 
am Klavier“ op. 36, an die „Nachtbilder“ op. 25 und an die „Romantifhen Geſchichten“ op. 73 
wagen. 

Die Brahms gewidmeten Walzer op. 23 (2 Hefte) dürften geübtere Dilettantenhände noch 
bewältigen können, während die Aquarelle op. 21 (2 Hefte) und die Romanzen op. 22 (2 Hefte) 
ſchon über den Rahmen der Hausmuſik hinausgehen. Aber ſchließlich gilt von allen Werken 
Kirchners das, was Louis Ehlert fo fein und treffend ſagt: „Kirchners Tondichtungen ver- 
ſenken den Hörer in ſich ſelbſt, ſtimmen ihn unſozial (verſunken, ungeſellig) und werden daher 
beſſer am einſamen Klavier oder mit wenigen Freunden, denn im Konzertſaal genoſſen. Wer, 
der ſich mit dem Komponiſten eingehender beſchaͤftigt, hätte es nicht erfahren, daß manche feiner 
ſchöͤnſten Kompoſitionen gewiſſermaßen das Licht der Sonne ſcheuen, daß das Geräuſch des 
Tages ihren Herzſchlag übertönt, daß man die Stille der Nacht abwarten muß, um den Zauber 
auf ſich wirken zu laſſen, der darin webt und klingt!“ 

Die dröhnende, auf Derdußerlihung und Maſſendienſt eingeftellte Neuzeit nimmt nun zwar 
derartigen Kompoſitionen, wie der verinnerlichenden Kunſtpflege überhaupt, gegenüber eine 
mehr und mehr gleichguͤltige Haltung ein. Und es ſtürmen gewiß noch andere nicht zu unter 
ſchätzende Gefahren auf die Hausmuſik ein als „der Betrieb der darſtellenden Muſik, der alles 
vor die Öffentlichkeit zerrt“. Es iſt eben die täglich wachſende veräußerlichende Ziviliſation, die 
auch bei uns beginnt, amerikaniſches Format anzunehmen und wie aller, fo auch der Muſik⸗ 
Kultur bedenklich an den Kragen geht. Wenn ſämtliche in der Luft liegenden Erfindungen auf 
dem Gebiete der muſikaliſchen Übermittlung zur Tat werden und ſich durchſetzen, fo dürfte das 
bald zu einem gewaltigen Umſchwung des Muſiklebens führen. Um fo mehr heißt es auf dem 
Poſten fein und helfen, der Wiedergeburt der Hausmuſik, die ja ſchon längſt zweifelhafter Salon; 
muſik das Feld räumen mußte, den Weg zu ebnen. Denn die Vertiefung der Muſik-Kultur eines 
Volkes iſt ohne Pflege guter Muſik im Hauſe nicht denkbar. Ebenſowenig wie man ein Volk 
fromm nennen kann, das keine Hausandachten kennt, ſondern nur zu Feſtgottesdienſten fic in die 
Kirche findet. Wenn aber in jedem deutſchen Haufe, wo ein Klavier ſteht, auch die Stüde von 
Theodor Kirchner und anderen deutſchen Meiſtern ſeines Ranges erklingen, ſo wird das bald 
von unvergleichlicher Bedeutung für die Wiedergeburt der Hausmuſik im beſten Sinne des 
Wortes werden. Rich. Möbius 


Der ſchlappe Bismarck Frankreichs gewandelte Politik und 

deren Urſache - Die Vereinigten Staaten von Europa - Abend⸗ 

ländifhe Wirtfchaftsnöte - Die politiſchen Folgen - Wir und 

der Völkerbund - Muſſoliniſche und moſſuliniſche Gefahren 
Růͤckblick und Vorblick 


ismarck heißt ja immer der eiſerne Kanzler. Allein erſt ſeit er aufhörte, es 

zu fein. Solange er es war, wurde im Gegenteil viel über feine Schlapp- 
heit geſcholten. Bismarck und ſchlapp! Allein er erzählt ſelber, daß im Auguſt 1866 
das ganze Hauptquartier gegen ihn tobte, weil er es ablehnte, den geſchlagenen 
Gegnern nach Siegerweiſe die Schröpfköpfe auf die Haut zu ſetzen. Vor dem 
„Queſtenberg im Lager“ — ſo nannte man ihn — ſpuckten Generäle aus wegen 
ſeines „faulen ſchmachvollen Friedens“. 

Wir kennen jetzt den Grund dieſer Milde. Schon drohte nämlich der Austrag 
mit Frankreich. Verprellte man die heutigen Gegner, dann trieb ſie dies an die 
Seite des morgigen. Die Geſchichte hätte von keinem Wörth und keinem Sedan 
zu erzählen, wenn im Juli 1870 die Süͤddeutſchen ſtatt über den Oberrhein über 
den Main, die Oſterreicher nach Schleſien vorgebrochen wären. Das linke Rhein- 
ufer fiel dann den Franzoſen zu und es gab kein Oeutſches Reich. 

Man ſoll alſo nie vorzeitig verdammen; keinen Kartenſpieler kritiſieren, bevor 
die Blätter offen auf dem Tiſch liegen. Auch Locarno war erſt ein Stich, aber 
noch kein Spiel. 

Verfrühtes Lob iſt natürlich ebenſo töricht. Vorſchußlorbeeren verfallen gar 
leicht dem Spott der üblen Nachrede. Chamberlain und Briand haben mit be- 
ſchwingtem Wort von der Abrüſtung der Herzen geſprochen, vom Geifte der Ver- 
ſöhnung und des Vertrauens, von dem Grundſtein einer Freundſchaft zwiſchen 
lieben Völkern, den man nun gelegt habe. Ihnen gegenüber ſei nachdrücklich be- 
tont, daß Locarno kein Rütli war, ſondern allenfalls eine Abwicklungsſtelle. 

Solange Frankreich Haß brauchte, ſo lange wurde er gepredigt. Erſt drei Jahre 
iſt es her, ſeit Poincaré frei heraus erklärte, Deutſchland dürfe gar nicht erfüllen 
können, damit man das Rheinland nie zu räumen genötigt wäre. 

Diefer Taktik ſchob der Dawespakt den erſten Riegel vor. Ein zweiter noch 
feſterer wurde Frankreichs wachſende Notlage. Seitdem iſt der Haß zweckwidrig 
geworden, und nun erſt baut man ihn ab. 

Oer vierjährige Krieg hat den Franzoſen 120 Milliarden gekoſtet; der fieben- 
jährige Friede noch 60 obendrein. An dieſer Rieſenſchuld find ſelbſt Caillaux' ſcharfe 
Finanzkünſte ſchartig geworden. Loucheur aber hat den gepflegten Bluͤtenteppich 
franzöſiſcher Illuſionen mit einer ganzen Steinfuhre rückſichtsloſer Steuervor- 
ſchläge verfchüttet. Die Kammer war beftürzt; das aus allen Himmeln geriſſene 


356 Zürmers Tagebuch 


Land will nod immer nicht glauben, daß es fo ſchlimm ſtehe. Es erzwang viel- 
mehr Loucheurs Rücktritt und droht mit einem Steuerſtreik. Inzwiſchen macht es 
alle die Inflationsübel durch, woraus uns die Rentenmark erlöſte. Aufgeſcheucht 
flieht das Kapital ins Ausland. In ganz Genf iſt kein Stahlfach mehr zu haben; 
die Mieter ſind ſämtlich Franzoſen. | 

Im Krieg und Nachkrieg hat Briand in ganz demfelben Deutſchenhaß geglüht 
wie Clemenceau und Poincaré. Erſt ſeit ein paar Monaten paßt ſich fein Denken 
den Verhältniſſen an. Er wurde anders, weil die Lage anders wurde. Anders mit 
dem Verſtande, ſchwerlich mit dem Gefühl. Allein beſſer als wir verſteht der Fran- 
zoſe, zu wollen, was er muß, und meiſt will er dann auch gleich mit einer gewiſſen 
Inbrunſt, die äußerlich faſt wie Gefühl ausſieht. 

Frankreich iſt jetzt ſo weit, daß es müſſen muß. Der Druck Englands ſteht dahinter. 
Dieſes leidet unter der Verſalller Torheit Lloyd Georges, deſſen walliſiſch beweg- 
licher Geiſt allerdings jetzt ſelber das Gegenteil deſſen anrät, was er damals tat. 
Nun ſoll ſich das geſtörte Gleichgewicht Europas wieder auspendeln. Noch mehr 
drückt Amerika: der Aſſoziierte naher Vergangenheit, aber läſtige Gläubiger bis in 
eine ferne Zukunft. Er verlangt Geld und Ruhe; das eine für ſeine noch unbezahlten 
Kriegsdarlehen, das andere für ſeinen Friedenshandel, den man endlich aufs neue 
aufmachen möchte. Geſchäft alſo das eine wie das andere; Frankreich wie wir inter; 
eſſieren drüben bloß vom kaufmänniſchen Standpunkte. Demnach ergeht ein ge 
meinſamer Ruf an beide: „Ich will, ihr ſollt Frieden halten und mir ordentlich ab- 
kaufen. Wie, ihr hättet kein Geld dazu? So rüſtet doch ab, dann iſt es in Fülle da. 
Wir ſind ſehr dafür, daß ihr euch herausrappelt. Denn dann werdet ihr kaufkräftig. 
Wir geben euch ſogar Kredite; ſoviel ihr wollt, euer Zinsfuß iſt ja angenehm hoch. 
Aber es darf kein Rifito dabei fein, alſo vorher Abrüſtung.“ 

Briand beugt ſich dem Unabänderlichen. Klüger als wir vor dem Kriege, durch 

unſer Schickſal gewitzigt, weiß er, daß der Widerſtrebende eingekreiſt und nieder- 
gebort wird. So macht ſich der alte Rüſtungsfanatiker zum Anwalt der Abrüftung. 
Er betreibt fie in Genf mit einem Eifer, der außen Glut, aber innen Eis iſt. Frage 
bogen werden verſandt und Vorkonferenzen zur Vorkonferenz in Ausſicht genom- 
men. Schmunzelnd meint der „Temps“, auf dieſem Wege ſei man etwa in einem 
Menſchenalter ſchon dicht an die Hauptfrage heran. 
In dieſem Nachgeben vor Amerika liegt alſo zugleich ein verſtohlenes Front- 
machen gegen Amerika. Wir gewahren dies auch ſonſt. Seine Wirtſchaft ſteckt mehr 
und mehr die ganze Welt in ihren Sack. Sie iſt unvergleichlich beſſer geſtellt als die 
anderen, denn ſie hat alle Rohſtoffe im Lande. Von der Kohle iſt ſie zum Ol, vom 
Dampf zur Elektrizität vorgeſchritten; ihre Truſts verteilen die Arbeit im Sinne 
ausgetiftelter Zeit- und Krafterſparnis. Fordſche Methoden und hohe Akkord- 
löhne holen aus dem Arbeiter die dreifache Leiſtung heraus. Ungeheuer klug, fein 
und raſch arbeitend, hat daher ihre Technik die europäiſche weit überholt. Sie ver- 
mag einen Himmelskratzer von 36 Stockwerken hundert Tage nach dem erſten 
Spatenſtich bezugsfertig abzuliefern. Während des Weltkrieges war es ſolcher Ge- 
ſchicklichkeit ein leichtes, den Welthandel an ſich zu reißen. Nun braucht man Europa 
nur noch als Käufer, deſto mehr dieſes Amerika als Geldleiher. 


Zürmers Tagebuch 357 


Denn unſre alte Welt ſiecht an dem Selbſtmordverſuch der letzten zwölf Jahre. 
Mährend ſich drüben alles vertruſtet, hat fie ſich umgekehrt zerſplittert und baltani- 
ſiert. Bordem gab es in Europa 15 Wirtſchaften mit eigner Währung; jetzt doppelt 
ſo viel. Ihrer jede iſt einzeln ein David gegen den Goliath, leider ein David ohne 
Schleuder. Ob es wenigſtens hilft, wenn fie ſich zuſammentun zu verſtärkter Er- 
zeugung und erleichtertem Austauſch? 

Gerade Briand, durch Loucheur beraten, ruft dazu auf. Die gegenwärtige Organi- 
ſation der Unwirtſchaftlichkeit müffe ein Ende haben. Das politiſche Locarno bedeute 
nichts, wenn nicht ein wirtſchaftliches folge. Es fei nötig, in Erdteilen denken zu ler- 
nen und den Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa 
entgegenzuſtellen. f 

Darunter darf nun Deutſchland nicht fehlen, das Herz und der Eiſenhammer des 
Feſtlandes. Aber wie das ſiegerdünkelhaft mißhandelte Volk dem Gedanken auf- 
ſchließen? Politiſches Entgegenkommen muß Atmoſphäre ſchaffen. Daher der plöß- 
liche Wandel des Mannes, der noch Düſſeldorf, Duisburg und Ruhrort feindſelig 
beſetzte; daher der heilig geſprochene „Geiſt von Locarno“, der ſich plötzlich auf den 
Siebenvölkertag ausgoß und auf die Häupter in Zungen verteilte, als wären ſie 
feurig. 

Im Sabre 1916, alſo auf der Gipfelhöhe des Krieges, erſchien Naumanns „Mittel- 
europa“. Sein Gedanke eines ewigen Wirtſchaftsbundes der beiden verbündeten 
Kaiſerreiche verflog mit deren Niederlage. Aber ein paar Jahre ſpäter ſchlug der 
Graf Coudenhove-Kalergi „Paneuropa“ vor; einen ſowohl wirtſchaftlichen wie po- 
litiſchen Staatenbund. Es war eine pazifiſtiſche Träumerei, die unter anderm die 
„Intereuropäiſierung der Schulen“ verlangte und den Haß des einen Mitglied- 
ſtaates gegen den anderen als „Hochverrat an Paneuropa“ beſtrafen wollte. 

Immerhin werden jetzt einige ſeiner klügeren Gedanken herausgegriffen und auch 
von unſeren Staatsmännern auf praktiſche Durchführbarkeit ernſtlich geprüft. Man 
meint, es laſſe ſich reden über ein europäiſches Eiſenbahnabkommen, ein gemein- 
ſames Flugweſen und namentlich über den Abbau der gegeneinander feindſelig 
aufgeworfenen Zollſchützengraben. Dabei käme ſo etwas ähnliches heraus, wie vor 
hundert Jahren unſer Zollverein geweſen: überhaupt Friedrich Lifts deutſche Vor- 
ſchläge ins Europäifche erweitert. Bis zu welchem Grade der Plan ſich verwirklicht, 
das ſteht dahin; aber er liegt in der Luft als Rückwirkung der gemeinſamen Notlage 
Europas. 

Wie es mit uns am Jahresende ſteht; bedarf es vieler Worte? Wir haben jetzt 
weit über eine halbe Million Arbeitsloſe; bei Winters Ausgang, ſo fürchtet man, 
wird die ganze voll ſein. Abgebaute und Kurzarbeiter ſind da gar noch nicht einmal 
mit hineingerechnet. 

Hart ringt unſere Wirtſchaft um ihr nacktes Daſein. Im November wurden 
26000 Wechſel proteſtiert und es gab gegen 1500 Pleiten. Der Abſatz ftodt, nament- 
lich wegen der franzöſiſchen Währungskriſis. Denn der Frank, unter ſein Fünftel 
verjadt, macht die Ausfuhr zur Schleuderkonkurrenz. Italien kauft jetzt zwanzigmal 
ſo viel franzöſiſche Metallwaren, daher noch nicht ein Zehntel ſo viel deutſche als 
früher. Vor drei Jahren war es gerade umgekehrt. Wenn die einen Inflation haben, 


- 


358 N Türmets Tagebuch 


kommt Abſatzkriſe und Arbeitsloſigkeit über die anderen. Dem Franz wird der Bad- 
zahn hohl und der Hans bekommt davon die Zahnſchmerzen. Er gewinnt natürlich 
großes Intereſſe daran, daß jenem der Nerv getötet, die Stockſtelle ausgebohrt und 
gefüllt wird. 

Sogar England füttert jetzt fünf Viertelmillionen Arbeitsloſe. Das unterbietende 
Frankreich in Europa, das beſſer liefernde Amerika in der Welt rauben ihm die 
Abſatzmärkte. Auch haben die Dominions, während des Krieges infolge der U- Boots- 
nöte unverſorgt geblieben, eigne Induſtrien aufgemacht und find jetzt Selbſt⸗ 
verſorger. Nach einem amerikaniſchen Sachverſtändigenurteil find überdies die eng- 
liſchen Anlagen veraltet, die Methoden überholt. England fei nicht mehr konkurrenz- 
fähig, völlig drunter durch (down and out). Wenn man dergleichen lieſt, dann ſummt 
einem ſo etwas durch den Kopf wie ein Schickſalslied der Parzen, und der Kehrreim 
iſt immer: „Untergang des Abendlandes“. 

Denn unfre deutſche Induſtrie ift noch weit ſchlechter daran durch das Dawes⸗ 
Abkommen. Es wirkt ſich bei ihr aus in Obligationsbelaſtung, hohen Steuern, ver- 
teuerter Fracht, und ſeine Härte ſteigert ſich nach dem Plane von Jahr zu Jahr. Sie 
möchte vorwärts kommen, wird aber gezwungen, ſich im Kreiſe zu bewegen. Wenn 
man zahlen ſoll, muß man verdienen können; ihrer Maſſenerzeugung wird jedoch 
der Maſſenabſatz geſperrt. Überdies ſoll ihr ausgemergelter Körper das Oritthalb- 
fache deſſen auf die Schultern nehmen, was vor dem Kriege ihr geſunder trug. Ge- 
wiegte Volkswirte kündigen an, ſpäteſtens im nächſten Frühjahr erliege ſie der 
Daweslaſt. Wir müffen daher ſuchen, dieſes ſcharfkantigen Kreuzes ledig zu werden. 
Die Briandſchen Anregungen weiſen einen Weg, wenn auch der Franzoſe ſelber 
dabei natuͤrlich an einen Verzicht auf Reparationen am allerletzten denkt. Wir aber 
haben in dieſem Sinne zu arbeiten, und die Lage auszunutzen. Alle europäiſchen 
Nöte haben dieſelbe Wellenlänge, und auf ihr liegt das Einverſtändnis. 

Das muß natürlich auch neue politiſche Rückwirkungen zeitigen. Die bisherigen 
find beſſer als gar keine, aber fie genügen nicht. Zumal das höhnende Wort fran- 
zöſiſcher Offiziere bekannt wurde, daß man ſelbſt von dem Zugeſtandenen am 
Rheine nicht allzu viel ſpüren werde. | 

In dieſem Urnebel werdender Dinge hätte uns die Kabinettskriſe erfpart bleiben 
ſollen. In Luther hatten wir einen tiefreligiöfen, von reinſter Vaterlandsliebe 
durchdrungenen, abgeklärt ſachlichen, verantwortungsfrohen, zähen und tat- 
kräftigen Kanzler. Er hat weder dem deutſchen Vorteil noch der deutſchen Würde 
je das geringſte vergeben. Das Vertrauen Hindenburgs trug ihn, und dies be 
ſchwichtigt das Bedenken derer, die ein geſchärftes Mißtrauen haben gegen alle 
Abkommen mit den alten Gegnern. 

Voriges Jahr verwies Macdonald auf den leeren Banquoſitz im Genfer Refor- 
mationsſaale. Es wird ein folgenſchwerer Tag fein, wenn Deutſchland ihn ein- 
nimmt. Zuerſt wollte man uns nicht, dann holte man uns. Sollen wir feindlichen 
Zwecken dienen oder werden wir den Völkerbund uns nutzbar machen? Das iſt eine 
Frage der größeren Geſchicklichkeit. Ich denke an die heilige Allianz. Sie wurde 
nach den Freiheitskriegen gegen Frankreich gegründet wie der Völkerbund nach 
dem Weltkriege gegen uns. Talleyrand, der einer der geriſſenſten Diplomaten der 


Zürmers Tagebuch 359 


Weltgeſchichte war, hat den ſtolzen Trotzigen nicht geſpielt. Mit allen Mitteln 
legte er es darauf an, hineinzukommen, und es gelang. Aber mit dieſem Eintritt 
hatte der Klüngel für Frankreich Schärfe und Gefahr verloren. 

Der Völkerbund ſteht vor Feuerproben. Er hat Moſſul England zugeſprochen. 
Die türkiſche Preſſe tobt; Heer wie Gaſſe ſchreien nach dem Einmarſch in den Frak. 
Kommt es hart auf hart, dann iſt der Krieg da; wenn Räterußland Angora unter- 
ftüßt, dann ſogar der neue Weltkrieg. Denn man munkelt, England habe ſich be- 
reits den italieniſchen Imperialismus gekauft und wolle ihn den Kemaliſten wie 
eine Handgranate vor die Füße ſchleudern. Der Brite arbeitet immer mit Bundes- 
genoſſen; er bezahlt fie auf Halb- oder Viertelpart der Siegesbeute. 

Vorläufig iſt's erſt Rückverſicherung. London richtet ſich klug auf mögliche Kon- 
flitte ein, ſcheut fie aber ebenſo klug unter den jetzigen Verhältniſſen. In Angora 
iſt das nicht unbekannt. So könnten Geſchrei und Waffenlärm als Bluff gedeutet 
werden. Die Türkei hat Anlaß, kriegsmüde zu fein, und der alte iſlamitiſche Fatalis 
mus, der mit dem bequemen „wenn Allah will, dann —“ über jedes Bedenken 
hinwegkam, ift im aufkläreriſchen Angora längſt von des Zweifels Bläſſe an- 
gekränkelt. Seit vierzehn Jahren hat man faſt unabläſſig gekämpft. Mit Italien, 
den Balkanſtaaten, den Verbandsmächten und mit Griechenland. Faſt das ganze 
junge Geſchlecht modert zwiſchen Donau und Kaukaſus, dem Toten Meere und 
dem Perſiſchen Golf. Bis ein neues erwächſt, dauert es gut und gern feine fünf- 
zehn Jahre. Auch iſt die ruſſiſche Hilfe entweder zweifelhaft oder hinterhaltig. 
Man traue keinem Mauleſel und keinem Bolſchewiſten! Es hat ſchon Schützer ge- 
geben, die zwar eilfertig kamen, aber dann nicht mehr weggingen und Bedrücker 
wurden. 

Ebenſo gefährlich für den Beſtand des Völkerbundes iſt der Faſzismus. Seinem 
Prahlen nach ſoll künftig die Welt an der italieniſchen Kultur geneſen, ſeine 
Benehmeformen find jedoch nur Proben wüſteſter Untultur. Die deutſchen Minder- 
heiten Südtirols werden in himmelſchreiender Weiſe mißhandelt und vergewaltigt. 
Von faſelndem Größenwahn erfaßt, träumt man ein neues Imperium romanum. 
Das Fragebuch der Jungmannen macht eine verzehnfachte Irredenta auf. Frank- 
reich ſoll Savoyen und Nizza, Korſika und Tunis hergeben, England Malta. Von 
der Schweiz wird das ganze Teſſin und das halbe Graubünden verlangt, von 
Oſterreich die Selztaler Alpen, der Hohe Tauern und das halbe Kärnten, von den 
Südjlaven ganz Dalmatien und zu alledem kommt noch Albanien. Die brutale 
Fauſt, die ſchon längſt im Lande waltet, fuchtelt jetzt auch jedem Nachbarſtaate 
in höchſt völkerbundswidriger Weiſe vor der Naſe herum. Der Duce treibt ein 
gefahrvolles Spiel. Er überheizt den Keſſel völkiſcher Leidenſchaften, und eines 
Tages wird er platzen. 

So ſehr wir mit den Brüdern in Südtirol leiden, ſo ſicher wir ihnen zu helfen 
ſuchen werden, ſobald wir Sitz und Stimme haben im Genfer Rate, vorläufig 
berühren uns dieſe muſſoliniſchen und noch mehr die moſſuliniſchen Fragen nur 
indirekt. Aber ſie verlangen ſcharfes Augenmerk. Die Geſchichte iſt die große Lehre 
von den nie geahnten Fernwirkungen. Erſt recht die neuſte, die merkwürdige fee- 
liſche Aberlandkraftanlagen enthüllt hat. An jenem Sonntagnachmittag, als die 


560 Zürmers Tages 


erfte Runde ausging von dem Serajewo- Morde, wer von den im Weltkriege Se 
fallenen hätte damals geahnt, daß mit dem Todeslos des öſterreichiſchen Er 
herzogs auch das ſeinige geworfen war? 

Wir ziehen jetzt den Summenſtrich unter das alte Jahr. Der Abſchluß iſt wirt 
ſchaftlich trübe. Politiſch indes buchen wir die Befreiung von Ruhr und Nieder 
rhein; wenn auch nicht als Gewinn, ſo immerhin als ein doch noch eingegangenes 
unſicheres Guthaben. Auch die Erleichterungen in den beiden Zonen gehen zwat 
bei weitem nicht ſo weit, wie wir verlangen können, allein doch weiter, als wir am 
vorigen Neujahrstage erwarteten. Während im Innern noch alles wogt und gätt, 
hat ſich unſer äußeres Anſehen gefeſtigt, und aus einem ausgeſtoßenen Staate ſind 
wir ein mitbeſtimmender geworden. Zahlen wir den Siegern Reparationen an 
Geld, ſo zahlen ſie uns jetzt Reparationen des Einfluſſes. 

Im Jahre 1919 wurde der Friede geſchloſſen, jetzt erſt haben wir ihn. Im Früh 
ling ſoll ja ſogar auf Briands Einladung Streſemann nach Paris fahren. Er ware 
der erſte deutſche Miniſter, der dienſtlich wieder hinkäme; der erſte, nicht etwa 
ſeit 1914, ſondern ſeit 1871. Als zwanzig Jahre nach dem Frankfurter Frieden die 
Kaiſerin Friedrich Paris zu beſuchen wagte, da wurde ſie von dem Pöbel der 
Boulange ausgepfiffen. Wie wird es Streſemann ergehen, ſieben Jahre nach dem 
Frieden von Verſailles? 

Allein er kommt als Gaſt. Man ſoll wie nichts in der Politik, fo auch dieſe Wen- 
dung nicht überſchätzen. Sie entſpringt dem herriſchen Befehl der ungeſtümen 
Preſſerin Not, keinem Inſichgehen der franzöſiſchen Seele. Es iſt Verkehr auf 
Kündigung. Auch Poincaré kann wiederkommen und mit einem Wandel der Lage 
ſogar Briand ſelber ſich über Nacht wieder wandeln. Ganz wie der Verſtand es für 
rätlich hält, ſo ſchlagen in der Politik die Gefühle um. Es iſt weder Pazifismus noch 
Mangel an vaterländiſchem Rückgrat, wenn man ſich nüchtern ſagt, daß gerade das 
Zerfleiſchen des Weltkrieges die Völker Europas in eine Schickſalsgemeinſchaft ge 
zwungen hat. Nachdem in London der Locarno- Vertrag unterſchrieben war, fprad 
Streſemann das nachdenkliche Wort: „Wenn wir untergehen, dann gehen wit 
gemeinſchaftlich unter; wenn wir in die Höhe kommen wollen, können wir es 
nicht im Kampfe gegeneinander, ſondern nur im Zuſammenwirken miteir 
ander.“ Das neue Jahr eröffnet ſomit weite Ausblicke. Wer lebt, der wird an feinem 
Schluſſe ſehen, wie viele Vorſätze Tat geworden und wie viele Taten Fortſchritte. 


Abgeſchloſſen am 19. Dezember 1925] 


5 „ 1 — 14 ei 
— er rn 


Gruß an Rudolf Eucken 
1846 — 5. Januar — 1926 


an ſoll dieſes Tages gedenken als eines 
Feiertages der Seele. 

Achtzig Jahre jind viel für ein Menſchen⸗ 
leben. Was geſchah nicht in den achtzig Jahren 
ſeit 18461 Eines Volkes Aufſtieg und Nieder- 
gang; ein ſtürmiſches Vorwärtsdrängen in 
techniſchen Dingen und ein jähes Erlahmen 
der ſeeliſchen Kraft; eine Reichsgründung und 
ein Reichszuſammenbruch. Wie viele kamen 
und gingen, wie manche waren bekannt und 
ſind nun — vergeſſen. Achtzig Jahre! 

Aber für das eine Menſchenleben waren 
ſie mehr noch als der Rhythmus der Zeit und 
die flüchtige Stunde, die aus der Ewigkeit 
rinnt. Acht Jahrzehnte waren es, geſchaut mit 
den Augen der Liebe von Menſch zu Menſch, 
durchlitten in bitterer Sorge um den Sufam- 
menbruch, der kommen mußte, durchkämpft 
in gabem Ringen um die Seele unſeres Volkes, 
um die Seele jedes einzelnen von uns. Wißt 
ihr, was es heißt, das Verhängnis nahen zu 
ſehen und es doch nicht aufhalten zu können? 
Ahnt ihr das Herzeleid, wiſſend zu ſein und 
vergeblich zu mahnen und zu rufen? Und 
wieviel Mut und Glauben gehören dazu, den 
noch immer und immer wieder den Kampf 
aufzunehmen gegen Tand und Trug und 
Halbheit, um einem neuen Leben zum Siege 
zu verhelfen. 

Ja, einem neuen Leben! Der Durchſchnitts- 


menſch ſchaut in dieſen Tagen nur die Nebel, 


die ſchwer und dick über eurem Tale laſten; 
aber in der Höhe kämpft die Sonne mit ihnen 
und wird ſie bezwingen. Ihr trauert um eine 
„Iterbende Epoche“: ihr ſolltet lieber lauſchen 
auf den Pulsſchlag des Jahrhunderts, welches 
kommt. Und diefes Jahrhundert wird im Zei- 
chen eines neuen Zdealis mus ſtehen, wie 
ihn Rudolf Eucken lebenslang vertreten hat. 

Die kommende Zeit braucht andere Men- 
ſchen, als dieſes Zeitalter der Naturaliſten und 
ontellettualiften, der Relativiften und Mam- 


moniſten. Ihr wird erfteben ein gläubiges 
der Türmer XXVI, 4 


Geſchlecht, das in der Tiefe des Ewig-Gött- 
lichen wurzelt, wo es Halt und Hilfe findet. 
In Ehrfurcht wird es ſich beugen vor dem 
weltweiſen Willen über ihm, demütig sic rü- 
ſten zu feinem Waffen und Werkzeug. Es wer- 
den feine und ſtille Menſchen fein, die vom 
Herzen aus tapfer den Kampf aufnehmen 
um ihres Lebens Größe und Znhalt, ſich 
ſelbſt, dem Volk, der Menſchheit zu dienen. 

Zum Tun ſeid ihr beſtellt, Freunde! Wer- 
det Tat! 

So grüßen wir zu ſeinem achtzigſten Ge- 
burtstag Rudolf Eucken, den Kuͤnder und Weg- 
bereiter einer neuen Zeit. Fritz Vater 


Anthropoſophiſches 


n den Gruppen ber Steinerſchen Anthro- 

poſophie läuft eine Legende um. Dieſe 
Denkweiſe — man kann ſie auch ſchon eine 
niedliche Verleumdung nennen — iſt mir 
brieflich und mündlich zu Ohren gekommen; 
und ein junger Menſch gibt ihr in der Wochen; 
ſchrift „Anthropoſophie“ (Nr. 41, 11. Okt. 
1925, Herausgeber: der Vorſtand der anthro- 
poſophiſchen Geſellſchaft in Oeutſchland, 
Schriftleiter: Dr. Kurt Piper) gleichſam offi- 
ziellen Ausdruck. Er ſchreibt: „Uns fällt auf, 
daß Lienhards Abrüden von der geiſtigen Be⸗ 
wegung Rud. Steiners zuſammenfällt mit 
etwas, das mir als ein Abruͤcken der geiſtig en 
Kräfte von ihm erſcheint; ſeine Zeit war in 
dem Augenblick aus, als er ſich von Stei- 
ner abwandte.“ Und ſo ſetzt denn Herr 
Kunze mein Schaffen kräftig herunter. Ich 
hätte zwar „verheißungsvoll“ begonnen; er 
läßt „Wieland“, „Wege nach Weimar“, „Ober- 
lin“ gelten; lehnt aber unvorſichtigerweiſe ge- 
rade den „Spielmann“ (1913) ab, deſſen leicht; 
ironiſchen Unterton er nicht vernommen hat, 
erſt recht die drei Bände „Meiſter der Menſch⸗ 
heit“. Worte wie „Zerfahrenheit“, „Alters- 
erſcheinung“, „Pathos der Lamentation”, 
„Unkonzentriertheit der Geſtaltung oder des 
Stils“, Mangel an „Selbſterkenntnis“ be- 
zeichnen dieſe Tonart. Dazwiſchen behauptet 

24 


362 


der unkundige Jüngling, ich „leugne“ die 
Realität der geiſtigen Welt oder wiſſe ſie 
„nicht mehr zu begreifen“. Und zum Schluß 
empfiehlt er ſeinen Geſinnungsgenoſſen ein 
ſachliches Nachdenken über ein ſo bebauerns- 
wertes Schickſal“! 

Ich trat darauf dieſer Legendenbildung mit 
folgender Berichtigung entgegen, die ich der 
„Anthropoſophie“ einſandte, und die ich auch 
den Türmerleſern nicht vorenthalten möchte: 

Sehr geehrte Schriftleitung! 

Geſtatten Sie mir, Ihnen und dem Vor- 
ſtand der Anthropoſophiſchen Geſellſchaft in 
Deutſchland mein Befremden über den Auf- 
fat des Herrn Wilhelm Kunze in der Wochen- 
ſchrift „Anthroposophie“ (11. Okt. 1925) aus- 
zudrücken. Dieſer Artikel verbreitet irrige Tat- 
ſachen; und ſeine Schlußfolgerungen ſind 
lieblos. Ich ſtelle folgendes feſt: 

1. Meine grundſätzliche Einſtellung zur gei- 
ſtigen Welt iſt heute noch genau dieſelbe wie 
vor 25 oder 30 Jahren, als ich Swedenborg, 
die ſpiritiſtiſche und die theoſophiſche Literatur 
ſtudierte. Demnach find die mehrfachen Wen- 
dungen des Herrn Kunze, daß ich die Reali- 
tät der geiſtigen Welt „nicht mehr zu begreifen 
vermag“ oder „leugne“, vollſtändig irrig. 

2. Ebenſo falſch iſt die Behauptung: „Uns 
fällt nämlich ins Auge, daß ſein Abrücken von 
der geiſtigen Bewegung Steiners zuſammen- 
fällt mit etwas, das mir als ein Abrücken der 
geiſtigen Kräfte von ihm erſcheint; ſeine Zeit 
war in dem Augenblick aus, wo er ſich von 
Steiner abwandte.“ Ich bin erſt im Winter 
1910 / 11 als auswärtiges Mitglied einer 
Stuttgarter Gruppe beigetreten, habe dann 
bis zum Ausbruch des Weltkrieges an zahl- 
reichen Tagungen teilgenommen, Bucher und 
Kurſe gründlich ſtudiert, oft mit Steiner ge- 
ſprochen und ebenſo wertvolle wie eigenartige 
Menſchen kennen und ſchätzen gelernt. Heute 
noch bin ich Ehrenmitglied der Stuttgarter 
und der Berliner Loge. In jenen vier Jahren 
ſchrieb ich ein einziges Buch (als Ergebnis 
einer Reife nach der Provence und nach Spa- 
nien): den Roman: „Der Spielmann“ (1913). 
Und gerade dieſes Buch lehrt Herr Kunze 
ab! Die vorher geſchriebenen Werke „Ober- 
lin“, „Wege nach Weimar“, „Wieland“ läßt 


Auf der Varte 


er gelten. Seine Schlußfolgerung iſt alſo 
haltlos. 

3. Durch die anthropoſophiſchen und theo- 
ſophiſchen Kreiſe bin ich ebenſo ſelbſtändig 
bindurchgegangen, wie etwa vorher durch die 
Bewegung eines Johannes Müller. Dr. Stei- 
ner achtete dieſe Selbſtändigkeit und ſagte mir 
in einer privaten Unterredung zu Baſel fol- 
gendes: „Ich habe kein Recht, mit Medita- 
tionen in Ihre Entwicklung einzugreifen, denn 
Sie haben am deutſchen Volk eine beſondere 
Sendung. Was ich aber tun kann, iſt dieſes: 
ich gebe Ihnen hiermit die Erlaubnis, nicht 
nur an unſeren eſoteriſchen Kurſen teilzu- 
nehmen, ſondern auch unſere Veranſtaltungen 
im Tempel zu beſuchen.“ So weitherzig war 
der Führer der Anthropoſophen. 

4. Dann kam der Weltkrieg, der für uns El- 
ſäſſer ganz beſonders erſchütternde Wirkungen 
mit ſich brachte und mir die Heimat raubte. Fh 
ſchrieb außer einer Reibe Kriegsſchriften in 
dieſen ſchweren zehn Jahren noch folgendes: 
„Der Einſiedler und fein Volk“ (Novellen, 
1915), „Jugendjahre“ (1918), „Phidias“ (1918), 
„Weſtmark“ (Roman, 1919), „Oer Meifter 


der Menſchheit (drei Bände, 1918 bis 1921), 


„Unter dem Roſenkreuz“ (1925) und übernahm 
im Jahre 1920 die mich außerordentlich be- 
laſtende Leitung des „Türmers“. Jeder Un- 
befangene ſollte dieſe Arbeitsleiſtung achten. 

5. Es heißt nicht die Realitäten der geiſtigen 
Welt „leugnen“, wenn man ſich unter anderen 
Lebenslaſten von der anthropoſophiſchen Ver- 
einstdtigteit guriidgiebt; und ich ſehe kein „be- 
dauernswertes Schickſal“ darin, wenn ich 
Methoden der Anthropoſophie oder manche 
Dogmen und Lehren für mich ablehnen muß. 
Cs entſpricht aber nicht meiner Einſtellung, 
mich bei einem Auseinanderwachſen gehäſſig 
über Perſönlichkeiten oder Richtungen auszu- 
ſprechen, die mir einmal menſchlich nahe- 
geſtanden haben. In meinem „Meiſter der 
Menſchheit“ III, 11. Aufl., S. 129) ſteht über 
Steiner der Satz: „Bemerken will ich bei 
dieſem Anlaß, daß ich perſönlich bei mannig- 
fachem Zuſammenſein mit Rud. Steiner nie- 
mals irgendwelche Aufdringlichkeit bei ihm 
bemerkt habe, ſondern nur mit unein- 
geſchränktem Dank — ich betone dies — 


Auf ber Warte 


an feine Anregungen zurüddente.“ Ich ſetzte 
bei den Anthropoſophien eine ähnliche Gefin- 
nung mir gegenüber voraus und bin erftaunt 
über die herabſetzenden Worte, bie ſich der 
dreiund zwanzigjährige Herr Kunze gegenüber 
einem Sechzigjährigen leiſten darf, ohne daß 
die reiferen Herren des Vorſtandes ihm in den 
Arm fallen. Es gehört nach meiner Erinnerung 
zu den vornehmſten Anſtandspflichten eines 
Anthropoſophen, die innere Freiheit eines 
Mitmenſchen zu achten. 

Mit hochachtungsvollem Gruß 

Weimar, 24. Nov. 1925. 
Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard. 


— Über den Verbleib dieſer Berichtigung 
habe ich bis heute (16. Dezember) noch nichts 
vernommen. L. 


Vom, Heliand“ und feinem Sänger 


s ift ergreifend zu leſen, daß in jenem 

Lande, welches mehr als 30 Jahre ſich 
gegen die Übermacht des Frankenkaiſers Karl 
gewehrt hatte, dem Lande, welches im Blut- 
gericht von Verden Aber 4000 feiner Edelſten 
binmorden fab und ganz zur „roten Erde“ 
wurde, daß in dieſem von Krieg und Trauer, 
Sreuel und Grauſen übervollen Niederſachſen 
über alle Verwüſtung hoch hinweg ſich in den 
20er Jahren des 9. Jahrhunderts wie eine 
Lilie das Lied vom Leben des Heilands 
erhebt. Ein Künſtler und religiöfer Mensch hat 
es aus lauterem Herzen und reinem Gemüt 
geftaltet, Leiden zu mildern und fein Volk 
emporzuziehen in den Glauben an Chriſtus, 
ſtärker als brutale Fauſt und mächtiger als das 
Schwert: das Lied vom „Heli and“. 

Sind wir nicht heute, nach den Greueln des 
langen Krieges, in einer ähnlichen Zeit? 
Brauchen wir nicht wieder einmal den Helfer 
und Heiler: den Heiland oder Heliand? 

Man hat Verfuche gemacht, jenen Sang 
dem neudeutſchen Volke nahe zu bringen, aber 
Beſitz iſt es ihm nicht geworden. Wer würde 
von unſerer „modernen“ Welt, die nur Ober- 
fläche liebt und für die das Wort Verinner- 
lichung eben nur ein Wort iſt, ſich einmal mit 
heiligem Ernſt in dieſe erſte Meſſiade ver- 
tiefen? Was ich hier ſchreibe, mochte nur eine 


363 


kleine Anregung für die „Türmer-Gemeinde“ 
ſein. 

Was uns ſo beſtrickt an dieſem großen Epos, 
das in altgermaniſcher Form das Leben des 
Heilands erzählt, iſt dies: über und in dem 
Ganzen liegt heimiſch-germaniſches Gepräge; 
Geftalten und Begebenheiten werden mit alt- 
germaniſchen Vorſtellungen lebendig gemacht. 
Man hat geſagt, daß in dieſem Werke ein 
„deutſches Chriſtentum“ gepredigt ſei. Aber 
wo in Norddeutſchland iſt der Heliandſänger 
zu ſuchen? Oenkt niemand an den furchtbaren 
Hintergrund — Widukinds Kämpfe —, vor 
dem ein paar Jahrzehnte fpdter das Heilands- 
lied ertönt? Muß immer eine wiſſentliche Be⸗ 
einfluſſung durch angelſächſiſche Dichter ftatt- 
gefunden haben, wo doch manches Verwandte 
im angelſächſiſchen und niederdeutſchen For- 
melſchatz bereits beſtand? Wir ſehen den 
Heliandſänger als einen großen Künſtler an, 
der ſeine ſchwere Aufgabe wundervoll löſte. 
Nicht um eine „Überfegung“ der Evangelien 
handelt es ſich, ſondern um eine Schöpfung. 

Im „Heliand“ ſchafft ein Künſtler. Er weiß, 
daß ſeine Sachſen, deren Eltern noch bluten 
von Widukinds Kämpfen, nicht den Chriſtus 
annehmen, den die Prieſter des Frankenkaiſers 
Karl mit Blut und Brand einbrennen wollten. 
Darum taucht er die ausgewählten Matthäus- 
Kapitel in Heimiſches. Chriſtus erſcheint als 
ein mächtiger, freigebig-germaniſcher König. 
Seine Gefolgſchaft find die Jünger, edel- 
geborene Männer, herrliche Degen, die dem 
Fürſten aus vornehmem Hauſe dienen. Er, 
der Ringfpender, belohnt ihre Treue mit gol- 
denen Armringen. Treue! Es muß dem Dich- 
ter ſchwer geworden fein, fo milde zu ſchreiben; 
aber er kann nicht umhin, einmal, wo eine 
Kampfſchilderung einzureihen war, die Treue 
der Gefolgsmannen zum Schwerte greifen zu 
lajfen. („Da erzuͤrnt ward der ſchnelle Schwert- 
degen Simon Petrus...) 

Der Dichter bringt an jener Stelle den ein- 
fachen Bericht der Bibel plaſtiſch und lebens- 
voll, und wir können das in der ganzen Dich- 
tung verfolgen. Stellen, die das germaniſche 
Empfinden gekränkt hätten, der Verrat des 
Judas oder das feige Verlaſſen der Jünger, 
werden begründet oder entſchuldigt. Wie viel 


364 


germaniſche Anſchauungen in dieſer Gadfen- 
dichtung ſtecken, kann auf dieſem engen Raume 
nicht dargeſtellt werden. Der Helianddichter 
kennt noch die Wurd, das Schickſal, das bei 
ihm geradezu Verhängnis und Tod bedeutet. 
Es iſt etwas wunderbar Schönes, wie neben 
dieſen im Volke lebenden Anſchauungen, die 
in ihrem Eigenleben vom Welſchtum und 
römiſchen Weſen nicht zerwalzt find, die ſtille 
reine Geſtalt Chriſti ſteht. Wer den „Heliand“ 
als bloße Überfegung aus dem Angelſächſiſchen 
ſieht, hat nie niederdeutſche Art kennen ge- 
lernt und nie in das Schaffen eines Dichters 
geblickt, der eine hohe Dichtung ganz eigen 
artig geſtaltete, ſchwungvoll, wuchtig und mit 
allen äußeren Kunſtmitteln. 

Wer ijt der Dichter des „Heliand“ und wo 
iſt das Werk entſtanden? Das ſind zwei 
Fragen, die ebenſoſehr die gelehrte Welt be- 
ſchäftigt haben wie die nach dem „Nibelungen 
dichter“. Man ſtreitet ſich oft in geradezu kind; 
licher Weiſe, ob er ein Geiſtlicher oder ein 
Laie war. Man hat geglaubt, die Dichtung 
ſei in Holſtein oder Nordfrankreich, ſei in 
Hersfeld oder Halberſtadt entſtanden; wo 
immer irgend eine Form der Sprache Wege 
wies, wo ein um die Zeit gebautes Kloſter 
auftauchte: dort mußte jener unbekannte 
Künſtler gelebt haben. Vorſichtig mahnt der 
Germaniſt Theodor Siebs (ohne ſonſt eigent- 
lich recht Pofitives zu bringen): „Jedenfalls 
ſind alle Schlüyfe, die aus den Schilderungen 
der Landſchaft über Sitten uſw. auf den Did- 
ter und ſeine Heimat gezogen werden, mit 
Vorſicht aufzunehmen.“ Wir können hier nicht 
den vielen Vermutungen nachgehen, ſondern 
gunddjt nur daran erinnern, daß Ludwig der 
Fromme einen als Oichter nicht unbekannten 
Sachſen mit der Abfaſſung der Dichtung be- 
auftragte, wie uns eine lateiniſche Mitteilung 
aus dem 17. Jahrhundert bekundet. Aber eine 
neue Hypotheſe, die Prof. Böckelmann im 
„Herforder Heimatblatt“ (2. Jahrg. Nr. 3) 
vor einiger Zeit mitteilte, hat ſo viel An- 
ziehendes, daß man an ihr nicht vorübergehen 
darf. Ob man ihm folgen kann, ift eine Streit- 
frage. Er ſieht den Dichter im Abt Adalhard 
von Corbie, dem Begründer von Corvey. Er 
kommt zu folgenden Ergebniſſen: Die Dich- 


Auf der Warts 


tung, die den Beſtrebungen Karls des Großen 

entſpricht, iſt aus der Lehrtätigkeit des Abtes 

in Corbie (Nordfrankreich) zurückzuführen, wo 

er junge ſächſiſche Adelige zu Miffionaren fir 

ihre Heimat ausbilden mußte. Nach Karls 

Tode (814) wurde das Werk, als Adalhard von 

Ludwig nach dem Kloſter Heri, der alten Inſel 
Norimutier in Frankreich, verbannt war, wäh 
rend Adalhards ſiebenjährigen Aufenthalt 
unter den Eindrücken der See gefördert, ver- 
mutlich im Verein mit ſächſiſchen Zöͤglingen. 
Die unbefriedigte Lage in Sachſen veranlaßte 
Ludwig den Frommen im Jahre 821 Adalhard 
zurüdzurufen und, feinen Anregungen fer 
gend, die Gründung von Corvey und Herford 
und die Herausgabe der Miſſionsdichtung an- 
zuordnen. Infolge der ablehnenden Haltung 
des ſächſiſchen Volkes gegen das Mönchsweſen 
wird das Werk in Anlehnung an germaniſche 
Anſchauungen und Kunſtformen in Sachſen 
vollendet, unter Benutzung bibliſcher Kom- 
mentare. Die letzte Faſſung aber ſoll ihm ein 
ſächſiſcher Volksſänger (scöp) gegeben baben. 

Mit dieſer Auffaſſung will Prof. Böcker 
mann auch einige Rätſel, die der Erflärung 
im Wege ſtanden, löjen: „Das auffallende 
Hervortreten des Meeres, das Salz am 
Strande, die romaniſchen Antlänge, die frank 
ſchen Sprachformen, die Entſtehung zu ſo 
früher Zeit nach kaum beendigter Unter 
werfung .. .“ 

Sicher, dieſe Auffaffung hat etwas Feffeir 
des. Doch möchte ich ihr bei aller Anerkennung 
widerſprechen. Wenn der Weſtwind (weströni 
wind) auf der Inſel Heri irgendeinen Aus 
ſchlag für die Nähe des Weltmeers geben foll: 
konnte man ihn nicht auch an norddeutſchen 
Küften fühlen? Die übrigen Argumente find 
ſo wenig ſtichhaltig, daß ſie noch keinen end 
gültigen Beweis für den Entſtehungsott 
geben. Die ſprachlichen Verhältniſſe laſſen es 
jedenfalls nicht zu, daß das Werk in einer 
Küſtengegend entſtanden iſt, ſondern weiſen 
eher auf einen Binnenländer als Dichter hin. 
Und könnte ein Binnenländer nicht auch die 
Großartigkeit des Meeres erfahren haben? 
Wie nahe liegt es doch, daß nach den Kämpfen 
der Sachſen die Verbindung mit den Oaͤnen 
feftgebalten iſt. Nahe liegt auch, daß dem 


Auf der Warte 


Heliandfänger als scöp auch der verwandte 
reiche Formelſchatz der altſͤächſiſchen und angel; 
ſächſiſchen Dichtung (3. B. im Beowulf) be- 
kannt war... Immerhin ſtellt Prof. Böckel 
manns Unterſuchung eine beachtenswerte Lei- 
ſtung dar. 

Oer lateiniſche Gewaͤhrsmann berichtet von 
einem ſächſiſchen Mann, der bei den Seinen 
für einen hochangeſehenen Oichter galt (qui 
inter suos non ignobilis vates habebatur). 
Wir haben oben das echt Germaniſche ſeiner 
Dichtung betont. Wer in ſolchen tiefen alt- 
germaniſchen Anſchauungen ſteckte, hatte wohl 
noch Blut aus dem Geſchlecht um Widukind. 
Darum ſeine Freude am Kampf; darum Vor- 
ſtellungen, die ſchwerlich zu einem Abte 
paßten. Daß dieſer Volksſänger nun gar ein 
Werk in feinem Geiſte hat überarbeiten müj- 
jen, ſcheint mir unmoglich. 

Wie kommen wir zur letzten Deutung aller 
Rätfel um den „Helianddichter“? Wie bringen 
wir ſein Werk den Guten unſeres Volkes 
wieder näher? Was wüßten wir vom Lied 
Waltharis, wenn uns nicht Scheffel ſeine un- 
vergeßliche Dichtung beſchert hätte! Nicht 
Gelehrſamkeit wird uns jenen unbekannten 
Eindeutſcher der Evangelien nahe bringen: 
vielleicht aber der Dichter? 

Dr. W. E. Gierke 


Eine Rede von Elſa Branditröm 


n einem „ſchwediſchen Abend“ der chrift- 
lichen Weltkonferenz in Stockholm fpra- 
chen in der bis zum allerletzten Platz gefüllten 
Blaſieholmskirche Perſönlichkeiten, die auch 
in Deutichland bekannt find: S. K. H. Prinz 
Rarl, Dr. Nathanael Beskow, Dr. Selma 
Lagerlöf und Schweſter Dr. Elſa Bränd- 
ſtröm. Die leidenden und gefangenen Rrie- 
ger in Sibirien, denen ſich letztere während 
des Krieges und nachher mit größter Hingabe 
gewidmet hat, haben Schweſter Elſa Bränd- 
ſtröm „Sibiriens Engel“ genannt. 
Der Inhalt ihrer Rede möge hier in deut- 
ſcher Überfegung wiedergegeben werden: 
„Venn wir hoffen, daß die Liebesarbeit eine 
der Brücken werden kann, die uns als volks- 
derſöhnende Mittel dienen ſollen, fo muͤſſen 


365 


wir uns klar machen, welche Brüden es heut- 
zutage gibt, von welcher Beſchaffenheit ſie ſind 
und was ſie leiſten. 

Wenn wir ehrlich kritiſch find, müffen wir 
zugeben, daß nur leichte Pontonbrücken von 
Ufer zu Ufer geſchlagen ſind. Gewiß können 
auch dieſe ab und zu mächtige Laſten tragen. 
Wenn wir an Exeigniſſe denken wie den Unter- 
gang der Titanic, das Erdbeben in Meffina, 
die Hungersnot in Rußland, und uns erinnern, 
welche großen Opfer von einzelnen Menſchen 
und Nationen gebracht worden ſind, um den 
Leidenden zu helfen, dann können wir uns 
mit Recht über dieſe Beweiſe ethiſchen Fort- 
ſchritts freuen. 

Aber wir ſollten uns von dieſen gelegent- 
lichen Opferfeuern nicht blenden laſſen, fon- 
dern ehrlich bekennen, daß ſie nur vereinzelte 
Anläffe find, wo wir durch Kataſtrophen von 
ungewöhnlicher Größe aus unſrer gewohnten 
Gleichgültigkeit aufgerüttelt worden find, 

Oer Grund, auf dem ſich die internationale 
Liebesarbeit aufbaut, iſt nicht ſtark genug. 
Es gilt darum, das Fundament zu befeſtigen, 
auf dem die Liebestatigteit ruht, und vor allem 
müffen ihre Arbeiter durchdrungen werden 
von dem Gefühl der unerhörten Verantwor- 
tung, die auf ihnen ruht. 

Wenn wir ſelbſt die Fähigkeit, intuitiv zu 
handeln, nicht haben, weil wir von friibefter 
Kindheit an in Formen eingeſperrt worden 
find, die lähmend auf die ſpontane Handlungs- 
kraft wirken, jo müffen wir wenigſtens ver- 
ſuchen, die heranwachſende Generation nicht 
in derſelben Weiſe zu verderben. Dieſe neue 
Generation, die ſo vieles gut machen ſoll, was 
wir verſchuldet haben, muß auch dazu erzogen 
werden, eine Liebestätigkeit zu ſchaffen, die 
lebendig iſt, verſtehend und zu guter Letzt 
völkerverſöhnend. 

Aber was können wir dazu beitragen? 

Sicherlich dies, daß wir verſuchen, die Zu- 
gend ſich zu wahren, freien und ſelbſtändigen 
Menſchen entwickeln zu laſſen, die verſtehen, 
daß nur das Natürliche, Unmittelbare, 
das Ein fache groß iſt. 

Das Unmittelbare, Urſprüngliche iſt die 
Anziehungskraft untereinander. Erſt wenn die 
Überlegung kommt, entſteht die Kluft. 


366 


Wie oft konnte man dies nicht im Kriege 
beobachten! 

Ich habe ruſſiſche Bauersfrauen geſehen, 
die gerade von ihren zur Front gehenden Söh- 
nen und Männern Abſchied genommen hatten, 
wie ſie verwundeten feindlichen Gefangenen 
zu eſſen und zu trinken gaben. Ich habe deut; 
ſche Kriegsgefangene ihr letztes Stück Brot mit 
Frauen und Kindern des feindlichen Volkes 
teilen ſehn. 

Tauſendfältig ſind die Beiſpiele, die der 
Weltkrieg dafür erbracht hat, daß das Gefühl 
viel ſchneller als der Verſtand verſöhnende 
Brücken fchlägt. 

Welche ungeheure Lehre ſollte man nicht 
aus dieſen Tatſachen ziehen? Und wie ſollte 
man nicht verſuchen, die Jugend auf dieſe 
primitive natürlich-menſchliche, groß- 
zügige Auffaſſung aufmerkſam zu machen? 

Es liegen weder kosmopolitiſche noch inter; 
nationale Tendenzen in dieſen Beſtrebungen, 
im Gegenteil — nur wer ſtolz ift auf feine 
nationale Eigenart, auf ſein Land und ſein 
Volk, kann ſich den Luxus leiſten, anderer Aber- 
zeugung, Sitten und Gebräuche zu achten. Duld- 
ſamkeit iſt eine Eigenſchaft, die nur ſtarke Per- 
ſönlichkeiten oder ſtarke Volker haben können. 

Die Liebestdtigteit iſt eine Kulturarbeit, die 
wir immer als Kunſt betrachten ſollten. 

Wenn wir die Menſchen betrachten, die eine 
Liebestãtigkeit ausgeübt haben, welche über 
die augenblickliche materielle Hilfe hinaus 
fruchtbar war, fo ſtehen ihr Leben und ihre 
Arbeit da wie ein harmoniſches Kunſtwerk 
deshalb, weil fie Mut und Kraft gehabt haben, 
ihrer inneren Eingebung zu folgen und weil 
ſie ihr Beſtes gegeben haben nicht aus Pflicht 
oder Gewiſſensgründen, ſondern weil ſie nicht 
anders konnten. 

Sie waren erfüllt von einer höheren Macht 
und haben das Wahrſte und Größte hervor- 
gebracht: Liebe. 

Ihr Künſtlertum beſteht darin, daß fie 
Harmonie ſchaffen: Harmonie zwiſchen Ein- 
zelmenſchen, Harmonie zwiſchen Völkern. 

Unfer Verſtändnis und unſre Bewunderung, 
unſre Hilfe und unſre Unterſtuͤtzung ſollten wir 
ihnen ſchenken, auf daß ſie ſtarke Brücken 
von Ufer zu Ufer ſchlagen möchten. 


Auf der Warte 


Kenntnis und Verſtändnis find bie Brüden- 
köpfe, der Glaube an die Menſchen und die 
Hingebung ſind die Pfeiler, auf denen die 
Liebestätigkeit ruhen foll. So kann fie zum 
Mittel der Verſöhnung zwiſchen den Völke 
dienen.“ 9. 


Bücher des Feinſinns 


in äſthetiſches und ein lebensphilofophi- 
ſches Werk verdient unter dieſem Ge- 
ſichtspunkt unter den Neuerſcheinungen ge- 
nannt zu werden: Robert Saitſchick, 
Menſchen und Kunſt der italieniſchen 
Renaiffance (München, Beck, 633 S.), und 
Das Ehe-Buch des Grafen Kepſerling 
und feiner Mitarbeiter (Niels Rampmann Ver- 
lag, Celle, 428 S.). Ein feinſinniger Bider- 
freund und ein feinſinniger Inſtrumentator 
geiſtiger Gegenwartskräfte vermitteln uns 
philoſophiſch und pſychologiſch vertiefte Ge- 
ſamtbilder einer großen Zeit und einer gro- 
ßen Lebensfrage. In beiden tritt das eigen 
ſchöpferiſche Moment hinter der Wiedergabe 
und Verbindung vorhandener Wirklichkeiten 
zurüd, 
Glänzend ift dieſe Abſicht in Saitſchicks Dar- 
ſtellung der Renaiſſance gelungen, einem Werk, 
das nach zwölfjährigem Verſchwinden vom 
Büchermarkt nun in zweiter Auflage erſcheint. 
Mit Recht darf der Verfaſſer der Anſicht Aus- 
druck geben, daß ſein Werk niemals veraltet, 
weil es mit großer Gediegenheit der Grund- 
lagen anſchauliche Darſtellung und ſchlichte 
Wahrheitsliebe verbindet, wozu nicht zuletzt 
auch ein beſonderes Vermögen der Einfüh- 
lung dieſe Darſtellungen ſympathiſch macht. 
Neben Jakob Burckhardts Werken iſt Sait- 
ſchicks Schilderung gerade wegen dieſer Eigen- 
art der Behandlung durchaus nicht entbehr⸗ 
lich und ſteht wiſſenſchaftlich auf gleichem 
hohem Niveau. Denn gerade die Charaktere 
und inneren Erfahrungen haben den Kultur- 
hiſtoriker viel weniger intereſſiert als den 
Pſychologen, als welcher Saitſchick zu den 
feinſten der Gegenwart gehört. Nur eine ein- 
zige Darſtellung, enger in der Auswahl der 
Stoffe und ſchwung voller in der poetiſch an; 
gehauchten Sprache, ift an pſychologiſcher Ver- 


Auf der Warte 


tiefung dem Zeitbild von Saitſchick nicht unter- 
legen, doch iſt ſie noch nicht dem deutſchen 
Schrifttum gewonnen: Schures „Propheten 
der Renaiſſance“. Hinter dem Werke Sait⸗ 
ſchicks ſteht viel mehr der Gelehrte und der 
biſtoriſche Forſcher, was dem ſehr großen 
Reichtum des Buches an anſchaulichen Einzel- 
tatſachen trefflich zugute kommt. Dieſes Ge- 
mälde der Renaiffance hat den Stil der Ge- 
diegenheit und einer gewiſſen Anmut zugleich, 
die ſich vor romantiſchen Entgleiſungen hütet. 
Sammlung und Ruhe ſprechen aus den 
lebens vollen Schilderungen, in denen die Be- 
ſonnenheit eines philoſophiſchen Geiſtes den 
Pinſel geführt hat. Soll man die Namen jener 
Zeit aufzählen, die Saitſchick bis zu den auch 
weniger bekannten eingehend behandelt? Es 
dürfte überflüſſig fein. Nur muß hervorge- 
hoben werden, daß Dichtung und bildende 
Kunſt, Politik und Sittenzuſtände, Religion 
und Philoſophie gleichermaßen und in ſchö⸗ 
ner, dem Leben angemeſſener Verteilung be- 
handelt werden, was wohl von keinem der 
andern Bücher über das Thema ebenſo unein- 
geſchränkt geſagt werden kann. Saitſchicks 
„Renaiffance“ iſt das beſte Univerſalwerk über 
dieſe auch für den Menſchen der Gegenwart 
grundlegend bedeutſame reiche Epoche, zu 
welcher ſich begreiflicherweiſe gerade Wagner 
freunde — denn auch Saitſchick iſt ein folder — 
ſtark hingezogen fühlen. Das Fehlen einer 
Bibliographie in dieſer zweiten Auflage war 
leider nicht zu umgehen. Weiterſchuͤrfend e 
mũſſen ſich den zweiten Band der erſten von 
einer Bibliothek beſorgen. 

Renferlings Ehe-Buch iſt ein Sammel- 
werk von 25 Abhandlungen verſchiedener Ver- 
faſſer über das Thema. Sammelwerke und 
Kolle kti vforſchungen liegen dem Zeitgeiſt heute 
näher als Perſönlichkeitsſchöpfungen. Renfer- 
ling gewinnt dieſem im allgemeinen betlagens- 
werten Hang zur Vertruſtung des Geiſtes eine 
gute Seite ab, indem er die Stoffe und Au- 
toren nach Art eines Kapellmeiſters zufam- 
menſtellt, der aus dem Zuſammenſpiel von 
Inſtrumenten ein Orcheſter und aus der Ab- 
folge von tönenden Werten eine Symphonie 
geſtaltet. So wird in Darmſtadt verfahren, fo 
im Ehe-Buch. Pluralitätswerk leider wie un- 


367 


ſere ganze niedergegangene Kultur, aber im 
Kreiſe dieſer Schematik die weitaus fym- 
pathiſchſte Form: über dem Ganzen waltet 
ein feinſinniger Geiſt und wahrer Philoſoph, 
der in der Vielheit die Einheit ſucht. Vor- 
liegendes Werk zerfällt in zwei Hälften, welche 
die hiſtoriſch-geographiſch-ſozialen Beſtimmt- 
heiten der Eheform und Beiträge zu deren all- 
gemeiner Wefensanalyfe enthalten. Der ſym- 
phoniſche Aufbau ſcheint mir gut gelungen. 
Vom Einleitungsaufſatz des Grafen bis zur 
Schluß; Abhandlung von Gofeph Bernhart 
über „Die Ehe als Sakrament“ (ſcharf luther- 
feindlich !) geht eine Gedankenſtrömung, deren 
aͤſthetiſche Einheit man empfinden kann. Es 
ließe ſich allerdings über das gleiche Thema 
mit ganz andern Inſtrumenten und andern 
Motiven eine Reihe von Symphonien denken, 
die dem oder jenem mit Grund beſſer gefallen 
konnten. Aber wir haben das Werk zu nehmen, 
wie es vorliegt und als ſolches kurz zu fdil- 
dern. In welchem Ton iſt es geſchrieben? 
Welcher Geiſt und welche Stimmung ruht 
über dem Ganzen? Das iſt die Frage. Den 
Ton möchte man definieren als grübleriſche 
Feinſinnsweiſe mit beachtlicher Tiefe — etwa 
Max Reger —, der Geiſt dürfte der des höchſt 
komplizierten Menſchen der Gegenwart ſein, 
die Stimmung entbehrt der Sphären harmonie 
von Gemüt und Seele, in denen dynamiſche 
Weisheiten ſich ſetzen, die kein Intellekt zu 
ſetzen vermag. Gewiß, ich verſtehe und gebe zu, 
daß Philoſophie nicht Fühlen, ſondern Den- 
ken bedeutet. Man kann aber auch mit dem 
Feuer der Begeiſterung Statuen meißeln und 
Symphonien komponieren, deren Geiſt dar- 
unter nicht im geringſten zu leiden braucht. 
Zwiſchen Aſthetiſieren und Kunſtſchaffen aus 
urgewaltiger Notwendigkeit des Innern be- 
ſteht bekanntlich ein großer Unterſchied. Und 
an ihn werde ich ein wenig erinnert, wenn ich 
das von mir hochgeſchätzte Lebenswerk Renfer- 
lings erwäge. 

Das Ehe- Buch gibt einen vielſeitigen und 
differenzierten Einblick in viele Regionen des 
für den Menſchen wichtigſten Lebens problems. 
Die ſämtlichen Stoffe können hier nicht auf- 
gezählt werden. Hervorhebenswert ſcheint mir 
vor allen Dingen der überaus weiſe Einlei- 


568 


tungsauffa des Herausgebers „Oas richtig 
geſtellte Eheproblem“, während ſein zweiter 
Beitrag „Von der richtigen Gattenwahl“ in 
der ſehr ſtarken Betonung der Eugenik und 
entſprechenden Hintanſetzung von Gemüts- 
werten angefochten werden dürfte. Es iſt ein 
Verdienſt, daß Keyſerling, wie übrigens auch 
ich ſelbſt in meinem ſoeben erſchienenen Buche 
„Philoſophie des Eros“ (Ernſt Reinhardt, 
München, 197 S.) den autonomen Menfchen- 
wert der Ehe unabhängig von Liebe und Fort- 
pflanzung als eigene Rategorie des Lebens 
gelten läßt und betont. In dieſer Frage ver- 
treten andere, etwa Max Scheler, den Stand; 
punkt der bloßen Kon ventionalität der Ehe im 
Gegenſatz zu den Liebes- und Gattungsträf- 
ten. Keyſerlings ausführliche und tiefe Be⸗ 
gründung deſſen, daß die Ehe ihre eigene Rate; 
gorie als Bedeutung im Menſchenleben be- 
ſitzt, gehört zum philoſophiſch Bedeutendſten 
des Buches. Auch die altmodiſch erſcheinende 
Rechtfertigung der „Standesehe“ iſt befonde- 
rer Aufmerkſamkeit würdig. Man kann viel- 
leicht die Empfindung haben, als ob die Gegner 
der Ehe in dem Buch etwas kurz gekommen 
wären; der Beitrag „Die Ehe als Feſſel“ ent- 
hält nur den Preis des buddhiſtiſchen Mön- 
ches, die meiſterhafte Darftellung der „Roman- 
tiſchen Ehe“ durch Ricarda Huch gibt nur ein 
hiſtoriſches Gemälde. (Zu dieſem möge man 
auch vergleichen: Julius Steinberg, Liebe und 
Ehe in Schleiermachers Kreis. Dresden 1921. 
Carl Reißner.) Nicht als ob ich dachte, grund- 
ſätzliche Ehegegnerſchaft laſſe ſich zureichend 
begründen. Aber in unſerer Zeit, wo die be- 
treffenden Ideen in vielen Köpfen eine Rolle 
ſpielen, hätte man gerade auch einen ſcharfen 
Ehe-Gegner ſeine Gründe vorbringen hören 
ſollen, und zwar nicht vom Standpunkt 
Buddhas, der uns herzlich wenig in dieſem 
Zuſammenhang berühren kann. Von den Mit- 
arbeitern des Bandes ſeien noch Leo Fro- 
benius, Rabindranath Tagore, Jakob Waffer- 
mann, die Pſychoanalytiker C. G. Jung und 
Alfred Adler genannt. Einen beſonderen wert- 
vollen Beitrag ſtiftete Havelock Ellis mit dem 
Kapitel „Liebe als Kunſt“. 
Privatdozent Dr. Ernſt Barthel (Köln) 


* 


Auf der Watte 


Zur Ausländerei auf den deutſchen 
Bühnen 


ir haben im Dezember -Heft des „Tür- 

mers“ auf dieſe unerhörte Wirtſchaft 
bingewieſen. Das abgeſtumpfte deutſche Bu- 
blikum läßt ſich auf dieſem Gebiete ſchlechthin 
alles gefallen, ſtatt ſich in Maſſe zu erheben. 
Jetzt ſtößt der alterprobte Berliner Theater- 
kritiker Zulius Hart im „Hellweg“ (Heft 47, 
1925) denſelben Notſchrei aus. Er ſchreibt: 
„Ludwig Fulda hat als Vorſitzender des Ver⸗ 
eins deutſcher Bühnenſchriftſteller in einem 
Schreiben an den Verein unſerer Bühnen- 
leiter unlängſt Widerſpruch eingelegt gegen 
die beſchämende Dernadläffigung und Zuruck 
ſetzung unſerer einheimiſchen Dramatiker und 
die Überſchwemmung unſerer Theater mi- 
Werken des Auslands, franzöfifchen, italienit 
ſchen, engliſchen, amerikaniſchen, norwegiſchen, 
ſchwediſchen, däniſchen, ruſſiſchen, tſchechiſchen, 
ungariſchen uſw. Leider nur in einem Briefe, 
nicht auch gleich in der allgemeinen Öffentlich 
keit. 

In dieſen Tagen auch geſchah es, daß ein 
wohlangeſehener deutſcher Poet dem Spiel- 
leiter eines unſerer vornehmſten Berliner 
Bühnen-Konzerns auf der Straße begegnete 
und ihn gluͤckſtrahlend anredete: „ Ich habe fo- 
eben ein neues Schauſpiel fertiggeſtellt! 
Prüfen Sie's. Ich ſchicke es Ihnen in den 
nächſten Tagen zu.‘ Dod kopfichüttelnd, adfel- 
zuckend nur wehrte der andere ab:, In welcher 
Welt leben Sie eigentlich, verehrter Freund? 
Haben Sie keine Ahnung von dem, was wir 
aufführen? Sehen Sie in unſeren Gpielver- 
zeichniſſen auch nur einen deutſchen Namen? 
Sie haben ein deutſches Drama geſchrieben? 
Glauben Sie wirklich, daß einer von uns auch 
nur hineinblickt? Ausgeſchloſſen, völlig aus 
geſchloſſen. Ja, wenn Sie etwas üÜberſetzt 
hätten ... Der arme deutſche Oichter hat's 
mir ſelber erzählt, und für die Wahrheit der 
Geſchichte gebiirgt... 

Deſſen bedurfte es nicht. Ein Blick in die 
Theateranzeigen der Berliner Blatter ſchreit 
es jedem zu:, Deutſche Sprak, plumpe Sprat.‘ 
Mit einem deutſchen Drama wollen unſere 
Theaterleiter nichts mehr zu tun haben. Wenig · 


Auf der Warte 


ftens die in der Reichs hauptſtadt nicht. Far fie 
gibt es nur noch jenſeits unſerer Grenzen 
Menſchen, die fähig ſind, Theaterſtücke zu 
ſchreiben. 

Diefer Winter 1925 / 26 hat nunmehr eine 
ſolche Entwicklung auf eine ganz beſondere 
Höhe getrieben. Woche für Woche iſt es das 
ſelbe. Auf zwanzig Aufführungen ausländi- 
ſcher Werke kommen immer nur zwei bis 
drei Werke einheimiſchen Urſprungs, wenn 
man die Kunſt der Vergangenheit ausſchließt, 
und nur das Schaffen der Lebenden, die Dich- 
tung unſerer Zeitgenoſſen, der unmittelbaren 
Segenwartskunſt beruͤckſichtigt. Man kann alfo 
ſagen, daß ungefähr tauſend Prozent Drama 
bei uns augenblicklich von auswärts bezogen 
wird! 

An ber Tatſache läßt fid jedenfalls nicht 
rütteln und ſchuͤtteln, ganz zweifellos ift es, 
daß feit anderthalb Jahrhunderten unſer deut; 
ſches Theater noch nie ein ſolches Armuts- 
zeugnis ſich ausftellte, wie heute, daß 
noch niemals die eigene einheimiſche Oramatik 
fo mißhandelt und verächtlich in die Ecke ge- 
ſtellt wurde, alle Pforten ihr verſchloſſen 
blieben, und in fo erdrüdender Überfülle nur 
noch Auslandsware den Kunſtmarkt be- 
herrſchte. Weh dir, daß du ein Deutſcher biſt, 
vor allem weh dir, armer deutſcher Drama- 
tiker! 

Wenn man dem glauben ſoll, was unſere 
Berliner Bühnenleiter heute durch all ihr 
Tun unſerem Volke predigen und vertin- 
digen, ſo muß man es ſchon als eine Tatſache 
hinnehmen, daß dieſer Krieg uns geiſtig und 
ſeeliſch verwüſtet und verelendet hat, 
wie einſtmals unſeligen Angedenkens der 
Oreißigjaäͤhrige Krieg. Der machte damals 
allerdings Deutſchland zu einem Barbaren 
land, und während in England und Frank- 
reich hoͤchſte Bluͤtezeitalter der Kultur und 
Kunſt leuchteten, herrſchte bei uns Winter- 
und Eiszeit, und es war immerhin eine Not- 
wendigkeit, daß ein Gottſched einem Leſſing 
die Bahn bereitete. Nach den Zeugniſſen un- 
ſerer Berliner Bühnenkunſt in dieſem glor- 
reichen Winter 1925/26. muß man ſchon an- 
nehmen, daß auch jetzt wiederum rings in 
Europa und drüben in Amerika ein neuer 


309 


herrlicher Frühling der Kunſt aufgegangen iſt 
und nur das deutſche Drama iſt tot, ein ab- 
geſtorbener Baum, der keine Blätter und 
Blüten mehr trägt. 

Natürlich ift es nur das ſchlimmſte Zerrbild 
aller Zerrbilder, welches uns unſere reichs 
hauptſtãdtiſchen Theater damit bieten, und 
es ſpottet aller Wirklichkeiten, aller Tatſachen. 
Es kommt nur darauf an, den Geiſt zu brand 
marken und bloßzuſtellen, der ſich fo an un- 
ſerem Volke verſündigt, es mit Verſailler 
Ruten geißelt und wie in den Kriegsjahren 
mit Feindeszungen von unſerer Kunſt redet, 
als von einer Kunſt der Boches. 

Mag man nod fo trüb und finjter, fo ver- 
zweifelnd mit allen Unglücksprophetenſtimmen 
von den völligen Zerfall und Niedergang des 
zeitgenöffifchen Dramas ſprechen, die ganze 
Kunſtform überhaupt als eine überlebte Ver 
gangenheitsform verwerfen, und mit der 
Stimme eines Wilhelm Scherer einen ſtets 
mehr fortſchreitenden Zerſetzungsprozeß bis 
zum Jahre 2200 verkündigen — mag man 
noch ſo kraß die zurzeit ja etwas chaotiſchen 
und dadaiſtiſchen Zuſtände hier übertreiben: 
all die Krankheits- und Schwäche Erſcheinun⸗ 
gen wären jedenfalls allen Literaturen gemein 
ſam, bei allen Völkern die gleichen. Und nicht 
wie im 17. Jahrhundert liegt nur in Oeutſch⸗ 
land das Dornröschen im Schlaf. Immerhin 
halt unſer deutſches Drama heute durchaus 
den Vergleich mit jedem fremdländiſchen aus, 
es marſchiert durchaus mit in erſter Reihe. 

Was find fie denn, dieſe Dramatiker des 
Auslandes, vor denen unſere Berliner 
Bühnenleiter einen fo tiefen Kotau machen? 
Gailsworthy? Ein mittelmäßiger Sudermann. 
O'Neill, der Amerikaner? Nicht ohne Eigen- 
art. Doch ſechs deutſche Poeten wenigſtens 
könnte man ihm ohne weiteres entgegen- 
halten. Und die große Mehrzahl, das ſind die 
Stückefabrikanten, die auf der unterſten 
Stufe ſtehen. Jerome K. Jerome, die Fran- 
zoſen Birabeau, Verneuil und Sacha Guitry, 
die uns vorgeſtellt worden als die echteſten 
Vertreter Pariſer Kultur! Doch daheim ſelber 
blickt man auf ſie herab, und ein franzöſiſcher 
Kritiker vom Range eines René Doumir 
wehrt fie ſchaudernd ab. Für ihn find es nur 


370 


Vertreter des „theätre indésirable“, eines 
höchſt unerwünſchten Theaters, und man foll 
von ihnen nur nicht auf franzöſiſche Kultur 
ſchließen. Aber für uns ſind es köſtliche Perlen! 

Man kann auch gar nicht ſagen, daß die 
äußeren Publikumserfolge irgendwie dieſe 
ſkandalöſe Vergötterung aller auslän- 
diſchen und Mißhandlung der einheimi- 
ſchen Kunſt rechtfertigen. So felten in Berlin 
echte Uraufführungen deutſcher Dramatiker 
find und gar die junger, neuer, noch unbe- 
kannter Poeten: dann und wann geſchieht ja 
auch dieſes Wunder. Nun, Mable Trieſchübel', 
deſſen Uraufführung im „ Zentraltheater“ im 
September 1925 ſtattfand, wird bis Weih- 
nachten Tag für Tag auf dem Spielplan 
ſtehen. Ein Erfolg, der auch einem ausländi- 
ſchen Werk nur in den ſeltenſten Fällen zuteil 
wird. 

Es gibt keine Entſchuldigung, keine Recht- 
fertigung einer ſolchen in unſerer Theater- 
geſchichte geradezu unerhörten Tatſache: zehn 
Aufführungen ausländiſchen Urfprungs und 
nur eine einzige deutſche ! Man laſſe alle Rede; 
reien vom Gnternationalismus oder Natio- 
nalismus der Kunſt beiſeite! Solches Wüten 
gegen das eigene Fleiſch und Blut, ſolche 
Selbſtzerſtörung unſeres Geiſteslebens iſt nur 
ein Verblödungsakt. Ein ſchändlicher Ver- 
rat an unſerem Volk und unſerer Kunſt. Man 
kann ihn nur brandmarken. 

Es bedarf keiner weiteren Darlegungen, 
was gerade in unſerer Zeit dieſe würdeloſe, 
fo völlig einzig daſtehende, unerhörte 
Preisgabe unſeres Theaters für unſer 
Volk bedeutet...“ 


Die Schillings⸗Kriſe in Berlin 


gehort in dasſelbe Kulturgebiet: Theaterwirt- 
ſchaft. Der Intendant der Berliner Staats- 
oper, Max von Schillings, iſt vom Kultus- 
miniſter Becker friſtlos entlaſſen worden. Es 
wird vom ganzen Perſonal gegen dieſe auf- 
fallende Maßnahme proteſtiert. Wer ſind da 
wohl die Hintermänner? Wir freuen uns, 
feſtzuſtellen, daß in den letzten Wochen auch 
der „Jungdeutſche“ zu dieſen Kulturſorgen 
eifriger Stellung nimmt als früher. Dort 


Auf der Bern 


ſchreibt z. B. „Gero“ zu dieſer Kriſe folgende 
(Nr. 279): 

. . . „Max von Schillings hat dieſe beleid 
gende Entlaſſung zurüͤckgewieſen, da er en 
im vorigen Jahre einen neuen Vertrag aui 
weitere fünf Jahre vom Miniſterium mit aui 
fallenden Lobeserhebungen bekam. In dem 
Schreiben des Kultusminiſters heißt es nun 
plötzlich, er fei „weder geſchäftlich noch tim: 
leriſch ſeiner Aufgabe gewachſen“ (). Auf 
Max von Schillings Entſchluß, bei der Staate 
oper auszuharren, hat der Miniſter am Dor 
nerstag nachmittag mit einer friſtloſen Ent- 
laſſung des Intendanten geantwortet! Der 
Miniſter hat das gewagt, obgleich die Preſſe 
der verſchiedenſten Lager einſtimmig für den 
Intendanten eintrat. (Nachdem die „Voſſiſche 
Zeitung’ anfangs gegen Schillings Stimmung 
machte, hat die, B. Z. am Mittag‘ — aus dem 
gleichen Verlag — für Schillings geftimml, 
wobei nur nicht ganz klar iſt, ob aus Mber- 
zeugung oder aus kluger Berechnung.) Tro: 
dieſer Verteidigung des angeſehenen Kinit 
lers durch die Linkspreſſe muß feſtgeſtellt wer 
den, daß es ſich hier um ein minifterielle 
Keſſeltreiben gegen den letzten deutſchbli⸗ 
tigen Mann in der Leitung der ſtaatlichen 
preußiſchen Kunſtinſtitute in Berlin handel. 
Im Verbande der Staatsoper umgibt Herm 
von Schillings bereits eine jüdiſche Garde de 
Kleiber, Szell, Wohllebe, Meyrowitz uſw. 9. 
der Städtifchen Oper in der Philharmonie, in 
der Staatlichen Hochſchuie für Muſik, im Ber 
liner Symphonie-Orcheſter — überall be 
finden ſich nach ſyſtematiſcher Abſchieduns 
verdienter deutſcher Künſtler die Zuden an 
der Spitze! 

Sie haben ihre Hintermänner, ihre Dunkel 
männer im Miniſterium. Die jüdiſchen Her 
ren Keſtenberg und Seelig haben ſich von 
Gnaden der Revolution dort im Wechſel de 
Regierungen zu halten gewußt und unter 
minieren im Novembergeiſte die letzten Pfeile 
deutſcher Kultur in Preußen. Daß ſie in ihrer 
geiſtarmen, reſſentimentgeladenen Art hier ſo 
dauernd wirtſchaften und den Miniſter für ihre 
Ziele gewinnen konnten, iſt ein Bewe's, wie 
unheilvoll und verderblich das parlamente 
riſche Syſtem ſich auch in der Kultur auswirkt. 


Auf dee Warte 


Hier rächt fid die Unterſchätzung tulturel- 
ler Machtfaktoren durch die Parteipoli- 
tiker der Rechten gewaltig. (Sehen Sie, 
das predigt der Tüͤrmer ſchon lang und nutz- 
los! D. T.) Der Fall Schillings beweiſt die 
große Selbſtſicherheit, mit der das Judentum 
in hohen Ämtern arbeitet. 

Max von Schillings hat fid in der Staats- 
oper verabſchiedet; er wird gegen das Mini- 
ſterium prozeſſieren; es wird einen Stanbal- 
prozeß geben, gegen den die hohe Öffentlidy- 
keit heute abgebrüht iſt —, hat ſie doch ſchon 
ganz anderre Charakterſeiten hoher Herren auf 
dieſem Wege kennengelernt als Brutalität 
gegen einen Künftler von Rang! Es wird viel 
Aufhebens um die errechnete Unterbilanz der 
Oper gemacht werden —, und indeſſen hat 
Leo Blech oder Paul Bekker (der ſchon aus 
Kaſſel nach Berlin gekommen iſt) im Zeichen 
des Davidſterns die Leitung der Oper über- 
nommen. 

Auf die offiziellen Politiker der Rechten 
wird dieſes Aufgeben des letzten Poſtens keinen 
Eindruck machen. Das parlamentariſche Rechen 
erempel hält alle Welt in Atem. Für Kultur 
bat man keine Zeit. Die Kunſt, die Hoch- 
ſchulen, die Schulen, die Literatur, die Preſſe: 
alles iſt in den Händen derjenigen, die ihrem 
Blute nach nicht zu uns Deutſchen gehören 
Es iſt die ſittliche Aufgabe jedes Deutſchen, die 
ſchlummernden Gemüter zu wecken und die 
Jugend auf das Echte hinzuweiſen.“ 

Zu derſelben Sache ſchreibt Willy Paſtor in 
der „Zägl. Rundſchau“ (Nr. 531): „Dieſe frift- 
loſe Entlaſſung ift ein cäfarifcher Entſchluß, zu 
dem man ſich unter dem alten Regiment nie- 
mals verſtanden haben würde. Iſt der Herr 
Kultus miniſter Becker allein ſchuld an dieſem 
unglaublichen Ausgang? Sein Verhalten 
während der zum Teil recht erregten Ver- 
handlungen gegen Schluß der Ausſprache 
machte nicht den Eindruck. Recht unverhohlen 
wurde auf die eigentlich Schuldigen in dieſem 
Intrigenſpiel aufmerkſam gemacht: die un- 
verantwortlich verantwortlichen Herren See- 
lig und Keſtenberg. Dieſe Herren, ferner 
Herr Nentwig und wie fie alle heißen, hätte 
gerr Becker cäſariſch behandeln ſollen: als 
Minifter, als Reſſortchef, als Menſch. Er hat 


371 


es vorgezogen, ſie zu decken, Schillings aber zu 
infamieren; denn die friſtloſe Entlaſſung iſt 
eine Infamierung .. .“ 

Das aljo find die nächſtbeteiligten Hinter- 
männer. Man hat Herrn Paul Bekker, den 
früheren Muſikkritiker der „Frankf. Ztg.“ und 
jetzigen Intendanten in Raffel als Nachfolger 
genannt — hat aber dann doch hinzugefügt, 
er fei „noch zu unerfahren“. Er wird bald fo 
weit fein... Einſtweilen wird man ſich nach 
dieſem mißglückten Vorſtoß vielleicht „ver- 
ſöͤhnen“ ... Man beachte übrigens auch, wie 
ſich in der Erörterung des Landtags unver- 
hohlen die Partei-Cinftellung breit macht! 


Hans Schliepmann 


m 26. November wurde Hans Sdliep- 
mann 70 Sabre alt. Oberbaurat im 
Ruheſtande, Fachſchriftſteller, früherer Her- 
ausgeber der bedeutenden Zeitſchrift „Ber- 
liner Architekturwelt“ — und Verfaſſer einiger 
Romane, Erzählungen und eines ethifch-philo- 
ſophiſchen Werkes. Er gehört nicht zu jenen 
Schriftſtellern, die neue Richtungen, neue For- 
men und Werte erfinden oder ſchaffen, oder 
Werte zerſtören, die ſich mit oder ohne innere 
Berechtigung als der „Geiſt der Zeit“ gebär- 
den. Schliepmann als Berliner (aber von der 
auch vorhandenen Seite Fontaneſcher Kultur) 
iſt ohne jede Geſte, ohne Pathos und falſchen 
Sturm, ein Schriftſteller, dem es mehr um 
das lebendige Leben ging, als um jenes geift- 
reiche Leben, das wir manchmal mit dem Be- 
griff „Literatur“ bezeichnen. Er iſt kein glanz 
voller Schriftſteller, den wir bewundern, aber 
er wird uns ein Freund, den wir lieben. Das 
Thema ſeiner wenigen Bücher iſt das Leben 
ſelbſt (alſo keine phantaſiegeborenen Dich- 
tungen, nicht das Unfaßbare kunſtleriſcher Oä⸗ 
monie), iſt Lebensmeiſterung im Sinne jener 
deutſchen Ideale, die keine Zeit zerſtören kann, 
da ſie die lebenſpendende Quelle deutſchen 
WVeſens überhaupt find: dieſe Quelle kann ver- 
ſchüttet werden, ihr Waſſer kann nach innen 
verfließen, ſtatt befruchtend über das Land zu 
rauſchen — aber verſiegen kann ſie nicht, denn 
es gäbe dann kein deutſches Leben mehr. 
So ſind Schliepmanns drei bedeutſamen 


372 


Werke Bewahrung in edler Überlieferung, 
Gaben eines hellſichtigen, ſcharfſinnigen, har- 
moniſch gebildeten und gütigen Menſchen: 
beſtes Bürgertum. Opferſinnig, ſtrebend, bei 
aller Gemütswärme und weichheit ausge 
zeichnet durch jene feine Form, die nach außen 
verhüllt, was innen leidet, verzweifelt und 
zerbricht; reines Menſchentum mit jenen 
ſelbſtverſtändlichen heldiſchen Zügen der ftil- 
len inneren Rämpfe, Selbſtuͤberwindungen 
und Siege der Liebe und des Charakters. 
Die Herkunft Schliepmanns legte den Reim 
zu der Lebensſtimmung feiner Werke: Pafto- 
ren; und Apothekerfamilien der brandenbur- 
giſchen Mark, kleine, enge, aber tüchtige und 
ehrenhafte Verhältniſſe, manch tauber Spie 
ßer dabel, aber auch feſte, ſcharfumriſſene 
Köpfe und edle Herzen, komiſche und tragiſche 
Figuren — wundervoll lebt dieſe ferne und 
zeitlich doch nicht allzu ferne Vergangenheit 
in dem dichteriſch reichſten Werk, der Chronik 
der Familie Hoffer „Von ſeligen Herzen“. 
Sn dem behaglichen und ruhevollen Stil un- 
ferer großen Erzähler, vielgefaltet vom lädyeln- 
den Humor, überfunkelt von fröhlichem Witz, 
erzählt Schliepmann die Geſchichte feines Ge- 
ſchlechtes, den Sieg zweier ſeligen Herzen über 
die Not des Tages. Man leſe die Kapitel vom 
werdenden Groß-Berlin nach 1870, die Ra- 
pitel vom Rauſch der liberalen Idee um 1848 
belebte und bewegte Zeitgeſchichte. In den 
Jahren vor dem großen Kriege ſpielt der fpan- 
nende und vielgeſtaltige Roman „Was das 
Leben erfüllt“, ein Denkmal der Deräußer- 
lichung, der Charakterloſigkeit und Führer; 
loſigkeit im deutſchen Leben des zwanzigſten 
Jahrhunderts, das durch die prachtvoll leben 
dige Charaktergeſtalt des Helden, des „echten 
Deutſchen“, überragt wird zu überzeitlicher 
Gültigkeit. In dieſem Roman iſt anfänglich 
ein Wirbel von Geſchehniſſen, Handlungen 
und Verwirrungen, eine Fülle von Typen aus 
allen Ständen und Berufen bis in die Spitzen 
der Regierung; faſt wirkt das Buch wie ein 
mächtiger Film — bis immer lebhafter und 
befreiender die Idee alles durchbricht und das 
ewige und immer neue Evangelium von der 
abſichtsloſen Liebe und Hingabe an die großen 
Dinge, an Vaterland und ſtarkes Menſchen⸗ 


Auf det Warte 


tum, verkündet. In dem umfangreichen ethi- 
ſchen Werk „Die Wenigen und die Die- 
len“ gab uns Schliepmann ein populdres Be- 
trachtungswerk mit dem Ziele „Wegweiſer zu 
einem nachkrieglichen praktiſchen Idealismus“; 
anſchaulich, vielſeitig, anregend, iſt das Buch 
geeignet, im Sinne der Euckenſchen Philo- 
ſophie, im „Zürmer“-Geift, beſonders der den- 
kenden Zugend Anleitung und Führung zu 
geben. 

Schliepmanns leiſe Ironie und fatyrifcher 
Humor kommen in zwei kleinen Büchern zur 
Geltung: „Abſonderliche Gefdhidten* und 
„Die Büßende Magdalena“, heitere Geſchich⸗ 
ten und angenehme Geſellſchafter. (Alle Bü- 
cher Verlag Erich Matthes.) 

Wie es üblich geworden iſt, beſchenken die 
Geburtstagskinder unter den Schriftſtellern 
und Dichtern ihre „Angehörigen“ — und fo 
durfte der Verfaſſer dieſer Zeilen das neueſte 
Wert des Dichters, den Roman „Herbft der 
Ehe“, dieſer Tage im Manufeript leſen. Ein 
Buch voll Lebensweisheit, voll Wiſſen um die 
Mannigfaltigkeit von Licht und Schatten im 
Eheleben, das im Herbſte ſteht. Das Buch 
dürfte im Frühjahr im Buchhandel erſcheinen, 
während der rüftige und geiſtig friſche Jubilar 
ſich zu neuen Werken bereitet. 

Franz Alfons Gayda 


Hans Altmüller 


m 2. Dezember vollendete Hans Alt- 

müller ſein ſechzigſtes Lebensjahr. Er iſt 
in Kaſſel, ſeiner Vaterſtadt, nicht unbekannt. 
Um ihn ſchart ſich ein Kreis von Verehrern, 
der ſeine Fahigkeiten anerkennt. Auch in der 
Volkshochſchule verſammelt er allwöoͤchentlich 
eine größere Anzahl Zuhörer um ſich. Aber in 
der breiteren Offentlichkeit konnte Altmüller 
noch nicht durchdringen. Er teilt dieſes Schick 
jal mit feinem Vater, dem leider allzufrũh ver- 
ſtorbenen Karl Altmüller, dem Dichter des 


Heſſenliedes: „Ich weiß ein teuerwertes 


Land“, das u. a. Lewalter vertont hat und das 
wohl jedes heſſiſche Schulkind ſingt. 

Hans Altmüller iſt Denker und Oichter, 
Schriftſteller und Künſtler. Ein Menſch von 
individueller Eigenart und eine Perjönlichkeit 


Auf der Warte 


von ausgeprägter Geiftigteit, wie fie unfere 
verflachende Zeit nur felten noch hervor- 
bringt. An die Öffentlichkeit tritt er vor allem 
durch feine Vorträge über Kunſt und Kul- 
tur, Literatur, Muſik und Philoſophie. Was er 
in dieſen Vortragen in anziehendſter, geift- 
reicher Form vertritt, iſt das klaſſiſche Bil- 
dungsideal, das er als vollgültig und höchſt 
erſtrebenswert auch und gerade für unſere im 
techniſchen Problem einfeitig gefeſſelte Gegen- 
wart hinſtellt. Er iſt ſelbſt ein vollendeter Re- 
präjentant dieſes Ideals, im Weſen und in der 
Erſcheinung. Originell im Ausdruck, neu und 
ſchöpferiſch im Gedankenbau, begeifternd und 
mitreißend in der Rede, handhabt er feinen 
unerſchöpflichen Vorrat an ſtofflichem Wiſſen 
mit rhetoriſcher Meiſterſchaft. 

Schriftſtelleriſch iſt Altmüller ſchon 1892 mit 
einem Frühwerk: „Oeutſche Klaſſiker und Ro- 
mantiker“ hervorgetreten. Für Heidelbads 
Heſſenland“ hat er dann manchen Beitrag in 
Poeſie und Proſa geliefert. 1920 erſchien ſein 
„Unſterblichkeits problem“, dem ſich 1924 das 
Buch „J öchſte Lebenswerte“ anſchloß, in 
dem der vorgenannte Vortrag mit zwei wei- 
teren über „Das Weſen des Chriſtentums“ 
und „Die Bedeutung unferer Klaſſiker für die 
Gegenwart“ vereinigt wurde (Kaſſel, Verlag 
Erich Scharwenka). Dieſes Buch enthält das 
Weſentlichſte ſeiner Weltanſchauung, die durch- 
aus pofitiv, ſich bei aller Anlehnung an klaſ⸗- 
ſiſche Vorbilder als ein ſelbſtändiges Ergebnis 
langer und fruchtbarer Denkarbeit darſtellt. 
Wer dieſe Vorträge lieſt, hört den Verfaſſer 
ſprechen. 

Die meiſten feiner ſchriftſtelleriſchen Pro- 
dukte, insbeſondere die Mehrzahl feiner Ge- 
dichte, ruhen aber noch unveröffentlicht im 
Schreibtiſch. 

Im heutigen Oeutſchland find Perſönlich⸗ 
keiten wie Altmüller nicht zahlreich vorhanden. 
Kaſſel und Heſſen dürfen ſtolz fein auf dieſen 
Sohn der heimatlichen Erde, deſſen ganze 
Perſönlichkeit feſt in ihr wurzelt, wenn auch 
fein Werk auf Univerſales zielt. Dieſes Ziel iſt 
immer die Erziehung des Menſchen zur 
freien, harmoniſchen Perſönlichkeit, die 
ſich ihrer ſittlichen Beſtimmung und Verpflich- 
tung bewußt iſt. Es geht immer um ethiſche 


378 


Dinge; und Tagesfragen gelten Altmüller nur 
infoweit, als fie in Beziehung zu dieſen End- 
abſichten zu bringen ſind. Darum iſt er auch 
ganz und gar unpolitiſch, ſofern er unberührt 
bleibt von den Tages meinungen, und doch in 
hervorragendem Maße berufen und auser 
wählt, an ſeinem Teile praktiſche Wieder- 
aufbauarbeit zu leiſten und unſer Volk 
innerlich reif und fähig für eine beſſere Zu- 
kunft zu machen. 

Hoffen wir, daß nach einem Jahrzehnt dieſe 
lichtere Zeit angebrochen iſt! Und daß bei der 
ſiebzigſten Geburtstagsfeier dem Jubilar Ge- 
rechtigkeit in einem Umfange zuteil wird, die 
ſeiner überragenden Bedeutung entſpricht! 

A. Veit 


Adolf Damaſchke 


dolf Damaſchke, der Sechzigjährige, 

bat nun auch den zweiten Band feiner 
Erinnerungen veröffentlicht. Welch ein Le- 
benstampf! Sein Vater war ein kleiner Hand- 
werksmeiſter, feine Mutter war Schweſter ge- 
weſen. Beide ſparten und darbten ihr Leben 
lang für ihre Kinder. , Die Liebe, die wir den 
Eltern nicht zurüderftattet haben, müſſen wir 
an unſere Kinder weitergeben“, ſagt Adolf 
Damaſchke in ſeinen Lebenserinnerungen. 
Seine Kindheit ſpielte im Berliner Miethaus- 
milieu: Stube, Kammer, Ride — ſtändiger 
Wohnungswechſel! „Oer Aufenthalt auf den 
Höfen und das Spielen ſind verboten.“ Der 
junge Adolf Damaſchke war kurzſichtig, un- 
praktiſch, von feiner Empfindlichkeit und liebte 
die Bücher. 

Was ihn von jung an zu einem geſchloſſenen 
Menſchen machte, war leidenſchaftliche Fah 
nentreue. Noch ſuchte er eine Idee. Er half in 
der freikirchlichen Sonntagsſchule Paulus Caf- 
ſels: „In den freikirchlichen Organiſationen 
ift alles ſelbſterkämpfte Überzeugung; hier 
ſpielt weder äußerer Glanz noch äußerer 
Zwang irgendwie eine Rolle.“ Der junge Da- 
maſchke will Volksſchullehrer werden. Wäh- 
rend der ſtraffen Seminarzeit befchäftigte ihn 
das Jahrhundert der Kreuzzuͤge am ſtärkſten. 
Als kaͤmpfender junger Lehrer will er Lern- 
mittelfreiheit für die Volksſchuͤler erringen. 
Eine ſeiner erſparten Reifen geht nach Palä- 


574 


ſtina. „Wer auf dem Ölberg mit ſehenden Au- 
gen geſtanden, der ſteigt von ihm herab — von 
vielem für immer geneſen .. .“ „Mein Weg 
war klar,“ ſchreibt er, „ich war entſchloſſen, 
mich nicht zu trennen von dem armen Volke, 
dem ich ſelbſt entſtammte.“ Das ijt das Ge- 
heimnis ſeiner zu Herzen dringenden Sprach- 
gewalt. So wirkte er jahrelang als Schrift- 
führer des Vereins für naturgemäße Gefund- 
heitspflege: „Heilkunſt iſt eben eine Kunſt, bei 
der das Beſte nicht im äußeren Wiſſen allein 
gegeben werden kann.“ Dann trat der Boden- 
reformgedanke in fein Leben durch den 
Verein für Bodenbeſitzreform, deſſen Zeit- 
ſchrift „Frei-Land“ er jahrelang redigierte. 

Was den Anfang der neunziger Jahre fenn- 
zeichnet, iſt eine innere Unruhe der Aufgewed- 
ten, es iſt eine Zeit der Selbſtmorde. Auch die 
Bodenbeſitzreform gart. Männer ſtark indivi- 
dualiſtiſcher Prägung, wie Flürſcheim, Hertzka, 
verſuchen Utopien in Mexiko und Afrika; Da- 
maſchke kämpft für den Schutz der Bauhand- 
werker, für den Bau- und Sparverein, denn: 
„Die theoretiſche Erkenntnis von der Ver- 
derblichkeit der Schacherfreiheit der Erde wird 
durch die Anſchauung beſſerer Verhältniſſe 
ungemein raſch wachſen.“ Aber: „Es gibt 
keine Gnjein der Seligen. Wir Volksgenoſſen 
ſind alle durch unſichtbare, aber unzerreißbare 
Ketten miteinander verbunden; wir ſteigen 
alle in die Höhe oder wir ſinken alle, zuletzt 
auch die, wenn nicht ſelbſt, dann in ihren Kin- 
dern und Enkeln, die heute glauben, aus 
krankhaften ſozialen Verhältniſſen Sonder- 
vorteile zu ziehen.“ Er weiß: „Das Vertrauen 
zu den Führern macht eine Organiſation erſt 
arbeitsfähig.“ Seine Methode war: „Die ur- 
alte Wahrheit, deren Bedeutung man er- 
kannt, bineingufiigen in das Leben feines Vol⸗ 
kes, ſo wie es ſeine geſchichtliche Entwicklung 
gerade in dieſer Stunde verlangt und ermög- 
licht!“ 

1896 iſt die Entſcheidung für ihn. Er gibt den 
geliebten Lehrerberuf auf und wird Re- 
dakteur der „Kieler Neueſten Nachrichten“. 
Der Bund für Bodenbeſitzreform geht auf in 
den deutſchen Volksbund, bis 1898 der Bund 
Deutſcher Bodenreformer unter dem Vorſitz 
Adolf Damaſchkes gegründet wird. Aus einer 


Auf der Ware 


Weltanſchauungsſekte wird er der Bund der 
praltiſchen Arbeit. Der Bund greift ein in 
innerpolitiſche Fragen: Kolonien, Kanal 
bauten, ſtädtiſche Bodenpolitik, Hypotheken- 
reform (Geſetz zur Sicherung der Bauforde⸗ 
rungen), Monopolifierung der Bobdenſchätze, 
Erbbau und Wiederkaufsrecht, Agrarfrage, 
Wohnungsfrage. Der Bund hat ſein eigenes 
Organ und ein wiſſenſchaftliches „Jahrbuch 
der Bodenreform“. Damaſchke ſchreibt ſeine 
drei großen Schriften: „Bodenreform“, „Ge- 
ſchichte der Nationalökonomie“, „Aufgaben 
der Gemeindepolitik“. Er heiratet die Enkelin 
des badiſchen Staatsmannes Gelzer, ſeine ge⸗ 
treue Gefährtin in aller Arbeit. Er gewinnt 
treue Freunde unter Univerfitätsprofefjoren, 
Kaufleuten, Politikern, Berwaltungsbeamten, 
Pfarrern: Männer, die den Bundestagen der 
Bodenreformer das feſte und bodenftändige 
Gepräge geben. Im Krieg kämpfte der Bund 
unermüdlich für die Heimſtättenhoffnung. 
1919/20 wurden Reichsſiedlungsgeſetz, Reichs- 
heimſtättengeſetz, Art. 155 der neuen Ver- 
faſſung geſchaffen. Gegen Krankheit und Alter 
kämpft Dr. Damaſchke unermüdlich für feine 
Fahne. Er hat in einer Zeit gelebt, die keine 
Berge verſetzte, jondern eine Zeit der Borbe- 
reitung war. Er hat nicht weite Strecken er- 
obert, aber fein Leben iſt Mühe und Arbeit 
geweſen. 

„Sich an der Gewißheit genügen, Samen 
ausſtreuen, Samen, der hinfliegt in die Welt, 
zuletzt von dem einzelnen Gdemann unkon- 
trollierbar, damit begnügen ſich nur wenige, 
auch wenn ſie wiſſen, daß es guter Samen iſt, 
deſſen Frucht eine Frucht des Glüdes und des 
Lebens werden muß.“ E. Behne 


Deutſche Feſtſpiele 1926 in Weimar 


m 1. Auguſt 1925 iſt der „Bayreuther 

Bund der deutſchen Jugend“ gegründet 
worden. Man gab ihm zwei Aufgaben mit auf 
den Weg, deren jede eine nationale Erziehungs- 
tat fein ſollte. Die innere Aufgabe iſt die Er- 
ziehung unſerer reiferen Jugend zum Ge 
danken von Bayreuth, dem gewaltigen mufit 
dramatiſchen Kunſtwerke Richard Wagners. 
Das Ziel iſt die Bildung einer neuen Ge- 


Auf ber Warte 


meinde, die aud in Zukunft, eng verwachſen 
mit dem Werke, Bayreuth und das deutſche 
Kunſtwerk tragen und um dieſes unvergäng- 
liche Wahrzeichen deutſcher Kultur das deutſche 
Volk ſammeln ſoll. Die äußere Aufgabe iſt 
das Bewußtſein, als Machtfaktor tatkräftig 
und geſtaltend in das Kulturleben unſeres 
Volkes einzugreifen, das deutſche Volk an 
ſeine große Kultur wieder glauben zu lehren 
und eine neue Lebensbewegung an die Stelle 
des immer mehr drohenden Verfalls der deut- 
ſchen Kunſt und Kultur zu ſetzen. 

Es iſt diesmal nicht bei den gewohnten hilf- 
loſen und ohnmächtigen Ausſchußſitzungen, 
Vorſtandsberatungen, Mitteilungen durch die 
Preſſe und ideal-phantaſtiſchen Ankündigun⸗ 
gen und Aufrufen geblieben. Junge, begei- 
ſterte Menſchen haben ſich über Formalismus 
und Pedanterie hinweggeſetzt und mit einem 
kühnen Griff den deutſchen Geiſt und den 
deutſchen Willen hervorgezogen aus dem 
Schlummer. Sie haben an die Stelle der Rede 
und der Schrift die Tat geſetzt und dürfen 
heute, innerlich gefeſtigt, an die Öffentlichkeit 
treten. 

Über das ganze Deutſche Reich verbreitet, 
arbeiten die Orts- und Schulgruppen des 
jungen Bundes der Bayreuther Jugend. In 
Berlin, Hamburg, Dresden, Magdeburg, Wei- 
mar, Deſſau, Elberfeld Barmen, Jena, Cife- 
nach, Gotha, Arnftadt, Eiſenberg, Pforzheim 
ſitzen die Hauptgruppen, ſelbſt ſchon ſtark, 
aber immer weiterſchaffend, in vielen Städten 
ſind einzelne Perſönlichkeiten, begeiſtert von 
dem Gedanken einer Bayreutherziehung, die 
das ganze deutſche Kulturleben in ſich 
vereinigen will, werbend und aufbauend tätig, 
um dem jungen Bunde zu jeinem erſten Wie 
genfeſte die Freude einer weitverzweigten 
Verbreitung zu machen. Überall aljo Aufbau- 
arbeit unter dem Zeichen der Freude und der 
goffnung! 

Die erſte Kulturtat aber, die erſten deut- 
ſchen Feſtſpiele, ift nun begründet und 
ſichergeſtellt. über den Wert und das Ziel 
einer ſolchen Feſtzeit ſind wir uns heute um ſo 
klarer geworden, je deutlicher die Feſſelung 
des deutſchen Kunſtlebens durch internatio- 
nalen Geift und Ausländerei der Kreiſe ge- 


375 


worden iſt, die heute alle leitenden Stellen 
des deutſchen Geiſteslebens innehaben. Eine 
ſolche Beſinnung auf das eigene Kulturgut 
im deutſchen Volke iſt notwendig, wenn wir 
nicht wollen, daß wir ſeeliſch und geiſtig ver- 
kümmern. 

Was einzelne an einzelnen Stellen refor- 
matoriſch zu beſſern verſuchten, das wollen 
die für den Juli 1926 angeſetzten „Deutſchen 
Feſtſpiele“ zuſammenfaſſen und zum madt- 
vollen Anfang einer neuen deutſchen Kultur- 
bewegung machen. 

In Bayreuth, das uns Symbol des deut- 
ſchen Nationalkunſtwerks iſt, werden im Jahre 
1926 die Proben zu den für 1927 angeſetzten 
Feſtſpielen ſtattfinden. Das Probenjahr darf 
jedoch der deutſchen Kulturgemeinde nicht 
verlorengehen, die in der Ruhepauſe Bay- 
reuths von 1914 bis 1924 ſchon lange genug 
hatte entbehren muͤſſen. Im ſchönen Weimar 
ſoll fie ſich zur Pflege deutſcher Kultur ver- 
einen, damit ein lang erſehnter Wunſch deut- 
ſcher Führerperſönlichkeiten wie Hans von 
Wolzogens und Friedrich Lienhards Wahrheit 
werde, die Bayreuth und Weimar ver- 
bunden wiſſen wollten, da eines ohne das 
andere nur ein einzelnes, die Vereinigung 
beider aber das große Ganze erreichen könnte. 

Durch das verftändnisvolle und bereitwillige 
Entgegenkommen der Generalintendanz von 
Weimar haben die Gedanken Blut und Leben 
bekommen. Das prächtige, ſchon durch ſeinen 
vornehmen Stil und die bauliche Anlage wie 
zum Feſtſpielhauſe geſchaffene „Deutſche Na- 
tionaltheater“ in Weimar ijt für den Juli 1926 
an den „Bayreuther Bund der deutſchen Zu- 
gend“ verpachtet, der mit dem 1. Juli die 
Proben aufnehmen wird und mit dem 
22. Zuli zu feinen „Deutſchen Feſtſpie- 
len“ einladet. 

In dieſem erſten Feſtſpieljahre ſollen drei 
deutſche Männer zu Worte kommen, die ihrem 
Volke Vieles und Schönes zu ſagen haben: 
Siegfried Wagner, Friedrich Lienhard 
und Hans von Wolzogen. Von Siegfried 
Wagner werden „Der Bären häuter“ und 
„Sternengebot“ aufgeführt. Der „Bären- 
häuter“, ein kraftvolles, kerndeutſches Drama, 
iſt das erſte Werk des Bayreuther Dichter 


376 


komponiſten, mit dem er in den Jahren 1900 
bis 1901 die Bühnen im Sturm eroberte; das 
„Sternengebot“ dagegen ein ganz in Melodie 
getauchtes hohes Lied der Liebe. Eine gewal- 
tige dramatiſche Steigerung erfährt dieſes 
Werk durch die Geftalten des Salierherzogs 
Konrad und des Krüppels Kurzbold, der ſich 
für einen verheimlichten Sohn des Herzogs 
hält und ſelbſt nach der Krone greifen möchte. 
Karl Waak, aus dem Kreiſe um C. Fr. Glaje- 
napp, hat dieſes Werk in einer tiefen Abhand- 
lung nach feinem dramatiſchen Gehalt unter- 
ſucht. Auf die von ihm erſchienene Broſchüre 
fei als beſte Einführung neben den umfaffen- 
den Werken von Glaſenapp ſelbſt und Paul 
Pretzſch (beide bei Breitkopf & Härtel) emp- 
fehlend hingewieſen. 

Von Friedrich Lienhard wird der „Münd- 
hauſen“ aufgeführt, um die muſikaliſchen 
Abende mit dieſem entzückenden, heiteren 
Spiel zu unterbrechen, deſſen Anlage mir in 
Shakeſpeareſcher Meiſterſchaft erſcheint, und 
das dem großen lebenden Träger des Weimar- 
gedankens neue Freunde zu den getreuen Ver- 
ehrern ſeiner edlen Kunſt gewinnen wird. 

In einer Morgenfeier kommt außerdem 
Hans von Wolzogen zu Worte, den es im 
Jahre 1926, als dem Gedenkjahre des fünf- 
zigjährigen Beſtehens Bapreuths, zu ehren 
gilt. Neben einem Vortrage über den treueſten 
Jünger des Bayreuther Meiſters, den edlen 
deutſchen Mann und Streiter und den Sänger 
Wolzogen, ſteht die Aufführung feines „Lon- 
ginus“. 


Die Beſetzung der führenden Partien in 


ſämtlichen Aufführungen nennt klangreiche 


Namen der beſten deutſchen Bühnenkünſtler. 


Siegfried Wagner wird die künſtleriſche Lei- 
tung innehaben, Generalmuſikdirektor Franz 
von Höslin (Seffau) und Karl Elmendorf 
(Staatsoper München) die muſikaliſchen Auf- 


Auf der Warte 


führungen dirigieren, Alexander Spring 
(Stadttheater Aachen) die Bühnenleitung 
führen und Dr. Ulbrich, der Generalintendant 
des Nationaltheaters, für die Schauſpielregie 
zeichnen. Kammerſänger Habich, Heinrich 
Schultz, Rudolf Watzke, Joſeph Correck, Fritz 
Wolff, Hans Beer, ſämtlich durch ihre Mit- 
wirkung in Bayreuth bekannt, Anton Maria 
Topitz, Elli Sendler, Inge Sarauw, Liſelotte 
Yeinlin und manche andern wirken in den 
muſikaliſchen Aufführungen mit. Orchefter 
und Chöre werden bedeutend verſtärkt fein, 
fo daß Feſtſpielaufführungen erreicht werden, 
die den Charakter eines künſtleriſchen Exeig 
niſſes tragen ſollen. 

In der rechten Erkenntnis der ſchweren 
wirtſchaftlichen Notlage unſeres Volkes und in 
dem Bewußtſein, mit den „Oeutſchen Feſt⸗ 
ſpielen“ eine notwendige ideale Tat durch 
zuführen, hat die Feſtſpielberwaltung einen 
Etat aufgeſtellt, der es ermöglicht, die Ein- 
trittspreiſe ſo niedrig zu geſtalten, daß der 
Feſtſpielgedanke auch in den Kreiſen unſeres 
Volkes Verbreitung finden kann, die zwar das 
Bedürfnis nach künſtleriſchen Feierſtunden, 
nicht aber die Mittel dafür haben. 

