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Der Türmer
Monatsſchrift für
Gemüt und Geiſt
Herausgeber:
Profeſſor Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard
Achtundzwanzigſter Jahrgang
(Oktober 1925 bis März 1926)
Stuttgart
Derlagsanftalt Greiner & Pfeiffer
AP
30
42
7 28
pl
Oruck von
Greiner & Pfeiffer in Stuttgart |
Inhalts⸗Verzeichnis
Gedichte
Seite Seite
Beaulieu: Ou ſagſe . 30 Lorenz: Wintermorgen 405
v. Freytag-Loringhoven: Adel 284 Paulſen: Nächtlicher Wind 306
Sayda: Gebe 219 Pilf: Todesahnunssss 111
Geude: Die Schöpfung 15 Schellenberg: Die Flucht nach Agypten . 228
— Tod und Leben 15 Schimmelpfeng: Herbitabend ......... 12⁴
— Irme lind 408 Sternberg: Nachtboot auf dem Rhein. 20
Günther: Gott iſt nag 206 Tiedemann: Herbſtgnade 5
Hadina: Hochzeitsmorgen 397 Wiſſer: Die Eiceete 127
Rabe: Feierabenndid eee 384 — Sie Liebenden 493
— Zwifden Pflug und Sud ......... 501 Wikleb-Fhle: Weihnachts legende 223
Konig: Gottvaters Gericht. 128 Wolf: Trübe Landſch aft 135
Leis: Der Oichteer ecceee 315 v. Wolzogen: Das letzte Licht. 313
Lipp: Oer oſtpreußiſche Mann 482 — Was iſt die Welt?................ 471
Novellen und Skizzen
Albrecht: Vom Erleben des Todes 121 Langsdorff: Re quien 144
Bülow: Am dämmernden Abend 306 Martens: Der Dämon des Lichts (Rem-
Burdett⸗Burchard: Empfängnis 314 brandt-Roman) 6. 112. 207. 285. 385. 472
Emit: Die Entführung 494 Meblis: Oer Tod der Künſtlerin 132
Gäfgen: Herdgl uk 315 Moſer: Spaniſche Reife .............. 31
Hartenſtein: Der Freund 125 Schneider Weckerling: Siebenzigmal ſieben 136
Hogel: Spätfommergeipenft .......... 21 Siemers: Der Hufar .............006 406
Hud: Das Lraumgefidt ............. 224 Topp: Oeutſche Weihnachten an Bord
Jungnickel: Wunder im Buchladen 228 eines Kriegsſchiffes 231
Kraze: Weihnadtsftimmung .......... 220 Weſthoff: Daheim .........----..000. 229
Auffage
Baud: Von der Baterlandsliebe ...... 2 Grothe: Großdeutſchland, fein Lebens-
v. Berchem: Streitfragen des Weltkriegs 421
Budde: Die neuidealiſtiſche Pädagogik
der Gegenwart
Dennert: An der Grenze des Stoffes .. 429
Deutſche Grenzbau een 509
Dürre: Gerd Schniew ind 530
Euden: Das Einheitsſtreben in der
neueren Philoſoph ieee 282
Fuß: Ludwig Findkt˖˖ d 521
Francé-Harrar: Das tote Syrakus 138
v. Gleiden-Rugwurm: Die Runft der
Ware oe 307
raum und feine Grenzen 466
Guthmann: Shakeſpeares Krankheit und
S ͤ K
Hammer-Webs: Ohne Märchen — ...
Herſe: Die Staatengründungen der Nord-
Mannen 316
3.: Auf der Farm und im Buſch h 483
Junker: Bom ungegebenen Gotte...... 48
Kaiſer: Die deutſchen Grenglande ..... 322
Kritzinger: Die Sterne, Goethe und wir 150
Lienhard: Zugend und Alter im Lichte
des Ideas . 378
IV
Seite
Loffen-Frentag: Foſeph Haas, ein deut-
ſcher Rünftler .... nennen" 550
Oehler: Oas alte Heer und die Kultur 419
Pflügl: Oeutſch Südtirol und wir. 518
Raetzer: Leben und Kultur der alten
Etrus ke......
Reini: Zwei Oberlinbrietre. 16
Roſenkrauz: Weihnachtskult und Kultſtil 235
Schäfer: Germanentum und Ackerbau. 514
Inhalte-Derzeichnis
Geite
Geifert: Urwelt, Sage und Menſchheit 44
v. Selle: Malwida von Meyſenbug an
Heinrich von Stein
Sſymank: Der deutſche Hochſchuleing
Steinmüller: Jeſu Evangelium und die
deutſche Seele
Sternberg: Das Haus der Brentano zu
Winkel im Rheingau
v. Uxkull: Die Eleuſiniſchen Myſterien . 98
415
20²
Schlie pmann: Schnipſelkultuutet 319 Wachler: Savits, der Vorkämpfer eines
Schorn: Karl Peters. 502 volkstümlichen Nationaltheaters 52⁵
Schröer: Bauern not. 506 Willrich: Zuden und Ale xandriner in dem
Seeliger: Die deutſche Bauernhochſchul⸗ neugefundenen Brief des Kaiſers
bewegung 32⁵ Claudiuunnsss .. 237
Beſprochene Schriften
Altmüller: Deutſche Klaſſiter und Ro- Oeutſches gnabenbuch und Oeutſches
mantiter. Unſterblichkeitsproblem. Mädchen buch. 250
Höchfte Lebenswerte „.....:."" 373 Die Zukunft 83
Barnum: Die große Trommel 347 Oresdener: Schwediſche und Norwegiſche
Bate: Voſſiſche Hausidylle, Briefe von Runft feit der Renaiſſanſde
Erneſtine Voß an geinrich Chriſtian Oreyer: Das Symnaſium von St. Jurgen 174
und Sara Boie . 345 Engelbrecht: Ludwig Fahrenkrog
Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit 62 Edardt: Fr. L. Jahn, Eine Würdigung