Die Verwaltung liegt in den Händen des 
„Bayreuther Bunds der deutſchen Jugend“, 
die Gefchäftsitelle der Feſtſpiele iſt beim Ber- 
lag W. Hartel & Co. Nachf., Leipzig, Johannis- 
gaffe 30 JI. 

Die Geſchäftsſtelle des „Bayreuther Bunds 
der deutſchen Jugend“ befindet ſich in Alten; 
burg, Thüringen, Leipziger Straße 1, beim 
Bundesvorſitzenden. Dort erfährt man, wie in 
der Geſchäftsſtelle der Feſtſpielverwaltung, 
Näheres. 

An allen deutſch Empfindenden liegt es nun, 
die „Oeutſchen Feſtſpiele“ zu einem Bekennt⸗ 
nis für deutſche Kultur zu geſtalten. 

Otto Daube 


Herausgeber: Profeſſor Dr. Friedrich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Ronrab Dürte, 

Weimar, Rari-Alexrander-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen. 

Annahme ober Ablehnung von Gedichten wird im „Briefkasten“ mitgeteilt, fo daß Rückſendung erſpart bleibt. 

Ebendort werden, wenn möglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Cinfendungen bitten wir Rüdporto beizulegen. 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


1° 


Bildnis der Friederike Sachs (Erstveröffentlichung) M. v. Schwind 


ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT 


Setausgegoben von Prof. Dr h.c. Friede: ——— 


2: —‚—— mmm. a _________________ _________________& 
28. Jahrg. Februar 1926 Heft 5 
ee ee re ̃ ⁵³ ¹ AA.... (“ —— 
NSW ids 00g], T 
N 


Ae, 


Der Greis follte von Dank erfüllt fablen, daß 
ibm zur lebten Lebeusflufe vorguſchreiten ver- 
gönnt war; er bat nicht naͤtig zu jammern, weun 
fie aunaßt, es iſt ifm geftattet, mit filler Web- 
mut Hinter fid zu blicken nnd nad dem ſchwũlen 
Tag in abenò licher, labender Kable gleich ſam auf 
der Bank vor feiner Aaustür ſichenò, fein ver- 
bradtes Leben zu ũberſchlagen. In begaõten, 
auserwablten Männern galten raft und Aus- 
dauer faft obue Abuutung weit langer nad. 
Welche Fülle ununterbrochener Tätigkeit und 
geifliger Gewalt bat ein Aumbolöt bis ins feruſte 
Alter allen zu flauneuder Bewunderung kund- 
gegeben? Und die FJerrſchergabe des großen 
Röuigs, deffen ruhmvolles Andenken wir heute 
feiern, erſchien fie nicht bis zum Odluf ſeines 
Dafeins unermattet, unverfiegt ? 


Fakob’ Grimm 
(„Über das Altec’, 1860) 


D x / . 


ae e YYY!!! 
ce, 


2 


SS 
Der Türmer XXVI, 5 


378 


Jugend und Alter im Lichte des Ideals 
Von Friedrich Lienhard | 


Feſtrede zur Feier bes 7Sjöhrigen Beſtehens der Berliner 
Studentenderbindung Wingolf in der Aula ber dortigen 
Univerfität. 2. 
Ei iſt mir der Auftrag geworden, zur Feier des fünfundſiebzigjährigen Veſtehens 
der Berliner Studentenverbindung Wingolf an dieſer Stelle die Feſtrede zu 
halten. Ich habe dieſer Verbindung einſt in den Jahren 1887 und 1888 zwei Semeſter 
angehört, nachdem ich die vorausgehenden Jahre in der Straßburger Schweſter⸗ 
verbindung Argentina verbracht hatte. Damals gab es noch ein deutſches Straßburg 
und darin ein reich ausgeprägtes deutſches Studentenleben mit einer neuen ſchönen 
Universität. Es war die Zeit, wo man im fröhlichen Heidelberg das fünfhundert 
jährige Gefteben der „Carola Ruperta“ feierte. Der Frühling blühte bei jenem 
großzügigen Studentenfeſt überwältigend ſchön über alle Gartenmauern; und die 
Gaſſen und Märkte blühten von überquellenden Scharen buntbemützter Mufen- 
ſöhne. Es war eins meiner erſten eindrudsvollften Erlebniſſe auf altdeutſchem 
Boden — und es war eine Höhezeit deutſcher Reichsmacht. Denn noch lenkte 
Bismarck das Reich, noch lebte der edle alte Kaiſer Wilhelm. Und als wir ein Jahr 
darauf nach Berlin kamen, war es für uns elſäſſiſche Studenten einer der erſten 
Gänge, uns drüben vor dem Kaiſerſchloß aufzuſtellen, wenn die Wachtparade vor- 
überzog. Dann erſchien wohl das vornehme Geſicht des greifen Monarchen einen 
Augenblick am Fenſter; wir jungen Deutſchen jauchzten ihm zu und ſangen wohl 
auch mit Hochgefühl ein vaterländiſches Lied. Denn Deutſchland war damals in 
der ganzen Welt geachtet. 

Aber in Berlin erlebten wir auch des alten Kaiſers Tod und Vismarcks Ent- 
laffung. Beides hat uns tief erſchüttert, ganz beſonders des Kanzlers Schickſal. Es 
iſt jedem, der dabei war, unvergeßlich, wie ſich die ganze Nacht die ſchweigende 
Menſchenmaſſe unter leiſe rieſelndem Märzregen vor dem Palaſt drängte und auf 
Nachricht über den ſterbenden Kaiſer harrte. Ich entſinne mich noch, wie meine 
urberliniſchen Wirtsleute am Morgen weinend in der Küche ſaßen: „Der Kaiſer 
iſt tot!“ Ja, des Reiches künftiges Schickſal war mit dem Tode jenes Kaiſers und 
mit der Entlaffung des Kanzlers beſiegelt. Als wir Studenten dort am eiſigen 
Morgen des Begräbnistages in ſtudentiſchem Wichs vor der Univerſität Spalier 
bildeten und der lange, lange Leichenzug weſtwärts durchs Brandenburger Tor 
vorüberwallte — da war eine geſchichtliche Wende angebrochen. Vis ins Mark hat 
es uns dann erregt, als der genialſte Außenpolitiker der ganzen Kulturwelt, nicht 
nur Deutſchlands, von dem jungen Nachfolger in den Sachſenwald verbannt wurde. 

Dies taucht heute vor dem Auge des ſechzigjährigen Elſäſſers auf — ein Rüd- 
blick über faſt vierzig Jahre. Was hat ſich in dieſen vier Jahrzehnten Erſchuͤtterndes 
vollzogen! Und was vollends in den fünfundſiebzig Jahren, auf die wir heute bei 
dieſer Feier zurückſchauen! Aus den Nachwehen der Revolution von 1848 tauchte 
in jenen fünfziger Jahren dieſe deutſch und chriſtlich geſinnte Studenten verbindung 
auf. Es war die Zeit, als Bismarcks Wirkſamkeit begann und als Hindenburg geboren 


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Lenhard: Zugend und Alter in Lichte des Zde als 379 


war. Und damit ſteigt unſere Betrachtung aus dem Perſönlichen ins Allgemein- 
Hiftorifche empor. 

Laſſen Sie uns dem Tatbeftand kühn ins Auge ſchauen und gleich die Kernfrage 
ſtellen: war Deutjchland damals etwa jung — und iſt es nun alt geworden und 
reif zum Zuſammenbruch? Läuft nicht das verfängliche Wort um vom „Untergang 
des Abendlandes?“ Läßt ſich Aber Jugend und Alter nichts Troſtvolles und Über- 
geordnetes finden, was dem Wechſel ftandhält? 

Mit dem Begriff „Studentenverbindung“ iſt ohne weiteres der Begriff Jugend 
verbunden. Jugend wandert unaufhaltſam hinüber in das Alter; und immer neue 
Jünglinge drängen an die verlaffenen Plätze der alten Herren. Und fo wäre hier 
ein ewiger Wechſel und Wandel feſtzuſtellen, wenn nicht etwas Gemeinſames 
Jugend und Alter verbände. Dieſes Gemeinſame, dem wir alle dienen, alt und 
jung, iſt das Ideal. 

Ein gutes Ideal muß uns durch das ganze Leben begleiten können; es muß nicht 
nur ſtandhalten, ſondern auch Kraft geben; es muß bei aller Beharrlichkeit im 
Weſen doch fähig ſein, ſich in den Formen immer wieder zu verjüngen und den 
wechſelnden Zeitverhältniſſen anzupaſſen. 

Der Wingolf fügt ſich mit feinen Idealen in die Linie der Reichsromantik ein. 
Er entzündet feine Fackel an demſelben Feuer, das die Burfdhen der Wartburg 
belebt hatte, das im deutſchen Idealismus eines Schiller und Fichte und Schleier 
macher lebendig war, das ſchon von Klopſtock und den national geſtimmten „Varden“ 
entzündet war. Das altgermaniſche Wort „Wingolf“ bezeichnet — ähnlich wie 
Walhall — eine Freundſchaftshalle, einen Tempel der Freundſchaft. Klopſtock hat 
eine ſeiner erſten und längſten Oden (1747), die er ſeinen Freunden widmete, mit 
dieſem ſelten vorkommenden Namen belegt. Dort heißt es: 

„Den ſegne, Lied, ihn ſegne bei feſtlichem 
Entgegengehn, mit Freudenbegrüßungen, 
Der über Wingolfs hohe Schwelle 

Heiter, im Haine gekränzt, hereintritt ... 


Die ganze Lenzflur ſtreute mein Genius, 
Der unſren Freunden rufet, damit wir uns 
Hier in des Wingolfs lichten Hallen 

Unter dem Flügel der Freud' umarmen!“ 


Des Meſſiasſängers Grundideale — Freundſchaft und Liebe, Vaterland und 
Frömmigkeit — ſind auch die unferen. „Durch Einen Alles“ (de? Evös xdvra), iſt des 
Wingolfs gläubige Loſung: durch Einen Alles — durch den göttlichen Meiſter! 
Gott, Freiheit, Tugend, Anſterblichkeit, Vaterland: dies gehört zu den Kräften, 
die einſt ſeit Klopſtocks Tagen unterirdiſch das Reich vorbereitet und gebaut haben — 
einſt: vor dem Einbruch des Materialismus! Es waren die ſtärkſten Stützen der 
deutſchen Familie und damit auch der deutſchen Lebensgemeinſchaft; ſie banden die 
Oeutſchen zur Einheit, als wir ſtaatlich noch nicht geeinigt waren. Vergeſſen wir 
nicht, daß die Burſchen der Wartburg gemeinſam in der Kirche das heilige Abend- 
mahl nahmen! Tiefernſt war es ihnen an jenem reinen Oktobertage des Jahres 1817 


380 Lienhard: Zugend und Alter im Lichte des deals 


init ihrer vaterländiſchen Sache, fo daß fie zuvor brüderlich vor das Angeſicht Gottes 
traten. Dieſe religidfen Gemütsträfte find heute vom Materialismus und Sntellel- 
tualismus zurückgedrängt. 

So erhebt ſich bei einer wehmutvollen Rüdihau auf dieſe fünfundſiebzig Jahre, 
die eine Reichsgründung und einen Reichszuſammenbruch erlebten, die Frage: 
waren jene Ideale, die wir in die Worte „Deutſchtum“ und „Chriſtentum“ ſeit 
Klopſtock und ſeit der Wartburg-Burſchenſchaft zuſammenballten, nur ein Traum? 
Soll die neue Schicht recht behalten, die das Vaterland in Internationalismus 
auflöſen und die Religion nicht nur als „Privatſache“ (alſo für die Gemeinſchaft 
belanglos), ſondern überhaupt als „überflüſſig“ abſchaffen will? Ein wenig weiter 
öſtlich in Europa hat man in der Tat nicht nur die Monarchie abgetan, wie bei uns, 
ſondern auch Gott abgeſetzt und die Religion ausgetilgt aus dem terroriſtiſch be- 
herrſchten öffentlichen Leben. Fahle Flammen züngeln von dort herüber; was man 
als unſre koſtbarſte deutſche Eigenart zu ſchätzen pflegt, das ſchöpferiſche Gemüt, 
das unſere Märchen, unſere Muſik, unſere Philoſophie ſchuf und das Chriſtentum 
eindeutſchte, das droht von jenem kalten Verſtand zerſetzt und zerfreſſen zu werden. 
Es iſt ein neuer Tatareneinfall. Und man begreift, daß nach ſolchem mörderiſchen 
Weltkrieg — der nur die äußere Auswirkung des längſt ſchon die Seele zerſetzenden 
Materialismus ift — in Europa ein Flüſtern umläuft vom „Untergang des Abend- 
landes“. Man machte ſich um die Jahrhundertwende, als Häckel und der platt 
gewordene Darwinismus den Markt beherrſchten, lächerlich, wenn man den Namen 
Gott ausſprach; und man wird heute der Phraſe verdächtigt, wenn man das Wort 
„Idealismus“ in den Mund nimmt. Es iſt landläufige Unſitte geworden, den Gdealis- 
mus nicht mehr als eine wünſchenswerte Seelenkraft hoch zu achten, die ſich erſt 
recht im Leid bewährt: fondern als Ideologie und Illuſionismus ſpöttelnd zu miß- 
achten, wobei man ſich unter Idealiſten gemeinhin unpraktiſche Schwärmer vorſtellt. 

Wir aber ſprechen als unfere Überzeugung mit ganzer Feſtigkeit und Unzwei- 
deutigkeit dies aus: wenn die ſchöpferiſchen Gemütskräfte, die einſt den deutſchen 
Idealismus, die deutſchchriſtlichen Lebensideale, die Reichsromantik geſchaffen 
haben, wenn dieſe Grundſteine eines edlen deutſchen Familien- und 
Gemeinſchaftslebens untergehen — fo hat Oeutidland feine Sendung ver- 
kannt, ſo geht Deutſchland unter. 

Nicht das Abendland iſt dem Untergang geweiht, denn dies mag auch als Zivili- 
ſation weiterleben oder weitervegetieren, aber die beſondersartige deutſche 
Gemütskultur ijt dann zur Belanglofigkeit und damit zum Abſterben verdammt. 
Das Reich iſt dann ſeelenlos geworden, eine Maſchinerie, ein Mechanismus; der 
Duft und Hauch iſt weg; das Unausſprechbare, was ich mit dem Wort „Reichs- 
ſeele“ anzudeuten pflege, iſt verflogen. 

Nicht der Idealismus als ſolcher wird untergehen. Niemals! Denn wahrer 
Idealismus kann im einzelnen Menſchen nun und nimmer ſterben, er iſt unbrechbar 
und bekundet eben damit, daß er den äußeren Verhältniſſen überlegen iſt, ſeine 
Herkunft von Gott, ſeine Unbedingtheit, ſein kosmiſches Geheimnis. Er wird ſich 
aber bei zu ungünftigen Zeiten nur noch in einzelne Perſönlichkeiten zurückziehen 
und wird das Gemeinſchaftsleben nicht mehr zu durchdringen vermögen. Die 


Lienhard: Jugend und Alter im Lichte des Ideals 381 
idealiſtiſchen Gottgefandten find zwar immer in der Minderheit, aber fie durch- 
ſäuern und durchſalzen die Maſſe und bewahren ſie vor Fäulnis. Das iſt ihre 
Sendung. Wo dies nicht mehr gelingt, da fällt eine Lebensgemeinſchaft rettungslos 
auseinander; denn ſie weiß nur noch mit dem ſinnlichen Genuß und Nutzen etwas 
anzufangen, iſt alſo nur noch eine ziviliſierte Tierheit und wird von unten her 
in triebhaften Zuckungen geleitet, aus den Bezirken der Zeugung und Verdauung. 
Die oberen Mächte jedoch, die Kräfte des Guten und Schönen, haben ſich in ihr 
Lichtreich zurückgezogen. Es iſt der Anfang vom Ende. Das Ende aber ijt Ver- 
maſſung, Verblödung, Vertierung. 

Eine große Polarität oder Wechſelwirkung geht je und je durch die Welt: Trieb 
kräfte von unten und Geiſtkräfte von oben. Jene ſind erdhaft, dieſe ſind kosmiſch. 
Jene find die Arbeits- und Fronkräfte im Kampf ums Dafein, dieſe find Religion 
und Kunſt, Freundſchaft und Liebe. Dort iſt Zwang und Alltag, hier iſt ſegnender 
Sonntag. Wer ſich den aus dem Lichtreich einſtrömenden Kräften des Sonntags 
verſchließt, der verknöchert unrettbar. Die helfende Liebe von oben hat ihn verlaſſen. 

Wir können auch ſo ſagen: es iſt die Polarität oder Wechſelwirkung zwiſchen 
Staatsreich und Gottesreich. Beide wirken zuſammen wie Leib und Seele. Wenn 
ſich das feine „Reich Gottes“, das Chriſtus verkündet hat, nicht ſtrahlenhaft hinein- 
wirkt in das Staatsgebilde, indem es die einzelnen Herzen zubereitet, ſo iſt nur 
noch eine ſeelenloſe Maſſe zu befehligen, die dann allerdings einen Diktator braucht 
(da hat Spengler recht), weil ſie ſelber keine mitregierenden Kräfte des Guten 
mehr in fic übt. Nicht ernſt genug kann man dieſe beiden Pole Staat und Gottes- 
reich in ihrem notwendigen Zuſammenwirken beachten. Chriften und Zdealiſten 
find Mitarbeiter der Gottheit, gleichviel welche Stelle fie im Staatskörper ein- 
nehmen mögen. Ihre Herzen ſtehen in ununterbrochener ſtiller und inniger Gebets 
verbindung — oder wie man dieſes kosmiſche Heimatgefühl benennen mag — 
mit den Meiſtern der Weisheit und der Liebe. Sie ſind die aufnehmenden Antennen 
für die Stimmen der Höhe. 

Dieſe Stimmen ſind es, die ein Volk vor dem Untergang bewahren. Dieſe edle 
Minderheit iſt das Licht der Welt und das Salz der Erde. Hier iſt die feine Schnur, 
mit der die Menſchheit am Himmel hängt, an den Reichen des Lichts, in die unſere 
Erde eingebettet iſt und von denen fie nicht abgeſchnürt werden darf. 

Das deutſch-chriſtliche Lebensideal ijt ein Doppelideal: das irdiſche Vaterland 
wird durchleuchtet von göttlichen Kräften, die in unſerem Falle nun einmal chriſtlich 
ſind. Unſer Meiſter iſt der Herzog Heliand; wir ſind ſeine Mannen. Ich rede keiner 
deutſchtümelnden Form des Chriſtentums das Wort; dieſe Formen mag jeder ſich 
ſelber finden und wählen, wie er eben Ewiges erleben mag. Auch iſt Deutſchtum, 
ſelbſt in edelſter Ausprägung, nicht dasſelbe wie Chriſtentum, ſelbſt in eingedeutſchter 
Form. Dieſes iſt kosmiſch, jenes erdhaft. Es gibt keinen Religions-Erſatz, jo wenig 
wie es einen Sonnen-Erſatz geben kann. In Gott leben, weben und wirken wir, 
ſelbſt der Unglückliche, der ſich gegen ihn ſträubt oder ihn mit Worten leugnet. 
Unfer Planet ift undenkbar ohne die Sonne; und die Menſchenſeele iſt undenkbar 
ohne Gott. Dieſes Bewußtſein unſrer göttlichen Weſensart und Beſtimmung in den 
erdgebannten Menſchen wachzuhalten und ihr dadurch Wärme und in der Wärme 


382 Llenhard: Jugend und Alter im Lichte des Feels 


Liebe und Vertrauen oder Glaube zuzuführen — dieſe Stärkung iſt die ſchöne 
Lebensaufgabe wahrer Chriſten und wahrer Zdealiſten, dieſer natürlichen Bundes 
geno ſſen gegen Materialismus und Mammonismus. 

Wir fangen aber unſre Arbeit damit an, daß wir unſer eigenes Leben und Wirken 
im Sinne des deals zu geſtalten ſuchen. Und das Geſtaltete ſtrahlen wir ganz 
von ſelbſt hinaus in die erreichbare Uniwelt. Veredlungs- und Vollendungsdrang: 
das iſt die in uns wirkende ſchöpferiſche Kraft. Bei echten Chriſten und Zdealiſten 
(ich ſetze beide immer wieder als gleichgerichtet voraus, da ich vom deutſchchriſtlichen 
Idealismus ſpreche) decken ſich Leben und Lehre; denn ihre Lehre iſt Leben, das ſich 
in Worten verdichtet, und ihr Leben iſt geſtaltete Lehre. 

Hier, meine jungen Freunde, geht der Weg zu einem neuen Aufſchwung unſres 
deutſchen Volkes. Ich weiß keinen edleren Ehrgeiz in einem jungen Menſchen zu 
entflammen als den: fein Leben fo zu meiſtern und zu meißeln, daß feine Geift- 
geſtalt würdig werde, mit den Meiſtern zu wandeln in den Reichen der Vollendung. 
Fange jeder von Ihnen mit ſich ſelber an! Was auch die Umwelt tue, erteilen Sie 
ſich mit perſönlichem Trotz den autoſuggeſtiven Befehl: „Du diene den Meiſtern, 
den Guten und Großen, den Fackelträgern, die am Pilgerzuge der Menſchheit 
führend entlang wandern! Du ſei zunächſt Lehrling, dann Geſelle, zuletzt Meiſter 
oder Meiſterlein nach dem Maße deiner Kräfte!“ So wird dein Leben geſegnet ſein. 

Es iſt wahrlich leicht, ſich über Idealismus luſtig zu machen, es iſt ſchwer, aber 
ſchön, den Weg des Idealismus ſelber zu wandern. Je länger du wanderſt, um ſo 
weniger brauchſt du deine anfangs notwendige Laterne: denn in dir ſelber ent- 
faltet ſich eine wunderbare Leucht- und Wärmekraft, und du felber wirſt von innen 
leuchtendes Vorbild ſein für viele und wirſt von deinem Vorrat Kraft abgeben 
denen, die an Unterkraft leiden! 

Es gibt nämlich ein Geheimnis — und nun ſpricht der ältere Freund zu den 
Jungen — es gibt ein Geheimnis, das nur diejenigen wiſſen, die ſich auf die Ewig- 
keit einſtellen, alſo gleichſam teleſkopiſch zu ſchauen vermögen: etwas in uns wird 
nämlich immer jünger, wenn wir in gutem Sinne alternd unſer Leben geſtaltet 
haben. Immer jünger wird in uns die Geiſtgeſtalt, an der wir lebenslang be- 
wußt und unbewußt gemeißelt haben. Sie macht ſich rüſtig und bereit, in die 
Ewigkeit hinüberzuziehen, aus der wir gekommen ſind. Schickſal und Widerſtände 
haben uns hienieden geübt. Wir gehen über die Erde, beſtehen eine Reihe von 
Prüfungen, wachſen und reifen daran — und fahren bereichert und geklärt auf 
unſrer kosmiſchen Bahn weiter. Dieſes Frohgefühl des unſterblichen Menſchen, 
durch eine tapfer beſtandene Erdenfahrt gereift zu ſein auf unſrer großen kosmiſchen 
Bahn von und zu Gott, das iſt ein Gefühl der Verjüngung, meine jungen Freunde, 
das iſt ein beglüdendes Sieges gefühl. Und unſer oe Wort nach folder Fahrt 
darf dann wahrlich ſein das Wort Dank. 

Jedenfalls, liebe Kommilitonen, wenn die Welt ein Land der Prüfungen iſt, 
wenn ſonderlich Oeutſchland jetzt hart geprüft wird — wohlan, laßt uns die Prä- 
fungen tapfer beſtehen! Ich rufe das Heldiſche in Ihnen an, nämlich das Heldiſche 
auf ſeeliſchem und ſittlichem Gebiet: arbeitet an eurer Innenwelt, duldet und denkt, 
helft und heilt, ſammelt alle edlen Kräfte im Aufblick zu großen und guten Meiftern, 


Riendard: Zugend und Alter im Lichte des Zdeals 383 
obenan zum Meiſter Chriftus — und ihr werdet eine Macht fein mitten in äußerer 
Ohnmacht! Ich weiß keinen anderen Weg als dieſen ſtrengen Pfad durch ſeeliſche 
und ſittliche Erneuerung. Jeder einzelne Menſch muß ihn gehen; da tritt kein 
andrer für ihn ein. Das Reich Gottes wendet ſich mit ſeiner erhabenen Votſchaft 
an die einzelne Seele; es geht kein andrer Weg zu Gott, wie du ja auch allein 
durch die Todespforte mußt. Das durchgöttlichte, geprüfte und durch Prüfung 
geläuterte Ich wird weder hochmütig werden noch im Individualismus erſtarrt 
vereinſamen, ſondern im Dienſte der Gottheit und an der Geſamtheit eine Stim- 
mung der Brüderlichkeit erzeugen, in deren warmem Blutkreislauf ſich die 
ſozialen Spannungen löſen. 

Ich habe mit jugendlichen Erinnerungen begonnen, laſſen Sie mich wieder daran 
anknũpfen! Es ſind etwa ſiebzig Jahre her — kurz nach der Gründung des Verliner 
Wingolfs — da hat ſich unſre Straßburger Studentenverbindung Argentina dem 
geſamtdeutſchen Wingolfsbunde angeſchloſſen. Es ſchlugen dort in den fünfziger 
Jahren einige warmherzige junge Elſäſſer die Brücke über den Rhein: ſtaatlich 
franzöſiſch, in ihrer Kulturgeſinnung deutſch. Man follte bei einer Rüdichau dankbar 
einige jener Namen nennen: fo den prächtigen ſangesfrohen Ihme, den warm- 
herzigen Dichter Karl Hackenſchmidt und den Verfaſſer der „Fröſchweiler Chronik“, 
Karl Klein. Ihme — er wirkte ſpäter als Pfarrer im romantiſchen Bärental, in 
den nördlichen Vogeſen — las gelegentlich einen Bericht über ein Wingolfsfeſt und 
fing Feuer. Im Geiſte dieſes Feſtes ſpürte er das Zdeal deutſchen und chriſtlichen 
Studententums. So fanden jene erſten Argentiner den Weg über den Rhein: ſie 
waren eine Vorahnung der Rückeroberung des Elſaſſes. In Kehl zogen ſie ihre 
Bänder aus der Taſche und hingen ſie um; gelegentlich waren ſie auch Gäſte der 
Verbindungen in Gießen oder Marburg, mit denen fie Fühlung genommen. Und 
einer von ihnen — der redemächtige Karl Klein — hielt dort einmal eine fo feurig- 
deutſche Rede, daß ihn der alte Vilmar unter Tränen umarmte. | 

Was jene jungen, heißen Herzen, jetzt alle dahingegangen, einſt ausſtrahlten 
— jenes Band zwiſchen elſäſſiſcher und deutſcher Kultur — wir ſpäteren Elſäſſer 
haben es freudig fortgeſetzt, bis uns der Weltkrieg hinauswarf aus der jetzt verlorenen 
Heimat. Es iſt mir, als wär' es geſtern geweſen, wie der ZIdealiſt Ihme auf jenen 
umblühten Pfingſtfeſten in meinem Geburtsort Rothbach mit mächtiger Stimme 
voranſang, wenn die alten evangeliſch-lutheriſchen Choräle erklangen. Und wir 
Jungen ſangen begeiſtert an der Orgel mit. Da war nicht alt noch jung: da war 
die alles umſpannende gemeinſame Lebensſtimmung deutſchrchriſtlich gefinn- 
ter Menſchen jeden Alters und Geſchlechts. Bleibt mir weg mit dem hodmitig- 
modernen Wort „Wir Jungen!“ Ach was, ihr Jungen! Es gibt unter euch Jungen 
dumpfe, durchſchnittliche und hochbegabte, begeiſterungsfähige Herzen: nicht die 
Jugend als ſolche iſt das Entſcheidende, ſondern euer Herzens- und Geiftes- 
gehalt. Und dieſer kann im äußerlich alternden Manne noch ſo ſtark und ſo rein 
glühen wie im Jüngling. Hat nicht der immerjunge Feuerkopf Blücher, der Marſchall 
„Vorwärts“, als Greis von einigen ſiebzig Jahren die jungen Freiheitskrieger 
angeführt? Und verdankt Deutſchland den großartigen Rückzug feines Heeres aus 
dem Weltkrieg nicht dem ebenſo betagten Feldmarſchall Hindenburg, der jetzt des 


384 Rabe : Feierabend 


Reiches höchſtes Amt bekleidet? Merkt man einem der bedeutendſten Bücher von 
Ernſt Moritz Arndt, den „Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn 
vom Stein“, etwa an, daß es ein Greis von neunundachtzig Jahren geſchrieben 
hat? Cicero in feiner bekannten Rede „De senectute“, die er dem älteren Cato 
in den Mund legt, und Jakob Grimm in feiner nicht minder rühmlichen Akademie⸗ 
rede „Über das Alter“ haben lobende Worte über des Alters herbſtliche Reife 
geſprochen. Ein ſchönes Alter ijt des Frühlings Erfüllung; wie der Herbit Früchte 
ſpendet, ſo ſpendet der gut gereifte Menſch aus der Fülle ſeiner Weisheit und ſeiner 
Lebenserfahrung. Es kann und darf für Menſchen, die in gleicher Geſinnung — sub 
specie aeternitatis, aus dem Engen ins Ewige — reifen, kein Gegenſatz beſtehen. 
Ihr Jungen und wir Alten — beide arbeiten wir in gleicher Liebe am gleichen 
deutſchen Volke, am gleichen Reich Gottes des Guten, Großen und Schönen — 
als die Immerlebendigen, die man nicht wie der äußerliche Materialismus nach 
Jugend und Alter unterſcheiden darf, ſondern nach dem Wärmegrad ihrer fchaffen- 
den und helfenden Liebe. 
Glückauf zu ſolcher Geſinnung, liebe deutſche Jugend! 


Feierabend 
Von Georg Kläbe 


Der Meiſter ſprach das frohe Wort, 
Den Kalk oon ſeiner Kelle ſchabend. 
Es klingt in meinem Herzen fort 
Wie eine Glocke: Feierabend! 


Vertrauten Heimweg ſucht mein Fuß 

Durch braunes Moor auf langen Dämmen, 
Das Auge bietet Wandergru 

Zu nebelfernen Hügelkämmen. 


Nun winkt vom Waldrand her mein Haus, 
Vom Schornſtein quillt's in grauen Schwaden, 
Als wollt' es mich zum Abendſchmaus 

Zur wohlverdienten Nuhe laben. 


Des Herbſtes letzter Blütenflor 

Lockt lieblich aus dem kleinen Garten. 
Zwei blonde Mädels ſteh'n am Tor, 
Die längſt auf ihren Vater warten. 


Die Löckchen weh'n im Abendwind, 
Zwei Stimmlein läuten ſilberhelle — 
Auf jedem Arm ein lachend Kind 
Betret ich meine traute Schwelle. 


Bald ſteigt die Nacht, die Eule fliegt, 
Die Welt iſt ganz in Grau zerfloſſen — 
In dieſer Dämmerſtunde liegt 

Des Werktags ganzes Glück beſchloſſen. 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt:Roman von Herbert Martens 
(Fortſetzung) 
1666 

rs Lievens war von der Hartenjiraat herübergekommen, und feine unverwüft- 

liche Heiterkeit funkelte über den Tiſch, der einfach gedeckt in dem Nordzimmer 
hinter der Malkammer ſtand; um ihn ſaßen Titus mit feiner blaſſen Braut, Magda- 
lena van Loo, einem frühentwickelten Mädchen, wie man fie bei den Iſraeliten oft 
antrifft, und der Meiſter neben Kornelia, die ihm zur Hand war, alle in aufgeräumter 
Stimmung. Jan Lievens war es auch nicht beſſer ergangen in den letzten Jahren 
als den meiſten holländiſchen Malern: ſie ſetzten ihre Bilder nicht mehr ab. Selbſt 
die Italiener unter ihnen fanden jetzt viel Spreu unter dem Hafer ihrer Kunſtkrippe. 
Hollands Handel hatte durch den Wettkampf mit den Engländern einen ſtarken 
Stoß erlitten, deren Kriegswimpel jetzt alle Meere der weiten Welt beherrſchten. 
Aber das mochte den unbekümmerten Mann wenig ſcheren. Er war der geborene 
Frohſeher, und feine hohe hagere Geſtalt überragte alles Sorgengewölk. Sein flä- 
miſch dreinſchauendes bärtiges Geſicht vertrieb allein ſchon jedes Unwetter, vor 
allem, wenn er den Mund öffnete, um einen wahren Wogenſchwall von unausſprech- 
lichen, nie gehörten Fluchworten hinauszuſchmettern. 

— Rem, mein alter Kamerad, es lebe die Lebensfreude! Hier in dieſem engen 
Amſterdam wird meines Bleibens nicht lange mehr ſein! Nirgendwo kann ich recht 
ſeßhaft werden. Das macht der ewige Drang ins Weite. Du weißt ja, ich bin einer 
von denen, die Waſſer und Wolken um ſich haben müfjen und einen harten ſcharfen 
Wind um die Naſe. Dann erſt bin ich in meinem Element! — 

— Ja, Jan, und dazu einen prickelnden Dampf, der einem überheißen Glas Grog 
entſteigt; ja, ſo ein harter ſcharfer Grog um die Naſe. Kein Widerſpruch, du biſt 
eine glückliche Natur. Wenn du nur ein Liebchen im Arm und deinen Hering zum 
Morgenimbiß haft, dann biſt du glücklich und der große Mynheer. — 

— Spotte du nur, Rem! Hätten wir beide die Fürſten und Machthaber des Lan- 
des zu Schirmherren gehabt, wir könnten jetzt in Saus und Braus dahinleben. 
Das ſoll heißen: ich; nicht du! Zum Höfling taugſt du nicht. Du biſt eine Fgelnatur, 
die ſchon glücklich iſt, wenn man fie ungeſchoren läßt. Und aus Amſterdam kommſt du 
niemals mehr heraus. Ich weiß wirklich nicht, was du ſo Großes an dieſer Stadt der 
Heringe findeſt. Nur die Mädchen ſind hier hübſcher als anderswo, mit Ausnahme 
von Antwerpen. Ja, das war dort in meiner ſtolzen Künſtlerzeit ein Sinjorenleben! — 

— Spiel' dich nicht auf, Jan, du alter Lüderjahn. Niemand kennt die Hafen- 
ſchenken in den Niederlanden ſo gut wie du. Eigentlich ſollteſt du mit dieſen ehrbaren 
Mädchen gar nicht an einem Tiſch ſitzen. — 

— Ach, Rem, du glaubſt immer, ich lebte wie Apoll im ſiebenten Himmel. Nein, 
ich habe letzthin mein Schock Verdruß wegbekommen. Der Jan Andrea, mein Er- 
wachſener, du kennſt ihn ja, macht mir das Leben verdammt ſauer. O heiliger Niklas 
von Flandern, hätt' ich doch ſolch feine anſtändige Kinder wie du! Aber dieſer Lüm- 
mel trinkt, flucht, ſchwört wie der Papſt. Er ſchleicht des Nachts die Straße hinüber 


386 Martens: Oer Odmon des Lge 


zu Annetje, einem armen jungen hübſchen Mädel, das der Lump verführt hat, und 
ſchläft bei ihr, wenn er nicht gerade Händel hat mit der Wache, wenn er nicht feinem 
Bruder auflauert im Dunkel vor der Tür mit einer Pechfackel in der Hand und ſie 
ihm ins Geſicht ſchlägt, wenn dieſer ins Bett will. Ich habe durch Meeſter van Byler 
an das Stadtgericht ſchreiben laſſen, den Flegel hinter Schloß und Riegel zu ſetzen, 
den verfluchten Galgenvogel! — 

— Jan, mäßige dich! Wer hätte denn in feiner Sturmjugendzeit nicht den hüb- 
ſchen Mädchen nachgeſtellt! Oder waren das von dir immer nur Prahlereien? Me 
konnte dies Röslein am alten knorrigen Wetterſtamm anders ausſchlagen? — 

— Zugeſtanden, Rem, aber beim Hemdzipfel meiner fröhlichen Neeltje, nie habe 
ich ein Mädel verführt. Huſch, du alter Igel, der Junge muß in den Turm. Wie ſoll 
ich ſonſt, ich alter Witwer, Regiment halten bei all meinen fröhlichen Kindern, die 
meine Luſt und mein Leben ſind! — 

1667 
| 1. 

Ein heller farbenfroher Sonntag leuchtete über Amſterdam. Aberfreudige Ernte 
dankſtimmung und Schützenfeſtjubel lagen in der Luft. Ins freie Feld drängten die 
bewegten Volksmaſſen vom frühſten Morgen an, hinaus in die ſaftgrünen Wieſen, 
in die blumen; und kränzegeſchmückten Wirtshäuſer und auf die breiten hölzernen 
Tanzböden, die weit im Lande, oft von lauſchigem Gehölz verſteckt, zu wilder aus- 
gelaſſener Freude lockten. Ein friſcher Wind, der von der See herkam, blies ein lu⸗ 
ſtiges Trompeterlied, und Haar und Röcke der ſchmucken Evastöchter flogen im flot- 
ten Tanzwirbel. Im Hafen ſchaukelten plätſchernd die gewaltigen Galeonen und 
riſſen heftig an ihren Tauen. Freude herrſchte über dem weiten Land; ja, es war eine 
Luſt, den wunderbaren ungetrübten Himmel Gottes über ſich zu fühlen. 

Ausgeſtorben ſchien dagegen die Stadt, dieſe große reiche Stadt mit ihren ſchwer⸗ 
wiegenden Bürgern, deren Vermögen nach Silbertonnen Gewicht geſchätzt wurde. 
Manch ſchwergewichtiger Herr wog ſeine tauſend Pfund bares Silber. 

Nur die Kranken und die Mühſalbeladenen waren zu Hauſe geblieben, die Krüppel 
und Menſchenſcheuen, die Armen und Vergeſſenen. Zu dieſen gehörten auch die 
ſtillen Bewohner des ſchmalen tiefen Hauſes in der Roſengracht, in dem Rembrandt 
wohnte. Im Erdgeſchoß hatte Titus ſeinen kleinen dunkeln Antiquitätenladen; 
wohnen tat er nicht mehr bei ſeinem Vater, ſeit er zu der Mutter ſeiner Braut nach 
dem Singel gezogen war, die einen beſcheidenen Gaſthof für junge Handlungs- 
reiſende und Künſtler führte. Sie war eine prachtvolle alte Frau, voll Lebenserfah- 
rung und guter Ratfchläge für die Hilfsbedürftigen; ſelten kam einer zu ihr, der nicht 
froheren Geſichts wieder fortgegangen wäre, beſchenkt mit einer Gabe oder einer 
Wegweiſung zum Glück. 

Magdalena verkehrte ſchon lange im Haufe der van Ryn: der Meifter liebte ibe 
ſtarkes temperamentvolles Weſen. Titus war immer in ſie verliebt geweſen, ſeit 
er denken konnte; fie war ihm gleichalterig und ſchon mit fünfundzwanzig ein 
vollreifes Weib, das über ſeine Mädchenblüte längſt hinausgewachſen war. Nur 
Kornelia brachte der zukünftigen Schwägerin ein Herz verhaltener und geſpaltener 
Gefühle entgegen. Meiſt ohne Magdalena kam Titus in ſein dunkles armſeliges 


Martens: Der Odmon des Lichte 887 


Vaterhaus. Heute, am Sonntag, traf er wohl den Vater und die Schweſter allein zu 
Haus; die junge jüdiſche Köchin Rebekka, die trotz der harten Zeiten getreu am trau- 
tigen Herde der van Ryn aushielt, die für ſie kochte und wuſch, war zu ihrer alten 
Mutter ins Alteleuteſtift gegangen. Da mußte Kornelia, Hendrickjes üppige ſchöne 
ſechzehnjährige Tochter, allein den Hausſtand beſorgen. 

Die Geſchwiſter liebten ſich innig; niemals hatte der Gedanke ihr zärtliches Ver- 
hältnis zueinander getrübt, daß Kornelia das uneheliche Kind der menſchlich großen 
Hendridje Stoffels war, die ſeit drei Sommern bereits in der Gewalt des Todes 
ruhte. | 

O du ſeltſam dunkles unvergdnglides Leben! Hier fühlten ſich in aller Armut 
drei tief angelegte Seelen glücklich, im reinen harmoniſchen Verbundenſein; drei 
ſich in edler Empfänglichkeit liebende Menſchen hatten in ihrer Demut und trotz der 
Lebensdornenkrone immer nur bewundernde Blicke füreinander. Welch ein eifriger 
unermüdlicher Ernährer war Titus, begabt mit dem glücklichſten Erwerbsſinn in 
ſeiner jungen unternehmungsfrohen Männlichkeit! Und Kornelia, die koſtbare 
Augenweide des Vaters, des ſchönheitstrunkenen Künſtlers, angetan mit den Reizen 
ihrer germaniſch urwüchſigen rötlichblonden Schönheit! Und beide in der herrlichen 
Tugend vereint, in der köſtlichen Kindespflicht, ihr junges Leben an die Erhaltung 
ihres großen Vaters zu ſetzen. 

Immer ſtand eine ſtille Freude in den großen Augen des jungen Bräutigams, 
dachte er an Vater und Schweſter, und auch jetzt war es fo, als er mit ſchnellen Schrit- 
ten von der Prinzengracht kommend, die Roſengracht hinabſchritt, an deren Ende 
das Haus des Mannes lag, deſſen Name einſt in aller Munde war, jetzt aber als ein 
bedeutungsloſer Kieſelſtein im Menſchenozean verſunken und vergeſſen ſchien. Sein 
weiter ſchwarzer Mantel, der bis an die Füße reichte, flatterte im Gehen hindernd 
um die mit ſeidenen Strümpfen und Schnallenſchuhen geſchützten Beine. Einen 
luſtigen Oreiklang pfeifend, klopfte er mit dem roſtigen Eiſenring an die ſchmale 
hölzerne Haustür, zu der drei verfallene Stufen hinführten, die er mit einem ein- 
zigen Satze genommen hatte. Kornelia, die auf ihn gelauert haben mochte, öffnete 
ſofort und küßte ihn zärtlich, als er in der Haustür ſtand. Sie ſchaute ihm dabei ſchnell 
und verſtohlen ins Geſicht; wie bleich und eingefallen er ausſah, der ſorgende Bru- 
der! Wie hatte er ſich von früh bis fpät zu plagen. Sie nahm ihm den Mantel ab, und 
Arm in Arm verſchlungen ſah ſie der gerade in der Bibel leſende und aufblickende 
Meifter ins Zimmer treten, feine Kinder, die zärtlichen Sprößlinge feiner Leiden 
ſchaften. Er hatte von Boas und Ruth geleſen und vermeinte, das in glühender Liebe 
ſich in die Arme ſinkende Paar vor Augen zu ſehen. Er wollte aufſtehen und ihnen 
entgegengehen, doch Titus kam ihm zuvor und drückte ihn in den harten Strohſeſſel 
zuruͤck, der an der rauchgeſchwärzten offenen Herdſtelle ftand, in der auf einem kleinen 
Oſchen der Waſſerkeſſel ziſchte und pruſtelte. Kornelia holte die paar henkelloſen 
Taſſen vom Brett herunter und bereitete den Tee. Jedem rüdte fie ein vierbeiniges 
Tiſchchen an den Stuhl heran und verbreitete in dem Zimmer ein trauliches Gefühl 
jungfräulicher Anmut. 

Der Meiſter trank langſam und bedächtig ſeinen Tee, dann ließ er ſich von Titus 
eine der langen angerauchten Tonpfeifen ſtopfen, die überall an den kahlen Wänden 


388 Martens: Der Dämon des Lichts 


als zweifelhafter Schmuck hingen, und ftedte fie vorfidtig in Brand. Vor ſich hin- 
ſinnend ſchmauchte er lange den bläulichen Rauch ins dunkle Zimmer hinein und 
griff erſt wieder zur Bibel, als Kornelia die Kerzen entzündete. Mit lauter gelebrie- 
render Stimme las er den Kindern das dritte Kapitel aus dem Buche Ruth: 

1. Und Naemi, ihre Schwieger, ſprach zu Ruth: Meine Tochter, ich will dir Ruhe 
ſchaffen, daß dir's wohlgehe. 

2. Nun, der Boas, unſer Freund, bei deſſen Dirnen du geweſen biſt, worfelt dieſe 
Nacht Gerſte auf ſeiner Tenne. 

3. So bade dich und ſalbe dich und lege dein Kleid an und gehe hinab auf die Tenne; 
gib dich dem Manne zu erkennen, bis er ganz gegeſſen und getrunken hat. 

4. Wenn er ſich dann leget, ſo merke den Ort, da er ſich hinleget, und komme und 
decke auf zu feinen Füßen und lege dich, fo wird er dir wohl fagen, was du tun follft. — 

Die getragenen Worte ſchwebten ernſt und verhalten durch das lange ſchmale 
Zimmer und verklangen in dem Herzen der andächtig Lauſchenden. Und der Meiſter 
las, wie Boas die Moabiterin Ruth zu ſeinen Füßen gebettet fand und ihr Herz ge- 
wann durch ſein gerechtes und inniges Weſen: 

— 11. Nun, meine Tochter, fürchte dich nicht, alles, was du ſageſt, will ich dir tun; 
denn die ganze Stadt meines Volkes weiß, daß du ein tugendſam Weib biſt. 

12. Nun, es iſt wahr, daß ich der Erbe bin; aber es iſt einer näher denn ich. 

13. Bleib’ über Nacht. Morgen, fo er dich nimmt, wohl; gelüftet’s ihn aber nicht, dich 
zu nehmen, fo will ich dich nehmen, jo wahr der Herr lebt. Schlaf’ bis zum Morgen! 

Und weiter las der Meiſter, wie Boas ſich ins Tor der Stadt ſetzte und den Erben 
erwartete, und, als dieſer kam, zehn Männer von den Alteſten der Stadt nahm, die 
Zeugen der Verhandlung mit dem Erben waren, der aber auf ſein Erbrecht ver- 
zichtete, als er von Boas die Bedingung vernahm: Welches Tages du das Feld 
kaufeſt von der Hand Naemis, ſo mußt du auch Ruth, die Moabitin, nehmen. Da 
ſprach der Erbe: Beerbe du, Boas, was ich beerben ſoll. Und er zog nach alter Sitte 
feinen Schuh aus und gab ihn dem Boas. Das war das Zeugnis in Ffrael. 

Alſo nahm Boas die Ruth, daß ſie ſein Weib ward. — 
Hier ſchloß der Meiſter die Heilige Schrift, und ſein Geiſt lebte noch lange in den 
Bildern des Buches Ruth. Wie leibhafte Geſichte ſtanden ſie in den dunklen Ecken 
und erfüllten ihn mit der ewigen Sehnſucht des ſchöpferiſchen Künſtlers, i in dem das 

Werk in ſeinen erſten Akkorden zu erklingen beginnt. 


Groß und gewaltig, ein ſiegreicher Feldherr, ſtand er vor der Staffelei: 

— Heute bin ich groß und glücklich, jung und beſchwingt. Mich leitet eine wunder- 
bar ſtarke ſichere Hand, und voll der Gnaden iſt meine Seele. Titus, keuſchzärtlich 
halte die Schweſter wie Boas die Ruth umfangen, wie du es kraft deiner innigſten 
Liebe vermagft. Breite den linken Arm ihr um die ſchwellende Hüfte, lege die Rechte 
zärtlich ihr auf die bewegte Bruſt! Zärtlicher, inbrünſtiger, Titus, verſenke dich in 
den glühenden Geiſt der Leidenſchaft, die Boas erfüllte! Und du, Cornelia, blond- 
frieſiſches Blut meiner ſtürmiſchen Hendrickje, bändige die Begierde deiner Blicke, 
unter den tiefer geſenkten Lidern träume fie innig verſunken hinaus in die Aner- 
meßlichkeit deiner ſtrahlenden Zukunft! — 


Martens: Oer Dämon des Lichts 389 


2. 

Nur noch zum Schlafen, Träumen und zu den kargen Mahlzeiten verließ der 
Meiſter die Staffelei. Seine fieberhaft ſchaffenden Hände mußten ſich ausarbeiten. 
Oft ſtand er ganz in Schweiß gebadet und vollſtändig erſchöpft vor ſeinen großen 
Lebenswerken, die er ſchnell hintereinander und auch nebeneinander ſchuf. Mit den 
alten Mitteln konnte er der Fülle ſeiner Geſichte nicht mehr Herr werden. Neue 
Mittel, neue Farbenharmonien mußten gefunden werden, um den Anforderungen 
feiner emporbäumenden Phantaſie, feiner verzitternden Innigkeit der Gefühle ge- 
recht zu werden. Und immer wurde er von der Angſt gepeitſcht, nicht mehr ein er- 
ſchöpfendes Maß von Lebenskraft in fi zu tragen, um das große Leid feines Lebens 
hinausklagen zu können in die Ewigkeit. Niemals wieder würde er dieſe ſüße Schwer- 
mut, dieſe dunkle Melodie des Schmerzes in die Farbentiefe eines Bildes hinein- 
zaubern können. 

Berge von Farben verarbeitete er, verknetete er mit ſeinen nervigen Fingern. 
Dies war kein Malen mehr im gewöhnlichen Sinne, dies war eine Verſchmelzung 
von Malerei und Bildhauerei. Eine funkelnde Demantpracht in nie geahnter Farbig- 
keit ſtrahlte wunderbar geheimnisvoll, wie Meeresleuchten in dunkler Nacht, aus 
den Tiefenwirkungen der vertriebenen Töne. So wurde in dieſen ſchlechtbeleuchteten 
ärmlichen Räumen eine neue Ausdruckswelt geboren, die ein Leben von unſagbarer 
Arbeit und Entbehrung mit der Gloriole der Unſterblichkeit krönen ſollte. 


3. 

— Titus, in welchen Stadtteil führſt du mich? Mein Gedächtnis ijt nicht mehr das 
beſte. — 

— Vater, du müßteſt dich doch gerade dieſer Gegend gut erinnern können. Von der 
Anthoniesbreeſtraat biſt du kaum einen Kanonenſchuß weit entfernt. Von der Hout- 
gracht her betreten wir über die Schmausjesbruͤcke das alte Judenviertel Blovienburg.-- 

— Gewif, Titus, nur kam ich ſelten von dieſer Seite hinein in dies finſtere Laby- 
rinth von Schmutz und Armut, in dieſes Inferno menſchlicher Erbärmlichkeit und 
Unflats. Es hebt ſchon wieder der üble peſtilenzialiſche Geſtank von Knochen und 
Häuten an. Früher war dieſer Bezirk des Elends, dieſes einſtige Ghetto, das eine 
Inſel bildet inmitten der Kanäle, nur von vier Brücken her gangbar, und dieſe 
wurden ſtreng bewacht. Die Zeiten ſind ja menſchlicher geworden; aber die Stätte, 
an der dies ſo lang verfolgte geknechtete Volk unſägliche Leiden zu erdulden hatte, 
ſcheint ihm immer noch willkommen zu ſein. Seine Synagogen ſtehen hier, ſeine 
Vorfahren haben hier gelitten, es ift ihm geheiligte Erde geworden. Nur die Ab- 
trünnigen und die Reichgewordenen verlaſſen den traurigen Boden ihrer beengten 
Kindheit. — Damals, als wir noch in der Breeſtraat wohnten, kam ich faſt täglich 
hierher und zeichnete die Welt der engen Gaſſen. Die Breeſtraat iſt längſt nicht mehr 
eine der vornehmſten Straßen der Stadt. Seine einſtigen Anwohner ſind zumeiſt 
nach dem neuerbauten Weſtviertel hinübergezogen. Wir ja auch, Titus! — 

— Ja, Vater, die Rofengracht ijt in ihrem ländlichen Charakter ein heiterer Wohn- 
ort, ſo ein rechter Aufenthalt allen Malern. Wir haben ja auch lange warten müſſen, 
bis wir unſer ſchmales Häuschen beziehen konnten. — 


300 Martens: Oer Dämon des Lidts 


— Gitus, es hat nur einen einzigen Nachteil; wer dorthin zieht, an den Stadtwall, 
den vergißt die Welt ſchnell. — | 

— Vergißt fie aud den alten Rembrandt, Vater, das muß dich nicht verdrießen. 
Den jungen blühenden Meiſter der dreißiger und vierziger Jahre wird fie niemals 
wieder vergeſſen können. Deine Bilder aus dieſer Zeit ſteigen ſelbſt noch heute, in 
der Zeit des Verfalls, dauernd im Werte. — 

Wer kann fo gut tröften wie du, Titus! Von dem Erlös all meiner Werke, die in 
feſtem Beſitz ſind, ließe ſich bereits heute eine Kirche erbauen, vielleicht einmal eine 
von der Pracht und Größe der Peterskirche in Rom. Wir aber können inzwiſchen ver- 
hungern. Du ſiehſt immer krank und müde aus. Du ſollteſt dich ſchonen! — 

— Meine Natur iſt ſchwächlich, Vater, daran iſt nichts zu ändern. Wenn ich dich 
dagegen betrachte, deine bäuerifchftolge breitſchultrige Art, die dir immer eigen war, 
fo müßte ich allerdings verzweifeln. — 

— Zunge, wie ein ſchmächtiges, zartes, frühverbluͤhtes Jungfräulein kommſt du 
mir vor in deinen langen Locken. Doch gerade fo biſt du mir lieb. Im Grunde ift 
alles eitel und vergänglich. Die Armen find oft die Glidlidften. Du haft die Hoff- 
nung, im Leben voranzukommen, und ich meine Kunſt. Was wollen wir mehr! — 

Beide Männer verfielen in ein langes Schweigen; jeder verſank in ſeine traurigen 
Gedanken, die fie ſich nicht anvertrauen wollten. Durch das lärmige Gewühl' der 
Holzgaſſe ſchritten fie nebeneinander her, bis fie vor dem einſtigen Haufe des Michael 
Deſpinoza ftanden, in dem der große Sohn dieſes portugieſiſchen Kaufmanns den 
Tag des Lebens erblickt hatte. Rembrandt zog ehrfürchtig den Hut, als hätte er den 
Philoſophen Baruch Deſpinoza am Fenſter geſehen; doch dieſer lebte abgeſchieden 
von der Welt und verbannt von ſeinen Volksgenoſſen im Haag. Dann ſchritt der alte 
Mann weiter, ſeines verſtorbenen Freundes gedenkend, des Rabbi Manaſſe ben 
Iſrael, mit dem er einſt dieſes Haus beſuchte. 

Rembrandt fing nun an, die Geſtalten aufmerkſamer zu betrachten, die fie um- 
ringten, an ihnen vorübereilten, fie ſtreiften und berührten. Ein uralter Zude mit er- 
blindeten blutunterlaufenen Augen taſtete, auf einen Stock geftüßt, und von einem 
kleinen Mädchen mit bloßen Füßen geführt, über das unſagbar holperige Pflaſter 
und hatte dabei Rembrandts Rod berührt. Rembrandt folgte dem Alten in den nied- 
rigen ſtockfinſteren Hauseingang, wo es nach Feuchtigkeit und Moder roch, und for- 
derte ihn auf, ihm Modell zu ſtehen, indem er ihm ſagte, wer er ſei, und ihm anbot, 
ihn von Titus in die Roſengracht führen zu laſſen. Nachdem ſie ſich auf einen Gulden 
für die Sitzung geeinigt hatten in Gegenwart von zwei Nachbarn als Zeugen — der 
Alte hatte zuerſt fünf Gulden verlangt —, reichte Titus, dem Vater zuvorkommend, 
dem Modell gleich den erſten Silbergulden dar als Handgeld, den der Blinde forg- 
ſam in der Hand wog und befühlte. Als das Notwendige beſprochen war, ging die 
kleine Gruppe auseinander. 

Sie gingen wieder ſchweigend nebeneinander her, indem Titus jetzt den Vater 
am Arm führte. Die Gaſſe ſchien unendlich hoch in ihrer beſchatteten Enge. Die 
ſchwarzgewordenen, ſteil und ſchief in den Himmel gewachſenen Mauern mit ihren 
unzähligen krummen, oft bretterverſchlagenen Fenſtern, die gleich leeren Augen- 
bdblen von Totenſchädeln zu gähnen ſchienen, machten einen unausſprechlich ver- 


gRattens: Oer Dämon des Lichte 591 


nachläſſigten Eindruck. Und überall, auf allen Treppen und Fluren diefer ſchmutz⸗ 
ſtarrenden Behaufungen, in denen Tauſende armſeliger Familien armſelig hauſten, 
überall Lärm, Gekreiſch und Zank. Aus allen Kellern erhob ſich der abſcheuliche Ge- 
ſtank der Kloaken zur friſchen Seebriſe hinauf, die den Frühling auf ihren Schwingen 
trug, während vermummte Leidentrager die verhüllten Körper der Pefttranten 
eilig davonſchleppten. 

Auf der Blauen Brüde machten die beiden Wanderer Halt und lehnten ſich er- 
ſchöpft auf das hölzerne Geländer, in die ſonnenbeglänzten Fluten der Amſtel 
hinabſchauend, bis der Meiſter ausrief: 

— Hier erſt fühle ich mich wieder ein lebendiges Geſchöpf Gottes! Die in langem 
feuchten Winter ſteif und ſtumpf geſeſſenen Glieder beginnen ſich wieder zu regen. 
Auch dir wird es aufhelfen, Titus! Welch ein ſchimmernder Anblick, dieſe fonnen- 
funkelnde Wafjerfläche ! 

Titus, ich muß dir von dem neuen Gedanken zu einem Bilde ſprechen, das mir auf 
der Seele brennt. Es wird wieder manchen ſchweren Gulden an Leinwand und 
Farbeningrediengien verſchlingen, und am Ende kauft es ja doch keiner. So erging 
es mir mit dem großen Familienbild, das ich für deine zukünftige Schwiegermutter, 
die Frau van Loo, malte. Erſt ließ ſie mir keine Ruhe, bis ich dich, Magdalena und die 
drei Kinder ihrer verheirateten Tochter in Lebensgröße abkonterfeit hatte; und 
jetzt will ſie es nicht haben und verweigert die Abnahme, weil die Ahnlichkeit ihrer 
Anſicht nach gar nicht getroffen wäre, und die Gemalten viel zu alte Geſichter hätten. 
Wer weiß, vielleicht feh’ ich zu tief in die Menſchen hinein, ſehe die Falten der zu 
früh gealterten Seelen und überſchaue ganz die jünger gebliebenen Geſichter aus 
Fleiſch und Blut! — 

— Vater, beunruhige dich nicht! Mutters nicht unbeträchtliches Vermächtnis, 
das mir nach den langen Prozeſſen mit deinen alten Gläubigern zufiel, ruht ja gut 
verſchloſſen in den drei unteren Räumen deiner Wohnung, und ſein Bronnen iſt 
immer noch jo ergiebig, daß er uns alle bis an das Ende unſerer Tage vor dem Hunger- 
tode beſchũtzen wird. Erzähl’ mir jetzt, Vater, von dem neuen Bild! Was ſoll es vor- 
ſtellen, und brauchſt du noch andere Modelle dazu als den greiſen alten Juden? — 

— Ein gewaltiges Vild ſoll es werden: die Heimkehr des verlorenen Sohnes. 
Eine ganze Seite meiner Zimmerwände ſoll es bedecken. Ich brauche noch eine zer- 
lumpte Vettlergeſtalt, die den Verkommenen darſtellen foll, wie er zerlumpt und 
zerriſſen an Gefühlen und Gedanken vor dem greiſen verzeihenden Vater kniet und 
bettelt: um ein Herz voll Erbarmen. Ferner iſt noch eine ſchwarzbärtige hoch- 
gewachſene Hausmeiſterfigur vonnöten, mit einem ſtrengen wüͤrdevollen Geſicht, die 
als Zuſchauer die Größe des Augenblicks feierlich betonen foll. Und alles in ein leuch- 
tendes Rot der Verſöhnung gekleidet und verklärt. — 

— Vater, das wird ein erſchütterndes Gemälde menſchlicher Seelengröße. Es 
wird vielleicht das ergreifendſte Bild, das je einem Menſchenhirn entſprungen, feb’ 
ich doch viel tiefer, als du glaubſt. Immer ſchon ſah ich dich ringen mit Gott, ſah dich 
ringen um deinen Glauben an ihn, ſah dich kummervoll in deiner Einſamkeit, weil 
du glaubteſt, er hätte dich verſtoßen. Nun biſt du wieder zu ihm heimgekehrt, ſein 
teuiger Sohn. Laß mich deine zitternden Hände küſſen . 


392 Martens: Der Dämon des Lichte 


— Citus, wenn ich dich nicht hätte! Komm, wir wollen nad Haufe. Ein wunder- 
heimliches Rot ſchwebt mir vor den Augen, eine Miſchung von Karmeſin und Rotel, 
aber verhaltener, aus dem Dunkel menſchlicher Verſtocktheit hervorbrechend wie die 
Morgenſonne aus den Wolken der uralten Nacht. Komm, Titus, führe mich! — 


1668 


Totentanz 


1. 

— Geelforger der Armen, ehrwürdiger Mann, faſt täglich betritt jetzt dein Fuß 
mein ärmliches Haus, feit mein Sohn Titus, unſer Ernährer, krank darniederliegt. 
Du weißt, wir find keine Katholiſchen, keine Papiſten, und doch bringſt du uns Speiſe 
und Trank, auf daß wir nicht verhungern und verdurſten. Das iſt edel von dir, from- 
mer Mann! Zn dieſem heißen Hundstagsmonat iſt das Waſſer nicht mehr zu ge 
nießen. Peſt und viel ähnliches Siechtum wird von dem Schiffsvolk eingeſchleppt. 
Und das harte Brot, das jetzt einzig unſere Mahlzeit ausmacht, iſt ſchal und dumpf 
Wie ſollen wir uns dafür erkenntlich zeigen? Häng' dir dieſen von mir gemalten 
Chriſtus in die Zelle, wenn er dich nicht zu calviniſtiſch anmutet! — 

— Lieber Meiſter und Freund, dein ſchönes Bild wird meine Kapelle zieren. Ich 
danke dir im Namen der heiligen Maria. Beten werde ich für deinen fiebernden 
Titus. Nun aber höre: mich bedrückt ſchon lange Gewiſſensqual, dir in deiner Not 
nur mit irdiſcher Speife beiſtehen zu können. Mich aber will bedünken, es gebräche 
dir auch am Frieden der Seele. Lange und oft habe ich mir deine großen Bilder 
betrachtet: den weinenden König Saul, dann den Propheten Moſes, der die Ge- 
ſetzestafeln zertrümmert. Und am längſten ſteh' ich immer vor der Heimkehr des 
verlorenen Sohnes. Niemals ſprach Reue, Verbitterung und Verzweiflung klagender 
aus dem Munde der Beichtenden! — 

— Mönch, du ſuchſt mein Leben vergeblich in meinen Werken. Nicht mein 
Leben ſteht in den Augen dieſer Geſtalten, wohl aber verſchwendete ich an ihnen 
die Kraft meiner Seele. Was in der Heiligen Schrift uns erjchüttert, was dort 
an köſtlichen Symbolen, Wahrzeichen und Weisſagungen geſchrieben ſteht, füllte 
mein langes arbeitſames Leben aus. Mein Schaffensdrang überbot ſich in der 
Verherrlichung der Bibel, und je weiter ich vorankam in meiner Kunſt, je kräftiger 
konnte ich den ſpröden Stoff bemeiſtern, bis mein höchſtes Streben einmündete 
in das Meer gewaltiger ſeeliſcher Bewegungen, bis es mir gelang, ganz ausſchließ- 
lich durch den Ausdruck der Augen und Züge und der Stellung des Körpers, den 
höchſten ſeeliſchen Schmerz ohne jegliche Bewegung der Arme und Hände und 
vermittelſt ganz neuer Lichtwirkungen und Farbenzuſammenſtellungen in der 
Darſtellung des Raumes über alle Maßen lebendig zu geſtalten. 

Es können aber alle Ausdrucksmittel nicht genügen, wenn der darzuſtellende 
Stoff ohne Größe iſt. Mönch, du weißt fo gut wie ich, die von mir gewählten Vor- 
gänge find vielleicht die ergreifendften der ganzen menſchlichen Leidensgeſchichte. 
Und die Heimkehr des verlorenen Sohnes empfand ich als den ſtäkkſten Vorwurf. 
Niemals habe ich ſchwerer um die Geſtaltung eines Werkes ringen muͤſſen. Ich muß 


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Martens: Oer Dämon des Lichte 303 


es dir anvertrauen: Ich rang mit Gott um dieſes Kunſtwerk, ich mußte es ſeinen 
Händen in einem Kampf entreißen, der mir mein beſtes Herzblut koſtete. — 

— Meiſter Rembrandt, ich danke dir für dein Vertrauen, das mich noch reicher 
macht als das Werk deiner meiſternden Hand. Und dennoch, ich verhehle es mir nicht, 
dein Leben ſcheint voll dunkler Rätſel und Sonnenflecke. Hatteſt du nicht durch 
eigene Schuld dein mit höchſten Kunſtſchätzen angefülltes Haus verloren, und 
wandte ſich nicht die bürgerliche Welt von dir ab, weil du ſonder Pflichtbewußtſein 
die großen Summen, die dir geliehen wurden, mit ſchlechten Frauen und in frevel- 
hafter Vergeudung und Völlerei verſpielteſt, wie es auch der verlorene Sohn getan? 
Stehſt du nicht voll Makel vor dem Richterſtuhl deines Gottes? So hoch dein Name 
als Künſtler einſt ſtand, fo tief ift dein Ruf als chriſtlicher Bürger in den Höllen- 
unflat der Schande hinabgeſtürzt! — 

— Mind, mic drängt keine Reue zur Beichte, doch vernimm als Freund, was 
mich trieb und meinen Namen zerſchlug, was mich gering zugleich und groß machte, 
laß dir von meiner Hölle und meinem Himmel auf Erden erzählen. Du kannſt es 
nicht wiſſen, wie ſchwer und ſchmerzlich die Dornenkrone des Künſtlermartyriums 
drückt, wie unſagbar ſchwer es ijt, fein Künſtlertum makellos durchs Leben zu tragen. 
Ach, ich habe und werde niemals das hehre Ziel meiner Seele erreichen können; 
der Weg iſt zu lang und zu beſchwerlich für ein einziges Menſchenleben. Und je 
größer und erhabener unſere Werke werden, je mehr zehren ſie an unſerem Mark 
und vernichten unſere Kraft. Ich ſage dir, ein Weſen meiner Art würde Reiche 
zugrundegehen laſſen, ein ganzes Menſchengeſchlecht dafür opfern, nur um mit 
dem wolfsgierigen Leben keinen Pakt ſchließen zu müſſen, der die jungfräuliche 
Anberührtheit feiner Künſtlerſeele vernichten würde. O Mönch, der Dämon, der 
ihr innewohnt, iſt ein zartes lichtumfloſſenes Weſen, herb und ſpröde, rein und 
keuſch, unnahbar dem geringen Geiſt des hochmütigen Bürgers, der ſeine Tugenden 
zur Schau trägt; nein, dieſer Dämon iſt gütig und verzeihend den Stillen und 
Demütigen unter den Menſchen. Wie einen Ausſätzigen haben mich die ſtolzen 
Herren dieſer Stadt gemieden, es fei; aber meine Anwartſchaft auf die ewige Ge- 
rechtigkeit bleibt ihren Nachkommen als ſchweres Erbe hinterlaſſen, denn ich gab 
ihnen mein Koſtbarſtes: ich opferte ihnen hungernd und verzweifelnd die Wunder 
meiner Seele! — 

2. 

— Vater, wir bangten um dein Leben. Vom Sturm durchnäßt, ganz erſchöpft 
kehrſt du heim, ohne Hut, mit triefenden Haaren, der Mantelſaum ein wahres 
Rinnfal. Wie konnteſt du dich dem raſenden Unwetter, der tobenden Wut der 
Elemente ſchutzlos preisgeben? — 

— Kinder, was liegt noch an meinem Leben! Ich ſuchte den Berg der Sehnſucht 
im blutroten Licht der untergehenden Sonne, das bis ins Schmutzigviolette ſich 
verdunkelte, mit topasgelben Lichtern durchſetzt. Ich ſuche neue Gedanken für eine 
Gewitterlandſchaft. Und bin mit der Erkenntnis heimgekommen, daß mein Können 
knabenhaft unzulänglich iſt. 

Titus, ich habe auf dem Bollwerk den Gott der Blitze in Verſuchung geführt, 
mich heimzuſuchen. Er war furchtbar großartig anzuſchauen, dieſer Gott. Seine 

Der Eirmer X XVIII, 5 26 


394 Martens: Der Dämon des Lichts 


blitzenden Augen waren von jagenden Wolken bedeckt, die, ein Wald von langen 
fliegenden Haaren, fein ungeheuer majeſtätiſches Antlitz peitſchten. Die furdt- 
ſamen Menſchen hatten ſich in ihre Häuſer verkrochen. Das Vieh auf den Weiden 
wollte ſich in den Gräben verbergen und ertrank. Und jedesmal, da er feine funtein- 
den ſonnenhaften Augen öffnete, und ein Gießbach von Blitzen auf die zitternde 
Erde ſtürzte, traten ſeine gigantiſchen Füße die geballten Wolken, daß ſie donnernd 
auseinanderſtoben. 

Da führte eine humpelnde Frau einen alten blinden Mann an mir vorüber, 
der Gerbermiible zu; beide hatten ſich die Mäntel als Schutz über den Kopf geftülpt. 
Die alten Leute ſchienen des Unwetters gar nicht zu achten und wanderten lang- 
ſam die Böſchung hinab. Ich verfolgte ſie unwillkürlich mit den Augen und in einer 
dunklen Eingebung rief ich ihnen ein brüllendes Halt! nach. Sie achteten aber nicht 
darauf und ſchwankten mühſam vorwärts gegen den ſtürzenden Regen. Da be- 
leuchtete ein wild niederzuckender Blitz ſchwefliggelb das Weideland bis zur Mühle; 
der Donner ſchien nur über dies Stück Erde hinzurollen. Es mußte faſt neben mir 
eingeſchlagen haben, denn eine große brandige Flamme züngelte mir entgegen. Als 
mein Blick die Blendung überwand, ſah ich am Rande des Waldes zwei verkohlte 
Leichen ſtehn, die ſich umfaßt hielten, bis der Sturm ſie trennte und zu Boden warf.— 

— Vater, ſchone mich! Mein Blut quält mich, die glühende Lava meines Herzens, 
das vulkanähnlich brodelt. — 

3. | 

— Pfarrer, du durfteſt nicht fehlen. Dein Croft ift koſtbarer denn Nektar und 
Narde! — 

— Faſſe dich, Rembrandt, bändige deinen Schmerz. — 

— Titus, mein Titus, tot, tot — tot!! — 

— Mein armer alter Freund! — 

— Paſtor, Gottes Hilfe kam, um Titus ſterben zu ſehn. — 

— Verſündige dich nicht länger in gottloſer Rede, ich flehe did an! — 

— Titus ſtarb, mein guter treuer Sohn, der Troſt meiner alternden Augen. 
Nun kam Gottes Troſt! — 

— Unglidlider verblendeter Mann! — 

— Zn meinen Armen ſtarb er. Kein Engelchen ſtirbt ſanfter und leichter. — 
Warum lachſt du? — 

— Bch lache nicht. Der Schmerz zerreißt uns allen das Herz. — 

— Der Herr hat mich geſchlagen wie einen räudigen Hund! — 

— O Rembrandt, der Herr ſtraft, den Er liebt. — 

— Dein treues, herrliches Herz, Titus, nur noch ein Klumpen verweſenden Aaſes. 
Ha ha ha! — 

— Gott vergebe dir deine Lafterungen. — 

— Tragt ihn fort, ihr ſchwarzen Männer! Laßt ihn nur nicht fallen! Er war 
immer zart und gebrechlich geweſen. Leb wohl, Titus, leb wohl! — Was fag’ ich: 
leb wohl? Geh auch du, Pfarrer! Laßt mich allein mit Mutters Bibel und der 
zärtlichen Einſamkeit und dem grinſenden Mann dort im Dunkeln! — Lebt wohl! — 
— Lebt wohl! — 


Martens: Der Dämon des Lichts | 395 


4, 

— Die andern Hagen und fteben jetzt weinend um dein Grab, Titus! Nur id 
nicht. Ich kann nicht! Arbeiten muß ich, mich vergrabend in die Arbeit verlieren 
wie in die Erde der Maulwurf! Fleißig mußt du ſein, Rembrandt, ſolange deine 
Augen noch leuchtende Welten von Farben trinken können und den ſchaffenden 
Händen die Fülle der Seele entſtrömt. 

Wiſſe, Spiegel, die Welt iſt aus den Angeln geſprungen! Und darüber ſoll ich 
nicht lächeln, grinſend lächeln? Schau nur, Spiegel, darüber muß ich grinſen wie 
der Herr der Welt, der allmächtige Diener der Zeit, der ſenſenſchwingende Tod. 

Wie ſeltſam! Ich ganz allein bin unverſehrt und unverrüdt! Ich ganz allein. 
Alle andern, auch dich, Titus, haben die plötzlich losgebrochenen Weltenſtürme 
zermalmt wie Gottes Fuß. Und die Entronnenen hat der Wahnſinn geſchlagen, der 
ihr Geſicht bis zur Unkenntlichkeit entſtellt. 

Spiegel, ich male mich jetzt als hohnlächelnden letzten Menſchen, der aus dem 
verſtörten Dunkel der Welt graufig hervorhöhnt: Welt, verkrieche dich, du nichts 
nutziges Chaos! Welcher Stern will dich noch beleuchten! 

Wie gut ſtehn mir dieſe rotbraunen Töne! Sataniſch geſättigtes Goldbraun! — 
Nun ſpachtle ich Ton an Ton, Farbe an Farbe zu Riſſen und Flächen, förmlich 
zu Steinen eines Moſaiks. Niemand weiß, wie ich dies zuſtandebringe! Niemand 
ſoll es wiffen ! Ewig unverſtanden wird dieſe Malart bleiben. Andeutend verſchwimmt 
alles und dennoch hebt es ſich in der Andeutung verſchwimmend heraus. Meiſterhaft, 
meiſterhaft! Und ſchnell vertreib ich mit dem Stiel des Pinſels die blitzenden Lichter! 

Ein Komet bin ich, ein raſend gewordener Komet in der unendlichen Finſternis. 
Mutter, du hatteſt einen Stern geboren, einen wirklichen Stern. Und die ein- 
fältigen Menſchen, dieſe behäbigen Dickwänſte von Spießbürgern glaubten, ich 
wäre der Moraſt, in dem ſie für Geld ihre Fratzen ſpiegeln könnten! 

Nun muß ich, Titus, allein im Dunkeln wandern. Du kannſt mich nicht mehr 
ſtützend führen. 

unheimlich wird mir zu Mut. Aus allen Eden grinſen mich Augen an. Aus den 
Wänden hervor kriechen Spinnen und Skorpione. Sie bedrücken mich, dieſe Augen, 
dieſe Wände! Niemand zu Hauſe. Ich ſchleiche hinaus in die Nacht, in den Nebel. — 


5. 

An der unregelmäßig gegliederten Häuſerreihe der nördlichen Roſengracht 
ſchleicht eine gekrümmte Geſtalt, ſich vorſichtig entlang taſtend, getrieben von 
irgend einer dunkeln Vorſtellung. Über der Prinzengracht ballen ſich die Nebel- 
ſchwaden und winden und reden ſich wie Geiſter empor zum Himmel; fie ſcheinen 
um die noch belaubten Linden zu tanzen. Doch auch die Menſchen auf der Straße 
wirken geſpenſtiſch. Die Luft iſt feucht und lind, die Sonne iſt ſchon hinunter; 
einzelne letzte rötliche Lichter glänzen über der aufſteigenden Feuchtigkeit der 
Kanäle. Dort erſcheint der Nebel unheimlich gerötet, wie von einer Feuersbrunſt. 
Still und tot ragt der Turm der Weſterkerk in die einbrechende Nacht. 

Das Leben auf den Straßen iſt erloſchen. Amſterdam beginnt zu ſchlafen. Die 
Beleuchtung beſteht aus einzelnen großen Laternen, in denen Talglichter blaken. 


596 Martens: Der Dimon des Lichts 


Sie find an den Häufereden, an den Kirchen und Brücken befeftigt. Wer ausgehn 
muß, verſieht ſich ſelber mit einer Laterne, die er vor ſich her trägt. Der gebüdte 
alte Mann, der von der Rofengradt herkommt, hat kein Licht bei ſich. Einem Blinden 
gleich geht er durch die Dunkelheit. 

Niemand führt ihn, denn es gibt niemand, der ihn führen könnte. Er geht feinen 
eigenſinnigen Weg ins Innere der Stadt hinein. Bald wäre er auf der Lelicbrüde 
ausgeglitten. Eine ſtarke Männerfauſt hält ihn zurück. Es iſt Rombout Hamer, 
der Steuermann. Rembrandt weiß es nicht. Er läßt ſich nach der Breeſtraat führen 
wie ein Kind. Hamer glaubt, der alte Meiſter wohne immer noch dort. 

Im Nebel ſind alle Dinge möglich. Jede Stadt gleicht dann einem verſteinerten 
Zauberwald. Alles iſt unwirklich. Rembrandt glaubt nicht an den ſchweigſamen 
Führer. Es muß ein Engel fein. Er würde ſich ſonſt zur Wehr ſetzen. 

Der Engel führt ihn in eine tiefgelegene Schenke an der Calverſtraat. Dort 
ſitzen lauter junge Leute einträchtig beieinander. Sie fingen alte traurige Volks 
lieder; fie ſehen aus wie Maler und Muſikanten. Die ſchönen Mädchen find ihre 
Freundinnen. 

Die Menſchen haben alle träumerifche Gefichter. Das kommt von dem Engel, der 
ihn führt. Eines von den hübſchen Mädchen kommt zu ihm an den Tiſch. Sie fest 
ſich ihm auf den Schoß und tigt ihn. Da muß er an Saskia denken. 

Bald ſtehn fie wieder auf der Straße, und die Milde der Nacht tut ihm gut. 
Er ſieht eine koſtbar gekleidete Frau aus einem der großen Häuſer in der Clovenier- 
burgval herauskommen. Sie wird von einem galonierten Diener in die prächtige 
Kutſche gehoben, die hohe breite rote Räder hat. Ihr Mann folgt. Es iſt Jan Six, 
der Tuchfärber, in großer Gala. Das Ehepaar fährt zur Bürgermeijterei, wo 
Generalſtaatenball iſt. Rembrandt erkennt fie nicht; er glaubt, es ſei der Bürger- 
meiſter und will eine große Reverenz machen. Statt des Hutes hält er aber feinen 
ſchmutzig gelben Turban in der Hand, den er jetzt immer beim Malen trägt und den 
er zu Haufe abzulegen vergeſſen hat. Der Bürgermeiſter würdigt ihn keines Blickes. 
Das erwartete er auch gar nicht. 

Sein guter Engel führt ihn, und er iſt glücklich, ihm folgen zu dürfen. Es geht 
über die Raamgracht nach der Breeſtraat. Vor feinem einſtigen Haufe verläßt 
ihn Hamer. Er ſetzt ſich beſcheiden auf die unterſte Stufe der ſteinernen Haustreppe 
und wartet, bis man ihm öffnet; aber er wartet vergeblich. Er pocht mit leiſem 
Finger an die Tür; aber niemand öffnet ihm. Er ruft zärtlich nach Saskia. Immer 
wieder ruft er dieſen lieben Namen; niemand hört auf ihn. Dann ruft er nach 
Hendrickje; auch dieſe kommt nicht, ihm zu öffnen. Dann nach Titus; alles vergeblich. 

Die Nebel ſind wie dichte Schleier. Wie ſchön! Er will ſie dort oben nicht ſtören. 
Sie ſchlafen wohl ſchon. Er ſchleicht wieder fort, um ſeinen Engel zu ſuchen. 


6. 

Es war Chriſtian Duſart, ein ferner ſtehendes Mitglied der bekannten Maler- 
familie dieſes Namens, der den in Leid und Nebel Verlorenen am nächſten frühen 
Morgen eingeſchlafen auf der ſteinernen Treppe ſeines Hauſes fand. Er beſuchte 
die van Ryn zuweilen als ein letzter treuer beſcheidener Freund des herunter 


8 a 4 * * cr = 7 ~ 
— ———— — 
— 8 — —— ————?-Äñ⸗Vñ⸗k. 


Hadina: Hochzettemotgen 397 


gekommenen Hauſes und war fo betreten von dem ſchmerzlichen Anblick des Elends, 
daß er ſich mit einigen wenigen Freunden vornahm, den völlig hilflos verarmten 
Greis und Kornelia, deren Vormund er war, vor dem Hungertode zu ſchützen, fo 
ſchmal auch ſeine eigenen Mittel waren. Wer kaufte auch in dieſen harten laſtenden 
Zeiten noch Bilder? Amſterdam begann einen Kampf auf Leben und Tod; Eng- 
land und Frankreich, ſo tuſchelten die Gerüchte, hätten ſich verbunden, um das kleine 
wacker⸗ tüchtige Land, feinen Reichtum und feine Ehre anzutaſten. 

Seit den Vergeſſenen der Todesſchmerz um feinen Sohn in die Fangarme ge- 
nommen, ihn an die ſtachlige Bruſt gepreßt, von ſeiner Seele gezehrt und ihn wieder 
von ſich geſtoßen hatte, blieb er ſtill in ſich gekehrt, fernab dem Leben, verloren in 
die Gedanken der ihm getrübten Welt. Und wie ſein Leben geworden, ſo wurden 
auch die ſeltſamen Bilder dieſes letzten Jahres, die nach feinem Tode für ſechs 
Groſchen das Stück in den Handel kamen, und für die niemand ein Verſtändnis 
hatte: ihre Seelen waren getrübt, ihr Blick in die Irre ſchweifend, vielleicht in 
einer innerlichen Todesverzückung, die wir nicht begreifen können. Darunter be- 
fanden ſich zwei Vildniſſe; in dem einen glaubte man ſeinen Sohn Titus, in dem 
andern ſeine Schwiegertochter Magdalena, beide in jüngeren Jahren, erkannt zu 
haben. Sie müſſen darnach aus der Erinnerung oder nach vorhandenen Skizzen 
gemalt worden ſein. Beide üben einen unheimlichen Zauber aus: brandigrote und 
fahlgelbe Farben bekleiden die Geſtalten, die deutlich die Spuren von verſtümmelten 
Seelen in ſich tragen. An ihnen wurde klar: dem Großmeiſter der holländiſchen 
Malkunſt waren die Schwingen gebrochen; der Berg der ewigen Sehnſucht war in 


ferne blaſſe Nebel gehüllt. (Schluß folgt) 


Hochzeitsmorgen 
Von Emil Hadina 


Die Erde glüht im erſten Schöpfungslichte, 

Aus fernen Nedeln rollt ein junger Stern. 

Der Morgenpſalm „Das iſt der des Herrn“ 
Von Kinderzungen wächſt zum Weltgedichte. 


Zwei Augen aus dem bräutlichſten Gefidte, 
Wald brunnenklar, dann glutverhüllt und fern, 
Als ahnten fie der Wunder tiefſten Kern 

Sie weiſen meiner Andacht Ziel und Nichte. 


Du, die mir Eva wurde und Madonne, 
Friedlinde meiner langen Sucherqual, 
Heb’ deine nackten Arme hoch zur Sonne! 


Aus ihren reinen Gluten Strahl für Strahl, 
O ſammle fie zu bräutlich heißer Wonne, 
Daß Gottheit glüh’ durch unſer Liebes mahl! 


Malwida v. Meyſenbug an Heinrich v. Stein 


Unveroffentlidte Briefe, mitgeteilt von Dr. Gotz von Selle 
(gus) 


XII. 
Le Havre, 22. September [1882] 

br geftern angelangter Brief aus Venedig loom 17. Sept. 82, vgl. Bricfe an M. b. N., 
1 e. 101 ., lieber Freund, kam mir fo erwünſcht und verſetzte mich im Traum diefe 
Nacht ſo lebhaft nach Palazzo Vendramin, daß ich nicht umhin kann, ihn alsbald 
zu beantworten. Ich war etwas beſorgt um die teuren Wahnfrieder, da ich noch 
nichts gehört hatte (ich hoffe, mein Brief an Coſima kam noch vor der Abreiſe nach 
Bayreuth) und dachte, es könnte am Ende doch noch cine böfe Folge der Exrmũdung 
eingetreten ſein. Sie haben mich auf das beſte beruhigt, und ich freue mich, daß Sie 
noch eine Zeit frohen Zuſammenlebens in der zauberiſcheſten der Städte haben, 
ein herrlicher Nachklang der herrlichen, jüngſt verfloſſenen Zeit. Die friedenvolle, 
verklärte Stimmung dieſer Zeit iſt mir noch ganz geblieben und erfüllt mich mit 
unverſiegbarer Heiterkeit. Um fo mehr begreife ich, wie dieſe Gralsheiterkeit unferes 
Freundes und Meiſters Weſen erfüllen muß, die von ihm ausging, der ſie une 
ſchuf. Möge fie ihm ungetrübt bleiben als einziger würdiger Dank für fein gött- 
liches Schaffen, und möge fie uns bleiben, um uns zu ſtärken, des „Grales Liebes- 
werke“ zu vollbringen, da wir doch der heiligen Genoſſenſchaft anzugehören das 
Glück haben. Daß ich als Botin des Grales lebe und handle, können Sie denken. 
Neulich habe ich vor einer Verſammlung guter Menſchen den ganzen Text erzählt, 
und alles horchte in ſtaunender Andacht; eine junge, ſehr geiſtvolle Franzöͤſin rief: 
„es komme mir niemand mehr mit Meyerbeer oder modernen Opernkomponiſten, 
ich kenne nur erſt wenig Wagner, aber ich fühle, das iſt die Wahrheit“. Überhaupt 
finde ich wieder ſehr viel Gutes unter den Franzoſen, allerdings hier in einem 
völlig hugenottiſchen Kreis, und dabei lerne ich in der Normandie ein entzüdend 
ſchönes Land kennen. Wie mußten die tapferen Normannen entzückt ſein, als ſie 
an dieſen Küſten niederſtiegen! Und in dem ſchönen Lande wahre Wunder der 
Architektur! Wie würde Siegfried hier entzückt fein, dieſe alten normanniſchen 
Schlöſſer, dieſe herrlichen Kirchen! — Nun er wird alles einſt noch ſehen! — 
Tauſend Grüße an alle Wahnfrieder. Daniela möge mir auch einmal ſchreiben, 
wenn Coſima nicht kann, ich habe ihre Briefe ſo gern. Auch die Ihren! Avis au 
lecteur! Herzlichen Gruß M. M. 


a 2 
* 


XIII. 
Rom, 8. März [1883] 
[Der erſte Brief nach dem Tode Nichard Wagners. Antwort auf Steins Brief vom 22. Febr. 1885, 
vgl. a. a. O., S. 192 ff.] 


Lieber Freund, ja die Liebe höret nimmer auf, fie ſchwebt ſogar reiner, bimm- 
liſcher, von jedem ſtörenden Hauch des Irdiſchen befreit, wie ein heiterer Gegens- 
ſpruch über der Welt und ruft uns zu, nicht zu weinen, ſondern in andächtiger 


Selle: Malwida von Meypſenbug an Heinrich von Stein 399 


Feier uns zu freuen, daß er den Kampf des Lebens überſtanden hat und nun in 
der Reihe der Unjterbliden daſteht, ein ſchönes, herrliches, unverlierbares Bild. 
Ich kann die Wahrheit ſagen, ich fühle ihn fortwährend um mich, und wenn ich 
an ihn denke, iſt es mir, als lächle er mich an. Nur die Zurüdgebliebenen find mir 
eine ſchmerzliche Sorge. Ich hoffe aber, daß hier der alte, beinah triviale Spruch 
von der Zeit doch einmal wieder wahr werden wird, nicht als ob das Unerſetzliche 
ihr erſetzt werden könnte, aber ihr blieb noch ſo viel, was Troſt, ja Freude bringen 
und wieder ein Lebensziel werden kann. Daß ſie jetzt ſich von allem ſcheidet, was 
nicht er und die Kinder find, verſtehe ich vollkommen, ja, ich würde es nicht ver⸗ 
ſtehen, wenn's anders wäre. Daß fie aber auch für die treuſten Freunde für immer 
geſchieden ſein will, finde ich nicht recht und ich hoffe, auch das wird ſich mit der 
Zeit ändern. Wenn ich fie aber nicht ſehen kann, dann gehe ich nicht nach Bayreuth. 
Ich glaube, auch ich könnte den Parſifal dies Jahr nicht ſehen, es ginge über meine 
Kräfte. Phyſiſch habe ich natürlich die Folgen dieſes Schlags bedeutend gefühlt, 
ich bin überhaupt den ganzen Winter leidend und lebe nur mit der Arbeit, da aber 
auch ſehr eifrig. 

Lieber Freund, ich verlange fo danach, Ihren Solon zu leſen lin „Heiden und Welt“. 
Ich habe natürlich auf die B. Bl. ISapreuther Blatter) abonniert, habe aber bis jetzt 
keine neue Nummer erhalten. Können Sie vielleicht in Bayreuth daran erinnern? 
Hoffentlich fahren Sie auch fort, für die Bl. zu arbeiten. Die Arbeit allein iſt es, 
die uns die Flügel wieder löſt, und indem wir den Samen des Zdeals, jeder in 
ſeiner beſcheidenen Weiſe, hinausſtreuen in die unbekannte Menge, bereiten wir, 
helfend, auch ihm die Generationen, denen ſeine Glorie hell ſcheinen wird. — 

Leben Sie wohl, mein lieber Freund, laſſen Sie uns verbunden bleiben und 
geben Sie mir öfter Nachricht von ſich. M. Meyſenbug 


2 a 
* 


XIV. 6 via Polveriera 
Rom, 10. April [1883] 
Mein trefflicher Freund 

Ich kann Ihnen nicht fagen, wie ſehr Sie durch Ihren Brief dom 26. Marz 1883 ogt. 
a. a. O. Seite 194 ff.] und Ihr Buch l. Heiden und Welt'] mein Herz erquidt haben. So wie 
der erſte Ihre Stimmung ſchildert, fo hoffte und fo wünſchte ich Sie. Ja, in dieſer, 
von ihm begonnenen Arbeit der Verſöhnung zweier Welten, der immer reineren 
Enthüllung jener idealen Wirklichkeit iſt, in deren Begreifen die ſchuldige Welt des 
Scheins endlich entfühnt und wiedergeboren wird, liegt die Aufgabe aller der 
Treuen, welche ihn überleben. Mein Tagewerk iſt bald getan, ich fühle es, und der 
einzige Schmerz, den ich dabei empfinde, iſt der, nicht noch kräftiger zu ſein, um 
ſtark an jener Aufgabe mitarbeiten zu können. Aber mit freudiger Zuverſicht ſehe 
ich in die Ferne, wenn ſolche Streiter darin vor meinem Blick erſtehen, wie Sie 
und auch Förſter, dem ich aus ganzem Herzen den Segen einer alten Arierin mit 
auf den Weg gegeben habe. Und daß auch Ihnen das „übrig bleibt“, was auch 
mich einſt tröſtete, das: gut ſein und Gutes tun, das freut mich ſo. Nur darin haben 


400 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein 


Sie unrecht, daß Sie meinen, mit der Selbſtändigkeit von Gedanken und Ent- 
ſchlüſſen, wie damals in Rom, ſei es vorbei. Nein, was Sie empfingen in der 
Zwiſchenzeit, war nur der gewaltige Anſtoß, der befruchtende Tau, den jede, noch 
fo originale Pflanze bedarf zu mächtigem Wachstum und Gedeihen. Das beweiſt 
mir Ihr Bud. Sie können nicht denken, mit welch herzlichem Entzücken ich es 
leſe. Es ſtellt Sie mit einem Male in die Reihe unſerer edelſten Geiſter. Es iſt ſo 
vollendet in Geiſt, Sprache und Vedeutung, daß man von hier aus nur noch einen 
Schritt weiterſieht, den zum vollendeten Dramatiker. Ihnen dieſe Bahn zu zeigen, 
die Sie wohl ſelbſt kaum ahneten und Ihre Freunde auch nicht, dazu hat jener 
erhabene Einfluß wohl in Ihrem Leben wirken müffen, und das iſt wieder einmal 
einer der Einblicke in das wunderbare Gewebe der Kauſalität, der uns mit freu- 
diger Erkenntnis von der fortwirkenden Kraft des Guten, Schönen, Erhabenen 
erfüllt und über Gräbern wie eine Glorie ſchwebt. Am Tag leſe ich die ſchönen 
Bilder und am Abend lieſt Frl. Nietzſche, welche jetzt hier iſt, ſie mir noch einmal 
vor. Auch dieſe, welche ſich außerordentlich gut, geiſtig entwickelt hat, ſeitdem ſie 
nicht mehr durch ihren Bruder denkt, iſt ganz hingeriſſen und hat bei der Kornelia 
geſtern heiße Tränen der Begeiſterung geweint. Ich war auch mit meinem Roman 
{Ppadea} fertig und hatte bereits mit einem Verleger abgeſchloſſen, nachdem er einen 
Teil geleſen und herrlich gefunden hatte. Nun, ganz aber findet er ihn zu tugend- 
haft und druckt ihn nicht. Iſt das nicht charakteriſtiſch für unſere Zeit? 

Welches ſind Ihre Pläne für den Sommer? Wenn Sie an Glaſenapps ſchreiben, 
grüßen Sie ſie, bitte, herzlichſt, innigſt von mir. 

Leben Sie wohl, lieber Freund, gottlob, daß Sie in der Welt ſind. 

M. Menfenbug 


* * 
* 


XV. 6 via Polveriera 
Rom, 23. Mai [1883] 

Aber, lieber Freund, warum find Gie denn fo ganz verftummt? Go follte man 
doch eigentlich feine Freunde nicht behandeln. Ich wußte gar nichts mehr von 
Ihnen, niemand konnte mir etwas ſagen, nun habe ich auf dem Umwege erfahren, 
wo Sie find. Und es ergeht nun meine Frage: wie geht es Ihnen, was treiben 
Sie und warum ſind Sie mir ſo entſchwunden, die ich doch ſo herzlichen Anteil 
an Ihrem Geſchick nehme? 

Geſtern war ein Tag, an dem wir gewiß alle im Geiſt zufammen waren an dem 
Grabe zu Bayreuth. Wie ſchön war es damals in Neapel lost. Siaſenapp, Leden Riduzb 
Wagners, VI, 340 ff., als wir auf dem Golfe fuhren und uns nachher, im rofen- 
geihmüdten Saal der erſte Akt des Parſifal ertönte! So etwas kommt nie wieder 
und die Sehnſucht danach muß ſchweigen vor dem Glück, es einmal gehabt zu haben. 
Ich weiß noch nicht, ob ich auch dies Jahr in Bayreuth fein werde oder nicht. Es 
würde mir da erſt zu ganz materieller Wirklichkeit werden, was mir jetzt immer 
noch faſt wie ein ſchmerzlicher Traum ift. Dann bin ich überhaupt noch nicht ge- 
wiß, ob ich es mit anderem werde vereinigen können. Mein Arzt will, daß ich ın 
ein deutſches Bad gebe, um meine Geſundheit etwas zu kräftigen, und meine 


Selle: Malmida von Mepfendug an Heinckh von Stein 401 


Teuren in Frankreich rufen mich aud mit Allgewalt, folang es mir noch möglich 
iſt, die weite Reiſe zu machen. Es wird eben alles ſchwerer, wenn man alt wird. 
Wir haben hier 5 Monate lang ganz in Wagneriſcher Muſik gelebt, was eine himm- 
liſche Erquidung in dieſer Mufitwüfte war. Joſeph Rubinſtein war hier, und da 
verging faſt kein Tag, wo wir nicht bei Gräfin Dönhoff zuſammen waren und alle 
die erhabenen Schöpfungen durchnahmen und immer tiefer in ſie uns verſenkten. 
Staunen, Bewunderung, Glück, daß fo etwas wieder einmal möglich geweſen, 
daß ſolch ein gewaltiger Wille in einer einzelnen Erſcheinung wieder einmal jene 
Allmacht hervorgerufen hatte, die uns an Götter glauben ließ, haben mich da 
wieder bis ins tiefſte Herz bewegt. Nein, darüber hinaus gibt es auf dem Gebiete 
der Kunſt nichts mehr; das muſikaliſche Drama iſt geſchaffen, und was nun etwa 
noch in der Art käme, könnte nur Nachahmung ſein. Was bleibt nun zu erreichen? 
Das Leben felbft zum Kunſtwerk machen. Das iſt unſere Aufgabe, d. h. es den 
kommenden Generationen als höchſtes Ziel hinſtellen. Denn wir, ja auch ſelbſt 
Sie noch, werden nur wie Moſes das gelobte Land von der Höhe herab ſchauen, 
ohne es zu erreichen. 

Wir haben einen frühen Sommer, alles flieht ſchon nach Norden, ich genieße 
noch mit Wonne die unſägliche Schönheit der geſchmückten Erde und des reinen 
Lichts. Vis Mitte Juni gedenke ich jedenfalls hier zu bleiben. Laſſen Sie bald ein- 
mal etwas von ſich hören und ſeien Sie herzlichſt gegrüßt 

M. Meyſenbug 


2 ® 
* 


XVI. 6 via Polveriera 
Rom, 8. Juni [1884] 

Lieber Freund, man ſieht, daß Sie Berliner Hofluft atmen, ſo feierlich war die 
Anrede Ihres letzten Briefes. Hoffentlich bedeutet es nichts weiter. Erſt wenige 
Tage vor Empfang desſelben hatte ich gehört, daß Sie Halle mit Berlin vertauſcht 
haben. Daß Ihnen dort doch auch nicht allzu wohl iſt, ſagt mir Ihr Brief. Ach, ich 
fürchte, Sie find für dieſe Regionen vollſtändig verdorben, wie wir alle, die wir 
wiſſen, was es mit jener Welt für eine Bewandtnis hat. Ja, wenn es Ihnen ge- 
lingt, die Augen und Herzen Ihrer Zuhörer für jene „andere Welt“, die Sie dieſer 
gegenüber ſtellen wollen, zu öffnen, dann geht es, dann iſt überall gut fein, und 
iſt es vielleicht Pflicht, im Kampfe auszuharren. Aber iſt es moglich, unter den 
Pickelhauben? Ich begreife es, daß Ihre nächſten Dialoge „Flüchtlinge“ heißen 
werden. Wäre ich noch jung und geſund genug dazu, nichts hielte mich ab, dem 
wackeren Förſter nach Paraguay zu folgen. Ich höre öfter von ihm durch Frl. 
Niet. zſche]l, welche mit ihm korreſpondiert. „Oeutſchland liegt wie ein grauer Nebel 
hinter mir, ich kehre nie zuruck“, ſchreibt er. Er hat ein großes Stück Land bekom- 
men, welches u. a. 100 Orangebäume trägt, die dort in Wäldern, hoch wie unfere 
Eichen, wachſen und deren Früchte ſo trefflich ſind, wie man ſie in Europa gar 
nicht kennt. Ein friſcher, freier, wie erlöſter Sinn ſpricht aus allen ſeinen Worten, 
und ich freue mich, daß eine edle Manneskraft dem wüften Parteileben und den 
Beſtrebungen, die hier notwendig zu Zerrbildern werden mußten, entnommen iſt. 


402 Selle: Malwida don Wenfendug an Heinrich von Eten 


Auch das kleine Buch von Mevert über Paraguay hat mich unendlich intereſſiert. 
Ja, möge nur die Anſiedlung im Sinne dieſer Männer gelingen und mögen die 
Uberrefte dieſer liebenswürdigen Bevölkerung erhalten bleiben und durch noch mehr 
Miſchung mit dem germanifchen Element ein neues, edles Kulturvolk hervorbringen. 
Wie ſchön wäre es, ſo etwas noch zu erleben. Doch auch für den, welcher keine 
Ausſicht dazu hat, iſt es ein tröſtender Gedanke. 

Nietzſche war jetzt kurze Zeit hier mit ſeiner Schweſter, und ich freue mich, Ihnen 
ſagen zu können, daß in Erfüllung geht, was ich immer, auch in Wahnfried, ver 
treten habe, daß jene Epoche ſeiner Entwicklung, die wir alle beklagten, nur eine 
Durchgangsphaſe war. Der edle Grund in ihm iſt unverletzt, nur durch ein geiſtiges 
und phyſiſches Märtyrertum hindurchgegangen, das ſeinesgleichen kaum finden 
wird. Die furchtbare geiſtige Aſkeſe, die er ſich auferlegt hatte, um riidbaltlos alles 
zu prüfen, und in den Hades des Häßlichen hinabzuſteigen, überall ein unbarn- 
herziger Richter zunächſt gegen ſich ſelbſt — hat doch den tief poetiſchen Grund 
ſeines Weſens nicht zerſtört, und nachdem er, gleich Giordano Bruno, geradezu 
den Feuertod des Leidens durchgemacht hat, wird er, wenn ſeine phyſiſche Kraft 
ausreicht, noch viele Schätze feines Innern ans Licht fördern und auch fein Der 
hältnis zu unſerem Toten Wagner, „den er geliebt hat wie nie einen Men- 
ſchen“, wird wieder ins rechte Licht treten 

Leider komme ich nun zu der Mitteilung, die mich wahrhaft ſchmerzt, nämlich 
daß wir uns wohl nicht ſehen werden im Sommer. Ich bin fuft fortwährend leidend 
und gerade in dieſem Augenblick bin ich es wieder ſehr und in den Händen des 
Arztes. Die vielen Hin- und Herreiſen find mir geradezu unmöglich, und wenn ich 
einen ſtillen, ländlichen Ort in der Schweiz, den wir ausgeſucht haben, erreichen 
kann, um einige Monate mit Olga und den Kindern zu verbringen — ſo iſt es 
das Höchſte, was ich leiſten kann. Dieſer Winter hat unter meinen Zeit- und Exil 
genoſſen gewaltig aufgeräumt und ich fühle, daß meine Reihe kommt. Möchte es 
mir zuteil werden, den letzten erhabenen Augenblick mit vollem Bewußtſein zu 
vollenden und den Genuß der Ruhe zu fühlen, wie ich fie jetzt ſchon in abnungs- 
voller Helle oft vor mir ſehe. Sie gaben mir keine Adreſſe, deshalb ſchicke ich über 
Halle. In warmer Freundſchaft Ihre M. M. 


* * 
* 


XVII. 

549 Kurſtraße 
Nauheim b. Fr. a. Main, 7. Sept. [1884] 
Lieber Freund, ich will doch verſuchen, Ihnen mit ein paar Worten die Freude 
auszudrucken, die mir Ihr Brief verurſachte, obgleich ich nicht weiß, ob Sie noch 
in Zürich ſind. Daß Sie ſich jo mit Nietzſche gefunden, iſt mir eine wahre Herzens 
freude; auch er ſchrieb mir beglückt über Ihr Zuſammentreffen. ſetein war dem 28. Ns 
28. Zuil 1884 in Sile-Marta dei metzſche. Ader dieſe Begegnung vgl. Llenhacds „Wege nach Weimar“ I. 71 fl 
Ich habe nie an ihm gezweifelt, obgleich es eine kurze Zeit gab, wo ich ihn abſolut 
nicht mehr verſtand. Auch feine Trennung von Wagner iſt mir jetzt erklärlich. Es iſt 


Selle: Malwida von Meyfenbug an Heinrich von Stein 405 


viel Mißverſtändnis von jener Seite dabei, aber zu lang, um es brieflich zu erörtern. 
— N. iſt ein Märtyrer der ſeltenſten und edelſten Art, und wenige wohl haben die 
Siegespalme ſo verdient wie er. Daß ich ihn nach Rom haben möchte, daran 
zweiflen Sie nicht, aber ich fürchte, ich erreiche es nicht. Er ſchrieb mir, um mir 
vorzuſtellen, ich ſolle nach Nizza kommen. Das kann ich aber nun wirklich nicht, ich 
müßte mein kleines Heim in Rom ganz aufgeben, meine Sachen transportieren 
oder verkaufen und ich habe in Rom manche Verbindung, die mir teuer iſt und An- 
laß zum Arbeiten. Nächſten Winter beſonders hoffen viele junge Weſen auf mich, 
die durch Rat und Tat zu leiten auch eine Aufgabe iſt. Vor allem iſt die liebe Gräfin 
Dönhoff noch dort, die an mir mit Tochterliebe hängt und meiner bedarf. Käme 
nun N. hin, ſo fänd er einen trefflichen kleinen Kreis, Sympathie und Hilfe, Muſik 
und geiſtige Anregung aller Art. Aber er hängt an dem Klima Nizzas. Für den 
Augenblick kann man nun freilich auch nicht nach Italien wegen der Cholera. 
Für heute leben Sie wohl, lieber Freund, ja, könnten wir das Kloſter ſtiften! 


Herzlichen Gruß M. M. 


* * 
* 


XVIII. Villa Amiel 
Derfailles, 4. Juli [1885] 
[Se iſt bas Haus S. Monods, nach dem Schweizer Dichter H. F. Amiel denannt.] 

Endlich, in der Rube dieſes ftillen grünen Verſailles komme ich dazu, Ihnen, 
lieber Freund, mal wieder einige Worte zu ſagen. Durch Daniela wußte ich, daß 
es Ihnen gut geht, daß Sie Erfolge haben und befriedigt ſind. Was kann man 
Beſſeres für feine Freunde wünſchen? Dann ruht man aus in dem Gedanken an 
ſie und läßt die Stunden und die Tage verſtreichen, ohne ihnen zu ſagen, wie 
herzlich man ihrer denkt. 

Werden Ihre Vorleſungen nicht gedruckt werden? faſtdent der deutſchen Raffiter, vgl. 
„Zur Kultur der Seele a. a. O.] Ich möchte fie fo gerne leſen, da ich überzeugt bin, daß 
ich neue und mir ſo ſympathiſche Geſichtspunkte darin finden würde. Ich bin auch 
froh, daß Sie im Hauptſitz des Vaterlands Ihre Wirkſamkeit haben beginnen kön- 
nen, denn wie ſehr ich auch Ihre und Wagners Auswanderungsideen teile (Beweis: 
Phaͤdra), fo freue ich mich doch jedes Samens einer neuen Lebensauffaſſung, der 
dort ausgeſtreut wird, denn wenn die Frucht dort reifen kann, ſo wird ſie köſtlich 
fein. Ich glaube, daß die Geburt eines neuen Zdeals ſich vorbereitet; es wird ganz 
anders kommen, als wir Zdealiſten von 48 es träumten, aber worauf es ankommt, 
iſt, daß es nicht in einer furchtbaren, verheerenden Geſtalt komme, ſondern, wohl 
vorbereitet in den Gemütern, alsbald die humane Form annehme, die eine nor- 
male Entwicklung möglich macht. Das iſt es auch, was ich auf Ihren Einwand 
gegen die Behandlung der Commüne (Phädra) zu erwidern habe. Ich habe mehr 
Sympathien mit den Grundideen der Commüne, als mit denen ihrer Gegner, 
das wiſſen Sie; ich habe werte Freunde unter denen gehabt, welche nachher Com- 
miinards wurden, aber die Form, in der die Sache zum Vorſchein kam, die Haupt- 
vertreter derſelben, der rohe Materialismus, der ſich alsbald anſtatt der Idee her; 
vordrängte, und die Beſtialität der menſchlichen Natur entfaltete. anftatt ihrer 


404 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein 


Idealität, war wieder ein Beweis, wie ſubtiler Natur das Ideal iſt, das ſich vor 
jeder Berührung mit dem Gemeinen wie eine Senſitive zurüdzieht und in höhere 
Regionen entflieht. Nun bin ich wieder in dieſem ſeltſamen Land der Experimente, 
wo im Augenblick ſcheinbar die Herrſchaft der Mediokrität ſtattfindet, wo aber jene 
Partei doch noch ſtark und tätig iſt; doch, glauben Sie mir, ſie hat den Schlüſſel 
unſerer Zukunft nicht, den muß ein Gottbegnadeter bringen, wie der, den wir 
ſchon beſaßen und der vielleicht nur der Johannes der Täufer des einſtigen Meſſias 
war M. Menfenbug 


* * 
* 


XIX. 6 via Polveriera 
Rom, 11. Februar 86 
Mein lieber Freund 

Innig erfreuten mich Ihr lieber Brief und die Nachrichten über Sie, welche ich 
durch Poske erhielt. Ich glaube, daß, wie Sie es ſagen, der Vorteil einer beſtimmten 
Tätigkeit und Anregung zur Durcharbeitung beſonderer Gebiete nicht hoch genug 
anzufchlagen iſt und dem Leben eine feſte Baſis gibt, auf der nachher alles Zu- 
fällige, Intuitive, Unmittelbare, wie Blüten an einem geſunden Stamm, frei und 
glückbringend ſich entfalten kann. „Denn wenn wir erſt in abgemeſſnen Stunden 
mit Geiſt und Fleiß uns an die Kunſt gebunden, mag frei Natur im Herzen wieder 
glühen.“ Das iſt ungefähr dasſelbe. — Sie laſſen hoffentlich Ihre Vorleſungen 
über Aſthetik ſpäter drucken, damit man fie auch genießen kann. nach dem Tode Steins 
von Poste und Huber 1897 herausgegeben.] Der wichtigſte Geſichtspunkt bei aller äſthetiſchen 
Betrachtung ſcheint mir immer die ethiſche Wirkung zu fein. Es gibt fo viele Men- 
ſchen, ja, ich glaube faſt, es find die meiſten, die von einem Kunſtwerk nur ver- 
langen, daß es eine äſthetiſche Befriedigung gebe, d. h. eigentlich nur, daß es auf 
die Sinne angenehm wirke (diefe Meinung vertrat Frl. Salome in Bayreuth). Ich 
glaube, das wahre große Kunſtwerk muß ethiſch wirken, muß uns transfigurieren, 
ſo wie wir es einſt von der Religion verlangten. Es verſteht ſich, daß der Schöpfer 
kein Didakt fein muß, aber das Weſen des Genius iſt es, in die äſthetiſche Form den 
ethiſchen Inhalt zu gießen; ohne Abſicht, kann er doch nicht anders, er muß es, 
und das ſichere Kennzeichen des wahren Kunſtwerks iſt, daß es ethiſch wirkt. Des- 
halb bringen auch die modernen Realiſten kein Kunſtwerk zuſtande, weil ſie bloß 
äſthetiſch wirken wollen und trotz manchen Vorzügen laſſen fie uns kalt. 

Einen Künſtler nur ſehe ich hier jetzt viel und erfreue mich an ſeinem Schaffen, 
wiewohl es nur ein beſchränktes Gebiet der Kunſt umfaßt, aber auf dieſem voll- 
ſtändig jene zwei Anforderungen erfüllt. Ich meine Franz Lenbach, der mir ein 
werter Freund geworden iſt. Seine Bilder find, wie die Tizians und van Oyks, 
die Kulturgeſchichte einer Epoche; aus ihnen wird man unſere Zeit beurteilen 
können. 

Unfere Zeit fängt an, in der fo verfaulten Politik einmal wieder ein großartiges 
Moment aufzuweiſen: die Begebenheiten im Sudan. Meine heißeſten Sympathien 
ſind mit dem Mahdi und den Mohammedanern, ſo wenig mir dieſe ſonſt gerade 
ſympathiſch ſind. Aber ich wollte, die orientaliſche Welt erhöbe ſich im Namen 


Lorenz: Winteradend 405 


ihres Glaubens und ihrer Unabhängigkeit gegen dieſe infame europäiſche Politik 
der Habſucht und Heuchelei, immer unter dem Vorwand, die Ziviliſation zu bringen. 
Welche Zivil. [iſation! !! Mit Gordon ijt ein edles Opfer gefallen, ihn beklage id, 
aber den Engländern wüͤnſche ich eine vollkommene Niederlage, wünſche ihnen, daß 
das Geſpenſt des Banko, des zertretenen und gemißhandelten Irlands, ſich daheim 
an ihre Tafel ſetze und daß Indien von dem Foche feiner Blutſauger ſich frei mache. 
Zuleid iſt es mir, daß Italien ſich hat hinreißen laſſen für Engl. [and], das ihm nie 
dankbar ſein wird, Menſchen und Geld zu opfern, während daheim die Bevölkerung 
leidet und das reiche Land darbt. 

Leben Sie wohl, mein Freund, auf den ich unter allen Lebenden die größte 


Hoffnung ſetze. M. M. 
[NB. Am 20. Juni 1887 iſt Heinrich von Stein in Berlin geſtorben.] 


Wintermorgen 
Von M. Lorenz 


Mühe hat die alte Sonne 

Babe kämpft fie gegen Maas Wolten, 
Bis fie ihres Lichtes blante Lanzen 
Mächtig über die zur Nacht verſchneite 
Herrlich weiße Erde ſchleudern kann. 


O, wie lacht der liebe Garten 
In dem friſchen Gotteslichte! 


Auf des Brunnens ſchöner Nundung 

Sitzt ein Dompfaff-Paar gepluſtert 

In dem Daunenbett der Flocken. 

Wie ein rotes Blũtenwunder leucht et 
Dompfaffs Bruſtlatz aus dem weißen Polſt er. 


überall, wo flinke Meiſen 

In dem ſchneebeladnen Aſtwerk turnen, 
Sprühen glitzernde Fontänen: 
Funkelnd, blendend, ſtrahlenb rechend 
Blitzt der Schneeſtaub in der Sonne 
Wie der Schliff der Edelſteine. 


In die bräutlich reine Dede, 

Die der Schnee auf die Terrafſ e 
Faltenlos und ohne Tadel breitet, 

Rif noch keines Lebeweſens rauher Tritt 
Spuren, die des Bildes Schönheit trüben. 


Doch — dicht vor der Tür ſind feine Nunen: 
Sind die zarten klaren Spuren 

Einer Droffel, deren leichte Fütz e 

Eine Reihe eckig ſchöner Zeichen 

In die himmliſch weiße Fläche ſchrieben. 