Baumgart: Die Nordgermanen 514 ſeines Lebens und Wirkens 348
— Die Adergeräte ... nen" 515 Fehling: Briefe an Cotta .... 1. 347
— Die Südgermanen 515 Fehr, Die Märzoffenſive 1918 428
— Die Urheimat der Landwirtſchaft aller Finch: Roſendokt en nnenn® 522
indogermaniſchen Völker 515 — Reife nach Tripstrilll .. 522
Bertelli: Max Butziwackel, der Ameijen- — Rapunzel 522
kaiſe r 250 — Bodenſe her. 522
Berwin: Friedrich Hölderlin 218 — Zakobsleitee uu. 522
Beyer: Rorddeutſche gotiſche Malerei. 255 — Biskra aaa. 523
Binding: Aus dem Krieg 349 — Geetdnig und Gras pfeiffer. 525
Brauwald: Berufsſtand und Staat 19 — Ahnenbüch lein . 52³
Brodhaus: Die Kunſt in den Athosklöſtern 79 Folberth: Stürmen und Stranden, Ein
Boymann: Marburg als Nunſtſtadt . . 252 Stephan · Ludwig · Roth Buch e 348
Budde: Noologiſche Pädagogie 35 Gerhardt: Der junge Wichern 348
— Was fordern wir für die Neubildung Goedſche-Reteliffe: Biarritz 547
der höheren Schulen 41 Haack: Führungen und Erfahrungen 348
Burdhardt: Der Cicerone +--+ °° 7 252 Hadina: Advent:: 458
Dacqus: Eine naturhiſtoriſch · metaphyſi⸗ — Alltag und Weigihe 436
ſche Studie % — Die graue Stadt — die leichten Frauen 438
Damafdhte: Aus meinem Leben . . 249. 319 — Heimat und Seele 437
Oeißmann: Paulus.. 19 — Lebensfeie e.. 437
Der große Rrieg 1914—18 ....-----: 422 — Maria und Myrrha „cn nn 438
Der Weltkrieg 1914-18... nn" 421 — Nächte und Steme „nennt 436
Oeutſche Boltheit ..---- ee 248 — Sturm und Stille.. 437
Inpalts-Derzeichnie
Hadina: Suchende Liebe ............. 438
Hamann: Die Eliſabethkirche zu Marburg
und ihre kuͤnftleriſche Nachfolge . . 252
Hammer: Abraham Pürninger ....... 348
Herder: Die Zrühlingsreife .......... 250
Hartung: Gottfried Reller ........... 347
Heyd: Der Zeitgenoſſ u 174
Hoffmann: Der Krieg der verfäumten
Gelegenheiten 425
gohlbaum: Der Zrühlingswalger ..... 280
v. Hötzendorf: Aus meiner Dienftgeit
Höver: Vergleichende Architekturgeſchichte 251
1900 /nͤ/cꝙhH/ %ꝙAè] ꝙ KT 422
Huna: Die Verſchwörung der Pazzi .. . 175
Hunnius: Mein Weg zur Runft ...... 347
Jantzen: Deutide Bildhauer des 13. Jahr-
hundert᷑ N 252
Kabiſch: Streitfragen des Weltkriegs.. 423
Keyſerling: Das Ehebuc h 663
Kilian: Aus der Theaterwelt, Erlebniffe
und Erfahrungen 347
König: Der Dombaumeiſter von Prag.
Ums Heilige Gra 250
Rolbenheyer: Oer Schatzgräber. Brei Le-
genden. Nein Rega u. aa 342
— Giordano Bruno. Die Bauhütte .. 345
— Ein Gruß vom Wege — Eurem Wege 344
— Gimpligiffimus .................. 344
Rriginger: Myſterien von Sonne und
See 8 158
v. Rügelgen: Gerhard v. Rügelgen, ein
Malerleben um 18ʒ· 347
Kurz: Der Deſ poet 175
Kunkel: Das große Jahurr 159
Lange: Johann Strauß, Roman. Joſeph
Lanner und Zohann Strauß 279
Larfen: Der Stein der Weiſen 176
Lennemann: Saat und Sonne. Auge
um Auge, Zahn um Zahn. Das Ge-
heimnis der alten Bibel 276
v. Liebert: Aus einem bewegten Leben 249
Liders: Minna Eauer, Leben und Werk 349
Meißner: Rahel und Alexander von der
Marwitz in ihren Briefen 346
Meyer: Gefamtausgabe ............. 249
v. Moſer: Ernſthafte Plaudereien über
den Weltkrieee gg 42⁴
Möller: Von Bach bis Strauß 280
Much: Rings um Serufalem ......... 252
V
Selte
Naunyn: Erinnerungen, Gedanken und
MeinungenNlnsNðNdddndndnn 348
Nebe: Aus der Brautzeit eines beutſchen
Gelehrten 1788—1791 ............ 348
Negle: Fräulein Mozart ER 175
Parker: Aſtrologie und ihre Verwertung
fürs Leden bees 158
Paſtor: Rembrandt. 255
Paulſen: Die kosmiſche Fibel 551
Peters: Vom mutigen Leben. Strahlende
Kräfte. Menſchen in der Ehe. Frauen
leben — Frauenliebe. Glücks kräfte
Der ieee ewes 278
Poſtl: Nationale Charatteriftiten ...... 547
Ries: Briefe der Elife von Türkheim .. 345
Saitſchick: Menſchen und Kunſt der ita-
lieniſchen Renaiffance ............ 366
Salburg: Böhmiſche Herren .......... 548
— Hofadel in Ofterrelh .............. 548
— Wilhelm Friedhof w 548
— Zudas im Herrn 548
Savits: Von der Abſicht des Dramas. 526
— Ghalefpeare und die Bühne des Dra-
m̃)0%“fsfffffff“h 8 526
Schäfer: Moderne Malerei der deutſchen
She 8 255
Scharrelmann: Piddl Hundertmark. Rund
um St. Annen. Täler der Jugend.
Jeſus der Jüngling. Die erſte Ge-
mende 277
Schliepmann: Von feligen Herzen. Was
das Leben erfüllt. Die Wenigen und
die Vielen. Abſonderliche Geſchichten.
Die Büßende Magbalena ......... 372
Scholz: Bilderbüchern. 251
Schott: Die Hacker von Freiwald 176
Schuchardt: Robert Roldewen (Briefe) . 348
Schwab: Sternenmädte und Menfd... 158
Schwantes: Aus Deutſchlands Ur- |
gechchce 252
Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit
(Im Banne des Expreſſionismus) 248
Springer: Kunſtgeſchichte I. Band 251
Stolzenberg: Anthropoſophie und
Chriſtentuu kuk ee 89
v. Strauß und Torney: Lucifer 175
Strümpell: Aus dem Leben eines deut-
ſchen Kliniker s 548
Tirpitz: Erinnerungen 81
VI Inhalte-Werzeichnis
Geite Seite
Tirpitz: Politiſche Dokumente 81 Weber: Dietrich von Bern. Die Hegelingen.
Vierordt: Erinnerungen 195 Asgard. Midgarrd eee 250
— Das Buch meines Lebens 347 Wendel: Ein Leben voller Abenteuer .. 349
Volz: Friedrich der Große und Wilhelmine Wilke: Die Religion der Indogermanen
von Bayreuth, Zugenbdbriefe ...... 344 in arddologifher Betrachtung 252
Vollerthun: Island Saghg a 70 v. Wolzogen: Wie ich mich ums Leben
Wagner: Kaiſerliche Eingriffe in die Welt; Nahe deat 249
kriegs führung 424 Würtenberger: Über Hans Thoma .... 253
Weber: Der deutſche Spielmann 250 Zimmer: Oichterweisheit in Briefen . 249
Offene Halle
Bleibtreu: Oroht neue Erderſchütterung? 160 Kirchmayr: Zur Alkohol frage 354
Dietert: „Hinein in das Reftaurant“? ... 3355 v. Morawitz -TCadio: Die Aftrologie als
Herbertz: Das Erdbeben im Erlebnis der Natur- und Geiſteswiſſenſchaft 341
Menſchde eee
Hercod: Fft das amerikaniſche Altoholver-
Rittelmener: Die Chriſtengemeinſchaft. 51
Schellenberg: Die Frage der Sternen-
bot wirklich ein Unfug? ng 353 DOUNING: cocks icdnas ce incaead os 155
Rleibömer: Alkoholverbot in Amerika und Wolff: Zur Alkoholfrannnne 332
in der Türkeeeeeeeeii eee 336
Literatur
Anderle: Emil Hadina als Lyriker 436 Lilienfein: Briefe, Erinnerungen und
Franke: Die Buchkarten Sammlung. . 438 Lebens bildeeeuh;;u eee 344
Fuß: Ludwig Finckh 521 Metz: Bruno Bauchs Hauptwerk ....... 62
Ganda: Neue Buchee 175 Müller: Jean Pauuss 167
— Bücher für Weihnachten 244 Schellenberg: Bücher über bildende Kunſt 251
Golther: Rückblick auf Bayreuth 1925 ... 258 Treblin: Der Dichter Erwin Guido
v. Hülfen: Max Halbtee 56 Kolben eher 359
Bildende Kunſt
Oiirre: Unſre Bilderbeilagen (Schwind) 441 Singer: Eberhard ge 66
— Gerd Sdhniewind.........eeeeveee 530 Anſre Runftbeilagen ..............06- 254
v. Sell: Ein ſchwediſcher Rünftler ...... 350
Muſik
Huhnhäuſer: Emil Mattiefen ......... 257 Möbius: Theodor Kirchner und | die
Loſſen Freytag: Zoſeph Haas, ein deut- Wiedergeburt der Hausmuſie 352
ſcher Künftler 0... . ccc cece ew cence 530 Zimmermann: Die Tonwortlehre von
Moſer: Georg Vollerthn- n 70 , iieescadestesees 442
Znpalts· Detzelchnie
VII
Türmers Tagebuch
Seite
Weltregierung Eigennutz — Oer Preis-
abbau und feine Widerſtände —
Frankreichs Schulden politik und Chur;
Hills Kniff — Oer Pakt als Luft-
geſchaft — Kriegeriſche und krieche;
ride Pazifiſten — Das „Nicda“ der
DIRT. ee 71
Graf Überall — Die Rriegslüge und die
Verbandsſtaaten — Polens troftlofe
Lage — Drohung mit Räterußland —
Locarno — Oer Patt — Oer liebens-
würdige Briand — Was ihn bewog —
Die Cordelia des Voͤlkerbundes 178
Ein Sleichnis — Vom Oolchſtoß — Die
Abrüftung als deutſche Waffe — Muf-
folini, der neue Caͤſar — Chamber
lains Liebesbecher Franzöͤſiſche Not
— Romantifche Politik — Able Folgen
nach Außen und Innen — Die Rrife
und Hindenb ung 261
Seite
gewandte Politik und deren Urſache —
Sie Vereinigten Staaten von Europa
— Abendländiſche Wirtſchaftsnödte —
Die politiſchen Folgen — Wir und der
Völkerbund — Muſſoliniſche und
moſſuliniſche Gefahren — Rüdblid
und Borblid 60sec sveviesewwecaes 355
Notzeit und Praffer — Vernunft ward
Unfinn — Der Parlamentarismus am
Ende — Die Dittaturen — Ztalie-
niſche Entwicklungen und Gefahren —
Argerniſſe — König Chriftus ....... 446
Das gerdumte Rin — Wann wird weiter
geräumt? — Unfer guter Anſpruch
und Frankreichs bdfer Wille — Das
Schreckenskind Europas — Unfer
Genfer Ratsfig — Die parlamenta-
riſchen Unterſuchungsausſchüſſe —
Genoſſe Dittmann und „die Meuterei
der Admirale“ — Die Fememorde —
Der ſchlappe Bismarck — Frankreichs Herr, komm herab 535
Auf der Warte
Adolf Oamaſ che N Die Gutem 453
ee. er 89 Die Schillingskriſe in Berlin 370
Alexander von Gleichen · Rußwurm .. . 277 Die Schuld der Umgebung ........... 92
Allerlei aus Polen 196 Die „ſchwarze Schmach“ in unſrer Tanz-
AnthropoſophiſchGmes .un.» 361 Min 88 459