Wie die [hone Heiden eines Meiſters 
Sind die zarten Linien ſinnvoll hingeworfen 
Und bewegen mir geheim die Seele 

In der Reinheit dieſes ſtillen Morgens, 

Da der Schnee die Erde keuſch umarmt 


Der Hufar 
Von Kurt Siemers 


<>) Herzog von Cumberland mit feinen Hannoveranern und Engländern 
mußte am 8. September 1757 bei Kloſter Zeven ohnweit Bremen einen nicht 
ſehr ehrenvollen Kapitulationsvertrag unterſchreiben. 

Damit waren die Straßen bis an die Elbe frei. Der Herzog von Richelieu zog 
mit ſechzigtauſend Franzoſenkerls und ziemlichem Geſchütz heran. Die preußiſchen 
Provinzen zitterten und dachten an ihren König, der in Schleſien ſeine Campagne 
führen mußte. 

Der Obriſt Fiſcher, des Raubens und Plünderns ein Meiſter, fiel mit franzöſiſchem 
Vortrab ins Bistum Halberſtadt. Den Hühnern drehten fie die Hälfe ab, und mandy 
mal auch den Bauern, wenn ſie Keller und Scheuern nicht gutwillig öffnen wollten. 

Die Herren vom Rat kratzten ſich ratlos hinter den Ohren; die Frauenzimmer 
liefen durcheinander wie ein Hühnervolk, auf das der Habicht ſtößt. Nur die nichts; 
nutzigen Buben freuten ſich, weil die Kanters keine Schule mehr halten konnten. 

Die Halberſtädter wußten, daß der Cumberländer das Herz im Hoſenboden ſitzen 
habe und vor lauter Feigheit nicht zu ſiegen wagte. Als die Dickſtiebel des Braun- 
ſchweiger Herzogs Wilhelm Ferdinand gerade im beſten Gange waren, den Wind- 
beuteln des Richelieu das Kamiſol vollzuhauen, ließ der Cumberlän der Retraite 
blaſen. Der junge Braunſchweiger hatte nachher wie ein Koppelknecht auf den 
Cumberländer geflucht, aber das half den Preußen nicht aus dem Dreck. 

Der Bürgermeiſter Benjamin Lieberkühn von Halberſtadt hatte vertraute Boten 
ausgeſchickt, aber die kamen ohne Hoffnung auf Entſatz wieder. 

Auf den Cumberländer dichtete man einſtweilen gallige Reime, machte einen 
breiten Buckel und ſah böſe zu, wie ſich die Franzoſenkerls Taſchen und Panſen 
füllten. 

„Schlagt doch dat Aaszeug dot!“ ſagten die Harslebener und Wehrſtedter Bur- 
iden und diskutierten, ob eine Huſarenmontur oder eine Küraſſieruniform fic beifer 
anließe; denn ſie hatten Luſt, als preußiſche Reiter Schlachten gewinnen zu helfen. 

Einſtweilen waren die Reiter des großen Königs noch weit, und die Bauern 
mußten den franzöſiſchen Dieben ihr eigenes Korn ins Hamſterlager nach Ofterwied 
fahren. Das liebe Brot ward rar; dafür waren aber in Halberſtadt die Parifer 
Princes, Contes und Marquis jo gemein wie Raupen im Weißkohl. 

Viel Mutwillen übte das Pack aus Welſchland. Inſonderheit mußte ſich der arme 
Landmann viel Vexierung gefallen laſſen. Dem Paſtor zu Sargſtedt taten ſie argen 
Schabernack, den er, fo chriſtlich der milde geiſtliche Herr ſonſt fühlte, niemals ver 
geffen hat. Er war ein ſonderlicher Liebhaber kuriöſer und gelehrter Bücher und 
hatte eine große Stube voll davon. Die ſchleppten ſie heraus und kochten damit ihre 
Morgenſuppe. 

Im Kreuzgang der Kirche Unſerer Lieben Frauen wieherten Soldatengäule, und 
die alten Gräber waren unter Pferdemiſt verſchwunden. 

Der Fürwitz, der dieſer Nation eigen iſt, trieb die Herren Franzoſen bis unter die 
Kanonen von Magdeburg, wo ſie den Landleuten manchen Schaden taten. 


Stem ers: Der Hufar 407 

Das war den Preußen eines Tages doch zu dumm. Achtzig Freiwillige von 
Herzog Ferdinands Eiſenbeißern, gedeckt von einer Schwadron ſeydlitziſcher Hu- 
ſaren, zogen eines Sonntags auf Halberſtadt zu, nach Egeln. Dort lag eine weit 
überlegene franzöſiſche Abteilung. Die Preußen kamen gerade zur rechten Zeit, 
um ſich bei den franzöſiſchen Offiziers zu Mittag zu laden; denn es war die Zeit 
nach dem Kirchgang. Der Küraſſier-Obriſt Conte Luſignan hob mit ſeinen acht 
Offizieren auf höfliche Invitation der Preußen im Egelner Kloſterrefektorium die 
Hände hoch, und auch ſeine ſtarke Mannſchaft dachte nicht an Widerſtand. Nach 
welſcher Sitte ſteckten die Herren Preußen das koſtbare Silberzeug des Herrn Grafen 
als Souvenir ein. Die Huſaren ließen das eben aufgetragene Eſſen nicht kalt werden 
und faßten auch, wo es nottat, gleich mit der fünfzinkigen Gabel zu. Alles, was 
Franzoſe hieß, marſchierte in Gefangenſchaft, und waren ihrer über die tauſend 
Mann. 

Da trafen Kuriere ein mit der Nachricht von einer großen Bataille in Schleſien, 
gerade als der Due zweihunderttauſend Taler Kontribution gefordert hatte. Die 
franzöſiſchen Hörner ſchmetterten in Halberſtadt den Breiten Weg herunter, und 
die Armee zog nach Weſten ab, weil man wußte, daß der Sieger von Roßbach 
keinen Spaß verſtehen würde. Auch hieß es, daß preußiſche Vorhuten den Feinden 
ſchon auf den Hacken ſeien. 

Bei den Franzoſen ging ein unheimliches Geſchnatter und ein Reden mit Händen 
und Armen los. Halten da vor dem Kühlinger Tor noch fünf franzöſiſche Küraſſiere, 
um nach den Preußen lange Hälſe zu machen, während ihre Kameraden über 
Ströbed abrückten. Da bricht ein ſeydlitziſcher Huſar aus dem Hinterhalt, preſcht wie 
der Deubel auf die verdutzten Kerls zu, fuchtelt ſie mit dem Säbel, daß ſie zu fünfen 
Pardon ſchreien, Waffen und Piſtolen ins Gras werfend. Der Preuße lädt ſie durch 
Zeichenſprache ein, Bruſtbeutel, Mantelſack und Taſchen aufzuknöpfen, tomman- 
diert Kehrt und läßt fie hübſch vor fic her reiten bis auf den Domplatz, wo die 
Bürger ſchmunzelnd zuhauf rennen. 

Neben dem Dom am Zwicken halten fie zu Sechſen. Der Hufar dreht den Schnurr- 
bart, macht den Mädeln Augen und läßt ſein buntes Mäntlein im Winde kriegeriſch 
wehen. Muckſtill halten ſich die Franzoſen, während der Huſar ſeine Beute zählt. 
Bit manches Talerſtück dabei, das ein preußiſcher Bauer in der Bettlade verborgen 
hielt. 

Einen Augenblick überlegt der Huſar, da packt ihn eine ausbündige Luſtigkeit: einen 
Beutel nach dem andern leert er, klingling über die Menge, und das Volk, das vom 
Johannisbrunnen und aus der Gröperſtraße zuſammenlief, balgt ſich um die Münzen 
und ruft auf Geheiß des Preußen: „Vivat Fridericus und ſeine Huſaren!“ 

„Was ſoll ich mit dem Dreck? Die Taler drücken und die Lujedors zerreißen mir 
das Hemde!“ 

Spricht's, läßt die fünf gefangenen Kerle abſitzen. Drei junge Burſchen, Poppe 
aus dem Drachenloch, Kahmann von Quenſtedt und Schliephake aus dem Huy, 
ſitzen auf, um fic bei des großen Königs Huſaren anwerben zu laſſen. Im Zudel- 
trab geht's aus der Stadt heraus, zur Schwadron des Huſaren zurück, und die fünf 
Franzoſen immer nebenher. 


408 Seude: gtmeilnb 


Die Buben ſchreien noch immer „Vivat Friedericus!“ 

Für diesmal waren die Halberſtädter aus aller Not, und der Sargſtedter Paftor 
konnte ſich ein Schock herzhafter Hagel- und Donnerwetters auf die Kujone erlauben, 
die feine ſchönen Bücher ſtibitzten, ohne daß ein Blitz vom Himmel dreinſchlug. 

Der Kanonikus Gleim hörte den fröhlichen Lärm in ſeinem ſtillen Häuschen hinter 
dem Dom und fang ſpöttiſch den Abziehenden ein Liedchen nach. 


Irmelind 
Von Kurt Geucke 


8 den Hügeln, im Mitternachtswind, 
aß an den Weiden Schön Irmelind: 

„O Sterne, ihr Tränen der Ewigkeit, 

Wo wächſt das Kraut Vergeſſenheit ?!“ 


Am Waſſer, am Walde ſeptembert und fpinnt 

Und raunt in den Wipfeln feltfam der Wind: 

Wo ſchlummert dein Blut, wo ſchläft dein Kind —? 
Irmelind! Irmelind! 


„Mein Blut, mein Blut ſchläft nimmermehr; 
Mein Kind, ach, ſchläft einen Schlaf ſo ſchwer ! — 
Wer tränkte dein Kindlein im Mondenwind — 2 
Irmelind! Irmelind! 


„Die Wellen im Weiher, die tränkten mein Kind, 
Die Wellen, die Winde, und trugen’s gelind. 

O Tränen der Erde, o Sterne fo weit, 

Wo wächſt das Kraut Vergeſſenheit?! 


Schon fragt ich die Walder und fragte die Seen, 
Die Winde, die Wellen, die Täler und Höhn, 
Den Nöttelgeier im Felſenneſt, 

Die Dögel der Stürme von Often und Weft. 


Sind's taufend Jahre, daß ich gebarrt? 
Ach, keine Antwort von keinem ward! 
Einſt hört ich, ein Nabe wär, alt wie die Zeit, 
Der wüßte das Kraut Vergeſſenheit! 


Komm, ehe du wechſelſt — du ſahſt es, Mond! — 
Zeig mir das Land, wo der Nabe wohnt! 

Und ſäß er vor Höhlen der Ewigkeit — 

Wo grab ich dich, graue Vergeſſenheit ?!!!“ 


Der Wind, der Wind im Hagedorn, 
Wind über Wellen und Stoppelkorn: 
Kein Balſamkraut ſprießt um dein Kind, 
Irmelind! Irmelind! — 


Da tropfte vom Hornbuſch ihr roſenrot Blut, 
Sah ſie das Kraut in Mondenflut. 

Wo am tiefſten das Waſſer, dort ſtand's am Grund... 
Kein Stein an den Weiden, kein Kreuz tut kund 

Von Irmelind, Irmelind. 


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409 


Leben und Kultur der alten Etrusker 


Nie Frage, ob die Etrusker, dieſes rätſelhafte Volk, auf dem Land- oder Seewege nach Stalien 
gr find, muß vorläufig unentſchieden bleiben. Einige Anzeichen ſprechen für nordiſchen 
Urſprung; jo Grabſteine aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. aus Rätien mit nordetruskiſchen In— 
ſchriften im Rätiſchen Muſeum zu Chur; dann flache Tonſchalen mit charakteriſtiſch umgeboge— 
nem Rand, die in Thüringen gefunden wurden und die ſonſt nur in ſüdetruskiſchen Gräbern vor— 
kommen; ferner die „Hausurnen“ (Abb, 1). Dieſe zur Aufnahme von Aſche Verſtorbener dienen- 
den Tonbehälter find Wohnhäuſern nachgebildet und es beſteht eine gewiſſe Ahnlichkeit zwiſchen 
ſkandinaviſchen und etruskiſchen Hausurnen. 

Andererſeits waren die Etrusker in erheblich höherem Maße ein Seefahrervolk als ſelbſt die 
Griechen und können daher ebenſogut zu Waſſer nach Italien gekommen ſein, womit die Theorie 
eines kleinaſiatiſchen Urſprungs recht behielte. Jedenfalls ſteht feſt, daß die Etrusker mehrere 
Jahrhunderte vor den Römern ein mächtiges in zwölf Gaue geteiltes Staatsweſen bildeten, 
deſſen Ruf ſich nach Livius (B. I, Kap. 2) „von den Alpen bis zur Meerenge Siziliens“ erſtreckte. 
Sie waren laut Liv., B. I, Kap. 24, auf dem Meere die Herren. Ja, ſie machten ſogar den Kar— 
thagern die Seeherrſchaft ſtreitig und führten kühne Raubzüge nach allen Richtungen aus, die 
ihnen große Reichtümer einbrachten. 

Wie die Etrusker eigentlich gelebt haben, iſt nicht leicht zu ergründen, da die Römer es ſich an— 
gelegen ſein ließen, alles, was von der Macht und der Kultur ihrer jahrhundertelangen Erbfeinde 
zeugte, zu vernichten. Aus dieſem Grunde iſt uns wenig erhalten geblieben, und nur das eifrig 
weiterbetriebene Studium der etruskiſchen Sprache, die uns immer noch fajt ein Buch mit ſieben 
Siegeln ijt, kann da mit der Zeit einigen Aufſchluß bringen. Der im 2. Jahrhundert n. Chr. le— 
bende römiſche Schriftſteller M. Cornelius Fronto, der als etwas verſchroben gilt, will in Anagni, 
ſuͤdlich von Rom, einige heilige etruskiſche Bücher, die auf Leinen geſchrieben geweſen ſeien, 
geſehen haben; doch iſt es wenig glaubhaft, daß ſolche noch zu ſeiner Zeit beſtanden haben 
können. Früher wird es wohl derartige Bücher gegeben haben; denn ſein Zeitgenoſſe Pomp. 


Abb. 1. Hausurne und Nandelaber. Etruskiſches Muſeum in Tarquinia. 
Der Türmer XXVIII, 5 pr 


410 Leben und Kultur der alten Etruster 


Feſtus ſchreibt in feinem Buch „De verborum significatu“: „Es werden Ritualbücher der Etruster 
genannt, in denen vorgeſchrieben iſt, nach welchem heiligen Gebrauch Städte zu gründen, Altäte 
und Gebäude zu weihen find, mit welcher heiligen Handlung Mauern, mit welcher Rechtsformel 
Tore, auf welche Weiſe Stämme, Kurien, Zenturien eingeteilt, Heere geſchaffen und die übrigen 
auf Krieg und Friedensſchluß bezüglichen Einrichtungen getroffen werden ſollen.“ Und M. Te— 
rentius Varro, der berühmte Grammatiker und Zeitgenoſſe Ciceros, berichtet, daß es eine Zeit 
gab, zu der man Jahrbücher und Geſchichten der Etrusker geleſen habe, die im achten Jahrhundert 
der etruskiſchen Zeitrechnung geſchrieben wurden, was etwa dem Ende des vierten Fahrhundetts 
Roms entſprechen würde. 

Nach alldem haben wir es mit einem ungemein mächtigen Reich zu tun, das ſich einer ſehr hohen 
Kulturſtufe erfreute. Um fo bedauerlicher ijt es, daß von den Sitten und der Lebensweiſe dicjes 
Volkes ſo ſehr wenig auf uns überkommen iſt. Schuld daran hat eben der römiſche Imperialismus 
Die Römer kannten nur zu gut die geiſtige und kulturelle Überlegenheit der ihnen blutsfremden 
Raſſe, die ihrem Ausdehnungstrieb überall im Wege war. Und obwohl es Etruskerkönige waren, 
die mit ihrem Anhang nach Rom kamen und Rom erſt zu einem geordneten, geſunden und kriegs— 
tüchtigen Gemeinweſen machten, ſo wandte ſich ſpäter das Gefühl der einem zuſammengelau— 
fenen Geſindel entſtammenden römiſchen Volksmenge gegen die „Eindringlinge“, bis nach und 
nach alles, was noch etruskiſches Volk hieß, ausgerottet oder wenigſtens lahmgelegt wurde. Aber 
die Gefahr eines Wiederauflebens einer nationaletruskiſchen Bewegung war eines Tages vor- 
über. Und in dem Maße, wie die Römer ſtärker wurden, bewegte ſich die Macht der Etrusker auf 
der abſteigenden Bahn, ſo daß es immer leichter wurde, ſie zu vertilgen. 

Hier haben wir die Tragödie eines großen Volkes, wie fie ſich ſpäter auch bei den Römern ſelbſt 
abſpielte. „History repeats itself.“ Man geht wohl nicht fehl, wenn man den Verluſt der Wider- 
ſtandskraft der Etrusker auf Verweichlichung durch Reichtum und Wohlleben zurückführt. Ob— 
ſchon nun die Römer alles tilgten, was den Beſiegten als Denkmal früherer großer Zeiten des 
Geſamtvolks dienen konnte: einiges iſt ihrer Zerſtörungswut doch entgangen, und das ſind vor 
allem die Grabſtätten, die ſtets außerhalb der etruskiſchen Städte lagen, oft tief in der Erde ver— 
ſteckt, nur durch gemauerte Zugänge zu erreichen waren und ſich äußerlich kaum von einem un— 
ebenen Felde unterſchieden. 

Eine ſolche typiſche und für das Studium des etruskiſchen Kulturſtandes überaus ergiebige 
und lehrreiche Stätte ijt vor allem Tarquinia bei dem heutigen Corneto-Tarquinia, nordweſtlich 
von Rom gelegen und von dort in kurzer Bahnfahrt zu erreichen. Schon der Beſuch Cornetos, 
der dicht am Meer auf einer 200 Meter hohen Platte gelegenen, mit mächtigen mittelalterlichen 
Mauern umgebenen Stadt, die beſonders von 1300 bis 1400 blühte und damals 35000 Einwohner 
zählte, mit ihrer Gruppe dräuender Türme, iſt äußerſt reizvoll. Zumal das überaus reichhaltige 
ſtaatliche etruskiſche Muſeum im Palaſt Vitelleschi, einem Kleinod gotiſcher Architektur, unter- 
gebracht iſt und ſich außerdem auf Schritt und Tritt prächtige alte Gebäude zeigen, darunter die 
im Jahr 1000 erbaute Kirche von S. Pancrazio. 

Unmittelbar an die Stadt ſchließt ſich nun das Gräberfeld, die Nekropole der durch ein langes 
Tal von ihr getrennten uralten Mutterſtadt der Etrusker: Tarquinia. Die Gräber, ſoweit ſie bis 
jetzt entdeckt oder ausgegraben ſind, liegen unregelmäßig zerſtreut. Von vielen hunderten Grab— 
ſtätten find bis jetzt nur etwa ein Viertelhundert geöffnet worden. Einige von dieſen ſind einfach, 
andere überreich geweſen an Geräten und Wandmalereien. Aus dem Studium dieſer und zu 
anderen Etruskerſtädten gehöriger Gräber laſſen ſich bis heute die einzigen Schlüſſe auf Leben, 
Sitten und Geiſt dieſes Volkes ziehen, obwohl die Stätten verſchiedenen Zeitaltern angeboten 
und in Südetrurien bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Ganz allgemein geſprochen, gehoͤtt 
ein Teil der etruskiſchen Gräber dem primitiven tuskiſchen Typus an, ein anderer dem vot— 
geſchrittenen archaiſchen, bei den übrigen iſt ſchon ſtellenweiſe römiſcher Einfluß zu erkennen. 
Hier in Tarquinia gehören die meiſten Gräber wohl der zweiten Gruppe an. 


Leben und Kultur der alten Etrusker 411 


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Abb. 2. Grabhügel (Tumuli) bei Caere 


Schwerlich hat je ein Volk ſeinen Toten ſoviel Liebe und Sorgfalt angedeihen laſſen, ſoviel 
Ehren erwieſen, wie die Eiruster. Zunachſt ſchützte man die tief in der Erde gelegenen Räume, 
wo die Toten auf ſteinernen Betten aufgebahrt wurden, durch enge mit behauenen Blöcken ein- 
gefaßte ſeitliche Gänge, die oben durch große Tonplatten oder flache Steine bedeckt wurden, 
worauf man Erde häufte, jo daß ein flacher, dem Uneingeweihten nicht auffallender kleiner Hügel 
entſtand. Außer dieſer Einrichtung gibt es ſowohl hier als auch in der Nekropole des nahen ur- 
alten Cae re (heute Cerveteri), wo die Königsfamilie der Tarquinier begraben lag, die ſogenannten 
Tumuli (Abb. 2), aus behauenen Blöcken hergeſtellte mit Erde bedeckte Rundbauten, ebenfalls mit 
unterirdiſchem, durch eine Steintreppe erreichbarem Eingang. Der unterirdiſche Teil war aus dem 
weichen vulkaniſchen Tuff gehauen. Die Höhe über der Erde beträgt etwa 4 Meter, der Umfang 
etwa 20 Meter. Dieſe Tumuli liegen in langen geraden Reihen. In Orvieto hingegen, das 
gleichfalls eine Totenſtadt aufweiſt, haben wir Reihen dicht aneinandergebauter Gräber aus 
Peperinblöcken, die innen der Struktur eines ſchmalen Hauſes mit Gewölbekonſtruktion an der 
Decke nachgebildet ſind. Dieſe Grabhäuſer liegen nur wenige Stufen tief unter der „Straße“, 
die einige Meter breit und auf beiden Seiten von Grabhäuſern eingefaßt iſt; die Straßen ver- 
laufen parallel und die Grabhäuſer ſtoßen mit ihren Rüdwänden aneinander. Die ganze „Stadt“ 
wurde fpäter mit Erde zugedeckt und unzugänglich gemacht. Nur auf der Oberfläche kann man 
noch heute die Lage der Gräber durch herausragende ſteinerne Phalli erkennen. Auch in Orvieto 
liegen noch erhebliche Teile der Totenſtadt unerforſcht da! 

Bei den Etruskern galt die religiöfe Überzeugung, daß man den Tod als Übergang von dieſer 
Welt zu einem ewigen Glück anſehen müſſe. Daher wurde bei der Beſtattung jeder Gedanke an 
Trauer vermieden. Die Wandbilder, die beſonders in Tarquinia gut erhalten find, zeigen denn 
auch die Geſtalten der Verſtorbenen, wie ſie, in antiker Weiſe auf Diwanen gelagert, ſich des Mahles 
erfreuen. Daneben liegt eine ſchöne Frau. Meiſt ſind es mehrere Paare, ſo daß eine Bankettſzene 
(Abb. 3) dargeſtellt iſt. Die Namen eines jeden find darüber oder darunter gemalt. Vor den Feſtteil- 
nehmern ſtehen kleine Tiſche mit allerlei Speiſen auf Tellern und in Schüſſeln. Alle Perſonen 
ſind in lebhafter Unterhaltung begriffen, die durch außerordentlich ſprechende Geſten dargeftellt 
ift. Auch heute noch führt ja der Südländer einen Teil der Unterredung mit den Händen; daher 


412 Leben und Kultur der alten Ettusket 


die von den Künſtlern bewieſene Beobachtungsgabe. Auf manchen Bildern bringen Sklaven 
Wein und Speiſen herbei; auf faſt allen ſind Flötenbläſer oder Lautenſpieler in Tätigkeit, woraus 
ſich auf eine große Muſikliebe ſchließen läßt. Andere Wände des gleichen Grabraums zieren Sze- 
nen aus dem Leben des Verſtorbenen und ſchildern ſeine Lieblingsbeſchäftigung: die Jagd auf 
Wild und Geflügel, den Fiſchfang, Wettſpiele oder den Reitſport. Ich gebrauche abſichtlich dieſes 
Wort; denn die gemalten Pferde ſind offenſichtlich edler Raſſe und haben feuriges Temperament. 
In einem Grabe iſt ſogar ein Rennen rings um den Raum wiedergegeben; am Ziel ſtehen zwei 
Jünglinge mit ihren tänzelnden Roffen rechts und links von dem „Unparteiiſchen“ und ſtreiten um 
den Preis (Abb. 4). Oft ſind Tänze von Männern und Frauen geſchildert, manchmal in grotesken 
Stellungen, die lebhaft an die Verrenkungen erinnern, die man in der letzten Zeit fo häufig in Raba- 
retten geſehen hat (Abb. 5)! Faſt nie iſt aber etwas verzeichnet, alle Glieder find im richtigen Ver- 
hältnis, die Bewegungen find leicht, gefällig, graziös, nie ſchablonenhaft wie bei den Agyptern; 
die Gewänder folgen den Bewegungen, ſind luftig und fließen; die Farben, bei denen ein ſattes 
Rot, ein lebhaftes Hellgrün, Dunkelbraun und Schwarz vorherrſchen, find diskret aufeinander ab- 
getönt. Die Decken des Grabraums ſind oft ſchachbrettartig in verſchiedenen Farben gegeben. 
Die um den Raum laufenden Frieſe find in Breite und Stil fein gegen die Größen verhältniſſe 
des Grabes abgewogen, und die Muſter der Diwane, Teppiche und ſonſtigen Gewebe ſind ſo 
eigenartig, daß mancher heutige Kunſtgewerbler da noch etwas lernen könnte. Kurz: die Künſtler 
hatten Blick, Farbenſinn, Temperament, Erfindungsgabe und — viel Humor. Man vergißt 
vollſtändig, in einem Grab zu fein. Und das war ja auch der Zweck. Der Tote ſollte eben das- 
jenige Leben, das er liebte, weiterführen dürfen, ein rührender Zug von Gemüt. Und aus dieſem 
ſeeliſchen Moment möchte man auf die germaniſche Urheimat der Etrusker ſchließen, da ja dem 
Südländer Gemüt völlig fremd iſt. Die äußerliche Oarftellung der Szenen iſt freilich ganz füd- 
ländiſch. Es ſchien bei den Reichen, die ſich ein ſolches Grab leiſten konnten, Mode zu ſein, den 
Künſtler aus dem Orient kommen zu laſſen, was bei dem regen Schiffsverkehr mit allen Küſten 


Abb. J. Bankettſzene 


Leben und Rultur der alten Etrustne 415 


Abb. 4. RNennſzene aus dem Grab des „Barons“, Tarquinia 


nicht umſtändlich ſein konnte. Jedenfalls ſind, mit verſchwindenden Ausnahmen, ſämtliche Per— 
fonen und Tiere im Profit gezeichnet, wie dies im Orient ſeit den ditejien Zeiten von den Aſſyrern 
und Agyptern gemacht wurde. Sodann kommen in den Bildern vielfach Panther, Leoparden, 
Löwen, Krokodile und andere wilde Beſtien vor, die es in Italien natürlich nicht gab — oder erft 
Jahrhunderte fpäter bei den römiſchen Kampfſpielen —, die aber vollkommen richtig gezeichnet 
und in ihren Bewegungen gut beobachtet ſind. Schließlich findet man bei dieſem ſeefahrenden 
Volk in den Gräbern niemals Darſtellungen von Schiffen, ſondern nur auf den aus Griechenland 
eingeführten Vaſen, ſo daß ſich aus dieſem Mangel eine Unvertrautheit der Künſtler mit dem 
Gegenſtand und damit auf ihre Landesfremdheit ſchließen läßt. Denn die Schiffstypen aller 
ſeefahrenden Völker waren damals ſehr weit voneinander verſchieden; vielleicht hätte der 
Künſtler alfo ein phönikiſches oder griechiſches oder ägyptiſches Schiff darſtellen können, was na- 
türlich abgelehnt worden wäre. 

Intereſſant iſt, daß die Hautfarbe der Männer ſtets rot, die der Frauen aber ſtets weiß iſt. 
Es war alfo wohl ein Stolz der Männer, wettergebräunt auszuſehen, als jagd- und ſportluſtig 
hingeſtellt zu werden; die vornehme Frau dagegen hatte es nicht nötig, Hausarbeiten zu machen 
und ſich dabei der Sonne auszuſetzen. Beliebt ſchien auch blondes Haar bei Frauen zu ſein, wie 
es noch heute im Süden iſt. Die Männer haben auf den Bildern durchweg ſchwarzes Haar; 
ſollten alſo die Damen ſchon Anno 500 v. Chr. — 2 Jedenfalls find uns aus jener Zeit hübſche 
Schminkkäſtchen mit verſchiedenen gut erhaltenen Farben und Näpfchen überkommen! 

Aus einigen Bildern geht mit Sicherheit hervor, daß die Etrusker an die Unſterblichkeit der 
Seele glaubten. Oft ſieht man geſchildert, wie die Seelen von guten oder böſen Geiſtern ent— 
führt werden, entweder zum Elypſium oder in den Tartarus. In den Gräbern „des Kardinals“ 
und des „Polyphem“ zu Tarquinia haben wir dafür zwei typiſche Bilder. Die guten Genien ſind 
weiß, haben weiße Flügel, beſchwingte Kothurne und tragen meiſt einen leichten Stab. Die 
böfen Genien find ſchwarz, haben ſcheußliche Fratzen und ſchwingen mächtige Hämmer, mit denen 
ſie die Seelen zu den Furien treiben. 

Sympathiſch und erfreulich wirkt die offenbare Vorliebe für Blumen aller Art und Blätter, 
die bald myrthen -, bald olivgrün gemalt find. Überall: bei den Gaſtmählern, in den Vorhängen, 
Decken und Gewändern find Blumenmuſter verwendet; an den Frieſen ziehen ſich Gewinde von 
Blüten hin; wo ein freies Plätzchen iſt, find Kränze angebracht oder es ranken ſich Zweige mit 
Knoſpen, Blüten und Früchten empor; auch die Tänzer haben Kränze im Haar. 


414 Leben und Rultur der alten Etruelet 


Vielfach fieht man bei Gaſtmählern das Ei; es galt als Urſprung alles Seins und außerdem 
als die reinſte der Speiſen. 

Wie ſchon bemerkt, ſpielt der Sport eine große Rolle. Wir ſehen nicht nur Pferderennen, 
für das die Etrusker einen ſolchen Namen hatten, daß ſchon der römiſche König Tarquinius 
Priscus, der ja Etrusker war, ſeine Landsleute nach Rom berief, um es den Römern in dem 
von ihm erbauten Zirkus zu zeigen. Wir finden auf den Grabbildern auch den Fauſtkampf, 
den Wettlauf, das Wagenrennen, das Diskuswerfen und das Fechten mit dem Streitkolben 
vertreten. 

Die in den Gräbern als Beigaben für die Toten niedergelegten Gegenſtände: Waffen, Geräte, 
Vaſen, Schmuckſachen — die einen hohen Goldwert haben — und, im Einklang mit den Wand- 
malereien, einen feinen Geſchmack und eine hohe Stufe kunſtgewerblicher Kultur verraten, de- 
finden ſich in dem wohlgeordneten, überſichtlichen und äußerſt ſehenswerten ſtaatlichen Muſeum 
in Corneto, gegen das ſelbſt die reichen Sammlungen im Vatikan und im ſtaatlichen Muſeum der 
Valle Papa Giulio in Rom zurückſtehen müſſen. 

Erwähnt ſei noch, daß die Götter der Etrusker im großen und ganzen den griechiſchen Göttern 
entſprechen; fie führen jedoch gänzlich andere Namen, ſoweit es Hauptgötter find, ein weiterer 
Beweis für die Fremdraſſigkeit der Etrusker. So heißt bei ihnen der dem Zeus entſprechende 
Gott: Tinia, die Venus — Aphrodite — Aſtorte: Turan, der Merkur — Hermes: Turns! 
Auf den Grabbildern kommen ſie nie vor; dagegen auf Vaſen und Bronzeſpiegeln. 

Wenn man alles geſehen hat, bleibt als Geſamteindruck eine hohe Bewunderung für ein fruͤhet 
mächtiges Volk, das hervorragende Fähigkeiten beſaß, auch auf dem Gebiete des Städtebaus, 
der Gewölbekonſtruktion und der Kanaliſation; für ein Volk, das es verſtanden hat, zu einer Beit, 
als die Römer noch ein rauhes zuſammengewürfeltes Geſindel ohne Kunſt und Kultur waren, 
fi einen verfeinerten Lebensgenuß zu verſchaffen. Um fo mehr muß man ſchmerzlich bedauern, 
daß es vollſtändig untergehen mußte, um ſein Beſtes an ein brutales Herren volk zu geben, das 
ſich dann allenthalben mit fremden Federn ſchmückte. Siegfried Naeger 


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Abb. 5. Tanz. Grab bei Tarqulnia 


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Der Deutfche Hochchuleng 


as deutſche Studententum, das ſeit etwa 1750 eine ſtete, aufwärtsſteigende Entwicklung 

genommen und im kaiſerlichen Deutfchland eine ungeahnte Blüte und weitgehende Aus- 
geſtaltung erlebt hat, iſt als zeitweiſe führender Teil des emporſtrebenden deutſchen Bürgertums 
hochgekommen. Dieſe enge Schickſalsgemeinſchaft offenbarte ſich auch am 9. November 1918, 
we es zuſammen mit dem Bürgertum jäh geſtürzt ward und als eine aus ihrem bisherigen 
Boden geriſſene, wurzellofe Größe den neu aufkommenden Gewalten machtlos gegenüberſtand. 
die akademiſche Frontjugend, die vier lange Jahre unter den alten Reichsfarben im Felde 
geſtanden und für das Vaterland wertvolle Zeit der Ausbildung, ſowie die Geſundheit, ja ihr 
Herzblut willig geopfert hatte, konnte ſich innerlich mit der neuen, ihr fremden Entwicklung 
nicht einverſtanden erklären, noch dem neuen deutſchen Staat zujubeln, der ihre nationalen 
Hoffnungen und Forderungen nicht zu erfüllen ſchien. Ihre Geſinnung wird durch die damals 
erfolgte Umdichtung der Binzerſchen Strophe gekennzeichnet: 


„Das Band iſt zerſchnitten; war ſchwarz-weiß und rot! 
Und wer dafür geſtritten, bleibt treu ihm bis zum Tod!“ 


Und wenn die akademiſche Jugend nach dem Umſturz zu wiederholten Malen zu den Waffen 
griff und unter Einſetzung ihres Lebens den neuen Staat gegen die Kommuniſten ſchützen 
half, ſo geſchah dies nicht aus „ſtaatstreuem Opfermut“, wie der Verkehrsminiſter Gröner in 
einer Kundgebung meinte, ſondern lediglich aus Liebe zu Volk und U die es vor einer 
Zukunft ruſſiſcher Art zu bewahren galt. 

Aber die im Kriege gereifte Studentenſchaft ſah ein, daß ſie in erſter Linie der Regierung 
gegenüber ihre Belange nachdrücklich vertreten müſſe, wenn nicht die geſamte Entwicklung der 
Zeit zermalmend über ſie hinweggehen ſollte. Um nun ihren hochſchulpolitiſchen und ſozialen 
Beſtrebungen die nötige Stoßkraft zu verleihen, waren alle Studenten — gleichviel, welcher 
politiſchen Richtung — gezwungen, gemeinſam und eng geſchloſſen vorzugehen, und ſo kam 
denn beim erſten deutſchen Studententage zu Würzburg am 17. bis 19. Juli 1919 die zukunfts- 
reichſte und gediegenſte Schöpfung der Kriegsſtudenten, die „Deutſche Studentenſchaft“, der 
Geſamtbund aller Einzelſtudentenſchaften an Deutſchlands hohen Schulen, zuſtande. Abgeſehen 
von einer längeren Zeit ſchwerer innerer Kämpfe gelang es dieſer Organiſation, die für ihre 
Arbeit nötige Unparteilichkeit zu wahren, die Anerkennung der Studentenſchaften als öffentlich- 
rechtlicher Körperſchaften innerhalb der Hochſchule zu erkämpfen und durch unermüdliche 
Tätigkeit der mit ihr verbundenen „Wirtſchaftshilfe der Deutſchen Studentenſchaft“ die von 
allen empfundene drückende Not der akademiſchen Jugend zu lindern und ein Verſinken der 
letzteren in ein proletariermäßiges Bettelſtudententum unmöglich zu machen. 

Innerhalb dieſer großen, umfaſſenden Gemeinſchaft, welche mit den gegebenen geſchichtlichen 
Mächten der Gegenwart, insbeſondere mit dem neuen Staate, rechnen mußte, gab es keinen 
Raum zur Vertretung ausgeſprochener, einſeitig herrſchender Parteirichtungen. Dieſe wurden 
vielmehr dazu gedrängt, außerhalb der neutralen Studentenſchaften und deren Geſamtverbands 
auf dem Wege der freien Einung alle die zu ſammeln, die ihre Hochziele anerkannten. Das galt 
in gleicher Weiſe für die links eingeſtellte Zugend wie für die rechts gerichtete. Naturgemäß 
verſuchte die letztere, die ſich durch den Umſturz und die neuere Entwicklung des Staates in 
ihrem Daſein aufs ſchwerſte bedroht fühlte, zuerſt zu einer Zuſammenfaſſung der Gleich- 
geſinnten zu gelangen. Die früheſte Vereinigung dieſer Art fand unter den ſchlagenden Studen— 


416 Der Oeutſche Hochſchulring 


tenverbänden ſtatt, die mit Ausnahme der Deutſchen Burſchenſchaft am 7. und 8. Auguſt 1919 
zum Schutz der ihnen eigentümlichen Belange den „Allgemeinen Deutſchen Waffenring“ 
ſchufen. Wohl ließ ſich derſelbe durch Einbeziehung aller derjenigen ſtudentiſchen Gruppen 
noch erweitern, welche mit den alten Verbänden in der Auffaſſung innerlich mancherlei ge- 
meinſam hatten, aber der großen Maſſe der akademiſchen Jugend erſchien die ſchlägerfreudige, 
ritterliche Romantik des Waffenſtudententums als etwas Fremdes und Überlebtes, und um fie 
zu gemeinſamer Arbeit heranzuziehen, brauchte man ein neuzeitliches, zugkräftiges Fdeal, das 
allgemein zu begeiſtern und fortzureißen vermochte. Und ein ſolches fand man auf außer- 
akademiſchem Gebiet in dem völkiſchen Gedanken. 

Nicht zum erſten Male tauchte dieſer in der Studentenſchaft auf. In der deutſchen akademiſchen 
Zugend des alten Oſterreich, das in Völkerſchaften zerriſſen war und ſchon ſeit Jahrzehnten 
ſtark unter jüdiſchem Einfluß ſtand, machte er ſich bereits um 1880 geltend, und durch die etwa 
gleichzeitige Kyffhäuſerbewegung der Vereine Deutſcher Studenten, die, von Nord- 
deutſchland ausgehend, ſtürmiſch bald das ganze Reich ergriff, wurde ſeiner Verbreitung in 
Reichsdeutſchland bedeutend vorgearbeitet. Der Kampf mit dem Judentum, das der freiſinnige 
Mommſen 1882 als „Ferment der nationalen Dekompoſition“ bezeichnet hatte, führte immer 
klarer zum Bewußtſein der deutſchen Eigenart, und je mehr ſich die Kyffhäuſervereine in dieſe 
vertieften und bis zu den Quellen des deutſchen Volkstums hinabſtiegen, deſto mehr geſtaltete 
ſich der politiſche Antiſemitismus, aus dem jie hervorgegangen, zu rein völkiſcher Anſchauungs 
weiſe um — eine Richtung, die durch Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahr 
hunderts“ geſchichtsphiloſophiſche Vertiefung, einen feſteren Halt und neue Antriebe erbielt. 
Aber erſt infolge des Umſturzes, bei dem der jüdiſche Teil der Bevölkerung führend auftrat, 
ward der völkiſche Gedanke Allgemeingut der akademiſchen Jugend. Und die fo denkenden 
ſtudentiſchen Kreiſe, Verbindungen wie Freiſtudenten, zu einer ſtarken, einheitlich zuſammen— 
geſchloſſenen Partei vereinigt zu haben: das bleibt die große, entwicklungsgeſchichtlich be 
deutungsvolle Tat des „Deutſchen Hochſchulrings“. 

Als Gegenbewegung gegen die von links kommenden, das nachrevolutionäre Deutſchland 
beherrſchenden Mächte verbreitete ſich die neue Strömung auf akademiſchem Boden. An elemen- 
tarer, weithin wirkender Gewalt kam ſie den Bewegungen der Urburſchenſchaft und der Vereine 
Deutſcher Studenten gleich, ja ſie bedeutete eigentlich den Sieg und die Erfüllung der Be— 
ſtrebungen des Kyffhäuſerverbandes innerhalb der Studentenſchaft. Sie war aber keineswegs 
eine auf die Hochſchule beſchränkte Bewegung, ſondern nur ein Teil der nach völkiſcher Er- 
neuerung ſtrebenden Jungdeutſchen, die fic als urſprünglich rechter, nationalgerichteter Flügel 
von der freideutſchen Jugendbewegung losgelöſt hatte. 

Die eigentliche Wiege des Deutſchen Hochſchulrings ijt Berlin, wiewohl etwa gleichzeitig 
auch anderwärts ähnlich geſinnte ſtudentiſche Gruppen hervortraten, wie z. B. der Bund zur 
Hebung des nationalen Gedankens zu Göttingen und Hannover. Als Ausgangspunkt darf die 
Berliner Fichte-Hochſchulgemeinde gelten. Abſeits von jeder Parteipolitik wollte dieſe zumeiſt 
aus alten Wandervögeln beſtehende loſe Vereinigung, die ſich im Frühjahr 1919 bildete, in 
kleinen Arbeitsgemeinſchaften und in großen öffentlichen Vorträgen zeigen, daß Fichtes wabt— 
haft völkiſche Lehre für Deutſchlands Wiederaufbau wichtiger ſei als das parteipolitiſche Treiben 
der Gegenwart. Die führenden Köpfe der Fichte Hochſchulgemeinde weckten das vöͤlliſche 
Verantwortlichkeitsgefühl der Kriegsſtudenten, und aus dem Zuſammenſchluß mit andern 
gleichdenkenden Studentengruppen ging im Juni 1919 der „Hochſchulring deutſcher Art“ zu 
Berlin hervor, der am 12. Dezember desſelben Jahres feine erſte öffentliche, von faſt vier 
tauſend Perſonen beſuchte Feier in der Univerfitätsaula veranſtaltete. Anläßlich des Göttinger 
Studententages vereinigten ſich am 22. Juli 1920 die inzwiſchen entſtandenen Hochſchulringe 
von Breslau, Danzig, Darmſtadt, Dresden, Erlangen, Greifswald, Halle, Hamburg, Zena, 
Kiel, Leipzig und Noſtock, ſowie die ihnen ähnlichen Gebilde in Bona, Frankfurt, Freiburg i. B, 


* 


der Oeutihe Hodididcing 417 


Göttingen, Hannover und Stuttgart mit der Berliner Gruppe zum „Hochſchulring Oeutſcher 
Art“. Dies geſchah auf Grund folgender Erklärung: 

„Wir befennen uns gum deutſchen Volkstum und erſtreben die deutſche Doltsgemeinjdaft. — 
Wir erachten deshalb den Zuſammenſchluß aller Krafte für erforderlich, welche aus gemeinfamer 
Abstammung, Geſchichte und Kultur heraus die Volksgemeinſchaft aller Deutſchen und damit 
die Wiedererſtarkung unferes Volkes und Vaterlandes erſtreben. — In nationalen und hoch- 
ſchulpolitiſchen Fragen wollen wir neben dieſem Zuſammenſchluß einen Zweckverband mit 
den Gruppen ſchließen, die ſich nicht auf dem voͤlkiſchen, fondern auf dem nationalen Gedanken 
aufbauen.“ 

Oer Hochſchulring war zunächſt überall weiter nichts als ein Sammelbecken, in welchem ſich 
die verſchiedenſten Studentengruppen — Waffenſtudenten, Vereinsſtudenten, Mitglieder tatho- 
liſcher Vereinigungen und völlifche Freiſtudenten — zu gemeinſamer vöͤlkiſcher Arbeit trafen. 
Wollte er nicht zu einer lebloſen, mumienhaften Organifation herabſinken, fo mußte er die 
neue Form mit neuem Inhalte füllen, und das konnte er nur, indem er als, völkiſches Gewiſſen“ 
der Studentenſchaft den von ihm erfaßten ſtudentiſchen Kreis zu einer Erziehungsgemeinſchaft 
im unverfälfcht deutſch- ariſchen Sinne umwandelte, was er durch die zahlreich von ihm ver- 
anſtalteten Schulungswochen durchzuführen verſuchte. Dabei war große Vorjicht geboten, denn 
die einzelnen Stubentenbünde und deren große Zuſammenſchluͤſſe wollten ſich naturgemäß 
von keinem die Erziehung ihrer Mitglieder aus der Hand nehmen laſſen, und ſo geriet der 
Hochſchulring ganz von ſelbſt, beſonders nachdem das Geſchlecht der Kriegsſtudenten von den 
Hochſchulen verſchwunden war, in die oft kleinliche, an Eiferſuüͤchteleien reiche „Studenten- 
politik hinein. Doch dürfte er dieſe Kriſe überwinden, zumal ſich die einzelnen Gruppen fagen 
muͤſſen, daß der Hochſchulring die ihnen eigentümlichen Aufgaben feiner ganzen Wefensart 
nach weder übernehmen kann noch will. Auch wird er ſich davor ſchon deshalb hüten, weil er 
weiß, daß die ſtudentiſchen Bünde und Verbände die Hauptträger feiner Bewegung find. Aber 
ſelbſt wenn diefe wie die Deutſche Burſchenſchaft und die Vereine Oeutſcher Studenten bereits 
jahrelang im völkiſchen Sinne tätig geweſen find, vermögen fie es nicht, ihren Angehörigen 
eine vöoͤlkiſche Erziehung und Durchbildung zu bieten, welche die Herbeiführung der Volks- 
gemeinſchaft auf überparteilicher Grundlage bezweckt. Dazu bedarf es einer überbünbifchen, 
weitblickenden und weitreichenden Organiſation, die mit reicheren Mitteln und geiſtigen Kräften 
aus verſchiedenen Lagern zu arbeiten in ber Lage ift. 

Während ſich ſo das Verhältnis des Hochſchulrings zu den ſtudentiſchen Bünden ziemlich 
leicht regeln läßt, war das zur Deutſchen Studentenſchaft eine Zeitlang ſtarken Schwankungen 
unterworfen. Es gab Heißſporne, welche wünſchten, daß der Hochſchulring feine Hochſchul⸗ 
politik darauf einftelle, den ſtubentiſchen Gefamtverband zu einer völkiſchen Gemeinſchaft um- 
zuwandeln — ein Verfahren, das den Tod der Deutſchen Studentenſchaft bedeutet hätte. Eine 
zweite Richtung verlangte dagegen, daß man von jeder Einmiſchung in die Angelegenheiten 
des Geſamtbundes abſehe und eine durchaus felbftändige Arbeit auf vöͤlliſch· kulturellem Gebiet 
entfalte. Dieſe Richtung hätte eine für die allgemeine Entwicklung der akademiſchen Jugend 
gefährliche Doppelorganifation der deutſchen Studentenſchaft zur Folge gehabt. Und ihre 
Politik führte tatſächlich dazu, daß auf dem Erlanger Studententag 1921 die großdeutſche Ein- 
heitsform des Gefamtverbandes zerſchlagen ward, und daß der verbliebene kümmerliche Reft 
durch die Göttinger Notverfaſſung 1922 zu einem innerlich gebaltlofen Zuſammenſchluß der 
reichsdeutſchen Studentenſchaften herabſank, der faſt ausſchließlich wirtſchaftliche Zwecke ver- 
folgen follte. In dem nun einfegenden Verfaſſungskampf, bei dem der Hochſchulring als Spitzen- 
verband gegen die gleichfalls als Spitzenverband handelnde Deutide Studentenſchaft auftrat, 
erreichte der erſtere den Gipfelpunkt feiner hochſchulpolitiſchen Außentätigkeit. Mit dem Würz- 
burger Studententag 1922, welcher die alte, großdeutſche Einheits form des ſtudentiſchen Gefamt- 


bundes wiederherſtellte, ſchloß dieſer kampfesreichſte Abſchnitt der Geſchichte des Hochſchulrings; 
der Tuͤrmer x XVIII. 5 28 


418 | Der Heutſche Hochſchulring 


von da an wirkte er innerhalb der Deutſchen Studentenſchaft im Sinn einer Fraktion, welche 
die voͤlkiſchen und großdeutſchen Belange mit Nachdruck zu wahren ſucht und e die 
großdeutſche Kultureinheit der akademiſchen Jugend aufrechterhält. 

Von ausſchlaggebender Zukunftsbedeutung iſt es nun, ob der völkiſche Grundgedanke des 
Hochſchulrings es tatſächlich vermag, die geſamte völtifch geſinnte akademiſche Jugend wirklich 
zu erfaſſen. Die Entſcheidung darüber liegt beim katholiſchen Studententum. Der Göttinger 
Zielformel nach kann ſich letzteres ſehr wohl dem Hochſchulring anſchließen, und die Partei, 
die ſich um die „Oeutſchen Akademiſchen Blätter für das junge katholiſche Deutſchland“ geſchart 
hat, tut es aus vollſter Überzeugung und arbeitet fördernd mit. Dagegen lehnt der wifjen- 
ſchaftliche Unitas-Verband jede Beteiligung ab, und im katholiſchen Cartell-Gerband (C. V.) 
der farbentragenden Verbindungen tobt ein leidenſchaftlicher Kampf für und wider den Hoch- 
ſchulring, dem man in zwei Broſchüren ein wohl lüdenlofes Verzeichnis der politiſchen und 
katholikenfeindlichen Entgleiſungen der Hauptleitung und der Einzelhochſchulringe entgegenbielt. 

So verquickt ſich denn die Katholikenfrage ganz von ſelbſt mit derjenigen der polit. ſchen 
Betätigung des Hochſchulringes überhaupt. Dieſe Arbeit war urfprünglich als überparteilich 
gedacht, aber der Ruhreinfall der Franzoſen und beſonders der Hitlerputſch in München 1925 
zwangen die Geſamtleitung und die örtlichen Gruppen zu einer ausgeſprocheneren Stellung; 
nahme, wenn fie ihren moraliſchen Einfluß auf die leidenſchaftlich erregte und vorwärtsdrängende 
akademiſche Jugend nicht verlieren wollten. Die Münchner Ereigniſſe bedeuteten bisher wohl 
die ſchwerſte Gefahr für den Hochſchulring, aber feine Sprengung durch die radikale „Deutſch⸗ 
völkiſche Studentenbewegung“, die fi damals bildete, ward durch eine geſchickte Politi? ver- 
mieden. Dieſe Münchner, wie auch andere frühere Vorgänge, die einſeitige Zuſammenſetzung 
der Altherrenſchaft und die bereits erwähnten zahlreichen politiſchen Entgleiſungen der Haupt- 
leitung und der ortlichen Koͤrperſchaften mußten in weiten Kreiſen die Meinung erwecken, die 
Beſtrebungen des Hochſchulrings ſeien parteipolitiſch einſeitig und zwar rechtsradikal. Eine ſolche 
Anſicht entſpricht jedoch nicht der Wirklichkeit: trotz aller Abweichungen vom urjpringliden Pro- 
gramm, die ſich nicht leugnen laſſen, geht die Geſamtrichtung des Hochſchulrings zwar im 
ganzen nach rechts, iſt aber keineswegs parteipolitiſch beſtimmt. 

Eine derartige unbedingte Feſtlegung würde übrigens auf die Dauer die Arbeit des Hoch 
ſchulrings hemmend beeinfluſſen, insbeſondere auf dem Gebiete des Grenzlands und Auslands- 
deutſchtums, wo er ſeine wertvollſten und Dauer verſprechenden Erfolge erzielt hat. Auch 
würde fie ihn, der eine lebendige, ſich ſtetig erneuende Bewegung darſtellt, zu einem friih- 
zeitigen, hoffnungsloſen Erſtarren verurteilen. 

Eine Zeitlang pulfte im Deutſchen Hochſchulring zum größten Teil das geiſtige Leben der 
akademiſchen Jugend. Seine Hauptblitegeit iſt aber zu Ende, und feine kriſenreiche Entwicklung 
vollzieht ſich in ziemlich gleichmäßigen Bahnen. Nicht die Taten der äußeren Politik find für 
ſeine Geſchichte das Entſcheidende, ſondern die Erziehungsarbeit, die er leiſtet, und das innere 
Leben, das er zu wecken vermag, und das er einem hohen Ziel entgegenführen will. Dieſes 
beſteht in nichts Geringerem als in der Schaffung eines völtifchen Großdeutſchlands, das weit 
über die heute verſtachelten Grenzen hinausreicht und einſt vielleicht auch eine andersartige 
ſtaatliche Geſtalt erhält, als fie das heutige Deutſche Reich beſitzt. 

| Prof. Dr. Paul Sſymank 

Nachwort. Wir ſind dem Verfaſſer für dieſe Darlegung dankbar. Der Herausgeber des 
„Türmers“ hat ſelber vor dem Göttinger Hochſchulring programmatiſch geſprochen, und es be- 
darf keiner weiteren Betonung, daß wir auch dieſer Bewegung freundlich naheſtehen. Zum 
Loſungswort „Großdeutſchland“ gehört freilich unbedingt auch die Vertiefung, die Beſinnung — 
in jener Art, wie damals die Wartburg-VBurſchenſchaft durch Kant, Schiller, Fichte und andere 
geiſtigen Mächte befeelt war. Und wieviel mehr noch als nach jenem ſiegreichen Feldzug brauchen 
wir heute Kräfte der Beſinnung auf das Geheimnis deutſcher Kraft! O. T. 


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Das alte Heer und die Kultur 


Da Zeit der Zerſetzung alter Werte erhebt gegen das alte Heer und inſonderheit ſein Hirn 
und ſeine Seele, das Offizierkorps, gern den Vorwurf des Mangels an Kultur, ja der 
Kultur feindlichkeit. Ohne weiteres iſt zuzugeben, daß das Offizierkorps als Ganzes als Träger 
einer geiftigen oder künſtleriſchen Kultur nicht in Frage kam; es waren immer nur Einzelne, 
die in dieſer Hinſicht in Betracht kamen, wenngleich ihre Zahl nicht jo klein war, wie man viel- 
fach annimmt: in jedem Regiment gab es eine kleine Gemeinde geiſtig und kuͤnſtleriſch inter- 
eſſierter Offiziere, die ſich nach den verſchiedenſten Richtungen zu fördern ſuchten und, wo fie 
konnten, der üblichen Verflachung und Verödung des kameradſchaftlichen und geſellſchaftlichen 
Zuſammenlebens entgegentraten. Aber fie waren — und darum weiß man nicht viel von ihnen — 
nicht tonangebend. Das waren vielmehr die Fachfanatiker, die bewußt jeden Seitenblick auf das 
außerhalb des Dienſtbereichs vorüberbraufende Leben vermieden und jede Ablenkung von ihren 
beruflichen Pflichten ängſtlich ſcheuten. Unter der jungen Mannſchaft gaben den Ton gewöhnlich 
einige vorlaute, um eine Vertiefung ihrer Bildung in keiner Weiſe beſorgte Leute an. Keineswegs 
aber waren dieſe beiden Sorten in der Überzahl; fie drängten ſich freilich am meiſten vor und 
die zahlreichen ſtillen Pflichtmenſchen und die vielſeitiger Intereſſlerten zurück und haben bei den 
Kreiſen, die in nur oberflächliche Berührung mit Offizieren kamen, das ganze Offizierkorps in 
Miftredit gebracht. 

Trotz alledem kann es für jeden, der tieferen Einblick in die Verhaltniſſe hatte, keinem Zweifel 
unterliegen, daß das alte Offizierkorps einen Kulturfaktor erſten Ranges barſtellte. Als Träger — 
nicht einer geiſtigen oder künſtleriſchen Kultur — aber einer Arbeits-, Berufs-, Erziehungs- und 
Perſönlichkeitskultur hatte es nicht ſeinesgleichen. Hier gab es eine jahrhundertelange Über- 
lieferung der Lebensanſchauung und ber Lebensform, hier wurde bei ſparſamem Lob, aber 
häufigem und ſcharfem Tadel hart und rückſichtslos erzogen mit dem Ziel, den Willen zu 
ſtählen, die Entſchlußkraft zu fördern und jeden Menſchen zu feinen hddften Möglichkeiten zu 
ſteigern; hier gab es ein ſtetes, erzieheriſch ſo ungeheuer wertvolles Wechſelſpiel von befehlen 
und gehorchen, hier gab es Verantwortlichkeits- und Pflichtgefühl in ſchärfſter Prägung, hier 
galt der reine Intellektualismus gar nichts, die Perſönlichkeit alles; hier war das heute wieder 
in den Vordergrund gerüdte Problem — Verhältnis zwiſchen Einzelperſönlichkeit und Gemein- 
ſchaft — gelöſt: die aufs ſchärfſte herausgemeißelte Einzelperſönlichkeit war als gebundene und 
doch nicht gefeſſelte Kraft für die Geſamtheit nutzbar gemacht als Führer, Erzieher, Perſönlich⸗ 
keitsbildner. 

Die Aufzählung von tauſend Schäden, die das Heer hatte, wird den Kundigen nicht davon 
überzeugen, daß fie überhaupt in Betracht kämen gegen den einen ungeheuren Vorzug, daß es 
eine Schule der Perſönlichkeit war, wie fie in dieſem Umfang und in dieſer Vollendung nie 
dageweſen iſt. Und ihre Seele war eben das Offizierkorps, die ariſtokratiſche Genoſſenſchaft, die 
in ſich wieder eine kleine, überaus harte Perſönlichkeitsſchule darſtellte. Hier wurden Männer 
erzogen — und das bedeutet doch wohl etwas für das Kulturleben? — mit dem ausgeſprochenen 
Zweck, wiederum Männer zu erziehen. 

Was es bedeutete, wird vielleicht eher klar, wenn man andere, dem Streit der Meinungen 
entrüdte ariſtokratiſche Genoſſenſchaften auf ihren Kulturwert näher anſieht, z. B. die ober- 
italieniſchen Oligarchien, die Ritterorden, die hanſeatiſchen Großkaufleute, die alten Zünfte, ja 
auch meinetwegen das deutſche Großbauerntum. Auch bei allen dieſen Genoſſenſchaften hat man, 
fo verſchieden fie find, als gemeinſame Merkmale die hohe Bewertung der Überlieferung, den 
einheitlichen Stil aller Lebensformen, die Strenge in den Anſchauungen und im Befolgen 
ſelbſt gegebener (vielfach ungeſchriebener) Geſetze, die unerbittliche Härte gegen Fehltritte gerade 
gegen dieſ e Geſetze, die Abſonderung von anderen Kreiſen, den Hochmut, die Überhebung, die 
Unfreiheit, den Mangel an Geiftigteit. Unb doch wird felbft der wildeſte Demokrat oder der 


420 Das alte Hex 


geiftig überheblichfte „Ziviliſationsliterat“ nicht die Oreiftigteit haben, zu leugnen, daß in dieſen 
Senoſſenſchaften gewaltige Kulturwerte ſteckten und — ſoweit fie noch beſtehen — noch heute 
ſtecken, eben weil hier, wie nirgends fonft, Perſönlichkeiten, Charaktere, Starrköpfe, Willens 
kräfte ſyſtematiſch gezüchtet wurden und werden Produktive der Tat, in jedem Fall Männer, 
während der Gntellettualismus gar zu oft nur Zertbilder von ſolchen hervorbringt. 

Kein Verſtandiger wird ſich vermeſſen, den Intellektualismus gering zu bewerten und feine 
Verdienſte um das Hinwegrdumen von Vorurteilen und um die Erziehung zur „pſychologiſchen 
Reinlichkeit“ zu mißachten: aber man fragt ſich doch, woher in aller Welt er nur immer wieder 
den Mut nimmt zu der Anmaßung, ſich als den alleinigen Kulturbringer und Träger aufzu- 
ſpielen, nachdem ihn Leute wie Goethe, Schopenhauer und Nietzſche fo energiſch in feine Schran- 
ten zuruͤckgewieſen haben. Welche Gedankenloſigkeit, nur die wiſſenſchaftliche, literariſche und 
künſtleriſche Produktion als kulturell in Betracht kommend zu beachten und zu bewerten, während 
in dem vielgeſtaltigen Lebensgetriebe allerwärts große Schaffende am Werke ſind von einem 
Ausmaß ber Geiftes-, Seelen und Willens kräfte, daß fie ſchlechterdings den Genies zuzurechnen 
find. Sicherlich tft es der Geift, der die Richtung geben muß bei allem Schaffen, gewiß aber nicht 
der fo bedauerlich einfeitig eingeftellte Geift unſerer jetzigen Wiffens-, Schreib- und Leſekultur. 
„Ja, mein Lieber, es gibt auch eine Produktivität der Taten“, ſagte Goethe gelegentlich zu 
Eckermann, und in feinem „Aufruf zum beiligen Krieg der Lebendigen“ ſchreibt Rudolf Pann- 
witz: „Zwar ſind einige wenige zu Schaffenden beſtimmt und können nicht alle körperlich dienen, 
aber doch find faft alle Geiftigen geiſtiges Proletariat, Wurzelloſe und Arbeitsiheue und gehören 
ins tätige Leben.“ .. Geiſtiges Proletariat! aber fie halten ſich für die Kultur- Ariſtokraten, die 
Elite, die das Höchſte, das den Stoff Beſeelende, den Geiſt, gepachtet zu haben glauben, indem 
fie alles Lebendige zu Büchern verarbeiten, oder in bieſer Verarbeitung aufnehmen, es zer- 
ſchreiben oder zerleſen. Im alten Heer war ein gangbares Wort, daß ein Vielwiſſer nur zu 
häufig ein Nichts kö nner fei, und die „Schriftgelehrten“ waren leicht dem Spott ausgeſetzt, fie 
könnten keinen Zug Infanterie über einen Rinnftein führen. Darin kam ein geſunder Inſtinkt 
zum Ausdruck: die Abwehr des Alexandrinertums und des Hamletweſens von einem Lebens- 
kreis, der bie Erzlehung zu willensſtarken Perſönlichkeiten und die Produktivität der Tat auf 
ſeine Fahnen geſchrieben hatte; wobei nicht verſchwiegen werden ſoll, daß dieſe an ſich geſunde 
Auffaſſung häufig von Oummköpfen als Deckmantel ihrer geiſtigen Unzulänglichkeiten benutzt 
wurde. 

Es ſollte doch ſehr zu denken geben, daß Nietzſche das deutſche Offizierkorps gerade als Kultur- 
faktor fo außerordentlich hoch bewertete: daß er in ihm ein „Kunſtwerk“ ſah; daß er geſchrieben 
hat: „Die Zukunft der deutſchen Kultur ruht auf den Söhnen der preußiſchen Offiziere“; und 
weiter: „gebe Erhöhung des Typus „Menſch“ war bisher das Werk einer ariſtokratiſchen Ge- 
noſſenſchaft“; und ſchließlich — und damit die zuerſt angeführten Außerungen gleichſam be- 
gründend: „Ich ſehe durchaus nicht ab, wie Einer es wieder gut machen kann, der verfäumt hat, 
zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein ſolcher kennt ſich nicht, er geht durchs Leben, 
ohne gelernt zu haben, der ſchlaffe Muskel verrät ſich bei jedem Schritt noch. Mitunter iſt das 
Leben fo barmherzig, dieſe harte Schule nachzuholen .. Das Wünfchenswertefte bleibt unter 
allen Umftdnden eine harte Difziplin zur rechten Zeit, d. h. in jenem Alter noch, wo es ſtolz 
macht, viel von ſich verlangt zu ſehen. Denn bies unterſcheidet die harte Schule als gute Schule 
von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß ſtreng verlangt wird; daß das Gute, das Aus- 
gezeichnete ſelbſt, als normal verlangt wird; daß das Lob ſelten iſt, daß die Indulgenz fehlt; 
daß der Tadel ſcharf, ſachlich, ohne Rüdjicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine ſolche 
Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt von dem Leiblichſten wie vom Geiſtigſten; es 
wäre verhaͤngnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Diſziplin macht den Militär und den 
Gelehrten tüchtig; und näher beſehen, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Inſtinkte 
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine ſtolze Weiſe ge- 


Streltfragen des Welitriege 421 


horchen; in Reih und Glied ſtehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen 
vorziehen; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen, 
Schlauen, Paraſitiſchen mehr feind fein, als dem Böſen. — Was lernt man in einer harten 
Schule? Gehorchen und Befehlen.“ — 

Diefe Außerungen ſtammen doch nicht von irgend jemandem, ſondern von einem Genius erften 
Ranges — und zwar aus feiner reifiten Zeit —, ber fein Leben daran geſetzt hat, zu ergründen, 
wo die eigentlichen Kulturwerte ſtecken. 

Major a. D. Max Oehler-Weimar, Archivar des Nietzſche- Archivs 


Streitfragen des Weltkriegs 


Da Hochflut der Kriegsliteratur beginnt abzuebben. Zahlreiche Heerführer auf verbündeter 
und feindlicher Seite haben geſprochen und die Dinge, fo wie fie fie ſahen, klargelegt und 
beurteilt; berufene und unberufene Kritiker haben ſich vernehmen laſſen, und die Fille der bis 
herigen Literatur über den Weltkrieg iſt ſchier unüberfehbar geworden. Immerhin beginnen 
aber heute, elf Jahre nach Beginn dieſes gewaltigſten aller Kriege, die Geſchehniſſe ſich zu klären; 
die Zuſammenhäͤnge entwirren ſich, Urſachen und Wirkungen werden erkennbar, und in den Ur- 
teilen maßgebender Kritiker tritt vielfach eine gewiſſe Ubereinſtimmung zutage. Freilich bleiben 
immer noch Streitfragen übrig, wo auch Fachmänner verſchiedener Meinung fein können. 

In allererſter Linie iſt zu berichten über das mit Ungeduld und Spannung erwartete amtliche 
Geſchichtswerk des Reichsarchivs, „Der Weltkrieg 1914—18“, deſſen erſten beiden Bände 
„Die Grenzſchlachten im Weiten“ (720 S.) und „Pie Befreiung Oſtpreußens“ (390 S.) in gerade; 
zu muftergültiger Ausſtattung mit zahlreichen vortrefflichen Kartenbeilagen im Verlag von 
Mittler & Sohn, Berlin, Ende 1924 erſchienen ſind. Die hochgeſpannten Erwartungen, die an 
dieſes auf die amtlichen Quellen, Kriegstagebuͤcher und Ookumente ſich ftügende Werk geknuͤpft 
wurden, ſind noch erheblich übertroffen worden, und es iſt hier ein Werk zuſtande gekommen, 
das in feiner Klarheit, Überſichtlichkeit und Folgerichtigkeit über jedes Lob erhaben ijt. Die Ab- 
ſicht des Reichsarchivs, dem kämpfenden und blutenden Heere, der ſchaffenden und duldenden 
Heimat von 1914 bis 1918 ein auf umfaſſender Forſchung begründetes Denkmal zu errichten in 
einer grundlegenden zuverläſſigen Darſtellung des Weltkriegs“, ijt in den vorliegenden Bänden 
aufs fchönfte erreicht worden. Der erſte Band umfaßt den Aufmarſch und die Ereigniſſe an der 
Weſtfront bis Ende Auguſt 1914, während im zweiten Band der Aufmarſch im Oſten und die 
Ereignifje bis Mitte September 1914, und zwar ſowohl auf deutſcher wie öͤſterreichiſcher Seite 
behandelt werden. Bei der Darſtellung eines Kriegs von dem gigantiſchen Umfang des Welt- 
kriegs war es natürlich nicht mehr möglich, wie in früheren Generalſtabswerken, in taktiſche Ein- 
zelheiten hinabzuſteigen, der Schwerpunkt muß vielmehr auf der Entwicklung der operativen 
Vorgänge und der Veranſchaulichung der Entſtehung der Füͤhrerentſchlüſſe ruhen. Auch iſt das 
Kriegswerk lediglich Kriegswerk, politiſche und wirtſchaftliche Verhältniſſe werden nur kurz ge- 
ſtreift und ſoweit erörtert, als zum Verſtändnis der militäriſchen Dinge unbedingt notwendig iſt. 
Bei letzteren wird nichts vertuſcht und verheimlicht, vielmehr ſtrengſte Wahrhaftigkeit geübt, 
wodurch das Werk gegenüber den früheren, mehr oder minder fubjettiv eingeſtellten Veröffent- 
lichungen außerordentlich an Bedeutung gewinnt. Die Kritik iſt ſtreng ſachlich, ungemein maß 
voll und zurüdhaltend, nirgends leibenſchaftlich oder lehrhaft; es werden keine Schuldigen ge- 
ſucht, keine Berdammungsurteile ausgeſprochen, aber auch nichts verſchwiegen oder [hin gefärbt. 
Zugleich bedeutet aber das Werk, auch wenn es nicht geſagt wird, ein leuchtendes Denkmal für 
den Genius bes Grafen Schlieffen, deſſen geiſtige Größe bei ruͤckſchauender Betrachtung geradezu 
gigantiſch in die Erſcheinung tritt. 


42) Streitfragen des Weltkriegs 


Während das amtliche Kriegswerk, deſſen Ausgabe bei dem Umfang des zu ſichtenden und zu 
verarbeitenden Materials ſich naturgemäß verzögern mußte, ſoeben feinen Eintritt in die Kriegs; 
literatur vollzogen hat, geht ein anderes, ihm ſchier ebenbürtiges, groß angelegtes Werk, auf das 
ich ſchon mehrfach lobend und empfeblend hinweiſen durfte, dem Abſchluß entgegen, nämlich 
„Der große Krieg 1914-18 in zehn Bänden, herausgegeben von Generalleutnant Schwarte 
(im Verlag von Ambroſius Barth, Leipzig und acht weiteren Verlegern). Von dieſem monu- 
mentalen Werk, das im Gegenſatz zur obengenannten amtlichen Veröffentlichung neben den mili- 
täriſchen auch politiſche, wirtſchaftliche und organiſatoriſche Fragen in Darftellungen ſachkundiger 
Mitarbeiter eingehend erörtert und in dieſer Hinſicht vielleicht einzig daſteht, iſt gleichfalls Ende 
Dezember 1924, der dritte Teil des dritten Bandes, „Oer deutſche Landkrieg. Dom Winter 
1916 / 17 bis zum Kriegsende“ (694 S.), erſchienen, womit die Darſtellung des deutſchen Land- 
kriegs ihren Abſchluß gefunden hat. Er umfaßt den Abſchnitt der Kriegführung durch die dritte 
Oberſte Heeresleitung vom Herbſt 1916 bis zum Kriegsende und behandelt beſonders eingehend 
die deutſchen Angriffe des Jahres 1918, die die Kriegsentſcheidung hätten bringen ſollen. Auch 
dieſes Werk verlegt den Schwerpunkt auf ſtreng ſachliche Darſtellung der Ereigniſſe und ver⸗ 
meidet im allgemeinen ätzende Kritik; lediglich die aus der Feder des rühmlichſt bekannten Mili- 
tärſchriftſtellers Generals von Zwehl ſtammenden Betrachtungen über die Schlußkämpfe und das 
Ende des Krieges an der Weſtfront enthalten zahlreiche kritiſche Bemerkungen, die aus fo berufe; 
nem Munde doppelt wertvoll ſind. General von Zwehl hat auch eine kurze Schlußbetrachtung 
über den Geſamtverlauf des Krieges angefügt, in der die Hauptereigniſſe des 51 Monate wab- 
renden furchtbaren Ringens nochmals kurz in die Erinnerung zurückgerufen werden. 

Der öͤſterreichiſch· ungariſche Generalſtabschef Feldmarſchall Conrad Freiherr von Hötzendorf 
hat den von mir bereits früher beſprochenen drei Bänden „Aus meiner Oienſtzeit 1906—18“ 
den vierten Band folgen laſſen, der die Ereigniffe vom Beginn des Krieges bis zum 30. Sep- 
tember 1914 behandelt und deshalb beſonderes Intereſſe beanſpruchen darf. (Rikola-Verlag, 
Wien-München 1923, 956 S.) Dieſe Aufzeichnungen, die ein kriegsgeſchichtliches Urkundenwerk 
erſten Ranges und für das Studium des Weltkrieges unentbehrlich find, haben in deutſchen Mili- 
tärkreiſen vielfach unliebſames Aufſehen erregt und teilweiſe ſehr abfällige Beurteilung erfahren, 
weil Conrad einen Briefwechſel mit ſeinem Freund, dem Generaladjutanten Freiherrn von 
Bolfras, veröffentlicht, in dem er die Deutſchen wiederholt bezichtigt, die getroffenen Verein- 
barungen nicht eingehalten und die Oſterreicher ſchmählich im Stiche gelaffen zu haben. Diefe 
Vorwürfe find, wie ich vorweg bemerken möchte, ungerecht und ungerechtfertigt. Ich möchte aber 
deswegen doch nicht mit Conrad allzuſcharf ins Gericht gehen, denn es iſt ihm tatfadlid von 
Moltke reichlich viel verſprochen worden, was dann unter dem Zwang der Verhältniffe nicht ge- 
halten werden konnte; auch muß man beridfidtigen, in welch geſpannter Lage, in welch kritiſcher 
Zeit und unter welchem ſeeliſchen Druck dieſe ganz intimen Briefe geſchrieben worden ſind. 
Einem guten alten Freund gegenüber wird da nicht jedes Wort auf die Goldwage gelegt. Fb 
mochte dieſe in größter Erregung geſchriebenen Briefe nicht allzu tragiſch nehmen, zumal ihnen 
der Schein einer gewiſſen Berechtigung nicht ganz abgeſprochen werden kann; immerhin wäre 
ihre Veröffentlichung im Intereſſe des beiderſeitigen guten Einvernehmens zwiſchen den beiden 
Bruderſtämmen vielleicht beſſer unterblieben. Im übrigen gewinnt man auch aus dieſem Bande 
wieder einen ſehr günftigen und ſympathiſchen Eindruck von der Perſönlichkeit Conrads als 
Menſch ſowohl, wie auch als Feldherr. Insbeſondere gelingt es Conrad, ſich von dem bisher gegen 
ihn erhobenen Vorwurf des gänzlich verfehlten erſten öſterreichiſchen Aufmarſches, der die Ur- 
ſache weiterer Mißerfolge geworden iſt, zu reinigen. Wir ſehen, daß Conrad durchaus richtige und 
geſunde ſtrategiſche Anſichten über die Führung der erſten Operationen in einem Sweifronten- 
krieg gegen Serbien und Rußland hatte und ſich auch darüber klar war, daß in dieſem Falle der 
Schwerpunkt gegen Rußland lag. Die Umſetzung dieſer Anſichten in die Tat iſt aber durch Fehler 
der politiſchen Leitung erſchwert und verhindert und teilweiſe auch durch Intrigen Potiorets, 


Streitfragen bes Weltkriegs 425 


des Führers gegen Serbien, und vom Auswärtigen Amt (Berchthold) abſichtlich durchkreuzt 
worden. Unbegreiflicherweiſe hielt Graf Berchthold noch Ende September 1914 wegen Zul- 
gariens und Rumäniens einen Erfolg in Serbien für wichtiger als in Galizien. Dieſer Meinungs- 
unterſchied aber war die verderbliche Urſache des Zurüdhaltens ſtarker Kräfte in Serbien und 
der Selbftändigftellung Potioreks, die Conrad die einheitliche Leitung der Operationen ſehr er- 
ſchwert hat. Zuſtimmen kann man Conrad auch, daß noch nie ein Krieg unter fo zerfahrenen Ver⸗ 
hältniſſen begonnen worden ift wie 1914 in Ofterreid-Ungarn — leider auch im Oeutſchen 
Reich — und daß, wenn Öfterreich und Deutſchland den Krieg gegen Rußland gewollt hätten, 
wie unſere Feinde noch immer behaupten, ſie ſich hierüber und über die erſten Operationen ganz 
anders verſtändigt und niemals zugelaſſen hätten, daß ſo ſtarke Kräfte gegen Serbien eingeſetzt 
wurden, wie tatſächlich geſchehen. Intereſſant iſt auch die Feſtſtellung, daß man aus Berichten 
Cyernins bereits Mitte Juli wußte, daß Rumänien Oſterreich im Stich laſſen würde, daß aber 
dann Rumänien Mitte September gegen Abtretung Suczawas doch zum Eingreifen bereit ge- 
weſen wäre, was aber am Widerſtand Ungarns ſcheiterte. Conrad tritt in feinem Buch vor allem 
als Vollblut ſterreicher in die Erſcheinung, und von dieſem Geſichtspunkt aus muͤſſen feine Aus- 
führungen gewertet werden. Er war trotz aller Verſtimmungen, die nicht immer unberechtigt 
waren, ein treuer Freund der deutſchen Sache und trotz mancher Mängel doch wohl der genialſte 
unter den oberſten Heerführern der verbündeten Mächte in den erſten Kriegsjahren. Der Ver- 
lauf der Ereigniffe hat gelehrt, daß bei den zahlreichen Meinungsverſchiedenheiten mit Falken; 
hayn Conrad meiſt im Recht geweſen iſt. 

Auch General Hoffmann, einer unſerer geiſtreichſten und befähigtſten Generalſtabsoffiziere, 
die rechte Hand Ludendorffs und fpdter des Oberbefehlshabers im Oſten, erkennt die Genialität 
Conrads in ſeinem leſenswerten Buch „Der Krieg der verſäumten Gelegenheiten“ 
(Verlag für Kulturpolitik, München) voll an. In dieſem Buch wird die Frage geſtellt: War es nötig, 
daß wir den Krieg verloren und welche Perſönlichkeiten oder Verhältniſſe waren ſchuld daran, 
daß wir ihn verloren haben? Wie ſchon der Titel beſagt, iſt der Verfaſſer nicht der Anſicht, daß 
der Krieg für die Mittelmächte verloren gehen mußte, worin man ihm nur beiſtimmen kann. Daß 
er trotzdem verloren wurde, war die verhängnisvolle Folge einer Reihe ſchwerer Verſäumniſſe 
militäriſcher und politiſcher Art, die in geiftvoller und auch für den Nichtfachmann leicht verftänd- 
licher Weiſe beleuchtet werden. Soweit der Often in Betracht kommt, kann General Hoffmann 
wohl als der maßgebendſte Fachmann auf dieſem Kriegsſchauplatz angeſehen werden, und auch 
feine Ausführungen über die Friedens verhandlungen in Breft-Litowft, an denen er bekanntlich 
beteiligt war, wird man mit Gntereffe leſen. Seiner mitunter recht ſcharfen, ja ſchroffen Kritik 
der Operationen des Jahres 1918 im Weſten, bei der die Kräfte nicht einheitlich und nicht glüd- 
lich eingeſetzt wurden, muß ich mich leider größtenteils anſchließen. Die mit großem Selbjtbewußt- 
ſein und nicht minder großer Schärfe vorgetragene Kritik Hoffmanns hat in manchen militäriſchen 
Kreiſen Ablehnung erfahren; gleichwohl bietet das Buch ſehr viel des Intereſſanten und bildet 
eine Ergänzung der bisher erſchienenen kritiſchen Abhandlungen über den Weltkrieg. 

Zu den wertvollſten Erſcheinungen auf letzterem Gebiet iſt das kürzlich herausgegebene Buch 
des Generalleutnants Kabiſch, „Streitfragen des Weltkriegs“ (Bergers Liter. Bureau, 
Stuttgart 1924, 400 S.) zu zählen. Der Verfaſſer, der den Krieg in hervorragenden General- 
ſtabsſtellungen mitgemacht hat und außerdem die geſamte Kriegsliteratur in ſeltener Weiſe be; 
herrſcht, erörtert die Feldzugspläne, den Fall Prittwitz, die Strategie Conrads, den Marnefeld- 

zug, Saloniki, Verdun, die Märzoffenſive 1918 und ſonſtige militäriſche Streitfragen, bei denen 
die Meinungen noch vielfach ſtark auseinandergehen. Er wendet hiebei ein eigenartiges, ſehr emp; 
fehlenswertes Verfahren an, indem er die in der Kriegsliteratur zutage getretenen Anfichten 
gegenüberftellt, beſpricht und dann in einer Schlußbetrachtung ſelbſt dazu Stellung nimmt. 
Indem auf dieſe Weiſe dem Leſer die behandelten Fragen von allen Seiten beleuchtet werden, 
wird er zur Bildung eines eigenen Urteils angeregt. Die von Kabiſch gemachten Vorſchlaͤge über- 


424 Streitfragen des Weltkriegs 


raſchen vielfach durch ihre Neuheit und Eigenart. Trotz der bereits vorhandenen umfangreichen 
Literatur erfahren wir auch noch manches Neue, fo daß das öͤſterreichiſch- ungariſche Heer in 
Galizien zu Kriegsbeginn dem ruſſiſchen zahlenmäßig keineswegs unterlegen war; überraſchend 
iſt auch die Verurteilung des Handſtreichs auf Lüttich. Aber Prittwitz, den der Verfaſſer übrigens 
ausgezeichnet charakteriſiert, und die erſten Operationen im Oſten erfährt man auch manches, 
was bisher noch nicht allgemein bekannt war. Ganz ausgezeichnet find die Ausführungen über 
die Operationspläne und die Verwäſſerung des genialen Schlieffenſchen Planes (der uns ſicher 
zum Sieg geführt hätte) durch Moltke und feine unfähigen Gehilfen, desgleichen die Betrach- 
tungen über die große Offenſive im März 1918, deren ſcharfe Kritik berechtigt ift. Dagegen vermag 
ich dem gemachten Vorſchlag, die letzte große Entſcheidung 1918 in der ſtrategiſchen Defenfive 
zu ſuchen, keinerlei Geſchmack abzugewinnen, und auch die beigegebene eingehende Begründung 
kann mich nicht davon überzeugen, daß wir auf dieſe Weiſe den Endſieg hätten erringen können. 
Ebenſowenig kann ich auch Kabiſch in feiner Verurteilnng der erſten öſterreichiſch- ungariſchen⸗ 
Offenfive gegen die Ruffen zuſtimmen; er ſteht hiemit ziemlich vereinzelt da, und auch das amt- 
liche Werk des Reichs archivs betont, daß dieſe Offenſive unter den gegebenen Berhaltniffen durch 
aus richtig, ja notwendig und auch keineswegs ausſichtslos war. Zu beanſtanden iſt lediglich die 
Art der Durchfuhrung am rechten Flügel bei Lemberg, wo Zuruͤckhaltung geboten war, durch 
die 3. Armee Brudermann. Das Verhalten Brudermanns iſt auch von Conrad ausdrücklich miß- 
billigt worden, und er iſt bald darnach auf Antrag Conrads ſeines Poſtens enthoben worden. 
Noch weniger kann ich dem ungemein ſcharfen Urteil Rabifd’ über Conrad zuſtimmen, dem er 
geradezu jede Befähigung zum Feldherrn abſpricht. Hierin geht Kabiſch m. E. entſchieden zu 
weit, und ſein Urteil ſteht auch im Gegenſatz zu dem der weitaus überwiegenden Mehrzahl recht 
maßgeblicher Kritiker. Eine gewiſſe Voreingenommenheit gegen Conrad tritt unverkennbar zu- 
tage und ſcheint durch deſſen Bolfras-Briefe (f. oben) hervorgerufen zu fein. Gleichwohl ſtehe ich 
nicht an, das Buch Kabiſch' als eine der vorzüͤglichſten Erſcheinungen der Kriegsliteratur zu be- 
zeichnen. f 
Nicht minder bedeutend und wertvoll ſcheint uns ein Buch zu ſein, das der Feder des weithin 
rũhmlichſt bekannten Militärſchriftſtellers Generalleutnant Otto v. Moſer entſtammt: „Ernit- 
hafte Plaudereien über den Weltkrieg. Eine kritiſche militärpolitiſche Geſchichte des Rrie- 
ges für Fachleute und Nichtfachleute. Zur Ridfdau in die Vergangenheit und zur Ausſchau in 
die Zukunft.“ (Belſerſche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1925, 463 S.) Das Buch möchte, wie 
der Verfaſſer in einer Militärzeitfchrift ausgeführt hat, nicht nur feinem Inhalt nach vor der 
ſtrengen Kritik des militäriſchen Fachmannes und Hiſtorikers beſtehen, ſondern auch ſeiner Form 
nach den militärifhen Nichtfachmann zu ſtrategiſch-politiſchem Mitſtudium einladen und anregen. 
Und zwar deshalb, um die gebildeten deutſchen Volksgenoſſen, insbeſondere die politiſchen und 
geiſtigen Führer aus der ſtrategiſchen Unmündigkeit und Urteilsloſigkeit herauszureißen, in der 
fie alle den Weltkrieg miterlebt haben. General v. Mofer iſt bekannt durch die Schärfe und Rlar- 
beit feines Urteils. Tiefer Ernft und warmes vaterländifhes Empfinden durchziehen feine Schrift, 
deren eingehende Beſprechung vielleicht fpdter noch moglich iſt. Ich möchte dieſes Buch von 
allen andern in erſter Linie jedem Nichtfachmann zur Beſchaffung warm empfehlen. 
Schließlich ſei noch eines kleinen Buches gedacht, an dem nicht achtlos vorbeigegangen werden 
kann: „Kaiſerliche Eingriffe in die Veltkriegsführung“ von Rudolf Wagner (Verlag 
Thalacker & Schwarz, Leipzig 1924, 268 S.). Das Buch ift von einem anſcheinend national ge- 
ſinnten Manne geſchrieben und enthält manche treffende Bemerkung, daneben aber fo viel un- 
gereimtes Zeug und zahlreiche Behauptungen, die völlig unbewieſen, unhaltbar oder von einer 
wiſſenſchaftlichen hiſtoriſchen Kritik längſt widerlegt ſind, daß nur davor gewarnt werden kann, 
alle Angaben diefes Buches für bare Münze zu nehmen. Der Berfaffer will den Nachweis er- 
bringen, daß der Raifer wiederholt zugunſten Englands und zu unſerem Nachteil in die Krieg; 
führung eingegriffen habe, fo in der Marneſchlacht, bei Apern 1914 und bei anderen Gelegen 


Streitfragen des Welttriege 425 


heiten. Man mag zu Raifer Wilhelm II. ſtehen wie man will, aber die Gerechtigkeit gebietet doch, 
feſtzuſtellen, daß auf Grund fachlicher Nachprüfung keiner der vielen Falle aufrechterhalten 
werden kann, in denen der Raifer in unzuläſſiger Veiſe in die Kriegshandlung eingegriffen haben 
ſoll. Sie fallen vielmehr allemal auf das Schuld konto der betreffenden oberſten Heeresleitung, 
und man muß billigerweiſe vielmehr anerkennen, daß der Kaiſer als oberſter Kriegsherr eine 
Zurückhaltung geübt hat, wie man fie vor dem Krieg nie von ihm erwartet hatte. Lediglich in der 
Frage des Einſatzes der Rampfflotte kann vielleicht von einer gewiſſen Einflußnahme des Kaiſers 
geſprochen werden. Zahlreiche Kritiker, beſonders aus Marinekreiſen, haben es als einen ſchweren 
Fehler bezeichnet, daß die Hochſeeflotte nicht bald nach der Kriegserklärung zur großen Seeſchlacht 
gegen England eingeſetzt wurde. Fh mochte dem General v. Zwehl (Schwarte, S. 655) beipflichten, 
daß bei der Überlegenheit Großbritanniens an Hilfsquellen und Referven auch ein allenfallfiger 
Seeſieg über die engliſche Flotte zu Kriegsbeginn die allgemeine Lage auf die Dauer wohl kaum 
entſcheidend hätte beeinfluſſen können. Die Vorwürfe Wagners find größtenteils in das Gebiet 
der Phantaſie zu verweiſen; einzelne gute Gedanken verkümmern unter dem Wuſte der Gehäſſig⸗ 
keit, und das Buch als Ganzes iſt daher abzulehnen. 

Der für dieſen Aufſatz verfügbare Raum geſtattet es leider nicht, ſämtliche militäriſchen 
Streitfragen des Weltkriegs auch nur in Kürze zu behandeln. Ich nenne hier vor allem die 
Fragen der Feldzugspläne, Weft- oder Oſtaufmarſch, Moltkes Anderungen am Schlieffenplan, 
den Marnefeldzug, den Fall Prittwitz, die Verabredungen mit Oſterreich, Conrads Offenfive 
in Galizien, die Führung der Operationen im Oſten, Saloniki, Verdun, den italieniſchen Feld 
zug 1917 und die Schlußoffenſive 1918. Hierüber wäre unendlich viel Wichtiges und Intereſſantes 
zu fagen. Ich muß mich leider darauf beſchränken, hievon nur einige beſonders wichtige Probleme 
herauszugreifen und kann auch dieſe nur kurz ſtreifen. 

Die Frage, ob zu Kriegsbeginn die Hauptkräfte gegen Often oder Weſten einzuſetzen 
waren, kann nunmehr zugunſten des Weſtaufmarſches als entſchieden gelten. Hieriiber beſteht 
unter den ſachverſtändigen militäriſchen Fachkritikern Übereinftimmung. Die hiefür ſprechenden 
Griinde werden beſonders klar und überzeugend von Kabiſch entwickelt, der auch den Nachweis 
erbringt, daß der Hauptſchlag gegen Rußland neben anderen gewichtigen Gründen, die dagegen 
ſprachen, ſchon rein techniſch wegen der Nachſchubſchwierigkeiten unmöglich geweſen wäre. 
Ebenſolche Einmütigkeit herrſcht in der geſamten Kritik darüber, daß Schlieffens Opera- 
tionsplan, deſſen grandioſe Einfachheit und Größe immer mehr in die Erſcheinung tritt, uns 
unbedingt zum Siege geführt haben wuͤrde, wenn er von Moltke befolgt worden wäre, zumal 
der franzöͤſiſche Aufmarſch und Joffres Operationsplan mit dem Gedanken eines Durchbruchs 
zwiſchen Diedenhofen und Dinant denkbar ungeſchickt und für die Deutſchen beſonders günftig 
war. Wirkſamer konnte der Feind einem deutſchen Waffenerfolg großen Stils kaum in die Hand 
arbeiten, und die franzöſiſche Kräftegruppierung bot dem Schlieffenplan die größten Ausſichten 
des Gelingens. Leider iſt dieſer Schlieffenplan von feinem unfähigen Nachfolger in der bedent- 
lichſten Weiſe verhunzt und verwäͤſſert worden, fo daß von dem großen Gedanken Schlieffens 
— alle Kräfte auf den rechten Flügel — kaum noch viel übrig blieb. Sowohl Kabiſch wie das amt- 
liche Werk des Reichs archivs führen dies in ſehr klarer und überzeugender Weiſe aus und liefern 
den Nachweis, daß Moltke ſich die Grundgedanken Schlieffens eigentlich nie fo recht innerlich zu 
eigen gemacht hat. Denn während bei Schlieffen das Kräfteverhältnis des rechten zum linken 
Flügel 7:1 iſt, wird es von Moltke auf etwa 3:1 herabgebrüdt und dem Entſcheidungsfluͤgel da- 
durch die überwältigende Stoßkraft genommen. Völlig verlaſſen wurde dann der große Gedanke 
Schlieffens von der Oberſten Heeresleitung (O. 9. L.), die höchſt unglücklich zuſammengeſetzt war, 
und in ber niemand war, der den ſchwachen Moltke ſtützen oder ergänzen konnte — auch Stein 

verſagte völlig —, am 22. Auguft 1914 nach der Schlacht in Lothringen. Bisher war man vielfach 
der Anſicht, daß die Fortſetzung der Kämpfe in Lothringen und das nutzloſe Anrennen gegen 
Nancy und Epinal auf das Schuldkonto des Armeeoberkommandos (A. O. K.) der 6. Armee, 


42 Streitfragen des Welttrieas 


Prinz Rupprecht von Bayern, zu ſetzen ſeien. Das amtliche Kriegswerk bringt hierüber vollſte 
Aarheit und reinigt das A. O. K. 6 von dieſem Verdacht. Nicht das A. O. K. 6 ift ſchuld, ſondern die 
O. H. L., die die Fortſetzung der Verfolgung nach Süden ausdrücklich befohlen hatte, während 
Prinz Rupprecht und fein ausgezeichneter Generalſtabschef, General Krafft von Oellmenſingen, 
im Schlieffenſchen Sinne die 6. Armee zu anderweitiger Verwendung auf dem rechten Flügel 
bereithalten wollten. Sie hatten richtig erkannt, daß es nach dem Sieg in Lothringen Zeit war, 
die Operation dort abzubrechen und die Haupttrdfte der 6. und 7. Armee auf den Entſcheidungs; 
flügel zu führen. Statt deſſen kam die O. H. L. zu dem ganz unverftdndliden und geradezu wahn- 
witzigen Entſchluß, die Verfolgung nach Suden fortzuſetzen und gegen die franzöfifche Befefti- 
gungslinie von Nancy —Epinal mit noch dazu ganz unzulänglichen Kräften anzurennen, ein Be- 
ginnen, vor dem Schlieffen ſtets eindringlichſt gewarnt hatte. Damit beginnt die Unglücks kette 
und das Verhängnis für die Deutſchen. Erſt auf einen ſcharfen Proteſt Kraffts hin wurde am 
26. Auguſt, nachdem Ströme von Blut nutzlos gefloſſen waren, das ganz verfehlte Unternehmen 
eingeſtellt. Nicht die Marneſchlacht, wie vielfach geglaubt wird, iſt der erſte Nagel zum Sarg, in 
dem wir unſere Siegeshoffnungen begraben durften, ſondern obengenannter Entſchluß der 
O. H. L. vom 22. Auguſt zur Fortſetzung der Kämpfe in Lothringen. Dies iſt viel zu wenig bekannt 
und ſoll hiemit nachdrücklichſt feſtgeſtellt werden. 

Aber auch am 26. Auguſt kam die O. 9. L. noch nicht zu dem einzig richtigen Entſchluß, die über- 
ſchüſſigen Kräfte der 6. und 7. Armee an den entſcheidenden rechten Flügel zu verſchieben, ob 
wohl das Eifenbahnmaterial hiefür bereitſtand, wie General Gröner in den „Preuß. Jahr 
bũchern“ (Januar 1925) berichtet, ſondern es wurden im Gegenteil durch den Abtransport 
zweier Armeekorps nach dem Oſten dem Entſcheidungsflügel auch noch Kräfte entzogen. 
Dieſe überaus unglückliche Maßnahme wurde, wie Kabiſch berichtet, vom Generalquartiermeiſter 
Stein, auf den man im Frieden, ebenſo wie auf den Generalv. Bülow (2. Armee) große Hoffnungen 
geſetzt hatte, und die dann beide leider verſagten, angeregt. Das amtliche Kriegswerk berichtet, 
daß noch vor dem endgültigen Abtransport dieſer Korps bei der O. 9. L. Bedenken auftauchten 
und die Frage brennend wurde, ob ſie nicht doch noch anzuhalten ſeien, um dem Weſtheer als 
Reſerve zu folgen. Leider konnte fi aber Moltke zu dieſem einzig richtigen Entſchluß nicht auf- 
raffen. Die Gründe find nicht recht erſichtlich geworden; Moltkes Abneigung gegen Gegenbefehle 
ſcheint hiebei den Ausſchlag gegeben zu haben. Das Studium des erſten Bandes des amtlichen 
Werks drängt uns die traurige Überzeugung auf, daß die erſte O. H. L. die Hügel dort, wo eine 
ſtraffe Zügelführung notwendig geweſen wäre, nämlich bei den Armeen des rechten Flügels, 
völlig ſchleifen ließ, und daß, wie Kabiſch richtig bemerkt, vom 27. Auguſt ab eigentlich überhaupt 
kein Operationsplan mehr beſtand. Denn das nackte Hinterherlaufen hinter dem Feinde kann 
man doch nicht ſo nennen. 

Erfreulicher find die Eindrüde, die man beim Studium des zweiten Bandes des amtlichen 
Werkes gewinnt. Ein breiter Abſchnitt iſt der Schlacht von Tannenberg gewidmet, wo ein 
ſtarker Führerwillen und überlegene Führungskunſt den Ruſſen ein „Kannä“ im Geiſte Schlief- 
fens bereiteten. Die vielfach verbreitete, irrige Meinung, daß dieſe Schlacht nach einem vorbebach- 
ten feſten Plane geſchlagen worden fei, wird allerdings berichtigt werden muͤſſen. Die achttägige 
Schlacht ſetzt ſich vielmehr aus einer Reihe räumlich und zeitlich getrennter, von den einzelnen 
Armeegruppen felbftdndig durchgeführter Einzelgefechte zuſammen, bei denen mit Front nach 
allen Himmelsrichtungen gekämpft wurde und ſich böchft wechſelvolle Zwiſchenfälle ergaben. 
Die oberſte Führung konnte hier nur von Fall zu Fall das Zweckentſprechende befehlen, um 
unter Feſthaltung eines großen Grundgedankens die Sache zum großen Enderfolg zu geſtalten 
und ausreifen zu laſſen. Die Führung iſt hiebei auf deutſcher Seite dadurch erheblich erleichtert 
worden, daß es möglich war, die ruſſiſchen Funkſprüche mitzuleſen. Die Hauptſchwierigkeit beim 
Kriegführen beſteht ja zumeiſt in der Ungewißheit darüber, was der Gegner tun wird. Auch iſt 
der jener Schlacht zugrunde gelegte große Gedanke nicht das Verdienſt eines einzigen Mannes, 


Streltfragen bes Welttriegs 427 


ſondern er reifte, wie in dem amtlichen Wert ſehr intereſſant entwickelt wird, faſt gleichzeitig bei 
den verſchiedenſten Stellen, und die hiezu erforderlichen Truppen bewegungen waren beim Ein- 
treffen Hindenburgs im Oſten bereits in die Wege geleitet worden. Man wird daher auch dem 
damaligen 1. Generalſtabsoffizier (Ja) beim A. O. K. 8, Oberſtleutnant Hoffmann, einen Anteil 
am Erfolge zuſprechen dürfen, ohne hiebei zu vergeſſen, daß die Verantwortung auf dem Ober- 
befehlshaber allein laſtet und ihm daher auch allein die Ehre des Erfolgs gebührt. So war es 
wenigſtens im deutſchen Heer bisher Sitte. Eine Ausnahme hievon wurde erſt im Auguſt 1916 
gemacht, als auch dem 1. Generalquartiermeiſter die Teilnahme an der Verantwortung für die 
Sefamtleitung neben dem Generalſtabschef des Feldheeres ausdrücklich zugeſprochen wurde. 

Gegenüber den von Conrad in ſeinem IV. Band erhobenen ungeheuerlichen Vorwürfen iſt es 
erfreulich, daß auch das amtliche Werk die Frage der mit Öfterreich getroffenen Verab- 
redung en eingehend beſpricht. Man gewinnt hiebei leider allerdings den Eindruck, daß Moltke 
Conrad reichlich viel verſprochen hat, und daß es in ſehr bedauerlicher Weiſe verfäumt worden iſt, 
in dieſer wichtigen Frage feſte und vor allem klare Abmachungen zu treffen. Ich kann mich des 
unbehaglichen Eindrucks nicht erwehren, daß man auf deutſcher Seite wie die Katze um den heißen 
Brei um dieſe heikle Frage herumgegangen iſt, ohne Conrad darüber reinen Wein einzuſchenken, 
daß, ſolange ſtarke ruſſiſche Armeen an der Oſtgrenze Oſtpreußens ſtehen, von den von ihm ge- 
wünfchten Vorſtoß über den Narew, Richtung Siedlee, niemals die Rede fein könne, und daß 
daher vorausſichtlich mindeſtens einige Monate verſtreichen dürften, bis dieſer Fall möglich fein 
würde. Bei einiger Überlegung hatte ſich dies Conrad allerdings ſelbſt fagen müffen, und man 
möchte beinahe in dieſer Hinſicht an ſeinen ſtrategiſchen Fähigkeiten zweifeln, wenn man ſich nicht 
fagen müßte, daß er im Hinblick auf die von Moltke gemachten recht unvorſichtigen Zuſagen ab- 
ſichtlich die Augen hievor verſchloſſen hat. Der grundlegende Brief Moltkes, auf den ſich Conrad 
ſtuͤtzt, iſt vom 19. März 1909 und verſpricht einen Angriff ſchwacher deutſcher Kräfte gegen die 
Narew- Linie, trotz der beſtehenden Schwierigkeiten und abweichender Grundauffaſſung Moltkes. 
Moltke fährt hiebei wörtlich fort: „Oennoch werde ich nicht zögern, den Angriff zu machen, um 
die gleichzeitige öſterreichiſche Offenſive zu unterftiigen. Eure Exzellenz können ſich auf dieſe 
Zuſage, die reiflich überlegt iſt, wohl verlaſſen.“ Es folgt dann allerdings gleich darauf 
die Einſchränkung, daß für den Fall, daß der Feind die Ausführung unmoglich machen würde, 
ſchnellſte Benachrichtigung geboten ſei. Diejer Fall war aber von Haus aus der normale und hätte 
daher zum Ausgangspunkt der Verabredungen genommen werden muͤſſen. Rein ſachlich war 
ja die deutſche O. 9. L. vollkommen im Recht; ein Vorſtoß fiber den Narew war, ſolange Rennen 
kampf in Oftpreußen nicht geſchlagen war, vollendeter Wahnſinn. Das hätte ſich Conrad eigentlich 
ſelbſt ſagen miffen. Sein Vorſchlag, 3 Divifionen gegen Rennentampf ſtehen zu laſſen und mit 
den übrigen 9 Divifionen über den Narew vorzuſtoßen, iſt durchaus abwegig und hätte zu nichts 
geführt, fondern das deutſche und öfterreichifche Oſtheer ſehr bald in die allerübelfte Lage gebracht. 
Die Oeutſchen konnten im Often nicht anders und beſſer operieren, als unter Hindenburg ge- 
ſchehen. Sie haben dadurch ſehr ſtarke, weit überlegene ruſſiſche Kräfte gebunden, ſchlleßlich ge- 
ſchlagen und dadurch ihrer Buümdnispflicht weit beſſer genügt, als wenn fie der Aufforderung 
Conrads fofort nachgekommen wären. Oer öſterreichiſche bevollmächtigte General im deutſchen 
Sroßen Hauptquartier, Graf Stiirgth, verſuchte auch Conrad klarzumachen, daß es ſich nicht 
darum handelt, daß die Deutfchen den Öfterreihern nicht helfen „wollen“, wie Conrad ſich ein- 
bildete, ſondern daß fie einfach nicht können“. Vergeblich! Er erreichte dadurch nur, daß er bei 
Conrad in Ungnade fiel und bald abgelöſt wurde. Conrad blieb unbelehrbar und ſandte im Auguſt 
1914 nicht weniger als fieben dringende Hilferufe an die deutſche O. . L., obwohl er nach dem 
beiderſeitigen Kräfteverhältnis zu Kriegsbeginn ſehr wohl die Ruſſen aus eigener Kraft hätte 
ſchlagen können, wenn ihm Potiorek und Brudermann das Konzept nicht verdorben hätten. 
Eine Tatſache, die allgemein auch viel zu wenig bekannt iſt. Erſt ſpaͤter wurde die Abermacht der 
Ruffen erdruͤckend. 


428 Streitfragen des Welttriegs 


Zum Schluß noch einige Worte über die Märzoffenſive 1918, deren Scheitern die Rriegs- 
entſcheidung ſchließlich gebracht hat. Für deren Beurteilung beſonders dienlich und wichtig, ja 
ich möchte ſagen grundlegend, iſt ein von mir ſchon früher empfohlenes Büchlein: „Die März- 
offenſive 1918“ von Major a. D. und Archivrat Otto Fehr (Koehler, Leipzig 1921, 48 S.), 
das der ſonſt fo ſehr beleſene Generalleutnant Kabiſch merfwürdigerweife gar nicht zu kennen 
ſcheint. Aus Schwarte erfahren wir, in welch umſichtiger, ſorgfältiger und peinlicher Weiſe diefer 
letzte große Schlag, der vor dem Eintreffen namhafter amerikaniſcher Kräfte den Endſieg bringen 
ſollte, erwogen und vorbereitet worden iſt. Daß der Entſchluß zur letzten großen Offenfive im 
Weiten richtig war, wird kaum noch beſtritten. Das Kräfteverhältnis ſprach auch zugunſten der 
Oeutſchen, die eine kleine Überlegenheit im Weſten hatten. Ein durchſchlagender Erfolg lag ſomit 
ſehr wohl im Bereich der Möglichkeit. Umfaffende Waffenhilfe durch die Oſterreicher wäre er- 
winfdt und moglich geweſen; fie ſcheiterte am Widerſtand Kaiſer Karls oder richtiger feiner Ge- 
mahlin. Zum mindeſten hätten die Oſterreicher gleichzeitig in Italien losſchlagen ſollen und müf- 
ſen. Statt deſſen rafften ſie ſich erſt im Zuni hiezu auf und zudem ſcheiterte ihre Offenſive infolge 
verfehlter Anlage kläglich. Für die letzte entſcheidende Offenſive 1918 kamen zuletzt zwei Angriffs- 
richtungen in engere Wahl. Die Heeresgruppe Prinz Rupprecht hatte vorgeſchlagen, den Haupt- 
angriff nördlich Arras gegen die Engländer zu führen und bei Armentieres in Richtung Bailleuf- 
Hazebrouck durchzubrechen, um fie gegen die Küſte und ins Meer zu werfen (Georg-Angriff), 
während Ludendorff über die Linie Arras — La Fere vorbrechen wollte, um an der Nahtſtelle 
der Franzoſen und Engländer bei Amiens durchzubrechen und ſodann im weiteren Verlauf 
die Engländer über St. Pol-Doullens aufzurollen (Michael- Angriff). Der Hauptſtoß ſollte ſich 
alfo gegen rechte Flanke und Rücken der Engländer richten. Beide Pläne haben ihre Vor; und 
Nachteile, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Tatſächlich kam dann der Michael 
Angriff zur Durchführung, und zwar durch die 17., 2. und 18. Armee. (Ich darf hiewegen auf 
die Skizze im Farmer 1921, S. 394, verweiſen.) Der dem Angriff zugrunde liegende Gedanke 
war im allgemeinen gut und hätte zum Erfolg führen können, wenn er nur zäh feſtgehalten wurde. 
Dagegen bietet die Ausführung, vor allem die Kräftegruppierung und Verwendung der Referven, 
Anlaß zu berechtigten Bemängelungen, die denn auch bei Kabiſch und Hoffmann folgerichtig, 
klar und überzeugend entwickelt werden. Ebenſo geben die Kommanboverhältniffe zu ſchweren 
Bedenken Anlaß und find m. E. der Urgrund, weshalb die Operation nicht in den gewollten Bah⸗ 
nen lief und nicht zum Enderfolg führte. Es war ein Fehler, die drei Angriffsarmeen nicht „einem“ 
Heeresgruppentommando einheitlich zu unterſtellen; daß auch das Heeresgruppentommando 
Kronprinz Wilhelm daran beteiligt war, ſollte ſich als verhängnisvoll erweiſen. Es wäre richtiger 
geweſen, die Führung der Offenſive dem Prinzen Rupprecht (Generalſtabschef v. Kuhl) allein 
zu übertragen, und ich habe die Überzeugung, daß in dieſem Falle der Endſieg errungen und der 
Krieg vermutlich gewonnen worden wäre. Alles kam auf den letzten großen Wurf an. Man mußte 
einen beſtimmten Plan haben und dementſprechend die Kräfte gruppieren. Da man bei Amiens 
durchbrechen wollte, mußte der linke Flügel der 2. Armee ſtark gemacht werden und mußten 
ſtarke Reſerven dahinter als Durchbruchsarmee bereitgeſtellt werden. Statt deſſen verfuhr man 
gerade umgekehrt und machte jene Armee (18.) am ſtärkſten, der die am wenigſten entſcheidende 
Rolle zufiel. Die Folgen blieben nicht aus. Die 18. Armee erzielte naturgemäß die raſcheſten Er- 
folge und nun kommt das Furchtbare, was uns den Krieg verlieren ließ: unter dem Eindruck 
dieſer Erfolge wirft die O. 9. L. ihren bisherigen guten Plan um; aus dem beabſichtigten Stoß 
nach Nordweſten wird ein Doppelſtoß nach Nordweſten und Suͤdweſten. Die Armeen gehen 
exzentriſch auseinander! Die Front bei Amiens, dem entſcheidenden Punkt, wird infolgedeſſen 
immer dünner, zumal die Reſerven hinter der ganzen Front verzettelt, auch nicht am richtigen 
Platze ſtehen. So erhielt der Angriff zwei Schwerpunkte, nördlich der Somme gegen die Eng- 
länder und üblich der Somme gegen die Franzoſen. Dazu konnten die deutſchen Kräfte aber nicht 
ausreichen. 


An Ber Stenze bes Stoffes 429 


Ole weitere Frage, ob es nicht vielleicht zweckmäßiger geweſen wäre, nach dem Mißlingen bes 
Michael-Angriffs von weiteren Angriffen an anderer Stelle abzuſehen und das Heer in die mit 
allen Kräften zu verftärtende Siegfriedftellung zurückzunehmen, um es bis zu den alsbald zu 
beginnenden Friedens verhandlungen moͤglichſt intakt zu erhalten, iſt ſchwer zu beantworten. 
Ich möchte jetzt letzteres wohl für richtiger halten. Doch dies iſt nachträgliche Stubenweisheit. 

Das Studium der Geſchichte des Weltkriegs ſchafft uns die betrübende Erkenntnis, daß nicht 
nur die politiſche Leitung, ſondern auch die oberſte militäriſche Führung unter Moltke und 
Falfenhayn völlig, unter der dritten O. H. L. im entſcheidenden Augenblick verſagt hat. Um fo 
heller erſtrahlt dafür die unvergleichliche Leiſtung der Truppe, beſonders in den erſten Kriegs- 
jahren. Sie allein gibt uns unter den troſtloſen Verhältniſſen der Gegenwart die Hoffnung auf 
einen Wiederaufſtieg unſeres Volkes. Denn ein Volk, das ſolche Leiſtungen aufzuweiſen hat, 
kann nicht zum Untergang beſtimmt ſein. Franz Freiherr von Berchem 


An der Grenze des Stoffes 


er „Türmer“ brachte im November 1924 und Februar 1925 eine bemerkenswerte Zwie- 

ſprache über das Thema, Atomtheorie und Materialismus“ zwiſchen den Herren Dr. See 
liger und Dr. Metz. Jener hatte behauptet, daß die heutige Atomtheorie den Materialismus 
endgültig erledige, weil mit ihr das Atom materielle Beſchaffenheit verlöre. Demgegenüber ſtellt 
Dr. M. wohl mit Recht feſt, daß letzteres nicht zutrifft: auch mit den Elektronen uſw. bleiben wir 
noch auf dem Boden der Materie, da wir fie als materielle Teilchen aufzufaſſen haben. Anderer 
ſeits aber muß man doch wohl Dr. S. recht geben, inſofern wir mit der neuen Atomtheorie auf 
dem Wege der „Entmaterialiſierung“ der Materie find, und dies ſcheint mir auch der tiefere 
Sinn feines Gedankens zu fein. Hinwiederum iſt es eine durchaus berechtigte Forderung, wenn 
Dr. M. auf ſcharfe Scheidung zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung und daher auch 
zwiſchen Atomtheorie und Materialismus drängt. Das iſt es auch geweſen, was mich zu der 
Begriffsſcheidung „Welt bild“ und Welt anſchauung“ und zur Gründung des darauf fußenden 
Keplerbundes (1907) führte. Ebenſo richtig iſt die Feſtſtellung, daß die nee das 
Gebiet der Materie betrifft. 

Trotz alledem aber bleibt es doch noch zweifelhaft, ob nicht Dr. Seeliger Recht behalt oder 
richtiger gefagt: Recht bekommen wird. Es fragt ſich nämlich, ob die Naturwiſſenſchaft nicht 
einen metaphyſiſchen Hintergrund hat, und zwar deshalb, weil bie Materie ſelbſt letzten Grundes 
„ metaphyſiſch“ oder beſſer geſagt dynamiſch begründet ift, wohlverftanden „dynamiſch“ und nicht 
etwa, energetiſch“; denn die Energie liegt ja immer noch im Bereich der Materie, das Oynamiſche 
aber, die Kraft, geht darüber hinaus, darf alſo wohl als „metaphyſiſch“ bezeichnet werden. Es 
will mir nun aber ſcheinen — und damit hat denn Dr. S. recht —, als ob wir mit der neueſten 
Atomtheorie doch ſchon auf dem Wege zur dynamiſchen Auffaſſung der Materie ſind, auch dann, 
wenn wir die Elektronen noch als „materiell“ anfeben, fie ſtehen doch als elektriſche „Teilchen“ 
gewiſſermaßen auf der Grenze des Materiellen, und es fragt fh nur, ob nicht die weitere Ent- 
wicklung der Wiſſenſchaft noch mehr in das Oynamiſche hineinführen wird. 

Dies ſcheint in der Tat der Fall zu fein. Ich mochte im Folgenden von einer Unterſuchung 
berichten, welche, wenn fie noch weiter beftätigt werden follte, was zu bezweifeln ich kaum 
Anlaß habe, zu recht ſchwerwiegenden Folgerungen führen könnte, wie ich am Schluß noch 
darlegen werde. 

Wir gehen von der Frage aus: In welchem Grade der Verdünnung wirken kleinſte Stoff- 
mengen noch? Man wird dabei fofort an die Homdopathie denken, die ja bekanntlich mit außer 
ordentlich verdünnten Arzneien arbeitet. Sie wird daher oft verlacht. Iſt dies berechtigt? Eine 


430 An der Grenze bes Stoffes 


ſachliche, naturwiſſenſchaftliche Antwort wird vielen wertvoll fein; aber die Frage des erften 
Satzes hat auch ſonſt ein allgemeines großes Intereſſe. Durch gewiſſe Unterſuchungen der 
neueſten Zeit ſind wir beſſer als früher imſtande, fie zu beantworten. 

Zunächſt ein Wort über die Verdünnung des Stoffes im allgemeinen. Man denkt dabei 
vor allem an Löſungen, bei denen ja eine Verdünnung auf einfachſte Art vorzunehmen ift; aber 
es gibt auch eine Methode der Verdünnung feſter Stoffe, die in der Homöopathie angewandt 
wird, die fog. Derreibung. Es wird dabei eine kleine Menge eines feſten Körpers in Pulverform 
mit einem anderen indifferenten Stoff (3. B. Milchzucker) längere Zeit maſchinell verrieben. 
Indem man von dem entſtehenden Pulver wieder einen Teil mit dem betreffenden Stoff ver- 
reibt, erhält man eine höhere Verdünnung uſw. Hier follen uns aber nur die verdünnten Lö- 
jungen beſchäftigen und für ihre Benennung wählen wir die der Homöopathen, welche bei ihnen 
folgendes Verfahren einſchlagen. 

Wenn man l Gramm des betreffenden Stoffes, ſagen wir z. B. Kochſalz, in 9 Gramm Waſſer 
auflöſt, fo erhalten wir die fog. 1. Potenz, die alſo auf 10 Gramm 1 Gramm Kochſalz enthält. 


Wenn man von dieſer Löſung einen Raumteil mit 9 Raumteilen Waſſer ſchuͤttelt, enthält die 


neue Löſung in 100 Teilen 1 Teil Kochſalz, es iſt die 2. Potenz. Verfährt man mit ihr wieder 
ebenſo, ſchüttelt alfo einen Raumteil mit 9 Raumteilen Waſſer, fo enthält die entſtehende 3. Po- 
tenz in 1000 Raumteilen 1 Teil Kochſalz, und fo geht es weiter, alſo: 

die 1. Potenz iſt das Verdünnungeverhältnis 1:10, 

die 2. „ „ „ = 1: 100, 

die 35. „ „ „ 5 1: 1000. 
Man ſieht, die Potenzen richten ſich nach der gaht der Nullen; fo iſt z. B. die 6. Potenz 1: 1000000, 
d. h. eins zu einer Million, ebenſo die 9. Potenz eins zu einer Milliarde, die 12. Potenz eins 
zu einer Billion. Es ift dies eine ſehr bequeme und klare Bezeichnung, weshalb wir fie für unſern 
Zweck von den Homöopathen übernehmen. 

Da der Laie mit ſolchen Zahlen gemeinhin nicht viel anfangen kann, fo iſt es gut, ſich dies ein; 

mal räumlich zu veranſchaulichen: 

die 3. Potenz enthält auf 1 Liter (1000 Gramm) = 1 Gramm Kochſalz, 

die 6. Potenz „ „ 1000 Liter = 1 Gramm „ 

die 9. Potenz „ „ 1 Million Liter EAI l Gramm „ 

die 15. Potenz „ „ 1 Billion Liter = 1 Gramm „ 
1000 Liter find ein Kubikmeter. Denkt man ſich alfo einen Würfel von einem Meter Ranten- 
länge, mit der 6. Potenz gefüllt, fo enthält dieſer nur 1 Gramm Kochſalz. Ein Würfel, der bei 
der 9. Potenz 1 Gramm Kochſalz enthielte, müßte dagegen eine Kantenlänge von 10 Metern 
haben. Ein Würfel endlich, der mit der 15. Potenz gefüllt ijt, muß, wenn er 1 Gramm Kochſalz 
enthalten ſoll, eine Kantenlänge von einem Kilometer haben, d. h. er wäre etwa jo hoch wie der 
Brocken. 

Man kann es nun wohl keinem Laien verdenken, wenn er bei ſolchen Verdünnungen an keine 
Wirkung mehr glaubt, welcher Art fie auch immer fein mag. Wenn aber auch naturwiſſenſchaft- 
lich gebildete Männer die Möglichkeit einer Wirkung leugnen, fo muß man ſich wundern. Es 
iſt doch nun einmal eine Tatſache, daß in dieſen Rieſenwürfeln noch Kochſalz vorhanden iſt, 
wenn wir auch nicht wiſſen, in welcher Form. Weshalb ſollte denn da nicht doch noch irgend- 
eine Wirkung möglich fein? 

Oie Wirkungen, auf die es dabei ankommen kann, ſind vor allem chemiſche und phyſiologiſche, 
jowie auch phyſikaliſche. Die chemiſchen „Reaktionen“, wie man fie nennt, laſſen ſich auch duger- 
lich erkennen, vor allem an Niederſchlägen und Farbenänderungen, und dieſe dienen in der 
chemiſchen Analyſe zur Erkennung und Auffindung der verſchiedenen Stoffe, da dieſe gemeinhin 
verſchledene Reaktionen ergeben. Und da iſt nun eine intereſſante Frage, bis zu welchem Grab 
der Verdünnung man noch Stoffe chemiſch nachweiſen kann. Das iſt naturlich für verſchledene 


An der Grenze des Stoffes 431. 


Stoffe ganz verſchieden; denn manche Reaktionen find empfindlicher als andere. Verfuche haben 
nun ergeben, daß die chemiſche Reaktionsgrenze etwa bei der 10. Potenz liegt, d. h. es gibt 
Stoffe, die man noch nachweiſen kann bei einer Verdünnung von 1:10 Milliarden, alſo wenn 
in einem Würfel von mehr als 10 Meter Kantenlänge 1 Gramm der Subſtanz vorhanden iſt. 

Eine phyſikaliſche Wirkung ijt hier aber noch feiner, nämlich bie fog. Spektralanalyſe, durch 
ſie hat man noch Stoffe bei einer Verdünnung bis zur 15. Potenz nachgewieſen, alſo wie oben 
dargelegt 1:1 Billion Liter oder bei einem Gehalt von 1 Gramm in einem Kubikkilometer. — 
Wer ſich dies einmal klar gemacht hat, der wird dann doch wohl über die Wirkung kleinſter Stoff- 
mengen nicht mehr ungläubig die Achſeln zucken. 

Man kann ſich dies aber noch von einer andren Seite her klarmachen. Bekanntlich denkt man 
ſich heute den Stoff aus Heinſten, mechaniſch nicht weiter teilbaren Teilchen, den Molekülen auf- 
gebaut, die dann aber noch chemiſch aus Atomen beſtehen. Oieſe kleinſten Teile find auch für das 
ſtaͤrkſte Miſkroſkop noch viel zu klein, und es erſcheint ſehr zweifelhaft, ob der Menſch fie je wird 
direkt ſehen können; aber durch geniale Methoden iſt man inſtandgeſetzt, die Moleküle zu 
zählen, und da hat man denn auf verſchiedenem Wege rechneriſch die Zahl der Moleküle im 
Kubikzentimeter eines Gaſes feſtgeſtellt. Man fand die Zahl 27½ Trillionen (18 Nullen). Bei 
einer Fluͤſſigkeit oder gar einem feſten Korper ijt die Zahl natürlich noch weit größer. Wir 
wollen aber, um uns keine Übertreibung zuſchulden kommen zu laſſen, einmal dieſe Zahl, die 
man nach ihrem erſten Berechner die Loſchmidtſche nennt, auch für ſolche Stoffe gelten laſſen. 
Nit ihr können wir nun auch berechnen, wieviel Moleküle der betreffenden Subſtanz die einzelnen 
Potenzen enthalten. Wenn bei der 6. Potenz 1000 Liter (oder 1 Million Kubikzentimeter) 
1 Gramm Kochſalz enthalten, jo find dies alſo mindeſtens 27 Trillionen Molekule Kochſalz. Ein 
einzelner Kubitzentimeter dieſer 6. Potenz enthält alfo V TT TMEM b. h. 27 Billionen Mole- 
tile. Da ein Kubikzentimeter etwa aus 20 Tropfen beſteht, fo enthält ein Tropfen der 6. Potenz 
noch weit über 1 Billion Moleküle. — Ebenſo erhält man für die 10. Potenz in einem Kubik⸗ 
zentimeter noch 2,7 Milliarden und in einem Tropfen 135 Millionen Moleküle. Da es auch für 
die Grenze der ſpektralanalytiſchen Wirkung von Intereffe ift, jo fei dies auch für fie (die 15. Po- 
tenz) berechnet. Ein Kubikzentimeter der 15. Potenz enthält noch 27000 Moleküle, ein Tropfen 
noch 1350, 

Kann man ſich da noch über Wirkungen kleinſter Stoffteile wundern, bzw. fie gar in Zweifel 
ziehen? 

Die Chemie hat nun auch die Frage beantwortet, in welcher Weiſe der Stoff in den Löfungen 
enthalten iſt. Während man früher glaubte, der gelöfte Stoff ſei dem feſten ganz gleich, hat ſich 
darin die Anſchauung ganz gewandelt. Heute glaubt man, daß bei der Löjung der Verband der 
Atome im Molekül gelöft wird, fo daß ſich in der Löſung freie Atome, und zwar mit elektriſcher 
Ladung befinden, ſolche Atome nennt man dann „Zonen“ und man ſagt, der Stoff iſt in der 
Löſung „joniſiert“; Es hat ſich herausgeſtellt, daß die Joniſierung um fo ſtärker iſt, je verdünnter 
die Löſung ift. Man kann alfo annehmen, daß ſich in den höheren Potenzen nur noch Atome 
mit elektriſcher Ladung befinden. Um bei unferem obigen Beiſpiel zu bleiben: das Molekul 
Kochſalz beſteht aus einem Atom Chlor und einem Atom Natrium (ein Metall). Es enthält dem- 
nach ein Tropfen der 15. Potenz vom Kochſalz noch immer 2700 Atome, nämlich 1350 Chlor- 
jonen und 1350 Natriumjonen, und zwar find jene negativ elektriſch und dieſe pofitiv elettrifd. 
Die Möglichkeit einer beſondren Wirkung iſt damit alſo unbedingt gegeben. (Pie Jonentheorie 
wurde neuerdings bezweifelt, doch iſt bisher wohl kaum Beſſeres an ihre Stelle geſetzt worden.) 

Dies find ja nur theoretijche Erwägungen, die eben nur die Möglichkeit einer Wirkung kleinſter 
Stoffmengen bartun, ihre Tatſächlichkeit muß das Experiment erweiſen. Bezüglich der chemiſchen 
und phyfikaliſchen Wirkung hat, wie ſchon gejagt, die chemiſche und Spektralanalyſe den Beweis 
bis zur 10. bzw. 15. Potenz erwieſen. Es ift natürlich nicht ausgefchloffen, daß einmal noch feinere 


42 | ein det Grenze bes Etofks 


Methoden gefunden werden, welche chemiſch- phyſikaliſche Wirkungen bis zur 20. Potenz Har 
legen. Aber dann? | 

Es gibt nun ja aber noch eine andere Wirkungsart, namlich die phyſiologiſche, d. h. auf den 
menſchlichen Körper, bzw. allgemeiner auf Lebeweſen. Das iſt ja eben die von den homz opa 
thiſchen Ärzten behauptete Heilwirkung ihrer potenzierten Arzneimittel. Theoretiſch wird man alſo 
nach Obigem die mogliche Wirkung der Mittel wenigſtens bis zur 15. Potenz zugeben müffen. 
Nun behaupten manche Arzte aber auch noch Wirkungen darüber hinaus, ſogar bis zur 100. und 
200. Potenz. Da ift dann alſo ein ungläubiges Kopfſchuͤtteln doch wohl am Platze. Der Tat 
fachen- und Erfahrungsbeweis der Homdopathen liegt darin, daß fie mit ſolchen Hochpotenzen 
ihre Patienten geheilt zu haben glauben. Allein ein wirklicher, experimenteller Beweis iſt dies 
doch nicht. Man wird dagegen immer wieder einwenden können, bie betreffenden Kranken 
wären auch ohnedies geſund geworden, oder es fei eine Suggeſtipwirkung durch den Glauben 
an die Heilwirkung uſw. Oer eigentliche experimentelle Nachweis der phyſiologiſchen Wirkung 
kleinſter Stoffmengen ſtand bisher alſo noch aus. Kürzlich iſt nun aber eine Arbeit erſchienen, 
welche denſelben in der Tat liefert, und zwar, wie es ſcheint, in kaum zu bezweifelnder Be 
ſtimmtheit. Daß dieſe Arbeit von anthropoſophiſcher Seite und von Gedankengängen Stein ers 
ausgeht, darf uns nicht abhalten, dies anzuerkennen. Wir wollen das Gute nehmen, woher es 
auch kommt. 

Weiter fortgeſetzte Berechnungen mit Hilfe der Loſchmidtſchen Zahl ergaben, daß theoretiſch 
wenigſtens die Molekular- bzw. Atomwirkung etwa bei der 20. Potenz aufhören muß, weil dann 
die Zahl der Atome fo gering wird, daß jene nicht mehr denkbar erſcheint. 

Die Steinerſche Richtung hat in Stuttgart allerhand Inſtitute mit dem Gefamtnamen „Der 
Kommende Tag“ gegründet, dabei auch neben einem Sanatorium auf mehr oder weniger 
domdopathiſcher Grundlage ein biologiſches Laboratorium, und in dieſem hat Frau L. Kolis ko 
ſeit Jahren ſehr mühfame Unterſuchungen zu unferer Frage angeſtellt. Über deren bisherige 
Ergebniſſe berichtet fie nun in einer Arbeit „Phyſiologiſcher und phyfikaliſcher Nachweis der 
Wirkſamkeit kleinſter Entitäten“. (Der Kommende Tag A.-G. Verlag, Stuttgart, 1923. 50 S. 
3 Tafeln und 11 Abb.) Dieſe Unterſuchungen machen den Eindruck ernfter Wiſſenſchaft, und 
ihr Ergebnis ijt in mehr als einer Richtung höchft beachtenswert, weshalb wir die kleine Schrift 
allen, die ſich nach dem folgenden Bericht dafür intereffieren, zum eingehenden Studium feb- 
haft empfehlen. 

L. Kolisko hat Pflanzen unter fonft gleichen Umftänden gezogen und mit Salgldfungen 
verſchiedener Potenz (von der 1. bis zur 30.) behandelt. Die Verſuche machten gunddft einige 
Schwierigkeiten, einmal hinſichtlich der Auswahl des Saatguts, weil es natürlich darauf ankam, 
Samenkörner mit gleicher Keimkraft und Wachstumsenergie auszuwählen. Daß dies abſolut 
nicht möglich war, ift felbftverftändlih. In dieſem Punkt fei auf die Arbeit verwieſen. Des wei- 
teren ſtellte ſich heraus — und dies iſt auch in theoretiſcher Hinſicht nicht ohne Intereſſe —, daß 
die Potenzierung der benutzten Verdünnungen ſehr forgfältig vorgenommen werden mußte, 
um gleichmäßige und gute Ergebniſſe zu erhalten. Es ergibt ſich daraus, daß der Vorgang des 
Potenzierens keineswegs ein ſo einfacher iſt, wie man von vornherein anzunehmen geneigt 
fein mochte, alſo nicht etwa lediglich ein Verduͤnnen, ſondern vielleicht ein noch Aber die Joni⸗ 
ſierung hinausgehender analytiſcher Vorgang, was für unſere theoretiſche Anſchauung vom Stoff 
von hohem Zntereſſe fein oder werden könnte. 

Als Verſuchspflanze wurde Weizen gewählt, es wurden je 30 forgfältig ausgeſuchte Weizen 
körner in einen Blumentopf geſetzt und jeden zweiten Tag mit den potengierten Löſungen 
begoſſen. Nach vierzehn Tagen wurden die Blätter und Wurzeln der Pflänzchen gemeſſen und 
in einigen Verſuchen auch getrocknet und gewogen. Indem dann die Werte jeder der je dreißig 
Pflanzen als Ordinaten auf Millimeterpapier eingetragen wurden, erhielt K. Kurven für jede 
Potenz, die ſich dann miteinander vergleichen ließen und Schläffe auf die verſchiedene Wirkung 


An der Grenze des Stoffes 435 


der Potenzen erlaubten. Verwendet wurden von Salzen für bie Verſuche: Kupferdoppelſalz 
(Kupferſulfat und Ammoniumnitrat), Eiſenvitriol (Eiſenſulfat) und Antimontrioxpd. Zur 
Kontrolle wurden auch Verſuche mit reinem, deſtilliertem Waſſer gemacht. 

Die Ergebniſſe waren auffallend übereinſtimmend wie auch auffallend in ihrer Art. Die mit 
den potenzierten Löſungen behandelten Pflanzen zeigten durchweg ein ſtärkeres 
Wache tum als die mit reinem Waſſer begoſſenen; und zwar ſtieg dies bis zu einer 
gewiſſen Potenz, fiel dann bei der 15. oder 16. Potenz wieder ſehr ab, meift fogar 
unter das Wachstum der Waſſerkontrolle, um dann aber wieber zu ſteigen und 
vor der 30. Potenz zum zweitenmal zu fallen. Kolisko hat dies durch Kurven für jede 
Potenz dargeſtellt, fo daß ſich eine aus dieſen Einzelkurven zuſammenſetzende Geſamtkurve 
ergibt. Die Einzelkurven ſtellen alſo jedesmal die 30 Werte der 30 Pflanzen der Kultur einer 
Potenz dar, daß dieſe unter ſich verſchieden find, beruht auf der fog. fluktulerenden Variation 
der Individuen, worauf die Verfaſſerin nicht eingeht. Sie hätte daher auch auf dieſe nicht 
einzugehen, ſondern nur die Durchſchnitte zu nehmen brauchen, wie fie denn auch aus folchen 
eine Kurve („Ourchſchnittskurve“) bildet. Tatſächlich kann nur dieſe für die Beurteilung maß 
gebend ſein. 

Die Kurven find für die verſchiedenen Salze verſchieden; aber auch für dasſelbe Salz bei 
Wiederholung nicht ganz gleich. Dies kann aber wiederum auf Koſten der fluktuierenden Varia- 
tion ſo ſein. Dagegen iſt in allen Fällen auffallend gleichmäßig die Stellung des Minimums 
bei ber 15. bzw. 16. Potenz. Übrigens liegt auch das Maximum bezüglich Länge des erſten und 
zweiten Blattes und Wurzellänge nicht immer bei derſelben Potenz. Folgendes Beiſpiel mag 
das Geſagte erläutern. Bei einem Verſuch mit Eiſenvitriol ergab ſich das Minimum bei der 
16. Potenz, nämlich: eine Länge des erſten Blattes von 11,6 om, des zweiten Blattes von 
7, 8 om und der Wurzel von 13,1 om, während der Ourchſchnitt der Waſſerkontrolle bzw. 13,9 om, 
9,7 om und 14,1 cm ergab. Jene Minimumwerte liegen alſo beträchtlich unter den Werten der 
Waſſerkontrolle. — Demgegenüber wurden Maxima bei der 5., 8. und 14. Potenz und dann 
wieder bei der 21. und 28. beobachtet, und zwar mit Zahlen, die ſich aus der nachfolgenden Ta- 
belle ergeben (auch mit dem Gewicht): 


Rultur in 1. Blatt 2. Blatt Wurzel l 5 ei N 
cm cm cm mg ; mg 
Waffer ........... 13,9 9,7 14,1 388 — 
5. Potenn 15,5 13,2 16,2 510 189 
8. Potenz 15,7 12,3 17,7 483 221 
14. Potenz 15,7 11,3 17,3 462 204 
16. Poten 11,6 78 13,1 388 152 
21. Poten 15,4 11,8 16,6 496 200 
28. Potenz 15,2 13,1 15,5 492 | 208 


Zwiſchen den hier mitgeteilten Potenzen ſchwanken die Werte hin und her, ohne aber in der 
erſten Hälfte auf die Durchſchnittswerte der Waſſerkontrolle herabzuſinken. Dies geſchieht erſt 
bei der 15. Potenz. In der zweiten Hälfte dagegen werden jene Ourchſchnittswerte mehrfach 
erreicht, auch halten ſich hier die Maximalwerte unter denen der erſten Hälfte. Die höchſten 
Maxima liegen hier für das erſte Blatt bei der 4. Potenz, für das zweite Blatt bei der 5. Po- 
tenz und für die Wurzel bei der 8. Potenz. In anderen (den meiſten) Fällen hingegen liegen 
alle höchſten Maxima in der zweiten Hälfte, alſo bei den höchſten Potenzen (ſtärkſten Ger- 
dünnungen). Kolisko macht auf dieſe Verſchiedenheit nicht aufmerkſam, ſie iſt aber doch ſehr 
auffallend und bedarf der Klärung, wie überhaupt die Schwankungen der Maxima. Auf Rech 
nung der Verſchiedenheit des Gaatgutes und etwa auch der fluttuierenden Variation möchte 
der Cirmer XXVIII, 5 29 


434 An der Grenze des Stoffes 


es ſich allein wohl nicht ſetzen laſſen. Hier müßten weitere Unterſuchungen Klarheit zu verſchaffen 
ſuchen. 

Da es mir wünſchenswert erſchien, auch die Kurven der Maxima des Wachstums, die ja doch 
auch zugleich die Optima, d. h. beſten Wirkungen der Potenzen darftellen werden, feſtzuſtellen 
und mit denen der Durchſchnittswerte zu vergleichen, habe ich dies verſucht, ſoweit es nach den 
Angaben Koliskos möglich war. Es ergibt ſich dabei ein verſchiedenes Verhalten bei den ver- 
ſchiedenen Salzen. Bei dem Kupferſalz zeigt ſich ſowohl hinſichtlich der Längen des erſten Blattes 
wie auch der Wurzeln eine dem Durchſchnitt ſehr ähnliche Kurve. Vor allem liegt auch hier das 
Minimum bei ber 15. Potenz, und zwar tief unter dem Maximum der Waſſerkontrolle. Ferner 
liegen bei beiden Organen, geradeſo wie der Durchſchnitt, die Kurven faſt ganz über dem 
Maximum der Waſſerkontrolle. Die Kurven zeigen mehrere Maxima, das höͤchſte liegt in beiden 
Fällen auf Seiten der Hochpotenzen jenfeits der 15. Potenz, und zwar beim Blatt ſowohl für 
die Maximum wie für die Durchſchnittskurve bei der 17. Potenz, und für die Wurzel bei der 
23. Potenz. — Anders bei den Verſuchen mit Eiſenvitriol. Hier hält ſich für das erſte Blatt 
die Maximakurve faſt ganz unter dem Maximum der Waſſerkontrolle, nur die hoͤchſten Maxima 
ragen über dieſes hinaus: bei der 7. und 11. Potenz, ſowie bei der 23. und 29., letztere liefert 
das höchſte Maximum. Fir die Wurzel ift es ähnlich, doch erhebt ſich die Kurve etwas mehr 
über das Maximum der Waſſerkontrolle. Die Durchſchnittskurven der Wurzel halten ſich mehr 
über den Durchſchnitt der Waſſerkontrolle. Auffallend iſt, daz in beiden Fällen die Minima 
ziemlich zujammenfallen: für das Blatt genau bei der 16. Potenz, bei der Wurzel für die Maxima 
kurve bei der 16., für die Durchſchnittskurve bei der 18. Potenz. Davon abgeſehen ſind die Ab- 
weichungen aber doch fo auffallend, daß fie eine Erklärung fordern, die nur neue Unterſuchungen 
geben können. 

Auf jeden Fall bleibt aber das von Kolis ko hervorgehobene Ergebnis beſtehen: „Das Wachs- 
tum von Weizenkörnern wird beiden nlederen Stufen der Potenzierung gefördert, 
bei fortgeſetzter Steigerung der Potenzierung allmählich gehemmt. Nach dieſem 
Minimum kann bei noch weiterer Steigerung der Potenzierung das Wachstum 
bis zu einem Maximum auffteigen.“ 

Erwähnt ſei noch, daß für die Kulturen mit Antimontrioxyd zwei ungefähr gleiche Minima 
bei ber 19. und 21. Potenz liegen, Maxima des Blattes weiſen die 25. und 27. Potenz auf, das 
Maximum der Wurzel hat die 17. Potenz. Man ſieht daraus ſchon, daß die Kurven bei ver- 
ſchiedenen Stoffen ſehr verschieden find. Die Tatſache eines Minimums iſt aber ſtets zu beobad- 
ten. — Dieſer letztgenannte Verſuch ift nun dadurch von beſonderem Intereſſe, weil Kolis ko 
mit einem Antimonſalz auch einen phyſikaliſchen Verſuch machte, der annähernd ein ähnliches 
Ergebnis hatte. 

Als eine brauchbare Methode zum phyſikaliſchen Nachweis der Wirkſamkeit kleiner Mengen 
erwies ſich nämlich die Kapillaranalyſe, die darauf beruht, daß verſchiedene Flüͤſſigkeiten in 
Kapillarröhren verſchieden hochſteigen. Wenn man Fließpapierftreifen, die ja Kapillarſpſteme 
darſtellen, in eine Fluͤſſigkeit taucht, fo ſteigt dieſe in ihnen empor, und nach dem Trocknen erhält 
man dann für jede Subſtanz ein kennzeichnendes Kapillarbild. Praktiſch verwendbar iſt dies 
z. B. bei der Feſtſtellung von Drogenfälſchungen. Kolisko fand nun auch bei ben verſchiedenen 
Potenzen eine verſchiedene Steighdhe. Sie verfuhr dabei fo, daß fie mit den Potenzen getränkte 
Fließpapierſtreifen in eine neutrale Farbſtofflöſung eintauchte und die Steighöhe der letzteren 
beobachtete. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, fei nur betont, daß das Minimum auch hier dei 
der 21. Potenz liegt und daß auch hier bie 25. und 27. Potenz Maxima zeigen. Das höchſte 
Maximum liegt allerdings bei der 17. und 18. Potenz; aber dasjenige für die Gejamtlänge des 
Pflänzchens befindet ſich ebenfalls bei der 17. Potenz. Das iſt jedenfalls ein recht bemerkens 
wertes Ergebnis. 

Wir wollen uns nicht verhehlen, daß es uns wünſchenswert erſcheint, daß dieſe bedeutſamen 


An der Geenge des Stoffes 435 


Verſuche fortgeſetzt und auch auf andere Stoffe und Pflanzen erweitert werden ſollten, um das 
Ergebnis auf eine breitere Baſis zu ſetzen und einige Unſtimmigkeiten aufzuklären. Übrigens 
wäre es auch ſehr wünfchenswert geweſen, wenn ftatt der Erdkulturen Waſſerkulturen gemacht 
worden wären, die von vornherein viel einwandfreier find. Immerhin, es ſcheint doch fo, als ob 
ſich ſchon jetzt bedeutſame Schlüſſe aus den Verſuchen ziehen laſſen. Und dies um fo mehr, als 
unabhängig von Kolis ko ein ruſſiſcher Forſcher Rradow mit Tierexperimenten zu einem ähn- 
lichen Ergebnis kam. Er unterſuchte den Einfluß von Giften bei ſteigender Potenzierung (bis 
zur 32. Potenz) auf Tiere. Die Wirkung erreichte zunächſt einen Nullpunkt, dann aber beginnt 
ſie von neuem und erreicht häufig bei zunehmender Verdünnung eine auffallende Zunahme. 
Auch hier könnte eine ſyſtematiſche Fortführung der Verſuche zu uͤberraſchenden Ergebniſſen 
führen. 

Wie follen wir uns nun dieſe auffallenden Wirkungen Heinfter Stoffmengen vorſtellen? Die 
berichteten Unterſuchungen fordern doch geradezu eine theoretiſche Erklärung heraus. Zunächſt 
wäre es möglich, daß etwa bei der Verdünnung der 16. Potenz die Atome bzw. Elektronen frei 
werden und nun eine neue Wirkſamkeit entfalten. Iſt es ſo, dann werden ſchon noch einmal 
phyſikaliſche Methoden zum Nachweis gefunden werden. 

Oer Umſtand aber, daß jenſeits der 16. Potenz wieder eine erhöhte Wirkung eintritt, iſt nun 
beſonders bemerkenswert; denn er läßt kaum noch eine ftofflich-energetifche Deutung zu. Es liegt 
der Gedanke nahe, daß hier eine dynamiſche, d. h. reine Kraftwirkung ſtattfindet, die man 
nicht mehr wie die energetiſche irgendwie meſſen, ſondern nur noch an der Reaktion auf das 
lebende Protoplasma erkennen kann, wie ſich eine ſolche in jenen Wachstumserſcheinungen bei 
den Koliskoſchen Verſuchen oder an etwaigen Heilwirkungen der hochpotenzierten Arzneimittel 
offenbart. Dann wird man freilich auch weitere Aufklärung nicht von chemiſch-phypſikaliſchen, 
ſondern von phyfiologijden Methoden zu erwarten haben. 

Es iſt dies letztere natürlich nur eine etwa mögliche Hppotheſe, die weiter zu prüfen wäre, 
Jedenfalls läßt ſie Ausblicke in die Welt des Allerkleinſten und in den Bau des Stoffes zu, die 
von höoͤchſter Bedeutung werden könnten. Dies bezieht ſich vor allem darauf, daß bei dieſer An- 
ſchauung die Materie nicht nur in Energie, ſondern ſogar in Kraft aufgelöft wird. Man überlege 
einmal, was dies bedeutet. Man hat in der Phyſik während der letzten Jahrzehnte den Begriff 
der „Kraft“ fallen laſſen und ſtatt ſeiner den Begriff „Energie“ gewählt, d. h. der Arbeitsleiſtung. 
Das war ein großer Fortſchritt; denn dieſe, alſo Energie, läßt ſich unmittelbar meſſen, „Kraft“ 
nicht. Dies iſt aber auf dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften, alſo des Stoffes, unbedingt nötig. 
Der Begriff der „Kraft“ iſt nun frei geworden für ein jenſeits des Stofflichen liegendes Gebiet, 
d. h. er iſt ein rein metaphyſiſcher Begriff geworden, und auch dies iſt ein Gewinn. Vom Stand- 
punkt der Naturwiſſenſchaft aus muß man ihn ablehnen, vom Standpunkte der Weltanſchauung 
aus darf man ihn annehmen, und hier wird er ſich als ſehr fruchtbar erweiſen. 

Durch die hier beſprochenen Verſuche aber ließe ſich der Zuſammenhang zwiſchen „Kraft“ 
und „Stoff“ finden, und ihre weitere Verfolgung könnte in dieſer Richtung noch ſehr Wert- 
volles zutage fördern, Jener Zuſammenhang würde, wie ſchon gejagt, eine Auflöſung des ſinn- 
lichen Stoffes in überſinnliche Kraft bedeuten. Dies läge dann zwar außerhalb der reinen 
Naturwiſſenſchaft, würde aber dafür auch Ausſicht auf eine moniſtiſche Löſung des Rätſels des 
Stoffes bieten, freilich nicht im materialiſtiſchen, ſondern idealiſtiſchen Sinne. Und dafür haben 
ja gewiſſe Leute kein Intereſſe. 

Goethe dachte anders als dieſe kleinen Geiſter, das möge zum Schluß noch ein kennzeichnen 
des Wort von ihm beweiſen. Er ſagt in den Tagebüchern (1812, 22, April): „Es wird fo weit 
kommen, daß die mechaniſche und atomiſtiſche Vorſtellungsart in guten Köpfen ganz verdrängt 
und alle Phänomene als dynamiſch und chemiſch erſcheinen und fo das göttliche Leben der 
Natur immer mehr betätigen werden.“ Prof. Dr. D. Dennert 


Literatur, 
Denen 


Emil Hadina als Lyriker 


ls ich daran ging, dieſen Aufſatz zu entwerfen, der ja keineswegs von Emil Hadina ein 

erſchöpfendes Bild feines bisherigen Lebenswerkes und im beſonderen des Iyrifchen geben 
kann, da geſellte ſich meiner Forſchung und Wertung ein Begleiter zu, der mit einer mel 
würdigen Beharrlichkeit mir Schritt für Schritt vorauszueilen ſchien und der meiner Arbeit 
immer mehr zum Geleiter wurde: „Religion und Leben“, ein Beitrag zum freien Gottiuden 
unferer Tage (1912 bei 3. ©. Findel in Leipzig erſchienen). Es war Hadinas erſtes und iſt gewiß 
ſein am wenigſten bekanntes Buch geblieben, dieſes ſchmale ſchlichte Bändchen, das heute den 
Gejamtbeurteiler wie eine dichteriſche und mehr noch menſchliche Programmſchrift anmutet. 
Und es erfreut: erfreut deswegen, weil es einen lebendigen Beweis dafür darſtellt, daß ein 
Menſch und Dichter in den langen wirren Jahren, in die ſein Werden fiel, ſich und ſeinem Weſen 
eine ſeltene pflihtmäßige Treue bewahrt hat. Die ganze feſtgefügte Perſönlichkeit Emil Hadinas, 
wie wir fie heute kennen und ſchätzen, tritt hier bereits in ihren Grundzügen erkennbar zutage. 

An einer Stelle dieſes Werkchens wird Nietzſches Zarathuſtra-Wort: „Nicht um die Erfinder 
von neuem Lärm, um die Erfinder von neuen Werten dreht ſich die Welt, unhörbar dreht fie 
ſich“, zitiert; und „ſolch neuer Wert,“ fährt Hadina daran anknüpfend fort, kann ein Wort der 
Begeiſterung werden, das einen Müden und Kleingläubigen fortreißt und kräftig macht, ein 
Wort des Troſtes, das um bie trauernde Seele fic legt wie weicher Mutterarm, ein Wort freund- 
ſchaftlichen Verſtändniſſes, das ſich liebevoll hinabſenkt in die Herzen der Schwachen und Suͤnd⸗ 
haften und fie nicht verzagen läßt, ein Wort der Glaubenskraft an das Schöne und Göttliche 
des Lebens, das jungen Seelen einen Reichtum des beglüdendften Idealismus erſchließen und 
zerfallene Menſchen zu ihrem Gott führen kann.“ Auf wen beſſer könnten dieſe Folgerungen 
angewendet werden als auf ihn ſelbſt, der als Kuͤnſtler des Wortes dieſes vor unſeren Augen 
ſo oft zur guten Tat gemacht?! 

Emil Hadina hat nie zu den Lärm- Machern gehört, weder in feinen Anfängen, noch fpater. 
Schon fein erſtes, im Jahre 1914 bei Fritz Eckardt in Leipzig erſchienenes Gedichtbuch, All 
tag und Weihe“ war ganz darnach angetan, wenig beachtet zu werden. Und es dürfte auch 
nicht in allzuweite Kreiſe gedrungen ſein, trotzdem der Dichter damals ſchon Mitarbeiter der 
erſten und bekannteſten Zeitſchriften Oeutſchlands und Ofterreids geweſen war. Wie in der 
vorerwähnten Abhandlung tritt auch hier Weſen und Wille bes Dichters klar hervor. Andacht 
iſt ihm alles Schaffens Urgrund, und feine Andacht kennt nichts Müdes und nichts Knechtiſches. 

Kraft aller Kraft, das iſt ihm Gott, den er fo lange geſucht und der bei ihm immer wieder das 

eklärte, von konfeſſionellen und dogmatiſchen Runzeln freie Antlitz erheben darf. Kraft aller 
Kraft und jeder letzte Troſt: 


Doch will mir kein Stern erſcheinen, Sieh, ich trag in meinen Handen 

Hör ich in mein banges Weinen Blühen, Reifen und Vollenden, 
Deine Stimme wehn: Ewig gleichgeſinnt. 

„Ein Tag iſt wie tauſend Jahre, Mehr doch als die Sternenwelten 
Und der Sonne Kreis, der klare, Soll mir deine Sehnſucht gelten, 
Soll vor dir zur Neige gehn! Denn du bift mein Kind, mein Kind! 


So leſen wir in bes Dichters nächſter Gabe, dem Buche „Nächte und Sterne“, das wie bie 
meiſten fpäteren Werke Hadinas im Verlage L. Staadmann, Leipzig, erſchienen iſt. Es gibt 


Emil Hadine els Lyriker 457 


Sichterbücher, die zu Gebetbüchern moderner Menſchen werden follten, und Emil Hadinas 
„Nächte und Sterne“ find ein ſolches“, ſchrieb Adam Müller-Guttenbrunn über dieſes Buch. 
Immer wieder finden wir das Weh um Gott und das Glüd in Gott aus feinen Liedern ſteigen, 
immer reicher und bekenntnistiefer und immer weiter vordringenb zu den letzten Höhen, von denen 
aus letzte Dinge überblickt werden, bis zu dem wundervollen Gedichte in dem Bande „Lebens- 
feier“, das mit den Worten „Mir iſt der Tod der Schatten meiner Hand ...“ beginnt und endet. 

Eine tief im Weſen wurzelnde und in Kämpfen gefeſtigte Gläubigkeit bleibt der Grundton, 
auch wenn der Oichter ſeine Weiſen dem Leben oder der Liebe weiht. Das Gedicht „Myſterium“ 
in dem Bande „Nächte und Sterne“ ſpricht von letzter Sehnſuchts-Erfüllung, und ich kenne 
wenige beutſche Liebesgedichte von ſolchem Stimmungszauber und von ſolcher Gefühlstiefe, 
wie das nachſtehende, „Waldſonntag“ benannte: 


„Die Friſche nach dem ſtillen Morgenregen Und eine helle Stimme hör’ ich wieder, 
Liegt wie ein Tau auf der erwachten Welt. Noch hallt im Winde jedes liebe Wort. 


Ich gehe auf den lieben alten Wegen, Nun ſingt ſie fern im Kirchlein Feſttagslieder 
Die geſtern erſt geheimer Glanz erhellt. Und lauſcht der Orgel gldubigem Akkord. 
Noch ſpiegelt alles ein verträumtes Leuchten, Und ahnt nicht in der Andacht der Choräle, 
Wo junge Fife leicht den Weg berührt Wie hier noch alles träumt von ihrem Licht, 
Und eine weiße Hand dem dunkelfeuchten Und ihre reine blumenhafte Seele 


Maldgrün die rote Erdbeerfrucht entführt. Fühlt aus dem Wald mein ftilles Grüßen nicht. 


Doch mir auch in mein heißes Stürmer Sehnen 
Zieht Morgenandacht, ſonntäglich geweiht. 

Die Sonne kügt den Tau wie bange Tränen, 
Und in den grünen Wipfeln rauſcht die Zeit. 
Die hohen Fichten ſtehn mit frommer Miene, 
Und wie ein Prieſterteppich liegt die Au — 
Zum unbekannten Gotte, dem ich diene, 

Steigt mein Gebet für eine ferne Frau..“ 


So ſpricht Liebe, die aus tiefem Herzen kommt und die in dieſer aller Innerlichkeit fo ab- 
holden Welt oft als „weher Klang“ oder nur als ein Traumen Platz findet. Was Wunder, wenn 
da Frau Sehnſucht fo oft des Dichters Tröſterin bleiben muß? 


„RNaſtlos reit ich durch das Leben, 

Treu und Untreu gleich ergeben. 

Seh den Himmel bald in Gluten, 

Bald in Nacht und fternelos — 

Und der Sehnſucht heißes Bluten 

Trag ich durch den Weltenſchoß“, , 


beginnt ein Gedicht, deſſen Ausklang „Heimat, Heimat, tu dich auf!“ betet. 

Und die Heimat, die er einmal als verloren beſingt: „Mir fiel ein Fluch von den waltenden 
Sternen, mein Avalun baut ſich in ſchimmernden Fernen“, die Heimat iſt dennoch nach Gott 
und Liebe der große Grundſtein feines Weſens und Oichtens. 

Emil Hadina hat uns eine Kriegslyrik geſchenkt, die auch in bieſer Nachkriegszeit ſich nicht zu 
verbergen braucht. Und atmeten alle ſeine Verſe tiefes und verklärtes Deutſchtum, in ſeinen 
Kriegsliedern hat er das erſte Mal fein Deutſchland, das auch von Umſturz und Umwertung 
nicht zerſtört werden kann, mit vollem Namen genannt und bekannt. Man leſe die Gedichte der 
Sammlung „Sturm und Stille“ (Verlag Deutſcher Schulverein, Wien), man erbaue ſich an den 
völkiſchen Verſen in „Heimat und Seele“ und in dem Buche „Lebensfeier“, und man wird er- 
kennen, daß man es da mit einem wahrhaften Streiter für jenes Deutſchland zu tun hat, um 


438 Die Suchtarten-Gammitung 


das Männer wie Ernft Moritz Arndt und Hoffmann von Fallersleben, Luther und Kant, Goethe 
und Lagarde in ihrem innerſten Weſen gerungen haben: für das Gottes reich der Oeutſchen, 
das kommen wird, wenn die Zeit ſich erfüllt. 

» . Um die Erfinder von neuen Werten dreht ſich die Welt, unhdrbar dreht fie ſich.“ Ich habe 
in dieſem Aufſatze den Epiker Hadina aus dem Auge gelaffen, und mit Abſicht. Denn im ly 
riſchen Schaffen tritt das Weſentliche eines Dichters in reinſter Klarheit zutage. Emil Hadinas 
Balladen und Legenden, im beſonderen diejenigen unter ihnen, welche religiöje Stoffe geſtalten, 
können ihren Schöpfer nicht verleugnen. Und auch die Novellen und Romane — ich nenne von 
den letzteren „Suchende Liebe“, den Stormroman „Die graue Stadt — die lichten Frauen“, 
„Advent“, ein tiefes und in ſeiner inneren Wahrhaftigkeit nachhaltig wirkendes Buch, und die 
zuletzt erſchienene Erzählung „Maria und Myrrha“ — find echte Hadina- Schöpfungen. Auch 
fie liefern den Beweis dafür, daß wir es in dem Dichter mit einem Schöpfer warmer, wahrer 
Werte zu tun haben, und manches Wort in feinen Büchern wird der Sendung gerecht, die Hadina 
in ſeinem Erſtling dem Worte zuerkennt. Hans Anderle 


Die Buchkarten⸗Sammlung 


Eine Mahnung zu engerer Fühlung mit der Literatur 


eſtimmend für den Beſtand und die Entwicklung des deutſchen Volkes ſind heute nicht 
B nur fein Platz an der Sonne und die materiellen Bodenſchͤtze ſeines Wohnſitzes, ſondern 
in weit höherem Maße feine innere Welt, deren klarſtes Bild in feiner Literatur zum Aus- 
druck kommt. Eine Führerſchaft ohne Verſtändnis für dieſe Tatſache, mag fie noch fo geſchickt 
und geſcheidt ſein, verliert den Einfluß und muß von der Bühne der Welt abtreten. Die Mächte, 
die das beutſche Volk beherrſchen, ſagt Guſtav Freytag in den Bildern aus der deutſchen Ver- 
gangenheit, waren im Mittelalter der fahrende Sänger, in den vier Jahrhunderten der Re- 
formation die Predigt und das geiſtliche Lied und in der Neuzeit das gedruckte Wort. Wie recht 
er hat, beweiſt die Tragik unſrer Zeit, die mit verurſacht wird, weil ein großer Teil unſrer zur 
Führung berufenen Schichten, wie Adel, Großgrundbefiß und Induſtrie zu wenig Fühlung 
mit der Literatur hat. Es ſind nicht nur utopiſtiſche Hoffnungen auf eine goldene Zeit durch 
die Verwirklichung kommuniſtiſcher Phraſen, die den linksgerichteten Intellektuellen einen ſo 
ſtarken Einfluß auf die Maſſen einräumen, ſondern vielmehr ein geſchicktes, ja raffiniertes Ein- 
gehen auf die literariſchen Bedürfniffe des Volkes. Sie haben die moderne Großmacht 
der Literatur erkannt und ſcheuen weder Zeit, noch Mühe, noch Geld, fie in ihrem Intereſſe 
zu verwenden. 
u Wir ſtehen mitten im Kampf um das Führertum. Die Stellung zur Literatur wird dabei ein 
entſcheidender Faktor ſein. Nie war es Führern der Menſchheit beſchieden, ihre Zeit durch 
materiellen Reichtum und ſeine Möglichkeiten reſtlos zu befriedigen. Immer war der Glaube 
an das Reich der Zdeale, der Beſitz einer geiſt-ſeeliſchen Welt eine ausgleichende Not- 
wendigkeit. Speziell das deutſche Volk ward erſt dadurch zu feinen höchſten Leiſtungen be- 
wogen. Vertrauen und Treue hat es von jeher am feſteſten an die Führer gebunden, die ihren 
geiſt-ſeeliſchen Bedürfniſſen Befriedigung brachten und ihm ein unermeßliches Geiſtland er- 
ſchloſſen. So waren in den vergangenen Jahrhunderten die Verheißungen und Lehren der 
Kirche die heilige Macht, geniale Fähigkeiten zu regen, und ſo ſcheint heute im Rate höherer 
Vorſehung die gewaltige Schöpfung unfrer Kultur, die Literatur, berufen zu fein, ſchöpferiſche 
Energien im deutſchen Volke zu löſen. Daß heute unſeren bedeutendſten Geſtaltern auf lite 
rariſchem Gebiete finſtre Stunden der Verzweiflung nicht ſelten ſind, iſt kein Wunder, denn 
ihr tiefſtes Ningen, ihre höchſte Kunſt dient weiten Kreiſen nur als ſchöngeiſtige Unterhaltung 


die Buchtarten· Gammlung 439 


und zum Zeitvertreib. Wenn aber der Geijt der deutſchen Dichtung über bie Volksſeele keine 
Macht gewinnt, wenn ihre göttlichen Ideale im beutſchen Weſen nicht ſichtbare Geſtalt und 
reifen Ausdruck erhalten, dann ijt abermals ein lebenswichtiger Gedanke nicht zur Aus- 
führung gekommen und ein Söttergeſchenk den Deutſchen vergebens in den Schoß gelegt 
worden. 

Oer Einfluß jeder Führerſchicht richtet ſich heute nach dem Maße ihrer Fähigkeit, den feinſten 
Geiſt der eigentlich deutſchen Literatur zu verſtehen und das Volk mit dieſer gewaltigen Aus- 
ſtrahlung feines Weſens vertraut zu machen. Das Heil der deutſchen Nation hängt ab von den 
Beziehungen der Volksſeele zur deutſchen Literatur. Je inniger und tiefer fie find, 
um ſo klarer und deutlicher wird ſie das darin prophetiſch erkannte und dichteriſch geſtaltete 
Hochziel ihrer Entwicklung ſchauen und den Weg und die Kraft, dahin zu kommen, erlangen. 

Vielen literariſch intereſſierten Menſchen gereicht es heute zum Unglück, daß ſie veranlaßt 
werden, nach dem geiſtigen Beſitz der vorhandenen unuͤberſehbaren Literatur zu ſtreben, ohne 
eine Moͤglichkeit zu kennen, ſich in erfolgreicher Weiſe durch regelmäßige Selbſttätigkeit mit 
ihr zu verbinden. Ihr Verhalten gegenüber der vorhandenen und neu erſcheinenden Literatur: 
was iſt das anderes als eine Art Selbſtverteidigung! Sie leſen Bücher und Zeitſchriften, um 
ſie los zu werden, um Luft zu kriegen. Sie wollen und muͤſſen mancherlei wiſſen und kennen und 
gerade das, was ſie am wenigſten angeht. Sie zerſtreuen, verlaufen und verlieren ſich in dem 
unermeßlichen Gebiete der Literatur, und es droht ihnen ſtändig die Gefahr, den inneren Men- 
ſchen, die Perſönlichkeit zu verlieren. 

Ein zuverläffiges Mittel, ſich der mächtig andringenden Buͤcherhochflut gegenüber zu be- 
baupten, iſt die Buchkarten-Sammlung, die ſich der Bücherfreund ſelber herſtellt, indem 
er von jedem geleſenen Buche eine Titelkarte anlegt. Vielleicht im Format unfrer Reichspoft- 
karten. Er vermerkt darauf in überſichtlicher Form den Autornamen, Buchtitel, Verlag und 
Preis jedes geleſenen Buches. Eine ſolche Buchtitelkarte lege man ſich jedoch nicht nur von 
gelefenen Büchern an, ſondern auch von denen, die man nod leſen mochte. So bewahrt man 
am ſicherſten die Titel der Bücher, von denen man durch Proſpekte, Büͤcherverzeichniſſe oder 
mündlide Empfehlungen Kenntnis erlangt. Dieſe fo gewonnenen Buchtitelkarten werden 
alphabetiſch (ſyſtematiſch oder nach Schlagworten) geordnet, ſorgfältig in einem geeigneten 
Käſtchen verwahrt und ſtehen auf dem Schreibtiſch oder im Bücherregal jederzeit bereit. 
Feder, der ſich eine ſolche Buchkarten- Sammlung einrichtet, wird die Mühe reichlich gelohnt 
finden. Heute ift es eine literariſche Lebensnotwendigkeit, daß jeder Bücherfreund Buchtitel 
karten ſammelt. Dieſe kleine Karte iſt ein ſicherer Weg, das Verhältnis zwiſchen Buch und 
Menſch wieder lebendig und fruchtbar zu geſtalten. Das Buchtitelſammeln muß zu einer lieben 
Gewohnheit, ja zu einer ſchönen Leidenſchaft des Bücherfreundes werden, denn es entſpricht 
einem Bedürfnis unfrer Zeit und gewährt die beſte Möglichkeit, das weite Gebiet der Literatur 
erfolgreich zu durchdringen. 

Dieſe geiſtige Buchführung bedeutet Erlöſung aus der herrſchenden literariſchen Verwirrung. 
Sie bietet dem einfachſten und dem weiteſten geiſtigen Bedürfnis die Möglichkeit, der unermeß⸗ 
lichen Fülle der Literatur eine perſönliche Note abzuringen. Sie erzeugt ein ideales Verhältnis, 
fruchtbare Beziehungen zwiſchen Buch und Leſer. Sie iſt ein ſicheres Mittel, dem literariſchen 
Allerweltsmenſchen, der mehr oder weniger heute jeder Gebildete iſt, bei ſeiner zerſtreuenden 
literariſchen Geſchäftigkeit Tiefe und Innigkeit zu erhalten, in der er bleiben muß, um in ſich 
ſelbſt etwas Vollkommenes hervorzubringen. Dieje Geſchloſſenheit der Verarbeitung 
darf keinem fremd ſein, der einen ſolchen ſeelenvollen oder geiſtigen Anteil am Buche nehmen 
will, wie ihn der Autor wünſcht und hofft. Die Buchkarten- Sammlung iſt die feſte Burg, von 
der aus jederzeit wohlausgerüftete, zielſichere, nähere und weitere Erkundungsfahrten in das zu 
erforſchende Gebiet der Literatur unternommen werden können. Sie iſt eine Gegenwirkung gegen 
die Zerf ahrenheit der aufgeregten Zeit. In ihr beſitzt jeder Bücherfreund einen mächtigen 


44 Dic Suchlacten-Gammiung 


Zauber, bekannte Geiſter jederzeit zu zitieren und unbekannte zur Verfügung bereit zu halten. 
Und wenn es natürlich iſt, wie allgemein gefagt wird, daß der Menſch dem, was er ſelber erwirbt 
und leiſtet, größeren Wert beilegt, dann gilt das von der Buchkarten Sammlung beſonders; 
ift doch jeder in der Lage, fie feinen Wünſchen entſprechend zu geſtalten. Sie iſt etwas Ur- 
perſönliches, fo verſchiedenartig zu geſtalten, fo wandlungs- und formenfähig, daß auch der 
ſonderlichſte Außenſeiter fie feinen perſönlichen Neigungen entſprechend zuſammenſtellen kann. 

Iſt wirklich, wie man überall hören kann, das Geiſtige das Wertvollſte im Leben des Men 
ſchen, warum vernachläſſigt dann der Menſch feine Verwaltung? Warum gibt er fic ſelbſt 
dann nicht gewiſſenhaft Rechenſchaft über das, was er geleſen hat und führt nicht ſorgfältig 
Buch über das, was er noch leſen will? Wieviel Zeit und Mühe verwendet er nicht auf die 
Verwaltung feines materiellen Beſitzes! Bit die Verwaltung geiſtiger Güter nicht ungleich 
größeren Fleißes, ungleich höherer Sorgfalt würdig? Haben fie nicht den gleichen, ja vielleicht 
noch ſtärkeren Anteil an der Entfaltung unſeres tieferen Weſens, am Werden unſrer Welt 
anſchauung? Möchten wir nicht, die wir nun einmal nicht jedes Buch, das wir leſen, erwerben 
können, wenigſtens ſeinen Titel zuverläſſig an einem ſichern Ort verwahren mit wenigen kurzen 
Bemerkungen über Inhalt und Eindruck, um jederzeit ein lebendiges Bild von der Seele des 
Buches uns vergegenwärtigen zu können, und es eines Tages, wenn wir die Mittel haben, doch 
noch zu kaufen oder als eine erprobte Geiſtkraft einem lieben Menſchen zu ſchenken? Wie oft 
iſt nicht der Einzelne in Verlegenheit, welches von den vielen ſchöͤnen Büchern er ſchenken ſoll! 
Oer Titel des einen oder andern Buches, das tiefen Eindruck gemacht hatte, wovon er beſtimmt 
wußte, daß es dem oder jenem etwas zu ſagen hatte, iſt ihm entfallen. Wie ſegensreich kann 
die Buchkarten· Sammlung hinſichtlich des Bücherſchenkens wirken! 

Es fei mir geftattet, noch einige Vorteile der Buchkarten Sammlung zu erwähnen, um Ber- 
ſtäͤndnis und Luft dazu zu wecken. 

Wer weiß denn heute noch, welche Bilderbücher unſer analphabetiſches Bewußtſein durch- 
ſonnten, welche Maͤrchenbücher die Luft zum Leſen und die goldigften Phantaſien in uns 
weckten? Wer kann fie denn noch alle nennen, die vielen ſchönen Bücher, die unſrer Sehnſucht 
nach der geheimnis und abenteuerreichen Fremde Flügel liehen, und jene Bücher, die das 
rührend und erldjend nannten, was wir empfanden, als erfte Liebe uns durchbebte? 

In welch gluͤckſeligen Zuſtand würde jeder Bucherfreund durch Treue und Gewiſſſenhaftigkeit 
in der bibliographiſchen Verwaltung geleſener und noch zu leſender Bücher verſetzt! Dadurch 
allein kann er die vorüberraufchende Bücherhochflut regulieren, feinen literariſchen Garten in 
fruchtbringender Weiſe wäſſern und pflegen und vor drohenden Überſchwemmungen ſchützen. 
Durch fie allein iſt er jederzeit in der Lage, das Soll und Haben feines geiſtigen Beſitzes zu 
ermitteln. 

Welches Glück, welche Freude für unfre Liebſten, denen wir durch eine ſorgfältig geführte 
Buchkarten-Sammlung die Möglichkeit gewähren, alle Stätten unfrer geiſtigen Wanderung, 
wo wir verweilten, kennenzulernen. Iſt das nicht die beſte Gelegenheit, ſich geiſtig und ſeeliſch 
näher zu kommen, einander mitzuteilen, was uns entzückte, was uns gebildet hat? Beſſer als 
manches Tagebuch erklärt eine Buchkarten⸗ Sammlung, die ein perſönliches Gepräge hat, unfer 
Weſen. Durch Jahrzehnte und Jahrhunderte in einer Familie fortgeführt, ijt fie ein vollſtändiger 
Kommentar zur Familiengeſchichte und Tradition. 

Die Einrichtung und Pflege einer perſönlichen Buchkarten Sammlung liegt nicht nur im 
Intereſſe der Kreiſe, die ſchon in einem guten Verhältnis zum Buche ſtehen, ſondern iſt auch von 
literariſch-erzieheriſchem Einfluß für alle, die ſich noch nicht fo recht an die Literatur heran- 
trauen, die wohl gerne beſſere Beziehungen zum Buche haben möchten, aber nicht wiſſen, wie 
fie das machen müfjen. Sie werden ein Bekanntwerden mit den Segnungen der Buchtitelkarte 
als einen Lichtſtrahl in ihrem literariſchen Ounkel begrüßen. 

Ja, wahrhaftig, der moderne Menſch kann ohne Bucher nicht mehr fein; aber er ſollte auch 


Unfere Bllderdellagen 441 


ohne Buchkarte nicht mehr leſen! Oann wird die göttliche Schöpferkraft des guten Buches 
organiſch aufbauend und ſegensreich geſtaltend wirken. Wem in Oeutſchland iſt denn feine 
Buͤcherei eine wirklich ernſthafte Angelegenheit? Es gibt ſolche geſammelten, verinner- 
lichten Menſchen, aber ſie ſind ſelten. Wie können wir Genuß und Wirkung vertiefen, uns 
jederzeit lebendig zurückrufen, wenn wir den Urheber, das gute Buch, mit Fleiß und Sorgfalt 
bidliographiſch liebevoll feſthalten! Arno Franke 


Unſre Bilderbeilagen 


Ein bisher unbekanntes Bild von Moritz v. Schwind 


ls die badiſche Regierung um das Jahr 1840 dem damals ſchon durch ſeine Fresken berühmt 

gewordenen Moritz von Schwind die Ausmalung der neuerbauten Kunſthalle in Karls- 
ruhe übertragen wollte, ſtellte fie in ihrem Vertragsentwurf die Forderung, der Künftler ſolle 
bis zur Beendigung der Arbeiten ledig bleiben! Mit Entrüftung wies der damals in der Blüte 
ſeiner Manneskraft ſtehende Künſtler dies Anſinnen zurück und verlangte einen Vertrag ohne 
dieſe Heirats-Klauſel — der ihm auch nach längerem Hin und Her bewilligt wurde. 

Es wird nicht Oppoſition, ſondern Zufall geweſen ſein, daß Schwind bald nach ſeinem Einzug 
in Karlsruhe fein Herz an die ſchöͤne Luiſe Sachs verlor, an die Tochter eines badiſchen Majors, 
die er nach mancherlei Hinderniſſen zur Frau gewann. Wir kennen ſie von mehr als einem 
Schwindſchen Gemälde. Luiſe Sachs hatte mehrere Brüder und eine Schweſter Friederike. 
Seine Schwäger und feine Schwägerin hat Schwind wiederholt gemalt (vgl. Klaſſiker ber Kunſt, 
Bd. IX, S. 177, 352, 353). Zu dieſen von Otto Weigmann veröffentlichten Sachs'ſchen Fa- 
milienporträts bildet das von uns zum erſten Male der Öffentlichkeit gezeigte Gemälde der 
Friederike Sachs eine wertvolle Ergänzung. Es ergänzt auch in höchſt willkommener Weiſe 
unſere Vorſtellung von Moritz von Schwind als Porträtmaler, für die wir ja nicht allzuviele 
Unterlagen beſitzen: neben dem Bildnis des Freiherrn v. Blittersdorf darf dieſes Porträt der 
Friederike Sachs wohl als eine der beſten Arbeiten des Meiſters auf dieſem Gebiete angeſprochen 
werden. 

Der Flächen- und der Raumbau des Bildes find äußerſt geſchmackvoll. Geftalt, Vorhang, 
Baluftrade, Blumen und Himmel bilden einen fein abgeſtimmten Akkord, mit dem die Farb- 
töne zuſammenklingen. Durch die blauſchwarze Nahfarbe des Schals wird die vor einem ge- 
dämpften Grün ſitzende Figur kräftig in den Vordergrund gerückt, Vorhang und Baluſtrade 
werden zurückgedrängt. Der Blick ſchweift über Blumen zu den Wolken und kehrt zu dem an- 
mutigen Weſen zuruck, das da in ihrer faltenreichen Krinoline vor uns ſitzt. Der ſchöne Kopf iſt 
mehr zeichneriſch als maleriſch behandelt; licht und plaſtiſch gemalt ſind aber Hals, Schultern, 
Sewand. Wundervoll nehmen die voll erblühten Blumen das Organiſche wieder auf und gleichen 
mit den ſchweren Falten des Vorhangs und der Tiefe des Himmels den nach links verſchobenen 
Schwerpunkt des Bildes aus. 

Das Porträt will nichts als ein Abbild des Lebens fein. Das Lächeln dieſes keuſchen Mädchens 
hat nichts mit dem Geheimnis einer Mona Lifa zu tun. Wir haben ein echtes Kind der problem; 
freien deutſchen Biedermeierzeit vor uns, das mit klaren ſonnigen Augen in die Welt ſchaut, 
des feiner wartenden Glüdes gewiß. 

Das Bild mag Anfang der vierziger Jahre in Karlsruhe entftanden fein. Friederike Sachs 
heiratete fpäter den Oberſten von Noel. Das Original befindet ſich im Beſitz der Erben dieſer 
Familie, die es dankenswerterweiſe dem „Türmer“ zur Erſtveröffentlichung anvertraut haben. 

Wir wiſſen, daß Moritz von Schwinds eigentliche Bedeutung nicht auf dem Gebiete des 
Porträts zu ſuchen iſt. Sie liegt auch nicht im Figürlichen, ſondern in der Märchenpoeſie der 


442 Ole Tonweortichre von Rari Eig 


deutſchen Landſchaft, in der Allbeſeelung der Natur und in der Verzauberung des Menſchen 
zur Natur. Dennoch wäre es reizvoll, einmal eine Gonderftubie Aber den Porträtiſten Schwind 
zu ſchreiben. Möge unſer Bild die Anregung dazu geben. — — — 

Sohannes Köhler, einer der letzten Meiſterſchüler Theodor Hagens, hat viel gegrübelt, 
experimentiert und geſucht. Er lief Gefahr, ſich in einer Art verſchwommener Myfſtik zu ver⸗ 
lieren. Mit dem veröffentlichten Werke ſcheint der Rünftler feinen Stil gefunden zu haben. Sein 
ihm angeborenes Gefühl für die nordiſche Landſchaft hat ihn in der Schweiz immer wieder zu 
dieſen mächtigen Eichen getrieben, bis er fie in ihrer ganzen Herbheit, Kraft und ſeltſamen bio- 
logiſchen Funktionsform auf die Leinwand gebannt hatte. Waldfreunde werden das Bild auf- 
merkſam betrachten und ſich darüber freuen, daß ſich den deutſchen Waldmalern ein neuer 
Künftler zugeſellt hat. Dr. Konrad Dürre 


Die Tonwortlehre von Karl Eitz 


or nahezu 2 Jahren ift Karl Cig, der Eislebener Volksſchullehrer, Profeſſor und Dr. h. c., 
V an den Folgen eines Autounfalles geſtorben. Sein Werk, die Tonwortlehre, ſtarb aber 
nicht nur nicht mit ihm dahin, ſondern fing gerade damals an, ſich mit neuer Lebenskraft zu 
rühren. Das in Preußen ergangene Verbot, den Schulgeſang unter Zuhilfenahme der Eitzſchen 
Tonworte zu lehren, war Anfang 1924 aufgehoben worden, und ſo begann in Preußen eigent- 
lich erſt die Arbeit mit dieſem ausgezeichneten Mittel, den Schülern klare Tonvorſtellungen 
und ein wirkliches Verſtehen der Notenſchrift mit ins Leben zu geben. Dr. Bennedik 
in Halberftadt entfaltete eine rührige und erfolgreiche Werbetätigkeit für die Tonwortſprache, 
Merfeberg-Fena und Strube-Harsleben wirkten vor allem durch ihre praktiſchen Erfolge. 
So erſtanden den alten Eitzianern ſüdlich des Mains, von denen ich nur Simon Breu (Würz- 
burg) nenne, im noͤrdlichen Deutſchland zielſichere Mitſtreiter. An den Univerſitäten traten 
Prof. Stein (Kiel), Dr. Stephani (Marburg) und Prof. Moſer (Halle- Heidelberg) für das 
Tonwort ein. Neuerdings beginnt die Tonwortſache auch im Weſten des Reiches (Köln und 
Aachen; Elberfeld hatte in Weitkamp ſchon ſeit Jahren einen tüchtigen Vorkämpfer) die 
Geiſter zu bewegen. 

Die Gegnerſchaft gegen Eitz war und iſt groß. Zu einem nicht geringen Teile mag ſie in der 
Trägheit der Seſang Lehrenden ihren Grund haben; zum anderen Teile beruht fie zweifellos 
auf Überzeugungen. Überprüft man die vorgebrachten Einwände gegen das Tonwortſyſtem, 
jo muß man allerdings feſtſtellen, daß fie zumeiſt an der Sache vorbeigehen, indem fie Eig Ab- 
ſichten oder Handlungen zuſchreiben, die er nie gehabt bzw. nie unternommen hat. Wenn z. B. 
gejagt wird, daß die Tonworte der Stimmbildung nicht völlig Genüge täten, jo ſchiebt man Gk 
unter, daß er behauptet habe, fie täten es. Und dabei tun fie es durch ihre günſtige Vokal- 
verteilung wirklich. Oder wenn es heißt, die rhythmiſche Schulung der Singenden werde nicht 
genügend gefördert, fo muß dem entgegengehalten werden, daß die Tonworte an ſich überhaupt 
nichts mit Rhythmik zu tun haben. Ihr Gebrauch kann alſo weder hemmend noch fördernd auf 
die rhythmiſchen Übungen einwirken. Dagegen iſt es eine von allen Eitzlehrern bekundete Er- 
fahrung, daß die tonalen Übungen auf Tonworte ſich rhythmiſch außerorbentlich vielfältig ge- 
ſtalten laſſen und den Eitzſchüler daher rhythmiſch hinlänglich „feſt“ machen. Ferner hört man 
immer wieder, die neuen Tonnamen ſeien im praktiſchen Muſikleben, vor allem im Chorgeſang 
der Nachſchulzeit, ſtörende Fremdlinge. Nun: vor allem kommt es doch wohl darauf an, daß die 
Chormitglieder wirklich vom Blatt ſingen können. Auf welche Weiſe ſie das erreicht haben, 
kann nachher doch wohl gleich ſein. Daß die Eitzſchüler es zu neunzig vom Hundert können, darf 
doch wohl nicht als dem praktiſchen Muſikleben nachteilig bezeichnet werden. Ganz daneben geht 


Ole Conwortlehre von Rarl Elz 445 


der Verſuch, die Tonworte wiſſenſchaftlich anfechtbar zu nennen. Sind fie doch im Gegenteil die 
einzige Tonbenennung von unbedingter logiſcher Unantaſtbarkeit. 

And damit haben wir uns dem Kernpunkte der Erfindung Eitz' genähert. Eitz ging gerade von 
der Tatſache aus, daß unſere üblichen Tonnamen a bod ef g ufw. einer pſychologiſch - pädagog ; 
iſchen Prufung nicht ſtandhalten. Denn erſtens erläutern ſie unſere Tonſchrift — die Noten — 
nicht in der wünſchenswert eindeutigen Weiſe. Den Halbtonſchritt von e zu f oder von h zu e 
gibt das Notenbild in genau derſelben Weiſe wieder, wie etwa den Ganztonſchritt von d zu e 
oder von g zu a. In der Benennung der Töne bzw. Noten macht fie ebenſowenig Unterschiede; 
es herrſcht da alſo eine bedeutſame Unklarheit; Unklarheiten aber bringen für Lehrende wie 
Lernende ſtets unliebſame Schwierigkeiten mit ſich. — Zweitens fugen unfere alten Ton; und 
Notennamen auf der Annahme von Stamm- und abgeleiteten Tönen. Stammtöne gibt es in 
der Muſik in Wirklichkeit aber nicht, und abgeleitete Töne infolgedeſſen natürlich auch nicht. 
Cis iſt nicht von o abgeleitet, ſondern ois und o find gleichwertige und gleichwichtige Eigentöne. 
Die Irrmeinung von Stamm; und Ablegertönen war überhaupt erſt durch die falſche Namen 
gebung — f — fis, f — fes uſw. — aufgekommen und im Grunde nichts anderes als der im 
wiſſenſchaftlichen Sinne mißlungene Verſuch, mit der fortſchreitenden Chromatik und Enharmonik 
Schritt zu halten. — Drittens leitete Cig bei der Aufftellung feines Syſtems die Erkenntnis, 
daß der Erfolg des Schulgeſangunterrichtes in keinem erfreulichen Verhältnis zu der auf- 
gewandten Mühe ſtehe. Das ſelbſtändige Singen nach Noten wurde — und wird — in nur 
wenigen Fällen erzielt; die meiſten Lehrenden konnten es ſelber nicht oder wußten keinen 
pſychologiſch und pädagogiſch einwandfreien Weg, es Kindern beizubringen. 

Nach dem richtigen Wege zu forſchen, war wahrlich nicht verabſäumt worden, und auf der 
oder jener Straße waren tüchtige Lehrer mit ihren Schülern immer ſchon zu hohen Zielen ge- 
langt. Aber allgemein wollte es mit der Sache nicht vorwärtsgehen. Cig erkannte, daß bie 
gauptſchuld daran die unzulängliche Namengebung der Töne bzw. Noten trug. Sie zulänglich 
zu geſtalten, war darum fein heißes Bemühen. Er ſetzte ſich bei der Aufſtellung feines Tonwort- 
ſyſtems mit allen bis dahin (um 1890) bekannten Verſuchen, das Notenſingen in der Schule zu 
erreichen, auseinander, erkannte ihr Gutes gern und freimütig an, wies aber auch ſcharfſinnig 
ihre Mängel nach. Der Wiſſenſchafter und der Lehrer und Erzieher in ihm machten ihn zu beidem 
hervorragend fähig. Was er als Ergebnis feines Mühens vorlegte, ſoll im folgenden kurz bar; 
gelegt werden. Da der Schulgeſang den wichtigſten Teil der muſikaliſchen Bildung unſeres Volkes 
darſtellt, rechtfertigt ſich dieſes Unterfangen in einer den kulturellen Angelegenheiten Deutſch- 
lands gewidmeten Zeitſchrift von ſelbſt. Die Spinnftuben- und Dorflindenzeit iſt für uns dahin; 
in ihrem Zeichen ſingen, Lieder ſingen zu lernen, ſomit auch. Das weſentlichſte muſikaliſche Gut 
liegt ſeit langem in Noten niedergeſchrieben vor uns da; von Noten, nach Noten ſingen zu 
konnen iſt darum eine unerläßlihe Vorausſetzung für alle die geworden, die an der Hebung jenes 
Gutes teilhaben wollen. Da alle Oeutſchen daran teilhaben ſollen, muß die Schule eine 
ihrer ernſteſten Pflichten darin erblicken, ihre Pflegebefohlenen im Notenſingen fo weit zu för- 
dern, daß fie, im Leben ohne Unterricht daſtehend, wenigſtens einfache Lieder felbftändig zu 
verarbeiten imſtande find. Ohne zu folder Arbeit in den Stand geſetzt zu fein, nutzen den Schul- 
entlaſſenen auch die herrlichſten Liederſammlungen nichts, da deren Eigentlichſtes, eben die in 
Noten aufgezeichnete Singſtimme, für ſie ein totes Gebilde darſtellt, das in ihnen weder die 
den Noten entſprechenden Tonvorſtellungen wachruft noch die Kraft und Kunſt verleiht, ſolchen 
Vorſtellungen entſprechende Tonreihen hervorzubringen. Den m. E. einfachſten und guver- 
läſſigſten Lehrgang im Notenfingen ftellte nun Karl Eig auf. Er benutzte dazu, wie gejagt, dankbar 
und gewiſſenhaft alles ſchon Geſchaffene; aber ſein Tonwortſyſtem war ſchließlich doch etwas 
durchaus Eigenes und noch nicht Dageweſenes. 

Den zwölf Halbtönen innerhalb einer Oktave, die unbedingt ſelbſtändig nebeneinander be- 
ſtehen, gab er zunächſt je einen feſtſtehenden, nur ihm eigenen Mitlaut als erſten Beſtandteil 


444 Dic Eonwortichre von Nati e 


des neu zu bildenden Tonnamens. Er gelangte fo zu der aus Dauer- und Augenblickslauten in 
geſetzmäßiger Folge beſtehenden Reihe 

br t mg ſpld fin = 

o cis d dis e f fis g gs a ais h 

(des) (ee) (ges) (as) (b) 
gedes Fortſchreiten in dieſer Reihe von Dauer- zu Augenblidslaut bedeutet einen Halbton-, 
jede Rüdung von Qauer- zu Dauer- oder von Augenblicks zu Augenblidslaut einen Gangton- 
ſchritt ujw. Um dieſen Mitlauten erſt ihre volle Deutlichkeit bzw. ihre weitere Derwendbungsmög- 
lichkeit zu geben, mußte er die Selbſtlaute heranziehen. Ihre Verwendung regelte er aus 
dem Beſtreben heraus, den Bau der diatoniſchen Tonleiter, d. h. deren Ganz; und Halbtonfolge 
für Ohr und Auge fofort erhör- bzw. erkennbar zu geſtalten und dadurch beiden eine ſichere 
Stütze beim Leſen und Singen zu ſchaffen. Da ſieben Stufen mit Selbſtlauten zu verſehen 
waren, aber nur fünf Laute zur Verfügung ſtanden, kam ihm der in ſeiner Einfachheit geniale 
Gedanke, die Ganztonſchritte durch Fortſchreitung von Laut zu Laut, die Halbtonſchritte indes 
durch Wiederholung desſelben Lautes zu kennzeichnen. Praktiſch dargeſtellt hieß dann die 
Namenreihe z. B 
für G-Our: la fe ni bi to gu pa la, ober 


für BOur: ke bi to mo fu la fe ke, ober 
für C Moll: bi to mo fu la da (1) ni bi uſw. uſw. 
— 


Die Halbtonſchritte von der 3 zur 4 und von der 7 zur 8 traten durch di eſe Tonworte mit völliger 
Klarheit aus Lautbild und klang hervor; ebenfalls konnte es bezüglich des übermäßigen Ton- 
ſchrittes von der 6 zur 7 im dritten Beiſpiel keine Mißdeutung mehr geben: in der Folge a—i 
fehlte das e, an deſſen Stelle der Laut für den nächſten Ton trat, außerdem waren die beiden 
Mitlaute f und k Überfprungen; folglich mußte es fic hier um die übermäßige Sekunde handeln, 
d. h. um den dritten Halbton von „da“ aus. In dieſer Weiſe kam eine wunderbar geſetzmäßige 
L natüurlich-wiſſenſchaftliche — Ordnung in die Reihe der Tonworte. Aber Eig ging weiter. Es 
kam nämlich in dieſen Tonworten auch das wirkliche Verwandtſchaftsverhältnis der Halbtöne 
untereinander zum Ausdruck. Wenn die herrſchende abod-Benamfung fis von f und ges von g 
„ableitet“, dann tut ſie nämlich das Gegenteil deſſen, was auf Grund der Schwingungszahlen 
der betreffenden Töne recht und richtig iſt; denn der Halbtonſchritt f — fis iſt um ein Geringes 
größer als der Halbtonſchritt f — ges. Dürfte hier alſo überhaupt von „Ableitung“ geredet wer- 
den, dann nur in dem Sinne, daß ges von f und fis von g ſtamme. Die üblichen Namen ſtehen 
mit den akuſtiſchen Tatſachen in völligem Widerſpruch und leiſten gar nichts in bezug auf die 
ſprachliche Darftellung der wirklichen Tonverhältniſſe. Eig hat dem abgeholfen und durch feine 
einfachen neuen Namen ſprachlich zum Ausdrucke gebracht, was an Beziehungen der in der 
Muſik verwandten Töne wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt iſt. Seine Namen find darum ein Der- 
anſchaullchungsmittel der Converhdltniffe, wie es ein klareres m. W. nicht gibt; fie ſtellen in 
ihrer Gefamtbeit eine ausgezeichnete Begriffs-, eine ihren Zweck voll und ganz erfüllende 
Tonſprache dar, deren ſachliche Grundlagen und äußere Zeichen in der Seele des ſich ihr 
Bedienenden eine unbedingt ſichere Verbindung miteinander eingehen. Die vorhin beſprochenen 
Halbtonverwandtſchaften z. B. nehmen ſich in Eitzſchen Tonworten ſo aus: 


cis — d = ro — to, b — a 2 fe — fe, 
dis — e mu — gu, as — g = ba — la, 
e— f= gu — fu, ges — f = pu — fu, 
fis — g = pa — la, es — d = mo — to, 
gs — a = be — fe, des— c= ri — bi. 
ais — h = fi — ni, 

h—c ni, bi; 


Die Tonwortlehte von Rarl Cig 445 


Die Namen mit Doppelkreuz oder = be weifen die gleiche tadelloſe Ordnung auf; es gibt eben 
ſchlechthin nichts an Eitzens Tonwortſpſtem, was logiſch nicht glatt aufginge. 

Mich ſelbſt hat anfangs das Fremdartige der Eitzſchen Namen abhalten wollen, einen Verſuch 
mit ihnen zu wagen. In Wirklichkeit iſt nichts leichter, als das Erlernen feiner ſprachlichen Ton 
zeichen: fängt man doch nicht mit allen auf einmal an, ſondern mit dreien, nämlich ben dreien 
fie den erſten Dreiklang, den man üben will — fagen wir bi — gu — la = c - e — g. Für 
den darauffolgenden Dreiklang der 4. Stufe: fu — fe — bi = f — a — c find zwei weitere 
neue Namen und für den Oreiklang der 5. Stufe la — ni — to = g h d wieder zwei 
neue nötig, macht im ganzen fieben Namen. Mit diefen ſieben Worten — den Namen der Ton- 
leiter bi to gu fu la fe ni bi — wird monatelang gearbeitet, ehe der erfte weitere — pa oder fe, 


je nachdem, ob 1 man G- oder F-Dur zuerſt vornimmt — drankommt. Und fo geht das im Laufe 
von acht Schuljahren Schrittchen um Schrittchen fort, bis alle 21 Namen gelernt find, Die 
25 Buchſtabennamen lernen die kleinen in einem Sabre! 

Qn der Neuartigkeit der Namen liegt alſo keine Schwierigkeit; fie ſcheint nur erſt vorhanden 
zu ſein. Der Lehrende braucht zu Anfang nicht mehr von ihnen zu können, als er an ſeine 
Schüler heranbringen will, alſo drei Stuck; alle anderen eignet er ſich mit ihnen an. Im Laufe 
der Zeit lernt er meiſt auch ſelbſt erſt den ſchlichten Wunderbau des Syſtems voll erkennen; 
die Beherrſchung des Syſtems iſt eben gar nicht Vorbedingung zum Gebrauch ſeiner Elemente. 
hernach fügt ſich immer alles Einzelne lücken und reibungslos zum Ganzen. 

Soll nun der Geſangunterricht nach Eitz zum Zwange werben? Nein! Eitz ſelbſt wollte das 
nicht; und niemand kann das wollen, bem die Freiheit in der Wahl der Unterrichtsmittel wert; 
voller erſcheint als die Nötigung zum Gebrauche ſelbſt des beſten. Was wirklich gut iſt, hat nicht 
zu fürchten, daß es untergeht.. . Zum Schluſſe fei es mir erlaubt, auf ein paar Schriften hin- 
zuweiſen, die in die Tonwortlehre und Tonwortübung einführen: 1. Karl Eitz, Der Gefang- 
unterricht als Grundlage der muſikaliſchen Bildung (Klinkhardt, Leipzig); 2. Oskar Meſſmer, 
Hie Tonwortmethode von C. E. (Banger, Würzburg); 3. Frank Bennedik, Hiftorifde und 
pſpchologiſch-muſikaliſche Unterſuchungen (Beltz, Langenſalza); 4. Suſtav Sötze, Oeutſche 
Geſangſchule (Vieweg, Berlin); 5. Fr. Bennedik und Adolf Strube, Tonwortfibel und Ton- 
wortliederbuch (Merſeburger, Leipzig); 6. Simon Breu, Das elementare Notenſingen (Stirs, 
Würzburg). 

Ein ſauerländiſcher Lehrer, der auf meine Anregung hin in feiner einklaſſigen Schule mit dem 
Singen auf Eitzſche Tonworte begonnen und ſchon bald zu feiner und der Kinder Freude Schönes 
erteicht hatte, ſagte mir ſpäter dem Sinne nach: „So, nun weiß ich, daß vor allem meine Mädchen 
etwas aus der Schule mitnehmen, was ihnen die ganze Zeit ihres Heranwachſens über ftündlich 
von Wert fein wird. Haben die jungen Dinger bei uns da oben doch nicht viel mehr an Unter- 
haltung und Ergötzung als das Singen. So leicht wie jetzt iſt uns das Singen aber früher nie 
geworden, ſoviel haben wir nicht geſungen und erſt recht hat ſich nie eines meiner Kinder allein 
in einem Liederbuch zurechtfinden können. Das alles iſt aber jetzt ſo und wird, wie ich feſt glaube, 
für viele ein Segen werden.“ Viele Lehrer in Stadt und Land in ſolchem Glauben bei der 
Arbeit, müffen dem deutſchen Singevolke ein Segen, weil eine Erlöfung aus der Haft der zer; 
mürbenden Zeitlaufte werben. Reinhold Zimmermann 


Cagebuch 


Notzeit und Praſſer Vernunft ward Unſinn Der Barla 
mentarismus am Ende Die Diktaturen Italieniſche Ent: 
wicklungen und Gefahren Argerniſſe König Chriſtus 


ine Tanzſchule lud mich ein. Sie will „ein Feſt in der Hölle“ ſteigen laſſen. 
E „Seine Hoheit Pluto, Fürſt der Unterwelt, entbietet alle Getreuen in ſein 
Reich. Teufel, Hexlein, Trolle und Waldſchrat erwarten das ganze luſtige Erden⸗ 
volk zu tobender Ausgelaſſenheit.“ Ich dachte an die anderthalb Millionen Ar- 
beitsloſer und zerriß das Blatt. 

Sagte nicht Schacht, unſre Notlage verſtatte künftig der deutſchen Frau nur 
noch alle zwei Jahre einen neuen Hut? Sie ſcheint aber den Neureichen fogar 
noch Silveſterſchmäuſe bei Adlon, Briſtol, Eſplanade zu verſtatten; das trockene 
Gedeck zu 35, 30 und 27 Mark. In der „B. Z.“ las ich die Speiſefolgen: Gänfe 
leberpaſtete in Champagner-Gallert, Schildkrötenſuppe, Seezungenfilet Moskovite, 
Helgoländer Hummer in Portwein, Rehrücken St. Hubertus, getrüffelte Poularde, 
Silveſterbombe und dergleichen Mundwäſſerndes mehr. Auf der nächſten Seite aber 
ſtand, daß in der Weihnachtswoche 74 Verliner Selbſtmord verübt haben. Und der 
Handelsteil berechnete für 1925 10933 Konkurſe gegen 249 des Inflationsjahres 1923. 

Der Teufel hält uns am Kragen; ſeine Grauſetatze hat kräftig zugepackt. Aber 
unſer „luſtig Erdenvolk“ ſpürt ihn nicht. Vielmehr dünkt es ihm ein köſtlich Ding, 
ſelber einmal den Teufel zu ſpielen; zum mindeſten Hexlein, Troll oder Waldſchrat. 
Nun haben wir die Republik, worin keiner das Überflüſſige beſitzen ſollte, bevor 
jedem das Nötige geworden. Und trotzdem dieſe Silveſterſchlemmereien mit ihrem 
leichtfertigen „Nach uns die Sintflut“?! 

Wir verloren den Krieg, verloren Land und Leute, verloren unſer Vermögen. 
Schlimm; aber weit ſchlimmer, daß wir zu alledem auch noch den Charakter ver- 
loren haben! Und den Menſchenverſtand obendrein. 

War da im Kohlengebiet eine kränkelnde Zeche. Jedoch beſtand die Möglichkeit 
des Weiterbetriebs, wofern ſich das Perſonal den Lohn bloß um ein Sechzehntel 
kürzen ließ. Selber war es auch bereit, aber die Genoſſen von der Gewerkſchaft 
verboten es. Der allgemeine Zwangstarif fei da, er dürfe um keinen Preis durch 
löchert werden. Zugeſtändniſſe drehten nur den Strick, woran man den Arbeiter 
morgen aufhänge. So wurde der Vorſchlag abgelehnt, die Zeche daher ſtillgelegt. 
Fünfhundert Familien leiden Not und fallen der Gemeinde zur Laſt, die ſelber 
Not leidet; aber Karl Marx hat geſiegt, und der Tarif iſt gerettet. 

Was wohl der amerikaniſche Arbeiter in ſolchem Falle täte? Sein ausgeprägtes 
„Ich- bin- ich“-Gefühl würde törichten Bevormundern ungemütlich aufs Dach ſteigen. 
Wie teuer, ſo hieße es da, er ſeine Arbeit verkaufe, das bleibe ganz und gar ſeine 
perſönliche Sache. Gut verdienen ſei ſchön, aber ſchlechter verdienen immer noch 
beſſer als gar nicht verdienen. Wenn man von der Induſtrie leben wolle, dann 
müſſe dieſe erſt ſelber einmal leben können. 


Zürmers Tagebuch 447 


Solche Schlüffe find aber zu logiſch, als daß deutſche Parteifunttiondre fie zu 
ziehen vermöchten. Stimmenbuhleriſche Blindlingspolitik hat unſrem kriegs 
geſchwächten, rohſtoffberaubten, reparationsbelaſteten Großgewerbe noch andert- 
halb Milliarden Soziallaſten mehr als vor dem Kriege aufgebürdet. Man bedachte 
wenig, aber beſchloß viel und ſieht jetzt verblüfft die abſonderlichſten Auswüchſe 
wuchern. Der Bergknappe tritt mit fünfzig Jahren in den Ruheſtand. Auf alle 
Falle tut er's; auch bei voller Kraft und Luſt zu weiterem Schaffen. Denn er 
erhält ja mehr Rente als ein Vollarbeiter Lohn. Wenn der Mann ſtirbt, dann iſt 
dies für die Frau ein menſchlicher Verluſt, aber ein wirtſchaftlicher Vorteil; ihr 
Witwengeld iſt nämlich höher, als was er in ſeinen beſten Jahren heimbrachte. 
Viele Betriebe könnten ſich und ihrer Belegſchaft über dieſe Notzeit mit Kurzarbeit 
hinweghelfen. Aber wer bequemt ſich dazu, wo dann ſein Verdienſt niedriger wäre 
als die Erwerbsloſenbeihilfe, um die er keinen Finger zu rühren braucht? Daß 
Nichtstun beſſer bezahlt wird als Tun, ijt an ſich ſchon eine Ungereimtbeit, nun 
gar jetzt, wo Deutſchland erzeugen muß, um zahlen zu können, und daher ſelbſt 
den Landſturm der Arbeit aufbieten müßte. 

Hat noch kein Sozialdemokrat erkannt, wie hirnlos es iſt, zugleich die Völker- 
verbrüderung und den Klaſſenhaß zu pflegen? Wer die Vereinigten Staaten von 
Europa will, der ſollte doch zunächſt einmal die Vereinigten Stände und Parteien 
Deutſchlands erſtreben. Wie weit wir aber noch davon ab, das verriet die Kabinetts 
kriſe, womit wir das neue Jahr ganz ebenſo begannen wie das alte. 

Hat der Parlamentarismus Sinn und Verſtand, dann iſt Regierungsübernahme 
nicht nur ein Recht, ſondern die Pflicht der ſtärkſten Partei. Sträubt fie ſich, zer- 
ſchlägt ſie gar das Kabinett, das dann ohne ſie zuſtande kam, ſo zerſchlägt ſie nicht 
nur jede vaterländiſche Politik, ſondern auch den Parlamentarismus. 

Minifter fein verlangt freilich in unſren ungeheuren Wirtſchaftsnöten den Mut 
zur Unpopularität. Je demokratiſcher die Partei, deſto ſchwächer nun leider gerade 
dieſe Spielart der Herzhaftigkeit. Ein ſozialdemokratiſcher Kanzler müßte ſeine 
phraſenberauſchten Genoſſen zunächſt einmal ernüchtern und entblenden. Er müßte 
ihnen ſagen, was Fritz Ebert, der Sohn, kürzlich in einem tapferen Heftchen ſchrieb: 
Der Umſturz hat uns kein Schlaraffenland, ſondern ein Verhängnis gebracht. Go- 
zialiſierungen bei wirtſchaftlichem Niederbruch find ein Unſinn. Erpreßte Lohn- 
beſſerungen ſchlagen ins Gegenteil um, wenn der Staat darob erliegt. Wer für Er- 
füllung ſchwärmt, der muß die Wirtſchaft fo ſtellen, daß fie erfüllen kann. Wenn 
man aber das Dawes-Abkommen vorn einſpannt, erhöhte Fürſorgeanſprüche hin- 
gegen hinten, dann wird der Wagen der deutſchen Induſtrie in Stücke geriſſen 
und der deutſche Werkmann endet als der Leibeigene ausländiſchen Kapitals. 

Die Not ſchreit, die kommuniſtiſche Umſturzgefahr wächſt. Um allen Möglich- 
keiten gefeit zu fein, bedarf es einer breiten, ſtarken Zentralgewalt. Die Sozial- 
demokratie rühmt ſich der Maſſe hinter ihr. Gerade darum hätte ſie den Mut zur 
Wahrheit haben müſſen. Statt deſſen macht fie es wieder wie damals beim Mu- 
nitionsarbeiterſtreik. Weil man Severings politiſche Kinder fürchtet, treibt man 
deren politiſche Kinderei ſelber mit. 

Zentrum und Demokraten haben geworben und gewarnt. Wenn die ſozialiſtiſche 


448 Zürmers Tagebuch 


Linke ſich als Klaſſenpartei ifoliere, dann handle fie wie Kaiſer Wilhelm IL, als er 
das engliſche Bündnis abwies. Sie habe nur zu wählen zwiſchen zeitweiſem Verluſt 
an Stimmen und ſchleichendem Anſehensverluſt der Republik, der Demokratie und 
des Parlamentarismus. Auch Noske und Braun, ſelbſt Severing und Scheidemann 
redeten zu, aber fie unterlagen der Verantwortungsſcheu und der Angſt des un- 
ſchöpferiſchen Nörglers, dem plötzlich zugerufen wird: „Nun zeige, was du kannſt!“ 

Noch höhere Warte hat Hellpach erſtiegen, der demokratiſche Gegenkandidat 
Hindenburgs in der Präſidialſchlacht. Solcher Fraktionismus führe in den Sumpf. 
Es liege gar nichts Beunruhigendes darin, wenn Deutſchland mit dem parla- 
mentariſchen Syſtem breche. Die beiden echteſten Demokratien der Welt 
haben es nicht und daher auch keine Kabinettskriſen. In Amerika ernennt der Präſi- 
dent die Miniſter, und fie bleiben, ſolange es ihm, nicht folange es den gejeggeben- 
den Körpern gefällt. In der Schweiz werden die Bundesräte zwar gewählt, aber 
nicht auf Widerruf, ſondern auf feſte Zeit; fo etwa, wie bei uns die Oberbürger- 
meiſter. 

Hellpachs Wort wird nicht verhallen. Ein Demokrat, der die Verfaſſung ent- 
demokratiſieren will! Aber er tut es in der klugen Einſicht, daß nur Umbau dem 
Amſturz vorbeugt. 

Beiſpiele warnen. Wo es der Parlamentarismus gar zu närriſch treibt, da ſteht 
eines Tages die Diktatur auf. Gleich am erſten Januarſonntag erlebte die Welt 
binnen drei Jahren den dritten Schulfall. 

„Wir müſſen ſparen“, erklärte General Pangalos in Athen. Wir auch. „Die 
Parteiführer haben jede vernünftige Regierung durchkreuzt“; ganz wie bei uns. 
„Der Parlamentarismus hat uns ins Elend geritten“; als ob ein Deutſcher ſpräche! 
So wurde die Diktatur verkündet, und es grüßte fie hallender Hochruf der Regi- 
menter. Sofort verſpürte man heilenden Zwang, wie er früher gefehlt. Der Leut- 
nant Theſeus Pangalos machte ſich mauſig; kurzerhand ſtieß ihn der Vater aus 
dem Heere wegen ſchlechter Mannszucht. 

Auch auf der pyrenäiſchen Halbinſel hat ſich die Diktatur bewährt. Ihre ſchweren 
Gefahren hingegen entpuppen ſich auf der apenniniſchen. Im zariſtiſchen Rußland 
lebten die Deutſch Balten zehnmal beſſer als jetzt die Deutſch Tiroler im faſchiſtiſchen 
Italien. Deren Leiden machen uns das Bruderblut ſieden. Der Geiſt von Locarno 
weht am Brenner nicht; ſo wenig wie übrigens in Paris, trotz Briands glatten 
Reden. Hier wird der verſprochene Abbau der rheiniſchen Veſatzungen verweigert, 
dort Marinettis Meute auf ein wehrloſes Splittervolk gehetzt. 

Jahrzehntelang hat Italien für das Nationalitätenprinzip geeifert und nach den 
erlöſten Brüdern geſchrien. Jetzt find all die ſchönen Grundſätze verweht, und man 
mißhandelt fremdes Volkstum mit Maulkorb, Ketten, Reitpeitſche und Rizinusöl. 

Oer italieniſche Staat kam in zwei Menſchenaltern empor; aber nicht durch Er- 
folge, ſondern trotz Niederlagen. Seine Bündniſſe waren glücklicher als ſeine Waffen, 
und man hatte den Zufall zum liſtigen Freunde. 

Je unverhoffter der Sieg, deſto toller überſchlägt ſich der Siegesüͤbermut. Wie 
er ſich jetzt in dem Lande, wo die Zitronen blühen, gebärdet, das wird ſchon ein 
reizvolles Studium für Nervenärzte. Marinetti paukt der Jugend Schlagſätze ein: 


Türmers Tagebuch 449 


„Italien iſt göttlich“; „jeder Fremde hat Ztalien mit religiöſer Ehrfurcht zu be- 
treten“; „der letzte Italiener gilt mehr als tauſend Fremde“. Dergleichen ſteckt an, 
und italieniſcher Volkagrößenwahn iſt die Hauptfriedensgefahr des neuen Europas. 
Dort unten grollt und brüllt es wie im Krater des Veſuvs; der Völkerbund gleicht 
einem Pompeji am Vorabend des großen Ausbruchs. 

Wie hat ſich doch der italieniſche Arbeiter gewandelt! Keiner war erpichter auf 
den blutroten Umſturz als er, und er ſchwur auf den weltbefreienden Stich des 
Dolches. Caſerio, Luccheni, Bresci, die Mörder Sadi Carnots, der Gemahlin Franz 
Sofephs und des Königs Humbert, find ſämtlich italieniſche Anarchiſten geweſen. 
Gegen hunderttauſend riefen dann „Krieg dem Kriege“ und zerriſſen den Geſtel 
lungsbefehl. Im Herbſt 1920 kam es in Oberitalien zu bolſchewiſtiſchem Aufruhr; 
die Fabriken wurden ſyndikaliſiert, und die rote Fahne flatterte darüber. In jenen 
Tagen entſtand der Faſchismus als Rückſtoß, glühend gehaßt von der roten Arbeiter- 
ſchaft, der er blutige Kämpfe lieferte. Wo ſind die Anarchiſten, Syndikaliſten und 
Bolſchewiſten von damals? Im ſchwarzen Staubhemde paradieren ſie vor dem 
Duce; ihr Ave ſchallt und ihre Rechte reckt ſich zum Kaiſergruß der römiſchen 
Legionäre. Warte nur, balde machen ſie den einſtigen Steinträgerſtift zum Im- 
perator Romanus. 

Nimmt es wunder, daß unſere Sozialdemokratie bei dem Namen Muſſolini 
immer gleich hochgeht? Was da im Süden einſetzt, das iſt die Gegenbewegung 
des zwanzigſten Jahrhunderts gegen die demokratiſche des neunzehnten. Sie hatten 
geglaubt, mit dem Zeitwinde zu ſegeln, nun melden die drei Halbinſeln Südeuropas 
ſchroffen Wetterumſchlag. Dazu am italieniſchen Beiſpiel die bittere Erkenntnis, 
wie wenig Verlaß doch iſt auf die Maſſe, das berühmte reifgewordene, zielbewußte, 
werktätige Volk. Wer ihr den Kopf warm macht, der hat ſie, und wenn nur der 
richtige Heißmacher kommt, dann flutet fie von knallroter Weltbürgerlichkeit bran- 
dend hinüber zu himmelblauſtem Völkiſchſein. 

Daher die hirnzerfreſſende Angſt vor einem deutſchen Faſchismus, einem deut- 
ſchen Muſſolini und einer deutſchen Diktatur. Herr v. Löbell ſchrieb, wenn fogial- 
demokratiſche Störrigkeit kein Kabinett aufkommen laſſe, dann bleibe nur der Aus- 
nahmezuſtand. Und ſofort tobte die Linkspreſſe wie eine Raſſelbande von Haber- 
feldtreibern. 

Was war denn an dem Hinweis ſo verbrecheriſch? Der Verfaſſungsartikel 48 
iſt doch da, damit man ihn gebraucht im Falle des Bedarfs. Aber ſelbſt wenn er 
nicht wäre; Zwangsläufigkeiten verhindert kein Geſchrei. Eine Diktatur kommt alle- 
mal, ſobald der letzte Glaube an Parlamentarismus und Parteiweisheit erliſcht. 
Abwenden kann fie nur Vernunft und Umkehr, derweil Starrſinn und Abwehr- 
angſt nur wie bei der Schickſalstragödie erbauend vollendet. 

Mit Satzungen iſt nichts getan; der Volkscharakter, in dem liegt alles. Das beſte 
Staatsgrundgeſetz verſagt am ſchlechten Staatsbürger. Macht die Deutſchen beſſer 
als ſie heute ſind, und es wird von ſelber beſſer ums Vaterland. 

Anſre Linksleute behaupten, früher ſei's auch nicht anders geweſen. Schaden- 
froh krebſen ſie daher mit der Enthüllung, daß der Haupturheber unſres deutſchen 


Unbeils, der Herr v. Holſtein, ein politiſcher Börſenſpieler geweſen. Er der 
Der Türmer XXVIII, 5 


450 Zürmers Tagebuch 


Mann war geiſteskrank; er ift arm geſtorben, weil er feinen Marktgewinn irrſinnig 
zu einer weltumſpannenden Beſpitzelung unſres geſamten auswärtigen Dienſtes 
vom Votſchafter bis zum Attachs verbrauchte. 

Krieg und Umſturz ſind — je länger, deſto mehr — üble Menſchenverderber. 
Große Naturen machen ſie zwar größer, aber kleine dafür um ſo kleiner. Da es 
nun viel mehr kleine als große in der Welt gibt, ſo iſt auch das Geſamtergebnis 
betrüblich. Zm In- wie im Auslande reißen die Argerniſſe nicht mehr ab. 

Prinz Windiſchgrätz, aus einer jener deutſchen Fürſtenfamilien Öfterreichs, die 
ſich mit ihrem Grundbeſitz haltlos vertſchechten und madjariſierten, war k. k. Kam- 
merherr und Geheimer Rat, dazu ungariſcher Ernährungsminiſter. Seine Aben- 
teurernatur vergeudet ein ungeheures Erbgut und ſchlägt ſich dann hochſtapelnd 
durch die Welt, bis ſie beim Notenfälſchen anlangt. 

Ein gemeiner Spitzbubenſtreich, der ins Zuchthaus führt. Aber wie viele politiſche 
Spitzbubenſtreiche dieſer eine ſofort auslöſte! Jede Partei hängt den Fälfcher- 
prinzen flugs ihrem Gegner an die Rockſchößen. Sein Schwindel wird ihr Schwin- 
del; aus den Scheinen, die er ſtechen ließ, ſchlagen ſie Kapital. Die Republikaner 
beweiſen an ihm die Verworfenheit der Monarchiſten. Die Linksradikalen laſſen 
melden, Anſtifter ſeien unſre Völkiſchen. Die Tſchechen beſchuldigen den ungariſchen 
Staat, verlangen Einſchreiten des Völkerbundes und bieten ſich mit verdächtigem 
Eifer als Gerichtsbüttel an. Die Franzoſen find ſittlich erboſt und verlangen aus- 
giebigen Schadenerſatz. Sie haben offenbar vergeſſen, daß eine feindliche Noten- 
preſſe in jedem Kriege zu Napoleons notwendigſter Feldausrüſtung gehörte. Aber 
es iſt erſt drei Jahre her, daß ihr Heer an der Ruhr unfertiges deutſches Papier- 
geld beſchlagnahmte, ſelber mit Nummern verſah und die Annahme bei den Kauf- 
leuten durch Gefängnisſtrafen erzwang. War das etwas anderes als Windifd- 
grätziſche Fälſchung? 

Wie widerwärtig iſt auch der Zank um die Fürſtenvermögen! Von „Abfindung“ 
ſpricht die Linkspreſſe und führt ſchon damit irre. Es handelt ſich vielmehr um 
reinliche Scheidung zwiſchen Staats- und Privatbeſitz, ſchwierig dadurch, weil der 
Vormärz fürſtliches Eigentum und fürſtliches Nutzungsrecht meiſt ſchlecht oder gar 
nicht auseinanderhielt. Da hilft nur guter Wille auf beiden Seiten und ſtatt fette 
Prozeſſe der magere Vergleich. 

Wieder wurde der Volksentſcheid verlangt. Der Wähler ſollte Richter ſein in 
eigener Sache. Schon ſetzten Beſtechungsverſuche ein: von den eingezogenen Mil- 
lioner könne man der ganzen Wohnungsnot ſteuern. Volksverſammlungen erhoben 
den Vorſchlag „mit Begeiſterung“ zum Beſchluß. Der ſouveräne König beugte ſich 
einſt dem Einſpruch: „Ja, wenn das Kammergericht nicht wäre!“, das ſouveräne 
Volk aber ſagt: „Das Kammergericht bin ich.“ 

Nein; Recht bleibe Recht auf ſeiten des Staates. Dafür muß Takt freilich auch 
Takt bleiben auf ſeiten der Fürſten. Adel verpflichtet; erſt recht Geſchlechter, denen 
die Geſchichte einen heiligen Beruf zuerkannt und mit Ehrfurcht umgeben hatte. 
Es verdrießt, daß, wo der Bürger kaum um das Zehntel aufgewertet wurde, jetzt 
einige von ihnen trotz Wirtſchaftsnot und Daweslaſt auf voller Aufwertung be- 
harren. Über alle Bäume aber ſteigt das mecklenburgiſche Anſinnen, der Staat folle 


Zürmers Tagebuch 451 


die unehelichen Kinder des letzten Großherzogs abfinden und die Leibgedinge 
zweier Mätreffen übernehmen. Wo bleibt da die Wurde und ſelbſt die ganz gewöhn- 
liche Vorſicht? Gegen ſolches Schamvergeſſen muß gerade der Monarchift brein- 
fahren mit dem ganzen lodernden Zorne eines Reichsfreiherrn vom Stein. Das 
Reichsbanner plant für des Kaiſers Geburtstag Kundgebungen gegen die „Fürſten⸗ 
hyänen“ und Werbeabende für die demokratiſche Republik. Merkt ihr Hoheiten, 
ihr Fürſtenräte und Hofmarſchälle, was ihr angerichtet? 

Der Papſt will einen neuen Feſttag ſchaffen, dem König Chriſtus geweiht. An 
ſich ein Gedanke, ſinnig und zeitgemäß. König Chriſtus iſt der Diktator, den unſre 
verwahrloſte Gegenwart braucht. Er iſt erprobt und hat gezeigt, daß er Teufel 
austreiben, Beſeſſene heilen kann. Nur ſollte der Vatikan bedenken, daß ſein Reich 
nicht von dieſer Welt, ſein Thron vielmehr in den Herzen erbaut ſein will. Durch 
die Gewiſſen regiert er, nicht mit weltlicher, ſondern mit ſittlicher Macht. Wo aber 
die Seelen erwachen, da werden Menſchen, die bei jedem Tun, bei jedem Laſſen 
zu Rate gehen: „Wie wirkt es auf die Nächſten, wie wirkt es aufs Vaterland?“ 
Bei jedem, ob es ſich um Kabinettskriſen handelt, um Notlagen, um Locarno- 
Verträge, um Vermögensverzichte oder Faſchingsfeſte beim Fürſten der Unterwelt. 

Wenn man vergleicht, wie es ſein müßte und wie es hingegen iſt, dann möchte 
man verzweifeln. Seltſam jedoch, daß die andern dabei nicht an uns irre werden 
trotz alledem. Zur Wende des alten Jahres haben die Sterndeuter das Horoftop 
des neuen geſtellt; Wahrſagerinnen die Zukunft geleſen aus Karte und Kaffeeſatz. 
Für Frankreich kam allerhand Dunkles heraus; ſelbſt bei der Vie und der Freya, 
den beiden berühmten Pythien von Paris. Allein alle und ſelbſt ſie künden dem 
geſundenden Deutſchland Heilung und dämmerndes Heil. 

Wie gerne glaubte man! Wer jedoch hat dazu den Mut? Das Erlebnis eines 
furchtbaren Jahrzehntes hat uns politiſch zu Thomaſſen gemacht, die ſehen wollen, 
bevor ſie glauben. Das Vertrauen iſt ſchwach geworden und bedarf zur Stärkung 
der Beweiſe. Es will Ernſt ſehen und hohen Sinn, einiges Handeln bei neuem Fleiß 
und neuer Sparſamkeit: nicht Silveſterſchmäuſe bei Adlon und nicht Höllenfeſte mit 
Teufel, Herlein, Troll und Waldſchrat! F. H. 


Abgeſchloſſen am 21. Januar 1926. 


Guſtav Schröer 


feierte am 14. Januar feinen 50. Geburtstag. 
Daß der „Türmer“ auf dieſen Tag hinweiſt, 
dazu hat er ein volles Recht. Denn G. Schröer 
gehört zu den Schriftſtellern, die ſich, wie der 
Herausgeber des „Türmers“ es vorbildlich ge- 
tan hat, der naturaliſtiſchen Welle eines Lite- 
ratentums entgegenwerfen, das im materiali- 
ſtiſchen Strom der Zeit ſchwimmt und dem 
relativiſtiſchen Zug der Libertiniſten huldigt. 
Nichts davon bei Schröer. Er iſt in dieſem 
Sinne ganz unmodern. Er hat das Wort des 
Freiherrn vom Stein vor Augen, der ſagt, ein 
Volk könne ſich nur erhalten durch die Tugen- 
den, durch die es groß geworden iſt. Er ſchreibt 
aus der Seele des Volksteils heraus, der, ab- 
feits von der in ewigem Wedel begriffenen 
Fabrikarbeiterſchaft, fein wurzelhaftes Dafein 
führt und den bleibenden Grundſtock der Na- 
tion bildet. Dazu konnte ſich Schröer angeregt 
finden, da er als junger Lehrer, in ein Dorf 
des oberen Saaletals verſchlagen, mehr als 
zwei Jahrzehnte lang Erfahrungen und Ein- 
drücke zu ſammeln in der Lage war. Sein erſtes 
Buch, „Der Freibauer“, ſchrieb er im Alter von 
38 Fahren. Dieſes und alles, was er ſonſt 
herausgab, wurzelt lan dſchaftlich in Thüringen, 
das ihm, neben der kürzlich verſtorbenen Re- 
nate Fiſcher, köftlihe Schilderungen von Land 
und Leuten verdankt. 

Mit Recht preift man ihn als einen Haupt- 
vertreter des neuen deutſchen Bauernromans. 
Wird dabei hervorgehoben, daß die Haupt- 
geftalt aller feiner Bücher „der großzügige 
Bauer“ ſei, ſo darf darin nicht ein verſtecktes 
Bedenken geſucht werden, ob wohl die Zeich⸗ 
nung der Thüringer Bauern ganz echt ſei. 
Durchaus echt und begrüßungswert ijt das Be⸗ 
ſtreben Schr ers, die ſittlichen Werte der Per- 
ſonen und Geſchehniſſe herauszuarbeiten. Es 
iſt eine reine Luft, die in ſeinen Romanen 
weht. Und das tut in unſerer materialiſtiſch 
durchſeuchten Zeit doppelt gut. Man wird bei 
der Lektüre ſeiner Romane ſogleich gefeſſelt. 
Man intereſſiert ſich für die auftretenden, 


tedenden und handelnden Perſonen und folgt 
mit Spannung ihren Schickſalen bis zum 
Schluß. Daraus erklärt ſich auch die Tatſache, 
daß ſeine Bücher ſehr bald eine zahlreiche 
Leſerſchar gefunden haben. Die „Flucht aus 
dem Alltag“ erlebte binnen eines Jahres drei 
ſtarke Auflagen. 

Damit erſchöpft ſich aber nicht die Arbeit 
Schrö ers. Seit dem 1. Mai 1922 iſt er Leiter 
der kulturellen Abteilung des, Thüringer Land- 
bundes“ in Weimar und Herausgeber der Zei- 
tung „Der Thüringer Landbund“. Auch gibt 
er ſeit 1½ Jahren die Thüringer Monatſchrift 
„Glaube und Heimat“ heraus, die in Thüringen 
in etwa 65 O00 Exemplaren verbreitet iſt. So 
iſt er der gute Genius des Thüringer Land- 
volkes, was auch dadurch in Erſcheinung tritt, 
daß er an der großen deutſchen Bauernbewe⸗ 
gung lebhaften Anteil nimmt, wie fie in Thü- 
ringen durch Gründung von Bauernhochſchulen 
in Oberellen bei Eiſenach und Neudietenderf 
ſich Boden erwarb. 

So vereinigen ſich in ihm glüdlicherweife 
ſtändige praktiſche Anteilnahme und Fühlung 
mit dem Leben und dichteriſche Ausgeſtaltung 
deſſen, was ihn innerlich bewegt und zur Dar- 
ſtellung drängt. Das Thüringer Volk, und mit 
ihm Geſamtdeutſchland, kann ſich an dieſem 
einfachen, ſelbſtloſen, friſchen Zdealiſten, der 
doch mit beiden Füßen feſt auf der heimat- 
lichen Erde ſteht, herzlich freuen. 

Prof. Dr. W. Rein (Jena) 


„Im Anfang war die Liebe”... 


Iſt wirklich noch etwas Neues zu fagen 

über Malwida von Meyſenbug, die Ver- 
faſſerin der „Memoiren einer Zdealiſtin“? Sie 
ſelbſt belehrt den Ungläubigen eines Beſſeren, 
denn ſie iſt es, die in dieſem Werke das Wort 
führt, ſie einzig und allein. Berta Schleicher, 
die treue und verſtändnisvolle Viographin 
Malwidas, ihre publiziſtiſche Wegbereiterin 
nach dem Tode, hat in mühevoller Arbeit 
etwa dreitauſend Briefe, die über einen Zeit; 
raum von rund 30 Jahren ſich verteilen, ge- 


Auf der Warte 


ſichtet. Einen kleinen Bruchteil hat fie ver- 
öffentlicht, er iſt ſoeben unter dem Titel 
„Malwida von Meyſenbug. Im Anfang war 
die Liebe. Briefe an ihre Pflegetochter“ bei 
der C. H. Beckſchen Verlagsbuchhand— 
lung in München erſchienen. 

Schon ein Brief Buch Malwida v. Meyfen- 
bugs verdanken wir Berta Schleicher, die 
„Briefe von und an Malwida von Menfen- 
bug“, die ungefähr den gleichen Zeitraum be- 
treffen. Handelt es ſich dort um einen Brief- 
wechſel mit verſchiedenen Perſönlichkeiten, ſo 
find hier monologartig autobiographiſche No- 
tizen in einer Fülle gehäuft, die das Buch zu 
einer willkommenen Ergänzung des Me- 
moirenwerks machen. Gerichtet an Olga Mo- 
nod, die Tochter ihrer Wahl, das Kind des 
teuren Freundes Alexander Herzen, ſpiegelt 
{id in dieſen Briefen die ganze Liebesfülle die! 
ſes reichen Frauenherzens. Sie ſollten „eine 
Brüde ſchlagen zu dem geliebten Leben, das 
ſich durch Olgas Verheiratung mit dem Hifto- 
riker Gabriel Monod fern von ihr abſpielte“. 
Volle drei Jahrzehnte, bis zum Tode der 
Briefſchreiberin, haben ſie dies treulich getan. 

Und — erſtaunlich, aber wahr, fie find in- 
zwiſchen keineswegs vergilbt oder verblichen, 
fie leben von warmem Blutſtrom durch- 
rauſcht, als hätte ſie geſtern die Hand der 
gütigen und klugen Schreiberin aufs Papier 
geworfen. Welch vollgültiger Beweis für die 
höhere Kultur einer Zeit, die nach Jahren ge- 
rechnet nicht allzu lange hinter uns liegt und 
die in unſere nüchterne Gegenwart dennoch 
hineinlugt wie ein verlorenes Paradies! Mal- 
wida hat die kommende Entwicklung mit febe- 
riſchem Blick geahnt. Prophetiſch empfunden 
leſen ſich ihre Worte (Rom, Dezember 1875): 
„ . . die Oper iſt ein verfaulter Leichnam, nur 
das muſikaliſche Drama war zu erreichen, und 
Wagner hat es geſchaffen mit unerhörter 
Genialitat. Aber das ift möglich, daß er allein 
bleibt wie Michelangelo und daß nach ihm der 
Verfall kommt, weil man ihn wird nachahmen 
wollen, ohne ihn erreichen zu können, wie es 
mit Michelangelo auch ging. Da wäre dann 
der Verfall der Kunſt überhaupt da, aller 
Kunſt; es bliebe dann nur hübfche Ornamentik, 
Ausſchmückung des Lebens, aber kein großes, 


455 


geniales Schaffen mehr.“ Bei dieſer Deta- ; 


dence, dieſem Epigonentum ſind wir in der 
Tat angelangt, und die Hoffnungslofigteit, zu 
urtimlidem Schaffen zurüdzufinden, wurzel) 
zutiefſt im Bewußtſein vom Verluſt oder der 
Vergiftung unſerer Seele. 

Dieſe finſteren Schatten durchgeiſtern Mal- 
widas Briefe nicht. Sie durchſtrahlt das helle, 
kraftvolle, ſonnige Licht eines tätigen Lebens, 
das alte Tradition und Bande des Blutes 
ihres Deſpotismus entkleidete, um den Men- 
ſchen ſeiner Wahl zu geben, was in ſeinen 
Kräften ſtand. Dies wechſelweiſe Geben und 
Empfangen, das aus dieſen Briefen zu uns 
ſpricht, macht fie zu einer ungemein angieben- 
den Lektüre. Wie Zauberſtrahlen fallen warme 
Schlaglichter auf Gräber, die ſich längit ge- 
ſchloſſen; nochmals entſteigen ihnen in irbi- 
ſchem Gewande unſterbliche Geſtalten, andere 
miſchen ſich darein, die noch unter uns wan- 
deln — der Meiſter von Bayreuth, Coſima, 
der kleine Fidi (Siegfried Wagner), Friedrich 
Nietzſche, Lenbach, Bülow, der ſpätere Ranz- 
ler, Donna Laura Minghetti, der jugendliche 
Romain Rolland und ſo viele andere, ein un- 
ermeßlicher Zug — — — 

Ein unverſiegbarer Lebensquell ſprudelt in 
dieſen Briefen. Es iſt ein nicht hoch genug 
einzuſchätzendes Verdienſt Berta Schleichers, 
daß ſie uns den Zugang zu ihm erſchloſſen hat. 
Auch über ihrem biographiſchen und editori- 
ſchen Schaffen prangt als Leitwort „Im An- 
fang war die Liebe“, der Wahlſpruch, der dem 
Buche den Titel gab, die Worte, mit denen 
Malwida an der Schwelle des Todes Abſchied 
von dem Leben nahm. 