Auch ein Rünſtleeſguoͤê 457 Die Stockholmer Weltkonferenz 92
Aufſchwung des deutſchen Turnierſports 463 Die Veräußerlichung des vaterländiſchen
Aus ſchleſiſchen Bergen 190 Gedankens ne 78
Berliner Handel mit Kunſ ti. 546 Ein deutſches Ehrenmal 195
Berufeftand und Staat .............. 19 Ein Richard Wagner-Gaal in Bayreuth 191
Briefe des Königs von Uganda ........ 549 Ein weiteres Wort von jungdeutſcher
Bücher des Feinſinns 366 Seit unse 271
Chriſtwunder aus der Sonne Homers. 79
Das kleine Glas
Das Radio, ein modernes Narkotikum. 95
Der deutſche Sprach verein 95
Der Fall Becheeuſurrrrr 458
Der VWwlferroman ............ 00. cee 547
Der Walzgerlönig ......... cee e ees 279
Deutide Feſtſpiele 1926 in Weimar ... 374
Die attiſche Göttin
Die Begabten und die Grundfdule .... 461
Die Lebendigmachung des Mittelftandes 85
Ein Wort für den Zungdeutſchen Orden 269
Eine Mahnung an die vaterländifchen
Verbünde 188
Eine Rede von Elſa Brändfteöm ....... 365
Eliſabeth Rulmann .................. 278
Emil Peters oo... cececseececscees 277
Europdiſche Neduiunner eee 460
Fir die vaterlandifhe Bewegung 268
Gegen die Rangleifpradhe ............- 96
Srundeigentu nnn 549
Gruß an Rudolf Eucken 381
VIII Zntalte · De rzeichnle
f Selte
Guſtav Schröer. 452 Theater elend. 223
Hans Allmüller. 577 Tirpitz. 81
Hans Schliepman ng 371 „überſpannunga „nn. 462
Heinrich Dierordt nn" 194 Unfranzöoͤſiſches aus dem Elſas 83
„Im Anfang war die Lieben 452 Unfug im Geldverke r.... 459
geden Tag eine Briefſtelle. 9o Vom „Helland“ und feinem Sänger . 365
Nobelpreis und Fritz v. Unruh 93 Vom Reichsehrenmalll. 542
Paul Ernſt .. Q ꝑ q 541 Weimar und Potsdam 200
Plagiate. 544 Weltrekord.. 280
Rudolf Paulfen .... nn ‚551 Wilhelm II. und wie. 275
Schein völkiſche Schädlinge 543 Woldemar von Axku ll. 195
Schillings und der Parteienſtaat 456 Zur Ausländerei auf den deutſchen
Siedlun ... 550 Bühnen
Steiner und Rittelme yer. 87 Zur vaterländiſchen Bewegung 186
Sternheim, der Retter cate 91 Zboei niederdeutſche Hichter 2716
Straßburger Sheaterftandal ...------> 83
Kunſtbeilagen und Illuſtrationen 5
Broel: Feſtlicher Rhein 1 Haß: Chriſtus naht der Welt. 3
— Über allen Gipfeln ift Ruh 2 Zuüttner: Maria mit dem Rind 3
Ege: Abend in einer tömiſchen Villa 1 Köhler: Winter im Walde 5
— Torre di Sanguaun nen 1 Quante: November 2
— Spatfommernadmittag (Donauland- Rathmann: Oſtmartenkiefern 2
ſchaft . , , v. Schwind: Bildnis der Friederike Sachs 5
Prinz Eugen von Schweden: Wo der Schniewind: An der Ww umme 6
Wald fic lichte... 4 — Eichen am Moorõ,r r 6
— Stochholmer Schloß es 4 Moorlandfhaft nett 6
Haß: Chriſti Geburt. 3 — Stumm 6
| Notenbeilagen
Haas: Schwanke und Idyllen 6 Vollerthun: Ardannas Lied 1
Kirchner: Aus Kirchners Hausmuſit 4
Eingefandte neue SGehriftwerfe
Auf den Veilagen.
Auf den Beilagen
Briefe
Digitized by Google
ee und ale
1% ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT <
Serausgegeben peer Dr D Frioòrieh. Licrbard
DSegeainsers S Q — > —
Oktober 1925 Heft!
Jotzt oder nie!
So muß die Ehre immer [prechen;
ihre Stunde, ja ihre Minnte iſt immer da:
fie kaun nichts vorſchieben, fie darf nichts
von ber Gelegenheit und dem Jufall hoffen,
ihr Geſetz bleibt immer das kurze und runde:
Tue, was du must, lege oder ſtirb und
überlaſ Gott die Entſcheidung!
Eruſt Moritz Arndt
(„Der Rhein, Dentſchlau bs Strom, aber nicht Dentſchlauds Grenze)
| Der Türmer XVIII. 1 1
Von der Vaterlandsliebe
Von Prof. Dr. Bruno Bauch
oh, wie die Liebe felbft, ift der Sinn ihres Namens. Eine andere ift die Liebe
des Liebenden zur Geliebten, eine andere der Liebenden zum Geliebten.
Wieder eine andere iſt die Liebe des Gatten zur Gattin, eine andere die der Gattin
zum Gatten, eine andere die zum Vater, eine andere die zur Mutter, eine andere
die zum Kinde, eine andere die zum Sohne, eine andere die zur Tochter. Anders
iſt die Liebe von Freund zu Freund, anders die von Freundin zu Freundin, anders
die von Freund zu Freundin, von Freundin zu Freund. Noch ganz anders iſt die
Liebe zu Beſitz und Erwerb. Wiederum eine ganz andere iſt die Liebe zu ſeiner
Aufgabe, ſeinem Werke, ſeiner Beſtimmung. Wieder anders iſt die Liebe zu ſeiner
Ehre. Ja, es gibt auch eine Liebe zum Niedrigen und Gemeinen, wie es eine Liebe
zum Hohen und Ungemeinen gibt. Schwer wäre es, alle die Formen, in denen
ſich die Liebe darlegt, zu erſchöpfen oder auch nur zu nennen. Viel verſchlungen
find ihre Wege, wie das Labyrinth der Seele, die fie alle durchziehen können.