„Lamore fu al prinoipio di tutto.“ 

Dr. M. Leuchs - Mack 


Die Quäker 


En Buch von Julie Schloffer anzuzeigen 
iſt eine Freude, denn welchem Gebiet 
fie auch ihren Gegenſtand entnimmt: immer 
weiß ſie von der erſten Zeile an zu feſſeln, 
immer kleidet ſie ihn in das Gewand ihrer 
warmen, lebens vollen, bildhaften Sprache 
und ihrer vornehmen Auffaſſung aller Dinge. 
Diesmal iſt es die Semeinſchaft der Quäker, 
deren wohltãtig ruhevolles Bild fie in die Zer⸗ 


q 
7 
ae 


454 


riſſenheit unſerer Tage hineinſtellt (Julie 
Schloſſer: Vom inneren Licht, die 
Quäker. Furche- Verlag, Berlin 1926). 

Faſt jedes Kind in Oeutſchland weit heute 
von den Quälern — was aber die meiften von 
uns wiſſen, iſt nur ihr Hilfeſpenden, die aͤußere 
Auswirkung ihres Glaubens, mit dem ſie ohne 
Kompromiß Ernſt machen. Das Buch von 
Julle Schloſſer aber ſpricht vom inneren Ge- 
halt des Quälertums und will ihn, aus deut; 
{her Seele heraus geſehen, den Deutſchen 
näher bringen, als dies bloße Überfegungen 
engliſcher und amerikaniſcher Quaͤkerliteratur 
zu tun vermögen. Mit liebevoll eindringendem 
Nerſtändnis zeichnet fie die Weſenszüge des 
Quälertums, feine Verwandtſchaft mit dem 
Urchriſtentum und der alten deutſchen Myſtik 
eines Meiſter Eckhart, die Vereinigung von 
innerer Stille und Sammlung mit nugbrin- 
gender Arbeit in der Außenwelt, die den 
Quäkern eigen iſt. Der Gegenſatz zu Luther, 
die Stellung zur Bibel und zu Zefus, die 
Wahrhaftigkeit, der Reſpekt vor fremder gen; 
art und Perjönlichkeit, die Freiheit von Autori- 
täten wird klar herausgearbeitet. 

Das Kapitel über die Geſchichte des Quaker; 
tums macht uns mit einigen ſeiner Haupt- 
vertreter bekannt. Vor allem mit feinem Be- 
gründer George Fox, dem Gottſucher, der in 
der gdrenden Zeit des 17. Jahrhunderts aus 
ſeeliſcher Not zu Klarheit und Freudigkeit 
durchdrang und das Quälertum zu einer 
geiſtigen Macht erhob, in Kerker und Der- 
folgung ſtandhlelt und ſeine Botſchaft in die 
Neue Welt hindbertrug — ein Weg, den dann 
fein Freund William Penn durch Gründung 
von Pennfylvanien und Philadelphia weiter 
beſchritt. Der Aufſtieg war verheigungsvoll, 
aber ihm folgten Enttaͤuſchungen, Kränkungen, 
Gegenfadge. Das Quatertum hatte ein ODurd- 
gangsſtadium zu beſtehen, eine Zeit der Flucht 
vor dem Kampf mit Problemen. Es war be- 
droht von der Erſtarrung in Regeln, von der 
Entwicklung zur bloßen Sekte, womit eine Ab- 
nahme der geiſtigen Bildung Hand in Hand 
ging. Aber ſelbſt in ſolchen dürren Zeiten er- 
ſtanden ihm Perſönlichkeiten von ſeltener 
Kraft. Zwei von ihnen zeigt uns Julle Schlof- 
fers Buch: John Woolman, den treuen Kämp- 


Auf der Warte 


fer für die Sklavenbefreiung in Amerika, der 
in ſeinem Weſenszug der Ehrfurcht vor allem 
Lebendigen an eine Geſtalt unſ er er Tage 
— an Albert Schweitzer — erinnert. Und 
Elizabeth Fry, die organiſatoriſch begabte Be; 
gründerin der Gefängnisreform, die die mo- 
derne Fürforgearbeit, auch auf dem Kontinent, 
ſtark beeinflußt hat. 

Das 19. Jahrhundert bringt dem Qudfer- 
tum einen Aufſchwung, neues Leben, neue 
großzügige Arbeitsfelder, ein Aufnehmen 
neuer Probleme; der Weltkrieg vollends hat 
es vor Riefenaufgaben geſtellt, denen es durch 
Hilfswerke auf allen Gebieten in allen Län; 
dern gerecht geworden iſt. Die Zeiten wurden 
wieder wie zu Beginn der Bewegung: es galt 
wieder gegen den Strom zu ſchwimmen, Ge- 
fahr, Verkennung, Sefangenſchaft auf ſich zu 
nehmen. Ein ganzes Kapitel iſt dem Wert der 
Quäler für uns — dem inneren Wert nach 
der äußeren Hilfe — gewidmet, der darin 
gipfelt, daß ihr Chriſtentum durch feine Wahr- 
haftigkeit und Untompligiertheit eine Brücke, 
eine Kraft bedeutet in der einen großen 
Seelennot der Zeit: auf dem fo vielfach ver- 
bauten Weg zu Gott. Zulie Schloſſer über- 
ſieht nicht das weſentlich Angelfähfifche, durch 
die Berhdltniffe Bedingte des Quälertums 
und die viel ſchwierigeren Forderungen, vor 
die es in Deutſchland geſtellt iſt, wo ihm „die 
ruhige Klarheit, der Hintergrund der Tat und 
des Leidens um einer Sache willen“ fehlt. 
Aber es wird in den anders gearteten Ver; 
hältniſſen des Kontinents und unſerer Zeit 
auf den alten Grundſteinen der Bewegung 
ſeinen Glauben aufbauen und Werte, die 
über Zeit und Raum erhaben find, mit herein; 
nehmen. 

In diefen letzten Kapiteln pulfiert Julie 
Schloſſers warmes Fühlen für das Heute und 
für den „kommenden Tag“, für feine Pro- 
bleme und Aufgaben; ihr Auge und Ohr iſt 
offen für alle ernſten Beſtrebungen und Be 
wegungen, die fie vom Schlagwortcharakter 
befreit und maßvoll und gerecht beurteilt. 
Sanz zuletzt weiſt fie den Lefer auf Chriſtoph 
Blumhardt, einen Wegbereiter dem Reiche 
Gottes, für das er mit weitem, freiem Blick 
bedingungslos wirkte, bis in unſere Zeit 


Auf der Warte 


hinein — ja gerade in ihr — Einfluß aus- 
bend. Dem Quälertum verwandt, iſt er in 
ſeiner Vereinigung von Peſſimismus und 
Optimismus ein Prophet, der Albert Schweit- 
zers Wort vom beſonderen Merkmal des 
Chriſtentums verſinnbildlicht. 

Dem Werk vorangeſtellt iſt ein Seleitwort 
des engliſchen Quaters Corder Catchpool, der 
kurz Sinn und Zweck des Buches umſchreibt. 
Doh weit über ihn hinaus reicht fein Wert. 
Starlite Anregungskraft geht von ihm aus — 
auch für den, der vielleicht dem Quälertum 
ganz ferne ſteht. Und was ich ſchon von den 
Blättern ſagen durfte, in denen uns Julie 
Schloſſer das Lebensbild ihrer Mutter ge- 
ſchenkt hat — das gilt auch von dieſem Buch: 
es begleitet uns wie ein heimlicher Segen. 

Berta Schleicher 


Die attiſche Göttin 


r mir liegt die Dezember - Nummer ber 

Bruckmannſchen „Runjt“, die einen aus- 
fuͤhrlicheren Bericht bringt Aber die nach Berlin 
gerettete“ attiſche Göttin. 

Wieder ein Rekord! Wahrlich, es kann uns 
nicht mehr ſchlecht gehen. Unzweifelhaft haben 
wir auf der Leiter des Wlederaufbaues berelts 
eine hohe Stufe erklommen und können herab 
blicken auf die hinter uns zuruͤckgebliebenen 
Volker Europas und der umliegenden Kon⸗ 
tinente. Heil und Sieg! die attiſche Göttin aus 
dem 7. Jahrhundert vor Chriftus iſt für Oeutſch ; 
land gerettet. Für lumpige „eine Million 
Sold mark aus den Händen eines ſchweize⸗ 
tiſchen Konſortiums nach Deutſchland gerettet. 
Jetzt muß es beſſer werden, und die aus allen 
Eden und Enden des fo fiegreihen Deutſch⸗ 
lands ertönenden Klagen und Vergweiflungs- 
ſchreie können nur noch aus dem Mund ein- 
gebildeter Kranker kommen. Heil und Dank 
dem Muſeums direktor Geheimrat W., dem 
hauptſächlich das Verdienſt gehört, dleſe Ret- 
tungsaktion geleitet und zu ſlegreichem Ende 
geführt zu haben. Die Volker der Erde werden 
wallfahren zu dem Tempel dieſer Gottheiten 
und den Lorbeer uns, dem Volke des Retters, 
reichen. 

Im Ernſt: gibt es ein traurigeres Bild 
gegenwartsferner Eitelkeit, als das uns hier 


455 


wieder gebotene Schauſpiel? Hunderte, tau- 
ſende, zehntauſende Künſtler in unferem 
Vaterland hungern und find der Derzweif- 
lung nahe. Und ein Berliner Muſeums direktor 
bringt es fertig, eine Million Goldmark ins 
Ausland zu ſchicken, um eine alte Griechen 
göttin für Oeutſchland zu retten! Noch fo 
wertvoll mag ſie ſein, noch ſo hehr und heilig — 
ich beſtreite den Wert des ſeltenen Stückes gar 
nicht, halte ihn noch für höher, für ben... der 
Aberfluß hat. Aber für das tatſächlich arme, 
immer mehr verarmende Deutſchland? ! Wer 
glaubt im Ausland an die Unmöglichkeit der 
reftlofen Erfüllung des Dawes- Planes, wer 
an unſere wirtſchaftliche Not, wenn wir ſolche 
Streiche vorzuweiſen haben und uns gar noch 
damit brüften? 

Wer kann den Wert dieſer Söͤtterfigur er- 
meſſen, erfühlen, erkennen? Wenn es hoch 
kommt, eine Handvoll Spezialgelehrter. Es 
würde unſerer Wiſſenſchaft und unſerer Kunſt 
keinen Deut Abbruch tun, wenn dieſe Figur 
in der Schweiz, in Paris, in London ſtuͤnde. 
Aber eine Million Soldmark ins Ausland 
werfen — und dabei eine unüberſehbare 
Schar mit der Not kämpfender Künitler 
innerhalb unſerer Grenzen! Wer mit gefun- 
dem Verſtand kann dies faffen? Im Ausland 
gewiß niemand. 

Was hatte dieſe Golbmillion in Oeutſchland 
wirken können! 

Eintauſend Kuͤnſtler — man Aberdente ein- 
mal dieſe Zahl, ſtelle ſich eintaufend Menſchen 
einmal vor —, eintauſend lebende Menſchen 
hätten durch Übernahme eines ihrer Werke 
mit jeweils eintauſend Goldmark für Monate 
der Verzweiflung, mindeſtens bitterer Not ent; 
riſſen werden können. Dieſe eintauſend Kunft- 
werke, wenn auch nur mittleren Wertes, hätten 
unzählbaren Menſchen in Provinzmuſeen, die 
ſicher daran arm ſind, Freude gebracht und 
manch einen davon überzeugt, daß auch un 
ſerer lebenden Kuͤnſtler Erhaltung uns fo nötig 
ift wie das tägliche Brot. Oder weiß der Mu- 
ſeumsdirektor Geheimrat X. B. 8. nichts von 
dieſer Not? 

Welcher der zahlreichen Abgeordneten im 
Reichstag oder in irgendeinem der zahlreichen 
Parlamente in Oeutſchland hat zu dieſer Ver- 


456 


geudung das Wort genommen? Zſt alles nur 
noch Partei und nichts mehr das Antereffe 
der Allgemeinheit? Oder gehören Kunſt und 
Wiſſenſchaft nicht mehr zu den Belangen des 
öffentlichen Volksintereſſes? 

Nun ſteht die hehre Göttin unter uns. 
Sarkaſtiſches Lächeln über unſere Eitelkeit 
zuckt um ihren Mund. Sie lebt — wie jedes 
wahre Kunſtwerk — und wir werden ver- 
gehen; nicht vergehen und mit ihr ins Unver- 
gaͤngliche erhoben bleibt das Kapitel ihrer Ein; 
holung nach dem ruhmreichen Berlin. 

M. K. 


Schillings und der Parteienſtaat 


enau wie zu erwarten war, ſcheint ſich die 

Berliner Schillingskriſe weiter zu ent- 
wickeln: man wechſelt beruhigende Briefe und 
ſcheut auf beiden Seiten die klare, kräftige 
Durchfuhrung eines ernſten Streitfalles. Der 
Kultusminiſter Becker erklärt Schillings für 
einen Ehrenmann und — beſetzt den Poſten 
neu; Schillings bekommt eine andre Stelle 
angeboten, iſt gerührt und — geht! Und 
Keſtenberg und Seelig bleiben. Was für ein 
Schauſpiel! 

In feinem „Deutſchen Volkstum“ beleuchtet 
Wilhe m Stapel dieſen Fall in ſeiner ausge- 
prägten Art: Es iſt kein Konflikt — ſagt er — 
zwiſchen Staatswürde und Künftlerwürde, 
ſondern zwiſchen Künftlerwürde und den hin; 
ter dem Staate ſtehenden Parteien. Näm- 
lich: 

„Im neunzehnten Jahrhundert hätte das 
Theater eigentlich ein Volkstheater werden 
ollen“. Aber der Geift des Sätulums machte 
ein Geſchäftstheater daraus. Ganz folge- 
richtig wehrte ſich das organiſierte Volk gegen 
die kapitaliſtiſchen Theaterunternehmungen 
und ſuchte echte Volkstheater zu ſchaffen. Aus 
der marxiſtiſch-ſozialiſtiſchen Volksidee heraus 
wurde die Freie Volksbühne, aus der hriftlich- 
ſozialen Volksidee heraus wurde der Bühnen- 
volksbund gegründet. So haben wir an 
Stelle des Nationaltheaters, wie es Leſſing 
wollte, auf der einen Seite wildwachſende Ge- 
ſchäftstheater, auf der andern Seite organi- 
fierte Parteitheater (die natürlich nicht Par- 
teien im Parteiſinne, ſondern im Weltan- 


Auf der Warte 


ſchauungsſinn vertreten, deren eines aber 
Verbindungen mit der ſozialdemokratiſchen 
Partei, deren andres mit den chriſtlichen und 
nationalen Parteien hat). Die Szylla unfres 
derzeitigen „Volkslebens“ iſt der Geſchäfts- 
geift, die Charpbdis iſt der Gefchäftsführer- 
geiſt. Weil der Volksſtaat kein Volkstheater 
ſchuf (und auch nicht ſchaffen konnte, da er nur 
dem Namen nach ein Volksſtaat, in Wahrheit 
aber ein Parteienſtaat iſt), mußten die 
Parteitheater entſtehen. Wie ein Privatunter- 
nehmen in unſerm Zeitalter dem Gefdhdfts- 
geiſt anheimfällt, ſo fällt eine Organiſation 
dem Gefchäftsführergeift anheim. Das Eigen- 
tümliche eines richtigen Geſchäftsfübrer- 
geiftes iſt, daß er den Weg ins Parlament 
und in die Regierung findet. Er fand auch in 
dieſem Fall — fonft wäre er nicht tüchtig ge- 
weſen — beide Wege, auch den Weg ins 
Kultusminiſterium. Der Volksbühnen- 
geiſt fuhr in Herrn Keſtenberg, der Bühnen- 
volksgeiſt in Herrn Seelig. Bewilligſt du mir, 
bewillig’ ich dir. Natürlich rückte der Bewilli- 
gungsgeiſt auch dem Intendanten Schillings 
auf den Leib, der, in einer andern Welt lebend 
und vor allem ſeiner Staatsoper verpflichtet, 
wohl nicht immer ohne weiteres den Gejchäfts- 
führergeiſt verſtehen wollte. 

Wie alfo ſtellt ſich der Staat dar, deſſen 
Würde gegen Max von Schillings verteidigt 
werden muß? Inmitten auf dem Minifter- 
ſeſſel thront der Gewaltige, der den Ukas in 
Händen hält, zur Linken ſteht der Volksbũh⸗ 
nenjude, zur Rechten der Buͤhnenvolksjude. 
Die Volksbühnen- und die Bühnenvolks- 
trabanten des Landtags gruppieren ſich büb- 
nenwirkſam um das lebende Staatsbild und 
rufen: Vive la coalition! 

Warum fiel Herr Schwering vom ask 
im Landtag um, nachdem er fic zuvor gegen 
über Herrn Buchhorn über Schillings’ Be- 
handlung empört hatte? Darum. Warum 
fiel die Sozialdemokratie im Landtag um, 
die doch ſonſt für die Freiheit und gegen die 
Autorität ſchwärmt, warum ſchickte fie irgend 
einen Genoſſerich aus Dingsda vor, der keinen 
Namen zu verlieren hat? Darum!“ 

Zu derſelben Sache ſchreibt die „Tägliche 
Rundſchau“: 


Auf der Warte 


„Aus dem Theater wird ein Geſchäft, und 
geſchaͤftliche Rüdjichten allein beſtimmen die 
Entſchlüſſe. Sicher iſt, daß der Erleſene des 
neuen Konzerns, Herr Tietjen, der Mann der 
Seelig, Keſtenberg und Konſorten war, deren 
Abgang man als unabweisbare Pflicht einer 
auf ſich haltenden Verwaltung empfand, die 
aber blieben, während Schillings ging, im 
letzten Augenblick im Stich gelaſſen von den- 
ſelben Perſönlichkeiten, die ihm vorher pa- 
thetiſch Treue gelobten, die aber ſchließlich 
dann doch ihren demokratiſchen Miniſter höher 
ſtellten als den reinen Künſtler Schillings. 
Sicher iſt ſchließlich, daß Herr Kleiber, von 
dem Schillings ebenſo ſchonend wie treffend 
bemerkte, fein jugendliches Temperament be- 
dürfe noch der Führung, nun den größten 
künſtleriſchen Einfluß auf das Berliner Opern- 
weſen ausüben wird.“ 


Auch ein Künftler 


n einer Nummer der Parifer „Humanite“ 

ſteht ein kleiner Artikel, der ſich mit einer 
Ausftellung des deutſchen Zeichners Georg 
Groß befaßt. 

Es ſei daran erinnert, daß im Jahre 1925 
in Berlin ein Prozeß ſpielte, in dem der Ger- 
leger eines Buches mit Karikaturen von Groß 
ſich gegen die Beſchlagnahme wehrte. Erinnere 
ich mich recht, fo traten für den Künftler, der 
mit ſeinen Bildern erzieheriſche Abſichten zu 
verfolgen angab, bis zu einem gewiſſen Grade 
auch der Reichskunſtwart Dr. Redslob ſowie 
Maximilian Harden ein. Zm März dieſes 
Jahres bin ich den Büchern von Groß in der 
Buchabteilung der Wiener Meſſe begegnet 
und konnte mich an der Hand der „in Oeutſch⸗ 
land verbotenen“ Bilderſammlung von der 
ſcheußlichen Schamloſigkeit und der ekelhaften 
Würdeloſigkeit überzeugen, mit der dieſer Er- 
neuerer feines Zeitalters Schäden im gefell- 
ſchaftlichen Leben zu geißeln vorgibt, während 
er in Wahrheit mit ſichtlichem Behagen im 
Schmutze wühlt und ſich nicht genug daran 
tun kann, den Oeutſchen in der Welt ſchlecht 
zu machen. Aber nirgends witzig, ſondern 
überall bösartig und gemein. 

Derfelbe Grok wird jetzt in der „Humanité“, 


457 


bekanntlich dem Blatte der franzöfifchen Kom- 
muniſten, in den höchſten Tönen gefeiert. Der 
franzöſiſche Referent ſagt gleich zu Anfang, 
ſeine „kühnen Karikaturen“ ſeien von der 
gleichen Bedeutung wie die Werke eines 
Daumier! „Ich ſcheue mich nicht zu er- 
klaren,“ fährt er fort, „daß Georg Groß unter 
die größten europaͤiſchen Zeichner zu rechnen 
iſt!“ Gewiß — vor ſeinen ahnungsloſen Leſern 
braucht dieſer Kenner keine Angſt davor zu 
haben, daß fie den Blödſinn merkten, der 
ihnen da vorgeſetzt wird. 

Deutlicher wird die Sprache, wo es heißt: 
„Als unerſättlicher und biſſiger Zerſtörer, als 
unverſöhnlicher Zeuge der Verkommenheit 
der bürgerlichen Geſellſchaft iſt er der Maler 
der Borniertheit, der Eitelkeit, des Hochmuts 
und der Grauſamkeit der herrſchenden 
Klaſſe in Oeutſchland und ihrer Verbün⸗ 
deten, der Sozialdemokraten. Aber ebenſo iſt 
er der Maler der Armen, der Krüppel, der 
Revolutionäre, und nichts iſt packender als 
einige ſeiner Werke, in denen er ganz kalt die 
einen den anderen gegenüberftellt: Die Herren 
und die Sklaven, die Mörder und ihre 
Opfer!“ 

Herr Groß kann ſich alſo über mangelndes 
Derftändnis bei feinen franzöſiſchen Gefin- 
nungsgenoſſen nicht beklagen. Auch wird ihm 
zugeſtanden, daß er „alle die vielfältigen 
Eigenſchaften ſeiner Raſſe beſitzt, zu der auch 
Dürer und Holbein zählen“ ! Es iſt doch nieder; 
trächtig ſchön, wenn man ſeine Bildung ſo 
glänzen laſſen kann! 

Zum Schluſſe folgen einige Sätze aus einem 
Artikel, den Groß in der „Clarté“ veröffent- 
licht hat und der an Geſchwollenheit und Un- 
natur auch von dieſer Seite her das Bild des 
„deutſchen Zeichners“ vervollſtändigt. Das 
Bekenntnis dieſer Welſchgänger-Seele lautet: 
„Heute haſſe ich die ſchlechten Einrichtungen 
und ihre Verteidiger. Und wenn ich eine Hoff- 
nung habe, fo iſt es diefe, daß dieſe Einrich- 
tungen und die Menſchenklaſſe, die fie ſchützt, 
zugrunde gehen mochten. Meine Arbeit gilt 
dieſer Hoffnung. Tauſende von Menſchen 
teilen dieſe Hoffnung mit mir. Das find felbjt- 
verſtändlich weder die Kunſtliebhaber, noch 
die Mäzene, noch die Käufer von Bildern! 


458 


Aber wenn man meine Arbeit Kunſt nennen 
will, dann kann man das nicht tun, wenn man 
nicht die Meinung teilt, die ich vertrete, näm- 
lich zu wiſſen, daß die Zukunft dem Prole- 
tariat gehört.“ 

Um die Verhetzung noch zu unterſtreichen, 
bringt die „Humanits“ über ihrem Artikel 
zwei taritierte Köpfe und ſchreibt dar⸗ 
unter: „Charakteriſtiſche Typen des deutſchen 
Bourgeois, geſehen von Georg Groß.“ 

Man merke ſich dieſe Art, in Paris gegen 
ein durch Karikaturen vertretenes Deutid- 
land Stimmung zu machen! Man wird hof⸗ 


fentlid bei fpäterer Gelegenheit dieſem Lan⸗ 


desfeinde die richtige Behandlung angedeihen 
laſſen, wenn er wieder einmal in Deutſchland 
erſcheinen und auf die Vergeßlichkeit feiner 
Heimat ſpekulieren ſollte. 

Dr. No b. Volz 


Der Fall Becher 


le Tagespreſſe der Linken, verſchiedene 

literariſche Zeitſchriften und der Schutz; 
verband deutſcher Schriftſteller haben ſich in 
Proteſten und erregten Artikeln gegen die 
Verhaftung des Dichters Johannes R. Becher 
gewandt, der wegen revolutiondr-erregender 
Schriften in Gewahrſam genommen worden 
ift; er foll, da er Hungerſtreik androhte, in- 
zwiſchen wieder entlaſſen ſein. Dieſer Fall 
gibt Gelegenheit, ein paar allgemeine Be- 
trachtungen anzuſtellen und die Angelegen- 
heit etwas näher zu beleuchten. Zunächſt: 
wer einmal die Verſe Bechers geleſen, der 
wird es ſchwer begreifen, daß immer wieder 
von dem „allgemein geachteten“ Didter ge- 
ſprochen wird; denn es wird nur herzlich 
wenige Leſer geben, die aus dem wirren Ge- 
ftammel der Worte und Zeilen nur den 
Schimmer eines Sinnes zu erraten wiſſen. 
Man leſe etwa folgende Verſe aus dem Ge- 


dichte „Schnee“: 


Tyrannen! Schnee muß eure Hölle ſtreichen! 

Schnee- Menſch. Kriſtallener. Schnee: das 
Morgen -Tier. 

Weh euch! Oer fieht mit unfehlbaren Zeichen, 

Der wittert feinſt ... Dämonen ihr! 


Auf der Warte 


Moraft des Monde, du ſchwingſt mit Schleier 
Pfützen. 

Geblimte Stadt fo zwiſchen Winden kracht 

Die bellend ſauſend durch die Täler flitzen. 

O Schnee der Schlacht uſw. 


Oder der Beginn der „Hymne an Lenin“: 


Klopfzeichen noch in den 

Särgen waren elektriſch 

Hingerichteter. Die Bauchdurchſchoſſenen 
Vierfüffig krochen, die Sedärme zurecht ſich 
Zupfend. — Fabrikgevierte: fieberkurvige 
Landſchaft: Odmonentlumpen, eifen — 
Gequadert, aufquollen, Abergeworfen wie 
Atzend umpanzert, von leuchtgaſigen 
Rauhmänteln uſw. 


Man wird zugeben muͤſſen: biefer „Erprei- 
ſionismus“ iſt nur für die Eingeweihten ge- 
nießbar. Freilich haben in der „Roten Fahne“ 
andere Verſe geſtanden, deren aufreizender In- 
halt höchft eindeutig und ſehr verſtändlich war. 

Nun aber: was hätte man in den Tagen 
der glorreichen Revolution für ein Geſchrei 
erhoben, wenn man Haßgefänge gegen Ebert 
oder Scheidemann angeſtimmt hatte! Wenn 
dagegen ein Verſemacher wie Becher offen zu 
Aufruhr und Gewalttat herausfordert, jo foll 
man ihn gewähren laſſen? Es iſt das trübe 
Zeichen unſeres individualiſtiſchen Zeitalters, 
daß man das Literariſche mit ungebührlicher 
Wichtigkeit beftaunt, daß man ein ungemäßes 
Aufhebens macht von allem, was irgendwie 
aus dem Geleife gefallen. Vergeſſen wir es 
nicht: wertvoller und zukunftsſtaͤrker als alle 
aͤſthetiziſtiſchen Redensarten iſt Innentum 
und Seele, und das Volk iſt nicht mit ftam- 
melnden Verſen, ſondern durch Zucht und 
Belehrung zu leiten. Der Staat muß das 
Recht für fi in Anſpruch nehmen, unlautere 
und gegneriſche Elemente unfdddlid zu 
machen; wenn die Preſſe der Linken es bei den 
Bolſchewiken verſtändlich findet, fo mag fie 
ſich nicht dort ſperren, wo es ſich in Oeutſch⸗ 
land um die Frage unſeres Volks tums 
handelt, das nicht von einigen verſchwärmten 
und verirrten Schreiern geftört werden foll. 
Endlich beginnt in Oeutſchland die Beſinnung 
und Einkehr; wenn Herr Becher nicht einver- 
ſtanden iſt, fo wende er ſich nach Rußland 


Auf der Warte 


deſſen Lobgeſang er angeſtimmt. Wenn ein 
deutſcher Dichter in Rußland heute gegen Lenin 
oder Trotzki Haſſeshymnen fänge, was würde 
mit dem Unjeligen geſchehen? . Sch. 


Die „ſchwarze Schmach“ in unſerer 
Tanzmuſik 

iegfried Wagner hat einen Aufruf ver- 
S oͤffentlicht, in dem er, aus Anlaß des 
bundertften Geburtstags von Johann Strauß, 
der tanzenden Jugend ans Herz legt, ſich doch 
der ſchoͤnen deutſchen Tanzmuſik des Wiener 
Walzerkonigs zu erinnern, ſtatt nach den primi- 
tiven Tonfolgen und ohrenverletzenden Rbyth- 
men der verſchiedenen Jazz- Muſiken zu tanzen. 

Bei dieſer Gelegenheit mag es angebracht 
erſcheinen, doch einmal zu betrachten, was 
Jazz-Muſik denn eigentlich iſt? Oiefe uns aus 
Amerika, wo fie als etwas bodenſtaͤndig Origi- 
nelles gewiß Berechtigung hat, importierte 
Halbmuſik ift aus einer allmählichen Ger- 
miſchung der Muſik der Neger und der Muſik 
der Meſtizenbevoͤlkerung Mittelamerikas, na- 
mentlich der Inſeln Kuba und San Domingo, 
hervorgegangen, Deshalb ſchließt Richard 
Wagners deutihfühlender Sohn feinen Auf- 
ruf auch ſehr richtig mit den Worten: „Die 
blaue Donau liegt uns denn doch näher als 
Kuba und San Domingo!“ 

Nicht viel bekannt dürfte es fein, daß auch 
ſchon lange, bevor dieſe „ſchwarze Schmach“ 
auf unſerer deutſchen Muſik laſtete, das un- 
muſikaliſche Element der Negerlieder bei uns, 
wenn auch nicht in die Tanzfäle, dafür aber 
in die Konzerſäle Eingang gefunden hatte. 
Der größte Komponiſt der Tſchechen, Anton 
Dvorzak, im Jahre 1891 Oirektor des Neu- 
porter Konſervatoriums geworden, hatte, um 
ſich vor den ihm in Amerika bis zum Überdruß 
in den Ohren klingenden burlesken Melodien; 
broden der Wilden zu retten, einige diefer von 
den dazumal noch vernünftigeren Europäern 


verachteten Naturlaute auf das genialfte in 


zwei ſeiner Kammermuſilwerke verwertet. 
Sein F-Dur Streichquartett, op. 96, wird in 
ber Mufitwelt überhaupt kurzweg bloß als 
„Das Negerquartett“ bezeichnet; aber auch 
Dvorzaks A-Dur Streichquartett, op. 97, weift 


459 


in feinem Scherzo ein echtes Negermotiv auf, 
das, auf gleichen Viertelnoten aufgebaut, von 
acht Bäſſen rhythmiſch fo originell begleitet 
wird, daß man wirklich meint, die Handpauke 
eines wilden Negerſtammes zu bören. Der 
berühmte Kritiker der „Neuen Frelen Preſſe“, 
Eduard Hanslick, hoffte aber ſchon damals 
beim erſten Erſcheinen dieſer Streichquartette, 
es möchte Ovorzak doch wieder gelingen, eine 
Muſik „ohne Transfuſion von Negerblut“ zu 
ſchaffen! N 

Die moderne europälfche Begeiſterung für 
ihre Volksgeſänge ift den Schwarzen von jen- 
jeits des Ozeans fidtlid zu Kopf geftiegen. 
So haben ſich dort im letzten Jahre gleich zwei 
Geſellſchaften gebildet, die es ſich, nach dem 
Vorbilde ziviliſierter Nationen, zur Aufgabe 
machen, alle Negerlieder zu ſammeln. Die 
eine, ausſchließlich nur aus Schwarzen be- 
ſtehende Vereinigung, ſammelt nur die reli 
gidfen Gefange ihrer Raffe. Übrigens waren 
ſchon vor drei Jahrzehnten gelehrte Stimmen 
laut geworden, die behaupteten, daß die Lieder 
der Neger in der Hauptſache von aus Schott; 
land ſtammenden Liedern herruͤhren. 

In Amerika hat die Jazz-Muſik Eingang 
ſelbſt in die Oper gefunden. Dort gibt es nicht 
bloß Jazzband - Tanzmuſik und ZJazzband- 
Konzertmuſik, ſondern auch ein wahrhaftiges 
Jazzband -Opernorcheſter. Der jüngfte Aus- 
wuchs dieſes Geſchmacks iſt eine amerikaniſche 
Oper: „Daniel Jazz“, von Louis Grünberg. 
Ihr Inhalt ift die bibliſche Erzählung: Daniel 
in der Löwengrube. Da die Oper bloß einen 
Akt hat, iſt in ihr kein Szenenwechſel nötig; der 
ganze Vorgang fpielt in einem Löwengraben. 
Der Hauptheld, Daniel, der Prophet, iſt natür- 
lich ein — Neger, aber auch das Publikum 
muß mitwirken. Ein dringender Aufruf ergeht 
an jeden Beſucher: „In den geeigneten Mo- 
menten ja auf Löwenart mitzubrüllen ! 

Mathilde v. Leinburg 


Unfug im Geldverkehr 


ie „B.-Z. am Mittag“, das fenfations- 
hungrige Ullfteinblatt, bediente ſich 
kurzlich eines hoͤchſt bedenklichen ameri- 
kaniſchen Propaganda -Tricks, der zwar dem 
Verleger die Taſchen füllt, aber aus volks- 


460 


wirtſchaftlichen Gründen der ſchärfſten Kritik 
bedarf. Die Zeitung ſetzte eine Reihe von 
Fünfmarkſcheinen in Umlauf, deren Nummern 
dann nach Ablauf einer Friſt aufgerufen 
wurden. Den Wiederbringern dieſer Geld- 
ſcheine händigte der Verlag für jeden Fünf- 
markſchein einen Hundertmarkſchein aus. 
Dieſes Lockmittel genügte, um Hundert- 
tauſende zu verführen, alle Fünfmarkſcheine 
zu hamſtern. Wenn man annimmt, daß 
300000 Lefer, was bei den Riefen-Ullftein- 
Auflagen nicht zu hoch gegriffen iſt, je 
10 Scheine zu fünf Mark ſammeln, jo werden 
bereits 15 Millionen Mark Umlaufsgeld brach- 
gelegt. Abgeſehen davon, daß ſich in verſchie⸗ 
denen Städten ein empfindlicher Mangel an 
Wechſelgeld einſtellte, wurde der deutſchen 
Wirtſchaft ein Schaden zugefügt, der zu einer 
unmittelbaren Gefahr führen muß, wenn 
mehrere Groß- Unternehmer ähnliche Werbe- 
mittel ergreifen. 

Bargeldmangel hemmt das Getriebe der 
Wirtſchaft. Da aber die Umlaufsgefchwindig- 
keit unſeres Geldes ohnehin viel zu gering iſt, 
muͤſſen alle geeigneten Kräfte dahin wirken, 
jede Herausnahme von Geld aus dem Kreis- 
lauf des Verkehrs zu vermeiden. Brad- 
liegendes Geld foll nicht im Kaſſenſchrank 
oder im Strumpfe liegen, ſondern der Öffent- 
lichkeit durch die Spar- und Bankinſtitute 
nutzbar gemacht werden. Was nutzt es, wenn 
auf der einen Seite Maßnahmen zur Hebung 
der Geſchäftstätigkeit in Deutfchland getroffen 
werden und auf der anderen Seite wirtſchafts- 
ſchädigende Vorgänge, wie wir fie bei Ullſtein 
beobachten, nicht unterbunden werden! Was 
ſagen Reichsbank und Regierung dazu? 

K. A. W. 


Europaͤiſche Revue 


erausgegeben vom Prinzen Karl Anton 

Rohan, einem Sproß der öfter- 
reichiſchen Linie des bekannten franzöſiſchen 
Adelsgeſchlechtes, erſchienen im Verlag Der 
Neue Geiſt, Leipzig, iſt dieſe Zeitſchrift, 
deren erſte Hefte nun vorliegen, keines der 
üblichen Erzeugniſſe, wie ſie im deutſchen 
Blätterwald zur Zeit maſſenhaft aufſchießen. 
Hier iſt ein großzügiger Verſuch gemacht, 


Auf der Warte 


entſcheidende Geiſter aus allen Ländern, 
Lagern und Parteien jenſeits von Tages- 
politi? und Intereſſenkämpfen zu politifcher, 
wirtſchaftlicher und küuͤnſtleriſcher Ausſprache 
zu ſammeln. Demgemäß beſteht die Revue 
aus Beiträgen über Politik, Wirtſchaft, 
Philoſophie, Kunſt, Wiſſenſchaft und den 
europdifden Fragmenten, die Abſchnitte 
aus den Werken großer Geiſter der Ver- 
gangenheit bringen, ſofern fie für die Gegen- 
wart und die europäiſche Idee Bedeutung 
haben. In ihrem erſten Heft hat die Revue 
dieſen letzteren Teil mit Worten Friedrich 
Nietzſches eröffnet. 

Die europäiſche Revue iſt das Organ des 
„Kulturbundes“, der im weſentlichen der 
Initiative des Prinzen Rohan fein Ent- 
ſtehen verdankend, die Möglichkeit engerer 
Fühlungnahme geiſtig führender Perſönlich⸗ 
keiten der verſchiedenen europäifchen Nationen 
mit dem Endzweck einer kulturellen An- 
näherung der europäifhen Völker ſchaffen 
will. Es gilt die Überwindung der Kriegs- 
pſychoſe, die Hinwegräumung der Schützen 
gräben und ODrahtverhaue, die aus der Zeit 
des kaum entſchwundenen europdifden Kul- 
turkampfes die geiſtigen Provinzen unſeres 
Erdteils immer noch hemmend durchziehen. 
Es gilt weiter, der Gefahr der Entſeelung zu 
begegnen, die das Geſpenſt einer völligen 
Vernichtung des europäͤiſchen Geiſteslebens 
auf Grund äußerer zwangsmechaniſcher Ge- 
ſetze der Technik täglich näher und näher 
ruckt. Die Männer dieſes Bundes, dieſer 
Revue, ftellen das Problem, wie der Heraus- 
geber in feinem Vorwort ausführt und wie er 
es ſeinerzeit in einem privaten Vortrage vor 
der intellektuellen Ausleſe der Stadt Frank- 
furt a. M. näher darlegte, keineswegs pazi⸗ 
fiſtiſch-ſentimental. Sie packen die Frage 
nicht in internationalem, fondern in über- 
nationalem Sinne an. Sie ſind ſich wohl 
bewußt, daß die Aufgabe des europäiſch ein- 
geſtellten Menſchen nicht in der Verwäſſerung 
der Eigenart des eigenen Volkes, ſondern in 
der Fühlungnahme mit fremden Kultur- 
welten, in dem beſtimmten heraustreten aus 
einer FIſolierung beſteht, die den von ihr 
Betroffenen felber am meiſten ſchaͤdigt. 


Auf der Warte 


Damit kann fi auch der entſchieden national 
gerichtete Deutſche einverſtanden erklären. 

Was das erſte Heft der Revue bringt, iſt in 
dieſer Richtung verheißungsvoll. Da ſind 
Beiträge von Emile Vorel, von André Gide, 
von Burns, von Franceſco Nitti, von Gug- 
lielmo Ferrero, von Ignaz Seipel, Hans 
Drieſch, Oskar A. H. Schmitz, Richard 
Wilhelm, ein einleitender Aufſatz „Europa“ 
von Hugo von Hofmannsthal u. a. Da iſt 
eine Beſprechung von Unruhs „Flügel der 
Nike“ von Alfred von Noſtiz⸗Wallwitz, die in 
ihrer fachlichen und nationalen Haltung 
wohltuend berührt. Es ſind vorgeſehen 
„Europäiſche Ausſprachen“, in denen beſtimmt 
Probleme von gegenſätzlichen Standpunkten 
aus behandelt und die in einem der nächſten 
Hefte eröffnet werden ſollen. Als weitere 
Mitarbeiter werden genannt: Paul Bainleve, 
George Duhamel, Henri de Jouvenel, Graf 
Romanones, Thomas Mann, Leopold Ziegler, 
Guſtar Streſemann, Julius Meyer -Gräfe, 
Otto Hoetzſch, um nur einige der bekannteſten 
Namen zu bringen. Man wird der Ent- 
wicklung der „Europäiſchen Revue“ mit An- 
teilnahme entgegenſehen dürfen. 

Dr. M. Leuchs-Mack 


Die Begabten und die Grundſchule 


uerſt eine Feſtſtellung. Ich will die Ver- 
ſöhnung der Stände ſo leidenſchaftlich 
als irgendein Verfechter der Grundſchule. 
Der zwingende Nachweis ihrer Notwendig- 
keit zur Erreichung der Volkseinheit würde 
aus mir einen rückſichtsloſen Vertreter dieſer 
Forderung machen. Aber noch iſt dieſer Nach- 
weis nicht erbracht trotz der Maſſe der hierfür 
aufgebrachten Oruckerſchwärze. Gelbftvoll- 
en dung und Selbſtopfer find nach Spranger 
die menſchlich würdigen Hochziele. Sie ge- 
währleiſten die Aufwärtsentwicklung des 
Staates und aller menſchlichen Gemein- 
ſchaften. Sie bilden den beiten Prüfſtein für 
alle unterrichtlichen und erziehlichen Veran- 
ſtaltungen, alſo auch für den Fragekomplex: 
Die Begabten und die Grundſchule. 
Um die Prüfung dieſer brennenden Streit- 
frage möglichſt zu vereinfachen, ſeien die Hoch; 


461 


begabten von vornherein aus dieſer Er- 
örterung ausgeſchloſſen. Daß ihr Gang zur 
Höhe durch eine vierjährige Grundſchule 
empfindlich gehemmt wird, bedarf m. E. 
keiner Erörterung. Ob aber auch die nur Gut- 
begabten in der vierjährigen einheitlichen 
Grundſchule Hemmung ftatt Förderung er- 
fahren, das iſt die Frage, die uns beſchäftigen 
ſoll. Ausgeſchieden werde ferner die Frage 
der Begabtenausleſe und der Langfam- 
reifenden. Alles Aufgaben, die beſonderer 
Beachtung und Betrachtung bedürfen, deren 
Bearbeitung aber an dieſer Stelle unſere 
Aufgabe zu ſehr belaſten würde. 

Wir befaſſen uns mit den Kindern, die 
ſchon bald nach ihrem Eintritt in die Grund- 
ſchule durch ihre rege und erfolgreiche Be- 
teiligung am Unterricht auffallen und die Füh- 
rung der Klaſſe übernehmen. Es ſind in der 
Hauptſache jene Schüler, die, falls fie früher 
der höheren Schule zugeführt wurden, dort 
mit dem vollendeten neunten Lebensjahre 
eintraten und fie dann unter normalen Ver- 
hältniſſen ohne Anſtoß durchliefen. Sie ver- 
lieren, wenn fie jetzt vier Jahre in der Grund- 
ſchule verharren müſſen, ein volles Lebens- 
jahr. Ein Jahr länger laſten ſie auf dem 
ſchmalen elterlichen Geldbeutel, ein Jahr 
ſpäter kommen ſie in ihren Beruf, ein Jahr 
weiter hinausgeſchoben wird die Möglichkeit 
der Verheiratung. Was gerade dieſer letzte 
Umitand für die Ich und Wirwerte der Per- 
ſönlichkeit zu bedeuten hat, darüber malt die 
Volkshygiene erſchütternde Bilder. 

Und doch verliert dieſe Gruppe der Be- 
gabten zuweilen noch weit mehr als ein Jahr 
in der undifferenzierten vierklaſſigen Grund- 
ſchule: Sie verliert den frohen Bildungswillen, 
die nimmerraſtende Bildungskraft. 

Bedenken wir die Schwierigkeit der Auf- 
gabe für einen Lehrer, ſelbſt in einer nur 
normal beſetzten Klaſſe die verſchiedenen Be⸗ 
gabungen wejensgemäß zu fördern: die 
Schwachbegabten, die Mittelbegabten und 
die Gutbegabten. Und jeder Schüler hat doch 
berechtigten Anſpruch auf anlagengemäße 
Emporentwicklung. Es gibt Lehrerkünſtler, 
die auch dieſer Aufgabe Herr werden; und die 
im Lehrerſtand heimiſche Pflichttreue und 


462 


Hingabefittlidteit vermag viel. Aber im all- 
gemeinen überfteigen dieſe Anforderungen 
die Leiſtungs fähigkeit des Lehrers. Es bleibt 
ihm nichts anderes übrig, als ein Ourchſchnitts⸗ 
maß, einen Durchſchnittsrypthmus zu wählen. 
Was darüber hinausragt oder darunter bleibt, 
erleidet nicht unbeträchtliche Einbuße an 
perſonalem und ſozialem Wert. 

Wieſo die Gutbeanlagten? Sach und Sinn- 
gehalte, die ſie im Fluge vollinhaltlich und 
formſicher in ſich aufnahmen, werden wieder 
und wieder vorgeführt, geklärt und einge- 
prägt. Anfänglich beteiligten ſich die Gut- 
beanlagten eifrig. Allmählich erlahmt aber ihr 
Eifer. Der Unterricht langweilt, enttäufcht fie. 
Unluſtgefühle tauchen auf, ſchwellen an, ftei- 
gern ſich. Vier Jahre hindurch, bald weniger, 
bald mehr! Es bilden ſich Antipathien und 
Gewohnheiten, die dem Lernen hinderlich 
werden. Relativ gering nur iſt die Ernte an 
wertvollem Bildungsgut, unentwickelt, weil 
ungeübt, bleiben bedeutſame Grundkräfte 
der Strukturanlage. Noch mehr, das dunkle 
Sehnen des Kindes nach dem Sonnengeſtade 
einer höheren Kultur irrt ab auf fehlführende 
Bahnen. Begabte, die ſoziale Gründe in der 
Volksſchule feſthalten, erreichen vielfach trotz 
ihrer guten Anlagen nicht einmal die oberſte 
Klaſſe. Und auch viele von jenen Gutbe- 
anlagten, die nach vier Jahren der höheren 
Schule zugeführt werden, gehen murrend 
ihren Weg, gehemmt durch die eifernen Fuß- 
kugeln der Lernunluſt; denn nicht immer 
ſchwinden im neuen Klaſſen verband mit 
neuen Lehrzielen die tieflagernden Unluſt- 
gefühle und inneren Ablehnungen. Zumal 
die höheren Lehrer auch nicht alle Bildungs 
kuͤnſtler find. Und die in der Lebens fülle hoher 
Kultur ſchwelgen ſollten, die emporf liegen 
ſollten wie junge Adler, die empfinden die 
Arbeit als eine Laſt, der ſie ſich mit allen 
Liſten und Ränken zu entziehen ſuchen. 
Manche leiden völlig Schiffbruch, andere 
kriechen empor mit Verluſt von weiteren 
Lebensjahren. Das Leben und die Jahre 
machen ja manches wieder gut, rütteln die 
Innenkraft wieder wach. Aber köſtliche 
Jugendjahre, wertvolle Jugendkraft ſind 
unwiederbringlich verloren. 


Auf der Bart 


Und doch gibt es ein Mittel, dieſe Geelennst 
zu lindern, die Grundſchule zu veredeln: da 
Mannheimer Schulſpftem. Es ſammelt die 
ungefähr Gleichwertigen in beſondern Klaſſen, 
und auch dem Durchſchnittslehrer wird die 
weſensgemäße Förderung gelingen. Ja, abe 
die Ausleſe! Die Begabungsprüfung ſteht ef 
im Anbeginn ihrer Leiſtungsfähigkeit. 30 
meine, dieſe Frage beunruhigt und beſchwert 
uns ſehr zu Unrecht. Das durch die Erfahrung 
geübte Auge des Lehrers, fein im ſozialen 
Sinn verankertes Wohlwollen machen ſein 
Differenzieren blickſicher und lehren ihn, die 
Geiſt- und Willens hochwertigen von ihren 
unterwertigen Altersgenoſſen unterſcheiden. 
In der differenzierten Klaſſe aber wird Lern. 
freude und Lernkraft wachſen, da jeder Ar 
lagegruppe das an geiſtiger Koſt geboten und 
an geiſtigen Leiſtungen zugemutet wird, was 
fein leiblich-geiſtig-ſeeliſcher Organismus ver- 
langt. 

Neuerdings ſcheint man in den führenden 
Kreiſen der Volksſchullehrerſchaft dem Ge 
danken der „Veredlung“ der Grundſchule 
ndbertreten zu wollen, wie ein bedeutjamer 
Aufſatz in der „Preußiſchen Lehrerzeitung 
zeigt. Würde dieſer Weg beſchritten, jo 
würden viele ſich mit der vierjährigen Grund- 
ſchule befreunden, die ihr jetzt feindlich gegen 
überſtehen, weil fie ihre Kinder hungern 
ſehen, weil fie eine Gefährdung der Zukunft 
ihrer Kinder befürchten. Und weil fie wiſſen 
oder fpfiren, daß jede Nichtausloͤſung oder 
Nichtentwicklung perfönlider Werte eine 
Schädigung der Allgemeinheit bedeutet. Die 
Veredelung der Grundſchule durch das Mam 
heimer Schulſyſtem wäre ein bedeutfamer 
Schritt zur Sicherung der vierjährigen Grund 
ſchule. K. K. 


„Uberſpannung?“ 


s iſt freudig zu begrüßen, wenn in einer 

Zeitſchrift wie dem „Türmer“, ber in 
vorbildlicher Weiſe den inneren Wiederaufbau 
vorbereitet, auch Mängel der Schule be 
ſprochen werden, zumal da jetzt die neuen 
Lehrpläne noch manche Erörterung herver- 
rufen werden. Aber die in der Auguſtnummet 


Auf ber Warte 


(S. 472) gerügten „Überfpannungen“ ent- 
ſprechen in der verallgemeinerten Gorm 
glüdliherweife nicht den Tatſachen. 

Zunächſt beklagt der Verfaſſer den Wahn 
der Schule, „der Jugend müffe fo viel Wiſſen 
als nur möglich eingetrichtert werden“, 
dann die „Aberſchaͤtzung und Überfpannung 
des gebädhtnismäßigen Lernens“ und das 
daraus ſich erklärende „niederſchmetternde 
Ergebnis“ hinsichtlich der Dauer des Er- 
worbenen. Das find ohne Zweifel große 
Fehler, die zum Teil mit dem ungeahnten 
Aufſchwung der Naturwiſſenſchaften um die 
Wende des 20. Jahrhunderts in Zuſammen- 
hang ſtehen, die aber auch von führenden 
Pädagogen wie Kerſchenſteiner u. a. vor 
bereits 20 Jahren erfolgreich bekämpft wur- 
den. Dafür nur ein Beweis: eine mir vor- 
liegende Lehrordnung der Pfalz von 1908, 
die aber in der nddften Zeit durch eine neu- 
zeitliche abgeldft werden wird, ſagt einleitend 
ausdrüdlich: „Die Durcharbeitung der Stoffe 
hat ſich auf das Weſentliche zu beſchränken, 
wie überhaupt in allen Schulverhältniſſen 
bei jedem Unterricht nicht mehr Einzelheiten 
aufzunehmen ſind, als nach Maßgabe der 
verfügbaren Zeit methodiſch richtig be- 
handelt werden können.“ Die mir bekannten 
Lehrordnungen von Mannheim, München, 
Hamburg u. a. ſchreiben in ähnlichem Sinne. 

Des weiteren wird die Einführung neuer 
Lehrfäher befürchtet. Wer nur oberflächlich 
in der pädagogifchen Literatur Beſcheid weiß, 
kennt die in den letzten Jahren in allen Teilen 
des Reiches mit Geſchick und Erfolg arbeiten 
den Beſtrebungen nach Zujammenlegung der 
Fächer zum „Geſamtunterricht“, „jenfeits der 
Fächerung“. 

Auch über die Ermüdung der Kinder durch 
die Schularbeit iſt man ziemlich unterrichtet, 
ohne ſich dabei auf die ſehr perfinliden Emp- 
findungen eines reichen Englanders ftüßen zu 
müffen. So haben die ſehr eingehenden, 
experimentellen Unterſuchungen des Prof. 
Lobſien folgendes ergeben: „Die fünfte vor- 
mittägige Unterrichtsſtunde wirkt Außerft 
ermũdend, wenn ein ſchwieriges Fach ge- 
trieben wird, bedenklich. Eine folgende ſechſte 
Stunde wirkt geradezu erſchreckend.“ 


463 


Bezüglich der Höͤchſtſtundenzahl ſieht die 
vorhin erwähnte Lehrordnung feit 1008 in 
den Oberklaſſen im Sommerhalbjahr wddent- 
lich 24 Stunden vor. Zieht man die vom Ver⸗ 
faſſer noch zugegebenen „keine geiſtige An- 
ſtrengung erfordernden“ Fächer ab, dann ver- 
bleiben noch 19, für den Winter 21 Stunden, 
demnach noch weniger als der Verfaſſer zur 
Schonung der Jugend verlangt. 

Hinſichtlich der Hausaufgaben beſteht die 
ſtrenge Weiſung: „Obwohl der Stundenplan 
der Werktagsſchule dem umſichtigen Lehrer 
hinreichend Zeit für Einübung der Lehrſtoffe 
während der Schulzeit läßt, will von Haus- 
aufgaben nicht ganz abgeſehen werden; doch 
find größere Hausaufgaben nur über den 
ſchulfreien Nachmittagen guldfjig und dabei in 
ſolchem Umfange, daß ihre Erledigung hdd- 
ſtens eine Stunde erheiſcht.“ 

Wenn alſo die im „Türmer“ erwähnten 
Mängel an irgend einer Landſchule noch be- 
ſtehen, dann find fie jedenfalls nicht typiſch, 
ſondern, Gott ſei Dank, ein Ausnahmefall. 

Heinrich Löckel 


Aufſchwung des deutſchen Turnier⸗ 

Sports 
Fa in der Stille hat ſich ſeit Kriegsende 

ein Zweig unſerer Inlandserzeugniſſe 
und ſeiner praktiſchen Anwendung zu einem 
gebietenden Faktor entwickelt, dem ohne 
Zweifel die Zukunft gehört. Das deutſche 
Pferd ift drauf und dran zu einem hoch- 
wertigen und begehrten Ausfuhr-Objekt zu 
werden. In jahrzehntelanger zielbewußter 
Arbeit hat die deutſche Landwirtſchaft des 
norddeutſchen Tiefs jenen Typus des hddft- 
verwendbaren Pferdes herangezuͤchtet, der 
unter dem Kennzeichen „Deutſches Halb- 
blut“ feinen Siegeszug durch die Welt an- 
treten wird. Der leichtere Schlag wird vor 
allem im Hanndverſchen und auf den Marſchen 
Holſteins gezogen. Der ſchwerere Schlag, 
einem Kaltblüter ähnlicher als einem edlen 
Warmblut, gedeiht namentlich in Oldenburg 
und Oſtfriesland. Hier hat der unlängſt zu- 
ſammengeſchloſſene Verband der Züchter des 
edlen oldenburgiſchen Gebrauchspferdes (des 


464 


leichten der füdlichen Geeſt, des ſchwereren 
der Marſch) mit einem Stamm von etwa 
12000 Mutterſtuten und einem Beſtand von 
gut hundert höchſtwertigen Hengſten ein von 
langher vollkommen ausgeglichenes Blut her- 
angezuͤchtet, fo daß die jährlichen Hengft- und 
Stutenkörungen ein Ereignis erſten Ranges 
auch für das Ausland geworden ſind. Die 
Tſchechoſlowakei kaufte 1924 allein 35 dieſer 
Hengſte an (der Rekordpreis für ein Tier war 
faſt 50000 Mark). Auch Schweden, Amerika, 
Belgien und Holland hatten Fachleute und 
Aufkäufer entſandt. In Amerika find Olden- 
burger als Wagenpferde von impoſanter 
Form und fabelhaften Gängen (Stichtrab) 
große Mode. Mit dieſem Aufſchwung der 
einheimiſchen Pferdezucht, deren Produkte 
man mit Freude und ehrlichem Staunen in 
der viel beſſeren Nachkriegs-Form bei unferer 
Kavallerie und berittenen Polizei feſtſtellen 
kann, iſt aber auch die Auswertung nach der 
idealen und realen Seite hin emporgegangen: 
In den bäuerlichen Pferdezuchtgebieten hat 
das Reitweſen höͤchſterfreulich zugenommen. 
Das iſt nicht zuletzt den rührigen Landbünden 
zu danken, die den reiterlichen Geiſt der alten 
(verſcheuchten) Armee weiterpflegen will; 
vor allem aber der Freude des ZJungvolks am 
Reiten und Reiterlichen. Die bäuerlichen 
Reitvereine, die heute faſt in keinem vater- 
ländiſchen Feſtzuge fehlen, bilden ein un- 
gemein wertvolles Glied in den voltstim- 
lichen Beſtrebungen, für den verbotenen 
allgemeinen Wehrdienſt eine gute körperliche 
Ausarbeitung und den frohen, mannhaften 
Geiſt zum edlen Sport dem Volke als Erſatz 
liebwert zu machen. Sie dienen aber auch der 
praktiſchen Arbeit am Objekt, am Pferde 
ſelbſt. In den Turnieren finden dieſe Auf- 
gebote der deutſchen Qualitätszudht ihren 
Grabmeſſer und den öffentlichen Schauplatz. 
Eine Statiſtik der Turniere und Nennungen 
für deutſches Halbblut mag vom gewaltigen 


Auf der Warte 


Umfang dieſer Arbeit am guten Ding einen 
Begriff geben. 

Vom Reichsverband zur Zucht und Prü- 
fung deutſchen Halbbluts wurden veranſtaltet: 
1923: 273 Turniere, 11741 geftartete Pferde. 
Höchſtzahl bei einem Turnier mehr als 1000, 
1924: 375 Turniere, 24264 geſtartete Pferde, 
1925: etwa das Doppelte, allein im Juli 79 
Turniere. 

Von den meiſten Turnieren hört man in 
der großen Offentlichkeit nichts. Nur die 
lokalen Blätter berichten darüber. Dabei 
ſind bei dieſen kleineren Veranſtaltungen 
meiſt drei- bis vierhundert Pferde am Start. 
Allgemein bekannt, und als das deutſche 
Olympia der Pferde anzuſprechen, ſind die 
zwei großen FJahresveranſtaltungen des 
Reichsverbands in Berlin: Das Frühjahrs- 
turnier in geſchloſſenen Hallen (meiſt Luifen- 
Tatterſall oder Sportpalaſt) und das gewal- 
tige Herbſtturnier — der Heerbann des Halb- 
bluts — auf dem Stadion im Grunewald. 
Das find übrigens auch die zwei Gelegen- 
beiten, wo man die ältere deutſche Gefell- 
ſchaft in Reinkultur beiſammen ſehen und 
Namen vernehmen kann, die in der neu- 
deutſchen Luft Schall und Rauch geworden 
ſcheinen. 

Dieſe Entwicklung iſt zwangsläufig: die 
geſunde Reaktion auf das Unmaß der ge 
waltſamen Beſchneidung, Ausſaugung und 
Verkümmerung von deutſchem Land und 
Volk, niedergelegt im Verſailler Schandver- 
trag. Dieſe Entwicklung zeigt auch, welchem 
Exportgut die deutſche Volkswirtſchaft ihr 
Hauptaugenmerk zuzuwenden hat: nicht den 
deutſchen Induſtrie-Sachlieferungen, ſondern 
dem einheimiſchen Erzeugnis, das kein Hoch- 
ſchutzzoll, kein Dumping-Geſchrei fernhalten 
kann, da es einfach unentbehrlich oder hoch 
begehrt ift: das deutſche Halbblut- Pferd und 
die deutſche Zuckerrübe — landwirtſchaftliche 
Urprodulte beides. H. Sch. 


Herausgeber: Profeſſor Dr. Friebrich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Konrad Oürre, 

Weimar, Karl-Alexander-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen. 

Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie fkaſten“ mitgeteilt, fo daß Nüdfendung erſpart bleibt · 

Ebendort werben, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſendungen bitten wir Rückporto beizulegen. 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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„ für Gemüt und Geist 


ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT 


Herausgegeben Dr. h.c. Friedrich Lieriyard 
Begränder: — Gil. Freiherr son & Srotthafs 


28. Jahrg. März 1926 heft 6 
„„ ——!:. T—TTk: . .. ...... ... . ̃ ͤ —— 


Akte III oa 


De Erinnerung an das Vater 
land tritt warnend und weiſend 
mitten hinein in unſre perſönlichſten 
Angelegenheiten, Gibt es irgendeinen 
Gedanken, der heute einen rechten 
Dentfchen lauter noch als das Gobot 
der allgemoin-menſchlichen Pflicht zu 
ſittlichem Mute mahnen kann, ſo iſt es 
dieſer Gedanke: was du auch tun magſt, 
um reiner, reifer, freier zu werden, 
du tuſt es für dein Volk. 


Heinrich von Treitſchke 
4860 


TMM mmiäsz nini hfhhninhfffiisfrfs iti fin ni in imm 


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Der Türmer XXVIII. 6 


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Großdeutſchland, 


ſein Lebensraum und ſeine Grenzen 
Von Dr. phil. et iur. Hugo Grothe 


Leiter des „Inftituts für Auslandkunde, Grenz: und Auslanddeutſchtum“, Leipzig 


or Volk hat auf der Erde einen ihm von der Natur gegebenen Lebensraum. 
Nicht von Urzeiten ſitzt es in ihm. Es beginnt mit demſelben erſt zu verwachſen, 
wenn es im Prozeſſe kulturellen Aufſtieges dieſen Lebensraum durch Anpaſſung 
eroberte und den Platz gegen Widerſacher ſeiner Nachbarſchaft durch ſiegreiche 
Kämpfe zu halten vermochte. 

Das deutſche Bolt gewann feinen Lebensraum in Mitteleuropa in den erſten Jahr- 
hunderten vor Chriſti Geburt. Bedeutend eher, als die auf dem Boden des weſtlichen 
Frankenreiches ſitzenden Stämme der Burgunder, Bretonen, Gascogner, Proven- 
zalen ſich als „franzöſiſche Nation“ fühlten — es geſchah letzteres etwa ſeit den 
Kämpfen gegen die Ausbreitung der Engländer im 15. Jahrhundert in Nord- 
frankreich — kriſtalliſiert ſich das Volk der Deutſchen. Schon der griechiſche Geograph 
Ptolemäus maß das Land Germanien nach Längen und Breiten im Jahre 150 
n. Chr. Die römiſchen Grenzprovinzen am linken Rheinufer, „Germania superior“ 
und „inferior“ lagen da, wo ſich ſpäter die deutſchen Herzogtümer Ober- und Nieder- 
lothringen und Hochburgund entwickelten. Auf Grund der Sprachgrenze im Weſten 
wird das große Frankenreich Karls des Großen 870 im Vertrag zu Merſen in ſeine 
romaniſchen und germaniſchen Beſtandteile zerlegt. Jetzt — um die Wende des 
neunten zum zehnten Jahrhundert — iſt der Lebensboden für den weiteren politiſchen 
und kulturellen Werdegang des deutſchen Volkes in den Grundzügen feftgelegt. 

Die Grenze zwiſchen den beiden Reichen läuft gemäß der Sprachenſcheide Hunderte 
von Kilometern weſtlich des Rheins. Der Strom ſelbſt war niemals Volksſcheide 
und kann es nicht werden. Das Quellgebiet des Rheins, die Ufer des Bodenſees, 
das ſüdliche Baden, Schweiz und Elſaß bis zur Moſel find von alemanniſchen Stäm- 
men beſiedelt, indes flußabwärts die rheiniſchen und nach dem Meere zu die ſaliſchen 
Franken ſaßen. 

Rhein- und Moſelland werden feit Karl dem Großen Rückgrat und Seele des 
deutſchen Reiches. Ungeheuerlich daher, daß Frankreich heute mit ſeinen Garniſonen 
die Hände legt auf die alten Stätten deutſcher Macht- und Geiſtesentfaltung und ſie 
ſeiner Kulturzone durch alle Mittel der Propaganda eingliedern möchte. Deutſches 
wirtſchaftliches und geiſtiges Leben blühte frühzeitig in den Ländern und Städten zu 
beiden Ufern des Rheins und lief in befruchtenden Strömungen auf den verſchie⸗ 
denſten Straßen ins Innere Deutſchlands. Am Rhein und an der Moſel, wo ſich die 
innerdeutſchen Naturformen ſeeliſcher Tiefe und Herbheit von dunkelnden Wäldern 
und friſchen Feldern mit Zeichen des ſonnigeren Südens, Rebengärten und Edel- 
kaſtanien miſchen, entwickelte ſich im Mittelalter die Keimzelle der das deutſche 
Chaos gliedernden Staatlichkeit. Hier tagten die glänzenden Reichstage, einer der 
ſtolzeſten der von Mainz im Jahre 1184, auf dem Kaiſer Friedrich Rotbart die 
Huldigungen und Grüße europäiſcher und aſiatiſcher Fürſten entgegennahm. 


Grothe: Großdeutſchland, fein Lebensraum und feine Grenzen | 467 


Unter den Hohenftaufen im 12. und 13. Jahrhundert wird im weſentlichen nach 
Oſten und Südoſten zu der Bereich deutſcher Rolonifations- und Kulturarbeit ge- 
rückt. Ein bis zwei Jahrhunderte ſpäter ift dieſes Neuland als inmitten der deutſchen 
Sprachgrenze liegender geſchloſſener Volksboden klar gekennzeichnet. Dem deutſchen 
Reiche zugehörig iſt damals das Ordensland Preußen, Pommerellen und Pom- 
mern, weiter das ſchon halbwegs zur Warthe über die Oder oſtwärts greifende 
Herzogtum Schleſien, dann im Süden die Markgrafſchaft Mähren mit Troppau, 
Olmitz, Brünn, desgleichen das Herzogtum Steiermark, das im Süden ſchon feine 
deutſchen Städte Pettau und Cilli aufgebaut hat, und ſchließlich an der oberen Drau 
und Sau das gerzogtum Kärnten und die Markgrafſchaft Krain. Nur im Norden 
fiel, im Gegenſatz zu der ſpäteren Entwicklung, die deutſche Grenze noch mit der Eider 
zuſammen. Im Weſten waren indes dem Römiſchen Reiche deutſcher Nation noch 
alle Landſchaften zwiſchen Schelde, Maas und Moſel mit Brüſſel, Namur, Verden 
und Toul einverleibt, wo eine ſtarke, deutſchſprechende Oberſchicht, ſoweit es ſich 
wirklich um romaniſchen Volksboden handelte, damals ſeßhaft war. 

„Von der Maas bis an die Memel, von der Etſch bis an den Belt“ ... dies deutſche 
Lied zeichnet in knappen Worten, die unſere bekannteſten Flußnamen der Grenz- 
lande künden, das Ausmaß deutſchen Sprachbodens von Weſt nach Oſt, von 
Süd nach Nord. Bern, Bozen, Klagenfurt, Radkersburg find die Städte feiner 
Südflanke, indes Preßburg, Brünn, Olmütz, Beuthen, Thorn, Inſterburg die 
ſtädtiſchen kulturellen Grengpuntte nach Oſten, Hadersleben, Stralſund, Danzig, 
Königsberg, Memel nach Norden, Emden, Aachen, Trier, Metz und Straßburg 
ſolche Kulturzentren nach Weſten zu darſtellen. Nicht weniger als neun dieſer deut- 
ſchen Kulturherde liegen heute in Feindesland. Wären nicht im Oſten zwei große 
Vöͤlkerkeile dem deutſchen Sprachgebiete eingedrückt, der polniſche und der tſchechiſche, 
würde es die Geſtalt eines mächtigen unregelmäßigen Trapezes beſitzen, deſſen 
breite, durch ſiebzehn Längengrade ſich erſtreckende Grundlinie an der Waſſerkante 
verläuft, indes die kürzere, nur zehn Längengrade ſchneidende obere Linie ſich dem 
Gebirgswall der Alpen anlehnt. Die geographiſche Wiſſenſchaft hat kürzlich die 
Größe des deutſchen Sprachgebiets planimetriſch neu ausgemeſſen und ihm 
652000 qkm gegeben. Von ihm liegen 365000 qkm im Kernland weſtlich von Elbe, 
Saale, Böhmerwald, der Enns und dem Großglockner, 287000 im Kolonialland 
öſtlich der Elbe. Innerhalb der alten Grenzen des Reiches von 1871—1918 finden 
wir 72% des deutſchen Sprachgebietes, innerhalb der neuen Grenzen jedoch nur 
66% desſelben. 49000 qkm entfallen auf die Niederlande, Belgien und Luxem- 
burg, 12000 auf Elſaß-Lothringen, 23000 auf die Schweiz, 87000 auf Öfterreich 
und Deutich-Südtirol, 27000 auf die Tſchechoſlowakei, 20000 auf Polen und Danzig. 
Dazu kommen noch die weiter abgelegenen Sprachinſeln in Krain, Ungarn, Polen 
und den baltiſchen Provinzen. 

Die Territorien von acht Staaten berührten das im Herzen von Mitteleuropa 
gelagerte Deutſchland Bismarcks. Ihre Zahl ſtieg mit den aus dem Schoße des Ver- 
ſailler Diktats entſtandenen Mittel- und Kleinſtaaten auf zehn. Es iſt ſomit eine 
mannigfache Umklammerung gegeben, eine Kehrſeite feiner zentralen Lage in 
Europa, die für Verkehr und Wirtſchaft freilich viel der Vorteile birgt. Von den fünf 


468 Grothe: Scotzbeutſchland, fein Lebensraum und feine Geenzen 


Staaten der Oſtflanke werden ihrer drei (Polen, Tſchechoſlowakei und Südſlawien) 
von franzöſiſchem Willen gelenkt: durch finanzielle und militäriſche Hilfe find fie zu 
Werkzeugen der neuen Umkreiſung Deutſchlands geftaltet worden. Und von Litauen, 
das erſt kürzlich ſich unter den Augen des Völkerbundes des Memelſtaates bemdd- 
tigte, um ſich für den Verluſt Wilnas an Polen zu entſchädigen, iſt ſchwerlich eine 
freundliche Haltung zu erwarten. 

Eine noch buntere Reihe ergibt ſich, wenn wir die Volksſplitter betrachten, die 
ſich um den Sprachboden deutſchen Volkstums gruppieren. Es ſind im Oſten, Sũden 
und Weſten: Eten, Letten, Litauer, Maſuren, Kaſchuben, Polen, Tſchechen, Slo- 
waken, Magyaren, Slowenen, Kroaten, Serben, Friauler, Ladiner in Südtirol und 
in der Schweiz (Rhätoromanen), Italiener, Franzoſen, Wallonen, Belgier. Rings 
her feben wir alfo im weiten Kreiſe von Nordoſt zu Oft, Südoſt, Süd und Weft 
achtzehn Völker und Volksteile, die zur Mehrzahl auf Koſten deutſcher Erde und 
deutſcher Menſchen eine Bereicherung an Gebiet, Kulturgut und Wirtſchaft erftre- 
ben. In dem großen Ring, der um den deutſchen mitteleuropäiſchen Volksboden 
gelegt ift, figen Raſſenverwandte allein im Norden mit Holländern, Dänen, Nor- 
wegern und Schweden. Aber auch hier in der Nachbarſchaft verwandter Raſſen iſt 
Schutz und Sicherheit vor nationaliſtiſchen Beſtrebungen nicht völlig gegeben. Auf 
der jütländiſchen Halbinſel hat der kleine Däne die Niederlage Deutſchlands benutzt, 
um unter Hervorholung alter Streitpunkte ſich Beute an Land zu holen. 

Schuͤtzender Naturgrenzen entbehrte das Deutſche Reich von 1871 nahezu völlig, 
mit Ausnahme derjenigen der Nord- und Oſtſee. Und im Rumpfdeutſchland von 
1918 find die Türen und Fenſter, die für leichten Einmarſch der Nachbarn offen 
ſtanden, noch weiter aufgeriſſen. Im Oſten wurde die früher ſchon ungemein lange 
und ſchwer zu verteidigende Grenze um ein Drittel vergrößert und die Reichs- 
hauptſtadt Berlin ihr auf nur 120 km nabegeriidt. Indem die deutſchen Flüſſe durch 
das Verſailler Diktat fremder Kontrolle unterſtellt find, machte man Rumpfdeutſch⸗ 
land geradezu zum Tummelplatz nicht nur der Anlieger, wie Polen, Tſchechen, Fran- 
zoſen, ſondern auch der Italiener und Engländer, die in den zur Aufſicht der Fluß- 
ſchiffahrt eingeſetzten Ausſchüſſen vertreten ſind. Der deutſche Volksboden eines 
künftigen Großdeutſchlands wird im Weſten und Süden günftigere Naturgrenzen 
zu gewinnen haben, die heute nicht beſtehen, und zwar durch Vogeſen, Ardennen 
und die Ketten der Alpen. In Often und Süͤdoſten, wo im Laufe der Jahrhunderte 
ſich die Völker derartig hin und her ſchoben, daß ſie inſelartig ſich ineinanderbetten, 
wird die Abgrenzung im Wege von natürlichen oder ſtrategiſchen Grenzen zur Un- 
möglichkeit oder zur Ungerechtigkeit für einen der Grenznachbarn. Hier läßt ſich wohl 
nur ein Ausweg ſchaffen: die Volkstumsgrenze wird zur Kulturgrenze geſtaltet. 
Durch Abſtimmung entſcheiden ſich die Bewohner über ihre Hinneigung zum deut- 
ſchen oder ſlawiſchen Sprach- und Kulturkreis. 

Sind Möglichkeiten gegeben, die Errichtung eines „Großdeutſchland“ in abſehbarer 
Zeit zu erreichen, ſo daß die heutige Generation ſolche Gedankengänge pflegen kann? 
Gewiß, nur ſchrittweiſe wird ſich die Bildung eines ſtaatlich geeinten größeren 
Deutſchlands vollziehen. Die kulturelle Sammlung des Deutſchtums, die Schaffung 
des Bewußtſeins einer deutſchen Geſamtkultur und einer unlösbaren Zugehörig⸗ 


Grothe: Grohdeutſchland, fein Lebensraum und feine Grenzen 469 


keit zum deutſchen Volkstum, ift das nächſte und das am eheſten erreichbare Ziel. 
Es hat der erſte Bauſtein des Werkes der Zukunft zu fein. Ganz von ſelbſt wer- 
den ſich dann Folgen politiſcher Natur einſtellen, die mit den Grenzen zwiſchen 
Gliedern von Volksgenoſſen aufräumen. Die Reviſion der Grenzen im Often von 
Rumpfdeutichland beſchäftigt heute ſchon die Staatsmänner fremder Staaten mehr 
als unfere eigenen. Daß in die „Sicherheiten“, wie fie Frankreich für die Räumung 
der Kölner Zone verlangte, eine Gewähr der Erhaltung des polniſchen Korridors 
ſich niemals einbeziehen läßt, dieſer Tatſache haben die Verhandlungen von Locarno 
Anerkenntnis verſchafft. Einen bezeichnenden Aufſatz ſchrieb im Frühjahr 1925 Lloyd 
George, derfelbe, der feinen Namenszug mit unter den Vertrag von Verſailles ſetzte. 
Wie er die Oft- und Südoftfragen Europas beurteilt, ergibt ſich aus folgenden Worten: 
„Immer wieder habe ich darauf aufmerkſam gemacht, wie ſich einige der durch den 
großen Krieg befreiten Nationen ſelber unvermeidliche Schwierigkeiten bereitet haben 
durch ihre Gier nach Land, das bis vor kurzem anderen Völkern gehört hatte. Nach- 
dem dieſe neubefreiten Völker Menſchenalter hindurch lebendig begraben waren, ſind 
ſie aus ihren Gräbern herausgetreten, mit einem wütenden Hunger nach Land und 
Menſchen, den nichts zu ſtillen vermochte. Polen wird eines Tages ſeine Gefräßigkeit 
übel bekommen. Wer wird es dann zu retten vermögen? Polen hat ganze Fetzen 
von unverdaulichen Ukrainern, Weißruſſen, Deutſchen, Litauern verſchluckt. Nicht 
zufrieden mit dieſer beſchwerlichen und erdrückenden Mahlzeit, ſucht es jetzt die 
ganze, durch und durch deutſche Stadt Danzig zu verſchlingen. In jenen Teilen 
Europas bedeutet der Prozeß der Wiederherſtellung eine der unvermeidlichſten 
Sorgen der Zukunft.“ 

Reviſionen des Vertrages von Verſailles von kleinerem oder größerem Umfange 
wird alſo das nächſte Jahrzehnt unſtreitig bringen. Da heißt es, daß wir deutſcher⸗ 
ſeits uns rechtzeitig klarmachen, wohin unfere Forderungen auf Umſtoßung des 
Friedensvertrags in territorialer Hinſicht gehen. Eine ganze Generation der 
Tſchechen und Südſlawen hatte im ſtillen Wünſche genährt, geformt, fie ausgebaut 
und begründet, ſo daß am Schluſſe des Weltkriegs in Verſailles ſcharf gefaßte und 
durch zum Teil gefälſchtes Beweismaterial geſtuͤtzte Formulierungen für aufgeſtellte 
Forderungen vorgelegt werden konnten. 

Eines verkenne man nicht: wir haben einen Rechtsgrund, die Revifion des Ver- 
failler Dittats zu fordern, wenn auch unſere Machtmittel zu ſolcher Umgeſtaltung 
der Friedensbedingungen gegenwärtig noch nicht ausreichen. Aber mit dem Grade 
unſerer inneren Erſtarkung und der wachſenden Erkenntnis von der Unwahrheit 
der Kriegsſchuldlüge in der Welt und vom Sitze eines bedrohlichen Militarismus in 
Paris wird auch die Zwangsjacke des Dittats von Verſailles und St. Germain fallen. 
Eine Erſchließung der Verſailler Geheimakten hat gelehrt, daß die amerikaniſchen 
Vertreter in Paris 1918 die ſtrenge Einhaltung der Vorabreden mit Präſident Wilſon 
forderten, die fie, wie das getäuſchte Deutidland, als einen rechtsgültigen Vertrag 
anſahen. Und als Grundlage der Friedensbedingungen und einer Neuregelung der 
Staatsgrenzen war das Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker auserſehen. Die dies- 
bezüglich maßgebende Kundgebung Wilſons lautet bekanntermaßen: 

„Es ſoll weder Annexionen noch Entſchädigungen geben, Völker und Provinzen 


470 Grothe: Großdeutſchland, fein Ledensraum und feine Grenzen 


follen nicht von einer Staatshoheit in eine andere geſchoben werden, als ob es ſich 
nur um Gegenſtände oder Steine in einem Spiel handelte. Jede Löſung einer Ge- 
bietsfrage muß im Intereſſe und zugunſten der betreffenden Bevölkerung und nicht 
als Teil eines bloßen Ausgleichs oder Kompromiſſes rivaliſierender Staaten ge- 
troffen werden.“ | 

Ins Gewicht für die Löſung des Problems Großdeutſchland fällt aber vor allem 
die zahlenmäßige Stärke der deutſchen Menſchen, ſobald dieſe mit feſtem und 
einigem Willen ein Großdeutſchland heiſchen. Ein Viertel aller Deutſchen iſt gewalt- 
fam vom Reiche getrennt. Unter Fremdherrſchaft kamen von der Zahl der Grenz- 
deutſchen rund 1650000 in Elſaß-Lothringen, in Moresnet und Eupen- Malmedy, 
800000 an der Saar, 250000 in Südtirol und im Tarwisgebiet, 200000 in Slo- 
wenien, 3750000 n Böhmen, 1½¼ —1!/, Mill. in Polen, 120000 in Memel, 315000 
in Danzig, 40000 in Schleswig, das find zuſammen gut 8 / Millionen Deutſche. — 
Weiter wurde 6730000 deutſchen Volksangehörigen in Oeutſch-Oſterreich der ein- 
mütig verlangte Anſchluß verboten. Das find zuſammen nahezu 16 Millionen un- 
erlöfte Deutſche, die zu einem einigen Großdeutſchland ſtreben. Eine Irredenta, 
gegen die, wenn ſie unter dem Orucke der Entrechtung und Vergewaltigung eines 
Tages zur Entfaltung und Entfach ung gelangt, jede frühere in Europa als harm- 
loſe Kleinigkeit ſich ausnimmt! Sie iſt dann einunddreißig mal ſo groß als die 
franzöſiſche in Elſaß- Lothringen und die italieniſche in Tirol wa! Sechzehn 
Millionen — ſoviel wie die Bevölkerung der geſamten einundzwanzig nord- 
amerikaniſchen Staaten weſtlich des Miſſiſſippi ohne Miſſouri und Jowa, vier Fünftel 
ſoviel wie diejenige Spaniens, faſt halb foviel wie die Frankreichs! 

Die ſtaatlichen Bildungen zur Umfaffung der Deutſchen haben im Gange eines 
Jahrtauſends notgedrungen, je nach den die weltliche Macht tragenden Kräften und 
dem Geiſte der Zeit, wechſeln müſſen. Zuerſt erſtand das mächtige Römifche Reich 
Deutſcher Nation. In den Weſten und Oſten Europas ragte es weit hinein und um- 
ſchloß alle Deutſchſtämmigen, dazu freilich viel fremdes Volkstum. Nach ſeinem 
Zuſammenbruche kam der Deutſche Bund von 1815—1866. Als eine äußerliche 
Bindung, in der die Eiferſucht zwiſchen dem ehemaligen Träger der Kaiſerkrone, 
Oſterreich, und dem mächtig aufſtrebenden Preußen bald zum Moment der Spren- 
gung werden mußte, hatte er nur kurze Dauer. An ſeine Stelle trat das Deutſchland 
Bismarcks, dem trotz der Genialität feines Schöpfers die Merkmale eines Klein- 
deutſchlands anhaften mußten. Dieſem ſiebenundvierzig Jahre glanzvoll beſtehen- 
den „dritten“ Reiche folgte durch den Zwang der Sieger das beklagenswerte 
Rumpfdeutſchland unſerer Tage. 

Im Leben der ganzen Menſchheit wie in dem der einzelnen Völker vollzieht ſich 
jede Entwicklung in Wellenlinien, die Höhen und Tiefen zeigen. Wir ſind kein in 
phyſiſcher und ſeeliſcher Zeugungskraft abſterbendes Volk, foviel Wunden auch durch 
den Materialismus der Zeit, durch Verſagen der Pflichterfüllung, durch Weichen der 
Perſönlichkeit vor den Inſtinkten und Leidenſchaften der Maſſe ſeit Beginn des Welt- 
krieges, aber vielfach auch ſchon früher, in den Volkskörper ſich eingefreſſen haben. 
Aus dem engen Wellental eines Rumpfdeutſchland wird und ſoll Schwung und Auf- 
ſtieg kommen zu einem reiferen und ſtärkeren Großdeutſchland. 


Wolzogen: Was iſt die Welt? 471 


In ihm möge der deutſche Menſch ſich entfalten, der feinen wertvollen Lebens- 
raum, ſeinen glücklichen Boden, ſeine Vermittlerrolle im Herzen Europas durch 
vollſte Ertüchtigung wieder zu erringen weiß ... ein deutſcher Menſch, dem nicht 
Geldſack, Valuta- und Warenſpekulation, Bankdiskont und Anleihegeſchäfte das 
einzige große Evangelium find ... ein deutſcher Menſch, der in der Welt feinen 
Geiſt, ſein Können und ſeine Führerkräfte einzuſetzen vermag gegen angelſächſiſche, 
romaniſche und flawifche Einflüffe und neben dieſen ... ein deutſcher Menſch, der 
mit Goethe in höchſter Pflichterfüllung gegen ſich und fein Volk den Weg der Ve- 
rufung zu gehen entſchloſſen iſt und in dieſer Aufgabe ein wahres, befreiendes und 
erhebendes Glücksgefühl empfindet und hegt. 

Im Deutiden Reiche von heute find nur 70—75 Prozent aller Deutſchen Mittel- 
europas beieinander. Ein Großdeutſchland im kulturellen Sinne bedeute 
eine Geijtes- und Seelengemeinſchaft, die im geſchloſſenen mitteleuropaͤiſchen Sied- 
lungs felde über eine Menſchenmaſſe von reichlich 80 Millionen gebietet und, wenn 
wir das geſamte Deutſchtum in der Welt ins Auge faſſen, von 100 Millionen Volks- 
genoſſen nicht weit entfernt iſt. Scheiden wir die Oeutſch Schweizer im mitteleuro- 
päifhen Dorgeldnde aus, fo umſchließt ein politisches Großdeutſchland der Zukunft in 
Mitteleuropa doch früher oder ſpäter an 75 Millionen Volksgenoſſen und nicht nur 
62 Millionen wie das Rumpfdeutſchland unſerer Tage. Den Regierenden dieſes 
Staates wie der großen Maſſe kann nicht auf die Dauer allein die Wohlfahrt der 
eigenen Pfahlbürger Selbſtzweck und Dafeinsfinn fein. Das Denken der Führer und 
Geführten muß ein ſchöͤpferiſches werden, und neue Aufgaben haben in den Kreis 
der Erwägungen und Pläne einzutreten. Reparations- und Räumungsfragen ſind 
wohl noch für Jahre hinaus notwendiger Gegenſtand ihrer Sorgen und Kämpfe, 
kõnnen es aber nicht ſtändig bleiben. Früher oder jpäter heißt es in Anknüpfung an 
die Staatsgedanken eines Miniſters der Aufbauzeit nach 1813, des großen Reorgani · 
ſators vom Stein, vor deſſen Augen bereits ein mit dem Volksboden Mitteleuropas 
ſich verſchmelzendes Reich ſtand, die Straße zu ſchreiten zur Einheit des deutſchen 
Volkstums im Schoße eines Großdeutſchlands gemäß Recht und Gerechtigkeit, 
gemäß einem Völkerbundsgedanken, der friedlich ſich ſcheidende Völker 
im Rahmen ihrer wirklichen Beſtandteile, Kräftequellen und Kultur 
grenzen zur höchſten wirtſchaftlichen und geiſtigen Soulsommenpeit 
ſich entwickeln läßt. 


Was iſt die Welt? 


Von Hans von Wolzogen 
Der eine lehrt — es war ein Weiſer —: Der andre meint — er iſt ein Sraver —: 
Das Arge nur regiert die Welt; Die Welt iſt doch im Grunde gut; 
Das Gute iſt ein Schein, ein leiſer, Das 8 wirkt nur als Beſtrafer, 
Der hier und da den Weg erhellt. N Wenn einer mal nichts Gutes tut. 


ch aber denke, kampfgewärtig: 

wei Welten gibt es überhaupt, 
Und mit der argen wird man fertig, 
Wenn man nur an die gute glaubt. 


472 


Der Dämon des Lichts 


Ein Rembrandt⸗Roman von Herbert Martens 
(Sup) 


1669 
1. 

uſart holt den Meifter gum Morgengang, fo dachte Cornelis Suythoff, der auf 
Dos Sůdſeite der Roſengracht wohnte, ſchräg gegenüber dem Haufe der van Ryn. 
Ein beſcheidenes Dachzimmer, das eher einer engen Schiffskoje glich, diente dem 
jungen Malermeiſter zum Leben, wie es ſonſt nur Studenten zu jener Zeit und zu 
allen erdenklichen Zeiten bezogen: dunkel, feucht und unbehaglich. Und doch hatte 
auch dieſer enge Raum feine Zierde: das hohe, mit Blumenftöden beſtandene Dach 
fenfter, zu dem eine Leiter hinaufführte. Hier ſaß Suythoff tagein, tagaus, mit 
den feinſten Haarpinſeln eine winzigkleine Holgtafel mit einer erdachten Land- 
ſchaft belebend: zwei knorrige Eichen nach einem Gewitter, die Luft geſchwängert 
mit Feuchtigkeit; vorn zieht ein Waldpfad vorüber, auf dem zwei Reiter in die 
hügelige Weite an einem Weiher vorbei hinausziehen, beide mit zinnoberroten 
Röcken angetan. — Seit Cornelis Broom die hergebrachte Bildſtaffage; die Unter- 
malung in einem rötlichen Ton, und Luft und Wolken hübſch laſiert. 

Es war Vorſommer; die Linden auf der Prinzengracht ſandten ihren betduben- 
den Duft herüber; die Schwalben huſchten am Fenſter vorbei; die Geranien reckten 
ſich hoch empor, als könnten fie dann die Straße beſſer überblicken. Und ein zärt- 
lich warmer Sonnenſchein vergoldete die dunkelſten Erker und Winkel, die roten 
Giebel der langen Häuſerreihe und den Turm der Weſterkerk, und vergoldete 
Suythoffs junges Malerherz, das in einemfort lachte, richtig laut lachte, hatte er 
doch ſoeben noch einen glänzenden Blick von Cornelia erhaſcht, die den Vater bis 
auf die Straße begleitete. Heute war Sommerwetter drinnen und draußen, und 
übergenug Seligkeit, um einen ganzen langen Arbeitstag damit zu füllen. Er ſchob 
ſeinen breitkrempigen Hut tief in den Nacken, liebäugelte mit den feinabgeſtimmten 
Tönen ſeines Dutzendwerkleins und ſchnitt dabei die verliebteſten Grimaſſen. 

Währenddeſſen luſtwandelten die beiden Männer zu den Seilerbahnen, die ſich an 
der Innenſeite der Stadtwälle weit nach Süden hinzogen, im Schatten einer ſchmalen 
Ulmenallee. Sie hatten ſich nicht viel zu erzählen. Der frühe Morgen war fo farbenreich 
wie ein Stilleben von Snyders für ihre empfindlichen Augen, der die feinſten und 
ſchönſten Leckerbiſſen auf rotem Tuch in den herrlichſten Farben zu ſchildern verſtand. 

— Duſart, wie ſchön iſt doch die Welt! — 

Zwei junge dralle Milchmädchen mit ihrer kupfernen Kanne in jedem Arm 
ſchritten vorüber. 

— Duſart, das Leben iſt doch das Schönſte! Ich habe nie den Mut gehabt, 
dieſes rotbädige friſchblütige derbe Leben in feiner ganzen Harmonie der quellen 
den Freude darzuſtellen, wie es Rubens gekonnt. Ja, diefer Fürft unter den Großen 
verſtand fein Leben zu meiſtern. Ich komme mir oft vor wie ein Geift der Finjter- 
nis und habe doch mein ganzes langes Leben um das Licht meiner Seele ringen 
müſſen. Der große Peter Paul hatte es leichter. Ihn verſtand man, mich nicht. 


Martens: Der Dämon bes Lichts 475 


— Meifter Rembrandt, der Weg, den du bis zu Ende gegangen bift, war nicht 
von lieblichen Gärten und zauberiſchen Wäldern umſäumt. Er führte durch enge 
ſchmutzige Gaſſen, wo das hungernde und bettelnde Volk an den Türen lungert. 
Du gingſt zu den Armen und Breſthaften, zu den Einfältigen und Irren, um der 
Menſchheit die Leiden dieſer Ausgeſtoßenen zu ſchildern im Lichte der Bibel. Ach, 
Meiſter, du deckteſt die Blößen und Wunden der Beladenen auf, und ich will nicht 
wiſſen, ob du nicht redlicher mit ihnen deinen Überfluß teilteſt als die Reichen in 
ihren Paläſten. — 

— Du mußt kein Weſen daraus machen! Ich gab, was ich konnte; aber ich hätte 
zehnmal mehr geben müffen. Es war alles immer nur Stückwerk. — 

— Nicht immer, Meiſter Rembrandt! Dein Werk atmet den Geiſt der ſchmerz⸗ 
lichen Liebe. Es iſt etwas in dir, was uns Männer aus dem Volk in die Knie zwingt. 
Der Tag wird kommen, wo die Kinder deinen Namen wie etwas Reines, Son- 
niges ausſprechen werden, und die Eltern werden ihnen recht geben und ſie darin 
beſtärken. — 

— Sufart, mich ermüdet der Sonnenglanz. Auf der Seite der „Rofe“, die nach 
der Raampoort hinabführt, iſt es ſchattig. Dort wollen wir uns niederlaſſen! — 

Von dort aus konnten ſie ganz Amſterdam liegen ſehen, die trägen Fluten der 
Amſtel, das breite vielverzweigte Becken der Kanäle, den weiten Hafen, auf deſſen 
Reede die großen Kauffahrer und Kriegsſchiffe lagen. Zuweilen ſtieg ein weißes 
Pulverwölkchen in die blaue Luft: O du uraltes Heimweh der Menſchen, das bie 
dieſem Anblick das Herz beſchwert, bei dem Anblick des in ferne Weltmeere hinaus- 
ſegelnden Schiffes! 

Dann die hohen ſteilen Kirchtürme, verwittert und ſchwarz vor Alter. Die unend- 
lich vielen ſpitzen Giebeldächer, die rauchenden Kamine; und das Gewimmel der 
Menſchen, der ewig raſtloſen, kämpfenden Kreaturen Gottes! 

Heute war es windſtill: die Rauchſäulen gingen fteil in die Höhe, und die Gäge- 
und Gerbermiiblen lagen wie tot. Kam aber die friſche Seebriſe daher, dann raſten 
die ungeheuer großen und ſteilen Flügel ſauſend durch die Luft, dann bebte die 
Erde, und die Vögel des Landes wurden ſcheu und unruhig. 

An dieſem frühen Morgen waren die beiden Zufahrten zur Stadt mit einer un- 
überſehbaren Reihe von Fuhrwerken bedeckt, die alle ihr lebendes Vieh, ihre Ge- 
müſe, Milch, Eier und Butter in die Läden und Hdufer ihrer Kunden brachten, und 
auf dies emſig belebte Bild waren die Augen der beiden Männer gerichtet, die ſich 
ins hohe Gras der Zitadelle gelegt hatten. 

Plötzlich geriet der lange Zug ins Stocken, der durch die Bloemgracht ins Herz 
von Amſterdam einbog. Die Fuhrleute und Bauern fluchten und hieben auf die 
ſcheugewordenen Gäule ein. Es kam ihnen ein einzelnes ſchnellfahrendes Geſpann 
entgegen, das in flotteſter Gangart die Heerftrake erreichen wollte. Der leichte 
Wagen war mit billigem Hausrat und Gerümpel, das mit Stricken aneinander- 
gebunden war, recht und ſchlecht beladen. Eine ganze Schar ſchreiender, johlender 
Kinder hing an allen vier Seiten des hin und her ſchwankenden Gefährts und be- 
unruhigte durch gellende Zurufe und Peitſchenknallen den behaglich im Halb- 
ſchlaf dahinzuckelnden Wagenzug. Hinter dieſem Störenfried kam eine offene 


474 Martens: Der Dämon des Lichte 


Reifetalefde daher, in der die bekannten hageren Geftalten Jan Lievens und feiner 
drei erwachſenen Söhne ſichtbar wurden, als fie gerade aus der Raampoort hinaus 
rollte und die Feſtungsbrücke paſſierte. 

Duſart hatte ſie gleich erkannt und begrüßte mit mächtigem Schwenken ſeines 
Hutes die unten Vorbeifahrenden. Lievens ließ halten und gebot dem Kutſcher, 
an dem nddften Kreuzweg zu warten, bis er nachkäme. Dann kletterte er mühſam 
mit ſeinen langen ſteifen Beinen die Böſchung hinauf. Temperamentvoll wie immer 
breitete er dem alten Sugendfreunde die Arme entgegen: 

— Mein alter Freund, laß dich noch ein letztes Mal an die Bruſt drücken. Nach dem 
Haag ſoll es gehen, mit Sack und Pack. Ein trauriger Auszug aus dem gelobten 
Land, wo kein Honig uns Künſtlern mehr fließt. Dabei ſteckt mir wieder die alte 
Wanderluſt in den Gliedern. Fort muß ich, hinaus in die Welt! Nach Antwerpen 
und Paris, nach Rom und Florenz! 

Mein bißchen Anſehen iſt hier völlig abgewirtſchaftet. Schulden über Schulden! 
Sprechen wir nicht davon! Da haben wir uns doch, alter Freund, das Leben lich- 
reicher vorgeſtellt, als wir vor bald vierzig Jahren Arm in Arm durch dieſes gleiche 
Tor ſingend und unbeſchwert einzogen. Wir laſen damals, wie dem mittelmäßigen 
Maler Bartholomäus Spranger von der Amſterdamer Bürgerſchaft der Ehrenwein 
gereicht wurde, und wir prieſen dieſe Stadt. Es kommt immer anders als es ſich 
der Menſch fo gern ausmalt. Beim Horn des Satans, die Kunſt iſt heut auf Ab- 
bruch zu verkaufen, auf dem Trödlermarkt zu verhökern. Mich ekelt vor dieſer Stadt 
voll Lumpengeſchmeiß! — 

Hierbei ſpie er kräftig aus, und ein ungeheurer Strom von zyklopiſchen Fluchen 
ergoß ſich in den warmen Sommertag hinaus, daß es eine Schande war. 

— Jan, du kommſt wieder, ein neuer Lenz treibt dich zurück, du biſt mir immer 
der beſte Freund geweſen. Wer weiß, vielleicht [Hist und einigt uns einft das gleiche 
Kirchenſchiff. Ich kann dich nicht halten. Zieh wieder hinaus! Deine Freundſchaft 
und dein tiefes Verſtändnis für meine Art haben mir die ſchwerſten Jahre lebens- 
wert gemacht. Unfere gemeinſame Zugend war ſchön wie ein Traum. Dank, Dank, 
du herrlicher Menſch! — 

Lievens hatte noch etwas auf dem Herzen; man ſah es ihm an. Er legte ſeinen 
langen Arm ſchützend um den Freund. 

— Rem, ich fühle, wir ſehen uns nicht wieder. Niemals haben wir die Zeit mit 
Worten verpraßt. Auch heute nicht. Aber eines muß ich dir noch ſagen, ein Letztes: 
Viel und lang hab' ich über deine Kunſt nachgedacht, und ich wäre auch nicht recht 
dahinter gekommen, was fie fo groß macht: da fang mir einmal Jordaens ein altes 
vergeſſenes Kirchenlied von dem ewigen Licht, das in der Geftalt des Herrn Jeju 
auf die Welt kam. Ich will nicht läſtern, nein, das liegt mir fern; aber niemals habe 
ich etwas im Leben empfunden, das ſo groß und gewaltig, ſo namenlos tief und 
ergreifend und doch fo zart und fein von diefem ewigen Licht des alten Liedes 
Kunde gab wie deine Kunſt. Das wollte ich dir immer noch ſagen! — 

Ein letzter Handſchlag, ein letztes ſtummes Abſchiednehmen, und Jan Lievens 
lange Geftalt wanderte hinaus in die Welt, um noch ein letztes Mal fein Glück zu 
verſuchen. 


Martens: Oer Damon des Lichts 475 


2. | 
Der einſame Meifter ſaß am offenen Fenſter der Malkammer in feinem langen 
ſchmutzigen Kittel, an dem er gewohnt war, die Pinſel ſorglos abzuwiſchen; er ließ 
ſich die fröſtelnden Glieder von der ſpaͤten Nachmittagsſonne des dritten Oktobertages 
beſcheinen, die nur kärglich hereindrang. Schon längjt erregte das gewohnte Straßen 
bild feine Teilnahme nicht mehr. Es war immer dasſelbe Geſchrei der Gemüſe⸗ 
händler und Ausrufer, die Leierkaſtenmuſik der erblindeten Gaukler und der gaukeln 
den Erblindeten, der Bettler aus Not und aus betrügerifcher Abſicht, die von zer- 
lumpten Kindern begleitet waren. Ein Hanswurſttheater lockte die ſpielende Jugend 
von beiden Seiten der grachtdurchzogenen Straße um ſich, die mangelhaft bepflaſtert 
war und eher einer Dorfallee mit ihren ſcharrenden Hühnervölkchen ähnelte, als 
einer Seitenſtraße der prächtigen Prinzengracht. | 

Er blieb jetzt am liebſten zu Haufe, in den grauen dumpfen Mauern der ſchmalen 
Zimmer, vor ſich hingrübelnd und kaum noch dem Licht und dem Leben zugetan. 
Selten beſchäftigten ihn noch die Probleme feines Künſtlertums. Wie hatte ſich ihm 
ſeit dem frühen Hereinbrechen des Herbſtes alles Sein und Weſen in ein lebloſes 
Grau verwandelt! Waren wirklich erſt zwei Sommer dahingegangen, ſeit er in der 
verlöſchenden Kraft feines unbändigen Temperaments den weinenden König Saul 
förmlich mit dem Spachtel auf die Leinwand meißelte, ſeine beiden Kinder als 
Boas und Ruth, in innigſter Zärtlichkeit umfangen, mit der letzten Glut ſeines 
geprüften Herzens verherrlichte? Welch eine große erhebende Zeit war dies für 
ihn geweſen, als er den Borſtenpinſel wie einen Zauberſtab ſchwang, mit dem er 
die Geſtalten feiner Viſionen ins Leben rief. Er ſchuf jetzt nur noch ſeelenloſe Ge- 
bilde, Schemen des Irrſinns und des Todes. 

Oft kam ihn die wilde Luft an, fie alle zu vernichten, dieſe Zeugen feiner er- 
loſchenen Kraft. 

Er erhob ſich ächzend und ging mit humpelnden Schritten auf die Staffelei zu, 
um fein letztes Selbſtbildnis zu zerſtören, dieſen gutmütig und blöde dreinfchauen- 
den Greis mit den kunſtvoll geringelten Locken. Fort mit dieſem Plunder, der ihn 
affte! Er riß das Bild empor, um es zu vernichten. Da klopfte es trocken an die 
Tür, als hätten die Knochenfinger des Todes ein mahnendes Wort geſprochen. 


J. 
— Wer klopft? Wer ſtört mich bei der Arbeit? — 
— Herr, es iſt einer von denen, die man nicht gern bei ſich ſieht. — 
— Einer, der kommt, um mich zu quälen? — 
— Herr, ich fürchte, es könnte ſo ſein. — 
— $c empfange niemals bei der Arbeit. — 
— Das iſt das Vorrecht eines großen Meiſters. — 
— Harmen Becker, ich erkenne deine Stimme, tritt ein! — 
— Bch fühle mich geehrt, den Freund meines Volkes begrüßen zu dürfen. — 
— Woher ſtammſt du, Harmen? — 
— Aus Riga, meine Vorfahren aus dem Ghetto von Kiew. Vor fünfzig Jahren 
wanderte ich hier ein. — 


476 Martens: Der Dämon des Lig 


— Was iſt dein Begehr, Jude? — 

— Jch heiſche mein Geld und meinen Anteil an Euren Bildern. Ihr ſeid in meiner 
Schuld. — 

— Geld habe ich keines, nur Bilder. — 

— Mit dem Gelde hat es keine Eile. — 

— Port an den Wänden ſteht das Werk des letzten Jahres. — 


— Meiſter, ich habe die Bilder geprüft. Es war kein Rembrandt darunter. Hier 
der gegeißelte Chriſtus: welche mittelmäßige Auffaſſung! Dort Euer Gelbitbild- 
nis: ein einfältig dreinblickender Mann. Und die Rebekka am Fenſter, die beiden 
Bildniſſe eines Jünglings: Herr, ein ſtumpfer Irrſinn ſteht in ihren Zügen und 
Augen. — 

— Aber Harmen, die Malart, die koloriſtiſche Wirkung! — 

— Neiſter, es fehlt die gewaltige Auffaſſung des menſchlichen Seins. Die hattet 
nur Ihr. Ich ſah vor mehreren Jahren ein Bild von Euch, der weinende König 
Saul. Herr, ich habe innerlich geweint, als ich das Bild betrachtete. Es kam über 
mich der ganze Jammer meines Volkes. Da pries ich Euch als den Verkündet 
unferer Schmerzen, als den neuen auferſtandenen Propheten. Hier aber rauſchen 
keine Adlerfittiche. Ich kenne die Tatze des Tigers. Dies find nur Katzenpfoͤtchen, 
Herr! — 

— Was ſoll ich dir darauf antworten? — 

— Großer Meifter, es hängt noch in der Beſten Kammer ein Bild: Die Heim- 
kehr des verlorenen Sohnes. Nach dem Urteil von Chriſtian Duſart und Abraham 
Franken iſt dies Bild ſeine dreihundert Gulden wert. — 

— Harmen, ich gebe dir das Bild nicht. — 

— Es wäre bei mir gut aufgehoben, ich bin ein Beſchützer der Kunſt. — 

— Sndem du deine Stüber den verhungernden Künſtlern darleihſt, gebieteſt du, 
alter Mann, nach ihrem elenden Tode über koſtbares Malwerk. — 

— Herr, Ihr ſeid zu ſtreng. Ich bin ein Handelsmann. — 

— Harmen, mit dem Bilde iſt es nichts. Solange ich lebe, wird die alte Schuld 
an Jan Six nicht eingelöſt. — 

— Warum nicht, Meiſter? — 

— Gie zertrümmerte eine Freundſchaft. Warte bis nach meinem Tode. Es währt 
nicht mehr lang. — 

— Meifter, es fei, wie Ihr wünſcht. — 

— Warum gehſt du nicht? — 

— $c habe Eure letzten Bilder ſchlecht gemacht. Jetzt kann ich mich von ihrem 
Anblick nicht losreißen. Sie üben einen unheimlichen Zauber aus. Ich empfinde 
in ihnen Dinge, die ich nicht auszudrücken vermag. Vor allem in den Bildniſſen 
Eures Sohnes und der Magdalena, der armen Witwe. Glaubt Ihr, daß man vor 
ſeinem Ende den leibhaften Tod in ſich trägt? — 

— Wie kommſt du zu dieſer Frage? — 

— Zn jedem dieſer Bilder ſeh' ich dieſen leibhaften Tod. Ich muß fliehen um 
nicht von ihnen verfolgt zu werden! — 


Martens: Oer Damon des Lichts 477 


Er floh wirklich. Seltſam, wie empfindlich die Inſtinkte dieſes Volkes ſind. Das 
hat mich immer zu ihnen hingezogen. Wie klar werden mir doch viele Dinge am 
Ende meiner Tage! 

4. 

Als Cornelia am ſpäten Abend dieſes milden Herbittages aus der Stadt heimkam 
und müde und beklommen die ſchmale ſteile Treppe bei der ſchlechten Beleuchtung 
emporſtieg, kam in ihr das unbeſtimmte Gefühl auf, es ſtände jemand auf dem ober- 
ſten Treppenabſatz; aber ſie mußte ſich getäuſcht haben und fuhr ſich mit der Hand 
über die Augen, um eine trübe Ahnung zu verſcheuchen. Zitternd trat fie in die Mal- 
kammer ihres Vaters ein und wich mit einem Aufſchrei zurück. Sie fand ihn auf dem 
Boden liegend, mit dem Geſicht zur Erde, heftig röchelnd. Sie ftürzte in die Rammer 
Rebekkas und weckte die Magd, die ſchlaftrunken ihr half, den Vater zu entkleiden 
und zu betten. Während dieſe die Nachtwache hielt, eilte Cornelia hinüber zu Gunt- 
hoff, um mit ihm einen befreundeten Arzt herbeizurufen. Der ließ nicht lange auf 
ſich warten und ſtellte einen Schlaganfall feſt, der keine Hoffnung mehr zuließ. 
Der Tod konnte jeden Augenblick eintreten. Sie begleiteten ihn bis auf die Straße 
hinaus, und er verſprach, am frühen Morgen wieder vorzukommen, indem er Cor- 
nelia warm die Hand drückte. 

Da ſaßen nun die beiden jungen Menſchenkinder lange noch in der trüben Beleuch- 
tung eines Kerzenlichtes auf der Treppe und gedachten Arm in Arm verſchlungen 
des Sterbenden, den einſt ganz Amſterdam vergöttert hatte und von deſſen Daſein 
kaum einer noch etwas wußte. Cornelia war nun bald achtzehn Jahr und für ihr 
Alter ein großes ſchönes Madchen. Sie weinte all ihren jungen Kummer an der Bruſt 
des Freundes in einem Schluchzen aus, das kein Ende nehmen wollte. 

Und während oben die Seele eines Titaniden den Weg zum ewigen Lichte ſuchte, 
feierte hier das Leben ſeinen ewigen Triumph der Auferſtehung. 


5; 

— Cornelia, mir ift nicht wohl. Die Kräfte verlaſſen mich. Leg’ deine jungwarme 
Hand auf mein altes, müdes Herz. Dank für deine kindliche Treue. Es hilft! — Du 
biſt blaß geworden, Mädchen! Leg' dich ſchlafen, gutes Kind! Wir wollen beide 
einen langen Schlaf tun. — 

— Cornelia, biſt du noch da? — Sie ging wohl. — Aber Rembrandt, dort kommen 
ja Hendrickje und Titus! Was der Junge für große blanke Augen hat! Hendrickje, 
ich muß fort, nach England. Spürſt du, wie das Schiff ſchaukelt? Das Geld liegt 
in dem unterſten Käftchen in der alten Truhe aus Leeuwarden. Es iſt nicht viel. Mich 
ſchmerzt, daß es ſo wenig iſt. 

Jan Six, dein Schuldſchein iſt immer noch nicht eingelöſt. Die Zeiten waren zu hart. 

Sei nicht traurig, Saskia! Ich trinke nicht mehr, wirklich nicht. Nie habe ich einen 
Menſchen fo verehrend und demütig geliebt wie dich. Ich trank, um deine Augen zu 
vergeſſen. Wie träumeriſch ernſt du dreinblickſt. Ach, Saskia! 

Das iſt ja gar nicht Saskia! Das iſt doch meine Mutter! Wo iſt Vater? In der 
Mühle? Beim Fiſchfang an der Vaſtei? Wo haft du meinen alten Drachen hingetan? 
Wie die Mühle dröhnt und brummt! Pie alten Oelfter Taſſen Mirren noch immer auf 


473 Martens: Der Oamon bes Lidte 


dem Sims. Darf id an den Ryn, Mutter? Der Regen wird der alten zerriſſenen 
Hofe nicht ſchaden. 

Welch ein ſilberblauer Himmel über der unendlichen Weite! An der mächtig ge- 
türmten Wolkenwand reihet ſich Mühle an Mühle — Burgen mit flatternden Fah- 
nen — traumweit verliert ſich mein Blick, langſam vergeht mir die Erde — Leben, 
ich fühle dich nicht mehr — alles zerfließt mir im Licht — 


6. 

Wenn wir armſeligen troftbedürftigen Sterblichen auf das letzte Lager zu liegen 
kommen, wenn der Tod mit uns zu ringen beginnt, ſuchen die Augen, die Hände 
nach einem letzten Halt, an den fie ſich anklammern können, wenn alles vor uns ver- 
ſchwimmt: Licht, Liebe und Leben. 

Rembrandts müde zitternde Hände fuhren wie ſuchend auf der Decke umher, 
hin und her, bis ſie ihr vergebliches Taſten aufgaben und in einem zitterigen Krampf 
allmählich Raft fanden. Der Herbſtſturm hatte ſich aufgemacht und heulte im Ra- 
min, das verglimmende Holzfeuer kniſterte noch zuweilen, und die Kerzen waren 
erloſchen ... Aus dem Nebenraum ließ ſich das ruhige tiefe Atmen der lieblichen Cor- 
nelia vernehmen, und auf dem Flur hantierte ſchon die treue Rebekka. Auf der Rofen- 
gracht begann das Leben ſich zu regen, der Straßenlärm wuchs, der Alltag forderte 
ſein klares hartes Recht. 

Im fröftelnden Morgengrauen erloſchen die großen majfeſtätiſchen Augen; der 
Engel dieſes Lebens wollte nicht von dem Lager weichen, und der Tod ging ſo leiſe, 
wie er gekommen war. 

Nie wieder bis auf den heutigen Tag haben menſchliche Augen ſo tief und innerlich 
geſchaut, nie hat eine menſchliche Hand das furchtbare Geheimnis des Lebens ſo 
unerſchrocken im menſchlichen Antlitz entſchleiert. 

Wie hatte er das Leben geliebt, glühend geliebt, der große Einſame, das dunkle, 
rätſelhafte Leben, das er im menſchlichen Sinne nicht meiſtern konnte. Einſam war 
er geſtorben. Das Schickſal blieb unerfchütterlich hart bis in den Tod. Das Leben hatte 
ihn vergeſſen. 


Nachſpiel 
Zan Lievens letzte Wanderſchaft 


1674 
1. 

Ein paar armfelige Menſchenjahre find von Often nad Weiten gezogen, ſeit Rem- 
brandt den letzten Atemzug tat. Nun liegt er traumlos in der Weſterkerk, deſſen Turm 
er vom Söller ſeiner letzten irdiſchen Wohnung aus ſehen konnte und den er einſt 
mit fo großer Liebe gezeichnet hatte. Der Tote in der Weſterkerk rührt ſich noch nicht. 
Aber nicht lange wird es währen, bis er ſeine unheimliche Macht auszuüben beginnt, 
die großen Verblichenen eigen iſt, und die ſich unaufhörlich vergrößert, bis ſie eines 
Tages die ganze weite Erde umfaßt und überall, wo empfängliche Herzen leben und 
leiden, ihren heimlichen Zauber ausſtreut. 


Martens: Oer Odmon des Lichts 479 


Abwechſelnd im Haag und in Leiden lebt immer noch einer ganz unter ſeinem 
Bann. Sein fläm ſcher Bart iſt eisgrau geworden und hängt ihm ſtruppig auf die 
Bruſt. Die ſonſt an ihm auffallende ſtolze ſteife Haltung iſt dieſem Manne verloren- 
gegangen. Er hinkt an einem Stock und verträumt feine Zeit in den Schenkwirt- 
ſchaften, bis die Wirte ihn verklagen, weil der Veſitzloſe ihnen in einem einzigen 
Monat Wein im Werte von hundertfünfzig Gulden vertrunken hat. Er ſitzt jetzt, 
ganz gegen ſeine frühere Gewohnheit, in den dunkelſten Ecken und trinkt ſchweigend, 
in ſich verſunken, und murmelt unverſtändliche Worte vor ſich hin. Er gedenkt ſeines 
Freundes Rembrandt des Innigen und trinkt ihm in Gedanken zu, er, Jan Lievens 
der Großartige. Doch er iſt nichts weniger mehr als großartig, und fein einſt berühm- 
ter Pinſel ſtümpert ſchon lange auf der Leinwand umher wie ein Zahnſtocher in 
einem zahnloſen Munde. Auch das Fluchen hat er verlernt. Niemals flucht er mehr. 
Und das viele Drauflosſchwadronieren ſcheint er ganz vergeſſen zu haben. Er iſt genau 
fo ſchweigſam geworden wie fein toter Freund. Dann ift es hohe Zeit, Jan Lievens, 
dich endlich aufzumachen, du Raftlofer, um dein Ruheplätzchen zu finden! Auf wie 
lange? Wer will es wiſſen! 


Harte rauhe Kriegsjahre ziehen über das glückliche Land an der Zuiderſee. Eng- 
land im Bunde mit Frankreich ſteht in ſchwerer Fehde mit dem ſtolzen Freiſtaat. 
Handel und Wandel zwiſchen Amſterdam und Leiden liegen ſchwer darnieder. Viele 
der prächtigen Patrizierhäuſer in beiden Städten ſtehen verödet; den Bürgern ſinkt 
das Sorgenhaupt immer tiefer auf die Bruſt. Keiner traut dem Nächſten mehr. 
Viele machen ſich auf und wandern aus nach Batavia. Die Lebensfreude hat einen 
argen Stoß erlitten. Der erſtickend ſchwere Pulverrauch verfinſtert die roten, glän- 
zenden, geſundheitsſtrotzenden Baden der fröhlichen Frauen die lange Waterkant 
hinauf von Dünkirchen bis nach Danzig. Die nordiſchen Meere bekommen das See- 
mannsblut der Blau- und Rotjacken zu ſchmecken. 

Ein regneriſcher Aprilmorgen verdunkelte die unheimlich leeren Straßen Amiter- 
dams. Selbſt die Nordſeite der Roſengracht war an dieſem nebligen Lenztag be- 
ſtimmt kein angenehmer Anblick für einen Maler. Und doch ſtanden allerhand phan- 
taſtiſch gekleidete junge Kerle auf dem holprigen Pflaſter umher, ſpien in großem 
Bogen in die Gracht hinein, die nur einen einzigen Kahn in ihrem faſt ſchwarzen 
Waſſer barg, und rauchten ſtehend oder auf den Grachtmauern ſitzend ihre langen 
Tonpfeifen. Auch in den Fenſtern der ſchmalen hohen Häuſer tauchten dieſe jungen 
Künſtlerköpfe auf. Es war ſeit Rembrandts einſtigem Einzug in die Roſengracht für 
viele tüchtige Malermeiſter und Schüler eine frohe Lebensgewohnheit geworden, in 
dieſer Gegend einen Unterſchlupf zu finden und ihre Zuſammenkünfte an beſtimmten 
Wochentagen auf offener Straße abzuhalten, während die Händler dort ihre Vilder 
zum Kauf anboten, und in ihren kleinen Buden die Liebhaber unter den heimiſchen 
und fremden Kaufleuten mit vielverſprechenden Ankündigungen anlockten. 

Trotz der hundsjämmerlichen Zeiten gab es nur wenige betrübte Geſichter unter 
den Künſtlern; die meiſten lebten in einem friedlichen Frohſinn in den Tag hinein, 
der in den Kunſtſtädten des Weſtens ſeit alters her eifrig gepflegt wurde. Und dies 
war um jo bewunderungswürdiger, als kaum einer von den Jüngern des Apelles 


480 Martens: Der Dämon des Lichts 


feine eigenen Begräbniskoſten ſich erübrigen konnte. Ihre Beſtattung fiel faſt immer 
der Armenkaſſe zur Laſt. 

Die umfangreichſte der verſammelten Gruppen ſteht an dem grüngeſtrichenen 
Kahn, der an der Nordſeite angelegt hat, und unterhält ſich im Flüſterton über das 
ſeltſam zuſammengewüͤrfelte und zum Teil ſtark beſchädigte Hausgerät, das die bei- 
den handfeſten Schiffer, Vater und Sohn, die kupferne Ringe in den Ohren tragen, 
an Land ſchaffen und auf die Straße hinſtellen zum Ärger der Gemüſebauern, die 
den Wagendurchzug verſperrt finden. Inmitten des alten Hausrats und Gerümpels 
ſitzt auf einem verſchliſſenen Lehnſtuhl ein alter gebeugter Mann und träumt vor ſich 
hin, als ſchliefe er. Drei hübſche brünette Mädchen zwiſchen zehn und fünfzehn Jah- 
ren ſitzen auf ihren Stühlen um den Greis herum, die fie nach langem Suchen ge- 
funden und herbeigeſchleppt haben, und eines nach dem andern tritt auf den Vater 
zu, den ungepflegten weißbärtigen Vater, und legt ſeine roſigen Arme zärtlich um 
feinen Hals, ihm freundliche Troſtworte ſagend. Die umherſtehenden Maler ftehen 
bewegt und ſprachlos vor dieſem ſeltſamen Bilde, das eines Rembrandts würdig 
geweſen wäre. Niemand von ihnen erkennt den alten Mann, bis einer der Maler 
plötzlich aus dem Kreiſe heraustritt und feinen Hut tief vor ihm lüpft. 

— Zan Lievens, willkommen in unſerer Stadt! Erkennt der Meiſter mich nicht 
mehr? Chriſtian Duſart iſt mein Name. Kann ich Euch dienlich ſein? — 

Der Angeredete blinzelt ſcheu empor und muß ſich erſt beſinnen, wo er iſt. Sein 
Geſicht heitert ſich auf, als er Duſart erkennt. 

— Sufart? Beim Satan, alter Freund, Ihr ſeid es? Ja, ich habe meinen ſchweren 
Kummer. Der Wachtendonck weigert ſich, mich in das Haus hier quer gegenüber ein- 
ziehen zu laſſen, das er mir vermietet hat. Der ſchlaue Fuchs ſcheint Lunte gerochen zu 
haben. Notar de Dlieger hatte den Vertrag aufgeſetzt. Nun verlangt der Erzgauner 
Kaution. Duſart, ich kehre ratzekahl aus Leiden und dem Haag zurüd. Weiter kam 
ich diesmal nicht. — Haltet ihr jetzt auf offener Straße eure Verſammlungen ab? — 
Übrigens, mein Sohn, der Zan Andrea, den ich damals wegen feiner Weibergeſchich⸗ 
ten in den Turm einſperren laſſen wollte, iſt ein anſtändiger Kerl geworden. Er hat 
von der Urgroßmutter aus Antwerpen geerbt und will jetzt die Kaution für mich 
hinterlegen und die Schiffer entlohnen. Der Satan ſegne ihn! Wie geht es der 
Kunſt, Duſart? — Wie? Zufrieden? Hundsmiſerabel iſt's mir ergangen. Ich 
mußte um süret6 du corps einkommen. Setzt bin ich Narr Gottes, ich alter Bruder 
Liederlich nur noch eine Vogelſcheuche! — Setzt euch her zu mir auf die Kiſte! 
Seht mir mal ins Geſicht! Was ſeht ihr dort? Einen alten verſchliſſenen Mann mit 
ſeimigen Trinkeraugen. Mann Gottes, das iſt aus dem Jan Lievens geworden, dem 
einſt der König von England, der gute Karl der Erſte, den der Pöbel jo zärtlich 
köpfen ließ, und der ganz damit einverſtanden war, die Tür offen hielt, um ihn zu 
ehren. Heute bin ich reif für den Schindanger. Sei's auch! — Duſart, dort hab' ich 
noch im Sack einen guten alten Kornbranntwein, etwas ganz Edles. Seid ſo gut, 
reicht ihn mir her. Und ihr, Kinder, haltet reinen Mund, damit der Jan Andrea es 
nicht erfährt. Der wird ſonſt giftig. — Nun, Duſart, erzähl' mir noch von Rembrandt. 
Er ſtarb in völliger Armut? Lievens, genau wie du. Und Suythoff heiratete Cor- 
nelia und zog nach Batavia? Will er dort die Zuckerplantagen malen ober die Häupt- 


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480 Martens: Der Dämon des Lichte 


feine eigenen Begräbniskoſten ſich erübrigen konnte. Ihre Beſtattung fiel faſt immer 
der Armenkaſſe zur Laſt. 

Die umfangreichſte der verſammelten Gruppen ſteht an dem grüngeftrichenen 
Kahn, der an der Nordſeite angelegt hat, und unterhält fi im Flüſterton über das 
ſeltſam zuſammengewürfelte und zum Teil ſtark beſchädigte Hausgerät, das die bei- 
den handfeſten Schiffer, Vater und Sohn, die kupferne Ringe in den Ohren tragen, 
an Land ſchaffen und auf die Straße hinſtellen zum Arger der Gemüſebauern, die 
den Wagendurchzug verſperrt finden. Inmitten des alten Hausrats und Gerümpels 
ſitzt auf einem verſchliſſenen Lehnſtuhl ein alter gebeugter Mann und träumt vor ſich 
hin, als ſchliefe er. Drei hübſche brünette Mädchen zwiſchen zehn und fünfzehn Jah- 
ren ſitzen auf ihren Stühlen um den Greis herum, die fie nach langem Suchen ge- 
funden und herbeigeſchleppt haben, und eines nach dem andern tritt auf den Vater 
zu, den ungepflegten weißbärtigen Vater, und legt ſeine roſigen Arme zärtlich um 
feinen Hals, ihm freundliche Troſtworte ſagend. Die umherſtehenden Maler ſtehen 
bewegt und ſprachlos vor dieſem ſeltſamen Bilde, das eines Rembrandts würdig 
geweſen wäre. Niemand von ihnen erkennt den alten Mann, bis einer der Maler 
plötzlich aus dem Kreiſe heraustritt und feinen Hut tief vor ihm lüpft. 

— San Lievens, willkommen in unſerer Stadt! Erkennt der Meiſter mich nicht 
mehr? Chriſtian Duſart iſt mein Name. Kann ich Euch dienlich ſein? — 

Der Angeredete blinzelt ſcheu empor und muß ſich erſt beſinnen, wo er iſt. Sein 
Geſicht heitert ſich auf, als er Dufart erkennt. 

— Sufart? Beim Satan, alter Freund, Ihr ſeid es? Ja, ich habe meinen ſchweren 
Kummer. Der Wachtendonck weigert ſich, mich in das Haus hier quer gegenüber ein- 
ziehen zu laſſen, das er mir vermietet hat. Der ſchlaue Fuchs ſcheint Lunte gerochen zu 
haben. Notar de Blieger hatte den Vertrag aufgeſetzt. Nun verlangt der Erzgauner 
Kaution. Duſart, ich kehre ratzekahl aus Leiden und dem Haag zurück. Weiter kam 
ich diesmal nicht. — Haltet ihr jetzt auf offener Straße eure Verſammlungen ab? — 
Übrigens, mein Sohn, der Jan Andrea, den ich damals wegen feiner Weibergeſchich- 
ten in den Turm einſperren laſſen wollte, iſt ein anſtändiger Kerl geworden. Er hat 
von der Urgroßmutter aus Antwerpen geerbt und will jetzt die Kaution für mich 
hinterlegen und die Schiffer entlohnen. Der Satan ſegne ihn! Wie geht es der 
Kunſt, Duſart? — Wie? Zufrieden? Hundsmiſerabel iſt's mir ergangen. Ich 
mußte um sireté du corps einkommen. Segt bin ich Narr Gottes, ich alter Bruder 
Liederlich nur noch eine Vogelſcheuche! — Setzt euch her zu mir auf die Kiſte! 
Seht mir mal ins Geſicht! Was ſeht ihr dort? Einen alten verſchliſſenen Mann mit 
ſeimigen Trinkeraugen. Mann Gottes, das iſt aus dem Jan Lievens geworden, dem 
einft der König von England, der gute Karl der Erſte, den der Pöbel fo zärtlich 
köpfen ließ, und der ganz damit einverftanden war, die Tür offen hielt, um ihn zu 
ehren. Heute bin ich reif für den Schindanger. Sei's auch! — Duſart, dort hab' ich 
noch im Sack einen guten alten Kornbranntwein, etwas ganz Edles. Seid ſo gut, 
reicht ihn mir her. Und ihr, Kinder, haltet reinen Mund, damit der Jan Andrea es 
nicht erfährt. Der wird ſonſt giftig. — Nun, Duſart, erzähl' mir noch von Rembrandt. 
Er ſtarb in völliger Armut? Lievens, genau wie du. Und Supthoff heiratete Cor- 
nelia und zog nach Batavia? Will er dort die Zuckerplantagen malen oder die Häupt- 


pulxejuios pi 


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Martens: Der Dämon des Lichts 481 


linge der Wilden? Kinder haben fie auch ſchon, und der älteſte Sohn heißt Rem- 
brandt? Ouſart, du mußt nicht ungehalten fein, ich duze dich, das iſt dir doch recht? — 
Alſo hör'. Mir liegt es fo ſchwer auf der Seele, daß Rembrandts Kunſt und die mei- 
nige heute von niemand mehr beachtet wird. Sind wir von den Modemalern ter 
Bord, Pieter de Hoogh und Metſu, die ſich hübſch an die Natur halten, an den 
kühlen grauen holländiſchen Alltag, und alles blau, gelb und reſeda malen, völlig in 
den Schatten geſtellt? Gilt denn die erfchütternde ſeeliſche Darſtellung mit all ihrem 
myſtiſchen Zauber nichts mehr in der Welt? Ja, Duſart, es iſt Zeit, daß auch ich 
mich aus dem Staube mache. Kinder, dann ſeid ihr mich, den Gottſeibeiuns, los. — 
Plärrt nicht, ich bin euch allen doch nur eine Laſt! — Noch ein Gläschen, Ouſart? 
Ser mundet, was? Der zerreißt einem ordentlich das ausgedörrte Gebärm. Nun 
führ’ mich, alter Freund, in die Weſterkerk. Ich muß dich, Rembrandt, noch einmal 
wiederſehen! — 

Dabei erhob er ſich, ſetzte den verbeulten und verſchmutzten Hut zitternd auf den 
faſt haarloſen Schädel und hinkte, auf den Stock geſtützt und von Duſart geführt, 
durch den überall zurückweichenden Menſchenknäuel, bis er vor der Kirche ſtand. 

Duſart begleitete ihn bis zu dem ſchlichten Stein, der Rembrandts irdiſche Hülle 
barg; als er ihn verließ, kniete Lievens plötzlich auf dem Grabe nieder und begann 
den Toten zu rufen: 

— Rem, fteh’ auf! Jan Lievens ift heimgekehrt, um dich abzuholen. Wir wollen 
nach Batavia, mit dem nächſten Schiff. Mach dich fertig! Mit unſerer Kunſt iſt es 
doch vorbei: die Modemaler haben geſiegt. Du hätteſt Vürgerporträtift bleiben 
ſollen und ich bei meinen Greiſenköpfen. Du hatteſt dein Ziel zu hoch geſteckt. Das 
ärgert die Mitwelt. Man ſoll keine Seele haben, keinen göttlichen Funken. Wir 
wollen fortziehn aus dieſem Land der Krämer, wo heute ein Krug Schnaps höher 
bewertet wird als eines meiner Bilder. Geſtern noch ſah ich Neeltje in Leiden. Sie 
iſt eine trübfinnig ernſte Matrone geworden, mit einer weißen bebänderten Spitzen; 
haube. Doortje iſt ſchon lange tot. Sie laſſen dich beide grüßen. Komm, erhebe 
dich, alter Zunge! Laß mich nicht ſo lange warten! Es iſt kalt und grau geworden 
in der Welt; ich habe nur noch ein Vein, das andere haben ſie mir ausgeriſſen. 
Bald kommt der eine Arm dran, dann der andere. Wahrlich, wie eine Vogelſcheuche 
ſteh' ich dann hier! Komm, Rem, es iſt die Zeit! — 


3. 

So geſchah es, daß Jan Lievens am Tage feiner Rückkehr nach Amſterdam fpur- 
los verſchwand und unter großen Angſten von feinen Kindern gefucht wurde, be- 
fürchteten fie doch, er wäre im Nebel in eine der Grachten geſtürzt. 

Als ſie den Vater endlich nach langem Suchen fanden, bot ſich ihren jungen 
Augen ein erſchütterndes Bild menſchlicher Herzenseinfalt. Er lag völlig gufammen- 
gekrümmt hinter dem Grabſtein feines alten Kameraden, unausgeſetzt Zwieſprache 
mit ihm haltend in dem zärtlich- fröhlichen unbekümmerten Ton ihrer Jugend. Da 
beſchworen ſie ihn, von dem Toten zu laſſen und ihnen in das neue Heim zu folgen, 
das ſie liebevoll für ihn bereitet hätten; aber er weigerte ſich, von dem Verblichenen 


zu weichen. 
der Turmer X XVIII, 6 32 


482 Lipp: Oer oſtpreuziſche Mons 


Als alles Bitten und Flehen nichts fruchten wollte, mußten die Kinder den 
Diener der Kirche herbeirufen, um ihnen beizuſtehen, den Widerſtrebenden mit Ge 
walt nach Hauſe zu bringen, ſobald die Dunkelheit hereingebrochen ſei. 

Dort lebte der Arme nur noch wenige Wochen. — An einem milden ſonnigen 
Sunimorgen, als die Erde ſich mit Blumen bedeckt hatte, brachten die Amſterdamer 
Maler Jan Lievens zu Grabe und mit ihm eine letzte welke Blüte einer großen 
Kunſtepoche, die nie wieder in dieſer gigantiſchen Größe über ihr meerumbrandetes 
Land heraufziehen ſollte. 


Der oſtpreußiſche Mann 


Von Herbert Lipp 


Hartknochig, breitſtirnig und muskelſtraff, 
Steifnadig und ftarr wie die Mole im Haff, 
Ein rechter Bar: der oſtpreußiſche Mann. 
Nührt ihn nicht an! 

Litauer Paks ee und wie ihr heißt: 


Langfam nur keimen ihm Liebe und Haß. 

Doch, wo er zupackt, da wächſt kein Gras. 

Sein Feuer birgt tief der oſtpreußiſche Mann. 

Nührt ihn nicht an! 

Litauer und Polen und wie ihr euch nennt: 
Er brennt! 


Diel le machen ift nicht feine Art. 
eft in Aug’ und die Pranke drauf hart! 
Das Abi er ſich — Schwur: der oſtpreußiſche Mann. 
Nührt ihn nicht an! 
Litauer und Polen und wie ihr benannt: 
Fürchtet die Hand! 


Es ee das Meer ſich fein eigen Geſchlecht. 
lehmſchwerer Scholle, da wächſt es ſich recht. 
ons wie fein ne iſt der oſtpreuß' ſche Mann. 
Nührt ihn nicht an! 
Litauer und Polen und was [deel nod ſieht: 
Hie Stahl und Granit! 


Raub ift die Art. Doch kernig und Stolz. 

Feindwellen-Boliwer? von Eichenbolz, 

Trutzig und treu: oftpreußifcher Mann. 

Nührt ihn nicht an! 

Litauer und Polen und 1 da noch bellt: 
Jeder — ein Held 


Auf der Farm und im Buſch 


Von L. J. 


Die folgenden Blätter entnahmen wir den Aufzeich⸗ 
nungen einer felt 13 Zahren in Sübweſt-Afrlka 
lebenden Rolonialbeut{den. O. T. 


gi wünſchte id mir als kleines Mädchen die Pantoffeln des kleinen Muck. 
Sie ſtanden ſogar auf meinem Weihnachts-Wunſchzettel. Dreimal mußte man 
ſich auf ihnen herumdrehen und ſich dabei einen fremden Ort wünſchen: haſt du nicht 
geſehen, flog man fort in irgend eine märchenhafte herrliche Gegend. 

So als hätte ich nun die Pantoffeln wirklich bekommen, fo traumhaft war es mir 
zumute, als ich eines Morgens auf Farm Ka has in den erſten Frühlichtſtrahlen im 
Ziegenkraal ftand, eine ehrwürdige Ziegenmama zwiſchen den Beinen, ein Kaffern- 
weib daneben mit einem kleinen Zicklein, dieſem gut zuredend und das volle Euter 
in das Maul ſtopfend. 

Ich ſah ſtumm und aufmerkſam dieſer Tätigkeit zu, ſehr bedacht, mir in keiner 
Weiſe eine Blöße zu geben, denn dies war mir gleich klar, daß ich ſonſt verlorenes 
Spiel bei den Eingeborenen gehabt hätte. Eine weiße Miſſis muß alles wiſſen und 
können. Heroiſch überwand ich meine Angſt vor dem großen Ziegenbock; er ſah 
mich mit recht böſen funkelnden Augen an, und ich traute ihm nichts Gutes zu. 
Seine mächtigen Hörner und ſein wilder Bart waren für mich, die ich aus der Stadt 
kam und derartige Tiere nur aus Büchern kannte, reichlich beängſtigend. Ich atmete 
auf, als ich wieder heil außen war und mit meinem Eingeborenenweib nach dem 
Kuhkraal gehen konnte. Dort erwarteten mich weitere Schrecken. Zwei Schwarze 
rannten einer wilden Kuh nach, um ſie mit einem Riemen zu fangen und an den 
Hinterbeinen zu feſſeln. 

So ging der Tag an. Mäh und Muh machte es an allen Ecken, und mir ſchwirrte 
der Kopf von all dem Neuen. Geſtern hatte ich hier meinen Einzug gehalten. Eine 
Karre mit vier Ochſen beſpannt erwartete mich an der Bahnſtation; dabei ſtanden 
zwei Eingeborene. Der eine davon war ſo lang, daß er mühelos über alle Dächer 
gucken konnte, ohne ſich zu ſtrecken. Er grinſte freundlich, nahm mein Gepäck in 
Empfang und verſtaute es. Ich ſelbſt kletterte ziemlich erwartungsvoll und freudig 
auf die Karre: dies ward meine erſte Fahrt durch den Buſch. „Wop!“ ſchrie der 
Lange und ſchwippte mit ſeiner großen Peitſche. Ein Ruck, meine vier muntern 
Ochſen ſetzten ſich in Trab. Ich flog nach hinten, die Beine in der Luft. Nachdem 
ich mich wieder gefammelt hatte, hätte ich mich gerne angenehmen Träumen hin- 
gegeben und die herrliche Gegend betrachtet; doch meine Ochſen ließen das nicht zu. 
In raſendem Galopp ging es weiter über Steingeröll, Baumſtämme und Löcher. 
daß mir Hören und Sehen verging. Krampfhaft hielt ich mich feſt, kaum hoffend, 
noch lebend davonzukommen. 

Nach einigen Stunden deutete der rieſenhafte Herero in den Buſch: „Kayas!“ fagte 
er. Ich ſah zwar nichts als grüne Bäume, nickte aber begeiſtert. Nun klopfte mir 
doch etwas das Herz; wie wird es dir ergehen dort, dachte ich, denn ich hatte von einer 
Farm ziemlich nebelhafte Begriffe. Mit einem heftigen Ruck hielt die Karre. Ein 
junger Menſch mit einem Räuberhut kam mit wuchtigen Schritten angeſtapft. „Det- 
loff!“ ſtellte er ſich vor. Er war der Sohn des Farmbeſitzers; ſein Vater war nach 


484 3.: Auf der Farm und im Buſch 


Deutſchland abgereift. Dann kam nod ein Volontär mit Namen Peterſen; beide 
waren erſt neunzehn Jahre alt. Ich war gekommen, um den Haushalt zu führen 
und die beiden zu betreuen. 

Das Haus, in welches mich Herr Oetloff führte, beſtand aus vier ebenerdigen 
Zimmern, die alle in einer Reihe ſtanden und einer Veranda davor. Mein Zimmer 
war das erſte. Seine Einrichtung ſetzte ſich zuſammen aus einem Feldbett, einem 
Stuhl, einem Tiſch und einem Waſchtiſch. Dann kam das Wohnzimmer, hierauf 
Herrn Detloffs Zimmer und das des Volontärs. 

Mein erſter Anblick waren zwei Eingeborenenweiber, die im Hof auf dem Boden 
ſaßen; um ſie herum lagen Töpfe und Geſchirr, die ſie in einer ſchauderhaften 
Schmutzbrühe wuſchen. Sie ſelbſt ſtarrten vor Dreck und rochen auf ein paar Meter 
Entfernung. 

Als ich mich in meinem üppigen Heim etwas gewaſchen und umgezogen hatte, 
kam eine von den ſchwarzen Perlen, die vorhin im Hof geſeſſen hatten, und ſagte: 
„Miſſis, freſſen!“ Auf dieſe freundliche Einladung hin begab ich mich dann in das 
Wohnzimmer. Dieſes machte einen überwältigenden Eindruck auf mich: ein Bücher- 
ſtänder, ein Schreibtiſch, etliche Stühle und ein Tiſch, alles dick mit Staub bedeckt. 
Auf dem Bücherſtänder lagen, hübſch durcheinander, allerhand Handwerkszeuge, 
ebenſo auf dem Schreibtiſch: Konſervenbüchſen, Schüſſeln, Maisſaat, Ochſenriemen 
uſw. An den Wänden hingen Kleider, Schuhſenkel, mit Weſpenneſtern zugebaut. 
Ferner einige große Bilder, wovon niemand wußte, was ſie vorſtellten, da ſie von 
Weſpenneſtern und Fliegenſchmutz vollſtändig überzogen waren. Die Lampenglocke 
war ſchwarz. Auf dem Tiſch ſtanden drei Emailteller. „Kanakawi!“ rief Herr Oetloff. 

Da erſchien die eine Schöne und brachte feſt an ihren ſchwarzen Bauch gedrückt, 
der aus einem Gewand hervorſah, das mehr aus Löchern beſtand als aus ſonſt etwas, 
Rührei, Gurkenſalat, Tomaten und ſaure Milch. Nun konnte das Mahl beginnen, 
nachdem ich noch unzählige Fliegen herausgefiſcht hatte. Drei Hunde ſaßen er- 
wartungsvoll um uns herum und wedelten begeiſtert. Da kein Fußboden gelegt, 
auch noch nicht einmal die Erde feſtgeſtampft war, konnten wir uns häufig vor 
Staubwolken nicht mehr ſehen. Fiel einmal aus Verſehen ein Löffel herunter, ſo 
ſank er ins Bodenloſe und war hoffnungslos verloren. Herr Detloff erzählte mir 
ſtrahlend, daß fie, Peterſen und er, die zwei Küchenweiber, Jadura und Kanakawi 
drei Tage geputzt hätten. (Ich könne auch Kanakaffee ſagen, wenn mir Kanakawi 
zu ſchwer ſei.) Sie hätten ſich auf meine Ankunft ſo herzlich gefreut und alles recht 
ſchön machen wollen. Er erwartete ſichtbar ein Lob, doch ich blieb verſtockt, denn 
wir betraten gerade das Schlafzimmer von Herrn Oetloff. Hier herrſchte ein wildes 
Durcheinander, und nur ein geübter Turner konnte an fein Bett gelangen. Zum 
Schluß gingen wir in die Küche. Dieſe ſpottete jeder Beſchreibung. In der Ecke ſtand 
eine alte von Dreck ſchwarze Kiſte, von der ein entſetzlicher Geruch ausging. Sie 
enthielt ein Stüd Kafe, ein Stück Speck, einige Buͤgeleiſen, Badobft und alte Säcke. 
Dann waren noch zwei Tiſche da, mit einer Schmutzkruſte bezogen, und ein Herd. 
Die Wände waren nicht verputzt, ſchwarz angeräuchert und mit Weſpenneſtern ver- 
ziert. Der Lehm-Mörtel reiherte herunter. An der Seite hingen einige ſchwarze 
Töpfe, und in der Mitte ſtand ein Fliegenſchrank, mit unſauberem Geſchirr voll- 
geſtopft. Mir grauſte. Hier ſollte ich bleiben! Dies iſt ja mehr als primitiv und 


g.: Auf der Farm und im Buſch | 485 


ſchauerlich. Sofort band ich eine Schürze um, krempelte die Ärmel auf und fing an, 
aufzuräumen und den gröbften Schmutz zu befeitigen. Herr Detloff flehte mich zwar 
an, dies ſein zu laſſen und mich auszuruhen; ſie hätten doch erſt ſauber gemacht. Die 
Abenteuer und das Leben im Buſch fangen ſchön an, dachte ich mir, als ich ziemlich 
ermattet gegen Abend auf der Veranda in einen Liegeſtuhl ſank. Kanakaffee brachte 
das Abendeſſen: Milchſuppe, Rührei und Brot, das Fäden zog. Meine beiden Pflege- 
befohlenen ſahen mich noch etwas ſchüchtern von der Seite an und bemühten ſich, 
mir die Reize und Annehmlichkeiten eines Farmaufenthalts fo glänzend wie mög- 
lich auszumalen, doch ich blieb ſkeptiſch. Nach dem Abendbrot ſchlug Herr Detloff 
auf eine an einem Baum hängende alte Pflugſchar. Auf dieſes Klingelzeichen er- 
ſchien nach kurzer Zeit eine Schar wild fuchtelnder und ſchnatternder Weiber mit 
alten Blechbüͤchſen, um ihre Koſt zu holen. Herr Oetloff ſtand wie ein Feldherr 
mitten unter ihnen vor einem großen Keſſel Magermilch. Aus dieſem ſchöpfte er 
nun in die herrlichen Gefäße; dazu gab es noch zwei Becher Mais. Das war die 
Tagesration pro Mann. (Samstags gab es noch einen Becher Zucker, zwei Handvoll 
Tabak und etwas Tee.) Ziemlich erſchöpft von all dem Neuen wollte ich nun zu Bett 
gehen, bemerkte aber, daß mein Bett nicht bezogen war und verlangte darauf von 
Herrn Oetloff Leintücher. 

Dies brachte ihn in ſichtliche Verlegenheit. Ein Leintuch, ſtotterte er, habe er noch 
in ganz Afrika nicht geſehen; hier wickle man ſich in ſeine Decken und ſchlafe gut und 
prächtig. Ich war recht unangenehm überraſcht von dieſer Art in Afrika zu ſchlafen, 
doch der Not gehorchend wickelte ich mich in die nicht ganz ſaubern, kratzenden 
Decken mit dem feſten Vorſatz, morgen wieder fortzugehen. Trotz alledem ſchlief 
ich recht gut. 

Das gleiche Klingeln weckte mich am Morgen. Ich war gerade angezogen, da 
erſchien wieder die Kanakaffee mit der bekannten freundlichen Einladung: „Miſſis, 
freſſen!“ Der Tiſch war auf der Veranda gedeckt, zwar nur mit Emailbechern und 
-tellern; doch die Sonne ging eben auf und verſchönte alles mit ihren Strahlen. 
Meine beiden Pflegebefohlenen waren friſch und munter, von meinem Platz hatte 
ich die grünen Berge und Fernen vor mir, der Kaffee, den die Zadura anſchleppte, 
war auch gut — ſo wurde mein Entſchluß von geſtern wieder etwas wankend. Und 
als Herr Detloff mir ſogar ein Leintuch brachte, das er zu unterft in feinem Koffer 
entdeckt hatte, entſchloß ich mich doch zum Bleiben. Zu dieſem Zweck find wir ja ge- 
kommen, wir deutſchen Frauen, den Männern in ihrem harten Daſein Freude und 
Hilfe zu bringen! | 

Mit dieſem löblichen Vorſatz begab ich mich denn an die Arbeit. Die beiden Herren 
gingen zum Acker, der vier Kilometer vom Hauſe entfernt war; die Eingeborenen 
mit den Ochſen und dem Pflug waren ſchon dort. Nun kamen die Melkweiber mit 
der Milch, und es wurde entſahnt. Die Milchkannen waren mit einer dicken Kruſte 
Schmutz überzogen, und unzählige Fliegen ſchwammen auf der Milch herum. 

Ein rauhes Feld der Tätigkeit harrte meiner, und es dauerte noch Wochen, bis end- 
lich Ordnung und Sauberkeit einzog, und vor allem, bis ich mir die für einen Farm- 
betrieb nötigen Kenntniſſe aneignete, denn ich wußte durchaus nichts. Aber an Hand 
guter Bücher lernte ich eine Menge, da ich ja guten Willen und großen Eifer hatte. 
Es machte mir Spaß, meinen beiden Pflegebefohlenen, wenn ſie abends nach 


486 3.: Auf der Farm und im Buſch 


Hauſe kamen, meine Errungenſchaften vorzuführen. Die beiden waren meine 
eifrigen Bewunderer und fanden alles herrlich und ſchön. Veſonders das Eſſen 
ſchmeckte ihnen wundervoll (mittags ſchickte ich es ihnen aufs Feld). Daß ſie nicht 
mehr ſelber kochen mußten, ſondern ſich einfach an den gedeckten Tiſch ſetzen durften, 
daß ſie ſtets reine Wäſche vorfanden, das kam ihnen märchenhaft vor, denn ſchon 
drei Jahre lebten fie hier im Buſch, meiſtens von Reis und Ruͤhrei. Früher war zwar 
noch der Vater Herrn Oetloffs dabei, ein älterer Herr, der die Küche beſorgte und 
das in ſehr eigenartiger Weiſe: die Speiſen kochte er nach eigener Erfindung, und 
an alles kamen reichlich Lorbeerblätter und Nelken. „Für was ham mer ſe denn“, 
ſagte er zu feinem Sohn, als dieſer ihn ſchüchtern bat, beim Milchreis die Lorbeer- 
blätter und Nelken wegzulaſſen. 

Ich hatte ja auch noch manche Zweifel beim Kochen, beſonders beim Brotbacken. 
Zuerſt wollte der Teig nicht aufgehen, auch wenn ich ihn drei Tage ſtehen ließ. Es 
war ſchauerlich, was für Zeugs wir da eſſen mußten, und nur unſeren geſunden 
jungen Mägen können wir es verdanken, nicht bleibenden Schaden genommen zu 
haben. Aber auch dies gelang zum allgemeinen Jubel eines Tags. 

Viel Mühe hatte ich mit meinem „Küchenperſonal“. Die Kanakawi, ein Herero- 
mädchen, war der Reinlichkeit eher näher zu bringen — ich machte ihr ein paar 
Blaudruckkleider und ließ fie ſich gründlich waſchen — doch die Jadura, ein Raffern- 
weib, war nicht zu kultivieren. Sie lachte, fang oder ſchlief und ſtank drei Meter im 
Umkreis. Ihre Faulheit übertraf alles Dageweſene. Beim Buttern ſaß fie immer 
am Boden, das Butterfaß zwiſchen ihren ſchmutzigen Schenkeln; mit der einen 
Hand drehte ſie langſam die Kurbel, mit der andern ſtützte ſie ihren Kopf. Dabei 
ſchlief ſie häufig ein, ein Rippenſtoß mußte ſie wieder wecken. 

Einmal erwiſchte ich ſie, wie ſie eben ihre Beine und andere edle Körperteile aus 
meinem Kochtopf heraus mit Butter einſchmierte. Ich war jo entrüftet, daß ich ihr 
den Topf auf das Haupt ſtülpte, ihr einen Schubs gab und ſie hinauswarf. 

„Laß dich ja nicht mehr hier ſehen, du alte Sau!“ rief ich ihr nach, . damit 
war unſer Dienſtverhältnis aufgelöſt. 

Ihre Nachfolgerin Komba, ein Buſchmannsmädchen, war ein kleines zierliches 
Perſönchen und ließ ſich leicht anlernen. Kanakawi und Komba ſchwangen alſo 
jetzt unter meiner Aufſicht Bejen und Putzlappen. Ich verſuchte, der Kaffernſeele 
etwas beizukommen, denn am Anfang iſt man noch ſo naiv, bei den Eingeborenen 
eine Seele zu ſuchen: ein ganz ausſichtsloſes Beginnen, da die Eingeborenen in 
Süd weſtafrika auf einer recht niederen Stufe der Geſittung ſtehen und mit wenigen 
Ausnahmen weder Dankbarkeit noch Anhänglichkeit kennen. Am höchſten ſtehen 
noch die Opambos. Damals hatte ich aber noch andere Anſichten. Wenn fie krank 
waren, half ich ihnen, und wenn fie eine Verwundung hatten, verband id fie. Ich 
ſtudierte aus einem Buch die Hereroſprache und ſchrieb mir die nötigſten Worte auf 
ein Papier, das ich dann herauszog, wenn ich es brauchte und zum großen Gaudium 
meiner Küchenmädchen ablas. 

Das Hereromddden Kanakawi weihte mich in ihre Gebräuche ein und ſchwatzte 
mir manches vor in ihrem gebrochenen Deutſch untermiſcht mit Hererobrocken. 
Unſer Viehwächter Keinatſch wollte ſie heiraten; deshalb verſteckte ſie ſich immer 
ſchamhaft vor ihm, denn ſolch ſchamloſe Gebräuche wie die Weißen hätten ſie nicht. 


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3.: Auf ber Farm und im Buſch 487 


Dieſe gingen ſtets mit dem Gegenſtand ihrer Liebe Arm in Arm, was fie mir vor- 
machte, indem ſie bei der Komba einhakte und mit gewichtigen Schritten auf und 
ab wandelte. Ich lachte ſchrecklich. Auch die Kaffernmädchen ſeien auf keiner fo hohen 
Stufe wie die Hereros; jene ſetzten ſich immer vor ihren Mann hin und ſähen ihn 
an. Nein, wenn ein Hereromädchen heiratet, legt fie ſich mit verhülltem Kopf eine 
ganze Woche in ihren Pontok und „flapt“. 

Darauf ſchritt fie mit hocherhobenem Haupt und ſtolz gemeſſenem Gang hinweg. 
3h blieb beſchämt zuruck und hatte ausreichende Muße, über die Schamloſigkeit der 
Weißen und der Kaffernweiber nachzudenken. 

Doch der Viehwächter Keinatſch ſtörte mich in dieſem nützlichen Tun. 

„Miſſis, o ſafa, ſafa, willſt du, meinte ich, haſt du?“ erzählte er mir mit wilden 
Gebärden. Ich begriff durchaus nicht und trabte mit zum Viehkraal. Eine Kuh war 
beim Kalben, die Hinterbeine des Kälbchens hingen ſchon heraus, die Kuh rannte wie 
beſeſſen herum, doch weiter ging es nicht. Nun ſollte ich helfen. | 

„O fafa, ſafa!“ rief jetzt auch ich, denn ich nahm an, daß dies irgend eine An- 
rufung der Götter um Hilfe ſei. Eine weiße Miſſis muß aber alles können; alſo redete 
ich der Kuh gut zu, was Keinatſch ſicher für eine Beſchwörungsformel hielt, und 
nach kurzer Zeit ging die Geburt vollends vonſtatten. Mein Ruf war gerettet. 

Ich war faſt immer den ganzen Tag allein, denn Herr Detloff und Herr Peterſen 
gingen in der Frühe aufs Feld und kamen erſt des abends zurück. Manchmal war es 
mir dann recht einſam, obwohl der Tag ſtets reichlich mit Arbeit ausgefüllt war, 
denn was eine Farmerin alles tun und können muß, iſt gar nicht zu ſagen. Doch nach 
Feierabend freute ich mich ſehr, wenn ich in der Ferne die beiden Geſtalten auf- 
tauchen fab. Meiſtens brachten fie eine Beute mit, die fie unterwegs geſchoſſen 
hatten; die Hunde raſten ihnen entgegen, und es war ein vergnügtes Bild, ihr Einzug 
in die Farm mit Hallo und Hundegekläff. 

Nach dem Abendbrot lagen wir drei in unſeren Liegeſtühlen auf der Veranda. 
Herr Detloff ſpielte auf der Mundharmonika, und wir andern fangen dazu, lauter alte, 
liebe Lieder. Dieſe Stunden waren ſo friedlich und wunſchlos. Nichts ſtörte die tiefe 
Ruhe, nur das Muhen der Kühe hörte man von fern und das Heulen der Schakale. 

Sehr gern machte ich am Epätnadmittag, wenn die größte Hitze vorüber war, 
kleinere Spaziergänge in den uns umgebenden Wald. Für mich war ja noch alles 
neu und fremdartig. Die beiden Herren warnten mich immer eindringlich, ja nicht 
zu weit zu gehen und nie die Pad zu verlafjen. Eines Nachmittags — ich war ganz 
allein zu Hauſe — hatte ich wieder einmal das dringende Bedürfnis, auf Ent- 
deckungsreiſen auszuziehen. Ich zog mir ein derbes Leinenkleid mit kurzem Rode 
und ein paar feſte Stiefel an, auf den Kopf ſetzte ich einen Tropenhelm. Darauf 
erklärte ich noch der Kanakawi, daß ich ſpazieren ginge, ſie ſolle nicht vergeſſen, die 
Hühner und Schweine zu füttern. Ich marſchierte los. „Wem Gott will rechte Gunſt 
erweifen, den ſchickt er in die weite Welt“ fang ich fo recht begeiftert vor mich hin. 
Eine kleine Antilope ſprang erſchrocken auf und raſte davon, aber nicht allzu weit 
blieb ſie ſtehen und betrachtete ſich vorſichtig dieſes fremdartige Weſen. Ich hielt 
ihr eine Rede, daß ich kein Gewehr und nur friedliche Abſichten hätte, doch ſie traute 
dem Frieden nicht und lief fort. Ich ging weiter und kam an einen großen wilden 
Feigenbaum, deſſen Luftwurzeln überall herunterhingen. Unten am Baume waren 


488 3.: Auf der Farm und im Sud 


viele Löcher, in die ſoeben ein paar Erdmännchen verſchwanden, niedliche Tierchen, 
die Ahnlichkeit mit unſeren Eichhörnchen haben. Ach wie ſchön war es doch hier 
unter all den hohen Bäumen! So in angenehme Träume verſunken, trollte id 
weiter. Da, plötzlich faucht etwas. Ich ſpringe zurück und ſehe eine große ſchwarz- 
gelbe Schlange in halber Menſchenhöhe um einen Baumſtumpf geringelt. Sie ſpuckte 
nach mir. Ich verſtecke mich ſchleunigſt hinter einem nahen Buſch und ſehe nun zu 
meinem großen Erſtaunen, wie ein kleines rotes Tier mit ſpitzer Schnauze und 
langem buſchigem Schwanz auf die Schlange losgeht, nach ihr ſpringt und beißt. 
Die Schlange verteidigt ſich wütend gegen dieſen Angreifer. Der Kampf war gewiß 
ſchon im Gange, als ich dazu kam und ſtörte; und nur dieſem Tier hatte ich es zu ver⸗ 
danken, daß ich nicht eine volle Ladung Gift in die Augen bekam, denn die Spuck⸗ 

ſchlange hatte wohl ihr ganzes Gift ſchon verausgabt. Ich ſchaute nun ſehr neugietig 
und mäuschenſtill dieſem Kampfe zu. Es war ungeheuer fpannend: immer wieder 
verſuchte das Tier, aus dem Graſe anſchleichend, die Schlange im Sprung zu über 
raſchen. Da plötzlich biß das Reptil das Tier in die Schnauze und dieſes lief fort 
und verſchwand im Geftriipp. Ich war betrübt, denn meine Sympathien waren 
ganz auf Seiten des mutigen Geſchöpfes. Raſch nahm ich einen Stein auf und warf 
ihn nach der Schlange. Dieſe hielt ſich immer noch in Furcht vor ihrem Gegner auf 
dem Baumſtumpf und ſtieß mit weit- offenem Rachen nach dem Boden, wo der 
Stein hingefallen war. Da warf ich raſch einen zweiten Stein und traf die Schlange 
auf den Kopf. Sie ſchnellte noch einmal in die Höhe. Doch ich eröffnete jetzt eine 
Beſchießung mit Steinen, der ſie bald erlag. Befriedigt zog ich weiter und nahm 
mir vor, die Schlange von den Eingeborenen holen und die Haut abziehen zu laſſen, 
da fie ſehr hübſch gezeichnet war. Aber weil es noch nicht fpdt war, wollte ich ein 
kleines Stückchen weiterwandern. Ich bewunderte einen großen Termitenhaufen. 
Dann tat fic eine große Flche vor mir auf und jenſeits ſah ich eine mächtige Antilope 
mit ſtruppigem Kopf und Nacken ſtehen. Die mußt du dir etwas näher anſehen, 
ſagte ich mir. Langſam und vorſichtig ſchlich ich durchs hohe Gras. Flüchtig ging es 
mir durch den Kopf, daß ich ja die Pad nicht verlaſſen ſollte, doch ich wollte ja nicht 
weit und war ſicher, ſie wieder zu finden. Immer näher kam ich der Antilope. Wie 
ein Urwelttier mutete ſie mich an. Doch plötzlich hatte ſie mich gewittert und trabte 
ziemlich gemächlich, die Hörner nach vorn legend, ab. Ich lief voll Begeiſterung 
hinterher. Des ging fo eine Weile, da war fie außer Sicht. Nun war es aber an 
der Zeit, nach Hauſe zu gehen. Die Sonne ſtand ſchon tief, und ich hatte Hunger und 
Durſt. Ich ſuchte eifrig nach dem Wege ohne viel zu überlegen, denn ich war über- 
zeugt, daß ich in öſtlicher Richtung gehen müßte. Als ich ihn nach einiger Zeit noch 
nicht gefunden hatte, ſchlug ich eine andere Richtung ein, immer in der Meinung, 
gleich die Pad vor mir zu haben. Es fiel mir ein, daß ich auf meiner eigenen Spur 
hätte zurückgehen können, doch war überall hohes Gras, und ich hatte noch keine 
geſchulten Augen. Ich ſuchte zwar nach meinen Spuren, konnte aber keine erkennen; 
auch wurde es jetzt raſch dunkel. Da überfiel mich die Angſt. Ich ſetzte mich unter 
einen Baum und brütete vor mich hin. Allerhand ſchreckliche Geſchichten von Leuten, 
die im Buſche umkamen, fielen mir ein. Ach, wäre ich doch nicht von der Pad ge 
gangen! Zetzt werden ja ſchon Herr Detloff und Peterſen zu Haufe fein und mich 
wohl bald vermiſſen, dann werden ſie mich ſicher ſuchen. Ein kleiner Troſt zog in 


3.: Auf der Farm und im Buſch | 489 


mein Herz. Die Zeit ging weiter, grauenhaft ftill war es ringsherum, der Himmel 
bewölkte ſich und kein Stern war zu ſehen. Die Angſt kam wieder über mich, und ich 
horchte mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen in die Dunkelheit. Da 
hörte ich ein Knurren neben mir, entſetzt ſprang ich auf und lief, ſo ſchnell ich konnte, 
blindlings darauf los; einmal rannte ich in einen Dornbaum und zerkratzte mir 
Hände und Geſicht, dann fiel ich in ein Loch und kletterte mühſam wieder heraus, 
aber immer weiter lief ich, bis ich mich erſchöpft und ausgepumpt niederwarf. So- 
bald ich mich etwas beruhigt hatte, verfuchte ich vernünftig zu überlegen. Ich ſagte 
mir, daß nichts verloren iſt, ſolange man den Mut nicht verliert. Ich beſchloß, hier 
den Reft der Nacht zu bleiben, nicht mehr ſinnlos herumzulaufen und dabei vielleicht 
immer mehr vom Hauſe abzukommen. Es waren trotz aller guten Zureden, mit 
denen ich mich tröſtete, doch recht bange Stunden, und jedes Geräuſch in meiner 
Nähe machte mich erbeben. Ich ſchwor mir zu, nie wieder von der Pad zu gehen, 
wenn ich nur noch dies eine mal mit heiler Haut davonkäme, und ich tat vielerlei 
Gelübde. Mit Freuden begrüßte ich das erſte Tagesgrauen. Hoffnung zog wieder 
in mein Herz ein, als die Sonne aufging. Die Nacht, die Dunkelheit iſt ſchrecklich, 
wenn man in Not iſt. Mit neuem Mute ſuchte ich mich nun zurechtzufinden. Ich lief 
und lief und lief. Manchmal ſetzte ich mich unter einen Baum, um mich etwas zu 
erholen. Seit geſtern Mittag hatte ich nichts gegeſſen. Der Hunger quälte mich indes 
nicht fo ſehr wie der Durſt. Meine Lippen waren geriſſen und die Zunge ſchwoll an. 
Die Sonne brannte erbarmungslos auf mich herunter. Es war die heißeſte Zeit des 
Sabres, kurz vor dem erſten Regen. Bis Mittag fuchte ich immer noch, meine 
Schritte wurden immer langſamer und meine Gedanken verwirrten ſich. Erſchöpft 
ſank ich in das Gras nieder und ſchlief ein. Nach einigen Stunden erwachte ich wieder 
etwas gekräftigt, nur der Durſt quälte mich ſchrecklich. Nach dem Stande der Sonne 
war es etwa fünf Uhr. Ich nahm nun meine ganze Kraft zuſammen und überlegte, 
was ich tun ſollte. Sie würden mich ja ſicher alle ſuchen und die Eingeborenen 
würden meiner Spur nachgehen; das beſte iſt's alfo, hier ſitzen zu bleiben und nicht 
weiter meine Kräfte zu vergeuden. Dieſen vernünftigen Vorſatz befolgte ich auch 
ein Weilchen, bald aber erfaßte mich wieder die Angſt und die Unruhe. Ich mußte 
etwas tun, um ſchnell zum Waſſer zu kommen, und ſicher fände ich den Weg. Viel- 
leicht ift er ganz in der Nähe. Das Tageslicht muß ich ausnutzen. So ſuchte ich denn 
wieder eifrig und raſtlos. Die Sonne ging ſchon unter, immer müder wurde mein 
Gang und immer verwirrter mein Kopf. Allmählich wurde mir alles gleichgültig, 
ich ſetzte mich nieder und wußte eine Zeitlang nichts mehr von mir. Die Kühle der 
Nacht brachte mich wieder zu mir. Dies iſt nun die zweite Nacht, ſeit du vom Hauſe 
fort biſt! Ich gab die Hoffnung auf. Die Nacht war kalt und mich fror; ſtumpf ſaß 
ich da, ich weiß nicht wie lange, da hörte ich einen Schuß. Sofort war alle Dumpfheit 
von mir abgefallen. Und mein Herz ſtand faſt ſtill vor Freude, als ſich die Schüſſe 
wiederholten. Ich ſprang auf und lief wie toll durch Dornbüſche, die mich zer- 
kratzten, über Steine und Löcher fallend, immer dem Klang der Schüſſe nach. Bald 
hörte ich Rufen, doch ich brachte keinen Laut aus der Kehle. Laternen und Fackeln 
blitzten auf, Menſchen kamen. Ich ſtolperte in ein paar Arme und dann wußte ich 
nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, ſtand Herr Detloff neben mir und löffelte 
mir warmen Tee ein. „Gott ſei Dank, daß wir Sie wieder haben, was für Sorgen 


490 3.: Auf der Farm und im Buch 


haben Sie uns gemacht!“ Die Schwarzen ſtanden um uns herum und grinſten 
freundlich. Ich war glüdfelig und konnte es noch nicht faſſen, nach all der über- 
ſtandenen Angſt und Gefahr wieder unter Menſchen und gerettet zu fein. Herr 
Detloff erzählte mir: als ich die vorige Nacht nicht nach Hauſe kam, wären er und 
Peterſen mit ſämtlichen Eingeborenen fortgegangen, um mich zu ſuchen. Sie hätten 
viel geſchoſſen und große Feuer angezündet. Doch konnten ſie in der Dunkelheit 
meine Spur nicht finden. Am anderen Tage war ſie in dem hohen Gras nicht mehr 
zu ſehen. Sie hätten ſich in zwei Trupps geteilt und das Gelände weithin abgeſucht. 
Endlich hätte einer der Schwarzen ein Stückchen Stoff von meinem Kleide an einem 
Dornbaum gefunden. Nun wurde mit Hilfe der Hunde meine Spur verfolgt. — 
Ach wie froh war ich! — Zwei Schwarze wurden nach Hauſe geſchickt, um die 
Ochſenkarre zu holen, und nachdem ich getrunken und gegeſſen hatte, war ich neu- 
geboren und konnte meine Abenteuer erzählen. Gegen Morgen kam dann die Karre, 
und wir fuhren nach Haufe. Herr Peterſen kam jetzt auch an und ſchuͤttelte mir vor 
Freude faſt die Arme aus dem Gelenk. Ich ſah ja bös aus, und eine ganze Zeit 
dauerte es noch, bis meine Kratzwunden geheilt waren. — — Nicht allzulange nach 
dieſem Erlebnis im Buſch fiel der erſte Regen, und nun wurde eifrig gepflügt und 
geſãt. 

Als der Regen nachließ, beſprach ſich Herr Detloff mit Herrn Peterſen, daß ſie 
zuſammen vierzehn Tage wegziehen müßten, um Vieh zu verkaufen. Fcb ſollte fo- 
lange allein bleiben. Nun ging es an die Vorbereitungen zu dieſer Reiſe. Viele 
Büchſen wurden gefüllt mit Kaffee, Tee, Salz, Butter, Zucker, Mehl, Reis, Brot 
uſw. Ein großes Faß goß man voll Waſſer; dann wurde alles auf dem Odfen- 
wagen verftaut. Dazu kamen noch Decken und Waſſerſäcke, und nun konnte die 
Fuhre losgehen. 

„Arme Miſſis freßt der Löwe, wenn du fort biſt, Miſtera!“ ſagte die Kanakawi 
tieftraurig, doch die beiden lachten nur und meinten, ich ſei hier im Buſch ſo ſicher 
wie in Abrahams Schoß. Da ich den Vergleich nicht ausprobieren konnte, mußte ich 
es ſchon glauben. Angſtlich war ich ja nicht, aber es iſt doch unheimlich, fo mutter- 
ſeelenallein im Buſch zu wohnen. Nachts flatterten unzählige Fledermäuſe um mich 
herum, und da der Regen wieder anfing, dröhnte es auf das Wellblech, ſo daß ich 
allerlei Stimmen hörte und mir einbildete, es ſchliche ein Herero heran mit einem 
geſchwungenen Kiri (Hererowaffe). Huh! wie ſchnell zog ich da die Dede über die 
Naſe! Ab und zu krabbelte mal ein Mäuslein über das Bett, was mir Schauder 
verurſachte, denn ich hielt es für eine Schlange. 

So war ich immer froh und angenehm überraſcht, wenn der Morgen graute und 
ich noch lebte. Der Tag war ja ſtets reichlich ausgefüllt und ſchnell herum, und ſo 
gingen die vierzehn Tage auch vorbei. Eines Abends hörte ich Peitſchenknallen, 
„Wop! wop!“ und ein Gerumpel: da kamen fie angerollt, vollgeſtopft mit Neuig- 
keiten und allerlei Gutem für die Küche. Eine Oryxantilope hatten ſie unterwegs 
geſchoſſen, ein Tier ſo groß wie ein Ochſe; die wurde raſch zerlegt, und dann ging 
es an ein Braten und Kochen. Ein großer Teil des Fleiſches wurde in Streifen ge 
ſchnitten, geſalzen und zum Trocknen aufgehängt. Dies wird wie „Bärenſchinken“ roh 
gegeſſen und hält ſich lang. Die Hunde, die Eingeborenen, alles bekam Fleiſch, und 
es war ein großes Eſſen und Jubeln. 


3.: Auf der Farm und im Buſch 491 


„Fräulein Imhoff,“ ſagte Herr Oetloff zu mir, „ich habe einen Brief aus Deutich- 
land. In zwei Wochen kommt ein Volontär mit dem ſchönen Namen Amandus 
Degenkolb.“ 

In Peterſens Stube wurde noch ein Feldbett aufgeſtellt und ſonſt noch einige 
Verſchönerungen angebracht. Ein Bild mit einem Burengeneral, der in edler Hal- 
tung daſteht und das Lager übergibt — es gehörte zu Herrn Peterſens Heilig- 
tümern — wurde aufgenagelt. Die tiefen Löcher in dem Lehmfußboden füllte man 
etwas aus, damit ſich der neue Ankömmling nicht gleich die Beine breche, und nun 
warteten wir drei mit Spannung dem Tag ſeines Erſcheinens entgegen. Ein neuer 
Hausgenoß, ein Grüner — wie überlegen fühlte ich mich dagegen ſchon mit meinen 
vier Monaten Afrika! 

„Er kommt!“ ſchrie Herr Peterſen, und ſchleunigſt liefen wir drei der Karre ent- 
gegen. Stolz thronte er darauf, umgeben von Koffern, Kiſten und Paketchen, lang 
und mager. Das einzige Abſtehende waren ſeine Ohren. 

Ehe die Karre hielt, wollte er ſchon abſteigen, ſtolperte dabei mit ſeinen langen 
Beinen über die Kiſten und Pakete und flog in hohem Bogen herunter. Aber ſofort 
ſprang er wieder auf und faufte wie ein Beſeſſener im Kreiſe herum, wilde Tone 
ausſtoßend. „Uah! uah!“ ſchrie er und ſchrecklich fuchtelte er dabei mit der einen 
Hand. Wir ftanden vollſtändig erſtarrt da, bis er Herrn Oetloff die Hand unter die 
Naſe ſtreckte und wir ſahen, daß ein Finger nach hinten umgebogen war. Herr Det- 
loff packte den Finger ordentlich und renkte ihn mit einem Ruck wieder ein. 

„Uah! uah! uah!“ ſchrie der Jüngling und hüpfte noch ein Weilchen im Kreiſe 
herum. Allmählich beruhigte er ſich jedoch, und wir hatten nun Muße, ihn zu be- 
wundern. Angetan war er mit einem hellen Tropenanzug, Gamaſchen, Sporen 
und einem Schlapphut, einem Revolver im Gürtel und einem Gewehr auf dem 
Rüden. Nachdem er ſich etwas erholt hatte, gab er uns feine Lebensanſichten zum 
Beſten. Löwen und Tiger wolle er ſchießen. Ha, die Jagd, das ſei das Höchſte! Dabei 
packte er aus. Drei Gewehre kamen zum Vorſchein, ein Drilling, eine Kugelbüͤchſe 
und ein Mauſer, und dann noch zwei Revolver. Wir fühlten uns auch gleich erheb- 
lich ſicherer; doch unſere Freude war unermeßlich, als er gar ein Grammophon 
anſchleppte. Nun konnten wir nach den neueſten Walzern tanzen. 

Gleich ging es los. Amandus machte mit, warf ſeine langen Beine nach allen 
Richtungen und vergaß dabei ganz feinen ausgerenkten Finger. Sein Revolver ſtak 
noch im Gürtel, das Gewehr hing auf dem Buckel, dazu klirrten die Sporen: es war 
überwältigend komiſch. Wir waren ungeheuer luſtig; das Gelächter und den Radau 
konnte man weit hören. 

Überhaupt wurde unſer Leben weit unterhaltender ſeit Degenkolbs Ankunft. 
Dieſer Jüngling ſorgte immer für unfere Veluftigung. Zuerſt war er ſehr ent- 
täuſcht, daß er die ganze Woche arbeiten mußte und nur Sonntags auf die Jagd 
gehen konnte. Doch dieſen Tag nützte er auch ausgiebig aus; weder Schlagſahne 
noch Kuchen — ſein Leibeſſen — konnten ihn zurückhalten. Des Morgens mit dem 
frũheſten ſchwang er ſich auf fein altes, klapperiges Muli. Seine begeifterten Er- 
zählungen von feinen Jagdabenteuern waren hinreißend. Mit einem Stück Brot 
in der Taſche und einer Feldflaſche mit Waſſer blieb er ſtets bis zum Abend fort. 
Dann kam er im Schritt angeritten, entſetzlich auf feinem magern Klepper herum- 


492 3.: Auf ber Farm und im Suid 


rutſchend, bald ihm die Sporen gebend, bald ihm gut zuredend. Schon von weitem 
machte er ſich ſo bemerkbar. Doch dem Muli fiels nicht ein, anders als im Schritt 
zu gehen; ſo machte ſein Einzug gar keinen heldenhaften Eindruck. Dafür machten 
es feine Erzählungen um fo mehr. Jagdbeute brachte er nie mit, doch dafür reichlich 
zerriſſene Hoſen. 

Da ich gern einmal eine größere Pad mitmachen wollte, das heißt eine lange 
Reiſe durch den Buſch, verſprach Herr Oetloff, mich nach der Etoſchapfanne mitzu- 
nehmen, um Salz zu holen. Herr Amandus ſollte auch mit, doch ohne ſeine Schieß 
gewehre, was feine Freude erheblich dampfte. Aber unſer Leben war uns zu lieb, 
um uns der Gefahr auszuſetzen, von ihm verſehentlich totgeſchoſſen zu werden. 
Mein Photographenapparat, allerlei Eßvorräte, Mehl, Zucker, Kaffee, leere Gade 
für Salz, Spaten und Faß mit Waſſer wurden aufgepackt, denn wir wollten drei 
Wochen fortbleiben. Ein Nach barfarmer, Herr Ralph, ſchloß ſich auch noch an mit 
einer Ziehharmonika. 

Unter den Klängen: „Muß i denn zum Städtele naus“ zogen wir vergnügt auf 
unſerm Ochſenwagen in den Buſch fort, das Herz voll Freude und Jugend. Ein Lied 
um das andere wurde gefungen, begleitet von Herrn Ralphs Ziehharmonika, daß 
es im Buſch nur fo widerhallte. Die Schwarzen hatten auch ihre Weiber im Feft- 
ſtaate mit. Sie trugen prächtige Schleppkleider aus Blaudruck. Auf ihren Woll- 
köpfen hatten ſie gelbe, rote und lila Kopftücher in den grellſten Farben und ſo boten 
wir ein glänzendes Bild. 

Allmählich ſtieg die Sonne immer höher, und unſere ſangesfreudigen Kehlen ver- 
ſtummten. Es wurde heiß, und wir ſehnten uns nach einem kühlen Plätzchen. Es 
ging nun auch ſchon gegen Mittag; man mußte ausſpannen. Unter großen ſchattigen 
Bäumen wurde Raſt gemacht; Komba, die ich mit hatte, machte Feuer und kochte 
Kaffee. Geſchoſſen war leider noch nichts worden, und fo mußten wir eben ohne 
Fleiſch eſſen. Es ſchmeckte auch ſo vorzüglich; den Beſchluß machte ein Schläfchen. 

Nach einigen Stunden wurden die Ochſen wieder herangetrieben, die einſtweilen 
gefreſſen batten, Komba legte unſere Decken zuſammen, räumte alles weg und 
verſtaute es wieder. Wir kletterten auf und weiter ging es. Amandus zog ein 
Spiel Karten heraus, und nun wurde geſpielt faft bis die Sonne ſank und wahr 
ſcheinlich hätten wir uns noch weiter dieſer reizvollen Tätigkeit hingegeben, wenn 
wir nicht unterbrochen worden wären. Der lange Herero puffte Herrn Detloff in 
die Seite: „Miſter, ein Bock!“ 

Sofort benahm ſich Amandus Degenkolb wie ein Beſeſſener, warf ſeine langen 
Glieder nach allen Richtungen: „Ein Gewehr, ein Gewehr!“ ſchrie er. Doch dieweil 
er noch mit den Armen fuchtelte, hatte Herr Detloff den Bock ſchon geſchoſſen. 

Nun hatten wir Koſt, wie wurden wir da vergnügt! Nicht mehr lange ging der 
Treck, und es wurde ausgeſpannt. Die Ochſen mußten noch einige Stunden freſſen, 
ehe ſie feſtgemacht wurden. Wir ſuchten uns ein nettes Plätzchen für das Nachtlaget. 
Nun wurde ein Feuer gemacht, der Bock wurde abgezogen, ausgeweidet, in Stücke 
geſchnitten, und dann begann das Mahl. Es ſchmeckte uns vieren herrlich, da der 
nötige Hunger vorhanden war. Die Eingeborenen kochten ſich Maisbrei und aßen 
ihn mit dem Fochſcheit; ich wunderte mich dabei nur, daß fie keinen Splitter in ihre 
langen Zungen bekamen, wenn ſie das Scheit ableckten. Von dem Bock erhielten 


Biffer: Die Liebenden | 495 


fie auch noch etwas, und fo waren wir alle gefättigt und guter Dinge, legten uns 
ums Feuer, tauchten Pfeife und Zigaretten und erzählten Geſchichten. 

die Schwarzen lagen ein wenig abfeits an ihrem Feuer und fangen ihre ein- 
tönigen Gefänge. Überall herrſchte die tieſſte Ruhe; die Nacht war nur erhellt vom 
Sternenglanz und unſere Geſichter beleuchtete maleriſch das Lagerfeuer. 

„Erinnern Sie ſich noch, Herr Detloff,“ ſagte Herr Ralph, „als ich damals den 
Schakal geſchoſſen hatte? Ich ſaß am Feuer; hinter mir zog ein Eingeborener den 
Schakal ab. Als er ſoweit war, daß das Fell nur noch etwas am Kücken feſtſaß, 
drehte ſich der Eingeborene zu mir, um mich etwas zu fragen. Wie er ſich darauf 
wieder umwandte, ſtand der Schakal auf ſeinen Beinen und lief weg!“ 

„Owiſeſe!“ rief ich, das heißt: was lügſt du; warum ſollte ich nicht mit meinem 
friſch aufgeſchnappten Herero etwas prunken? 

„Es iſt die reinſte Wahrheit, mein Bierehrenwort!“ ſagte Herr Ralph, und Herr 
Detloff bekräftigte es. Amandus war ganz hin vor Begeifterung; wenn er doch nur 
auch einmal ſo etwas erleben könnte. 

Wir lachten, und nun überboten ſich die beiden an Jagdgeſchichten und machten 
dem armen Nimrod den Mund wäſſerig. Bis wir endlich müde wurden, und 
melodiſche Schnarchtöne von den Eingeborenen zu uns drangen; da wickelten wir 
uns in unſere Decken und gaben uns ganz der Mutter Nacht in die Hände, die uns 
in ihren tiefen Frieden einſchloß und uns trotz der Härte des Lagers feſt ſchlafen ließ. 

O über dieſe wunderbaren Nächte im Buſch, dieſe tiefe Stille, die nur manchmal 
von dem Heulen eines Schakals unterbrochen wird! Man wird fromm und gut 


dabei 
Die Liebenden 
Von Ernſt Wiſſer 


Des Märzenſturms Gejauchz, Geftähn! 
Mich ſtöͤßt vom Pfad der mächtige Föhn. 
Gottes voll der Himmel! Durch tiefes Blau 
Getürmter, zerrißner Wolkenbau. 


Eine gelbe Primel am Waldrand ſprießt. 
Ihr Düften wie Wein ins Blut mir ſchießt. 


Fern ſchau ich im Wald jung edles Paar: 
Blau blitzende Augen, hell leuchtend Haar. 


Seit Monden wuchs hoch die Flamme ſchon — 
Kein Wort verriet es, kein Blick, kein Ton. 


Doch heut — war's Sturmes Drang und Schlag, 
War's Primel? fie glitt, an der Bruſt ihm lag. 


„Hör, herrliches Land! Hör, Heimatland! 

Hoch ſoll fie mir dlühn, unter Gärtners Hand:“ 
Da reißt ſie ſich los, ihr Auge loht: 

„Und käme die bittre, die lange Not — “ 


„Wohlan, fie komme! Dann zeigt die Tat: 
Im Unwetter noch wächſt edle Saat! 


Ich bin, o Gott, der wildfroh minnt 
Und märzlich brauſt, dein echtes Kind!“ 


494 


Die Entführung 
Don Baul Ernft 


n einem entlegenen Teil Spaniens, im vierzehnten Jahrhundert, wuchs bei 

ſeinen Eltern auf einem wehrhaften Turm bei geringen Lebensumſtänden ein 
friſcher Jüngling auf, den wir Florio nennen wollen. Er war nun in dem Alter, da 
er in die Welt hinausziehen und fein Glück machen mußte. Im Hof wartete ſchon 
das geſattelte, nicht mehr allzu jugendliche Pferd und hing geduldig den Kopf, zum 
Zeitvertreib etwa einmal an einem magern Grashälmchen ſchnuppernd, das zwiſchen 
den runden Pflaſterſteinen hervorwuchs. 

Florio ſtand im Reiſeanzug vor ſeinem Vater, der, in einem großen Lehnſtuhl 
ſitzend, ihm die letzten Ratſchläge mit auf die Reife gab. Der alte Herr ſagte: „Pie 
Zeiten ſind ſchlechter geworden. Es iſt nicht mehr, wie es in meiner Jugend wat. 
Du biſt ein Dichter. Zu meiner Zeit machte man feinen Vers, aber das war fo neben- 
bei. Im übrigen verſtand man ſeine Sache, man wußte ſeinen Gaul zu behandeln 
und brach ſeine Lanze.“ 

„Aber Vater,“ warf Florio ein, „du haſt doch ſelber geſagt, daß ich ein ganz guter 
Krieger bin.“ 

„Ich ſpreche nicht von dir, ich ſpreche allgemein“, erwiderte der Vater. „Du wirft 
ja ſehen, wie weit du mit deinem Dichten kommſt. Hauptſache im Leben iſt, daß man 
etwas vor ſich bringt.“ 

Hier lachte Florio; „Aber Vater, ſonſt ſagſt du doch immer: Unſereiner bleibt, was 
er iſt. Das find nur die Geſchäftsleute, die reich werden. Der anſtändige Mann hat 
ſein Schwert, weiter braucht er nichts, mit dem dient er ſeinem König.“ 

Der Alte ſprach: „Sage ich auch. Fit auch wahr. Na, du wirft ja ſehen. Du biſt ein 
guter Junge, du haſt auch Verſtand, du biſt ſchon geſcheiter wie ich. Komm, daß ich 
dich ſegne.“ 

Dem alten Mann ſtanden die Augen in Waſſer, dem Jüngling rollten zwei Tränen 
zu beiden Seiten die Wangen hinab. Er kniete, und der Vater legte ihm die Hände 
auf das Haupt: „Bleibe gut! Der Herr, unſer Gott, behüte dich, daß du deine Ehre 
immer rein hältft. Alles andere ijt Nebenſache.“ 

Er umarmte den Sohn und küßte ihn auf die Stirn. Der Jüngling ſprang auf 
und drüdte die Mutter an die Bruſt, die ſtill zur Seite geſtanden hatte. Dann ftürmte 
er ſchluchzend aus dem Zimmer. — — 

Florio wollte in Madrid ſein Glück machen. Er wollte aber auch Ruhm dutch 
dichteriſche Werke erringen. Er hielt es für ſelbſtverſtändlich, daß man beides ver- 
einigte. Der Ort, wo man herkömmlicherweiſe Glück errang, war der Hof. Mit zäher 
Beharrlichkeit hatte er ſich einen Platz im Vorzimmer des Königs errungen, wo et 
denn in einer dichten Menge ſtand, von einem Bein auf das andere trat, und mit 
andern jungen Leuten Geſpräͤche darüber führte, wie man es anzuſtellen hatte, wenn 
man ſein Glück machen wollte. Der Ort, wo man den Ruhm durch dichteriſche Werke 
errang, war das Kaffeehaus. Hier ſaß man den Nachmittag über, trank eine halbe 
Taſſe Kaffee und beſprach die Nachahmung der Alten und ihre Überwindung. 

Florio hatte ſchon etwa einen Monat lang Hof und Kaffeehaus beſucht ohne wei⸗ 


Ernſt: Ole Entführung 495 


teren Erfolg, als daß der. Oukaten, den ihm fein Vater mitgegeben, in einen Real 
zuſammengeſchmolzen war; da machte er eine Bekanntſchaft, die von entſcheidender 
Wichtigkeit für ihn wurde. 

Ein junger Mann in ſeinem Alter ſetzte ſich an ſeinen Tiſch mit unzufriedenem 
Geſichtsausdruck. Er ſchleuderte feinen weiten Schlapphut mit großer Feder auf den 
Stuhl neben ſich, fuhr ſich mit den Fingern durch die zierlichen Locken, beſtellte mit 
erhobener Stimme eine ganze Taſſe Kaffee bei dem Aufwärter und ſaß dann, den 
Kopf in die Hand geſtützt, ſchwermuͤtig und ſeufzend, indem er ſtarr auf die Marmor- 
platte des Tiſches blickte. Er ſprach abgebrochene Sätze vor ſich hin: „Reime! Keinen 
einzigen finde ich. Wozu überhaupt Berfe! Wenn man etwas Vernünftiges zu fagen 
hat, das kann man in Proſa auch!“ 

Hier konnte fi Florio nicht enthalten, in höflicher Weiſe Einwendungen zu ma- 
chen. Mit wohlgeſetzten Worten erklärte er dem jungen Herrn, nachdem er um Ent- 
ſchuldigung gebeten, daß er ſich in ſeine Angelegenheiten miſche, daß ein Gedicht 
etwas ganz anderes fei, als eine Reihe Proſaſätze, indem man zum Beiſpiel in 
Verſen ſagen könne, was in Proſa auszudrücken ganz unmöglich wäre, und um- 
gekehrt. Mit Behagen verbreitete er ſich über dieſe Gedanken weiter und ſprach, 
indeſſen der andere halb zuhörte, bis er ihn endlich unterbrach und fragte: „Sie ver- 
zeihen, mein Herr, Ihr Geſpräch iſt ſo ſachkundig und überzeugend, daß ich ſicher 
bin, in Euch einen Meiſter der Dichtkunſt vor mir zu ſehen. Iſt es fo, oder irre ich 
mich?“ Florio errötete und ſagte: „Einen Lehrling, einen jungen Geſellen hoch- 
ſtens —“ er konnte aber ſeinen Satz nicht zu Ende ſprechen, denn der andere ſprang 
vom Stuhl auf, umarmte ihn heftig und rief: „Sie ſind mein Mann! Sie müſſen 
mic helfen; ich ſehe Ihnen an, daß auch Ihnen geholfen werden muß; das kann ich, 
denn ich bin wohlhabend; wir müſſen uns zuſammentun.“ 

Es zeigte ſich, daß der junge Herr, er hieß Caliſto, ſehr vermögende Eltern hatte, 
die ihm alle Wünſche gewährten, und daß er in eine junge Dame namens Luerezia 
verliebt war, die einzige Tochter von gleichfalls ſehr reichen Leuten, eine wunder- 
bare Schönheit, eine Tugend ohne Tadel, und ein Geiſt — hier ſeufzte Caliſto; ja, 
ſie hatte einen Geiſt ſondergleichen; und das war es eben; ſie dichtete wie ein Engel; 
und ſie verlangte, er ſolle auch dichten. 

Beide Eltern waren einderſtanden damit, daß Caliſto und Luerezia ein Paar wür- 
den. Caliſto wußte ganz genau, daß Lucrezia keinen andern liebte. Aber liebte ſie 
ihn, Caliſto? Das war der Zweifel, der brennende Zweifel. 

Er zeigte Florio ſeinen Hut. Der Hut war aus hellgrauem Sammet. Er ließ ihn 
die Feder durch die Hand ziehen. Nicht wahr? Eine Feder! Es gab da einen einzigen 
Mann in Madrid, bei dem man eine ſolche Feder finden konnte, und da mußte man 
ein guter Kunde ſein, um ſie zu bekommen; der Mann hatte ſeine Beziehungen in 
Marokko, wo der Markt für Straußenfedern iſt. Kann man eine ſolche Feder naß 
werden laſſen? Das kann man doch nicht! Sie läßt ſich ja wieder aufkräuſeln, aber 
die Schönheit iſt hin; jeder ſieht, das iſt bloß eine aufgekräuſelte Feder. Alſo, Caliſto 
geht geſtern mit Lucrezia im Prado, die Eltern gehen voran, es kommt ein leichter 
Regenſchauer, und Caliſto nimmt den Hut unter den Mantel. Lucrezia ſagt: „Ou 
liebſt mich und denkſt an deinen Hut?“ — „Ja,“ antwortet er, „ich liebe dich und 


496 Ernſt: Ole Entführung 


denke an meinen Hut.“ Das Schauer iſt im Augenblick vorüber, Caliſto ſetzt feinen | 


Hut wieder auf, und Lucrezia ſagt: „Nun mußt du wenigſtens ein Gedicht darüber 
machen.“ Ein Gedicht! Wie ſoll man mit einemmal ein Gedicht machen! Er hat 
die ganze Nacht nicht geſchlafen! 

Wir wollen uns nicht in überflüſſige Einzelheiten verlieren. Florio macht das 
Gedicht für Caliſto, der ſchreibt es ſchön auf goldumrändertes Papier ab und über- 
reicht es der Geliebten. Lucrezia lieſt es, ſie ſieht ihn glänzend an mit ihren Augen 
und fagt: „Caliſto! Iſt es möglich! Komm, ich muß dich küſſen! Ich habe dich ver- 
kannt. Ich hielt dich für dumm. Du biſt ja ein Oichter!“ Caliſto iſt etwas verlegen, 
aber dann faßt er ji; er ergreift Luereziens Hand und drückt auf fie einen achtungs⸗ 
vollen Kuß. Wie er wieder mit Florio zuſammenkommt, ſteckt er die Hand in die 
Taſche und zieht einen Real vor. Er ſagt: „Es gibt in Madrid viele Dichter. Die 
Konkurrenz hat die Preiſe ermäßigt. Gewöhnlich zahlt man für ein Gedicht nur 
einen halben Real. Aber wir ſind Freunde. Ich zahle einen ganzen.“ 

In den nächſten Wochen verdiente Florio täglich einen Real, manchmal auch zwei. 
Caliſto brachte ihm Lucreziens Gedichte, und Florio mußte fie in Verſen beant- 
worten. Florio war ſparſam. Er ſagte ſich: „Wer weiß, wie lange dieſe Einnahme 
währt. Am Hof kommt man nicht fo ſchnell vorwärts, wie ich dachte. Schulden machen 
will ich nicht, ich will mich nicht vor andern Leuten bücken; außerdem würde mir 
auch niemand etwas borgen.“ 

Es war ihm klar, daß der verliebte Gedichtwechſel bald ein Ende nehmen mußte. 
Er hatte ja Lucrezia nie geſehen — — aber nach den Erzählungen Caliſtos, nach 
ihrer reizend mädchenhaften Handſchrift, nach ihren Gedichten, welche durch ge- 
legentliche Fehler gegen Stil, Ders und Reim, auch durch eine gewiſſe Gelbftandig- 
keit in der Orthographie etwas ungemein Friſches und Munteres hatten, konnte er 
ſich ein Bild machen: er machte ſich ein Bild, und indem er ſich mit gutem Gewiſſen 
gehen ließ, weil ſeine Gedichte ja dadurch nur gewinnen konnten, verliebte er ſich 
ſterblich in dieſes Bild. Er machte auch noch Gedichte für eigene Rechnung. In denen 
beklagte er feine traurige Lage: daß er niemals einen Blick aus ihren Augen er- 
haſchte, daß er nie an ſie ein Wort richten durfte, ja, daß er ſie nie geſehen hatte, und 
daß fie überhaupt nichts davon wußte, daß er lebte; es war, wie wenn ein Mädchen 
an einem See vorüberging und das Waſſer ſpiegelte ihr Bild, und ein Zauberer be- 
wirkte, daß das Bild im Waſſer ſtehen blieb, nachdem das Mädchen fortgegangen war, 
und nachher kam ein Züngling, und auch fein Bild ſpiegelte ſich und blieb, nachdem 
er wieder gegangen; und nun liebte dieſes eine ſtumme Bild das andere ſtumme Bild. 

An einem Lage, als er ſich, wie das die Gewohnheit geworden, mit Caliſto im 
Kaffeehaus traf, bemerkte er, wie der Freund ſeltſam feierlich und ſchweigend ihm 
gegenüber ſaß. „Was iſt Ihnen?“ fragte er. „Sollte mein letztes Gedicht zu kühn 
geweſen ſein, oder — ich weiß, ich habe einen ſchlechten Reim verwendet, den man 
ſich eigentlich nicht erlauben darf. Aber es geſchah mit Abſicht. Nur ſo konnte ich 
die völlige Lebenswahrheit herausbringen, und man muß immer die geringere 
Schönheit der wichtigeren opfern.“ 

Caliſto ſchüttelte den Kopf. „Das Gedicht war gut und drückte meine Empfin- 
dungen ausgezeichnet aus. Sie haben überhaupt immer den richtigen Ton getroffen, 


PUIMaIUYIS pio JFeYISPUEJLOOW 


Eenft: Die Entführung 497 


und ich bin mit Ihnen zufrieden. Wenn ich ſchweigſam bin, jo wird das dadurch ver- 
urſacht, daß mich viele Gedanken beſtürmen. Wir werden uns für einige Zeit nicht 
ſehen. Es iſt möglich, daß ich Sie ſpäter wieder um Ihre Freundſchaft bitten muß. 
Ich werde Ihre halbe Taſſe Kaffee bezahlen. Ihre Wohnung iſt mir bekannt, aber 
vielleicht treffe ich Sie auch wieder hier zur gewohnten Stunde, falls es nötig ſein 
ſollte.“ Er erhob fic, ſchuͤttelte Florios Hand, ging zur Kaffe und bezahlte. 

„Da haben wir es nun“, ſagte Florio bei ſich. „Das letzte Gedicht hat ihm natür- 
lich nicht gefallen. Auf ſolchen zufälligen Erwerb hin kann man fein Leben nicht ein- 
richten. Nun, für einen Monat habe ich wieder zu leben, man muß ſehen, wie man 
in der Zwiſchenzeit etwas anderes findet.“ 

Am Abend ging er durch die Straßen. Es wurde dunkel, die Straßen leerten ſich; 
an einer Ecke begegnete er einem jungen Herrn mit einigen Muſikanten, der ein 
Ständchen bringen wollte. Er dachte an Lucrezien, fie wohnte gewiß in einer von 
dieſen vornehmen Straßen. Die Nacht war mondlos. Gelegentlich hörte er ein 
Flüſtern, ein junger Mann ſtand wohl vor einem Fenſter und ſprach durch das ge- 
ſchmiedete Gitter mit feiner Geliebten, deren Eltern inzwiſchen in ihrer Kammer 
ſanft ſchliefen. 

Seine Verlaſſenheit fiel ihm auf das Herz und die dunkel ſtille Nacht und daß er 
nun nicht mehr mit Lucrezien Gedichte wechſeln ſollte; er dachte an fein hart ein- 
ſames Lager. Worte, Verſe und Reime fanden ſich zuſammen; er lehnte ſich an eine 
Hausmauer neben einem vorgebauchten Fenſtergitter und begann probierend und 
mit den Fingern der linken Hand den Rhythmus anmerkend, die unfertigen Verſe 
vor ſich hin zu flüſtern. 

Da hörte er dicht neben ſich aus dem Fenſter ein leiſes „Pft! Pit!" Er fuhr auf 
und fragte: „Wer iſt da?“ — „Ich bin es“, wurde geantwortet. „Leiſe, leiſe! Warte 
einen Augenblick, ich habe den Schlüſſel ſchon, ich komme gleich heraus.“ 

Florio ſah natürlich ein, daß man ihn für einen andern hielt. Aber was kann da 
ſein? Eben öffnete ſich das ſchwere Haustor leiſe, durch den Spalt zwängte ſich ein 
Mädchen, das Haustor ſchnappte wieder zu. „Nun habe ich den Schlüſſel inwendig 
ſtecken laſſen“, fagte fie, dann hängte fie ſich Florio an den Hals und flüfterte „Schnell, 
ſchnell!“, ſie nahm ſeinen Arm und zog ihn fort. „Wohin willſt du denn? Hier iſt es 
doch!“ ſagte ſie und zog ihn um die Ecke. Da war eine dunkle Maſſe, ein Wagen mit 
vier Pferden lang. Er öffnete den Schlag, hob das Mädchen hinein und ſetzte ſich 
zu ihr. Der Wagen raſſelte los und flog die Straße hinab, um Ecken, durch das Tor, 
die Landſtraße entlang wie der Blitz. Das Mädchen hing an Florios Hals und 
kicherte. „Ou haft es nicht erwarten können. Eine Viertelſtunde vorher biſt du ge- 
kommen! Gut, daß der Wagen ſchon hielt. Ich hatte ja auch ſchon gewartet!“ 

In feinem letzten Gedicht, das er an Lucrezien geſchrieben, hatte Florio eine Ent- 
führung dargeſtellt. Er hatte ſich ja immer gedacht, daß er es eigentlich ſei, der 
Lucrezien liebte, den fie wieder liebte, den nur die Eltern nicht wünſchten; nun 
hatte er gedichtet, daß ſie einander um Mitternacht Ziel gegeben, um zuſammen 
zu entfliehen. Caliſto hatte das Gedicht beim Abſchreiben nicht fo genau in ſich auf- 
genommen, der Inhalt war ihm jedenfalls nicht klargeworden, er hatte nur fo All- 


gemeines von Mond, Sternen, Nachtigall und Fliederduft gemerkt. 
Ser Türmer X XVIII, 6 33 


498 Ernſt: Die Entführmg 


Halb benommen von ſeinem Abenteuer, das Mädchen im Arm, deſſen Herz un- 
geſtüm an ſeinem ſchlug, das Köpfchen mit dem duftenden Haar unter ſeinem Ge— 
ſicht in dem dahinraſenden Wagen, ſagte er den erſten Vers des Gedichtes: 


Nacht und Schatten weich ſich ſchmiegend 
und das Mädchen antwortete, ſich warm an ihn drückend: 


Und es rauſcht der ſchnelle Wagen. 
Er fuhr fort: | 

Du an meinem Herzen liegend — 
Und ſie ſchloß: 

Und die Pferde weit uns tragend. 

Er wunderte ſich nicht, daß ſie das Gedicht kannte: „Vielleicht träume ich“, dachte 
er und küßte das Mädchen auf die Stirn und auf den Mund, der ſich im Dunkeln 
ihm bot. Sie lachte: „Sieh, wie kannſt du küſſen! Das habe ich gar nicht gewußt!“ 

Durch das ſchweigende Land jagte der Wagen durch Geſchrei von Fröſchen und 
das Schluchzen einer Nachtigall. Der Mond kam hoch, und die Bäume warfen 
ſchräge Schatten auf die Straße. Das Mädchen zog die Gardinen vor die Fenſter 
des Wagens. „Im Dunkeln will ich träumen,“ ſagte ſie, „ich fühle dich und fühle, 
wie dein Arm mich hält. Weißt du noch, wie du mir die Hand küßteſt? Wenn da 
nicht dieſes wunderſchöne erſte Gedicht geweſen wäre, dann hätte ich dich für 
dumm gehalten. Aber du biſt ſo. Ach, ich bin dich ja gar nicht wert. Aber ich liebe 
dich. Alles gebe ich dir. Alles ſollſt du haben, du biſt nun ſo ein Menſch — das hätte 
ich dir vorher nie ſagen können, da ſchloß es mir immer den Mund zu, wenn du bei 
mir warſt; nur wenn ich deine Verſe las, dann war ich dein; und nun liege ich in 
deinem Arm und bin dein, nun fühle ich es auch, wenn ich bei dir bin.“ 

Der Wagen jagte dahin. Schwatzen, Lachen, Küſſe. Da kam ein Ruck, Lichtſchein 
durch die Gardinen, die Wagentür wurde geöffnet. „Schnell den Schleier vor“, 
ſagte ſie und verhüllte ſich, ſie barg ihr Geſicht an ſeine Bruſt. Ein Wirt ſtand vor 
dem Wagen, machte Büdlinge: „Alles vorbereitet für die Exzellenzen, die Erzellen- 
zen ſollen mein Gaſthaus loben.“ 

Florio nahm das Mädchen auf den Arm, das ſich willenlos tragen ließ und ſein 
Geſicht an ſeiner Bruſt verbarg. Er ſtieg mit ſeiner Laſt aus dem Wagen, folgte dem 
Wirt ins Haus, die Treppe hinauf, in das erleuchtete Zimmer. Der Wirt zeigte auf 
den Tiſch: „Alles, wie Exzellenz befohlen haben. Kalte Küche. Exzellenz haben 
Verſtändnis. Wenn man den Braten ſtundenlang warm halten muß, nachdem er 
fertig iſt, dabei kann keine Kochkunſt beſtehen. Aber wer weiß das von den Hert- 
ſchaften? Da wird geklingelt, gleich ſoll alles da ſein — —“ 

Florio fiel dem geſchwätzigen Mann ins Wort: „Die Dame iſt müde, Sie ſehen —“ 

„Jawohl, jawohl, bitte vielmals um Entſchuldigung“, ſagte der Wirt und ging 
rückwärts zur Tür, öffnete ſie und ſchob ſich hinaus. „Wenn noch etwas gewünſcht 
wird, da iſt der Klingelzug, ich fliege. Und guten Appetit. Go eine Nachtfahrt !.“ 
Damit zog er die Tür hinter ſich zu. Er öffnete ſie ſofort noch einmal und ſagte: 
„Alſo wie geſagt, da iſt die Klingel, wenn etwas gewünſcht wird.“ Damit verſchwand 
er endgültig. | 


— mie u 


Ernſt: Die Entführung 499 


Florio hatte das Mädchen auf feine Füße geftellt. Die wickelte ſich den Schleier 
ab. Zur Hälfte hatte ſie ihn abgewickelt, da ſah ſie Florio ins Geſicht. Entgeiſtert 
hielt ſie an und ſtarrte: „Wer iſt denn das?“ Plötzlich lachte ſie hyſteriſch auf: „Ich 
habe mich von einem Fremden entführen laſſen!“ Sie lief auf ihn zu, faßte ihn vorn 
beim Rod und fragte: „Wer find Sie? Ich klingle. Sagen Sie ſofort, wer Sie find, 
was Sie von mir wollen!“ | 

Das war nun beides nicht fo leicht geſagt. Achtungsvoll führte er fie zu einem 
Stuhl; fie ſpürte, daß fie nichts zu fürchten hatte und fegte ſich. Er ging im Zimmer 
auf und ab; er mußte ſich erſt zurechtlegen, wie und was er ſprechen wollte. 

„Woher kennen Sie das Gedicht?“ fragte fie ihn ungeſtüm. „Caliſto hat das Ge- 
dicht nicht ſelber gemacht! Das haben Sie gemacht?!“ | 

„Ja“, erwiderte Florio. 

„Dachte ich mir doch, daß der Dummkopf kein Gedicht machen konnte“, rief fie 
aus. „Ausgewachſen bin ich, wenn er neben mir ſaß und ſein Süßholz raſpelte. 
Schnell! Erzählen Sie! Sie ſind ſein Vertrauter. Er hat Ihnen alles geſchwatzt, 
und Sie haben die Gelegenheit ergriffen und haben mich ihm weggeſchnappt?“ Sie 
ſagte das, auf dem Stuhl ſitzend, mit blitzenden Augen; dabei ſah ſie ihn ſorgfältig 
prüfend an. 

„Ach was! Zetzt halten Sie mich gar noch für einen Lumpenhund!“ ſagte Florio. 
„Ich will alles erzählen.“ 

Und nun berichtete er, wie er nach Madrid gekommen war, und wie er all ſein 
Geld ausgegeben hatte bis auf einen Real, und wie er mit Caliſto bekannt geworden, 
und wie der ihm für jedes Gedicht einen Real bezahlt hatte. „Das ſieht ihm ähnlich“, 
rief Lucrezia. „Einen Real für ein Gedicht!“ Florio holte ſich einen Stuhl und ſetzte 
ſich neben ſie, faßte ihre Hand, die ſie ihm etwas zögernd ließ, dann fuhr er fort, 
wie ſich Caliſto heute von ihm getrennt, wie er nun Sorgen hatte, daß das Ein- 
kommen aus den Gedichten fehlte, aber er hatte ſich Erſparniſſe gemacht, und in 
einem Monat jab die Sache wahrſcheinlich ſchon wieder ganz anders aus, und dann 
kann ja auch das Glück plötzlich kommen, und dabei lachte er fie blitzend an, daß fie 
errõtend zur Erde blickte. Endlich ſchloß er, wie er zufällig ſich an das Haus gelehnt 
und berichtete weiter, wie es nun ſchon erzählt iſt. 

Zwei große Karaffen ſtanden auf dem Tiſch mit rotem und weißem Wein. Gläſer 
waren da und Teller. Da war eine Schüffel mit einem kalten Rehrücken. Ein großer 
flacher Schafkäſe, Apfel, Weintrauben. Lucrezia ſah prüfend über den Tiſch hin und 
ſagte: „Ich habe natürlich nichts zu Abend gegeſſen. Ich habe Hunger. Wir wollen 
uns zunächſt an den Tiſch ſetzen, ehe wir weiter verhandeln.“ 

Als ſie ſich gegenũberſaßen, nachdem ſie den erſten Hunger geſtillt, ſprach ſie ernſt: 
„Wiſſen Sie auch, daß Sie mit dem Schickſal eines Mädchens geſpielt haben? An 
mich haben Sie wohl gar nicht gedacht, als Sie Ihre Gedichte ſchrieben?“ Florio 
verfiel in Beteuerungen. Aber ſie ſchnitt ſeine Rede ab und fuhr fort: „Sie konnten 
ſich wohl denken, daß ich den Narren durchſchaute. Plötzlich bringt er mir die Ge- 
dichte an. Jetzt wird mir ja klar, daß ich ſofort meine Zweifel hatte; aber wer glaubt 
ſich denn ſelber in ſolchem Fall? Wie er das Gedicht mit der Entführung vorzieht 
mit ſeinem albernen Geſicht, und ich leſe es, da faßte mich eine tolle Luſtigkeit.“ Die 


500 Ernſt: Die Entführung 


Tränen glänzten ihr in den Augen auf, und fie lachte. „Ich war wohl verzweifelt. 
Was ſoll denn ein einſames junges Mädchen machen? Keinen Menſchen hatte ich, 
meine guten Eltern verſtehen das ja gar nicht, wenn ich ihnen etwas erzähle, das 
mir aus dem Herzen kommt. Ich ſage ihm: Dieſe Nacht entführſt du mich! Du 
beſtellſt einen Wagen mit vier Pferden, der wartet an der Ecke. Du beſtellſt ein 
Abendbrot beim Wirt in Vallecas. Punkt zwölf Uhr iſt Abfahrt! Und, mein Hert 
Florio, wie Sie heute abend dann da ſtanden — —“ hier wurde fie über und über 
rot und beugte ihr Geſicht auf den Teller, und ſchwere Tropfen fielen aus ihren 
Augen auf den Tellerrand. 

„Lucrezia, du liebſt mich!“ rief Florio begeiſtert aus, kniete vor ihr nieder und 
ſchlang ſeine Arme um ſie. Sie wehrte ſchwach ab: „Laſſen Sie mich, was müſſen Sie 
denn von mir denken!“ 

Am andern Morgen ſchien die Sonne durch die Fenſter. Florio erwachte. In 
feinem Arm ſchlief in tiefem Schlaf das reizende Mädchen, im Geſicht einen Aus- 
druck unausſprechlichen Glücks. Er wagte nicht zu atmen. Da ging das Erwachen durch 
ihre Züge, die Augen öffneten ſich, und noch halb im Traum ſchlang ſie die Arme 
feſter um ihn 

Noch war im Haus alles ſtill. Nach irgendeiner Zeit war dann ein Schlurfen auf 
Steinfließen, ein unwilliges Rufen und Wecken, dann kam Türenſchließen, Gegacker 
und Krähen vom Hühnerhof und allerlei weitere Geräuſche. 

Sie ſagte: „Das iſt nun eine ſchöne Geſchichte. Wir ſitzen hier und haben eine gute 
Zeche gemacht. Wie bezahlen wir die?“ Florio ſprach: „Ich habe zwanzig Realen 
und noch einiges Kupfer, das wird ja genügen.“ — „Und dann?“ fragte fie und 
lachte. „Wie denkſt du eigentlich eine Frau zu ernähren?“ Raltblitig erwiderte er: 
„Deine Eltern haben doch kein Kind ſonſt. Was ſollen ſie machen?“ Sie lachte: „Ja, 
was ſollen fie machen? Ich glaube, meine Mutter hat ſich ſchon ſelber zuweilen ge 
ſagt, daß es mit dem Eſel von Caliſto nichts geben kann. Meine Mutter macht ſchon 
keine Schwierigkeiten. Und mein Vater, der will ſchließlich wie meine Mutter will.“ 
Sie umarmte ihn. „Und ich will, wie du willſt.“ — „Nun, da iſt ja alles gut“, lachte 
Florio. „Aber jetzt wollen wir frühſtücken.“ 

In Madrid war inzwiſchen geſchehen, was nach den Umſtänden geſchehen konnte. 
Caliſto hatte vergeblich an Lucreziens Tür gewartet, hatte ſich dann nach dem Wagen 
umgeſehen und ihn nicht gefunden, hatte wieder vor der Tür gewartet und hatte 
ſich ſchließlich geſagt, das Ganze ſei ſo ein Einfall eines etwas überſpannten jungen 
Mädchens geweſen, nun ſei es ganz gut, daß nichts damit geworden ſei; und dann 
war er nach Hauſe gegangen, um zu ſchlafen. Luereziens Eltern hatten ſich am andern 
Morgen gewundert, daß ihre Tochter nicht aus ihrem Zimmer kam; der Diener hatte 
berichtet, daß der Schlüſſel am Haustor ſteckte; die Mutter hatte im Zimmer nach 
geſehen und hatte es leer und das Bett unberührt gefunden. Man hatte gleich zu 
Caliſto geſchickt, der war ſofort gekommen und hatte alles erzählt und auch von dem 
Wirtshaus in Vallecas geſprochen. Die Mutter hatte ihm geſagt, er ſei ſo dumm, 
daß er Prügel verdiene. Der Vater hatte ſofort anſpannen laſſen; und indeſſen 
ſich der beleidigte Bräutigam entfernte, waren die Eltern nach Vallecas gefahren. 

Sie trafen das Pärchen im Zimmer. Florio hatte bezahlt und reichliche Trinkgelder 


felabe: Zwiſchen Pflug und Buch 501 


gegeben und zählte grade die paar Kupferſtücke, die ihm noch geblieben, und Lu- 
crezia nähte ſich einen Saum am Rod feſt, den Florio ihr abgetreten hatte. Luerezia 
eilte auf ihre Mutter zu, umarmte und küßte ſie, weinte und lachte, ſtreichelte ihr 
die Backen und ſagte: „Ich bin ſo glücklich, Mutter!“ Der Alte ſtarrte verwundert 
Florio an, der eine leichte Verlegenheit bekämpfte, dann aber auf den Alten zutrat, 
ſeine Hand nahm und ſprach: „An Adel bin ich Ihnen gleich. Geben Sie mir Ihre 
Tochter zur Frau!“ 

Ja, was ſollten die beiden tun? Die Mutter ſagte gerührt: „Das Kind iſt fo glück- 
lich“, und Lucrezia hängte ſich nun auch an des Vaters Hals. Der Vater machte ſich 
verdrießlich los und knurrte: „Zu ändern iſt nun nichts. Meinetwegen!“ Da ſchloß 
ihn Florio in ſeine Arme und küßte ihn auf die ſtoppelige Backe. Der Alte wollte 
noch ärgerlich fein; aber dann bezwang ihn das Lachen der jungen Leute, die Rüh- 
rung der Mutter, und er ſagte: „Na, wer weiß, wozu es gut iſt. Der andere hat mir 
eigentlich nie gefallen. . .“ 


 Zwilchen Pflug und Buch 
Von Georg Kläbe 


Wenn unfrer Väter einer mannbar war, 

So griff er nach dem Pflug und zu den Waffen. 
Ser Mann ward nicht zum Bücherwurm gefdaffen. 
Sein Tun galt Ackerbau und Kriegsgefahr. 


So fing ich an. Fünf Jahre Eiſenzeit 

Fünf harte Jahre, neues Land zu zwing 

Der Wildnis Halm und Heimſtatt a byutingen, 
Zu jeder Arbeit Herz und Hand ber 


Zehn Sabre rührten Herz und Hände ſich 

Um aufzubaun, zu nähren und zu wehren. 

eo der Geiſt verfladte im dntbebren. 
un iſt er aufgeftanden wider mich 


Und forderte fein Recht und ſchrie mich an, 
bn hungert' nach Erkenntnis und nach Wiſſen. 
un hab ich manches liebe Band zerriſſen 
Und gab mich kalter Weisheit untertan. 


Der Kopf blieb wacker, doch der Arm ward matt, 
Der friſche Mannesmut ging mir verloren — 
Denn meine Heimat liegt in fernen Mooren, 

Und ich bin fremd in meiner Vaterſtadt. 


cha u 


Karl Beters 


Cin Gedentblatt 


ürzlich ſuchte ich die beiden unverheirateten Schweſtern des Gründers von Oeutſch-Oſtafrika 

in ihrem Heime im Süden Hannovers auf. Von einer erfriſchenden Harzreiſe waren fie 
vor einigen Tagen zurückgekehrt und gerade jetzt damit beſchäftigt, die Stickerei einer dunklen 
Tiſchdecke zu erneuern, die ihr Bruder Karl der Mutter auf ſeiner erſten Reiſe nach Sanſibar 
im November 1884 mitgebracht hatte. „Wenn ſie auf iſt, gibt es eine neue!“ waren damals 
ſeine Worte. Gut, daß es noch die alte iſt und die treue Liebe der Schweſtern bei jedem Nadel- 
ſtich wieder das bedeutende Leben ihres guten Bruders in den verfloſſenen 40 Jahren neu 
erleben kann. 

Wie viele Erinnerungen der freundlichen Wohnung zeugen zudem von ſeinem afrikaniſchen 
Werke. Da breitet ſich das gefleckte Fell eines Panthers, den er als Führer der deutſchen Emin; 
Paſcha-Expedition geſchoſſen hatte. Da find verſchiedene Geſchenke des treuen Kabaka Mwanga 
von Uganda (der {pater auf einer Seychelleninſel des indiſchen Ozeans in engliſcher Gefangen 
ſchaft gebrochenen Herzens ftarb), wie ein Zwerggazellenfell und ein großes braunes Stüc 
Pflanzenrindenſtoff, der aus zuſammengepreßtem Feigenbaſt hergeſtellt iſt und von den Uganda- 
bewohnern nach der Bekehrung zum Chriſtentum auf Anordnung des Königs getragen wurde. 
Hier ift eine helle Seidendecke mit Pfaudarſtellung aus Agypten, darüber ein Bild der Kilima- 
Noſcharolandſchaft, worin zwei Bergrieſen mit weißer Schneemüße die deutſche Wacht im 
Norden Afrikas halten. An den Wänden des Doppelzimmers aber prunken zwei herrliche San; 
ſibar-Exinnerungen aus der erften oſtafrikaniſchen Gründungszeit: eine gigantiſche Wanddecke 
aus roter Seide mit vier goldgeftidten Pfauen und eine andere aus blauer Seide mit gold; 
geſtickten Ibiſſen und Lotosblumen. Dann findet ſich ein aus einem Elefantenkinnbacken ver; 
fertigter Briefbeſchwerer, — ein Felsſtũck mit Goldadern aus dem Manicalande mit dem fabel- 
haften Fur aberge, deſſen Name noch auf Aufur und weiterhin Ophir hindeutet, — und dann 
draußen auf der Veranda, von der man über die Große Bult zu den Waldgründen der Eilen- 
riede herüberfchaut, ein Klapplehnſtuhl von der Emin Paſcha-Expedition, worauf Karl Peters 
nach anſtrengendem Tagesmarſch eine gefahrvolle Nachtruhe fand, die nicht ſelten durch das 
Gerdufd eines durch die Poſten geſchlichenen Feindes geſtört wurde. Es iſt nur ein kleiner un- 
bequemer Ruheſtuhl, den Peters nicht größer wiinfdte, um die Träger nicht unndtigerweife zu 
belaſten, von denen jeder 70 Pfund auf dem Marſche zu tragen hatte. 

Im Wohnzimmer aber ſtickten die Schweſtern gleichſam geheimnisvolle Runen in die dunkle 
Decke von Sanſibar, einen ſiegfrohen Peterszauber für unfere ſorgenreiche, ungewiſſe, gefahr⸗ 
volle Gegenwart. 


* * 
* 


Zur Zeit, als in Deutſchland eine ftille Verſchwörung gegen Peters ſich vorbereitete, um 
ihn endgültig zu beſeitigen, ſchrieb Frieda von Bülow der Schweſter, Fräulein Elli Peters: 
„Unſer ſchlappes Regiment hält alle jungen lebenskräftigen Elemente nieder und lähmt den 
Tüchtigſten die Schwungkraft. Was wir brauchen, iſt ein Mann, der weiß, was er will und ſich 
nicht fürchtet, ſondern entſchloſſen iſt, das, was er will, mit oder gegen die Regierung durch; 
zuführen, wie 1812 die Stein, Blücher, Gneiſenau, Bülow, Bork’ ... Von ganzem Herzen 
wüͤnſche ich jetzt, wir möchten einen ſolchen Befreier und Mann in Ihrem Bruder finden. Die 
ſchwere Charakterſchulung des Sichbeugens unter einer Leitung, die er überſah und im höoͤchſten 
Grade mißbilligen mußte, hat auch gerade er durchzumachen gehabt.“ 


Rarl Peters 503 


Ein Mann von der abnormen Seelenſtärke von Dr. Karl Peters, dem nach dem Urteil unferer 
ſchärfſten Köpfe an geiſtiger Kraft unter den Zeitgenoſſen auch nicht einer ebenbürtig war, 
paßte allerdings nicht in das ſchlappe Regiment der wilhelminiſchen Zeit, wovon er uns bei 
politiſcher Reife hätte befreien können. Nein, er iſt ſeiner ganzen Natur und Leiſtung nach ein 
Mann des alten Kurſes, getragen vom friderizianiſchen Geiſte, der Preußen und Oeutſchland 
groß und mächtig machte, — ein Zdealiſt der Tat, der in feinem Handeln wie der alternde 
Fauſt an das Schickſal unſerer Söhne und Enkel dachte, die auf neuem Grunde, von wirt- 
ſchaftlichen Feſſeln befreit, ſich zu freien Bürgern und Menſchen entwickeln ſollten, anſtatt in 
Verzweiflung über ihre unſelbſtändige Lage in der Heimat politiſch blind den Staat, aus dem 
ſie hervorgegangen, und der in der Welt als vorbildlich galt, zu zerſchlagen und ein anarchiſches 
Chaos an ſeine Stelle zu ſetzen. 


* * 
4 


Während die Leiter des erſten deutſchen Kolonialvereins im 19. Jahrhundert „lediglich Pro- 
paganda machen wollten, um im 20. Jahrhundert Kolonialpolitik treiben zu können“, ſchritt 
Dr. Karl Peters bei ſeiner Rückkehr aus England zu Beginn des Jahres 1884 als Vorſitzender 
der neuen Geſellſchaft für deutſche Koloniſation zur ausführenden Tat, indem er im November 
desſelben Jahres durch einen Abtretungsvertrag mit dem Häuptling von Uſeguha das erſte 
deutſche Schutzgebiet in Oſtafrika erwarb. Auf einer filbernen Petersgedentmiinge, die die 
Schweſter Elli im Andenken an den toten Bruder trägt, zeigt die Rüdfeite ſinnig den damaligen 
Flug der deutſchen Flagge übers Weltmeer zur afrikaniſchen Palmentiifte. 2000 & koſtete dieſe 
erſte Expedition, die den Ausgangspunkt für das fpdtere Deutſch-Oſtafrika bilden ſollte. Am 
27. Februar 1885 erhielt Dr. Peters ſodann vom Fürſten Bismarck den erſten kolonialen Schutz- 
brief in der deutſchen Geſchichte, worin der deutſche Kaiſer die Oberhoheit über die erworbenen 
Gebiete übernahm, die damit unter ſeinen kaiſerlichen Schutz geſtellt wurden. Hier wird Karl 
Peters auch amtlich Mitarbeiter des alten Kurſes an den Aufgaben des größeren Deutſchland 
über See. 

Bald berührte ſich auch das koloniale Geſtalten von Dr. Peters mit dem Strom der hohen 
Politik, als der proteſtierende Said Bargaſch von Sanſibar ſeine Flagge neben der deutſchen 
in dem neuen Schutzgebiete aufziehen ließ und Karl Peters Auge in Auge dem Fürſten Bis- 
marck gegenüberftand, deſſen Stolz auf empfindliche Weiſe berührt fein mußte. Peters ent- 
warf damals die Proteſtnote an die Großmächte und riet dem Fürften zu der Gefdwader- 
demonſtration vor Sanſibar, der ſich der Sultan und das engliſche Kabinett fügte. 

Bald hatte der Unermüdliche auch das oſtafrikaniſche Seengebiet und die ganze Küfte von 
der Umbamündung bis zum Kap Delgado erworben, den Frieda von Bülow in einem Briefe 
vom 14. Juli 1887 aus Sanſibar an die Schweſter Elli damals folgendermaßen ſchilderte: „Es 
ſcheint, als ob der Sturm in dieſem leidenſchaftlich ſtrebenden Geiſte hier wilder, weil un- 
gehinderter, herbrauſt. Er fühlt ſich hier am Steuerrad der Geſchichte und greift mit ſeiner 
kleinen, feſten Hand in die Speichen.“ 

Heute berührt es uns außerdem ſympathiſch, aus einem Briefe derſelben Dame aus Bom- 
bay zu hören, mit welcher Sympathie die Herzogin von Connaught, die Tochter des Prinzen 
Friedrich Karl, die trotz ihrer engliſchen Umgebung innerlich durch und durch deutſch geblieben 
war — ſie ſtarb während des Weltkriegs, vielleicht an gebrochenem Herzen —, das entſtehende 
Deutſch-Oſtafrika verfolgte und ſich über alle neuen Einrichtungen durch eifrige Erkundigungen 
unterrichtete. 

Peters zeigte ſich in allem ſeiner Aufgabe gewachſen. Er unternahm bereits im Sommer 
1887 die Abſteckung der oſtafrikaniſchen Mittelbahn von Dar -es Salam ins Hinterland und 
trat im übrigen für völlige Selbftverwaltung der Deutſchoſtafrikaner ein, die ſich ſogar ihren 
Gouverneur ſelbſt wählen ſollten. Er ſteht hier über jeder Parteipolitik und hätte die Unter- 


504 Rarl Peters 


ftüßung eines jeden Deutſchen, ber ſich und die Seinen in deutſchen Kolonien weiterbringen 
wollte, verdient. 

Seine Glanzleiſtung iſt ſodann die Führung der deutſchen Emin-Paſcha⸗Expedition, durch 
die die Tanalaͤnder, der Kenia, Uganda, die Nilquellen ſowie die Aquatorialproving dem deut - 
ſchen Einfluſſe erſchloſſen wurden. Hier wäre der Ausgangspunkt für ein neues Kaiſerreich 
Oeutſch-Oſtafrika von der Bedeutung des kaiſerlichen Britiſch- Indien Großbritanniens ge 
weſen. Am oberen Nil vor der Aquatorialproving ſaß der Mahdi, deſſen Scharen Hicks Paſcha 
bei El Obeid und Gordon Paſcha in Chartum vernichtet hatten. Zur Seite auf hoher Berg- 
veſte lag das befreundete chriſtliche Abeſſinien, das europäiſch geſchult und bewaffnet ein adt- 
barer Verbündeter hätte werden können. Im Weſten hatte König Leopold durch feinen ge- 
heimen Erlaß vom 21. September 1891 die Kongoakte verletzt und ein Eingreifen der be- 
teiligten Mächte ermöglicht. Im Kücken ſtreckte ſich Mogambique und Gafaland weit an der 
Küfte entlang, womit Portugal nicht viel anfangen konnte, und gleich daran ſchloſſen ſich die 
beiden befreundeten Burenrepubliken mit ihren vielen hollaͤndiſchen Geſinnungsgenoſſen im 
Raplanb, den „Kaprebellen“. Was hätte hier ein Staatsmann, wie der Große Kurfürſt oder 
Bismarck, und wohl auch ein ungehemmter Karl Peters nicht alles vermocht! 

Das geſamte politiſche Reſultat der Emin-Paſcha- Expedition aber wurde mit einem dicken 
Feberſtrich im Sanſibarvertrage vom Juli 1890 getilgt, wo nach Bismarcks Worten Oeutſch⸗ 
land feine goldene Glaukusrüſtung gegen die eherne Yiomebesrüftung Großbritanniens aus- 
tauſchte. England erhielt damals bie Küfte von der Kwaihubucht bis zum Juba, dann Witu, 
die Tanaländer, das Maſſaigebiet, den Kenia und Baringoſee, Uganda, den oberen Nil und 
die Aquatorialproving. Außerdem verzichtete Deutſchland zugunſten Englands auf feine Vor- 
rechte auf Sanſibar, Pemba, Patta und Wanda. Der neue deutſche Reichskanzler Graf Caprivi 
aber ſprach damals das wenig erbauliche Wort: „Die Zeit des Flaggenhiſſens ift vorüber !* 
Er hatte recht, denn die Zeit des neuen Kurſes, der Abwärtsbewegung der deutſchen Politik, 
des Flaggenſtreichens und des Untergangs des Kaiſerreiches hatte begonnen. Sechs Millionen 
Menſchen hätte Dr. Peters auf dem erworbenen Flächenraume anfiebeln können. Gewerk 
ſchaftsſekretäre, Agitatoren und Fabrikarbeiter hätten hier auf eigenem Grund und Boden dei 
zweimaliger Jahres ernte glücklicher werden können als in der Vorbereitung des Umſturzes in 
der Heimat, aus dem doch nur einige Führer perſönlichen Gewinn zogen, nicht jedoch die mif- 
brauchten Maſſen, und am wenigſten Staat und Volk. 

Peters ſelbſt kehrte hochgeehrt nach Beendigung der Expedition nach Oeutſchland zurüd. 
In einem eigenhändigen Handſchreiben zollte ihm der greife Feldmarſchall Graf Moltke kurz 
vor ſeinem Tode ſeine Bewunderung und Anerkennung. Bilder und Anſichtskarten feierten 
ihn allwärts, und mit Teilnahme ſchaute man auch auf feinen Gefährten, den Somali Huſſein 
Fara, der durch den vorgehaltenen Schild einen auf Peters gezielten Maſſaiſpeer aufgefangen 
und ſeinem Herrn dadurch das Leben gerettet hatte. Die Provinz Hannover aber ehrte den 
großen Landsmann durch den Mund Rudolf von Bennigſens. 