Jede dieſer Formen hat ihre eigene Prägung und Stellung. Und unter ihnen
hat wiederum ihre beſondere eigene Prägung und Stellung auch die Liebe, die wir
nennen: die Liebe zum Vaterlande, Daß wir von Vaterlandsliebe ſprechen können,
das beleuchtet Vaterland und Liebe zugleich. Es zeigt, daß uns das Vaterland nicht
bloß ein geographiſcher Begriff iſt, wie der Nordpol oder der Südpol. Von Nordpol-
liebe oder von Sũüdpolliebe zu reden, dürfte uns ungereimt erſcheinen. Zwar mag
den Forſcher die Liebe zur Forſchung, die Sehnſucht nach Erkenntnis auch zum
Südpol oder zum Nordpol unwiderſtehlich hinziehen können, mit derſelben Unwider-
ſtehlichkeit, mit der die Geliebte den Liebenden an ſich zieht. Aber das iſt dennoch
keine Liebe zum Sũdpol oder zum Nord pol ſelber; ſondern die Liebe zur Erforſchung
von Nordpol oder Südpol iſt Liebe zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Wahrheit
ſelbſt. Das Vaterland aber lieben wir ſelber, und darum iſt es uns mehr als ein
bloß geographiſcher Begriff, auch wenn wir es als Land auf der Landkarte um-
grenzt finden können. Zur Erforſchung des Nordpols können ſich hingezogen fühlen
Forſcher, die ſehr verſchiedenen Vaterländern angehören. Keiner wird von ſeinem
Nordpol, aber jeder wird von ſeinem Vaterland ſprechen können. Keiner wird
von irgendeinem Menſchen in ſeinem eigenen Vaterlande vorausſetzen, daß ihn
dieſelbe Liebe zur Forſchung und Erforſchung erfülle, wie ihn. Aber er wird, wenn
anders in ihm ſelber der Sinn für Vaterlandsliebe nicht verſchüttet und erſtorben
iſt, jedem ſeiner Vaterlandsangehörigen anſinnen, daß er ſein Vaterland gerade
als Vaterland liebe. In dieſer Anſinnbarkeit offenbart ſich der beſondere Sinn der
Vaterlandsliebe, offenbart ſich, wie wir in der Vaterlandsliebe lieben, und was
wir im Vaterlande lieben. Ich ſinne keinem anderen an, daß er meine Gattin als
ſeine Gattin, meine Geliebte als ſeine Geliebte liebe. Solche Liebe könnte ja gerade
zu Liebeskonflikten führen. Wohl aber ſinne ich allen meinen Vaterlandsangehörigen
an, daß ſie mein Vaterland auch als ihr Vaterland lieben, wie ich jedem anſinne,
daß er den Nächſten, ja ſelbſt ſeinen Feind als Nächſten liebe, mag er ihn als Perſon
auch haſſen.
Bauch: Von der Gaterlandslicbe 3
Hier werden wir auf den tiefen Unterſchied geführt, den Luther unter religiöſem
Geſichtspunkte ſelber wundervoll tief bezeichnet hatte: den Unterſchied zwiſchen der
an die individuelle Perſon gebundenen Liebe und der über die Grenzen der Perſon
hinausgreifenden Liebe; ein Unterſchied, den alle die verkennen, die in der von
Luther geforderten Chriſtenliebe eine Sinnloſigkeit ſehen, gerade weil ſie ein Gebot
darſtelle, während die Liebe ſich doch nicht fordern und gebieten laſſe. Gewiß, die
Liebe zu meiner Geliebten, zu meiner Gattin kann ich als Liebe zu ſeiner Geliebten,
als Liebe zu ſeiner Gattin nicht von einem anderen fordern. Sie hängt ab von der
Perſon in ihrer Individualität, die gerade ich liebe, und ich kann von keinem anderen
vorausſetzen, daß auch er ſie liebe oder lieben könne. Hier entſcheidet immer das
Perſönliche, das Individuelle. Aber wie nach Luther die Chriſtenliebe „unabhängig
iſt von der geliebten Perſon“ und gerade darum eine geforderte Liebe ſein kann,
ſo iſt noch viel offenbarer die Vaterlandsliebe eine nicht an eine Perſon gebundene
Liebe; fie iſt eine geforderte Liebe. Darum dürfen wir auch geradezu von der For-
derung, dem Gebot der Vaterlandsliebe ſprechen, wie wir vom chriſtlichen Liebes-
gebot ſprechen dürfen. Beide haben, wie gewiß auch viele Formen der perſönlichen
Liebe, ihre Wurzeln in den tiefſten Schichten der religiöſen Innerlichkeit. Daraus
begreift es ſich freilich auch, daß fie einer an den Oberflächen des Lebens dahin-
ſchiebenden Zeit verloren gehen können. Wer nur an der Oberfläche lebt, wird weder
ſein Vaterland, noch den Nächſten als Nächſten, noch auch eine Perſönlichkeit in
ihrer beſonderen Individualität aus den Tiefen der Seele lieben können, weil ſeiner
Seele die Tiefen fehlen.
Wenn wir alſo fragen, wie wir das Vaterland lieben und lieben tönnen, ſo
muͤſſen wir die Frage dahin entſcheiden: im Sinne einer Forderung, eines Gebotes,
nach dem wir es lieben ſollen. Und wenn wir fragen, was wir im Vaterland lieben,
lieben können und lieben ſollen, ſo können wir die Frage einſtweilen nur negativ
dahin entſcheiden, daß wir es nicht bloß im geographiſchen Sinne eines gerade ſo
oder ſo umgrenzten Landes zu lieben haben. Gewiß iſt auch das Land als ſolches
gerade für die Vaterlandsliebe nicht gleichgültig. Aber in dem Worte Vaterland iſt
doch der erſte, nicht der zweite Wortbeſtandteil entſcheidend. Ein Land bloß als
Land könnte aus ſehr verſchiedenen Gründen geliebt werden. Es könnte um ſeiner
landſchaftlichen Reize und Schönheiten willen geliebt werden. In dieſen könnte
irgend ein fremdes Land das Vaterland weit überragen. Dieſe Liebe wäre keine
Vaterlandsliebe. Es könnte jemand ein Land lieben, weil er in ihm begütert ift
und ſeinen Beſitz hat, ohne daß es ſein Vaterland iſt. Solche Liebe ſtünde nicht
höher als die zum Beſitze überhaupt, die ſehr traurige und niedere Formen an-
nehmen kann. Wie leicht wird ihr der Landbeſitz zum bloßen Spekulationsobjekt.
Sanz anders liebt der Bauer ſein Land; er liebt es nicht als toten Beſitz, ſondern,
weil er ihm durch lebendige Arbeit verbunden iſt. Er beſtellt den Acker, den vielleicht
ſchon fein Vater und Großvater beſtellt hat. Sie haben ihm die Hingabe ihrer Arbeit
geſchenkt, wie er ihm nun die Hingabe der ſeinigen ſchenkt. Unter ſeinem Dache hat
ſich das Schickſal ſeiner Vorfahren abgeſpielt, die Bilder an ſeinen Wänden ſind
ſtumme Zeugen der Geſchichte ſeiner Familie und ihrer Geſchicke. Ihre Arbeit
ſpricht zu ihm aus Hof und Haus, aus Wald und Feld, fie mahnt ihn, fie fortzu-
4 Baud: Von der Vaterlandsliede
führen, damit er fie dereinſt übergebe feinen Kindern und damit auch dieſe fie fort-
führen. Schon gehen fie ihm vielleicht dienend und helfend zur Hand. Sie lernen
von ihm zu ſchaffen und zu wirken, wie er von ſeinem Vater einſt zu ſchaffen und
zu wirken gelernt hat und wie dereinſt ihre Kinder von ihnen zu ſchaffen und zu
wirken lernen werden. Arbeit und tätiges Leben, Lebensſchickſal und Lebensgeſchichte
bindet durch Generationen hindurch in Liebe den Landmann ſichtbar an das von
ihm beſtellte Land und unſichtbar an bie Lieben, die es vor ihm beſtellt haben und
nach ihm beſtellen werden. Darum liebt er ſein Land, und darum iſt es ihm nicht
gleihgültiges, einfach veräußerliches Objekt.
Dieſe Liebe iſt es, von der aus wir im Kleinen zur Baterlanbsliebe im Großen
geführt werden, die uns das Vaterland nicht bloß als Land, ſondern als Bater-
land, als unſerer Väter, unſer eigenes, unſerer Kinder Land verſtehen hilft. Wir
lieben alſo im Vaterland nicht allein das Land, ſondern die in ihm lebenden und
wirkenden Menſchen, die verbunden ſind durch gemeinſame Arbeit, gemeinſame
Geſchichte, gemeinſame Geſchicke. Es find gemeinſame Arbeit, gemeinſame Ge-
ſchichte, gemeinſame Geſchicke einer großen gemeinſamen Familie, des gemein-
ſamen Blutes des Volkes.
Die Liebe zum Vaterlande iſt darum die Liebe zu dem Lande, in dem unſer
Volk lebt, wirkt, ſchafft und tätig iſt, iſt darum zugleich auch die Liebe zu unſerem
lebendigen Volke ſelbſt. Das Volk aber iſt, wie Fichte einmal tief und treffend
geſagt hat, „das Ganze ber in Geſellſchaft miteinander fortlebenden und ſich aus
ſich ſelbſt immerfort natürlich und geiſtig erzeugenden Menſchen, das insgeſamt
unter einem gewiſſen beſonderen Geſetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm
ſteht“. Auf zwei Seiten iſt dabei alſo zu achten. Im Volke liegt auf der einen Seite
die natürliche Abſtammungsgemeinſchaft, in deren Sinne Fichte auch vom „ver-
brüderten Stamme“ ſpricht. Das Fremdwort „Nation“, das vom Lateiniſchen
„hasci“ = geboren werden ſich herleitet, und deſſen Sinn wir auch in dem Worte
„Natur“ wiederfinden, drückt in feiner urſprünglichſten Bedeutung dieſe natürliche
Abſtammungsgemeinſchaft aus, in deren Sinne Goethe einmal ſehr ſchön von der
Gemeinſchaft der „Mitgeborenen“ ſpricht. (Das alte „cogneti“ ſagt dem genauen
Wortlaute nach basfelbe.) Auf der anderen Seite liegt im Volke die Gemeinſchaft
des inneren geiſtigen Lebens, des Lebensſchickſals und ſeiner Geſchichte, wie ſie
ſich darſtellen im ganzen feiner völkiſchen Kultur. Die Kultivierung des Landes
im urſprünglichen Sinne weitet ſich zur Pflege der ganzen Güter des Volkstums
im Sinne ſeines ganzen geiſtigen und ſittlichen Lebens und der Entwicklung „des
Göttlichen aus ihm“.
In ihm gipfelt die Vaterlandsliebe. Sie erhebt ſich zu der beſonderen Beſtimmung,
die ihrem Volke im Göttlichen und zum Göttlichen gewieſen iſt. Nicht verkennt ſie,
daß jedem Volke eine ſolche Beſtimmung im Ganzen der Menſchheit zukommt. Aber
fie weiß auch, daß jedes Volk in dieſem Ganzen gerabe feine befonbere Beſtim-
mung habe, ohne die es kein Volk wäre, und ohne die es für das Ganze der Menfd-
heit keine Bedeutung hätte, wie ohne fie auch die Menſchheit eine leere, tote Ab-
ſtraktion wäre. Darum alſo umfaßt die Vaterlanbdsliebe die beſondere Beftim-
mung gerade ihres Volkes, um für dieſe Beſtimmung zu leben und, wenn es
Tiedemann: Herbftgnade 5
nottut, auch zu fterben. Wer fein Vaterland liebt, erfaßt es in feinem tiefſten In-
neren, daß es nicht unter allen Umſtänden nötig iſt, daß gerade er lebe, daß es nötig
ſein kann, zu ſterben, damit ſein Volk und Vaterland auch nach ihm in Zukunft lebe.
Das Bewußtſein der Verbundenheit durch gemeinſame Geſchichte und gemeinſame
Geſchicke wendet die Vaterlandsliebe alſo nicht etwa nur der Vergangenheit zu.
Gewiß wird fie immerdar beſonders den großen Geſtalten biefer Vergangenheit, die
der Beſtimmung ihres Volkes ganz und vorbildlich hingegeben, auch vorbildlich
gewirkt und das geſchaffen haben, an dem die Folgezeit weiterwirken und weiter-
ſchaffen konnte, aus ganzer Seele ſelber hingegeben ſein. Aber jenes Bewußtſein
wendet die Vaterlandsliebe ebenſo der Zukunft zu, um, ſei es im Großen, ſei es
im Kleinen, wiederum zu wirken und zu ſchaffen, was kommende Geſchlechter
weiterbilden und weiterführen können. Immer wird ihr die Gegenwart Glied in
der Kette der Generationen ihres Volkes ſein, damit das Ewige und Söttliche
geſenkt und gefdet werde in die unenbliche Zeit.