Selbſtlos hatte ſich Dr. Peters ſeinem Volke und Vaterlande geopfert. Selbſtlos verwandte 
er nun die ihm zugedachte Petersſpende in Höhe von 150 000 „ zum Ankauf eines Dampfers 
für den Tanganjikaſee. Seine eigentliche Tätigkeit in der Gründung Oſtafrikas aber hatte ein 
Ende gefunden. Sie erfolgte im Zeichen des alten Kurſes unter inniger Teilnahme des alten 
Kaiſers, dem Peters über feine erſte Expedition noch Vortrag gehalten, — mit Billigung Bis- 
marcks, der den Erwerb überhaupt ermöglicht und dem Segens- und Geleitgruß des ſterbenden 
Moltke. Der geſamte Erwerb unferes früheren Kolonialbeſitzes iſt ja in der Hauptſache noch 
ein Verdienſt des alten Kurſes, der noch keine „Weltpolitik“ trieb. 

Der neue Kurs iſt jedoch nicht nur charakteriſiert durch die ſchmachvolle Entlaſſung Bismarcks, 
ſondern die empörende Beſeitigung von Dr. Karl Peters, die Exzellenz von Liebert mit vollem 
Rechte als einen „Schandfleck des deutſchen Volkes und der Juſtiz“ bezeichnete. 


earl Peters 505 


Man hatte den Gründer von Oeutſch-Oſtafrika neben Emin Paſcha und Major Wißmann 
zum „Reichskommiſſar, zur Verfügung des Gouverneurs von Oſtafrika“ ernannt und in das 
Kilima-Ndſcharo-Gebiet geſchickt, um „den deutſchen Einfluß aufzurichten“ — in Wirklich- 
keit, um ihn unter irgendeinem Vorwande möglichft bald los zu werden. Das Verhalten von 
Dr. Peters dafelbft wurde von allen Afrikanern, vor allem Major von Wißmann, gebilligt 
und auch von der Regierung bei verſchiedenen Unterſuchungen nicht weiter beanſtandet. 
Auguſt Bebel brachte es nun durch die Vorlage des gefälſchten Tuckerbriefs fertig, dem ehe 
maligen Staatsanwalt Freiherrn von Marſchall nach Abſendung des Kruͤgertelegramms auch 
hier Gelegenheit zu ſeiner beſonderen politiſchen Befähigung zu geben und dem Auslande das 
heute fo begehrte Material zum Nachweis unſerer moraliſchen Unfähigkeit für Kolonialbeſitz 
zu liefern. 

Es folgte die bekannte Diehftentlaffung durch die kaiſerliche Difgiplinarfammer, die alle ge- 
ſtellten Beweisanträge als „unerheblich“ zurückwies und die Ladung vorgeſchlagener Zeugen 
ablehnte. Das Urteil war bereits vor der Verhandlung fertiggeſtellt, da feine Verleſung doppelt 
ſo lange dauerte als die Beratung und Feſtſtellung. Auf dem Wege des Privatprozeſſes hat im 
übrigen Dr. Peters 10 Jahre ſpäter vor fünf Schöffengerihten den Fehlſpruch der Kammer 
nachgewieſen, ohne indeſſen trotz des Nachweiſes der Unwahrheit aller Anſchuldigungen die 
Aufhebung des Diſziplinarurteils bei den beſtehenden Vorſchriften herbeiführen zu können. Er 
ſollte eben in der Kolonialgeſchichte das Schickſal von Chriſtoph Kolumbus, Ferdinand Cortez, 
Sir Walter Raleigh und Lord Clive teilen und ſich mit dem Gedanken tröften, daß auch 
einmal ein Sokrates verurteilt wurde, und zwar durch einen Juſtizmord, der wenigſtens noch 
den Schein des Rechtes zu wahren wußte. 

Bismarcks Entlaſſung, Krügertelegramm, Petersfall. Burenkrieg und Bülowſche Weltpolitik 
ſind denn auch die Markſteine zum Untergang des deutſchen Kaiſerreiches geworden. 

Mit jeder fruchtbaren Kolonialarbeit mußte es vorbei fein, als das Oeutſche Reich vor aller 
Welt offiziell verkündete, daß man heute im Gegenſatz zu Bismarck „Weltpolitik“ treibe, daß 
nichts in der Welt geſchehen ſolle ohne Zuſtimmung des deutſchen Kaiſers, und die deutſche 
Zukunft auf dem Waſſer liege. Was hätte Bismarck wohl erreicht, wenn er in ähnlicher Weiſe 
„Reichsgründungspolitik“ getrieben hätte? Die Saat, die er damals ſorgſam hütete, wäre nach 
ſeinen Worten erſtickt worden unter dem Druck von ganz Europa, das unſeren Ehrgeiz zur Ruhe 
verwiefen hätte. 

Peters hatte inzwiſchen in London ſich niedergelaſſen, wo er erſt in Park lane und fpäter in 
Buckingham Gate und Caſtelnau (Barnes) wohnte. Ein Riefenftern von Maſſaiſpeeren mit der 
verwetterten Fahne der Emin-Pafha-Erpedition darüber und gewaltigen Maffaifchilden aus 
Rinderhaut zur Seite erinnerte im Hausflur feiner Wohnung an die Zeit, wo er die deutſch⸗ 
oſtafrikaniſche Flagge uns aus dem Pfeil- und Speerhagel im afrikaniſchen Buſch errang. In 
London überraſchte ihn auch der Ausbruch des Weltkriegs, den er mir bereits feit 1912 ver- 
ſchiedentlich vorausgeſagt hatte. Erſt im September 1914 gelang es ihm, nebſt Gattin, nach 
Deutſchland zurückzukehren und hier für die vaterländiſche Sache unermüdlich tätig zu fein. 
Irgendeinen Einfluß auf die Kriegführung vermochte er nicht auszuüben. Ein gütiges Geſchick 
aber hat ihm das Kriegsende erſpart. Seine im Kampfe für ſein Vaterland unter den Breiten 
des Aquators geſchwächte Geſundheit konnte das rauhe nordiſche Klima nicht mehr ertragen. 
Bereits in London hatte er unter ſchweren Anfällen von Luftröhrenkatarrh zu leiden, die eine 
bedrohliche Herzſchwäche zuruͤckgelaſſen hatten. Aber friſch und wohlgemut ergab er ſich in fein 
Schickſal und ſchrieb am 31. Mai 1916 aus Bad Harzburg der Schweſter Elli: „Oer Kuckuck 
verurteilt mich eben zu zwei weiteren Jahren Leben. Eines wäre auch genug. 61 Jahre für 
einen Afrikaner iſt ein hinreichendes Konverſationslexikonalter.“ 

Der Kuckuck hatte recht. In der Nacht zum 10. September 1918 erlöfte ein ſanfter Tod Karl 
Peters in Woltorf bei Peine von allem Mühſal und Leid unſerer körperlichen Welt. 


506 Baueennet 


Am 19. September, nachmittags 5 Uhr, erfolgte die Beiſetzung auf dem Engeſohder Fried- 
hofe in Hannover. Eine ungezählte Menge gab Deutſchlands großem Sohne das letzte Geleit. 
Waldgrün war die Friedhofkapelle geſchmückt, der die Natur ihre ſchönſten Gaben geſpendet 
hatte. Durch die Fächer der Palmen und die Herzen der Blattpflanzen drang der Flammen 
ſchein mächtiger Kandelaber. Es ſchien, als ob in einer neu erſtandenen Natur eine überirdiſche 
Welt in feurigen Zungen ihren Weihſpruch verkündete. An der Gruft aber wurden herrliche 
Kränze im Auftrage des deutſchen Kaiſers, des Reichskanzlers, bes Staatsſekretärs des Reichs 
kolonialamtes, der Schutztruppe, der deutſchoſtafrikaniſchen Geſellſchaft, der deutſchen Kolonial- 
geſellſchaft, des Magiſtrats und Buͤrgervorſteherkollegiums der Stadt Hannover, des Alldeutſchen 
Verbandes uſw. niedergelegt. Unbeachtet blieb auch nicht jener Kranz, deſſen Schleife die viel 
ſagende Inſchrift trug: „In Dankbarkeit ſeinem Lebensretter E. Krone Leipzig.“ Feldmarſchall 
Hindenburg, der deutſche Kronprinz, Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg und ſo viele andere 
hatten gleich beim Bekanntwerden der Trauerkunde Beileidstelegramme geſandt. 

Karl Peters hatte uns verlaſſen, als eben mit ſeiner ungebrochenen alten Zugendkraft 200 
deutſche Oſtafrikaner und 1100 Farbige einen kühnen Einfall ins britiſche Rhodeſien unter 
nahmen. Zwei Monate fpdter hißte man auf dem Schloſſe des alten Kaiſers die rote Flagge. 
Ein Vademekum für jeden deutſchen Patrioten iſt fürwahr das Leben des tatkräftigen Nieder 
ſachſen, der in fic) die Kraft beſaß, Deutſchland im friderizianiſchen Geiſte des alten Kurſes 
mit geſinnungsgleichen Mitarbeitern zuſammen zur erſten Weltmacht mit dem Gewinn einet 
überfeeifhen Kaiſerkrone emporzuheben, wenn das Volk noch das felſenfeſte Gottvertrauen und 
den Idealismus ſeiner Ritterorden, Reformatoren und Glaubenskämpfer beſeſſen hätte. In 
der Politik gibt es nach Bismarck Momente, die nicht wiederkehren. Deutſchland hat die ihm 
gewährte Probezeit zur Heraufführung eines neuen großen Zeitalters erſter Weltgeltung in den 
Wer Jahren nicht beſtanden. Dr. H. T. Schorn 


Bauernnot 


E⸗ iſt erſchütternd, mit welcher Gleichgültigkeit das deutſche Volk eine Entwicklung vor ſich 
gehen ſieht, die verhängnisvoller ijt als ſelbſt der Friede von Verſailles. Durch die Partei- 
bege verblendet, ſetzen wir den Kampf aller gegen alle fort und ſehen nicht, daß das Funda; 
ment unter unſern Füßen weicht, daß der deutſche Nährſtand ſtirbt, naturnotwendig ſterben 
muß, wenn es auch nur noch kurze Zeit ſo weitergeht. 

Die Lage des Arbeiterſtandes iſt nicht glänzend; in der Induſtrie häufen ſich die Sufammen- 
brüche; die Arbeitsloſigkeit wächſt; der Beamte klagt berechtigterweiſe darüber, daß er mit 
ſeinem Gehalt nicht mehr auskommt; am furchtbarſten aber iſt die Lage des Bauern. 

Wir ſtehen in einer Bauernnot, wie ſie gleich groß, abgeſehen von verheerenden Kriegen, 
nie geweſen ijt. Wenn ſich das nach außen hin nicht in viel mehr Zuſammenbrüuͤchen bäuerlicher 
Wirtſchaften deutlich macht, als es gegenwärtig der Fall iſt, ſo hat das ſeine Urſache in dreierlei. 
Es ſind einmal Kredite gegeben worden zur Beſchaffung von Saatgut, Bergung der Ernte uſw., 
die die wirkliche Lage noch verſchleiern. Der Bauer legt ſich zweitens in ſeiner Lebensführung 
Beſchränkungen auf, die über das Maß deſſen hinausgehen, was er fic ſelber und feiner Familie 
gegenüber verantworten kann, es iſt drittens kein Käufer da, der es wagt, das Riſiko, das heute 
mit dem Erwerb einer Bauernwirtſchaft verbunden iſt, auf ſich zu nehmen, ganz abgeſehen 
davon, daß die Geldknappheit in allen Streifen die gleiche iſt. 

Um bei dem letzten anzufangen: Die in faſt jeder Nummer der Deutſchen Tageszeitung 
zum Verkauf angebotene landwirtſchaftlich genutzte Fläche ſchwankt zwiſchen hundert und 
hundertfünfzigtauſend Morgen. Getätigt werden aus den oben angedeuteten Gründen fo gut 
wie keine Verkäufe. Auch Zwangsverſteigerungen verlaufen ergebnislos aus den gleichen Grün 


2 
— mn m 


VBauernnot 507 


den. Es hat gar keinen Zweck, die Wechſel zu Proteſt gehen zu laſſen und auszuklagen. Die 
Zwangsverſteigerung erbringt im guͤnſtigſten Falle die Koſten des Verfahrens, ohne an der 
Sache ſelbſt etwas zu ändern. Roggen wurde nicht einmal zu 6—6, 50 der Zentner abgenommen. 
Die Ernte war völlig eingefroren. Wer nicht unbedingt muß, bietet auch heute noch nicht 
an; denn die Preiſe decken die Geſtehungskoſten nicht. Die Berliner Börſenpreiſe find völlig 
belanglos, da ſie in Wirklichkeit faſt niemals gezahlt werden. 

Zur Stillung des Kreditbedürfniſſes find kurzfriſtige Kredite ausgegeben worden. Dazu kam 
in letzter Zeit der amerikaniſche 100-Millionen-Kredit. Er iſt zwar langfriſtig, aber die deutſche 


Landwirtſchaft hat ihn nur in beſchränktem Maße aufgenommen und aufnehmen können. 


Statt 10000 & werden durchſchnittlich nur 8600 & gegeben. In zehn Jahren ijt das Kapital 
durch die Verzinſung weit überzahlt und muß dann noch als Ganzes zurüdgegeben werden. 
Amerika aber kann warten. Die Zeit arbeitet für die amerikaniſche Hochfinanz. Wohl iſt der 
erſte Berfud mißlungen, die Lage aber verſchlimmert ſich, und wer fid heute noch mit letzter 
Kraft gegen die vernichtende Verſchuldung wehrt, greift, wenn er gar keinen Ausweg mehr 
ſieht, ſchließlich doch nach dem trügerifhen Strohhalm. Der Überſee- Kredit ift mit dem wurm- 
geſpickten Angelhaken verglichen worden, den der Fiſcher auswirft, nicht um die Fiſche zu füttern, 
ſondern um fie zu fangen. Bei Fortbeſtehen der gegenwärtigen Verhältniſſe geht der deutſche 
Grund und Boden nicht langſam, ſondern ſchließlich rapid in die Hände des internationalen 
Großkapitals über, gerät auch der Nährſtand dem Ausland gegenüber in Zinsſklaverei. 

Oie inländiſchen kurzfriſtigen Saatgut-, Erntebergungs- uſw. Kredite ſind aufgenommen 
worden. Man kann vielleicht ſogar ſagen, ſie ſind zu raſch und zu leicht aufgenommen worden. 
In der Hauptſache hat ſie der Landwirt wirtſchaftlich genutzt. Wenn es nicht durchweg geſchehen 
ſein ſollte, ſo ſind das noch Inflationserſcheinungen, für die der Bauer bei der allgemeinen 
Entmoraliſierung und der einmal durchaus verſtändlichen „Flucht in die Sachwerte“, die inner- 
lich noch immer nicht ganz überwunden iſt, nicht voll verantwortlich gemacht werden darf. Daß 
aber die Kredite in der Hauptſache wirtſchaftlich, d. h. produktionsfördernd, genutzt worden ſind, 
beweiſt die eine Tatſache, daß die deutſche Landwirtſchaft im vergangenen Erntejahr allein für 
500 Millionen Mark künſtliche Düngemittel aufnahm. 

Nun find die Wechſel fällig, Deckung iſt nicht vorhanden. Wird die Einziehung ſchematiſch 
und rüdjichtslos betrieben, dann geht die Landwirtſchaft zugrunde. Zur ſelben Zeit, da das 
Bauerntum in feinen Schulden erſtickt, da ſeine Vertreter in ihrer Not bei dem Reichspräſidenten 
Hindenburg ſelber vorſtellig werden, hält die Reichsbank Oeviſenreſerven in einer Höhe feſt, 
daß ſich der Abgeordnete Dr. Quaatz veranlaßt ſieht, zur Begründung einer Anfrage im Reichs- 
tage feſtzuſtellen: Zur Sicherung dieſer Kredite ſowie der Zahlung der Dawestribute iſt 
bei der Reichsbank eine Oeviſenreſerve geſchaffen worden, die dem Vernehmen 
nach einen außerordentlich hohen Wert darſtellen ſoll. 

Das Erſchütterndſte jedoch ijt die Einſchränkung der Lebensführung im Bauernhauſe. Der 
Bauer iſt niemals ein Verſchwender geweſen. Er hat ſich immer mit ſehr beſcheidenem Eſſen 
begnügt. Wie es aber heute ſteht, dafür nur ein Beiſpiel. | 

In der Hohen Rhön hat das Bauerntum immer beſonders ſchwer zu ringen gehabt. Das 
Dorf Oberweid beiſpielsweiſe liegt 600 Meter hoch, die Felder klettern bis zu 7 und 800 Meter 
Höhe hinan, die Wege zu ihnen haben Steigungen von 40—60 %. Abgeſehen von den un- 
geheuren Schwierigkeiten der Bearbeitung, der raſchen Abnutzung des Viehes und der Acker- 
geräte, find die Erträge auf dem ton- oder baſalthaltigen Boden überhaupt nicht nennenswert. 
Der Ertrag von 2 Morgen Weizenacker belief ſich im Tale, d. h. am Fuße der Berge, an ſich 
aber immer noch etwa 600 Meter hoch gelegen, auf zuſammen 4 Zentner. 

Infolge dieſer Verhältniſſe, die durch Erbteilung verſchlimmert werden, hat ſich das Halb- 
bauerntum beſonders ſtark entwickelt. Die Männer ſuchen in den benachbarten Großſtädten, 
in Kaliſchächten und Vaſaltwerken Arbeit und kommen nur am Sonnabend heim. Die ganze 


508 Bauernnet 


Arbeit in der Wirtſchaft liegt auf den Schultern der Frau. Sie nimmt heute den Wecker mit 
auf das Feld, um die Stunde nicht zu verpaffen, in der fie die Kinder zur Schule ſchicken 
und ihnen das Eſſen herrichten muß. Von Familienleben iſt keine Rede mehr. War es fruher 
moglich, den Arbeitsverdienſt des Mannes wenigftens zum Teil zu ſparen, um damit wirtſchaft ; 
lich vorwärts zu kommen, fo reicht er heute nicht mehr aus zur Bezahlung der Zinſen und Ab- 
gaben. In einem Falle hat ſich ſolch ein Halbbauer ein kleines Haus gebaut. Er iſt reſtlos ver; 
ſchuldet. Um das Haus trotzdem zu erhalten, beſteht die Ernährung für Frau und Kinder pro 
Woche in zwei trockenen Broten. Die Luxusausgabe eines halben Jahres, d. h. die Ausgabe, 
die vielleicht noch hätte vermieden werden können, betrug 25 Pfennige. Und das Ergebnis? 
Ein Kind iſt bereits geſtorben, die Frau liegt infolge Unterernährung ſchwer krank. 

Zugegeben, daß der Fall beſonders kraß iſt — hundert ähnliche liegen vor —, ſo iſt es doch 
ganz allgemein fo, daß der Bauer mit Recht die Naſe rümpft, wenn ihm Sparſamkeit gepredigt 
wird. Er kann nicht mehr leben. Von Sparen iſt überhaupt keine Rede. 

Ein zweites Beiſpiel: Ein kleiner Bauer aus der Schleizer Gegenb weiſt nuͤchtern zahlen; 
mäßig nach, daß ſeine Wirtſchaft, die an ſich durchaus in Ordnung ift, automatiſch um mindeſtens 
400 K jahrlich verſchuldet. 

Steuern, Abgaben, Zinſen enteignen den Bauer. 

Wer aber erfaßt den ſich vollziehenden Prozeß in ſeiner ganzen Furchtbarkeit? 

Aus Kriegs und Inflationszeit her beſteht noch immer eine bauernfeindliche Stimmung. 
Zugegeben, daß ſie heute nicht mehr ſo feindlich iſt wie vor zwei oder drei Jahren. In ihren 
Auswirkungen aber erreichen Schadenfreude und Gleichgültigkeit, die an die Stelle der Feind 
ſchaft getreten find, dasselbe. Man freut ſich, daß es dem Bauer, dem es angeblich lange genug 
gut ging, nun auch einmal ſchlecht geht. Man ift gleichgültig gegen feine Not; denn einmal hat 
man mit ſich felber genug zu tun, zum anderen wird es nicht fo ſchlimm fein. Der Bauer iſt ge- 
wohnt zu klagen. Man überfieht, daß, was heute noch Bauernnot iſt, morgen Volksnot fein wird. 

Es iſt völlig müßig, vor ertenfiver Wirtſchaft zu warnen. Sie iſt da, wird wachſen und wird 
ſich auswirken in immer kläglicheren Ernten. Geht es fo weiter, dann wird es jedem zukuͤnf⸗ 
tigen Feinde noch viel leichter fein, Oeutſchland zur belagerten Feſtung zu machen und auszu- 
hungern, als ihm das im Weltkrieg war. 

Oer wirtſchaftliche Verfall beſchleunigt den moraliſchen. Die Tröſtungen der Religion ver- 
fangen nicht mehr, die Mahnungen zu Fleiß und Treue werden in die Luft geſprochen. Wozu 
noch ſich plagen, wenn der Zuſammenbruch doch nicht aufzuhalten iſt? Iſt ein raſches Genießen, 
daure es ſolange wie es baure, nicht richtiger? Noch iſt es nicht zum alleräͤußerſten gekommen, 
aber wir ſtehen dicht davor. 

Und was dann, wenn die letzte Stake bricht? Es iſt raſch geſagt: Bolſchewismus, Zins- 
ſklaverei, Herrſchaft des internationalen Großkapitals. Es ift ebenſo leicht gefagt als das Wort: 
Krieg. Was Krieg bedeutet, haben wir furchtbar lernen müſſen. Bolſchewismus iſt ſchlimmer 
als Krieg. 

Wir ſtehen in allerernſteſten Schickſalsſtunden. Vor einiger Zeit habe ich an derſelben Stelle 
über die „Schuld am deutſchen Bauerntum“ geſprochen. Die Schuld von damals iſt Kinder- 
ſpiel gegen die von heute. 

Soll Deutſchland tatſächlich nach fo kurzer Blütezeit den Weg Roms gehen? 

Wir müßten und würden uns ſchweigend beugen, wäre Hilfe, Anderung, Rettung nicht 
moglich. Sie find aber möglich und werden durchgefuhrt werden, ſobald eine Vorausſetzung er- 
füllt iſt. Eine einzige nur, aber eine von grundlegender Bedeutung. Es gilt zu erkennen, daß 
Bauernnot Volksnot und Bauernſchickſal Volksſchickſal iſt. 

P Dies erkennen und die Brücke zwiſchen Stadt und Land iſt geſchlagen; es iſt dem Bauer 
geholfen und dem Städter. Deutſchland rettet ſich ſelbſt, wenn es ſeinen Bauernſtand rettet; 
es iſt verloren, wenn es ſeinen Nährſtand ſterben läßt. Guſtav Schröer 


Deutſche Grenzbauern 5 


rüaß di Gott!“ ertönte es aus kräftigen Männerkehlen hinaus in die frühe Morgen- 

ſtunde. Es war unfern der Grenze des deutſchen Volkes an einem leuchtenden Sommer- 
ſonntage. Die ſteiriſchen Männer in ihrer kleidſamen grünen Jade mit der dunkelgrünen Bafte- 
lung, den Hirſchhornknöpfen und mit dem flotten grünen Hut ftanden vor dem Bahnhofsge⸗ 
bäude der Landſtation an der Grenze und brachten ein fröhliches Willkommenlied den reichs 
deutſchen Gäſten dar, die eben mit dem Zuge der Kleinbahn eingetroffen waren. Schlichte, 
kernige Worte rief der Sprecher den Ankommenden zu: „Reichsdeutſche Brüder, wir danken 
euch, daß ihr uns nicht vergeßt, daß ihr zu uns gekommen ſeid, um zu ſehen und zu hören, 
was wir an der ſuͤdlichen Grenzmark Oeutſchlands für unſer Deutſchtum leiden und zu leiden 
bereit find.“ 

Wenige kurze, aber von dem warmen Gefühl des Empfanges durchdrungene Worte der eben 
Angekommenen knüpften das herzliche Band, das ſich in dieſen Minuten entſpann, enger und 
feſter. Unter den Klängen ſteiriſcher Sänge und altbekannter Marſchlieder zog man in ſchnell 
gefundenen Gruppen durch den Wald und der Grenze näher. Und dabei wurde geplaudert. 
Man ſah in das Herz jener Volksſtämme und Volksgenoſſen, denen das Schickſal eine Aufgabe 
für ihr Volkstum geftellt und dafür reif gemacht hatte. 

Za, ſo ſieht es an der Grenze aus! Es iſt gerade, als ob mit jedem Schritt, den man ſich von 
der Mitte des Reiches der Grenze zu entfernt, die Weſenszuüge des Deutſchtums ſtärker und 
kräftiger ausgeprägt werden. Es iſt, als ob der Kampf, der die Herzen bindet und die Glieder 
geſchmeidig macht, auch alle Eigenarten ſchöner und umriſſener entwickelt, als die Verſchwom- 
menheiten des alltäglichen Seins des großſtäͤdtiſchen Lebens im Innern des Reichs. 

„Reichsdeutſche Brüder“ war das Wort des Em pfanges, und in dieſem Wort lag alle Sehnſucht 
und alle Hoffnung jener OQeutiden, die fern dem Reich harren auf die Stunde, wo ihnen das 
Recht auch zuteil wird, das aller Welt verkündet wurde, das Recht, dem Staate anzugehören, 
der Ausdruck ihres Volkstums iſt, und zu der fie ſich nach Blut, Sprache und Kultur zugehörig 
fühlen. 

„Reichsdeutſche Brüder!“ In dieſen Worten lag der ganze verhaltene Schmerz, das nicht 
haben zu können, was man erſehnte, noch nicht mit jener Gemeinſchaft in ſtaatlicher Bildung 
zu ſein, mit der man ſich Bruder fühlt. 

Dann ſahen wir die Orte, wo die Demarkationslinie lief, wohin die Feinde ihre Hand aus- 
ſtreckten, die ſie beſitzen wollten, — bis irgendwo oben in den Bergen unbekannte Bauern, — 
wer nannte ihre Namen vorher und wer nennt ihre Namen noch — aus dem Gefühl für die 
Not ihres Landes, mit ihrem Herzblut bezahlend, zur Waffe griffen und Strich für Strich heimat; 
lichen Bodens in harten Rämpfen wieder eroberten. 

Durch grünende Wieſen, rauſchende Wälder, auf ſchmalen Pfaden, die große Straße kuͤrzend, 
gelangten wir in das Grenzdorf. Fahnen, Blumen, Willkommensgrüße, und das Orcheſter des 
Dorfes ſchmetterte den Gäſten feine Weiſen entgegen. Wieder nur ſchlichte Worte des Will- 
kommens, ſchlichte Worte des Dankes, kräftige Händedrücke von Mann zu Mann; und tiefer 
als große Reden in vollgefüllten Sälen, tiefer als alle modernſte, vollkommenſte Dialektik 
wirkte dieſes lebendige Empfinden von Menſch zu Menſch mitten unter blauem Himmel, in 
blühender, grünender, fruchttragender Natur. 

„Gott zum Gruß, Ihr teuren Steirer,“ — „Gott zum Gruß, Ihr Brüder aus dem Reich!“ 

Nach kurzem Imbiß gingen wir den Weg an der Grenze entlang weiter. „Dort um dieſes 
Kirchlein kämpften wir. Wir haben es beſeſſen, aber der Frieden hat es uns geraubt.“ 

Oer Friede, als ob das Gefühl des ganzen Haſſes eines ſeiner Rechte und Freiheit beraubten 
Volkstums ſich empörte, ob der Männer am grünen Tiſch, die in Unkenntnis der wirklichen 
Verteilung ſtammes verwandter Völker Grenzen aus Willkür und Machtinſtinkten gezogen 


510 Deutſche Srengdavera 


hatten. Dort ſtanden und ſtehen nod die Steine, weiße, granitene Quadern, rohbehauen, mit 
dem Namen des furchtbaren Diktates von Saint Germain und der Jahreszahl 1919. 

Mehr denn einmal haben in den erſten Jahren des Scheinfriedens die Grenzleute dieſe Steine 
den Berg hinuntergeſtürzt, ihren Unmut über das unvollkommene Werk des Zwangs frieden 
zum Ausdruck bringend. Aber allmählich hat die Wirklichkeit mit ihrer immer wieder auf die 
umliegenden Gemeinden umgelegten Koſten für die Neuinſtandſetzung der Grenzen dazu ge- 
führt, daß man ſeltener zu dieſem Ausdrucksmittel feines Unwillens über die künſtliche Grenze 
griff. Aber noch zuckte es in den Fäuſten der jugendlichen Bauernburſchen, die ohne viele Worte, 
aber allzuſchnell mit der Tat bereit waren, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, wenn man 
an dieſen Steinen mit ihnen vorbeizog. 

Wir ſtiegen eine Höhe hinunter, ſtiegen ziemlich tief und ſteil hinab in ein enges, geſchlaͤngeltes 
Tal, durch das brauſend und giſchend über Steine und Felsblöcke die Waſſerfluten ſprangen. 
Ein verfallener Steg ohne Schutz, ohne Geländer aus morſchem Holz führte uns hinüber anſtatt 
der nun zerfallenen Brücke, die einſt zwei Fahrwege miteinander verband und mit ihren traurigen 
Trümmer als Erinnerung an vergangene Zeiten und als Sinnbild des Zerſtörten wenige Meter 
weiter uns vor Augen trat. 

„Was iſt mit dem Haus los?“ fragte ich den Führer, mit der Hand auf ein zerfallenes Holz; 
gebäude ſteiriſcher Bauart weiſend, das wenige Meter vor uns lag. „Hat man um dieſes Tal 
gekämpft? — Sind die Bewohner gefallen? — Warum wächſt in dieſem Garten jetzt nur Un- 
kraut, ſteigt aus der Eſſe kein Rauch, gähnen uns leere Fenſterhöhlen an, und find Stall und 
geuſchober (hon zuſammengefallen?“ — Keine Nugelſpuren zeigten die Trümmer diefes Haufes. 
Rein Brandſchwarz deutete auf ein Brandunglück. — „Warum iſt alles verlaffen, einſam, dd 
und ſtill?“ fragte ich erſtaunt weiter. Langſam kam die Antwort und in den Worten des &- 
fragten lag die ganze Trauer deſſen, was die neue Grenze im Volkstum vernichtete infolge ihrer 
wirtſchaftlichen Unmöglichkeit. „Von dieſen Bergen ging dereinſt das Holz im Frühjahr mit den 
Waſſerkräften hinunter, um im Flachland verarbeitet zu werden. Heut' gehört das Flachland 
Fremden. Zölle verbieten, daß das Holz zu ihnen hinunterwandert, und auf der anderen Seite 
ſtehen als unüberwindliche Schwierigkeiten die Höhe der Transportkoſten einer Nutzung der 
Holzmengen entgegen. — Dieſer breite Pfad, der vor Jahren, als es noch ein Oſterreich gab, 
viel gegangen wurde, iſt ſtill und verwaiſt, ſeitdem die Grenze hinter dieſem Berg liegt.“ Manch 
bitteres, galliges Wort mußte ich hören, Die Inſaſſen der Häufer, Berg- und Waldbauern, die 
ihre Milch- und landwirtſchaftlichen Produkte zu Tal fuhren, wurden brotlos, als die neue 
Grenze ihnen die Lebensmöglichkeit nahm. Die armen Waldbauern, die im Holz arbeiteten, 
mußten andere Siedlungsſtätten ſuchen, und darum lagen dieſe Häuſer verlaſſen da, beraubt 
ihrer Bewohner. Nur der Garten erzählte noch, weil trotz allen Unkrauts ſich immer wieder 
die einmal gepflanzten Blumen, Kräuter und ſonſtigen nützlichen Gewächſe vermehrten und 
bezeugten, daß hier vor Jahren Menſchenfleiß und Sorgfalt glückliche Heimſtätten hatte. Go 
ſind Dutzende von Familien, Hunderte bis Tauſende von Menſchen aus den umliegenden Orten 
ausgewandert. Erſchreckend ſtand vor unſerem Auge, was ein unachtſamer Federſtrich für Un- 
glid und Elend in der Welt anzurichten imſtande iſt. 

Armes Heimatland, das ſolche Rächer ſtatt Richter fand! 

Langſam nur löſte ſich das Auge von dieſem Blick ſchmerzenden Friedens. Der Pfad ging 
wieder bergan. Tropfen für Tropfen tröpfelte von dem düſter grauen Himmel, und mühſam 
ſtiegen wir den ſchlechten, verwahrloſten Grenzpfad hinan, mit achtſamen Füßen den Wafjer- 
pfützen ausweichend, die die friſch ſprudelnden Quellen in dem lehmigen Boden bildeten. Ein 
Schuß hallte ſchaurig durchs Tal, vielfältig Echo ſpendend; und während wir noch nach der 
Herkunft des Schalles Ausſchau hielten, dröhnte und donnerte es zum zweiten und dritten 
Wale. 

Hitewinten, Willkommenrufe tönten uns entgegen. 


Seutfde Grenzbauern 511 


Die Waldbauernſchaft der Berge empfing ihre Gäſte nach wälderiſchem Brauch. Der Schieß- 
meiſter nahm ſein Böllereiſen aus dem Holzfeuer, trocknete ſeine rußigen Hände an dem Tuch ab 
und trat auf uns zu, allen die Hände mit einem herzlichen Willkomm und „Grüß Gott“ ſchuͤttelnd. 
Und dann kam der Buͤrgermeiſter, begrüßte uns ebenſo kräftig, und weiter ging's den Berg hinan. 

An einer der erſten Hütten zu halber Höhe des Berges netzte friſcher Apfelm oſt die ausge- 
trockneten Kehlen. Noch wenige Minuten, und wir waren bei den Waldbauern bewillkommnet. 

Dort war das Kirchlein, deſſen weißgekalkte, armſelige Mauerwand noch die Spuren der 
Maſchinengewehrgarben, noch die breiten, durch abgeplatzten Mörtel gekennzeichneten Kugel 
ſpuren zeigte. ö 

„Bier war es,“ ſagte einer der Alteſten, „grade, als er über die Mauer flüchten wollte, traf 
ihn die Kugel.“ „Er war einer unferer tüchtigſten Dörfler, Familienvater.“ Und er machte 
eine lange Pauſe zwiſchen feinen Worten. „Und der andere fiel vor der Mauer juſt im Augen- 
blick, als er fliehen wollte,“ er zögerte, als ob er das Wort „fliehen“ entſchuldigen müſſe, und 
fuhr dann fort. „Weib und Kind und die anderen waren ſchon in Sicherheit gebracht. Nur einige 
Männer waren noch zurückgeblieben, als die feindlichen Legionäre das Dorf überfielen. Auch 
et war verheiratet und ließ drei Kinder zurück.“ „Als wir wiederkamen, haben wir fie dort be- 
graben.“ Und er wies auf das Kreuz, das friſch den gemeinſamen Grabhügel zierte, wo die 
Wald bauern lagen, die ihre Treu und Liebe zur Heimat mit dem Leben bũßten. Aber nach langer 
Pauſe fuhr er wieder fort, und es leuchteten ſeine Augen, als wenn lebendigeres, friſches Blut 
auf einmal feinen gekrümmten Rüden ſich wieder aufſtremmen ließ, als wenn die traurigen 
Augen plötzlich Feuer bekommen hätten. „Dann, dann aber kam unſere Zungmannſchaft dort 
unten unter dem Schutz des Waldes heran. Zwiſchen dieſen Schanzen lagen die Feinde mit 
ihren Maſchinengewehren verſteckt. Aber wir kannten die Gegend beſſer, und unſere Kugeln 
trafen. 20 gegen 300. Aber fie ließen uns das Feld, und ſeitdem iſt das Dörflein unfer geblieben 
und nicht wie die anderen in Feindeshand geraten.“ 

Wir hatten alle bei den Worten des Mannes jene Stunden miterlebt, die hier eine Schar 
Volksgenoſſen durchgemacht hatte. Wir hatten ihre Not und Angſt, ihre traurigen Nächte im 
Walde, ihre Furcht und Sorge um die Heimat, die Angſt der Frauen und Mädchen um ihre 
Burſchen und Männer und das „Nun danket alle Gott“ nach dem Sieg und das Zittern und 
Zagen vor dem Diktat des Friedens mit- und nacherlebt. 

Aber wir mußten eilen. Unſer Weg führte weiter. Wieder durch Wald, wieder über Höhen, 
wieder durch Täler, immer dicht an der Grenze entlang. 

Aus dem Walde tretend, auf einer mittleren Hochfläche, frei und klar von der wieder ſcheinen; 
den Sonne beleuchtet, ſtand allein auf weiter Flur eine Holzkate, klein und unſcheinbar. 

„Dieſes iſt unſere Schule,“ ſagte unſer Führer. „Der Bauer hat dem Lehrer eine Stube ab- 
gegeben. Dort ſind die Kinder der Gemeinde drinnen.“ 

Trotz des Pfingſtfeiertages war der Schulraum voll, voll von großen und kleinen Mädeln 
und Buben. Solche mit hellen, blauen Augen und blonden Haaren und dann die mit den tief 
ſchwarzen Augen und dem dunklen, fettigen Haar, ſolche mit ſpitzen Naſen und Stumpfnäschen, 
mit feinen weißen Schüͤrzchen und den grauen Leinenkitteln, alles durcheinander gemiſcht, paus- 
badig, erwartungs froh. Ein tabler, weißgekalkter Raum, etwas eng für dieſe Menge, man mußte 
vor- und nachmittags Schule geben, um die Kinder unterzubringen, die zu lernen wünſchten. 

Ein junger Lehrer, eine männliche Erſcheinung, mit den Augen der Jugend voll gläubiger 
Hingabe, gemiſcht mit den ernſten Linien trotzigen, gefaßten Mannesalters. Es war nicht leicht, 
ohne Anſchauungsmittel unter dieſen engen Verhältniſſen jene Kinder der verſchiedenſten 
Jahrgänge gemeinſam in den Elementarfächern zu unterrichten. Und dieſe Schulſtube hatte 
nur ihre kahlen Wände und eine armſelige Tafel. 

Von wie weit kamen dieſe kleinen Kinder her! Wieviel tauſend Schrittchen mußten ſie bergauf, 
bergab durch Wind und Wetter, Regen und Sonnenſchein machen, ehe ſie von Haus zur Schule 


512 Deutſche Grenzdauern 


und von Schule zun Haus gelangten. Aber fie jagen da mit hellen, leuchtenden Kinderaugen, 
als bie reichsdeutſche Tante ihnen Märchen erzählte, und als die Lieder friſch- fröhlicher Wander 
vogeljugend ihnen die Weijen eines Volkes vorſpielten, deren Züͤngſte fie waren. 

„Ja, dieſe Schulverhältniſſe verdanken wir der Grenze,“ ſagte der Lehrer zu uns. „Das Schul- 
haus der Gemeinde ſprach man dem Gegner zu, und nun müffen die Kinder von drei Gemeinden 
hier zuſammenkommen.“ 

Der junge Lehrer erzählte von ſeinen Nöten und Schwierigkeiten, aber er hegte die Hoffnung, 
daß der deutſche Schulverein ihm für den Winter ein Haus bauen werde, das die Möglichkeit 
bot, alle Kinder unterzubringen und zu unterrichten. 

Wir trennten uns mit einem Händedruck, in der Gewißheit, einen Mann an der Grenze zu 
wiſſen, der an ſeinem Platz ſeine Pflicht tat, in der großen Arbeits- und Lebensgemeinſchaft 
eines Volkes. 

Hell lachte die Sonne nach, denn es waren Junitage, und lange ſtand das ſtrahlende Geſtirn 
am Himmel. Ein wunderbarer Tannenwald nahm uns auf, und über durchweichte Wege, die 
mehr Sießbächen glichen, zogen wir wieder einige hundert Meter bergauf. 

Auf der Spitze des Berges ſtand ein einſtöckiges, aus rohen Stämmen gezimmertes Haus. 
Schon von weitem tönten uns luſtige Melodien entgegen. Ehe wir noch die Tür des Hauſes 
erreicht hatten, brach die Muſik ab, und Arm in Arm traten in ſonntäglicher Tracht Bauern- 
burſchen und Dirnen heraus. Nach kurzem Willkomm traten wir ein. 

Eine beſondere Überraſchung wartete unſer. 

Von jenſeits der Grenze waren Gäſte gekommen, treudeutſche Stammesgenoſſen, denen 
ein feindliches Diktat die Zuſammengehörigkeit mit ihrem Volk und ihrer Heimat verbot. 

Auf heimlichen Wegen durch die dichten Tannen und unter dem Dunkel der Nacht hatten 
fie die Srenzwache umgangen, um ſich mit ihren ſtammes verwandten Freunden im ſicheren 
Schutz des Grenzwirtshauſes hier oben am Pfingſtſonntage zu treffen. 

Männer harter Arbeit, Leute aus Induſtrie und Handel, Vertreter des Volkes in Stadt- 
und Landtag, Reichsdeutſche und Deutſch-Oſterreicher und die Muß- Angehörigen eines fremden 
Staates, zufällig alle beieinander. 

Und nun hörte man alle die Leiden um das Volkstum unter fremder Gewalt aus dem eigenen 
Munde der Betroffenen. Leiden, die viel tauſendmal ſchlimmer waren, als fie je die Mär der 
Zeitungen uns brachte. Herzliche Worte banden neu die alte Stammesverwandtſchaft. Tiefes 
Mitfühlen und Miterleben gab gegenfeitig neue Kräfte. Man beſprach neue Pläne, während 
roſiger Silcherwaſſergemiſch die trockene Kehle feuchtete, beredete hin und her. Über allem 
ſtand der eine Wunſch und die eine Hoffnung auf den kommenden Tag. 

Trotz des langen Tages wollte die Sonne doch zur Neige gehen, ſchon war ihr Strahl leicht 
gelber getönt, und wir hatten noch einen weiten Weg vor uns. 

Nirgends iſt uns die Trennung ſo ſchwer geworden wie hier. 

Oie Jüngſten wollten nicht laſſen voneinander im wirbelnden Tanz, und die Alteren waren 
warm geworden beim Geſpräch um Rampf und Leben für Volk und eigenes Daſein. Lang und 
immer neu war das Händeſchuͤtteln. Immer wieder klang ein Lied von uns zu ihnen und von 
ihnen zu uns, als ſchon Hunderte von Schritten uns trennten. Immer noch band ein Zodler 
wieder die Scheidenden, bis der letzte Zauchzer echolos verhallte und die Strahlen der Sonne 
ſchon ein lichtes Orange bekommen hatten. Und dann im Geſchwindmarſch zur Station. 

In verſchloſſenem Wagen durch den Korridor ehemals deutſchen, nun fremden Landes. 
Gebannt in dem Raum des Wagens, beaufſichtigt von den rotgezierten Legionären des fremden 
Volkes. Eine Stunde, gefüllt mit langem Geplauder über den tiefen Ernſt des Erlebten. Und 
dann winkten die deutſchen Alpen wieder und gaben eine ruhige Nacht in ihrem Schutz und 
Tage tiefen Nachdenkens über die Not der Grenze ... taufend Meter hoch, unter ſternenklarem 
Himmel. 


PUIMAIUYIS pio JOOW we uaydızg 


— See eee eee — ee ee eee — 


Deutfche Grengdaueen 513 


Die Grenzſteine lagen tief verborgen unter dem Schnee, und man wußte nicht, ob man die 
Grenze des deutſchen Staates ſchon verlaſſen hatte. 

Da tauchte in der Dämmerung des frühen Winterabends, kaum erkennbar in dem hohen 
Schnee und der veränderten Geſtalt, die Baude auf. 

Schnell die Bretter von den Füßen, die Windjacke vom Schnee befreit, die Bretter verſtaut, 
dann hinein in die wärmende Gaſtſtube. 

Eine ſtattliche Anzahl von Gäften war um die Tiſche verſammelt. Der Wirt drüdte die Hände 
der Altbekannten. Aus dem zahnloſen Mund des Alten kamen nur wenige Worte des Dankes, 
aber um ſo herzlicher war der Oruck ſeiner Haͤnde. 

Wohl tat die Wärme nach dieſen Stunden durch Eis und Schnee. 

Das Geſicht brannte wie Feuer, nachdem es die Eisnadeln zerpickt und gepeinigt hatten. 

Nie hat die Erbſenſuppe ſo gut geſchmeckt wie an dieſem Abend. Und während alles, um die 
Tiſche ſitzend, munter plauderte und aß, kamen immer neue Gäſte in die Stube hinein, mit blin- 
zelnden Augen aus der Dämmerung, ſich langſam an das Licht gewöhnend, am warmen Ofen 
ſich auftauend, um dann irgendwo einen freien Stuhl im Kreiſe von Bekannten und Freunden 
zu finden. 

An dieſer Stätte feierte man ſeit Jahr und Tag deutſche Silveſter, deutſche Lieder erklangen, 
deutſche Reden wurden gehalten. 

Nicht alles waren deutſche Laute, die man heute hörte. 

Von zwei Tiſchen klangen monotone Laute im ſcharfen Rhythmus, etwas melancholiſch und 
unverftändlich für uns in Melodie und Laut. 

Unruhe entſtand an den deutſchen Tiſchen. Es ging einer von Tiſch zu Tiſch, nachdem er mit 
dem Wirt geſprochen. Man ſagte ſich etwas leiſe, man gab ſich die Hände und verſtand. „Was 
ſagt man?“ fragte es auch an unſerem Tiſch. 

Es kann heute nichts fein mit der deutſchen Feier, obwohl fie alle da waren, die Gäfte vom 
Reich und von den Grenzgebieten, die Unbefreiten und die Öfterreicher, vom Weſten, Often, 
vom Süden und Norden, alle Stämme vereint. 

Die feindliche Macht hat dem Wirt bei Strafe der Enteignung verboten, daß eine deutſche 
Feier ſtattfand. 

Es dürften keine Reden gehalten werden, nur Lieder dürften wir fingen, und er bäte uns 
um Himmelswillen, jeden Streit zu vermeiden, denn die Aufpaſſer von der Grenze ſeien da. 
Nun wußten wir Beſcheid. 

Großgewachſene, ſchöne junge Menſchen aus deutſchen Turnbünden und deutſchen Univer- 
ſitäten, alte Herren und junge Mädchen füllten den Saal. 

Frohe Burſchen- und Turnerlieder erklangen, dann ab und zu wieder ein Lied der Weihnacht, 
der ſtillen ernſten Zeit, ein Lied voll Schmerz und Trauer. 

Und in den Pauſen klang laut, doch ſchwach begleitet, der Tſchechen Sang von den zwei 
Aſchen durch den Raum 

Kein Wort erklang dagegen. Gebändigte Kraft jagen Deutſchlands Jungmannen dabei. 

Und dann nahte die Mitternachtsſtunde. 

Die Kerzen des Weihnachtsbaumes leuchteten in fladerndem Glanz hell auf. Der Zither- 
ſpieler hatte die luſtigen Weiſen vertauſcht mit ernſten Klängen, und das tiefe, ſtille heilige 
Lied der Weihnacht durchklang, von ehrfurchtbebenden Lippen geſungen, durch den Raum. 

Es war, als ob eine Spannung über allen lag, die ſich nicht löſen konnte und nicht löfen wollte 
in der üblichen Weiſe der Silveſterfreude. 

Mitternacht war vorbei. 

Kein tſchechiſches Lied ertönte mehr. Die Tiſche waren leer geworden, von denen man 
aufgepaßt hatte. Frei war der Raum, frei war die Luft, und nun klangen mit Stimmen- 


gewalt, daß das Licht der Rerzen am Baum wild aufflackerte, klangen alle die e 
Der Türmer X XVIII, 6 


514 Germanentum und Aderbau 


Vaterlandslieder, alle die Lieder von Volkesmut und Heimatſorge aus freigewordenen feffel- 
tragenden Brüften in den Raum, drangen hinauf durch die geöffneten Pforten in die Neu- 
jahrsnacht. 

Es war ein Fühlen, daß dieſe Stunden über Mitternacht die Schar dort oben verband. Und 
die Tränen traten dem Alten in die Augen, der die dritte Generation ſeines Stammes war, 
die in dieſer Höhe lebten. 

Ach, wie ſchwer war es ihm geworden, das Gebot zu halten. Doch ſollte er Weib und Kind 
und ſich von der Scholle verbannen, auf der Vater, Großvater und Urgroßvater groß geworden 
waren ? 

Es war 5 Uhr morgens, daß wir drei nod Übriggebliebenen an dem warmen Herd in der 
Küche zuſammen ſaßen und plauderten, plauderten über Völker- und Menſchenſchickſale. 

Wer ahnt von denen im Flachlande, was Schickſal für den Mann in den Bergen bedeutet. 
Tauſende von Metern weit von den anderen bewohnten Gebäuden, tagelang abgeſchnitten 
von aller Welt, ausgeliefert den elementaren Mächten der Natur. Ergreifend war es, wie er 
von dem Schneeſturm erzählte vor 30 Jahren, wie man den Spuren nachlief eines verloren 
gegangenen Menſchen, wie 2 Pferde erfroren, wie der Bruder auf der Suche nach Hilfe für 
einen Verirrten ſelbſt den Fuß erfror und zeitlebens Rrüppel wurde. Hier konnte man von 
Schickſalen ſprechen. Hier waren Geſchicke erlebt. Hier wo man Menſchenleben fo ſchwer er- 
kämpfte, da verſtand und fühlte man inniger und bewußter den Kampf um das Los eines 
Volkes. | 

Hier verband fid das harte Ringen um das Leben mit dem ſchweren Grenzſchickſal eines um 
ſein Recht betrogenen Volkes. 

„So iſt das Leben und Leiden an Oeutſchlands jetzigen Grenzen.“ 


Germanentum und Ackerbau 


m Anſchluß an die beiden Aufſätze: Religion und Raſſe von Karl Bleibtreu ſowie die Er- 

widerung von Wilhelm Emil Mühlmann im Oktober und Februarheft des Türmers mochte 
ich auf die Arbeiten von Dr. R. Braungart, Profeſſor der Landwirtſchaft, hier hinweiſen, be- 
ſonders, weil in dieſen Tagen (leider gekürzt) deſſen letztes Werk: Die Nordgermanen bei 
Carl Winters Univerſitätsbuchhandlung, Heidelberg, überarbeitet von Geheimrat Profeſſor 
Dr. Dettweiler (Univerfität Roſtock) erfchienen ijt. Bis auf Fachkreiſe iſt wenig über bie Arbeiten 
und die Perſönlichkeit Braungarts bekannt. Nur einmal, vor bald fünfundzwanzig Jahren, ging 
ſein Name durch alle Zeitungen, als eins ſeiner hervorragenden kulturhiſtoriſchen Werke: Der 
Hopfen und die Brauerei in Geſchichte und Sprache (München bei R. Oldenbourg, 1901) auf 
Gerichtsbeſchluß eingeſtampft werden mußte, weil Braungart ſich in dieſer Arbeit hatte hin- 
reißen laſſen, ſich mit einer führenden Perſönlichkeit aus dem Brauereigewerbe auseinander- 
zuſetzen, ſtatt die Zeitung hierzu zu benutzen. 

Braungart wurde am 4. Dezember 1839 in Bad Kiſſingen geboren, beſuchte die Latein und 
Realſchule zu Würzburg und hernach die landwirtſchaftliche Zentralſchule Weihenſtephan-Frei⸗- 
ſing (heute landwirtſchaftliche Hochſchule); war hierauf mehrere Jahre in Böhmen auf den 
Gütern des Grafen Thun-Hohenſtein und anderen tätig, wirkte hier zuletzt als Dozent für 
Bodenkultur in Liebwerd Tetſchen und kam 1865 wieder als Direktorialaſſiſtent nach Weihen; 
ſtephan-Freiſing. Am 1. Januar 1869 wurde er daſelbſt zum Profeſſor der Bodenkunde, all 
gemeinen und ſpeziellen Pflanzenbaulehre und des landwirtſchaftlichen Maſchinen - und Geräte- 
weſens ernannt. Zu dieſer Zeit breiteten ſich in unmittelbarer Nähe von Weihenſtephan gegen 
Weſten auf der Münchener Hochebene noch in vielen hunderten von Hektar die ſtaunenswerten 


Germanentum und Aderbau 515 


Spuren ſehr breiter, langer, hochgewölbter, mit Gras und Wald bededter, wahrſcheinlich uralter 
Aderbeete aus. Heute find fie zum größten Teil, darunter die ausgeprägteften, niedergepflügt. 

In den ſiebziger Jahren wogte gerade wieder einmal der Streit der Meinungen, ob dieſe 
merkwürdigen, jedem auffallenden, offenbar vorgeſchichtlichen Spuren eines hochentwickelten 
Acker baues von den alten vorgeſchichtlichen Germanen herrühren könnten. Braungart, der 
großen Anteil an der Klärung dieſer Frage nahm und fie gewiſſermaßen als Lebensaufgabe 
betrachtete, ſchlug nun den Weg ein, zunächſt die Grundſätze, die zu der Anlage folder Hoch; 
äderbeete führen konnten, klarzulegen, um dann an der Hand vergleichender Gelaͤndeforſchungen 
— aud bei Nancy, Jever, Barby, in Belgien, Dänemark, Oſterreich, England und Spanien, 
wahrſcheinlich auch noch anderwärts befinden oder befanden ſich ſolche Hochäderfelder — das 
Volk, das fie angelegt und auch bebaut hat, zu ergründen. Dieſer Weg führte naturgemäß zur 
Erforſchung der Entwicklungsgeſchichte der verſchiedenen Ackergeräte und Gebräuche bei der 
Ackerbeſtellung der einzelnen Volksſtämme. Es war dies ein ſchwieriges Beginnen, da weder in 
der alten noch neueren Literatur auf dieſem Gebiete vorgearbeitet war und die Beweisſtuͤcke 
auf zwei, eigentlich drei Erdteile zerſtreut lagen, dazu noch in ſchnellem Verſchwinden, da Eifen- 
bahn, Handel und Induſtrie unter den alten Geräten und Gebräuchen immer mehr und mehr 
aufrdumten und moderne Induſtrieerzeugniſſe an deren Platz ſtellten. 

Außerordentliche Beharrlichkeit, nie erlahmende Geduld, verbunden mit einer großen Sach- 
kenntnis und einem ſehr ſicheren Blick für das, was wertvoll, eine hervorragende Rombinations- 
gabe und dazu die rechte deutſche Gruͤndlichkeit, getragen von einer ſtets opferbereiten Liebe zur 
Sache: haben R. Braungart in gut fünfzigjähriger Forſchungsarbeit eine Materialſammlung 
ſchaffen, Tatſachen aufdecken und mit Irrtümern aufräumen laſſen, die von größtem Wert für 
die Erforſchung der germaniſchen Frühzeit bleiben werden. Niedergelegt ſind die Ergebniſſe 
feiner Arbeiten vor allem in dem 1881 erſchienenen und ſchon lange vergriffenen Werke: „Die 
Adergeräte in ihren praktiſchen Beziehungen wie nach ihrer urgeſchichtlichen, ethnographiſchen 
Bedeutung“, mit Atlas und 48 Tafeln. Dann folgten 1912 und 1914: „Die Urheimat der Land- 
wirtſchaft aller indogermaniſchen Völker“ und „Die Südgermanen“. Das Werk „Die Nord- 
germanen“ fand ſich bei ſeinem Tode 1916 für den Oruck fertig vor. 

In dem Werk: Die Adergerdte, kommt Braungart unter Beibringung eines gewaltigen Tat- 
ſachen materials zu dem Ergebnis, daß Mitteleuropa die Wiege des Ackerbaues geweſen iſt. Hier 
wurde aus den verſchiedenen Handgeräten, wie Hacke, Schaufel, Spaten, Grabgabel auf einem 
verhältnismäßig kleinen Raum der Pflug in einer Mannigfaltigkeit ausgebildet, wie ſie ſonſt 
kein Land der Erde aufzuweiſen hat und dazu in einer Zweckmäßigkeit und Anpaſſung an Boden 
und Kulturart, die den Kundigen in Staunen ſetzen muß. Die einzelnen Pflugtypen, die in ihren 
primitivſten Formen über ganz Südeuropa und über das weſtliche und ſuͤdliche Alien zerſtreut 
ſind und teilweiſe heute noch in der Hand der Bauern dort vorkommen, finden ſich bei uns in 
Mitteleuropa nur noch foſſil im Schoß der Erde, in der Hand der Bauern nur noch in ſchwachen, 
dem kundigen und geübteſten Auge erkennbaren Spuren. 

Nach Braungart konnten jo zweckmäßig konſtruierte Adergeräte, wie fie von Mitteleuropa 
aus verbreitet worden ſind (man denke nur an den Keilpflug, der durch kein anderes Prinzip 
hat erſetzt werden können, weil keines ſich, was Einfachheit, geringe Zugkraft, leichte Hand- 
babung uſw. betrifft, mit ihm meſſen kann, auch der moderne Dampf- wie auch Motorpflug 
beruht auf demſelben Prinzip), nur von Menſchen erfunden und gebaut werden, die mit Leib 
und Seele dem Ackerbau zugetan und keine Säufer und Nichtstuer waren, die den ganzen Tag 
auf der Bärenhaut lagen, wie noch heute in Geſchichtsbüchern zu leſen iſt, ſondern ſehr fleißig 
und ſeßhaft waren, wie jeder, der Ackerbau heute mit Erfolg betreiben will, es auch noch ſein muß. 

In dem Werke „Die Urheimat der Landwirtſchaft“ vertieft Braungart dieſe Erkenntnis ſehr 
gründlich und weiſt daneben vor allem nach, daß der Ackerbau der Germanen von Rom keine 
Befruchtung empfangen hat, daß auch die Slawen, wie ſo vielfach geſchrieben, keinen Anteil an 


516 Germanentum und Adabau 


der Ausbildung verbefferter Aderbaumethoden gehabt haben, fondern alles, was fie befigen, 
den Germanen, befonders den Oſtgoten, die mit den Alanen lange in Rußland ſeßhaft waren, 
entlehnt haben. Gerade dieſem Kapitel ſind große Abſchnitte in dieſem umfangreichen Verke 
gewidmet, und es iſt zu wünfchen, daß bei der Anmaßlichkeit der Polen und Tſchechen fie be 
kannter wären. 

Die Hauptſtärke dieſes wie auch der beiden ſpäteren Werke: Die Süd- und die (leider nicht 
vollſtändig vorliegenden) Nordgermanen beruht aber darin, daß es Braungart unternommen hat, 
an der Hand der in den verſchiedenen Gegenden vorkommenden ſpezifiſchen Adergeräte, jo vor 
allem an den heut nur noch in der Erinnerung der alten Leute und in einzelnen Fällen wohl 
auch auf den Böden noch vorhandenen Doppeljochen, den Eggenformen u. a. die Grenzen und 
Wandergebiete der verſchiedenen germaniſchen Volksſtämme feſtzuſtellen. Die Adergeräte, die 
bei den germaniſchen Volksſtämmen heilig gehalten wurden — auch heut behandelt man fie 
auf dem Land mit ehrfurchtsvoller Scheu und das Fortnehmen oder Herausziehen eines in der 
Furche ſtehen gebliebenen Pfluges gilt als ein fluchwürdiges Vergehen — haben fic in ihrer 
Urſprünglichkeit bis zu der Zeit, wo die Eiſenbahnen ihren Siegeslauf über die Welt antraten, 
beſſer erhalten als Sprache und Wort, die bisher in erſter Linie für derartige Forſchungen 
herangezogen wurden. Braungart ſchreibt an einer Stelle: ,Ourdh Studium der Orts-, Per- 
fonen-, Berg- und Flußnamen iſt hier (es handelt ſich ums Donautal) in die verworrenen Der- 
hältniſſe keine Ordnung ohne Veridjidtigung der Geräte uſw. zu bringen. Die Slawen haben 
überall in der Regel alle ſprachliche Erinnerungen voraufgegangener Bevölkerungen rüdfichts- 
los beſeitigt, und obwohl fie leicht fremde Sprachen lernen, ihre eigene überall mit ſolcher Zähig- 
keit feſtgehalten, daß fie ganze Volker flawifiert haben. Gerade im Süden der Oſtmark gibt es 
ganze Gebiete, wo alles, Feldanlage, die Adergeräte, der Hausbau uſw. urdeutſch find, ſelbſt 
viele Perſonennamen, aber die Bevölkerung ſpricht und denkt ſloweniſch. Es iſt bekannt, daß 
die tſchechiſchen Slawen in der Huſſitenzeit alle deutſchen Ortsnamen bis an die Grenze aus- 
loͤſchten und tſchechiſche an ihre Stelle ſetzten. Die Deutſchen haben aber trotz ihrer kulturellen 
Aber legenheit von jeher jeden fremden Namen feſtgehalten, höchſtens ihn etwas mundgerecht 
gemacht. Ja fie haben ſich ſogar ſlawiſche Perſonen- und Familiennamen gegeben.“ Man muß 
heute dem voll beipflichten. nachdem der Weltkrieg getobt und den wahren Charakter der einzelnen 
Völker ungeſchminkt gezeigt hat. 

Wie ſtehen nun die Ergebniſſe Braungarts zu den Ausführungen in den beiden Aufſätzen Re- 
ligion und Raſſe? Sunddft iſt Braungart der Anſicht, daß der Menſch aus der Piozärzeit ſtammt, 
denn alle Verſuche, ein wildes Vorkommen von Weizen und Gerſte namentlich in Aſien zu finden, 
find ergebnislos geblieben, da es ſich bei den entdeckten Arten hoͤchſtwahrſcheinlich um Kultur; 
flüchtlinge handelt. Weizen und Gerſte machen vielmehr den Eindruck obertertiärer Arten, die 
nur durch die Hand des Menſchen über die Eiszeit hinweg erhalten geblieben ſein können; und 
Braungart ſchließt daraus, daß dieſe Menſchen, die uns dies durch enorme Zeitabschnitte auf 
bewahrten, keine Übergangsmenfchen, ſondern Leute mit Geiſt waren. Menſchen, die, wenn 
auch in primitiver Form, vielleicht nur mit Handgerdten ſchon Ackerbau da trieben, wo die Natur 
nicht verſchwenderiſch ihre Gaben ohne heißes Mühen und Streben als Ernteſegen hergibt — 
und das iſt in den Hochländern. Hier werden wohl auch zuerſt Tiere mit dem ausſchließlichen 
Zweck, fie zur Verrichtung von Arbeitsleiſtungen zur Verbeſſerung der Lebensführung zu ver- 
wenden, gezähmt worden ſein. War das Tier aber erſt mit in die Menſchenfamilie aufgenommen, 
fo ergibt ſich nach meiner Überzeugung daraus zunächſt eine noch beſſere Verteilung in den Ver; 
richtungen bei der Feldwirtſchaft, ſo daß Mann und Frau gegenſeitig noch mehr aufeinander in 
einem Maße angewieſen waren, das ihren Wert immer mehr ausglich und fie auch körperlich 
dementſprechend ſich entwickeln ließ. Ihre Intereſſen waren in folder Semeinſchaft derart mit 
einander verknuͤpft, daß fie ſich als eins fühlten, danach handelten und auch vollftändig ineinander 
zu einer Einheit einlebten. 


Germanennun und Ackerbau 517 


Nach den Forſchungen Braungarts unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß von den Ariern 
die germaniſchen Stämme, von den Sraniern das Aveſtavolk, die Meder, alten Perſer und 
Oſſeten — fie haben untereinander auch außerordentlich viel Berührungspunkte — reine Acker- 
bauer waren. Beide führten den Ackerbau zu ſtaunenerregender Höhe. Dieſe, indem fie außer- 
ordentlich zweckmäßige und den Bodenverhältniffen und Kulturarten angepaßt verſchi eden 
artige Geräte ſchufen, jene, indem fie das Land aufs trefflichſte be- bzw. entwaͤſſerten. „Schöpfer 
der Rörperwelt, du heiliger“, fo heißt es in der Zentaveſta, „Wo wird zum dritten die Erde am 
meiſten erfreut? Wo man am meiſten, o Sohn des Spitama, Zarathuſtra, Getreide erzeuget und 
Gras und fruchttragende Bäume, wo man dürres Land in bewaͤſſertes verwandelt und Sumpf 
in trocknes Land!“ Da fie auch Obſtbau hatten, fo mußten fie ſeßhaft fein, denn diefer geht nur 
auf weite Sicht zu treiben. Was der Vater pflanzt, davon hat oft erſt der Enkel den vollen Nutzen. 

Dah Arier und Franier ein und derſelben Erde entſtammen, hat die Sprachwiſſenſchaft ein- 
wandfrei nachgewieſen, daß fie von den Stammvätern der Germanenſtämme aber ſchon im 
Neolithikum ſich getrennt haben müffen, dafür führt Braungart die Pfluggerätegleihheit nämlich 
zwiſchen dem Fund bei Papau (Thorn), ODoftrup (Dänemark) und Oobergatz (Berlin) und den 
heut noch vielerorts in Indien, Perſien und in dem Kaukaſus gebrauchten Pflügen und Anfpann- 
geräten an. Fragt man, wie es kommt, daß gerade bei den einzelnen Stämmen der Sranier — 
Braungart weift erſchöͤpfend nach, daß dieſe auch rein nichts von den Kuſchiten (Babyloniern) 
fowohl was die Geräte als auch die Feldwirtſchaft betrifft angenommen haben — dies Haupt- 
adergerät fo urſpruͤnglich ſich erhalten hat, fo muß gunddft geſagt werden, daß das Schwer- 
gewicht im Feldbau dort in der Bewäſſerung liegt. Iſt die Waſſerfrage gelöft, dann läßt die 
Natur in dieſen Ländern es ganz von ſelbſt ohne angeftrerigte Ackerbearbeitung, wie fie bei uns 
nötig iſt, wachſen. Pie Adergeräte zu verbeſſern, dafür lag eben kein Bedürfnis vor, und da man 
ſie als von den Göttern empfangen anſah, ſo hielt auch fromme Scheu davon ab, etwas an ihnen 
zu ändern. 

Ebenſo wie die indiſchen Pflüge und Anſpannvorrichtungen iſt der Heſiodſche Pflug (900 vor 
Chriftus) und der der Göttin Kora eine direkte Nachbildung von dem zu Ooſtrup und Papau. 
Die Adder (Graeco- Romanen) miffen demnach in derſelben Periode wie die Sranier gewandert 
ſein. 

Einen Hauptteil feiner Forſchungen hat Braungart auch der Klärung der heut noch offenen 
Frage über die Herkunft und Kultur der Kelten zugewandt. Trotz eifrigſten Mühen hat er nur 
wenig an typiſchen Adergeräten, Feldbearbeitungsmethoden, Feldeinteilung feſtſtellen können. 
Immer wieder führen gefundene Eigenheiten auf die Frühgermanen zurück. Braungart kommt 
daher zuletzt zu dem Schluß, daß die Kelten ein ähnliches Zwiſchenglied wie die Litauer und 
Letten zwiſchen den Slawen und Germanen, fo dieſe zwiſchen den Graeeo- Romanen und Ger- 
manen darſtellen. Auch bei den Slawen ſelbſtändig entwickelten Ackerbau nachzuweiſen, iſt er; 
gebnislos geblieben. Es mag dies erſtaunlich fein. Man muß aber berüͤckſichtigen, daß, als die 
Slawen aller Stämme ſich vom tatariſchen, tuͤrkiſchen und mongoliſchen Joch befreiten und 
ernſtlich anfingen, Ackerbau zu betreiben, fie in allen Ländern, in die ſie eindrangen, bereits 
indogermaniſche und germaniſche Adergeräte vorfanden. Dann wird ein Hauptgrund auch mit 
darin liegen, daß beſonders der ruſſiſche Bauer erft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- 
hunderts von der Leibeigenſchaft, dieſer halben Sklaverei, befreit wurde. Ein Leibeigener bringt 
keine Initiative auf, Adergeräte für beſſeren Feldbau zu erfinden, und der Grundherr, der ruf- 
ſiſche Latifundienbeſitzer, kümmerte ſich früher ſicher gar nicht um die Geräte, mit welchen feine 
Leibe genen feinen Grund und Boden beſtellten. 

Überblidt man die Forſchungsergebniſſe Braungarts in ihrer Gefamtheit und ruft ſich all die 
Gegenden und Volksſtämme ins Gedächtnis zurück, wo Germanen einmal nach den heut dort 
gebrauchlichſten Adergeräten, Feldbaumethoden und der Feldeinteilung geſeſſen haben und von 
den zugewanderten oder früher unterjochten Voͤlkerſchaften vollſtändig aufgeſogen fein müffen, 


518 Deutidh-Sddtieol und wi: 


fo überkommt einen bittere Wehmut. Denn gerade die Völkerſchaften, die ihr Beſtes dem Ger- 
manentum in der Hauptſache verdanken, ſtehen heut in Feindſchaft gegen uns. 

Die Vorliebe zum Ackerbau war den Ariern angeboren. Von den Germanen wird dutch 
römiſche Schriftſteller immer wieder berichtet, daß fie von ihren Herzögen Land zum Bebauen 
nach fiegreihen Zügen verlangten. Ebenſo lag das Gefühl in ihnen, daß in der Reinhaltung der 
Sitten ihre Kraft und Zukunft ruht. Was beſagt es anders, wenn in dem älteften uns gebliebenen 
indogermaniſchen Schriftwerk, in der Zentaveſta, fo oft mit Abſcheu davon gesprochen wird, 
daß in den Häuſern der Mazdaverehrer Töchter ungläubiger Stämme als Dienerinnen und 
Nebenweiber lebten. Die Frau war im iranischen Altertum — bei den vediſchen Indern, Ger- 
manen und bei den Griechen des homeriſchen Zeitalters — dem Mann gleichberechtigt. Der 
Mann ſah in dem Weib nicht allein die Gefährtin feines Lebens, ſondern noch mehr die Ergän- 
zung ſeines Gefühllebens; das Weib im Manne den Erweder ber reinen keuſchen Weiblichkeit, 
mit dem ſie innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit als Einheit erſtrebt. Dort, wo ſich dies 
Verhaltnis bei den ariſchen Stämmen verſchoben, tritt, wie die Geſchichte jo eindringlich vor 
Augen führt, immer bald Verfall ein. Im geſunden Verhältnis der Geſchlechter und in dem 
Sinn für Natur, für Feldbau und Vieh offenbart ſich am erſten reines Ariertum. 

Bleiben dieſe beiden als wirkſame Kräfte wach, dann bleibt auch Europa das Kulturzentrum 
der Welt. Georg Schäfer 


Deutſch⸗Südtirol und wir 


er furchtbare Druck, der ſeit Übernahme der Regierungsgewalt in Rom durch den Fascio 

auf Südtirol laſtet, mußte im geſamten deutſchen Volke einen um fo größeren Gegen; 
druck hervorrufen, als es ſich um urdeutſchen Volksboden handelt, der, vom Zauber des Südens 
umſponnen, jedem Deutſchen ganz beſonders am Herzen liegt, möge er an der Waſſerkante 
feine Heimat haben, am Rheine, an der polniſchen Grenze oder in den Alpen ländern. 

Der nunmehr von vaterländifchen Verbänden im Reiche und in Oſterreich ausgehende Ver 
ruf Staliens und feiner Erzeugniſſe für deutſche Reiſende und Bezieher ſtellt den Gradmeſſer 
für die völkiſche Not dar, die Italien über unſeren wehrloſen ſüͤdlichſten Vorpoſten und deſſen 
Heimat gebracht hat, von der es mit den Waffen in der Hand nicht einen Quadratzoll zu erobern 
imftande war. Der Südtiroler Abgeordnete Dr. Reut-Nicoluſſi hatte in der denkwürdigen 
Sitzung vom 6. September 1919, in der der öſterreichiſche Nationalrat den Staatsvertrag von 
St. Germain genehmigte, in einer ergreifenden Abſchiedsrede von einem „entfeglihen Ringen“ 
geſprochen, das nun für die der italieniſchen Staatshoheit überantworteten Deutfchen anheben 
würde. Er hat mit feiner Prophezeiung recht behalten. 

Anfänglich kam wohl die welſche Herrſchaft ihren neuen Staatsgenoſſen deutſcher Zunge 
halbwegs entgegen; dieſe Zeit, in der die Brennerdeutſchen durch Rom ſogar eine beſſere 
Behandlung erfuhren, als unſere übrigen durch die Willkür der Friedensbeſtimmungen anderen 
Fremdſtaaten angegliederten Volksgenoſſen, war kurz und bald dahin. Das Erwachen war 
um fo grauſamer, als ſich ja immerhin breite Kreiſe Südtirols durch die bei der Übernahme 
des Landes erfolgten und vielfach wiederholten Zuſagen des offiziellen Italiens in der Hoff- 
nung wiegen ließen, daß die fremde Regierung ihre deutſche Väterart und Mutterſprache 
achten werde. 

Noch heute verkünden an den Wänden der Häuſer und in den Torbögen Bozens und anderer 
Orte Südtirols Refte des Manifeſtes des italieniſchen Generalleutnants Pecori-Giraldi vom 
18. November 1918 das Verſprechen der römiſchen Regierung, den deutſchen Güdtirolem 
„die eigenen Schulen, die eigenen Einrichtungen und Vereine zu erhalten“. Alle weiteren 


Oeutſch · Südtirol und wir 519 


Kundgebungen waren auf diefen Ton geſtimmt, mit dem ſich das neue Regiment im Spät 
herbſte 1918 in Tirol eingeführt hatte. 

Vor allem verſicherten aber die in der Thronrede vom 1. Dezember 1919 gefallenen Worte 
des Rönigs auch Suͤdtirol des Entſchluſſes des durch feine freiheitlichen Traditionen gewieſenen 
Staliens, die lokalen und autonomen Einrichtungen und Gebräuche in den neuen Provinzen 
beſtens zu beobachten. . 

Alle dieſe Zuſicherungen find zerflattert im Winde; ärgeres Leid iſt über Südtirol getom- 
men, als es felbft die Schwarzſeher für möglich gehalten hätten. Auch diesmal hat es fic er- 
wieſen: Stalien hält feine Verſprechungen nicht. Weh demjenigen, der ihm Glauben 
ſchenkt! 

Das Ziel der gegenwärtigen Regierung iſt fraglos die völlige Unterdrückung des Deutſch⸗ 
tums in Südtirol. Die deutſche Sprache ſoll mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden in den 
Talern der Etſch, des Eiſaks und der Rienz, die unſere bajuwariſchen Vorfahren vor mehr als 
1200 Jahren befiedelt und beſittet hatten. Nur derjenige Deutſche ſoll auf feinem Südtiroler 
Heimatboden ruhig leben dürfen, der ſich dem Entnationaliſierungsprogramm fügt, das mit 
ſchrankenloſer Willkür durchgeführt wird. Die ſeitens Salandras im Sommer 1923 in der 
rdmifden Kammer gefallenen Worte, „im Nationalftaate Italien beſtünden, juridifch geſprochen, 
auf Grundlage der Verträge keine andersſprachigen Minderheiten“, ſollen wohl die Rechts- 
grundlage für das barbariſche Vorgehen der heutigen italieniſchen Gewalthaber abgeben. Darf 
man ſich daraufhin überhaupt noch über die Erwiderung des Unterrichtsminiſters Caſati auf 
die Beſchwerde unſerer deutſchen Abgeordneten am Monte Citorio bezüglich der Unterdrückung 
des deutſchen Schulweſens in Südtirol wundern? Nach Caſati „verfolgten die gegenjtänd- 
lichen Verfügungen nur den Zweck, die Deutſchen zu entnationaliſieren“! Oieſe offenen Worte 
bekräftigten nur das ſchon früher erfolgte zyniſche Eingeſtändnis eines hohen italieniſchen Ver- 
waltungsbeamten: „Italien braucht keine deutſche Schulen, denn es braucht keine Deutſchen!“ 

Schon heute iſt das Land Walthers von der Vogelweide von deutſchen Schulen ſo viel wie 
gefäubert. Die italieniſche Zwan gsſchule iſt das Hauptinſtrument, mittels welchen das Deutſch⸗ 
tum Südtirols ausgemerzt werden ſoll. Die italieniſche Schule muß — koſte es, was es koſte — 
aus dem deutſchen Barbarenkinde einen nicht nur italieniſch ſprechenden, ſondern auch ita- 
lieniſch fühlenden Kulturträger machen. Die Erfahrungen der bisherigen italieniſchen Schul- 
jahre ſüdlich des Brenners find erſchreckend. Wie ſollen auch unſere Kinder von einem Unter- 
richt irgendeinen Nutzen ziehen, der ihnen von Lehrern erteilt wird, die ſich ihnen ja nicht ein; 
mal verſtändlich machen können? Die chaotiſchen Verhältniſſe auf dieſem Gebiete werden 
draſtiſch durch folgende Tatſache gekennzeichnet. In einer deutſchen Landgemeinde wußte einer 
der beſten Schüler am Ende des erſten Jahrganges nicht, ob 5 mehr ſei als 10 oder umgekehrt. 

„Porco tedesco“ iſt der Lieblingsausdruck, mit dem der welſche Lehrer feine deutſchen Schüler 
bezeichnet. Wäre die Sache nicht fo traurig, jo müßte man über dieſen Koſenamen gerade für 
deutſche Kinder, die es an Reinlichkeit wohl mit den italieniſchen aufnehmen können, nur 
lächeln. 

Die Unterdrückung der deutſchen Sprache in den Amtern, ihre Zurückdrängung im gefamten 
öffentlichen Leben Südtirols iſt bekannt. Vor kurzem erfolgte ſogar das Verbot an die füdlich 
des Brenners noch geduldeten wenigen deutſchen oder der deutſchen Sprache mächtigen Richter, 
Rechtsbelehrungen an die ihr Recht ſuchenden Deutſchen in deutſcher Sprache zu erteilen! 
In einem Staate, der von heute auf morgen alle Namen, die an Tirol erinnern, wie „Süd- 
tirol“, „Tiroler“ uſw., abſchafft und deren Gebrauch unter Sanktion der Strafgeſetze ſtellt, wie 
es der allgewaltige Präfekt von Trient unter dem 7. Auguſt 1923 dekretierte, iſt eben alles 
möglich. 

Erinnerungen an alte, langverklungene Zeiten der Barbarei tauchen in uns auf, wenn wir das 
gegenwärtige Schalten und Walten auch des offiziellen Italiens in den geſegneten Tälern 


520 Seutſch Sũdtirol und wi 


der Etſch, des Eiſacks und der Rienz beobachten. Daß in ſolchen von den Behöoͤrden ſelbſt be- 
günftigten Verhältniffen ſich Gewalttaten Privater gegen deutſche Perſonen und deutſches 
Eigentum häufen und — was das Traurigſte ift — faſt immer ungeſühnt bleiben, iſt nicht ver 
wunderlich. Der Brennerdeutſche iſt der Willkür des erftbeiten Vertreters des Staats volles 
ausgeliefert. Er iſt insbeſondere für die welſchtiroler Irredentiſten um Senator Tolomei herum 
ein Objekt, an dem man ſich fein Mütchen kühlen und feinen eingefleiſchten Haß gegen alles, 
was deutſch iſt, ungehemmt ftillen kann. 

k. Vor kurzem erklang eines ſchönen Abends — wie fo oft — in einer Bozener Gaſtwirtſchaft 
heller Zitherklang, der die bekannten Worte begleitete: „Tirol iſch lei van’s, iſch a Landl a 
tloan’s, iſch a ſchian's, iſch a fein's und das Landl iſch meins!“ Weiter kam der Sänger nicht. 
Von einem wuchtigen Hiebe eines zugereiſten Welſchen getroffen, ſinkt er zu Boden. Man 
kennt den Verbrecher gut: er iſt der Mann, der im Jahre 1924 den greifen Altbürgermeifter 
Perathoner angefallen und mißhandelt hatte. 

Ein anderes Mal ſchloß in Kaſelrut ein italieniſcher Sommergaſt den dortigen Kirchturm 
ab, deſſen Inneres der Türmer Tirler ſoeben einigen Damen zeigte. Als der mit Hilfe von 
Nachbarn endlich wieder befreite Tiroler dem welſchen Tãter ſeinen Mutwillen vorhielt, wurde 
er von dieſem mit einem Stocke derartig hergerichtet, daß er alſogleich in ärztliche Behandlung 
abgegeben werden mußte. Als die Frau des Verletzten daraufhin den Helden jammernd zur 
Rede ſtellte, bekam ſie nur die Worte an den Kopf geſchleudert: „Packe dich, wenn du nicht 
erſchlagen werden willſt; ich vertrage deutſche Fratzen nicht!“ Unſere Geſichter, unſer 
Außeres ſcheinen es den heutigen Stalienern überhaupt angetan zu haben. Hat doch ſelbſt ihr 
von Größenwahn überquellender Führer Muffolini in einer der letzten Rammerſitzungen uns 
die Ehre angetan, ſich mit dem Ausſehen der deutſchen Stalienfahrer zu befddftigen ... 

Die angeführten Vorfälle genügen wohl zur Beleuchtung der grenzenloſen völkiſchen Not, 

die gegenwärtig in Südtirol herrſcht und das frühere deutſche Paradies feinen unglücklichen 
Bewohnern zur Hölle gemacht hat. 
Lange genug hat ſich das deutſche Volk, deſſen Ehre durch die jedes Rechtsempfinden tief 
verletzende Mißhandlung feiner Brüder am Suͤdabhange der Alpen ſchwerſtens getroffen iſt, 
auf Worte beſchränkt und immer wieder Stalien ins Gewiſſen geredet, Südtirol gegenüber 
von einer Politik abzulaſſen, die ihm von keinerlei Nutzen ſein kann. 

Alle unfere freundſchaftlichen Verſuche, unſere ſüdlichen Nachbarn zur Beſinnung zu bringen, 
waren vergeblich. Die Not der Südtiroler ſchreit zum Himmel. 

Und fo mußte es zum Stalienverruf kommen. Das deutſche Volk erwacht aus der Ofn- 
macht, die der Zuſammenbruch und ſeine Auswirkungen über es gebracht hatten; es wird ſich 
feiner Kraft wieder bewußt und damit auch feiner Pflicht, fie in die Wagſchale zu werfen zu- 
gunften feiner Armſten, der Südtiroler. Es greift gezwungenermaßen zu den wirtſchaft⸗ 
lichen Waffen gegen Stalien, deſſen Volkswohlfahrt in hervorragendem Maße gerade vom 
Zuſtrom deutſcher Reifender und von der Ausfuhr feiner Waren, insbeſondere feiner Natur- 
erzeugniſſe, nach den deutſchen Landen abhängig iſt. 

Saß München in der Abwehrbewegung des Gefamtvoltes gegen welſchen Größenwahn und 
Mutwillen führen werde, war vorauszuſehen. Iſt es ja doch der ſüblichſte Splitter des 
banerifdhen Stammes, der auf feinem kerndeutſchen Heimatboden auf Leben und Tod ringt, 
und dem Hilfe gebracht werden muß. Ganz Tirol, von Kufſtein bis zur Salurnerklauſe, wird 
Bayern die ihm geleiſtete Schützenhilfe niemals vergeſſen und dankt aus treuem deutſchen 
Herzen allen deutſchen Stämmen für ihr offenes Einſtehen für feine heiligen Belange. 

Anterſtaatsſekretär des Außern a. D. Pflügl (Wien) 


Literatur, 
Run 


Ludwig Finckh 


Zu feinem 50. Geburtstag am 21. März 1926 


n einem der verſteckteſten Winkel des deutſchen Vaterlandes, ein paar Steinwiirfe von der 

Grenze, lebt ein Mann, der wie wenige den Ehrennamen eines deutſchen Oichters verdient. 
Sein Leben als Dichter und Menſch ſtand und ſteht unter dem einen funkelnden Stern: „Oeutſch⸗ 
and, ich muß dich lieben“. So beginnt eines feiner ſchönſten Gedichte. 

Ich ſpreche von Ludwig Finckh. Er lebt und ſchafft in Gaienhofen, einem Ooͤrſchen am 
Südweſtzipfel des Bodenſees, zwei Stunden von Radolfzell, der naächſten Bahnſtation; vom jen- 
ſeitigen Ufer des ſchmalen Seearms grüßen die Berge des Schweizer Thurgaus herüber. Über 
Ludwig Finckh möchte ich, den zufälligen Anlaß feines 50. Geburtstages nützend, zu allen 
ſprechen, die nod altmodiſch genug find, ſtolz auf ihr Oeutſchtum zu fein (fo ſchwer einem das 
auch oft die Zeitumftände machen), die ein paar volle Verſe immerhin noch höher werten als 
eine Aktie, und die ſelbſt rein und demuͤtig genug find, um vor allem Ehrwürdigen die Kniee zu 
beugen: vor Gott, Heimat, Natur, Weib. Und ich ſpreche über Ludwig Finckh beſonders gern 
an dieſer Stelle: iſt doch der „Zürmer“ der berufene Hüter deutſcher Kultur und metaphyſiſcher 
Werte. 

Ludwig Finckh iſt ein unverfälſchter Schwabe und, was den Fall verſtärkt, ein Sohn der 
alten Reichsſtadt Reutlingen. Wollte man für künftige Jahrhunderte Typen deutſcher Volks 
ſtämme in Spiritus aufbewahren — als Vertreter urwidfigen Schwabentums nahme man 
zweckmäßig einen Reutlinger! Finckh vereinigt alſo in ſich alle Vorzüge und liebenswürdigen 
Schwachen der alemanniſchen Erzähler — es ſind die Vorzüge und Schwächen ſeines Stammes. 
Er hat zu allererſt die beglüdende Erzählergabe an ſich, wie fie vom alten Hebel und feinem 
„Schatzkäſtlein“ her ſich auf alle Alemannendichter vererbt zu haben ſcheint (G. Keller, Federer, 
Schaffner; Bf. Kurz, Schieber, Supper, Schuſſen, Heffe); er hat das Eigenwillig-Knorrige 
ſowohl wie das Verträumt-Beſinnliche ſchwäbiſcher Landſchaft, ſchwäbiſchen Volkes (gerade die 
Vereinigung von ausgeſprochenen Gegenfdgen iſt ja Reiz und Stärke des Schwabentums); er 
hat die bodenſtändige, kernhafte Geſinnung, die in der Heimatſcholle wurzelt, die körnige Sprache, 
bei ihm oft lyriſch⸗ weich abgetint, aber immer faftig; er weiß Ernſt und Humor barock zu mifchen; 
ſein epiſches Schifflein hat weltanſchaulichen Tiefgang und doch auch die Wimpel fröhlichen 
Schnurrantentums gehißt. Das iſt die eine Seite. Auf der andern ſtellen wir feſt: die meiſt etwas 
züͤgelloſe Führung der Handlung mit der Vorliebe fürs Epiſodiſche, den Mangel an „Rompofi- 
tionstechnik“, der einem an ſich berechtigten Abſcheu des Schwaben vor allem übertriebenen 
Aſthetizismus entſpringt, oft aber zu einer Vernachläſſigung der „Form“ führt. And ſo ſind 
denn unter Findhs geſtaltender Hand keine weithin überragenden Kunſtwerke entſtanden (dazu 
fehlt der Hintergrund künſtleriſcher Odmonie), aber warmherzige, tiefinnerliche Gebilde, die — 
jeder volkserzieheriſch Tätige weiß das — meiſt tiefer ins Volk dringen und ihm beglüdendere 
und erhebendere Werte vermitteln als manche Erzeugniſſe ſcheinbarer „Höhenkunſt“, die viel 
vorausſetzen. Womit nicht gejagt fein foll, daß Finckhs Schaffen jener „Heimatkunſt“ zuzuzählen 
fei, die ohne künftlerifche Iönſtinkte arbeitet. Echte Heimatkunſt dringt immer über ein Stammes- 
gebiet hinaus. 

Ich habe in den letzten Wochen alle Bücher Finckhs, mir faſt durchweg aus früheren Jahren 
bekannt, noch einmal überleſen, um mich ganz in feine Art einzuleben. Und mußte feſtſtellen, 


522 Ludwig Find 


daß fie mich heute wie einft bewegten, obgleich doch wahrlich keine welterſchütternden Schickſale 
in ihnen geſtaltet werden, obgleich der Kritiker manches auszuſetzen hätte. Und ich weiß mich 
in dieſer Ergriffenheit mit Tauſenden anderer Leſer verbunden. 

Nun: das Geheimnis der Finckhſchen Kunſt liegt einfach in ihrer ſchlichten Gediegenheit, ihrer 
lebensechten Miſchung von handfeſter Realiſtik und phantaſievoller Romantik, ihrer bezaubern; 
den Helligkeit. Denn ein Zug zur Idylle geht durch alle feine Bücher — und deshalb werden 
fie von jenen abgelehnt, die nur in pathologiſchen Verſtiegenheiten und pſychoanalytiſcher 
Seelenwüͤhlerei echte Kunſt ſehen. Kein Zweifel: Handlung und Geſtalten feiner Schöpfungen 
ähneln ſich ſtark. Überall wird die Entwicklung eines Lebens gegeben, das von der ſchwäbiſchen 
Heimat aus in die nähere oder fernere Fremde vorſtößt, um ſchließlich, in engerer oder weiterer 
Kurve, wieder auf ſchwäbiſche Erde zurüdzufinden. Wege der äußeren und inneren Läuterung, 
oft augenſcheinlich ſtark autobiographiſch beſtimmt, werden aufgezeigt, das „Hörner-Abſtoßen“ 
junger Menſchen wird uns anſchaulich vorgeführt: ihr Ringen um das Glüd oder was fie dafür 
halten, ihre Sehnſüchte nach Weltweite und Weltbeglückung und Weltweisheit, ihre Stationen 
auf dem Ralvarienberg der Liebe, ihr Leiden und Siegen und Verzichten. Kurz: Bildungs und 
Erziehungsromane im kleinen ſtellen ſeine Geſchichten dar. Denn „Romane“ ſind's eigentlich 
nicht (und der Dichter vermeidet dieſe Bezeichnung auch auf allen Titelblättern) — zuviel lyriſche 
Töne ſchwingen mit, zu locker gefügt iſt das Gerüſt des Aufbaus, zu viel Anekdotiſches ſpielt 
herein. 

Da iſt der Lehrersſohn im „Roſendoktor“, erſt Zurijt, dann Arzt geworden, weil er ein 
Sucher nach dem in der Welt der Formeln und Paragraphen verſchuͤtteten wahren und ſchöͤnen 
Menſchentum iſt, im Grunde ein Dichter und darum letzten Endes einſam. Da iſt der Genkinger 
Wirtsſohn Auguſt Reiff in der „Reiſe nach Tripstrill“, den die ſchwäbiſche Wanderluſt in die 
Welt treibt, der durch allerlei Landſchaften und Berufe zieht, bis nach Algerien hinein und von 
da zurück zur verloren geglaubten Braut, mit der er am Geſtade des Schwäbiſchen Meeres fein 
Reit baut. In dieſer beſchwingten Geſchichte lebt echt Eichendorffſche „Taugenichts“-Romantik. 
Und da iſt in „Rapunzel“ der Konrad Vogelmiſt — in echter Schalkhaftigkeit trägt der Held 
dieſes duftigen Buches dieſen „wüjten“ Namen — aus Holzelfingen, dem Albneſt, deſſen Lebens- 
ſtationen vom Bauernbüblein bis zum duͤftelnden Mechanikus und Erfinder feſtgehalten find: 
am engſten von Finckhs Helden ijt die Lebenskurve dieſes Sinnierers, der kaum über bas Reut- 
linger Oberamt hinauskommt und doch alles Glad und Leid in feiner Enge erlebt. „Rapunzel“ 
iſt mir Findhs liebſtes Buch, eines der ſonnigſten Idyllen unſeres Schrifttums, in dem alle guten 
Geiſter des Frohſinns und innigſter Naturverbundenheit ſpuken. Und da iſt Kaſpar Brucklacher 
im „Bodenſeher“, der Schäfersjunge von der Achalm, an die ſich die Stadt Reutlingen wie 
an eine Mutterbruſt gebettet hat, der neben den ſtudierenden Brüdern als einfacher Volksſchũler 
aufwddft, Anſtreicherlehrling und -gejelle wird, bis ihn ſchließlich der Damon in der Bruſt zu 
einer anderen Art Malerei treibt. Und ſchließlich ijt da in der „Jakobsleiter“ der Gutspächter- 
john Martin Rodenftiel von der Alteburg bei Reutlingen, der ebenfalls aus ſeiner idealiſtiſchen 
Hilfebereitſchaft heraus Arzt wird. 

HDBieſe kurze Aberſicht über L. Finckhs Hauptwerke — von einer eingehenden Beſprechung 
muß hier aus Raumgründen abgeſehen werden — zeigt alſo wohl, daß der Umkreis feines künft- 
leriſchen Schaffens begrenzt iſt, aber dafür beherrſcht er ihn. Sagen wir's ruhig: die lichten Farben 
überwiegen bei ihm. Ich erinnere mich nicht, daß bei ihm Leute ſich oder andere erſchießen oder 
ertränken oder erdroſſeln, obgleich fie oft genug Grund dazu hätten. Denn bei aller Sonnen- 
freudigkeit, bei allem Idealismus iſt Finckh kein ſeichter Optimiſt: er läßt ſeine Helden und 
Heldinnen durch viel Trüͤbſal und Leid gehen, reicht ihnen den Becher vergifteter Liebe, [chüttelt 
fie im Sturm böjer Gewiſſensbiſſe, erſpart ihnen nichts: läßt ſie an Gott und Welt zweifeln. 
Aber nicht verzweifeln! Und ich glaube einfach deshalb, weil fie gute Mütter haben. Jedes 
Buch Finckhs ijt ein hohes Lied der Frau, der Gattin, der Mutter, der Familie. Man leſe nur 


—j— — — 


Ludwig Finck 523 


— 


einmal das zweite Kapitel in „Rapunzel“! Oder das dreizehnte im „Roſendoktor“! Längft iſt 
es den Einſichtigen klar, daß der vielberufene — faſt ſchämt man ſich, das abgegriffene Wort 
auszuſprechen — „Wiederaufbau“ unſeres Vaterlandes nicht von Vereinen und Orden und 
Parteien und Zeitungen ausgehen kann, ſondern in der Familie ſeine Keimzelle haben muß. 
Und alle Familienkultur wiederum, als Grundlage der nationalen Kultur, gründet ſich auf die 
Verehrung der Frau. Und wir wollen es Ludwig Finckh nicht vergeſſen, daß er durch ſeine Bücher 
in dieſem Sinne wirkte. 

Nur kurz verweiſen kann ich an dieſer Stelle auf Findhs Lyrik und kleinere Schriften. 
„Roſen“ und „Mutter Erde“ find die bezeichnenden Titel feiner Verſe. O. 3. Bierbaum hat 
einft von den „Rofen“ gejagt, daß hier „ein tüchtiger, ehrlicher, aus innerſter Ergriffenheit 
liebevoll zum Schönen und Guten gewandter Menſch fic als Bekenner eines innigen und ſchoͤnen 
Glaubens meiſterlich äußert“. Das kann man unterſchreiben. Und auch in „Mutter Erde“ — 
„Mutter und Erde“ könnte der Band auch heißen — klingen neben harmloſeren Strophen die 
Tone der epiſchen Werke in funkelnderer, reinerer Form auf: die Töne von. Heimat, von Weib 
und Kind. 

„Wir müfjen Herzen von Knaben 

Bewahren und die Stirn von Stein. 

Wir muͤſſen ſaubere Hände 

Halten und am Ende 

Größer als unſere Väter ſein.“ 
And: 

„Steh ich in fremdem Schwarme, 

O Oeutſchland, reck die Arme, 

Nimm mich an deine Bruſt 

Daß ich die Wurzeln hebe 

In meines Vaters Grabe, 

Das hab ich nicht gewußt.“ 


Von den übrigbleibenden Werken, Geſchichten, Skizzen, Plaudereien, erwähne ich hier nur 
die Titel: „Biskra“, die feinſinnige, von leiſer Schwermut überhauchte Beſchreibung einer 
Reife zu einer afrikaniſchen Oaſe, „Seekönig und Graspfeifer“, „Inſelfrühling“, „Sonne, 
Mond und Sterne“. Der Freund der Finckhſchen Muſe wird auch hier viel Liebenswertes 
finden, beſonders die Studien über Land und Leute am Bodenſee, dem „Auge Oeutſchlands“. 
in gluͤcklichſtem Plauderton vorgetragen. 

Wer das Schaffen von Ludwig Finckh aufmerkſam verfolgt hat, das ſo tief in der deutſchen 
Familie wurzelt, den kann es nicht verwundern, daß der Dichter zu einer planmäßigen Fa- 
milienforſchung kam und auf dieſem ſo lange vernachläſſigten Gebiet geradezu bahnbrechend 
wirkte. In drei Büchlein hat er über Sinn und Wert der Ahnenforſchung geſprochen, und gerade 
hier kommt ihm feine Gabe, witzig und populär zu ſchreiben, im liebenswüͤrdigſten Plauderton 
die ernſteſten Dinge zu ſagen, beſonders zugute. Wer einmal fein „Ahnenbüchlein“, feinen 
„Ahnengarten“ und ſeinen „Ahnenhorſt“ ſtudierte und auf ſich wirken ließ, und dann nicht 
ſehr, ſehr nachdenklich wurde, dem iſt wahrlich nicht zu helfen! Endlich ſollte es auch der letzte 
Deutſche wiſſen, daß es nicht gleichgültig iſt, von wem er abſtammt, daß im Blute jedes einzelnen 
die Geiſter feiner Dorvdter und Vormütter wirklich und wahrhaftig ſpuken, daß das Blut eben 
„ein ganz beſondrer Saft“. Und daß es auch keine Raſſenhygiene geben kann ohne plan- 
mäßige Familienforſchung. Die berühmte Forderung des Philoſophen „Erkenne dich ſelbſt!“ 
hängt in ber Luft ohne die gleichzeitige Mahnung: „Steige zu den Quellen deines Geblüts 
nieder!“ Alles ijt ja jetzt noch in den erſten Anfängen, und es eröffnen fic die reichſten Aus“ 
ſichten: wiſſenſchaftlich betriebene Ahnenfotſchung als Zweig der Anthropologie ift geradezu 


524 Ludwig Finch 


von ſtaatspolitiſcher Bedeutung. Und nicht zum wenigften aud Ausgangspunkt zu einer ver- 
tieften Vaterlandsliebe. 

Immer weiter wird der Ring: als Dichter hat Ludwig Finckh die Familie, als Urzelle aller 
ſchönen Menſchlichkeit, aller Kultur, in den Mittelpunkt geſtellt, von da aus iſt er dem erhabenen 
Geheimnis der Blutſäfte nachgegangen und zum Bahnbrecher für die Ahnenforſchung geworden. 
Und auf dieſen Wegen konnte es ihm natürlich nicht entgehen, wie ſeit Jahrhunderten deutſches 
Blut in alle Welt hinausſtrömte, einfloß in die Lebensadern anderer Völker, anderer Staaten. 
Es iſt doch ſo: kaum gibt es irgendwo eine deutſche Familie, die nicht, und ſei es nur in Form 
daͤmmeriger Sage, von Verwandten im Ausland wüßte. Und der Oichter und Ahnenforſcher 
kannte auch den böfen Dämon, der uns Deutſchen im Blute geiftert: daß wir „draußen“, außer- 
halb des Reiches, nur allzuſchnell in den anderen, in den Fremden aufgehen. „Glückliche Fabig- 
keit der Aſſimilierung und Akklimatiſierung“ nennt das wohl gedankenloſer Optimismus, der 
echte Patriot aber muß betroffen fein von der Tatſache, daß Amerikaner deutſchen Geblüts gegen 
uns den Weltkrieg entſcheiden halfen; daß Spanien und Frankreich ihre Kriege in Marokko und 
Syrien mit den vorwiegend deutſchblütigen Truppen ihrer Fremdenlegionen auskämpfen; daß 
in Böhmen und Rumänien und Rußland und Tirol und im Elſaß, daß überall deutſche Männer, 
deutſche Frauen, deutſche Kinder in Gefahr ſind, dem deutſchen Volkstum verloren zu gehen. 

Klar und folgerichtig führte alſo Finckhs Weg vom Frauenlob und Ahnenforſcher zum Patron 
des Auslanddeutſchtums. Deutſches Blut in fremden Ländern ſoll deutſch bleiben, heute 
mehr denn je. Jeder Auslanddeutſche ſoll ein Vorpoſten des deutſchen Geiſtes, ein Pionier 
deutſchen Volkstums ſein. Und die Erfahrung lehrt, daß unſere Brüder in der Fremde ſich gerne 
von der Heimat aufrütteln laſſen, daß ſie ſich danach ſehnen, in geiſtiger Verbindung mit dem 
Mutterland zu bleiben. Viel, ſehr viel wurde in dieſer Beziehung vor dem Krieg gefündigt, als 
es doch noch leichter war, die kulturellen Zuſammenhänge zu pflegen. Man ſchlage beliebige 
Memoirenwerke von alten Auslanddeutſchen auf und aus allen wird dieſelbe Klage tönen: die 
Heimat — und zwar die offizielle: die Amtsſtellen, die Diplomatie und Bureaukratie ſo gut wie 
die inoffizielle: die Angehörigen, die Vereine, die Vertreter des deutſchen Geiſtes —, die Heimat 
alſo hat ſich nicht um die Ausgewanderten und die deutſchen Minderheiten in fremden Staaten 
gekümmert, hat fie ihrem Schickſal überlaſſen, und dieſes Schickſal hieß in allguvielen Fallen: 
Entdeutſchung. Wer irgendwie glaubt, daß der deutſche Geiſt eine Weltmiſſion habe, der muß 
die Bedeutung gerade des Auslanddeutſchtums und gerade in unſerer Zeit anerkennen. Man 
muß es Ludwig Finckh danken, daß er in Wort und Tat auf alle die damit verbundenen Pro- 
bleme hinwies. „Bruder Oeutſcher“ nennt fid fein Büchlein, aus dem fic jeder unterrichten 
kann, worum es eigentlich geht. Und er iſt auch ſelbſt viel umhergereiſt, hat Einblicke getan in 
Leben und Treiben. Wünſche und Beſtrebungen unferer Auslanddeutſchen und hat fie durch 
fein Wort geſtärkt. Und kaum gibt es heute einen Auslanddeutſchen in Tiflis oder Prag oder 
Schanghai oder Chitago, der nicht um den Namen Ludwig Finckhs wüßte und feine zähe, opfer; 
willige, hingebende Arbeit anerkennte. 

Ich möchte in dieſen Zuſammenhang auch feine Erzählung „Der Vogel Rod“ ſtellen, in der 
das Schickſal einiger vor dem Krieg nach Kolumbien ausgewanderter Schwaben und ihr Erleben 
des großen Kriegs in der Fremde geſchildert wird. Vielleicht tritt hier die künſtleriſche Geſtaltung 
gar zu ſehr zuruck hinter der „Tendenz“, ein Bild deutſcher Art im Ausland zu geben und die 
Heimat aufzurütteln. Was er auf einer Reife durch die Tſchechoſlowakei ſah und hörte, davon 
plaudert er in der „Sudetendeutſchen Streife“: ſpricht von dem, was deutſche Kultur 
„draußen“ geleiſtet hat, deckt die bewußten Geſchichtsfälſchungen der amtlichen Tſchechei auf 
und gibt den hoffnungsvollen Ausblick, wie in den deutſchſtämmigen Menſchen dort der Glaube 
an ihr Volkstum und der nationale Wille der Selbſtbehauptung gerade jetzt lebendiger als je 
find, feit fie durch das irrfinnige Friedensdiktat von Verſailles den „Segen“ des Minoritäten- 
ſchutzes genießen. — — — 


Sovlts, der Bottàmpfer eines voltstümlichen Nationaltheaters 525 


Auf der Höhe von Gaienhofen fteht des „Roſendoktors“ Haus. Und in der Nacht auf den 
21. März, in der der Frühling die Herrſchaft antritt, in der Helle und Dunkel „in gleichen Schalen 
ruhn“ — in dieſer Nacht, fo ſtelle ich's mir vor, wird ein ſeltſamer Geſpenſterreigen fic um den 
föhnumbrauſten Firſt und Giebel des Doktorhauſes bewegen: alle Geſtalten aus des Dichters 
Büchern haben ſich zu dankbar-frohem Bunde geſellt, um ihrem Schöpfer zu huldigen. Voran 
Rapunzel, das „Sonnenwirbele“ von Würtingen, ihren erblindenden Konrad an der Hand, und 
das tapfere Rösle Kuraß von Genkingen, ihren ausreißeriſchen Springinsfeld Georg warm und 
feſt haltend, und die Judit von der Achalm und das Ridele von der Alteburg, — viele, viele junge 
Mädchen und junge und alte Mütter, und alle tragen ſie einen Kranz von Rofen im Haar und 
achten nicht der Dornen, denn fie find Frauen ... Und alte Schäfer werden an Rofendottors 
Haus vorbeiziehen und Mond und Sterne begucken und Weisheit raunen: der Vater Brucklacher 
von der Achalm und der alte Chriſtoph Haller von Würtingen und der alte Luz, auf einem 
Lindenblatt blafend, und auch der Großvater Michael Rockenſtiel hat ſich zugeſellt und.. und 
und alle, die ein deutſcher Dichter ſchuf. Und grüßend wird ſich der geſpenſtiſche Reigen in dieſer 
erſten Frühlingsnacht, da vor fünfzig Jahren ihr „Vater“ in der Reutlinger Apothekerswiege 
lag, vor dem Roſenhaus neigen und in Sternennebel ſich auflöſen. Und nur ein zarter, füß- 
würziger Duft von Rofen wird noch das Haus auf der Gaienhofer Anhöhe umjhmeideln ... 

Dr. Karl Fuß 


Savits, der Vorkämpfer eines volkstümlichen 
Nationaltheaters 


m Mai 1915 ſtarb in München Profeſſor Jocza Savits, der langjährige Oberregiſſeur des 

Hof- und Nationaltheaters, ein Mann hoch in den Sechzigern, krank und vereinſamt. Als 
Angehöriger der Bühne iſt er in dieſen Kreiſen bekannt, für die er, als Begründer der Genofjen- 
{daft deutſcher Bühnen-Angehöriger, im hidften Sinne ſozial gewirkt hat. Als Schauſpieler 
und Regiſſeur in Weimar unter Karl Alexander tätig, wo er am Hoftheater das Fach des jugend 
lichen Liebhabers — den Romeo und andere Rollen — mit Glanz und Auszeichnung ſpielte, 
ging er dann an das Hof- und Nationaltheater in Mannheim, um dort die leitende Stelle ein; 
zunehmen; jedoch ſagten ihm die Verhältniſſe nicht zu, jo daß er nach einem Jahre zurüdtrat und 
für das Amt des Intendanten Max Marterſteig empfahl. Er ſelber ging 1885 als Oberregiſſeur 
nad München an das Hof- und Nationaltheater, wo er eine umfaſſende und ſegensreiche Tätig- 
keit als Oberregiſſeur entfaltete. Insbeſondere verdankte man ihm die Einrichtung einer um; 
gebildeten Szene, die als „Shakeſpeare- Bühne“ unter Mitwirkung und Förderung Rudolf 
Genées und Paul Marſops vom Theatermeiſter Lautenſchläger hergeſtellt wurde und deren 
Eigenart Savits in einem Einführungsheft auseinanderſetzte. Sie beſtand 1887—1905. Natur- 
gemäß ſtellte fie, eingebaut in das alte Hoftheater und beengt durch die Rüdjichten auf Wünfche 
des Intendanten, einen Zwitter vor; ſie war mehr ein Verſprechen als ein. Erfül ung; dennoch 
aber muß man heut über die Verſtändnis loſigkeit, mit der hr zumal die weitere Kritik begegnete, 
erſtaunt ſein. Die Zuſchauer gingen bei dieſer vereinfachten Bühne willig mit. Literariſch aber 
war es doch kein geringes Ereignis, daß ein Dutzend der größten Werke Shakeſpeares in der 
urfprünglichen Form, ohne Umſtellung, Kürzungen und Striche geſpielt wurde; bei blitzſchnellen 
Verwandlungen ohne ftörende Pauſen; das oberflächliche Urteil vermag freilich die grundſaͤtzliche 
Tragweite eines ſolchen künftlerifhen Exeigniſſes nicht zu verſtehen. Am Ende einer ehrenvollen 
Bühnenwirkfamteit, die ſich der weiteſten Anerkennung aller kunſtſinnigen Kreiſe erfreute, 
erhielt Savits vorzeitig den Abſchied. Es war dies unter Amtsführung des neuen General- 
intendanten von Speidel, eines hohen Soldaten, der bis dahin wohl wenig Beziehungen zum 


526 E avits, der Vorkämpfer eines voltstümlichen Nationaltheaters 


Theater hatte. Um dieſe Verabſchiedung etwas zu beleuchten, ſei die bezeichnende kleine Anekdote 
mitgeteilt, die ich aus Gavits’ eigenem Munde habe. Danach beſtellte der neue Intendant ſich 
drei Regiſſeure in fein Zimmer und eröffnete ihnen, daß er militäriſche Pünktlichkeit liebe und 
daher die Schauſpielvorſtellungen, wie ſie zu beſtimmter Stunde beginnen müßten, ſo auch 
genau zu demſelben Zeitpunkt beendet fein müßten; die Länge der Stüde müjje man eben 
danach einrichten. Während die beiden anderen Fachleute einen Widerſpruch gegen dieſe un- 
geheuerliche Zumutung nicht erhoben, äußerte Savits ſich dahin: das wäre ebenſo, wie wenn 
der Herr General- Intendant beföhle, man folle in der Pinakothek alle Bilder gleich groß machen. 
— Kurze Zeit darauf hatte Savits ſeinen Abſchied. 

Savits hat den ihm aufgezwungenen Rubeftand bitter empfunden. Erſt allmählich gewöhnte 
er ſich daran, griff, alten Neigungen gemäß, zur Feder und ent altete auf Grund umfangreicher 
Studien und umfaſſender Beleſenheit, eine höchſt bedeutende literariſche Tätigkeit. Sie iſt, trotz 
mannigfacher empfehlender Anzeigen und Beſprechungen, der Leſewelt noch ſehr wenig be 
kannt. Für die Bũhnenfachleute muß Savits als ein Einfpänner gelten, da er bie ausgetretenen 
Pfade völlig verläßt und neue einſchlägt, auf denen ihm bisher niemand zu folgen vermochte; 
für die Leſewelt aber iſt er nicht grade ein bequemer Schriftſteller, da er ernſte Verſenkung 
und Hingabe an große Ziele fordert. Es ift ein höchſt merkwuͤrdiges Schaufpiel, zu ſehen, wie 
dieſer Mann, der fein ganzes Leben ſelbſtlos der Bühne und den Idealen der dramatiſchen Kunſt 
geweiht hat, auf Grund praktiſcher Tätigkeit zu kühnſten Schlüſſen und Ergebniſſen kommt, die, 
wenn fie durchgeführt würden, nichts weniger als einen völligen Umſturz und eine Wieder- 
geburt unſeres Bühnenweſens bedeuten würden. Dieſe Probleme ſind aber ſo wichtig 
und einſchneidend nicht nur für das Theater, ſondern vor allem für die Poeſie, daß man nicht, 
wie manche getan haben, an ihnen vorbeigehen oder ſie mit einigen leeren Worten abfertigen 
darf. 
Zunächſt eine kurze Aufzählung der wichtigſten Schriften von Savits. Er hat eine Reihe kleiner 
verſtreuter Abhandlungen über den Schauſpieler und ſeine Kunſt geſchrieben; Molière, einem 
ſeiner Lieblingsdichter, hat er viel Zeit und Studien gewidmet, die in der glänzend ſtiliſierten 
kleinen Schrift „Die Erſtaufführung von Moliéres Tartüff in Paris“ wohl ihren bedeutendften 
Niederſchlag erfuhren. Vielleicht im dunklen Gefühl, daß ſeine Lebensjahre gezählt ſeien und 
ihm nur noch wenig Zeit übrig bliebe, um ſeine Gedanken der Welt mitzuteilen — keine Kraft 
aber mehr, ſie zu verwirklichen —, ſammelte er mit Bienenfleiß und Eifer allen erreichbaren 
Stoff, um das Gebäude, das ihm vorſchwebte, aufzuführen, feinen Grund feſt und unerfchütter- 
lich zu machen und es gegen jeden Anſturm zu ſchützen. Dies iſt ihm auch in vollendeter Weife 
gelungen. Zunächſt faßte er feine Unterſuchungen und Ergebniſſe zuſammen in dem Buche „Von 
der Abſicht des Dramas“ (München, Etzold), indem er mit einer Oarſtellung des hiſtoriſchen 
Urfprungs unſerer Prunk: und Ausſtattungs Bũhne deren Kritik verbindet und die Begründung 
für eine grundlegende Bühnenreform vorträgt. Dann gab er in der kleinen Schrift „Das Natur- 
Theater“ (München, Piper) eine Unterfudung über das Weſen, die Leiſtungen und Ausſichten 
des Theaters unter freiem Himmel, wie er es aus eigener Anſchauung in Thale und Hertenſtein 
kennengelernt hatte. Endlich faßte er feine geſammelten Anſichten in einem Hauptwerke zu 
ſammen „Shakeſpeare und die Bühne des Oramas“ (Bonn, Cohen). 

Ein tragiſches Geſchick verhinderte Savits, der nach dem Verluſt feiner treuen Lebens- 
gefährtin ohne Kinder vereinſamt zurüdblieb, das Erſcheinen dieſes Werkes noch zu ſehen und 
die Wirkungen zu erleben, die allmählich immer ſtärker, von Jüngern und Freunden verbreitet, 
von ſeinen Schriften ausgingen; die reinſte Freude, die ſeinem hochſtrebenden Geiſte vergönnt 
war. Bald nachdem er einen Verleger gefunden und über das Schickſal des Buches beruhigt 
war, nahm der Tod ihm die Feder aus der Hand. 