In der Gewißheit der Beſtimmung ihres Volkes zu ewigen, göttlichen Werten
wird der Vaterlandsliebe bie Zeit ſelber zur Geburtsſtätte der Ewigkeit, für die,
was ihr Volk an Werten durch Arbeit, Tat und Leiſtung geſchaffen hat, unverloren
bleibt. Darum kann Fichte, ebenſo ſchön wie wahr, von der Baterlandsliebe ſagen,
daß gerade fie es iſt, die „die Nation als eine Hülle des Ewig en umfaßt, für welche
der Edle mit Freuden ſich opfert, und der Unedle, der nur um des erſten willen
da iſt, ſich eben opfern ſoll“. Und er kann die Vaterlandsliebe geradezu bezeichnen
als „das Erfaſſen ſeines irdiſchen Lebens als eines ewigen und des Vaterlandes
als Träger dieſer Ewigkeit“.
Herbſtgnade
Von Lotte Tiedemann
Der erſte Herbſt, der dieſe Welt betrat,
Begann mit Inbrunſt die Vernichtungstat
An Baum und Strauch, wo er vorüberſtreifte.
Und als nun Aſt um Aſt ſich weiß bereifte
Und langfam Blatt auf Blatt herniederfiel,
So ohne Willen, ohne jedes Ziel:
Empfand der Schöpfer mitleidsgroße Güte,
Und er durchrieſelte wie eine Blüte
Jedwedes Blatt verheißungsvoll mit Glut,
Auf daß es tropfenweiſe fiel, wie Blut,
Und flammend ruhte auf erfror nem Pfade
Zum Zeichen ſeiner wandelloſen Gnade.
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens
Wir beginnen hier mit der Veröffentlichung der
ſtimmungsvollen Roman - Dichtung eines in Oeutſch⸗
land lebenden Vlamen.
Die Legende
ie Kinder ſitzen auf ihren roten Stühlen und lauſchen. Sie wollen immer
D wieder die Legende vom ewigen Licht hören. Sie kennen ſie auswendig,
und ſobald ich etwas auslaſſe oder hinzufüge, und fei es auch nur ein Wort, gleich
merken ſie es. Auch der Hund ſcheint es zu merken: er hebt dann vorſichtig den Kopf
und blinzelt mich an.
— Von Anbeginn war das ewige Licht, das im Herzen Gottes heller leuchtet
als die Sonne an einem windſtillen wolkenloſen Sommertag. Und wer von dieſem
Licht einen einzigen Strahl erhaſcht, auf welchem Stern er auch geboren fei, der
fühlt ſich erhöht und ſchöpferiſch beflügelt, und ſtände er in den Tiefen der ſündigen
Leidenſchaft als ein ſchwacher gottlofer Menſch. Niemand kann der heimlichen
Macht ſich entziehen, die einem ſolchen Strahle innewohnt; er trägt ihn Zeit ſeines
Lebens mit ſich umher und lacht verlegen, wenn andere weinen müſſen, und weint,
wo anderen das Lachen ankommt. Einſam geht er ſeinen Weg durch eine ewige
Sommernacht, feine Gedanken find erfüllt von einem ſeltſamen Glanze, und ge-
lingt es ihm je ſie auszudrücken, ſeine lichten Gedanken, ſo ähneln ſie dem Herzen
Gottes und haben ein tiefinneres Leuchten und eine Reinheit, die fie über die Ge-
danken anderer Menſchen erhebt. Aber es gelingt ihm nur felten, oft nur ein ein-
ziges Mal, ein von ſolch leuchtenden Gedanken erhöhtes Werk zu ſchaffen, das Gott
wohlgefällt ..
Die Kinder auen mich erwartungsvoll an. Der letzte Satz gehörte nicht
mehr der Legende an; er ſchien eine Fortſetzung zu verheißen, als wüßte ich von
einem Menſchen zu erzählen, der unter dem Banne von Gottes Herzen dabin-
gegangen.
— Ehe wir von Holland fortzogen, wollt' ich euch immer noch einmal von
dem Leben ſeines größten Sohnes erzählen. So klein ihr auch damals waret, ihr
liebtet fein Hundertguldenblatt und die Holzhackerfamilie, ihr liebtet fie mit
eurem kindlichen Herzen. Nun ſind Jahre verfloſſen, ſeit wir dies glückgeſegnete
Land verließen, und anſtatt der Märchen und Geſchichten, die mir eine glück-
liche Stunde eingab, und denen ihr ſtundenlang zuhören konntet, wollt ihr jetzt
von den wahrhaftigen Dingen des Lebens hören. Ich will euch deswegen die
Tragödie Rembrandts erzählen, eines Mannes aus dem Volke, den feine Mit-
bürger zum Ruhm erhoben hatten, ſolange er ihnen wohlgefällige Werke ſchuf,
feine Seele aber ſteinigten, als dieſe ſich von ihnen abwandte, um der Berberr-
lichung Gottes in myſtiſchen Bildern zu leben, denn die Menſchen mißgönnen in
ihrem glanzlofen Daſein jedem Lichterfüllten die Verſunkenheit und Hingabe an
ſein Werk.
Martens: Der Damon bes Lichte 7
Kunſt und Künſtler
Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde.
Der Künſtler ſchuf die Kunſt nach feinem Bilde.
Der Orang nach Darſtellung der lebendigen Wahrheit in der Natur bis zur
Entſchleierung der Seele iſt die ſchöpferiſche Kraft, die den Künſtler bildet und
treibt.
Seder ſchöpferiſche Drang iſt göttlich.
Jedes Lichtbringen in ein Chaos iſt göttlich.
Sede Offenbarung iſt ein Lichtbringen.
Jede Kunſt iſt Offenbarung.
Offenbarung der äußeren Welt, wie fie ſich unſerem Auge gibt, wird von einem
Künſtlertemperament bewirkt, das in einem außergewöhnlichen Maße die Gabe
der Beobachtung und der Berechnung beſitzt. Ihre großen Maler waren klare kühle
Geifter, die aus dem hellen Born eigener Erkenntnis ſchufen. Die Zahl der Nach-
empfinder iſt Legion, die der Vollender ganz gering.