Verſuchen wir nunmehr auf knappem Raum einen Abriß der Savits' ſchen Lehre zu geben. 
Auf Grund langjähriger Erfahrungen hatte ſich ihm allmählich die Überzeugung aufgedrängt, 


* u 


Savits, der Vorkämpfer eines volkstümlichen Nationaltheaters 527 


daß das Syſtem unſerer Bühnenausſtattung dem Zwecke des Oramas gar nicht förderlich ſei, 
vielmehr ihm widerſtreite. Mit Erfolg ſtrebte er danach, die Szene zu vereinfachen. Er machte 
umfaſſende Studien, um ſich über die Entſtehung unſerer Theaterbauten und Gepflogenheiten, 
den Urſprung unferer Ausſtattung und unſeres Dramas zu unterrichten. Die hergebrachte Alt- 
einteilung, die das Drama in fünf Teile zerreißt und allgemein befolgt wird, erſchien ihm frag- 
würdig. Noch fragwürdiger der Übelſtand, daß bei zahlreichen Verwandlungen, wie fie z. B. 
Shakeſpeares Stücke und Goethes „Götz“ und „Fauſt“ verlangen, der Zwiſchenvorhang un- 
zählige Male fällt und der Zuſchauer dadurch immer wieder rüdjichtslos aus der Illuſion heraus- 
geriſſen wird, während doch die Aufführung eines Dramas „gleich einem holden erquickenden 
Traum“ fein ſoll. Dieſen Übelftand beſeitigte zum Teil die moderne Drehbühne; aber fie iſt 
überaus koſtſpielig und geſtattet die Möglichkeit raſcheſter Verwandlung für alle Stücke dennoch 
nicht. Das Syſtem der Ausſtattung krankt offenbar an einem Fehler. Worin liegt er? 

Mit dem hier vorliegenden Problem hat ſich eine Reihe bedeutender Männer beſchäftigt, 
deren Forſchungen und Ergebniſſe Savits uns vorführt. Es handelt ſich, neben Leſſing, vor 
allem um Tieck, IZmmermann, Anſelm Feuerbach, die Grafen Baudiſſin und Schack, Otto Lud- 
wig, Wilhelm Jordan. Sie haben bereits klar erkannt, daß das Drama feinem Weſen nach Dich- 
tung und Darſtellung ſei und nichts anderes, und ſie waren daher Gegner einer naturaliſtiſchen 
Ausſtattung. Sie verlangten ſinnvolle Andeutungen für die Phantaſie, aber keine Nachahmung 
der Wirklichkeit. In den Zeiten dürftiger Bühnenanlagen, in England und im alten Spanien, 
wo man in hölzernen Scheunen ohne Ausſtattung, nur mit prächtigen Koſtümen bei Tageslicht 
ſpielte, erreichte das Drama in Shakeſpeare, Lope de Vega und Calderon feine hidfte Blüte; 
in Zeiten des Appigiten Prunkes und der ſinnfälligſten Bühnenausſtattung, wie bei dem Hof- 
theater von Antiochia u. a., geriet das Drama völlig in Verfall. In ſolchen Zeiten, wie denen 
des Beginns der welſchen Oper, hatte man große Maſſen von Statiſten, Tänzern und Tänze 
rinnen, hatte tauſenderlei Künſte und Lichteffekte; alle Hilfsmittel der Muſik, des Geſanges 
und der ausſchweifendſten Ausſtattung waren aufgeboten, und doch war das Ergebnis ein 
höchſt klägliches. Umgekehrt wirkte das nationale Drama Alt-Englands und Spaniens wie das 
der Griechen bei höͤchſter Erhebung des Geiſtes durch die Einfachheit der Mittel. Auch in 
Alt- Griechenland ſpielte man unter freiem Himmel; der Schauplatz war nur angedeutet, und 
man mutete alles der Einbildungskraft der Zuſchauer zu, während man ihr heut nichts zu- 
mutet. , 

Dieje Tatſachen geben zu denken. Savits ward immer mehr deutlich, daß der Weg, den unſer 
Theater, namentlich ſeit der Vorherrſchaft der Oper — auch in der Kunſtform Richard Wag- 
ners — eingeſchlagen hat, uns immer mehr in die Feſſeln des Ausſtattungsweſens ver- 
ſtricken muͤſſe; kurz geſagt, daß er ein Irrweg fei. Der Aufwand an Mitteln, den man treibe, 
ftebe in keinem Verhältnis zum Werte des Gebotenen. Gleichwohl glaube alle Welt, man müſſe, 
um dem darniederliegenden Drama aufzuhelfen, immer mehr Ausſtattungsprunk, Muſik, Tanz, 
maleriſche und bildende Kunſt, Lichteffekte und Maſchinen aufs Theater bringen, ſo daß die 
moderne Bühne nachgerade ein Maſchinenraum wird, auf dem der Schauſpieler ein beengtes 
und keineswegs ungefdbrdetes Daſein führt. Es iſt ſogar eine Theorie vom Zuſammenwirken 
aller Kuͤnſte aufgeſtellt worden, die in dem ſogenannten muſikaliſchen Drama ihren Ausdruck 
gefunden hat. Aber dieſe Theorie iſt falſch. Das Drama beſteht nur aus Dichtung und Dar- 
ſtellung. Neben ein Drama eine Malerei oder eine Muſik als gleichberechtigt ſtellen zu wollen, 
iſt genau fo ſinnwidrig, als ob man eine Beethovenſche Symphonie durch ein daneben geſtelltes 


Gemälde von Böcklin erläutern wolle. Grade dieſes Unfinns aber machen wir uns ſchuldig, wenn 


wir neben die Aufführung eines Dramas einen gemalten Hintergrund, plaſtiſche Gegenftdnde 
und dergleichen ſtellen: das iſt unkünſtleriſch und gradezu barbariſch; denn, wie die Griechen, 
Briten und Spanier zurzeit der Blüte ihres Dramas deutlich fühlten: das Drama iſt eine 
Illuſion, die ſich in ununterbrochener Folge durch das Spiel der Oarſteller in den Köpfen 


— — — — 2 


528 Gavits, ber Vorkämpfer eines voltstümlichen Nationaltheater 


der Zuſchauer vollzieht. Daher denn bei dieſen Völkern die Darſtellung bei Tageslicht inmitten 
der Zuſchauermenge ſtattfand; ihre Einbildungskraft war ſtark genug, ſich in den Traumzuſtand 
zu verſetzen. 

Dieſe große Wahrheit iſt es, die uns verloren gegangen iſt und die Savits neu entdeckt hat. 
Es iſt das hohe, nicht genug zu würdigende Verdienſt dieſes Mannes, mit dem er das Werk 
ſeiner Vorgänger abſchließt und krönt. Die Mitwelt hat trotz vielfacher vereinzelter Zuftim- 
mungen, ſeine Leiſtung noch nicht begriffen, geſchweige denn ſie ſich zu eigen gemacht. Sie wird 
dies aber tun mijfen, wenn anders fie einen Fortſchritt des Theaters herbeiführen will, 

Die Entwickelung, die unſer Bühnenweſen genommen hat, erweiſt ſich alfo, bei näherem Zu⸗ 
feben, als ein Irrweg. Dieſe Erkenntnis auszuſprechen, dazu gehört kein geringer Mut; denn 
die Richtung der Gegenwart geht darauf aus, uns immer ſtärker in das Ausſtattungsweſen zu 
verſtricken. Wie aber ſind wir dazu gekommen? Savits antwortet, daß ſchon bei Goethe, in den 
Anfängen unſeres neueren Theaters, der Irrtum beginne. Goethe habe nämlich wohl in ſeiner 
Jugend den raſcheſten Wechſel des Schauplatzes und den raſcheſten Wechſel der Phantaſie als 
eine Grundbedingung der Shakeſpeariſchen Kunſt erkannt, aber als Bühnenleiter ſei er doch 
dem herkommen der franzöfifchen, der klaſſiziſtiſchen Bühne erlegen. Statt den Weg des indivi- 
dualiſtiſchen Charakterdramas, wie es die Briten und Spanier entwickelt hatten, auch hinſicht⸗ 
lich der Zuruͤſtung der Szene zu beſchreiten, wählte er den konventionellen Weg der Frangofen. 
Wie er deren Werke heruͤberholte und aufführte, um „den Spielpan zu bereichern“, fo „richtete 
er den Shakeſpeare ein“, das heißt, man hielt es für unmöglich, Shakeſpeare in unverfälichter 
Form aufzuführen: man ſtrich und kürzte, ſtellte um und dichtete ſogar um — wie denn „Romeo 
und Julia“ und „Macbeth“ von Goethe und Schiller höchſt bedenklichen Maßnahmen unter 
worfen wurden; kurz, man ſcheute ſich keineswegs vor einem Eingriff in den großen Oramatiker, 
der mit dem Weſen feiner Werke ſchlechterdings nicht mehr vereinbar iſt. An dieſen auf mangel- 
hafter Erkenntnis beruhenden Mißgriffen hat nun das ganze folgende Jahrhundert leider feſt⸗ 
gehalten. Jeder Dramaturg, Bühnenleiter und Regiſſeur glaubt ſich berufen, Shakeſpeare für 
das Theater zu verbeſſern — da er, wie man vorgibt, — ſo nicht aufführbar ſei; er wird 
gekürzt, beſchnitten, Szenen werden vor- oder zurüdgejchoben, zuſammengeſchoben ober 


. umgeitellt, vor allem damit die Unzahl der Verwandlungen auf ein kleines Maß, etwa ein 


Dutzend, herabgemindert und dadurch die Mühe der Ausſtattung verkleinert werde. Daß dem 
Theatermeiſter zuliebe das innere Gefüge des Gedichts völlig zerſtört wird, kümmert dieſe 
Bearbeiter gar nicht. Savits iſt der erſte, der eindringlich gegen dieſen Frevel ſeine Stimme 
erhoben hat. 

Er hat auch gezeigt, daß es ſehr wohl anders geht. Denn das Verdienſt eben feiner Auf- 
führungen Shakeſpeares — und an Stelle dieſes Genius könnte man jeden anderen ſetzen — 
beſtand ja eben darin, daß er durch die Tat zeigte, wie man die Werke eines Dramatikers un- 
verkuͤrzt und unverftümmelt, wie fie gedacht waren, auf der Bühne der Gegenwart zur Dar- 
ſtellung bringt. 

Man darf alſo den Namen „Shakeſpeare Bühne“ nicht mißverſtehen. Savits wählte Shake 
ſpeare nur als das große Beiſpiel, an dem er feine Lehre erläuterte. Man könnte ſtatt des Aus 
drucks „Shakeſpeare Bühne“ auch ſagen: ſchlichte und volkstümliche Bühne. Aber, wird man 
einwenden, mißt denn Savits nicht, in den Spuren gleichgeſinnter Vorgänger wandelnd, der 
Geſtaltung der Szene eine zu große Wichtigkeit bei? Iſt es wirklich für die Dichtung fo wichtig, 
ob das Bühnenbild ſo oder anders zurechtgemacht wird? 

Da iſt nun zu antworten: daß die Herrichtung der Szene, des Bühnengerüjtes, ſchlechterdings 
ausſchlaggebend iſt für die Anlage und Geſtaltung des Dramas: für feine Form. Savits hält 
mit Recht deshalb die Geftaltung des Schauplatzes für fo wichtig, weil von ihr die geſamte 
dramatiſche Kunſt und Didtung abhängt: ein Punkt, über den ſich die Aſthetik der Gegenwart 
keineswegs klar geworden iſt. 


Savlts, der Dortdmpfer eines volkstümlichen Nationaltpeaters 529 


Bekanntlich geht das Streben der neuern Buͤhnenſchriftſteller dahin, einen Wechſel des Schau- 
platzes innerhalb der Akte moͤglichſt zu vermeiden und ſich mit fünf verſchiedenen Schauplätzen 
für das ganze Stüd zu begnügen. Ja, am bequemſten find dem Theatermeiſter Stüde, wo die 
Szene drei oder vier Akte hindurch dieſelbe bleibt: wie bei den beliebten Pariſer Zimmer; oder 
Konverſationsſtücken. Dieſe Technik der Franzoſen, die den Bedingungen des Fabel; und 
Phantaſiedramas grade entgegengeſetzt iſt, hat der reifere Ibſen in ſeinen Geſellſchaftsſtücken 
übernommen und damit für Europa Schule gemacht. Will man, auf Grund einer irrigen Lehr- 
meinung, das „Bühnenbild plaſtiſch geſtalten“, fo muß man richtige Türen, Türklinken, Hausrat, 
Uhren, Bäume uſw. verwenden; und dieſe Nachahmung der Natur unterſcheidet fid in nichts 
von dem üblen Brauch alter fahrender Komödianten, die beim Sterben aus einer verſteckten 
Schweinsblaſe Blut hervorquellen ließen. Will man nun die Erforderniſſe einer Szene durch 
moͤglichſt naturgetreue Nachahmung darſtellen, fo find, bei häufigem Szenenwechſel, umſtänd⸗ 
liche und zeitraubende Umbauten oder koſtſpielige OrehbAbnen und dergleichen notwendig; und 
der Bühnenleiter wird für die Aufführung Stücke bevorzugen, die ihm moͤglichſt wenig Um- 
ftände und Koſten machen. Er wird alſo, da er glaubt, ohne Ausſtattung nicht auskommen zu 
können, ſolche Stücke zurüdweijen, die mannigfachen Wechſel des Schauplatzes erfordern, d. h. 
alle Werke, die ſich vornehmlich an die Phantaſie wenden. Mit anderem Wort: in unſerem 
Bühnenwefen herrſcht eine ſtarre Pariſer Konvention, und von dem wahren Geiſte Shake 
ſpeares, der uns befreien wuͤrde, ſind wir durch einen Abgrund getrennt. 

Dies iſt der Grund, warum Savits eine vereinfachte Bühne fordert: nicht in der Art Shake; 
ſpeares als eine altertümelnde Spielerei, aber in feinem Geiſte. Mit dieſer Forderung befindet 
er ſich im Einklang mit den beſten Kennern der Nation, mit Tieck und mit Anſelm Feuerbach, 
der da betont: „es bedarf beſcheidener Andeutungen, nicht ſinnverwirrender Effekte“. Es iſt ein 
Unding und eine Unmöglichkeit, während zweier Stunden ſechzig verſchiedene Schauplätze durch 
naturaliſtiſche Bühnenbilder vor das Auge bringen zu wollen; aber es iſt notwendig, daß der 
Dichter die unbeſchränkteſte Bewegungsfreiheit hat, uns während zweier Stunden mittels der 
Einbildungskraft auf ſechzig und mehr Schauplätze zu entführen: über Zeit und Raum hinweg. 
Erſt wenn unſere Bühne dies wieder erringt, was die primitive Bühne Spaniens und Alt- 
Englands vermochten, ijt die Vorbedingung für eine dramat ſche Entfaltung gegeben, die gegen- 
wärtig gebunden und gefeſſelt ift durch die Schranken eines konventionellen Theaters. Hierin 
alſo liegt die bedeutendſte Erkenntnis von Savits: daß eine wahre Blüte unferer dramatiſchen 
Dichtung erſt möglich fei durch eine grundſätzliche Veränderung und Umbildung unſerer Bühnen- 
zuruͤſtung. Wir können niemals hoffen, zu einem wahren Nationaltheater, wie es andere Völker 
beſitzen, zu kommen, wenn wir uns nicht eine Szene ſchaffen, die den innerſten Bedürfnifjen 
des Genius unſerer Nation entſpricht. 

Aber auch für die Schauſpielkunſt iſt das Problem von entſcheidender Bedeutung: die Prunk 
und Ausſtattungsbuͤhne begünftigt den redneriſchen Stil; eine weit in den Zuſchauerraum vor- 
ſpringende Bühne dagegen, die den Schauſpieler von wenigſtens drei Seiten zeigt, ihn mitten 
unter die Zuſchauer verſetzt, ihn völlig von jedem Bühnenbilde loslöſt und ganz auf ſich ſelbſt 
ſtellt, verlangt von feiner Kunſt das Höchſte, wofern er die Zuhörer in die Illuſion, in den 
Traumzuſtand verſetzen will, ſo daß ſie beim Anblick des Spieles der Darſteller das Drama 
erleben. Dies und nichts anderes ijt dramatiſche Kunſt. Alles andere find nur ablenkende, ver- 
wirrende und ſtörende Beihilfen. Erſt, wenn wir das natürliche Verhältnis wieder hergeſtellt 
haben, haben wir den Dichter und die freie ſchöͤpferiſche Phantaſie wieder zum Herrn des 
Theaters gemacht. So, und nur ſo, werden wir durch das Mittel der volkstümlichen Bühne 


eine Dichtung der Volksgeſamtheit erlangen. 
Dr. Ernſt Wachler 


Der Türmer X XVIII, 6 35 


530 


Gerd Schniewind 


Zu unfren Bilderbeilagen 


Sy techniſcher Vollendung geben unfere Bildtafeln Aquarell-Land{daften Gerd Sdnie- 
winds wieder, des Künſtlers, von dem wir in früheren Heften bereits Holzſchnitte ver⸗ 
öffentlicht haben. Im Holzſchnitt und im Aquarell ragt diefer prächtige Niederſachſe hinaus 
über andere Meifter feiner Zunft. Es wird Aufgabe der Völkerpſychologie fein, nachzuweiſen, 
daß dem deutſchen Maler wegen feiner aus der Überlieferung des Handwerks ſtammenden Ge- 
diegenheit die Holzſchneidekunſt, wegen feiner ins Große und Weite greifenden Weſensart 
aber die für die Nähe nicht verwendbare Waſſerfarbe beſonders gemäß iſt. Jedenfalls beweiſt 
Schniewinds Entwicklungsgang, der ihn zwangsläufig von dem großartigen Körpermaler 
Saſcha Schneider, deſſen Meifterfchüler er war, zur norddeutſchen Landſchaft und zu Mackenſen 
führte, daß er ein wurzelechter deutſcher Kuͤnſtler iſt. Alljährlich reift Schniewind in die nieder 
ſaͤchſiſchen Moore, in jene weitgedehnten Räume, die trotz ihrer Anſpruchsloſigkeit einen Reich; 
tum an Farben beſitzen, wie ihn nur die durchſichtige Luft der Küftenlandichaft erklärt. Der 
Grundton aller dieſer Farben iſt das helle Blau des Himmels im eigentlichen und im Spiegel- 
bild des Waſſers: der Kanäle, Flüffe, Brühe und Lachen; ihm entgegen tritt das branſtige 
Braun der Heiden, Torfſtiche, Ackerfurchen und Sandgruben. Schniewinds typifche Bilder haben 
ſaͤmtlich dieſe beiden Farben als Grundakkord. Sofort erkennbar und charakteriſtiſch find die 
Arbeiten Schn.s auch an den eigenartigen Baumſilhouetten, mag es ſich um ſturmgepeitſchte 
Birken handeln oder um Erlen, Weiden und Eichen. In mächtigen Kurven feines breiten 
Pinſelſtrichs wird er auch der windgeballten Wolkenphänomene Herr, wie im hauchzarten Auf- 
trag der feuchtklaren Ferne nachgewitterlicher Himmel. 

Es iſt begreiflich, daß ein Maler von dieſem Weltgefühl und dieſer Verklärungskraft auch 
im Holzſchnitt über das rein Handwerkliche hinaus nach höheren kuͤnſtleriſchen Werten ftrebt. 
In Vorwürfen, wie fie ihm alte Kirchen und Märkte, der Hamburger Hafen, ein bunter 
Papagei, das genieblitzende Antlitz Regers bieten, mag ihm das leicht gelingen. Die Stichprobe 
für feine Meiſterſchaft auf dieſem Gebiete ftellen aber die Induſ tri eholzſchnitte dar, die 
Bruͤckenförderwerke, Kohlenkrane und Kühlwerke der Leuna-Werke, der Eiſenbahnhof einer 
Großſtadt uff. Trotz aller verſtandesmäßigen Sachlichkeit ſchwingt dennoch in dieſen Blättern 
etwas Irrationales mit, jener unerklärbare Geiſt der modernen Technik, den eben nur der 
echte Kuͤnſtler ſichtbar machen kann. — 

Schniewind ſteht im 40. Lebensjahr, in der Vollkraft ſeines Schaffens. Man wird noch 
manche gute Arbeit von ihm erwarten dürfen. Dr. Konrad Dürre 


Joſeph Haas, ein deutſcher Künſtler 


Zu unſrer Muſikbeilage 


nter den ſüddeutſchen Tonkuͤnſtlern der Gegenwart ſteht Fofeph Haas wohl mit in vorderſter 

Reihe. Mehr und mehr haben die letzten Fabre feinen Namen in die Offentlidteit getragen 
mit ſteigendem Erfolg und wachſender Anerkennung. Er gilt als einer unſerer Beſten und 
Sympathiſchſten, und nicht mit Anrecht. So dürfte ein Wort der Einführung am Platze fein, 
denn mehr noch als in der Öffentlichkeit verdient er vor allem mit feiner intimen Kunſt in den 
Kreiſen häuslicher und geſelliger Muſikpflege Eingang und Beachtung. Und wenn die vitale 
Forderung unjerer künſtleriſchen Zukunft die Wiedergeburt muſikaliſcher Kultur aus dem Geiſt 
einer ernſten Haus muſikerneuerung erheiſcht, dann dürfen wir in Haas einen unfrer beſten 


Jofeph Haas, ein beutfher Rünftiee 531 


Freunde und Helfer erkennen. Die glüdlihe Verſchmelzung verfchiedenartiger Vorzüge läßt 
ihn dem Einfachen wie dem Anſpruchsvollen gleich anziehend erſcheinen; es iſt die Geſtaltung 
feiner Kunſt aus modernem Empfinden und höͤchſtentwickelter Kuͤnſtlerſchaft, zugleich aber auch 
die feſte, breite Verwurzelung im Boden der Volksſeele, aus dem die tiefſten und reichſten 
Quellen feines Schaffens fließen. Da herrſcht kein eigenwilliger Zwang erkluüͤgelnder Reflexion. 
Es iſtſüd deutſches Weſen, ſüͤddeutſche Art n reinfter Spiegelung, in glüdlichfter Geſtalt, über- 
ſtrahlt von warmer Herzlichkeit und ungeſchminkter Natürlichkeit. 

Unweit Dinkelsbühl, in Maihingen (Mittelfranken), einem Ort von kaum fünfhundert See 
len, erblickte er am 19. März 1878 das Erdenlicht. Wie beſcheiden auch hier die äußeren Ver- 
bdltniffe, die den heranwachſenden Knaben umgaben — das Glück war täglicher Gaſt, war die 
ungetrübte, unberührte Welt von Familie, Natur und Muſik. Inmitten dieſer Oreiheit verlebte 
er die denkbar glidlidfte Jugend, deren Wiederſchein fo oft die [päteren Werke mit einem ſtillen, 
heimlichen Leuchten durchgluͤht. Früh zeigte fic feine muſikaliſche Begabung und die erſten An- 
regungen verdankte er dem Elternhaus, wo allezeit eine ernſte, ausgedehnte Muſikpflege in 
Ehren ſtand. Alban Haas, von vortrefflicher muſikaliſcher Bildung und überdies in feiner Kantor 
ſchaft auch zum Organiſtendienſt verpflichtet, ſpielte mit Gewandtheit mehrere Inſtrumente, 
während Mutter Thereſe eine ſympathiſche Stimme beſaß, die fie dem Knaben vererbte und 
ihn als Achtzehnjaährigen unter Begleitung feines Vaters allein das Choralrequiem fingen ließ. 
Oennoch trotz früher Begabung war Haas nichts weniger als ein Wunderkind, er wuchs in nor; 
maler geſunder Entwicklung heran und fand mit ſeinem Talent bei den Eltern eine verftändige 
Unterſtützung. — Mehr wohl der Not gehorchend als der eignen Neigung ward Joſeph zum 
Lehrerberuf beftimmt; demgemäß fügte ſich der Gang feiner Studien: über Volksſchule und 
Spmnaſium zur Präparandenanftalt und Lehrerſeminar, überall zugleich auf die Fortbildung 
ſeiner muſikaliſchen Anlagen bedacht. Es folgten die erſten praktiſchen Lehrjahre, die Zeit der 
erſten Anſtellungen, oft nur von kurzer Dauer, von einem zum anderen Ort ihn verſchlagend, 
ſchließlich nach Augsburg (1898), wo er ein Jahr verweilend, gleichzeitig die ſtädtiſche Mufit- 
ſchule beſuchte und alle dienſtfreie Zeit benutzte, die perſönliche Neigung zu pflegen, um bald 
darauf nach München verſetzt, auch hier wieder das muſikaliſche Lernen fortzuſetzen und nebenher 
durch mehrere Semeſter hindurch muſikgeſchichtliche Vorleſungen an der Univerfität zu be- 
legen. Natürlich regte ſich auch der Komponiſt; mit der Begeiſterung des Schülers und An- 
fängers ließ er ein Werk dem anderen folgen, doch ohne Oruck und ohne Verleger, ſchnell wieder 
vergeſſen und wohl von keinem anderen Wert als dem der nützlichen Übung. So ging der erſte 
Abſchnitt feines Lebens zur Neige, die Zeit des Suchens, Ordngens und Strebens. Denn ohne 
die Schulpflichten zu vernachläffigen, fühlte er, wie allmählich der muſikaliſche Trieb die Über- 
macht in ihm gewann und ihn verlockte, die Laſt einer aufgezwungenen Lebensführung abzu- 
ſtreifen. Aber dazu genügte ihm das Erlernte noch nicht; er empfand das Un vollkommene und 
Züdenbafte einer Bildung, die in ihrer vielfach unterbrochenen, ungeregelten Aufnahme nur 
ein zerſplittertes Wiſſen vermitteln konnte, das notwendig des einheitlichen Ausgleichs und 
Abſchluſſes bedurfte. So drängte es ihn zunächſt, ſich der Zügel eines angeſehenen, erprobten 
Lehrers zu unterwerfen. 

Nach wiederholt vergeblichen Verſuchen gelang es ihm endlich, die perfönlide Bekanntſchaft 
Max Regers zu gewinnen, der ſchnell die Begabung des Volksſchu llehrers erkannte und ſich 
feiner annahm, um ihn hinfort in die feſte Zucht eines methodiſchen, tiefer dringenden Stu- 
diums (freilich von vorne beginnend) einzuführen. Damit nicht genug, folgte Haas bei Regers 
Leipziger Aderfiedlung ihm nach, um weiterhin den bereits als Wohltat empfundenen Einfluß 
und Unterricht zu genießen, wobei er zugleich als Schüler des dortigen Konſervatoriums fein 
muſikaliſches Weltbild verbreiterte und ſyſtematijch entwickelte. Preisgekrönt mit dem Nitifch- 
Stipendium (für beſte Kompoſitionsleiſtung) verließ er 1908 die Stadt und kehrte an den 
Münchner Volkskatheder zuruck, im alten Geleiſe der Pflichten, doch als ein anderer wie er ge- 


532 Sofeph Haas, ein deutſcher Flünftier 


gangen, ein Neuer und Hoffnungsvoller an der Schwelle höherer Künſtlerweihe. Und er über- 
ſchritt fie, als Max Pauer ihn 1911 auf Grund der erfolgreichen Uraufführung einer Violin 
ſonate (durch Profeſſor Wendling auf dem Stuttgarter Tonkuͤnſtlerfeſt) an das Württembergiſche 
Landeskonſervatorium berief. Das war der Tag der Erfüllung, der eigenen Freiheit und Be⸗ 
freiung aus unerträglich werdenden Banden. Ein neuer Lebenslauf begann. 

Gerade zehn Jahre war er in Stuttgart tätig, Namen und Anſehn begründend, dann rief ihn 
das bayriſche Mutterland an hervorragende Stelle der Münchner Staatsakademie und Hoch- 
ſchule für Muſik, wo er ſich in kurzer Zeit Verehrung und Hochachtung erwarb. Und jüngftens 
erſt, wohl nicht zuletzt dank feiner außergewöhnlichen Klarheit und Sicherheit feines Urteils, 
zog ihn die bayriſche Staatsregierung als Ratgeber heran, um ſich feine Kräfte auch in Dingen 
des ſtaatlichen Muſikweſens und der Kirchenmuſikpflege beider Konfeſſionen in weiteſtem Um- 
fange zu ſichern. 

Das find die äußeren Staffeln und Stufen ſeines Werdeganges, in denen der Künftler und 
Menſch zum Charakter reifte, um ſich in eigener Haltung zu bewähren. Es war ein beſonnenes, 
zielbewußtes Schreiten, nicht ſtürmiſch-ſprunghaft von nervös überreizter Haft. Und innerhalb 
dieſer Bahnen entfaltete ſich ſein Wachstum ſicher und feſt, weder wunderdinglich noch altklug, 
weder im Eigendünkel der Überhebung noch in ſtolzer Selbſtgenügſamkeit, ohne indes des 
ringenden, gärenden Kampfes zu entbehren, den jeder um Läuterung und Tiefe willen beſtehen 
muß. Stand er anfangs ganz im Banne von Richard Strauß. jo war es eine Gefolgſchaft, 
die mehr der Naivität jugendlicher Begeiſterung und Eroberungsluſt als techniſchem Können und 
innerer Befähigung oder gar tieferer Verwandtſchaft entſprang. Unvollkommen war ſeine 
muſikaliſche Bildung; es fehlte ihr noch die tiefere Durchdringung und höhere Einheit, folglich 
auch der lebendige Atem perſönlicher Eigenkraͤfte. Was er in dieſer Entwicklungsſpanne an Lie 
dern, Klavierſtücken, Motetten, Singſpielen, ja ſelbſt Symphoniſchen Dichtungen ſchuf, waren 
Verſuche, durch Nachahmung und Anlehnung beſchränkt, bald mehr, bald weniger glücklich, 
ſicherlich auch hie und da eine achtbare Talentprobe. 

Auch die zweite Entwicklungszeit ſteht noch im Zeichen eines anderen, nun freilich in ernſterer, 
befinnlicherer Weiſe. Haas wird Regerianer, und dieſe Gefolgſchaft follte für ihn Ausgangs- 
punkt der Entdeckung feines eigenſten Ich werden. Als Regerianer findet er, was ihm an höherer 
Reife und Vollendung bislang gebrach. Langſam löſen fic ſchlummernde, ungeahnte Kräfte, 
bis am Ende der Schüler die letzte Hülle durchbricht. So zeigen die erſten Werke dieſes Ab- 
ſchnittes naturgemäß des Lehrers Geiſt und Sprache, aber ſie ſind ſauber, beſtimmter und 
ſtraffer, klar und konſequent in der Durchführung eines einmal aufgenommenen Gedankens, 
nicht mehr abſchweifend, flüchtig und formlos. Allmähliche Verſuche einer Selbſtbefreiung 
tauchen auf, und wie aus unſcheinbaren Keimen heraus wächſt die Haasſche Natur, Ring um 
Ring, deutlich verfolgbar, um ſchließlich mit Glück den Bann zu ſprengen als Meiſter auf eignen 
Füßen. So verhalf die Studienzeit unter Reger zur eigentlichen Prägung feines Künftler- 
tums, Reger verdankte er den Gebrauch der Sprache, in der allein ſein Fühlen und Erleben 
den rechten, vollendeten Ausdruck finden konnte. Vielleicht kein anderer feiner Zeit hätte ihm 
das zu geben und lehren vermocht. Sein innerſtes Weſen, eben ſeine Muſikantennatur, verlangte 
nach der abſoluten Muſik, und gerade der von Reger beſchrittene Weg ihrer Erneuerung führte 
ihn dorthin. 

So zeigt ſich bei ihm das Regerſche Gut in eigner Weiſe wirkſam, ja erſcheint als organiſche 
Weiterführung in glüdlichfter Verſchmelzung mit Haasſcher Eigentümlichkeit. Denn bei aller 
Gemeinſamkeit beſteht ein unverkennbarer Gegenſatz, der durch grundlegende Verſchiedenheit 
ihres Weſens und Empfindens bedingt war. Reger haftet eine innere Problematik und YZwie- 
ſpältigkeit an, die zeitlebens nicht mehr von ihm wich oder doch fpät erſt einem Ausgleich 
nähertam, 

Haas dagegen ftebt jeder Zwieſpältigkeit fern; ungebrochen, durch keine Feſſeln der Skepſis 


Zoſeph Haas, ein deutſcher Rünftler 583 


und des Perfimismus beengt, erſcheint feine Muſikantennatur in unverwüſtlicher Kraft und 
Friſche, frei und froh bis zum Übermut, aber auch wieder ernſt, tief ernſt in unverſtellter, ebr- 
licher Empfindung. Das macht ſeine Kunſt ſo liebenswert und warm. Hier lacht eine goldne 
Lebensfreude, ein herzhaft-ſonniger Humor, eine ſinnenfrohe Weltbejahung mit jener naiven, 
echten Urwüchſigkeit, die Heimat und heimatliche Volksart getreulich widerſpiegelt, bald derb 
und kräftig, bald ſchalkhaft und ſchelmiſch oder verſonnen und verträumt wie ein Blick aus der 
ſelig blauen Tiefe eines Kinderauges, wie ein Lockruf aus deutſchem Märchenwald mit all ſeinen 
ſpukenden Geſtalten, Kobolden und Geiſtern. Es bleibt eines der ſchönſten Eigenmale Haasſcher 
Kunſt, daß ſo bei all ihrer abſoluten, kammermuſikaliſchen Erleſenheit und Edelkultur doch ſtets 
ein ſchlichter, volkstümlicher Grundton mitſchwingt, der fie auch dem Einfachſten verſtändlich und 
zuganglich macht. Dieſer lebendig quellende Strom eines tief und reich veranlagten Gemütes 
bewahrt vor äjthetifcher Spielerei und abwegigen Launen. Bei allem Reichtum an Witz und 
Geiſt, an Mannigfaltigkeit und Vielgeſtaltigkeit atmet dieſe Kunſt ihrer innerſten Seele nach 
Einfachheit, Beſcheidenheit und Natürlichkeit. Mit den kleinſten Mitteln weiß Haas Lichter auf- 
zuſetzen, die in ungetrübter, warm durchleuchteter Helle funkeln. Erſtaunlich die Sicherheit der 
Geſtaltung, die in der Fülle überfprudelnder Gedanken und Einfälle ſich nicht mit flüchtiger 
Verkittung begnügt, aber auch nicht im Detail unterliegt, ſondern maßvoll mit ebenſo großer 
Hingabe als Selbſtzucht waltet ſtets in Unterordnung und Rückſicht auf das Ganze. Nichts aber 
foll nur billiges Füllwerk und ſtumpfe, reizloſe Nebenſächlichkeit fein. Wer einmal die oft · un- 
ſcheinbaren Schlüͤſſe (etwa der unübertroffenen „Hausmärchen“, „Geſpenſter“ und „Wichtel 
mannchen“ oder der Zyklen „Deutſche Reigen und Romanzen“, „Schwänte und Zdyllen“ für 
Klavier) aufmerkſam verfolgt, der wird ſtaunen, wie da in wenigen Takten auf kleinſtem Raum 
ein eignes Leben erblũht und nicht in einem konventionellen Schlußakkord erſtarrt. Das iſt Poeſie, 
muſikaliſche Oichtkunſt, die ihren Reiz weniger von der Farbe als vor allem von der Linie und 
Zeichnung empfängt. 

So vermag dieſe Kunſt auch in ihrer Wirkung Geift und Gemüt zu feſſeln; fie läßt das eine 
nicht auf Koſten des anderen leer verkümmern. Darin liegt ein Hauptreiz der Haasſchen Kam- 
mer- und Hausmuſik, die immer mehr gewinnt, je tiefer man ſich in ſie verſenkt; je intimer 
und unmittelbarer ihre Aufnahme, deſto reicher die Entfaltung ihrer Feinheit und lebendigen 
Kraft! Diefe Kunſt ſchielt und lauert nicht auf rauſchenden Beifall, auf Effekt und Erfolg; fie 
verlangt Liebe und liebevolle Hingabe, da aber wird ſie ein Born der Freude, der Erhebung 
und Erholung ſein, urgeſunde, urdeutſche Muſik! 

Haas hat uns eine ſtattliche Fülle dieſer köſtlichen Gaben geſchenkt, dennoch wäre es durchaus 
verfehlt, wollte man in ihm nur einen Meiſter der intimen Kunſt, einen Kammermuſiker und 
„Hauspoeten à la Spitzweg“ erkennen. Gerade der letzte Vergleich iſt nicht ſehr glücklich gewählt 
und hat vielfach ſchiefe Anſchauungen erweckt. Der intimen, kammermuſikaliſchen Kunſt gehört 
nur eine, wenn auch bislang die überragende Hälfte ſeines Schaffens. Wir haben ſie hier in 
den Vordergrund geſtellt, einmal ihrer Verbreitung wegen, dann aber insbeſondere, weil die 
fünftlerifch-ernfte Erneuerung unferer Hausmuſikpflege alle anderen Fragen muſikaliſcher Kultur 
an Bedeutung und entſcheidender Tragweite für unſre Zukunft übertrifft, und darum das, was 
dieſem Geiſte dient, in bevorzugtem Maße unſere Beachtung beanſprucht. Schließlich wird der 
Künftler, der durch feine intime Kunſt in Kammer- und Hausmuſik unſre Liebe und Zuneigung 
genießt, auch mit ſeinen großen Schöpfungen ein weitaus leichteres Verſtändnis und ernſteres 
Intereſſe finden, als es lediglich durch vereinzelte Konzertaufführungen möglich iſt. Haas aber 
bat in größerem und großem Rahmen nicht minder Hervorragendes geleiſtet, ja feine neuere 
Entwicklung ſcheint ihn ſtärker als zuvor nach dieſer Seite hinzudrängen. Fiel ſchon vor Jahren 
ein Werk wie die Konzertſonate in A-Moll (für Klavier) durch die unerhörte Wucht und Kühn⸗ 
beit feiner Sprache auf, fo zeigt jetzt eben auch die jüngſte Schöpfung, eine Variationen Suite 
über ein altes Rokoko Thema, wie ſehr diefer Künftler als ſicherer Beherrſcher und Geſtalter 


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536 Turmers Tagebuch 


Immerhin iſt England die einzige Feindesmacht, die einen Hauch des vielge- 
rühmten Locarnogeiſtes verſpüren läßt. Wer traut hingegen einem Briand über 
den Weg, trotz feiner Liebenswürdigkeiten in der Weinlaube von Ascona? Jit es 
wirklich fo, daß er perſönlich die Belegziffern der zweiten und dritten Zone gerne 
verringern möchte, allein an dem Starrſinn der Generale ſcheitert? Es könnte ſein, 
daß er ſich nur allzu gerne hindern läßt. Seine Gentlemans-Zuſagen haben von 
vornherein einen wenig gentlemaniſchen Doppelſinn und Doppelboden beſeſſen. 

Locarno hat die Franzoſen gegen unſren Angriff geſichert. Was behält die Be- 
ſetzung dann noch für einen logiſchen Sinn? Im vorigen Tagebuch verglich ich 
unſren Eintritt in den Völkerbund demjenigen Frankreichs in die heilige Allianz. 
Damals gaben die ruſſiſchen, öſterreichiſchen und preußiſchen Truppen die beſetzten 
Gebiete ſofort frei. Nichts war folgerichtiger. Wenn man einander in die Rechte 
verſpricht, Frieden zu halten, dann iſt's Tücke, wenn die Linke derweil in der Rock 
taſche heimlich die Piſtole entſichert. 

General Walch, der Vorſitzende der Überwahungstommiffion, in den Klein- 
ſeherkünſten des Federchenſuchens und Härchenſammelns feit Jahren bis zur 
Meiſterſchaft bewandert, hat wieder einen dicken Bericht eingeſandt, wonach Deutſch⸗ 
land mit feiner Abrüftung im ſtärkſten Rückſtand fei. Das bedinge eine beträchtliche 
Verlängerung ſeines und ſeiner Mitarbeiter Berliner Aufenthaltes. Dieſe Herren 
von der Kommiſſion werden hoch bezahlt und ſehen daher dem Erlöſchen ihrer 
Obliegenheit mit geſchäftsmänniſchen Schmerzen entgegen. Von welchen Nidtig- 
keiten doch unſer Schickſal heutzutage abhängt! Man hat geſagt, die Weltgeſchichte 
wäre anders gelaufen, wenn Kleopatra eine Warze im Geſicht gehabt hätte: denn 
dann hätte bei Actium mutmaßlich Mare Anton gefiegt. Vielleicht würde auch uns 
der gute Wille endlich befcheinigt, wenn man die Gehälter dieſer Nutznießer unfres 
vorgeblich böſen Willens friſchweg auf die Hälfte verminderte. 

Noch ſchwerer als die Kontrollkommiſſion werden wir natürlich die Beſatzungen 
der zweiten und dritten Zone los. Und doch wäre dies, wie auch der Lord Parmoor 
in der Pariſer „Volonté“ anerkennt, nach Locarno nicht weniger als ſelbſtver⸗ 
ſtändlich. Sogar in Verſailles, wenige Tage, bevor man uns den Schmachfrieden 
aufzwang, am 16. Juni 1919 nämlich, unterſchrieben Wilſon, Lloyd George und 
Clemenceau eine gemeinſame Erklärung zum Artikel 431 des Friedensvertrages, 
daß, wenn Deutſchland guten Willen zeige, brav erfülle und Bürgfchaften gebe, 
die Beſatzungen früher zurückgezogen werden könnten. Heute ſchweigt man dieſes 
Aktenſtück tot und will ſich auf nichts einlaſſen. Auf welcher Seite lauert denn da 
der böſe Wille? 

Der bayeriſche Miniſterpräſident Held verweiſt darauf, daß die zähe franzöſiſche 
Rheinlandpolitik ſich jetzt auf die Pfalz verlegt. Es werden dort die Belegſchaften 
vermehrt; in Diedenhofen und Hinterbronn aber harrt das erkaufte Separatiſten- 


geſindel neuer Winke. Offenbar hofft man, wenn nicht mehr auf den ganzen Rhein, 


ſo doch immer noch wenigſtens auf das Vorgelände Elſaß Lothringens. Je deutlicher 
dies wird, deſto mehr muß aber jedes Vertrauen auf redliche Abſichten Frankreichs 
ſchwinden. Nicht nur bei uns. Parmoor nannte bereits Locarno einen neuen Betrug 
in der langen Kette von Täuſchungen, die mit Wilſons vierzehn Punkten begannen. 


Zürmers Tagebuch 537 


Wie eine Vogelſcheuche mutet es an, daß neben England als Bürge für unfre 
Rheinbelange und für den Locarno-Geiſt auch Benito Muſſolini unterſchrieben hat. 

Der Mann wird immer merkwürdiger; beim Studium ſeines Weſens treffen ſich 
der Politiker, der Geſchichtsforſcher und der Nervenarzt. Den einen intereſſiert der 
Charakter an ſich, der offenbar zwiſchen Genie und ZIrrſinn pendelt, wobei noch 
zweifelhaft, bei welchem von beiden er endet. Die anderen ſeine Wirkung auf die 
Seele des Volkes, die gerade wegen des pathologiſchen Einſchlags deſto ſtärker 
ift und daher verhängnisvoll werden kann für die Zukunft Europas. Dadurch ge- 
winnt man neue Geſichtspunkte, ſowohl für die Geſchichte, die nichts iſt als ge- 
ronnene Politik, wie auch für die Politik, dieſes Gefäß voll flüſſiger Geſchichte. 

Ich bekenne herzhaft, daß ich Muſſolinis Auftreten begrüße. Es iſt durchaus zum 
Beſten der armen Südtiroler. Hätte er dort ſtill aber zäh gearbeitet, deren Hilfe- 
rufe wären wie zwiſchen Polſterwänden erſtickt. Ganz wie damals, als man 
jie, ohne ihren Willen zu hören, an Italien gab. Jetzt aber ſchaut die ganze Welt 
nach dem Brenner, und die engliſche Preſſe tobt. Sie nennt Muſſolini einen tollen 
Hund und einen hyſteriſchen Feuerfreſſer. Das wird zwar niemals den Völker- 
bund bewegen, ſeine ſatzungsgemäße Pflicht zugunſten der Minderheiten zu tun. 
Denn England braucht Italien zu nötig gegen die Türken, und Frankreich freut ſich 
über alles, was gegen das Deutſchtum geht. Aber in Amerika droht der Senat 
mit der Ablehnung des ſehr günftigen italieniſchen Schuldenabkommens, das der 
ſchlaue Volpi in Waſhington erſchlich. So könnte der moraliſche Druck auf Rom 
gleichwohl ſo hoch werden, daß er die Gepeinigten doch noch entlaſtet. 

Italien war es, das in Cäſar, den Renaiſſancegeprägen und Napoleon die Muſter 
zum Übermenſchen jenfeits von Gut und Böfe entwickelte. Muſſolini hielt fi offen- 
bar für den Mann, der dieſe Lifte zu vergrößern beſtimmt fei. Durch feine un- 
geheure Willenskraft, die zu raſchen Erfolgen führte, geblendet, konnten auch andere 
es glauben. Aber gerade die letzten Wochen haben ſchwer enttäuſcht. Nichts an ihm 
erinnert an jene Borgia Naturen, in denen der Böſewicht ſich fo geiſtvoll, jo ge- 
pflegt, ſo durchgebildet und anmutig zu geben verſtand, daß man nicht weiß, ob 
man bewundern oder ſchaudern ſoll. Muſſolini iſt von alledem nur ein Zerrbild. 
Die Grazien ſind völlig ausgeblieben. Der Duce iſt immer noch der Proletarier, als 
welcher er in das politiſche Leben eintrat; er ſcheint Plumpheit für politiſche Me- 
thode zu halten, und wenn er fo herauspoltert, was Italien erſtrebe und von jedem 
Nachbarn fordern miiffe, dann denkt man an jenes Wort, das in den Tagen zwiſchen 
Tilſit und Leipzig, als Napoleon auf ſeiner Höhe ſtand, Blücher zu ſagen pflegte, 
ſo oft er von einem neuen Erfolg des Korſen hörte: „Ein dummer Kerl iſt er doch.“ 
„Nicht Cäſar, nur Caligula“, jo wurde er jüngft im Reichstage genannt. Vielleicht 
wäre der Gerber Kleon die befte Vergleichsfigur aus der Geſchichte. Der gewaltige 
demagogiſche Einſchlag ſeines Weſens iſt es, der ihn ſo gefährlich macht. Bei dem 
leicht entflammten, phantaſiereichen Volke führt er, ſofern nicht beizeiten abgeſtoppt 
wird, Italien und, falls dieſes darüber einen Amoklauf antreten follte, noch allerlei 
Nachbarländer obendrein, unter Umſtänden vielleicht ganz Europa in den Abgrund. 

Schaut und lernt! Zieht Schlüſſe aus dem, was ihr ſeht und berichtigt euer 
Denken nach der Erfahrung! Muſſolini iſt für ſich allein ſchon ein vollſtändiger 


— — —— — ä —— —g— — 2 — — rn —— — — — — — — — — — 


540 Türmers Tagebuch 


Matroſen taten, hat es in den Abgrund geſtürzt. Dante würde die Täter in ſeine 
Eishölle ſtoßen; in jene Giudecca, wo Satan den Judas Ffchariot für den Verrat 
am Heiland in ſeinem fürchterlichen Maule ewig aufs neue zerfleiſcht! 

Hinter dem Reichstag will das Preußenhaus nicht zurückbleiben. Es hat daher 
eine Femekammer aufgemacht, oder wie es amtlich heißt, einen „Unterfuhungsaus- 
ſchuß zur Aufklärung der Beziehungen zwiſchen Fememorden, deutſchnationalen 
Abgeordneten und Arbeitgeberverbänden“. Hier iſt Kuttner Berichterſtatter, einſt 
der Führer der revolutionären Soldateska Berlins, alſo gleichfalls eine höchſt finn- 
voll auserkorene Perſönlichkeit; und worauf es hinaus will, das verrät der be- 
zeichnende Name. Dieſe Fememorde, die jetzt aufgedeckt werden, ſind wahrlich 
ein ſchauderhaftes Zeichen deutſcher Seelen verwilderung in der Nachkriegszeit. Es 
erſchüttert um fo tiefer, weil es ſittliche Zerſetzung auch dort verrät, wo man bis- 
her noch den guten alten geſunden deutſchen Geiſt vorausſetzte. Ein Teil der Fälle 
hat bereits ſeine Sühne gefunden; die anderen abzuurteilen, iſt Sache der Gerichte, 
und zwar der Gerichte ganz allein. Dieſes Richterſpielenwollen von gänzlich Un- 
berufenen hingegen iſt eine furchtbare Gefahr, wogegen jeder Einſpruch erheben 
muß, der es wohl meint mit dem Vaterlande. Denn es führt zur Konventsherr- 
ſchaft und durch ſie in den Abgrund. 

Die deutſche Seele iſt krank. Viel kränker, als wir glaubten. Vor unſren Augen 
entſchleiern ſich erſchreckende Beweiſe. Es iſt wie nach dem Dreißigjährigen Krieg; 
aus gleicher Urſache entſpringt gleiche Wirkung. Und wie damals können unſre 
Paſtoren beten: „Herr, komme herab, ehe denn dein Volk ſterbe“. F. H. 


(Abgeſchloſſen am 19. Februar) 


Zürmers Tagebuch 537 


Wie eine Vogelſcheuche mutet es an, daß neben England als Bürge für unfre 
Rheinbelange und für den Locarno-Geiſt auch Benito Muſſolini unterſchrieben hat. 

Der Mann wird immer merkwürdiger; beim Studium ſeines Weſens treffen ſich 
der Politiker, der Geſchichtsforſcher und der Nervenarzt. Den einen intereſſiert der 
Charakter an ſich, der offenbar zwiſchen Genie und Irrſinn pendelt, wobei noch 
zweifelhaft, bei welchem von beiden er endet. Die anderen ſeine Wirkung auf die 
Seele des Volkes, die gerade wegen des pathologiſchen Einſchlags deſto ſtärker 
iſt und daher verhängnisvoll werden kann für die Zukunft Europas. Dadurch ge- 
winnt man neue Geſichtspunkte, ſowohl für die Geſchichte, die nichts iſt als ge- 
ronnene Politik, wie auch für die Politik, dieſes Gefäß voll flüſſiger Geſchichte. 

Ich bekenne herzhaft, daß ich Muſſolinis Auftreten begrüße. Es iſt durchaus zum 
Beſten der armen Südtiroler. Hätte er dort ſtill aber zäh gearbeitet, deren Hilfe- 
rufe wären wie zwiſchen Polſterwänden erſtickt. Ganz wie damals, als man 
jie, ohne ihren Willen zu hören, an Italien gab. Jetzt aber ſchaut die ganze Welt 
nach dem Brenner, und die engliſche Preſſe tobt. Sie nennt Muſſolini einen tollen 
Hund und einen hyſteriſchen Feuerfreſſer. Das wird zwar niemals den Völker- 
bund bewegen, feine ſatzungsgemäße Pflicht zugunſten der Minderheiten zu tun. 
Denn England braucht Italien zu nötig gegen die Türken, und Frankreich freut ſich 
über alles, was gegen das Deutſchtum geht. Aber in Amerika droht der Senat 
mit der Ablehnung des ſehr günſtigen italieniſchen Schuldenabkommens, das der 
ſchlaue Volpi in Waſhington erſchlich. So könnte der moraliſche Druck auf Rom 
gleichwohl ſo hoch werden, daß er die Gepeinigten doch noch entlaſtet. 

Italien war es, das in Cäſar, den Renaiſſancegeprägen und Napoleon die Muſter 
zum Übermenſchen jenfeits von Gut und Böſe entwickelte. Muſſolini hielt ſich offen- 
bar für den Mann, der dieſe Lifte zu vergrößern beſtimmt fei. Durch feine un- 
geheure Willenskraft, die zu raſchen Erfolgen führte, geblendet, konnten auch andere 
es glauben. Aber gerade die letzten Wochen haben ſchwer enttäuſcht. Nichts an ihm 
erinnert an jene Borgia Naturen, in denen der Böſewicht ſich fo geiſtvoll, fo ge- 
pflegt, ſo durchgebildet und anmutig zu geben verſtand, daß man nicht weiß, ob 
man bewundern oder ſchaudern ſoll. Muſſolini iſt von alledem nur ein Zerrbild. 
Die Grazien ſind völlig ausgeblieben. Der Duce iſt immer noch der Proletarier, als 
welcher er in das politiſche Leben eintrat; er ſcheint Plumpheit für politiſche Me- 
thode zu halten, und wenn er fo herauspoltert, was Stalien erſtrebe und von jedem 
Nachbarn fordern miiffe, dann denkt man an jenes Wort, das in den Tagen zwiſchen 
Tilſit und Leipzig, als Napoleon auf ſeiner Höhe ſtand, Blücher zu ſagen pflegte, 
ſo oft er von einem neuen Erfolg des Korſen hörte: „Ein dummer Kerl iſt er doch.“ 
„Nicht Cäſar, nur Caligula“, ſo wurde er jüngſt im Reichstage genannt. Vielleicht 
wäre der Gerber Kleon die beſte Vergleichsfigur aus der Geſchichte. Der gewaltige 
demagogiſche Einſchlag ſeines Weſens iſt es, der ihn ſo gefährlich macht. Bei dem 
leicht entflammten, phantaſiereichen Volke führt er, ſofern nicht beizeiten abgeſtoppt 
wird, Italien und, falls dieſes darüber einen Amoklauf antreten ſollte, noch allerlei 
Nachbarländer obendrein, unter Umständen vielleicht ganz Europa in den Abgrund. 

Schaut und lernt! Zieht Schlüſſe aus dem, was ihr ſeht und berichtigt euer 
Denken nach der Erfahrung! Muſſolini iſt für ſich allein ſchon ein vollſtändiger 


538 Ctirmers Tagedud 


Lehrgang praktiſcher Politik. Unſere Völkiſchen hatten vergeſſen, wie frevelhaft 
dieſer Mann im Fabre 1915 fein Volk in Treubruch und Krieg gegen uns gehetzt; 
ſie träumten ſich in ihm einen verſtohlenen Helfer zurecht. Nun ſehen ſie, daß Fuchs 
auch dann Fuchs bleibt, wenn ſein Balg die Haare wechſelt. Kann es anders ſein? 
Nationalismus iſt jedem Nationalismus feind; wo der Welſchfaſziſt auf den Deutſch⸗ 
faſziſten ſtößt, da ballen ſich die Fäuſte, und ſie ringen um das Recht des ſtärkeren 
Volkstums. 

Noch ſchlimmer werden freilich die Sozialdemokraten enttäuſcht. Schon lange 
haſſen ſie in Muſſolini den abtrünnigen Genoſſen; daher ihr grenzenloſes Mitleid 
mit den ſonſt fo weſensfremden Südtirolern. Dieſer lombardiſche Gewaltwiiterid 
ſchlägt aber auch alle ihre Sehnſuchtsbilder ſchonungslos in Scherben. Parlamen- 
tarismus und Demokratie liegen bereits zertrümmert; nun muß man auch noch 
am Pazifismus verzweifeln. 

Erweiſt nicht Muſſolinis ſchreihälſiges Quos ego, daß auch der Frömmſte nicht 
kann in Frieden bleiben, wenn es dem böſen Nachbar nicht gefällt? Hat die Kuh 
den Schwanz verloren, dann merkt fie erſt, wozu er gut war. Wir wurden an- 
geraunzt, nicht trotzdem, ſondern weil wir abgerüftet find. 

Und endlich der Völkerbund! Muſſolini hat für Genf nichts als Götz von Ber- 
lichingenſche Anſinnen, gleichwohl empfängt er regelmäßig die höfliche Gegen- 
einladung in einen von den feds fo begehrten Ratsfeffeln. Er hat den Satzungen 
ins Geſicht geſpien, aber der römiſche Senat jubelte ihm zu; die Prinzen, Annun- 
ziatenritter, Präfekten, Biſchöfe und Geiſtesgrößen desſelben Italiens, das doch 
auch ein Genfer Gründerſtaat ift.., 

Womit der eine gekocht iſt, damit iſt der andere gebrüht. Zettelt nicht zugleich 
Frankreich die nichtswürdigſten Bündeleien? Mehr übel als wohl hat es uns 
einen Ratsſitz zugeſagt. Nun will es hintenherum wieder nehmen, was es vorn 
gab. Damit unſer Einfluß den ſeinigen nicht ſchwächt, ſollen Polen, Spanien, 
Braſilien auch in den Rat. 

Abermals dreht es uns damit ein Locarno-Wort im Munde herum und aber- 
mals erkennt man einen der berüchtigten Advokatenkniffe jenes Herrn Briand, 
deſſen Vorname Ariſtide dem atheniſchen Vorgänger ſo ſchreiende Unehre macht. 
Was wir vollwichtig erkauften, ſoll uns auf die Hälfte entwertet, was wir in Gold- 
franken erwarten durften, in Inflationsſcheinen bezahlt werden. 

Das ſchafft eine verteufelt ernſte Lage. Wir werden deutſch zu reden haben in 
Genf. Aber auch lateiniſch in Berufung auf die Treu und den Glauben des „rebus 
sic stantibus“ aus dem römiſchen Rechte. Dringt dies nicht durch, dann ziehen 
wir unfer Wort zurück und bleiben dieſer G. m. b. H. fern, die ſich wieder einmal 
als die Geſellſchaft mit böſen Hintergedanken bloßſtellt. Wo Diplomaten, da Ranke; 
man weiß es nicht anders. Allein nirgends werden mehr Hintertreppen beſchlichen, 
mehr Gruben gegraben und mehr Fallen geſtellt, als gerade in dieſem Völkerbunds⸗ 
rat, gegründet „zur Pflege gegenſeitigen Verſtändniſſes“. 

Solche immer neuen Erfahrungen machen illuſionslos. Nichts ſchwerer über- 
haupt, als Politiker zu fein und Idealiſt zu bleiben. Unfere beſten Staatsmänner 
packte zuzeiten die Berufskrankheit kalter Weltverachtung. Bitter ſagte Bismarck, 


Zürmers Tagebuch 539 


wir alle ſeien Menſchen nur bis übers Knie, dann aber fange gleich das Luder an; 
Friedrich der Große mahnte in ſeinem politiſchen Teſtamente den Nachfolger, nie 
zu vergeſſen, welcher gottverfluchten Raſſe wir angehörten. 

Draußen ſucht Volk dem Volke zu ſchaden, drinnen nicht minder böſe, ja boshaft, 
Partei der Partei. 

Gegen den Unfug der parlamentariſchen Unterſuchungsausſchüſſe hat der „Tür- 
mer“ ſchon früher ſein Mahnwort eingeſetzt. Sie behaupten, klären zu wollen, 
allein fie verdunkeln nur; fie legen nicht bei, ſondern verhetzen die Öffentlichkeit 
im ſchnöden Parteiintereſſe. Sie ſind Wahlmachenſchaften auf Reichskoſten; ſonſt 
nichts. 

So wurden jüngſt die Verhältniſſe in unſerer Kampfflotte kurz vor dem Um- 
ſturz auf den Tiſch des Hauſes gebreitet. Einſtimmig hatte der Ausſchuß den Ge- 
noſſen Dittmann zum Berichterſtatter beſtellt. Die beteiligten Vertreter der Rechts- 
parteien müffen kindlichen Gemütes fein. Denn Dittmann war zum mindeſten 
Mitwiffer, wenn nicht Mitanftifter und Mitſchuldiger an den Meutereien, worüber 
er ein unbefangenes Bild geben ſollte. War das nicht, als ob Poincaré nach Genf 
berufen würde zu einem Gutachten über die Schuld am Kriege? 

Was dabei herausſprang, das war naturgemäß die einſeitigſte Parteigehäſſig- 
keit, die überdies noch den dreiſten Verſuch machte, als amtliche Denkſchrift zu 
laufen. Eine Woche lang ſchrie die ſozialdemokratiſche Preſſe Zeter über entſetz⸗ 
liche Juſtizmorde an zwei „ſtandrechtgemeuchelten“ Opfern eines irrſinnigen Mili- 
tarismus. Großberliner Stadtväter von zinnoberroter Wollfärbung beſchloſſen eine 
Reidpiefd- und eine Sachſe- Straße. Aus der Matrofenmeuterei wurde unter un- 
flätigen Beſchimpfungen unfrer Seeoffiziere mit behender Taſchenſpielerkunſt eine 
„Meuterei der Abmirale“. 

Prinz Max von Vaden, der letzte kaiſerliche Reichskanzler, hatte nämlich erklärt, 
ihm ſei der Oktoberplan eines verzweifelten, großen Flottenſtoßes gegen die engliſche 
Küſte nicht bekannt geweſen. Alſo, ſo folgert Dittmann, waren unſre Seeſtrategen 
Verbrecher, die Heizer aber, die ſich weigerten und die Feuer aus den Keſſeln 
riſſen, Retter des Vaterlandes. Vierzehn Tage ſpäter machten ſie freilich nach der 
kleinen Revolution gegen die Admirale die große gegen denſelben Reichskanzler; 
aber daran denken die Herren Splitterrichter in ihrem bewußten Phariſäertume 
lieber nicht. 

Prinz Max hat übrigens noch mehr geſagt. Nämlich, daß er, wäre er gefragt 
worden, den Angriff gutgeheißen hätte. Es wäre allerdings ein Wagnis geweſen, 
allein ein Sieg hätte dem deutſchen Volke einen gewaltigen Auftrieb zum Durch- 
halten gebracht. Dies alles habe die Matroſenmeuterei durchkreuzt und dadurch 
„ber nationalen Verteidigung das Rückgrat gebrochen“. 

Damit erhebt ſich aufs neue der furchtbare Vorwurf vom Dolchſtoß, und zwar 
aus dem Munde des damals maßgebenden Kanzlers. Allein die Schreier, die jenes 
andere Wort von ihm zu Tode hetzen, indem ſie eine Formfrage zur Schandtat 
ſtempeln, werfen dieſes unter den Tiſch und machen den dümmſten Frevel der 
Weltgeſchichte zu einem preislichen Verdienſt. Was die Admirale wollten, war 
eine Yorktat, wie die von Tauroggen, und konnte das Vaterland retten; was die 


540 Zlirmers Tagebuch 


Matrofen taten, hat es in den Abgrund geſtürzt. Dante würde die Täter in feine 
Eishölle ſtoßen; in jene Giudecca, wo Satan den Judas Fſchariot für den Verrat 
am Heiland in ſeinem fürchterlichen Maule ewig aufs neue zerfleiſcht! 

Hinter dem Reichstag will das Preußenhaus nicht zurückbleiben. Es hat daher 
eine Femekammer aufgemacht, oder wie es amtlich heißt, einen „Unterfuchungsaus- 
ſchuß zur Aufklärung der Beziehungen zwiſchen Fememorden, deutſchnationalen 
Abgeordneten und Arbeitgeberverbänden“. Hier iſt Kuttner Berichterſtatter, einſt 
der Führer der revolutionären Soldateska Berlins, alſo gleichfalls eine höchſt finn- 
voll auserkorene Perſönlichkeit; und worauf es hinaus will, das verrät der be- 
zeichnende Name. Dieſe Fememorde, die jetzt aufgedeckt werden, ſind wahrlich 
ein ſchauderhaftes Zeichen deutſcher Seelenverwilderung in der Nachkriegszeit. Es 
erſchüttert um fo tiefer, weil es ſittliche Zerſetzung auch dort verrät, wo man bis 
her noch den guten alten geſunden deutſchen Geiſt vorausſetzte. Ein Teil der Fälle 
hat bereits ſeine Sühne gefunden; die anderen abzuurteilen, iſt Sache der Gerichte, 
und zwar der Gerichte ganz allein. Dieſes Richterfpielenwollen von gänzlich Un- 
berufenen hingegen iſt eine furchtbare Gefahr, wogegen jeder Einſpruch erheben 
muß, der es wohl meint mit dem Vaterlande. Denn es führt zur Konventsherr- 
ſchaft und durch ſie in den Abgrund. 

Die deutſche Seele iſt krank. Viel kränker, als wir glaubten. Vor unſren Augen 
entſchleiern ſich erſchreckende Beweiſe. Es iſt wie nach dem Dreißigjährigen Krieg; 
aus gleicher Urſache entſpringt gleiche Wirkung. Und wie damals können unſre 
Paſtoren beten: „Herr, komme herab, ehe denn dein Volk ſterbe“. F. H. 


(Abgeſchloſſen am 19. Februar) 


Auf der Warte 


Waſſermann fagt nun zu der Plagiat-An- 
ſchuldigung: „Ich habe dieſe Arbeit als Stu- 
die für einen großen Kulturroman unter- 
nommen, hatte aber den Plan dann aufge- 
geben und dieſe Studie als ſolche in der dichte 
riſchen Form einer fiktiven Chronik veröffent- 
licht. Ich konnte mir um ſo weniger denken, 
daß die Benutzung Prescotts unbemerkt blei- 
ben würde, als dieſes Werk die klaſſiſche, ja 
faſt einzige Darſtellung jener Epoche iſt. — 
Wäre es nicht eine Trivialität, würde ich mich 
auf Goethe berufen und feine Äußerungen 
über Plagiatſchnuͤffelei und Plagiatbezichti- 
gung . . ich wollte einen bereits mit ſicherer 
Hand gezeichneten hiſtoriſchen Vorgang ein- 
fach nachzeichnen.“ 

Zu gleicher Zeit deckt der „Magdeb. Gen. 
Anz.“ in feiner Nummer vom 3. Januar eine 
andere lehrreiche „Benutzung“ auf. Der Ora- 
maturg der Magdeburger Städtiſchen Bühne, 
Dr. Harald Güthe, zeichnet in Heft 7 der 
Theaterbläͤtter einen Aufſatz „Strindberg“ mit 
ſeinem Namen, vergißt aber hinzuzufügen, 
daß — wie im Falle Waſſermann mit ge- 
ringen Stilverſchwulſtungen — Wort für Wort 
bereits Albert Soergel in ſeiner neuen Folge 
der „Dichtung und Dichter der Zeit“ ge- 
ſchrieben hat. 

Der Theaterbeſucher ſchleppt natürlich nicht 
den dicken Soergel in der Taſche herum, und 
ein Waſſermannſcher Novellenleſer kennt nicht 
die amerikaniſchen Geſchichtsſchreiber, am 
wenigſten im Urtext. Es iſt alſo 99 zu 100 zu 
wetten, daß man getroſt plündern kann, ohne 
Gefahr, entdeckt zu werden. Und da dieſe Ge- 
fahr nicht beſteht, wozu ſoll man den eigent- 
tichen Urheber der huͤbſchen Idee, des präd- 
ligen Stoffes nennen! Der eigene Name tut's 
beſſer. 

„In meinem Fall galt es nicht, eine Armut 
zu verſchleiern, daran wird niemand zweifeln, 
der meine Schriften kennt, noch weniger war 
die Lockung vorhanden, mich mit fremden 
Federn zu ſchmücken, noch dazu ſo leicht 
erkennbaren“ — ſagt Waſſermann mit dem 
ganzen Bruſtton der Entrüſtung und in An- 
erkennung ſeines eigenen literariſchen Wertes. 

Nein, Herr Jakob Waſſermann, ſo ſteht's 
denn doch nicht! Diefer Diebſtahl iſt eben für 

Der Tlirmer X XVIII, 6 


545 


deutſche Leſer nicht leicht erkennbar. Weshalb 
gaben Sie denn nicht dem Vorgaͤnger die 
Ehre, zum mindeſten in einer Fußnote auf 
die Quelle hinzuweiſen? Aber — und das iſt 
das traurige Symptom unſerer Zeit: Dieb- 
ſtahl in jeglicher Art wird als unanſtändig im 
neuen Deutſchland gar nicht empfunden. 
Worte wie Anſtand oder Würde oder Ehr- 
furcht find ein unbekannter Begriff ge- 
worden. Die aufgeſtochene Barmat-Kutisker- 
Beule, die politiſchen Skandale ſtinken zum 
Himmel; bis in das kleinſte Neſt ſpülen die 
unſauberen Wogen einer heuchleriſchen, durch 
und durch verlogenen Zeit, an der nichts mehr 
geſund iſt. | 

Für Verleger und Schriftleitungen, die noch 
Wert darauf legen, zu der alten guten Garde 
zu gehören, bei der das Wort von Treu und 
Redlichkeit noch Geltung hat, ſollten dieſe 
„Benutzer“ fremden Gutes ein für allemal 
erledigt ſein. Als ich vor 25 Jahren als junger 
Dachs in meiner Schrift zum Gudermann- 
Harden-Streit „Das Elend der Kritik“ die 
Forderung für den Kritiker aufftellte: „Ehr⸗ 
lichkeit, Beſcheidenheit, Freundlichkeit iſt die 
Vorausſetzung jeder echten Kritik und — auch 
jeder echten Kunſt“, rief mir Julius Hart zu: 
„Warte nur, in zehn Jahren wollen wir uns 
wieder ſprechen, ob du dann noch deinen 
Idealismus behalten haſt!“ 

Es find nun zweieinhalb Jahrzehnte dabin- 
gegangen, und ich habe mir mit vielen andern, 
Gott ſei Dank, dieſen Idealismus trotz all der 
Niedertracht, der Vergiftung, der Verlodde 
rung der Nachkriegszeit bewahrt. Und wit 
müſſen dieſen Idealismus als Keim— 
zelle der Geſundung, eines neuen Auf- 
ſtiegs hochhalten und reinhalten. Und darum 
müſſen wir jeden, der ſich ſo unanſtändig — 
um den mildeſten Ausdruck zu gebrauchen — 
benimmt, fremdes Gut für eigenes auszu- 
geben, ſo energiſch auf die Finger klopfen, daß 
er ſich künftig nicht mehr „vergreift“. NB. Da 
wir übrigens von Waſſermann ſprechen: er 
nennt einen ſeiner neueren Romane ganz 
gelaſſen „Oberlins drei Stufen“, meint aber 
mit dieſem immerhin ſeltenen Namen nicht 
den hiſtoriſchen Oberlin, ſondern irgendeinen 
obſkuren Bürger. Unſer jüdifcher Mitbürger 


36 


542 


Dom Reichsehrenmal 


u Ehren und zum Gedächtnis der Toten 

des Weltkrieges werden in allen Gauen 
deutſcher Lande Denkſteine und Ehrenmäler 
errichtet oder Eichen und Haine gepflanzt. In 
Kirchen und Schulen, in Stadt und Land ge- 
denken deutſche Männer und Frauen ihrer ge- 
fallenen Söhne und Brüder, 

Eine allgemeine Bewegung hat das deutfche 

Volk ergriffen, die ein herrliches Zeugnis ab- 
legt von feiner inneren Geſundung und Ve- 
ſeelung. Aus dieſer Erkenntnis heraus ift ber 
große Gedanke geboren, ein einzigartiges 
Oenkmal zu ſchaffen, welches allen Volks- 
genoſſen ein gemeinſames Heiligtum bedeutet: 
Das Reichs ehrenmal. 
} Mannigfaltig find die Vorſchläge, die über 
Art und Ort dieſes deutſchen Kriegerehren- 
males bekannt wurden. Ein Beſchluß des 
„Reichsratausſchuſſes zur Errichtung des Na- 
tionaldenkmals für die im Weltkriege Ge- 
fallenen“ ſtellt zwei Pläne in den Mittelpunkt 
des öffentlichen Intereſſes: 

Die Schaffung einer Weiheſtätte in der 
Reichs hauptſtadt oder die Errichtung eines 
Heiligen Haines im Herzen Oeutſch— 
lands. 

Bedenklich erſcheint gegenwärtig der Bau 
eines prunkhaften Monumentalwerkes, wel- 
ches unermeßliche Summen Geldes koſten 
würde und vielleicht in einem Kunſtſtil Ge- 
ſtaltung fände, der weiten Kreiſen unſeres 
Volkes unverftändlich, ja geradezu befremdend 
bliebe. Die Zeit iſt noch nicht gekommen, in der 
unfere Künſtler den angemeſſenen künft- 
leriſchen Ausdruck erkennen und offenbaren 
können, den ein monumentales Reichsehren- 
mal darſtellen muß, um dem gefamten deut- 
ſchen Volke ein erhabenes Heiligtum zu ſein, 
welches nicht nur die Erinnerung an die blu- 
tigen Opfer und Schlachten des Weltkrieges 
wachruft, ſondern auch eine Weiheſtaͤtte be- 
deutet, die den Gottesfuͤrchtigen zum Gebete 
tuft und den Spotter zur Beſinnung mahnt. 

Als das Völkerſchlachtdenkmal in Leipzig 
erbaut wurde, waren hundert Jahre ſeit jenem 
furchtbaren Ringen der europäiſchen Mächte 
vergangen; und nahezu zweitauſend Jahre 


Auf der Werte 


nach der Schlacht im Teutoburger Walde ent; 
ſtand das Hermannsdenkmal auf der Groten- 
burg. 

Die Aufgabe unſerer Zeit iſt es, ein Ehren; 
mal zu ſchaffen, an dem Kinder und Kindes- 
kinder weiterbauen, wenn fie ben gefdidt- 
lichen Abſtand gewonnen haben, der die 
tieferen Zuſammenhänge im Weltenſchickſal 
erkennen läßt. So wollen wir zu dem eigent- 
lichen Denkmal nur den Grundſtein legen, 
deſſen Inſchrift der Opfer des Krieges gedenkt. 

Dieſe heilige Stätte muß in einer ſtill en 
Landſchaft inmitten des deutſchen Rei- 
ches begründet werden, nicht aber in Berlin, 
wo fie vom Gewühle der Weltſtadt, von Po- 
litik und Parteikampf umgeben ift. 

Unfern Vätern und Ahnen war der 


deutſche Wald zu allen Zeiten ein geweihter 


Boden, eine geheiligte Stätte des Schweigens 
und das Symbol des göttlich Erhabenen. 
Darum ſchlug Ernſt Moritz Arndt im ver 
gangenen Jahrhundert vor, zu Ehren der 
gefallenen Helden einen Heiligen Hain zu 
pflanzen. Dichter und Maler haben dieſen Ge- 
danken weitergeſponnen, und die gegen- 
wärtige Zeit iſt reif, ihn zu verwirklichen. 

Ein lebendiges Ehrenmal“, wie Come 
lius Gurlitt in Wort und Schrift empfohlen 
hat, einen Heiligen Hain muß das deutſche 
Volk ſchaffen, in deſſen Mitte der Grundſtein 
für das ſpätere Denkmal liegt. Die Wächter 
ſind Frontſoldaten, denen eine Siedlung als 
Heimſtatt dient. 

Oeutſchlands Jugend wird ſich an dieſer 
Stelle verſammeln und um berufene Führer 
ſcharen, die ihr von den großen Taten und 
Opfern des Krieges erzählen, um Ehrfurcht 
und Begeiſterung in ihre Herzen zu fäen. 
Dieſe Saat wird zu blühendem Leben er- 
wachen und die Geſundung und den Wieder 
aufbau unſeres Vaterlandes bezeugen. Das 
Grünen und Wachſen der Eichen des Heiligen 
Haines, der das Reidsehrenmal umgibt, be 
deutet ein Gleichnis von dieſem unverfieg- 
baren Leben, das der unſterbliche Geiſt unſerer 
gefallenen Krieger beſeelt. 

Karl Auguft Walther 

Nachwort. Oer Verfaſſer gibt im Verlag 
Georg D. W. Callwey in Münden eine 


Auf der Warte 


ſcheint, das Treiben der Kunſthändler, die uns 
mit dem bunten billigen Schund aus ita- 
lieniſchen Bilderfabriken überſchwemmen, be- 
deutet eine ernſte Gefahr. Wenn man noch die 
guten Rinjtler zu uns brächte, aber dieſe 
ekligen Schmarren !“ 

„Gurlitt importiert Zitronen und Apfel- 
ſinen, womit er den Markt für einheimiſche 
Birnen und Apfel verdirbt.“ 

„Was früher der Prieſter, der Füͤrſt, der Pa⸗ 
trizier dem Künſtler war, Beſchützer, Brot- 
berr, geiſtiger Leiter, das iſt heute der Runft- 
händler, unter Umftänden fogar der Beſitzer 
des Künſtlers im Sinne des Sklavenhalters. 
Der Kunſthandel wurde oberſter Gebieter. 
Gurlitt hat den Böcklin durchgedrüdt und 
monopolifiert, Pächter den Menzel an ſich 
gebracht. Das iſt das Endergebnis der künftle- 
riſchen Entwicklungen im Zeitalter des Bour- 
geois im 19. Jahrhundert.“ 

Oieſe Außerungen des kunſtverſtändigen 
und mdrftetundigen Hamburger Galeriediret- 
tors Alfred Lichtwark ſind wertvolle Beiträge 
zur Kenntnis des Treibens auf dem Berliner 
Bildermarkt und follen hiermit der Dergeffen- 
heit entriſſen werden. P. O. 


Der Voͤlkerroman 


Is Karl Anton Poſtl, bekannt unter dem 

Namen Charles Sealsfield, feine be 
rühmten amerikaniſchen Romane ſchrieb, hob 
eine neue Art von Romanſchriften an. Nicht 
mehr ein einzelner Menſch war der „Held“ 
des Romans, ſondern ein ganzes Volk, ja 
ganze Völker. Sealsfield erſetzt den Charakter 
und die Schickſale eines einzelnen Menſchen 
durch „unmittelbare Wiedergabe großer fo- 
zialer und hiſtoriſcher Bewegungen“. Ja, er 
nannte eines feiner berühmteſten Werke: „Das 
Kajüͤtenbuch“ im Untertitel geradezu: „Na- 
tionale Charakteriſtiken“. 

Unter Sealsfields Nachfolgern ragen be- 
merkenswert hervor Willibald Alexis mit 
feinen Romanen aus der Geſchichte Branden- 
burgs und Freytag mit ſeinen „Ahnen“. Dann 
trat eine Pauſe ein. Die bedeutenderen Schrift; 
ſteller ſchienen Sealsfields großes und an- 
regendes Beiſpiel vergeſſen zu haben und 


547 


wandten ſich wieder im weſentlichen der 
Schilderung des Charakters und der Sdid- 
ſale eines einzelnen Menſchen zu. (Man könnte 
allenfalls Goedſche- Retcliffe erwähnen, deſſen 
vierbändiger Roman „Biarritz“ ſoeben neu er- 
ſchienen iſt [geb. 22 K, Oeutſcher Vollsver- 
lag, München ]. Diefer Roman enthält das be- 
rühmte Kapitel „Auf dem Zudenkirchhof zu 
Prag“ S. 126 ff.], nach dem mutmaßlich die 
„Protokolle der Weiſen von Zion“ gefertigt 
ſind. Hermann Ottomar Friedrich Goedſche, 
der unter dem Namen Sir John Retcliffe 
ſchrieb, iſt unſtreitig großzügig und packend, 
aber in künitlerifcher Beziehung oft bedenklich 
und gehört literarhiſtoriſch in die Nähe von 
Eugen Sue. D. T.) 

Die Fülle des Problems, die Wucht des 
Gegenſtandes, die Weite und Höhe des Zieles 
finden wir nun neueſtens in den Romanen 
der Gräfin Edith Salburg aus Öfterreich. 
Dieſe bedeutende Frau vereinigt viele un- 
erläßlihe Vorausſetzungen für das Gelingen 
der großen Aufgabe. Sie erlebt unmittelbar 
das Vöoͤlkerringen um Freiheit und nationale 
Kultur; ſie ſteht mitten drin in dieſem Kampfe, 
fie ift mit ihm perſönlich verknüpft, und doch 
ſteht ſie wieder auf einer ſolchen Höhe, daß 
fie das geſamte Blachfeld klar und leiden 
ſchaftslos überſchauen kann. Ihre hohe Ge 
burt und geſellſchaftliche Stellung, ihre Bluts- 
verwandtſchaft mit den hervorragendſten Man; 
nern und Frauen aus deutſchem, flaviſchem, 
magyariſchem, italieniſchem Geſchlecht läßt fie 
blutsmäßig, inſtinktſicher mit feinem Kultur- 
gefühl und vollendeter Formbeherrſchung 
Kunde geben von der Fülle der Geſichte, Ge- 
ftalten, Charaktere, dem unlöslichen Zuſam- 
menhange und doch auch wiederum naturnot- 
wendigen, furchtbaren Zuſammenprall eng 
benachbarter und ſchickſals verbundener, aber 
ihrem Weſen nach grundverſchiedener Raſſen 
und Völker. 

In ihrer Kinderſtube erhielt fie bereits be- 
deutende Anregungen, die Irrungen und Wir- 
rungen des Vöolkerchaos der öſterreichiſch⸗ 
ungariſchen Monarchie aus nächfter Mabe zu 
betrachten und zu ergründen. Sie lebte im 
heimatlichen Steiermark, in Wien, in Böh- 
men, in Ungarn, in Rumänien, in der Slo- 


548 


wakei, in Italien. Sie lernte die öſterreichiſchen 
Alpen und die ungariſch-ſiebenbürgiſch- rumã- 
niſchen Karpathen kennen. Sie lernte die 
Sprachen und damit die Seelen dieſer Natio- 
nen, ihre blutige Geſchichte ſeit der Nibe- 
lungenzeit; fie erfuhr die Anſichten der be- 
deutendſten Männer und Frauen dieſer Döl- 
ker über ihr eigenes und das feindliche, aufs 
Meſſer bekämpfte Volk. Sie beobachtete den 
furchtbaren Völkerkampf aus zentralem Ge- 
ſichtspunkt, aus der kaiſerlichen Wiener Hof- 
burg, gleichſam aus dem ſtrategiſchen Rnoten- 
punkt heraus. Sie erkannte, daß das Haus 
Ojterreid) aus habsburgiſchem Blute, getreu 
ſeinen Ahnen, gar nicht anders handeln konnte, 
als es handelte, nämlich die an Oſterreich ge- 
ketteten, angeheirateten Länder und Völker 
beamtenmäßig, national geſchlechtslos und 
widernational zu „regieren“. zum eigenen Un- 
heil und zum Unheil aller „regierten“ Völker 
am ſchickſalsreichen Nibelungenſtrom. Sie war 
aber auch wiederum ſtändig Zeuge der Wir- 
kungen dieſes „Regierens“ auf die unterjochten 
Völker. Sie konnte mit eigenen Augen wahr- 
nehmen, wie die verfehlte habsburgiſche Poli- 
tik trotz aller zentripetalen Abſichten ſchließlich 
reichszertrümmernd wirken mußte. Als Nichte 
des Feldzeugmeiſters Benedek erhielt fie Ein- 
blick in die Geheimniſſe des Konflikts zwiſchen 
Oſterreich und Preußen. 

Ihr eignet ein ſcharfer Blick für das wefent- 
lich Völkiſche, aber auch für das Perſönliche, 
Individuelle. Sie iſt in ſtändiger Fühlung mit 
den großen, alten, geſchichtemachenden Fa- 
milien der Metternich, Lobkowitz, Starhem- 
berg, Khevenhüller, Martinitz, Slavata, Ko- 
lowrat, Pronay, Wejfelénni, Széchenyi, Zichy, 
Eſterhazy, Batthyanyi, Andraſſy, Rarolyi, 
Koſſuth und fo fort. Sie verkehrte am Kaifer- 
hof und berichtet uns vieles, was uns feſſelt, 
in großer Anſchaulichkeit und Farbenglut. Ihre 
geſellſchaftliche Stellung bewirkte, daß inner- 
halb der von ihr geſchilderten Salons jede 
trennende Scheidewand zwiſchen ihr und den 
Magnaten und ihren Frauen fiel, ſo daß wir 
hineinſehen können in die von der Gräfin ge- 
ſchilderten Seelenregungen und Kämpfe der 
Raſſen, Völker und Einzelmenſchen. 

Zu alledem kommt das Wichtigſte: echtes 


Auf der Warte 


Künſtlertum! Die Form, der innere Rhyth- 
mus, als notwendiger Ausfluß göttlicher 
Schöpfungsgeſetze, wird von ihr inſtinktſicher 
beherrſcht und der jeweiligen Frage und Lage 
organiſch angepaßt. Die Dialekte und Mund- 
arten der Völker, Stämme, Gejellichafts- 
ſchichten handhabt ſie meiſterlich. Nirgends 
erleben wir blutloſe Konſtruktion, ſondern 
überall den Pulsſchlag des Lebens. 

Man hat fie eine „politiſche“ Dichterin ge- 
nannt. Verdient fie dieſen Namen? Nein und 
ja; je nachdem wir Politik als etwas Triviales 
oder Schickſalsmäßiges betrachten. Tendenz 
im kleinlichen Sinne eignet dieſen, politiſchen“ 
Romanen nichk. Aber glühende, adlige Liebe 
zum Vaterlande, zur vaterländiſchen, völfi- 
ſchen Kultur, ſtaatsmänniſcher Sinn, klarer, 
entſchloſſener Wille. 

Unter den Werken dieſer beachtenswerten 
Frau ragen am bedeutendſten hervor: „Böh- 
miſche Herren“, ,Hofadel in Ofter- 
reich“, „Reaktion“ und „Revolution“ 
(„Hammerverlag“, Leipzig). Sie bilden ein 
Ganzes, das ſich „Dynaſten und Stände“ 
nennt. In dieſen vier Romanen handelt es 
ſich im weſentlichen um innere Kämpfe. Den 
Zuſammenſtoß mit Preußen ſchildert der Ro- 
man: „Wilhelm Friedhoff“. Unter dieſem 
Namen verbirgt ſich der Seeheld Tegetthof, 
der Sieger in der Seeſchlacht bei Liſſa gegen 
Italien. Aber auch der hochſinnige Feldherr 
Benedek, der für die Sünden der Wiener Hof- 
kamarilla büßen muß, wird hier erfchütternd 
geſchildert. Wer nun etwa glauben ſollte, daß 
die ſeltene Frau nur „Politik“, wenn auch 
im hohen Sinne, in ihren Romanen ſchildert, 
der wird ſofort eines Beſſeren belehrt, wenn 
er ſich in den Roman: „Judas im Herrn“ 
vertieft. Er findet hier ein ergreifendes Seelen 
gemälde des völkiſchen Kampfes und Wider- 
ſtreites zwiſchen deutſchböhmiſchen Chriſten 
und ihrem zum Chriſtentum übergetretenen 
Biſchof aus jüdifhem Blute. Auch hier ſehen 
wir, daß der tiefblickenden Dichterin das ganze 
Volk über dem Einzelmenſchen ſteht. Mit feiner 
Seelenanalptit wird hier der Unterſchied von 
Religion und Raſſe in erſchũtternder Tragik ge- 
zeigt. Einen ähnlichen Stoff, aus der Gegen- 
wart, behandelt ihr neueſtes Buch, Hochfinanz“. 


Auf der Warte 


Überblidt man das Ganze dieſer Gefell- 
ſchaftsromane, dann könnte man bei ober- 
flächlicher Betrachtung zu düſterem Schluſſe 
kommen und das Schickſal unſeres deutſchen 
Volkes hoffnungslos anſehen. Aber, wer tiefer 
ſchaut, der legt dieſe Bücher zwar erſchüttert, 
aber doch hochgemut aus der Hand; denn eine 
innere Reinigung hat ſich in feinem Geifte 
vollzogen, eine Läuterung in dem Chaos von 
Anſichten, Lehrmeinungen und Gefühlen. Die 
Erkenntnis nämlich, daß es ſich hier um eine 
biologiſche Revolution handelt: Wir ſehen in 
Flammenſchrift, daß wir verhaftet ſind auf 
Gedeih und Verderb in das Schickſal der 
Nationen; daß aber das Schickſal der Natio- 
nen nur dann ſich harmoniſch und glüdhaft 
geſtalten kann, wenn die Völker eine ihrer 
Eigenart nach Form und Inhalt entſprechende 
nationale Kultur auskriſtalliſieren und feit- 
halten in allen Stürmen der Zeit und des 
Schickſals. Dr. A. S. 


Briefe des Koͤnigs von Uganda 


an Karl Peters mögen hier im Anſchluß an 
Dr. Schorns Aufſatz über den deutſchen Ro- 
lonialpionier mitgeteilt werden. Die Über- 
ſetzung aus der Suaheliſprache verdanken wir 
dem Miſſionar Paſtor Roehl, Muſau. Der In- 
halt der Briefe wird durch die Ausführungen 
Dr. Schorns verſtändlich. 


1. 

Mwanga, König von Buganda, entbietet 
Dr. Karl Peters ſeinen Gruß und wünſcht ihm 
mitzuteilen, daß er ſoeben einen Brief vom 
7. Februar erhalten hat, worin erwähnt iſt, 
daß ſich eine Expedition auf der Suche nach 
Se. Exzelleng Emin Paſcha in unmittelbarer 
Nähe befindet. Mwanga wünſcht ebenſo 
Dr. Karl Peters zu benachrichtigen, daß 
Dr. Emin von Mr. H. M. Stanley befreit 
worden iſt und daß er und alle ſeine Offiziere 
und Beamte ſich nach Sanſibar über Ufutuma 
und Ugogo begeben haben. Wenn indeſſen 
Dr. Peters hierher kommt, wird der König 
von Buganda ihn willkommen heißen. Es gibt 
hier ſechs europäifhe Miſſionare, zwei Eng- 
länder und vier Franzosen, von denen Dr. Pe- 


549 


ters weitere Nachrichten von der Küſte und 
Europa erfahren könnte. 

In Buganda hat es Krieg zwiſchen den von 
Arabern geführten Mohammedanern und den 
zum Chriſtentum Bekehrten gegeben, aber mit 
Mr. Stokes Hilfe find die Chriſten ſiegreich ge- 
weſen. 

2, 
An Dr. Karl Beters. 
März 24. 1890 

Ich begrüße Dich ſehr. Nach dem Gruße ſage 
ich Dir: Gehe jetzt nicht weg, warte hier ein 
wenig! Kalema iſt jetzt nahe, vielleicht wird er 
morgen eintreffen. Und wenn Du fort gehſt, 
werden meine Leute von Furcht ergriffen 
werden. Sie werden ſagen: Der Deutſche 
ſieht Kalema kommen, um zu kämpfen, da 
fürchtet er ſich und flieht. So bleibe nun hier 
zuſammen mit mir, damit meine Soldaten 
hingehen, um jetzt zu kämpfen. 

Ich bin Dein Freund 

König Mwanga. 


Grundeigentum 


igentum iſt ein Urgefühl, kein Begriff, 

. . . Eigentum im eigentlichſten Sinne ift 
immer Grundeigentum, und der Trieb, Er- 
worbenes in Grund und Boden zu verwan- 
deln, immer das Zeugnis für Menſchen von 
gutem Schlage. Die Pflanze beſitzt den Boden, 
in dem ſie wurzelt. Es iſt ihr Eigentum, das 
fie mit Verzweiflung ihr ganzes Daſein hin- 
durch verteidigt“ ... fagt Spengler. Das 
platzt in unſere Zeit wie ein Quaderſtein zwi- 
ſchen Mauerſteine. Der tiefe wurzelfeſte 
Charakter des Grundeigentums iſt bei den 
Menſchen der Ziviliſation aufgelöft und in fein 
Gegenteil verkehrt. Denn Spekulation iſt 
eigentlich das, was dem Grundeigentum 
extrem entgegengeſetzt iſt. Das können die 
Menſchen der Großſtadt nicht verſtehen. Sie, 
die nicht mit der Scholle aufgewachſen ſind, 
nehmen zum Grund und Boden eine ebenſo 
verſtandesmäßig begriffliche Stellung ein wie 
zu allen andern Dingen ihrer Umgebung. 
Darum iſt es auch ein Irrtum, zu glauben, 
dieſe Menſchen könnten glidlid werden durch 
neue Geſetzesparagraphen, wie Art. 155 un- 


546 


weiß wohl nichts vom gefeierten Pfarrer des 
Steintals Johann Friedrich Oberlin, weiß auch 
nichts oder will nichts wiſſen von Lienhards 
Roman „Oberlin“, der in 150 Auflagen vor- 
liegt. Was würde man wohl fagen, wenn je- 
mand Peſtalozzis oder Fröbels oder Lavaters 
„Drei Stufen“ einen Roman widmete — und 
gar nicht die hiſtoriſchen Perſönlichkeiten 
meinte, ſondern erfundene Bürger mit fol- 
chen Namen belegte? Auch dies eine Frage 
des Taktes! Friedrich Dietert — 


Berliner Handel mit Kunſt 


m 11. Januar ſtarb in Berlin der Runft- 

händler Paul Caſſirer durch Selbſtmord 
infolge ehelichen Zwiſtes. Die Berliner Preſſe, 
ſoweit fie mehr international gerichtet iſt, er- 
ſchöpfte ſich in Lobpreiſungen des Derftorbe- 
nen und ſeiner Verdienſte um die Künſte, 
konnte doch aber nicht ganz die Tatſache unter 
drüden, daß er „als echter Geſchäftsmann mit 
der ausländiſchen Bildereinfuhr, die fein Lager 
und feine Ausſtellungen füllte, viel Geld ver- 
diente“, ließ es ſogar zweifelhaft, ob er durch 
fein eifriges Eintreten für die Werke fran 
zöfifcher Maler und für den Impreſſionismus 
eine Entwicklung der feinen, innerlichen, indi- 
viduell geſtalteten deutſchen Art nicht für lange 
Zeit erdroſſelte. 

Scharf über dieſen Kunſthändler urteilte ein 
anerkannter Sachverſtändiger, Alfred Licht- 
wart (1852—1914), zuletzt Direktor der Ham- 
burger Kunſthalle, in ſeinen Briefen an den 
Senatsausſchuß. Ein Teil dieſer Briefe wurde 
von ſeinem Nachfolger veröffentlicht, ein 
anderer Teil aber nur in zwanzig Exemplaren 
gedruckt und ijt nur in der Bücherei der Ham- 
burger Kunſthalle zugänglich. 

Wiederholt kennzeichnete Lichtwark die 
Tätigkeit gewiſſer Kunſthändler. So ſchrieb er 
am 10. Februar 1904: „Caſſirer hatte uns 
weſentlich nur als Einfallstor für franzöſiſche 
Kunſt gedient. Wo er auftritt, ſucht er gegen 
die deutſche Mißtrauen zu erwecken mit Aus- 
nahme feiner Haustinftler.* Am 14. Mai 1904 
Hagt er: „Oer Kunſthandel iſt wieder friſch 
dabei, die ganze deutſche Kunſt als zweiten 
Ranges zu ſtempeln, und es ſieht aus, als 


Auf der Warte 


ſollte es im zwanzigſten Jahrhundert noch 
unter demſelben Fluch weitergehen. Ein Voll, 
das ſich nicht ſchätzt, kann feine tinftlerifde 
Erzeugung nicht auf der hidften Stufe hal; 
ten.“ Noch am 20. April 1912 berichtet er: 
„Caſſirer brachte die impreſſioniſtiſchen Haupt- 
werke nach Deutſchland. In Paris hatten ſie 
keinen Markt. Gegen die Preiſe guter deut- 
ſcher Meiſter waren ſie billig.“ Am 1. Februar 
1912 äußert er: „Man kauft alles, was nach 
noch nicht Dageweſenem wittert. In Paris 
weiß man's und nutzt es aus. „De la merde 
(Orech, mais assez bon pour les allemands.“ 
„Wo was Gutes in der deutſchen Malerei des 
19. Jahrhunderts auftaucht, heißt es jetzt fo- 
fort: das iſt Corot, das iſt Conſtable, das iſt 
Courbet! (Meier-Graefe.) Leider trifft es oft 
genug zu. Aber mit dieſen Formeln uns alle 
Eigenheit abſtreiten zu wollen, das iſt doch um 
einen Koller zu bekommen.“ Wie Lihtwart 
damals erwähnte, nannte man Herrn Meier- 
Graefe ſpöttiſch den Velasqueztöter und 
Grecoapoftel, kurzweg Meier - Greco. 

Wie Lichtwark am 1. Oktober 1904 berich- 
tete, klagte ihm Uhde, „das deutſche Kunſt⸗ 
leben fei von einer Verſchwörung des Kunſt- 
handels bedroht oder ſchon geknechtet. Eine 
Gruppe kapitalskräftiger Handler mit Caſſirer 
in Berlin an der Spitze als Vollſtrecker der 
Pariſ er Gruppe Durand -Ruel ſucht den deut; 
ſchen Markt allen deutſchen Künſtlern mit 
Ausnahme Liebermanns zu ſperren, hat ein- 
flußreiche Zeitſchriften gegründet, hält die 
Tagespreſſe unter dem Daumen, läßt Bücher 
ſchreiben und Prachtwerke drucken, die gegen 
alles Oeutſche Stimmung machen und für eine 
kleine Gruppe gewinnen ſollen, mit denen ſie 
gerade ſpekuliert.“ 

„An den Ausſtellungen hat ſich der Kunſt⸗ 
handel entwickelt, der heute der Herr unenb- 
licher Erzeugungsgebiete und zahlloſer Be- 
gabungen iſt.“ 

Schon in einem Briefe vom 19. Dezember 
1891 hatte Lichtwark gemeldet: „Schulte iſt in 
das Parterre des Redernſchen Palais (in 
Berlin) gezogen, wo er aus dem Gewinn an 
ſchlechten Bildern ſiebzigtauſend Mark Miete 
zahlen kann. Hauptmaſſe italieniſche Einfuhr, 
dazwiſchen einige wenige gute Sachen. Mir 


Auf der Warte 


ſcheint, das Treiben der Kunſthändler, die uns 
mit dem bunten billigen Schund aus ita- 
lieniſchen Bilderfabriken überſchwemmen, be- 
deutet eine ernſte Gefahr. Wenn man noch die 
guten Künſtler zu uns brächte, aber dieſe 
ekligen Schmarren!“ 

„Gurlitt importiert Zitronen und Apfel- 
finen, womit er den Markt für einheimiſche 
Birnen und Apfel verdirbt.“ 

„Was früher der Prieſter, der Fürſt, der Pa- 
trizier dem Künſtler war, Beſchüͤtzer, Brot- 
berr, geiſtiger Leiter, das iſt heute der Kunſt⸗ 
händler, unter Umftänden ſogar der Beſitzer 
des Künſtlers im Sinne des Sklavenhalters. 
Der Kunſthandel wurde oberſter Gebieter. 
Gurlitt hat den Böcklin durchgedrückt und 
monopoliſiert, Pächter den Menzel an ſich 
gebracht. Das iſt das Endergebnis der küͤnſtle⸗ 
riſchen Entwicklungen im Zeitalter des Bour- 
geois im 19. Jahrhundert.“ 

Diefe Außerungen des kunſtverſtändigen 
und märktekundigen Hamburger Galeriediret- 
tors Alfred Lichtwark find wertvolle Beiträge 
zur Kenntnis des Treibens auf dem Berliner 
Bildermarkt und follen hiermit der Bergeffen- 
heit entriſſen werden. P. O. 


Der Bölkerroman 


Is Karl Anton Poſtl, bekannt unter dem 

Namen Charles Sealsfield, feine be- 
rühmten amerikaniſchen Romane ſchrieb, hob 
eine neue Art von Romanſchriften an. Nicht 
mehr ein einzelner Menſch war der „Held“ 
des Romans, ſondern ein ganzes Volk, ja 
ganze Völker. Sealsfield erſetzt den Charakter 
und die Schickſale eines einzelnen Menſchen 
durch „unmittelbare Wiedergabe großer fo- 
zialer und hiſtoriſcher Bewegungen“. Ja, er 
nannte eines feiner berühmteſten Werke: „Das 
Kajuͤtenbuch“ im Untertitel geradezu: „Na- 
tionale Charakteriſtiken“. 

Unter Sealsfields Nachfolgern ragen be- 
merkenswert hervor Willibald Alexis mit 
ſeinen Romanen aus der Geſchichte Branden- 
burgs und Freytag mit ſeinen „Ahnen“. Dann 
trat eine Pauſe ein. Die bedeutenderen Schrift; 
ſteller ſchienen Sealsfields großes und an- 
tegendes Beiſpiel vergeſſen zu haben und 


547 


wandten fi wieder im wefentliden der 
Schilderung des Charakters und der Sdid- 
fale eines einzelnen Menſchen zu. (Man konnte 
allenfalls Goedfhe-Retcliffe erwähnen, deſſen 
vierbändiger Roman, Biarritz“ ſoeben neu er- 
ſchienen iſt [geb. 22 K, Oeutſcher VDollsver- 
lag, München]. Diefer Roman enthält das be- 
rühmte Kapitel „Auf dem ZJudenkirchhof zu 
Prag“ S. 126 ff.], nach dem mutmaßlich die 
„Protokolle der Weiſen von Zion“ gefertigt 
ſind. Hermann Ottomar Friedrich Goedſche, 
der unter dem Namen Sir John NReteliffe 
ſchrieb, iſt unſtreitig großzügig und packend, 
aber in kuͤnſtleriſcher Beziehung oft bedenklich 
und gehört literarhiſtoriſch in die Nähe von 
Eugen Sue. D. T.) 

Die Fülle des Problems, die Wucht des 
Gegenſtandes, die Weite und Höhe des Zieles 
finden wir nun neueſtens in den Romanen 
der Gräfin Edith Salburg aus Ofterreid. 
Dieſe bedeutende Frau vereinigt viele un- 
erlaßliche Vorausſetzungen für das Gelingen 
der großen Aufgabe. Sie erlebt unmittelbar 
das Völkerringen um Freiheit und nationale 
Kultur; ſie ſteht mitten drin in dieſem Kampfe, 
fie ift mit ihm perſönlich verknüpft, und doch 
ſteht fie wieder auf einer ſolchen Höhe, daß 
fie das geſamte Blachfeld klar und leiden 
ſchaftslos überſchauen kann. Ihre hohe Ge- 
burt und geſellſchaftliche Stellung, ihre Bluts- 
verwandtſchaft mit den hervorragendſten Män- 
nern und Frauen aus deutſchem, flaviſchem, 
magyariſchem, italieniſchem Geſchlecht läßt ſie 
blutsmäßig, inſtinktſicher mit feinem Kultur- 
gefühl und vollendeter Formbeherrſchung 
Kunde geben von der Fülle der Geſichte, Ge- 
ſtalten, Charaktere, dem unlöslichen Zuſam- 
menhange und doch auch wiederum naturnot- 
wendigen, furchtbaren Zuſammenprall eng 
benachbarter und ſchickſals verbundener, aber 
ihrem Weſen nach grundverſchiedener Raſſen 
und Délfer. 

In ihrer Kinderſtube erhielt fie bereits be- 
deutende Anregungen, die Irrungen und Wir- 
rungen des Vöͤlkerchaos der öſterreichiſch⸗ 
ungariſchen Monarchie aus nächſter Nähe zu 
betrachten und zu ergründen. Sie lebte im 
heimatlichen Steiermark, in Wien, in Böh- 
men, in Ungarn, in Rumänien, in der Slo- 


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wakei, in Italien. Sie lernte die öſterreichiſchen 
Alpen und die ungarifch-[iebenbürgifch-rumä- 
niſchen Karpathen kennen. Sie lernte die 
Sprachen und damit die Seelen dieſer Natio- 
nen, ihre blutige Geſchichte ſeit der Nibe- 
lungenzeit; fie erfuhr die Anſichten der be- 
deutendſten Männer und Frauen dieſer Völ- 
ker über ihr eigenes und das feindliche, aufs 
Meſſer bekämpfte Volk. Sie beobachtete den 
furchtbaren Völkerkampf aus zentralem Ge- 
ſichtspunkt, aus der kaiſerlichen Wiener Hof- 
burg, gleichſam aus dem ſtrategiſchen Knoten 
punkt heraus. Sie erkannte, daß das Haus 
Oſterreich aus habsburgiſchem Blute, getreu 
ſeinen Ahnen, gar nicht anders handeln konnte, 
als es handelte, nämlich die an Öfterreich ge- 
ketteten, angeheirateten Länder und Völker 
beamtenmäßig, national geſchlechtslos und 
widernational zu „regieren“. zum eigenen Un- 
heil und zum Unheil aller „regierten“ Völker 
am ſchickſalsreichen Nibelungenſtrom. Sie war 
aber auch wiederum ftändig Zeuge der Wir- 
kungen dieſes „Regierens“ auf die unterjochten 
Völker. Sie konnte mit eigenen Augen wahr- 
nehmen, wie die verfehlte habsburgiſche Poli- 
tik trotz aller zentripetalen Abſichten ſchließlich 
reichszertrümmernd wirken mußte. Als Nichte 
des Feldzeugmeiſters Benedek erhielt fie Ein- 
blick in die Geheimniſſe des Konflikts zwiſchen 
Oſterreich und Preußen. 

Ihr eignet ein ſcharfer Blick für das wejent- 
lich Voͤlkiſche, aber auch für das Perſönliche, 
Individuelle. Sie iſt in ſtändiger Fühlung mit 
den großen, alten, geſchichtemachenden Fa- 
milien der Metternich, Lobkowitz, Starhem- 
berg, Khevenhüller, Martinitz, Slavata, Ko- 
lowrat, Pronay, Weſſelényi, Szͤchenyi, Zichy, 
Eſterhazy, Batthyanyi, Andraſſy, Karol pi, 
Koſſuth und fo fort. Sie verkehrte am Kaifer- 
hof und berichtet uns vieles, was uns feſſelt, 
in großer Anſchaulichkeit und Farbenglut. Ihre 
geſellſchaftliche Stellung bewirkte, daß inner- 
halb der von ihr geſchilderten Salons jede 
trennende Scheidewand zwiſchen ihr und den 
Magnaten und ihren Frauen fiel, ſo daß wir 
hineinſehen können in die von der Gräfin ge- 
ſchilderten Seelenregungen und Kämpfe der 
Raſſen, Völker und Einzelmenſchen. 

Zu alledem kommt das Wichtigſte: echtes 


Auf der Warte 


Künſtlertum! Die Form, der innere Xhyth⸗ 
mus, als notwendiger Ausfluß gsttlicher 
Schöpfungsgeſetze, wird von ihr inſtinktſicher 
beherrſcht und der jeweiligen Frage und Lage 
organiſch angepaßt. Die Dialekte und Mund- 
arten der Volker, Stämme, SGeſellſchafts⸗ 
ſchichten handhabt ſie meiſterlich. Nirgends 
erleben wir blutloſe Konſtruktion, ſondern 
überall den Pulsſchlag des Lebens. 

Man hat fie eine „politiſche“ Dichterin ge- 
nannt. Verdient ſie dieſen Namen? Nein und 
ja; je nachdem wir Politik als etwas Triviales 
oder Schickſalsmäßiges betrachten. Tendenz 
im kleinlichen Sinne eignet dieſen, politiſchen“ 
Romanen nichk. Aber gluͤhende, adlige Liebe 
zum Vaterlande, zur vaterländiſchen, voͤlki⸗ 
ſchen Kultur, ſtaatsmänniſcher Sinn, klarer, 
entſchloſſener Wille. 

Unter den Werken dieſer beachtenswerten 
Frau ragen am bedeutendſten hervor: „Böh⸗ 
miſche Herren“, „Hofadel in Ofter- 
reich“, „Reaktion“ und „Revolution“ 
(„Hammerverlag“, Leipzig). Sie bilden ein 
Ganzes, das ſich „Dynaſten und Stände“ 
nennt. In dieſen vier Romanen handelt es 
ſich im weſentlichen um innere Kämpfe. Den 
Zuſammenſtoß mit Preußen ſchildert der Ro- 
man: „Wilhelm Friedhoff“. Unter dieſem 
Namen verbirgt ſich der Seeheld Tegetthof, 
der Sieger in der Seeſchlacht bei Liſſa gegen 
Italien. Aber auch der hochſinnige Feldherr 
Benedek, der für die Sünden der Wiener Hof- 
kamarilla büßen muß, wird hier erſchũtternd 
geſchildert. Wer nun etwa glauben ſollte, daß 
die ſeltene Frau nur „Politik“, wenn auch 
im hohen Sinne, in ihren Romanen ſchildert, 
der wird ſofort eines Beſſeren belehrt, wenn 
er ſich in den Roman: „Judas im Herrn“ 
vertieft. Er findet hier ein ergreifendes Seelen; 
gemälde des völkiſchen Kampfes und Wider- 
ſtreites zwiſchen deutſchböhmiſchen Chriſten 
und ihrem zum Chriſtentum übergetretenen 
Biſchof aus jüdiſchem Blute. Auch hier ſehen 
wir, daß der tiefblickenden Dichterin das ganze 
Volk über dem Einzelmenſchen ſteht. Mit feiner 
Seelenanalytik wird hier der Unterſchied von 
Religion und Raſſe in erſchůtternder Tragik ge- 
zeigt. Einen ähnlichen Stoff, aus der Gegen- 
wart, behandelt ihr neueſtes Buch, Hochfinanz“. 


Auf der Warte 


Überblidt man das Ganze dieſer Gefell- 
ſchaftsromane, dann könnte man bei ober- 
flächlicher Betrachtung zu duͤſterem Schluſſe 
kommen und das Schickſal unſeres deutſchen 
Volkes hoffnungslos anſehen. Aber, wer tiefer 
ſchaut, der legt dieſe Bücher zwar erſchüttert, 
aber doch hochgemut aus der Hand; denn eine 
innere Reinigung hat ſich in ſeinem Geiſte 
vollzogen, eine Läuterung in dem Chaos von 
Anſichten, Lehrmeinungen und Gefühlen. Die 
Erkenntnis nämlich, daß es ſich hier um eine 
biologiſche Revolution handelt: Wir ſehen in 
Flammenſchrift, daß wir verhaftet ſind auf 
Gedeih und Verderb in das Schickſal der 
Nationen; daß aber das Schickſal der Natio- 
nen nur dann ſich harmoniſch und glüdhaft 
geſtalten kann, wenn die Völker eine ihrer 
Eigenart nach Form und Inhalt entſprechende 
nationale Kultur austriftallifieren und feft- 
halten in allen Stürmen der Zeit und des 
Schickſals. Dr. A. S. 


Briefe des Königs von Uganda 


an Karl Peters mögen hier im Anſchluß an 
Dr. Schorns Aufſatz über den deutſchen Ko- 
lonialpionier mitgeteilt werden. Die Über- 
ſetzung aus der Suaheliſprache verdanken wir 
dem Miſſionar Paſtor Roehl, Muſau. Der In- 
halt der Briefe wird durch die Ausführungen 
Dr. Schorns verſtändlich. 


1. 

Mwanga, König von Buganda, entbietet 
Dr. Karl Peters feinen Gruß und wünfcht ihm 
mitzuteilen, daß er ſoeben einen Brief vom 
7. Februar erhalten hat, worin erwähnt iſt, 
daß ſich eine Expedition auf der Suche nach 
Se. Exzellenz Emin Paſcha in unmittelbarer 
Nähe befindet. Mwanga wünſcht ebenſo 
Dr. Karl Peters zu benachrichtigen, daß 
Dr. Emin von Mr. H. M. Stanley befreit 
worden iſt und daß er und alle ſeine Offiziere 
und Beamte ſich nach Sanſibar über Ufutuma 
und Ugogo begeben haben. Wenn indeſſen 
Dr. Peters hierher kommt, wird der König 
von Buganda ihn willkommen heißen. Es gibt 
hier ſechs europaiſche Miſſionare, zwei Eng- 
länder und vier Franzoſen, von denen Dr. Pe- 


549 


ters weitere Nachrichten von der Küfte und 
Europa erfahren könnte. 

In Buganda hat es Krieg zwiſchen den von 
Arabern geführten Mohammedanern und den 
zum Chriſtentum Bekehrten gegeben, aber mit 
Mr. Stokes Hilfe find die Chriſten ſiegreich ge- 
weſen. 

2: 
An Dr. Karl Peters. 
März 24. 1890 

Ich begrüße Dich ſehr. Nach dem Gruße fage 
ich Dir: Gehe jetzt nicht weg, warte hier ein 
wenig! Kalema iſt jetzt nahe, vielleicht wird er 
morgen eintreffen. Und wenn Du fort gehſt, 
werden meine Leute von Furcht ergriffen 
werden. Sie werden ſagen: Der Deutſche 
ſieht Kalema kommen, um zu kämpfen, da 
fürchtet er ſich und flieht. So bleibe nun hier 
zuſammen mit mir, damit meine Soldaten 
hingehen, um jetzt zu kämpfen. 

Ich bin Dein Freund 

König Mwanga. 


Grundeigentum 


igentum iſt ein Urgefühl, kein Begriff, 

. . . Eigentum im eigentlichſten Sinne ift 
immer Grundeigentum, und der Trieb, Er- 
worbenes in Grund und Boden zu verwan- 
deln, immer das Zeugnis für Menſchen von 
gutem Schlage. Die Pflanze beſitzt den Boden, 
in dem ſie wurzelt. Es iſt ihr Eigentum, das 
fie mit Verzweiflung ihr ganzes Daſein hin- 
durch verteidigt“ ... fagt Spengler. Das 
platzt in unſere Zeit wie ein Quaderſtein zwi- 
ſchen Mauerſteine. Der tiefe wurzelfeſte 
Charakter des Grundeigentums iſt bei den 
Menſchen der Ziviliſation aufgelöſt und in ſein 
Gegenteil verkehrt. Denn Spekulation iſt 
eigentlich das, was dem Grundeigentum 
extrem entgegengeſetzt iſt. Das können die 
Menſchen der Großſtadt nicht verſtehen. Sie, 
die nicht mit der Scholle aufgewachſen ſind, 
nehmen zum Grund und Boden eine ebenſo 
verſtandesmäßig begriffliche Stellung ein wie 
zu allen andern Dingen ihrer Umgebung. 
Darum iſt es auch ein Irrtum, zu glauben, 
dieſe Menſchen könnten glüdlich werden durch 
neue Geſetzesparagraphen, wie Art. 155 un- 


zoͤgernd 


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Sehr zurückgehalten J. 66 


zögernd 


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Mit Genehmigung des Derlaaes B. Schott's Söhne, Mainz 


DEL Curie 


März; 1926 


Heft 6 


Joſeph Haas 
änke und Idyllen“ (Op. 55, 9) 


(Ein Zyklus von Fantaſietten für Klavier) 


XXVIII. Jahrg. 


Aus: „Sch w 


Ruhig und zart, ſehr ausdrucksvoll (2 76 « 80) 


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Im Seitma 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 


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SGenebmiaunqa des Derlaars B. Schott Söhne. Main: 


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