Faſt jede Kunſt, ob Dichtkunſt, Malerei oder Bildhauerei, iſt Offenbarung der
äußeren Welt in dieſem Sinne.
Offenbarung aber der unbegreiflichen inneren Welt, wie ſie ſich unſerer Seele
gibt, wird von einem Künſtlertemperament bewirkt, das von einer feierlichen Ekſtaſe
oder dichteriſchen Einbildungskraft geläutert iſt.
Wird aber Temperament, Einbildungskraft, Ekſtaſe, Beobachtung und Berech-
nung von einer urſprünglich ſchöpferiſchen Seele beflügelt, fo entſteht im Gegen-
ſatz zur geſchilderten Darftellung der Welt eine ewig lebendige von Seele zu Seele
ſchwingende Kunſt. Sie ijt formgewordene Seele, lebenbigfter Ausdruck in die Welt
ausbrechender Gefühle.
Wie oft iſt ſie der befruchtende Regen aus der Wolke Leid!
Ihr Erzeuger gibt ſeiner Zeit das Gepräge ſeines weltumfaſſenden Geiſtes.
Rückblickend iſt ſie ohne ihn gar nicht mehr faßbar.
Er bildet ſeine Zeit.
Seine Malart iſt urſprünglich und unbegreiflich, feine Erfindungskraft ſchwingt
ſich bis an das Ende der Welt.
Er gebietet über die tote und lebendige Natur wie ein Gott.
Er zwingt alle Künſtler ſeiner Zeit unwillkürlich in ſeinen Bann.
Dieſe Kunſt iſt göttlich. Göttlich die leuchtende Geiſtigkeit, der harmoniſche Welt-
einklang in den gedankenreichen Werken Lionardos, Dürers, Titians und Rubens,
göttlich die ſich emporbäumende Dämonie eines Michelangelos, eines Rembrandt.
Was bedeuten ihr Schönheit und Häßlichkeit? Sie dienen ihr nur als Ausdrucks-
mittel.
She Schöpfer kann beide zugleich in eine Form zwingen.
Rembrandts Heroen ſind häßliche Menſchen mit ſchönen Seelen.
Wir müffen fie lieben, weil fie göttliches Leid verkünden.
Häßliche Züge bewirken den ſtärkſten ſeeliſchen Ausdruck.
Was erſchuͤttert ſtärker: Michelangelos gigantiſches Pathos oder Rembrandts
völlig unpathetiſches Inſichverſunkenſein?
8 Martens: Der Dämon des Lichts
Zwei unendlich verſchiedene Gefühlswelten und doch eine und dieſelbe dämoniſche
Urwelt.
Dieſe Kunſt macht alle Kritik bedeutungslos: ſie ſpricht von ſelbſt.
Die Erſcheinung
Es tanzt die Springflut am Katwijker Strand. Die von Englands Kreidefelſen
heranbrauſenden Böen fingen ihre alten Wikingermelodien. Seit Tagen jagen die
heulenden Windſtöße abwechſelnd im ſchrillſten Diskant und tiefſtem Baß über die
aufgewühlten Ganbberge landeinwärts, und die Wogen klatſchen und ſpülen über
den Baſalt der Strandmauern bis hinan an das Rietgras der höchſten Dünen-
tdmme.
Ich liege bewegungslos, völlig ſturmerſchöpft in der ſchmalen niedrigen Wohn-
kammer beim Heringsfiſcher Molenaer in der krummen Seeſtraße, in die ich mich
vor der Menſchenwelt auf einige Vorfrühlingstage geflüchtet, ganz zerſchlagen
von dem Klirren der loſen Scheiben, die jeden Augenblick einzubrechen drohen.
Wie mübe bin ich des ewigen Graues ber ſchäumigdunſtigen Waſſerfläche! Molenaer
iſt bei den Rettungsbooten beſchäftigt; er weiß nichts von meiner müden Stim-
mung, der Glückliche! ;
Es iſt Abenddämmerung; kaum erkenne ich nod die Umriſſe der hohen ftroh-
geflochtenen Stühle im Zimmer. Im Kamin ſcheinen ſich alle Klagegeiſter der auf-
gewirbelten Natur eingefunden zu haben; das Feuer raucht und ſchwelt. Die ganze
Hilfloſigkeit der menſchlichen Seele iſt über mich hereingebrochen, und ich ertrinke
in den Wellen des zerbrochenen Willens. Die alte Angſt vor Schatten und Schemen
ist wieder in mir wach geworden; ich fürchte dieſes Hineinbrüten in einen Zuſtand
der heraufdämmernden Viſionen eines unbefriedigten Lebens. Ich muß mich vor
dieſer Gefahr ſchützen und in die funkelnde Welt der Einbildung hineinflüͤchten.
Ich muß mith erfüllen laſſen von dem Weſen und den Gedanken eines erſehnten
Menſchen. Stimmen werden laut, die ich zu erkennen meine und die ich doch nicht
kenne.
Eine vergangene Welt dämmert herauf; noch kann ich keine der im Nebel ver-
ſchwimmenden Geſtalten unterſcheiden, bis plötzlich durch die bewegte Maſſe ein
alter gebüdter Mann daherkommt, der gerade auf mich zugeht und mir lange for-
ſchend in die Augen ſieht, als wolle er Sinn und Weſen meines Seins erprüfen.
Doch fein Mund bleibt ſtumm, und die welken Lippen zucken in unſagbarer Ent-
ſagung. Er legt mir die Arme um den Hals, und feine Gedanken wollen ſich meiner
bemeiſtern. Ganz erfüllt bin ich von dieſer ſeltſamen Viſion, die in mir glüht in der
dunkeln ſtürmiſchen Nacht, wo nur die Leuchtfeuer ins Meer hinausblinken. Ach,
du erſchütternd alter Mann, du Schatten eines erſehnten großen Toten, ich flehe
dich an: Behüte mich vor der Irre der ewigen Finſternis!
Du ſtehſt neben mir in dem dunkeln Zimmer, deine Augen glühen im unbeim-
lichen Glanze der Entrüdtheit, deine Stimme klagt eindringlich leiſe:
— Eingekerkert war ich in dieſer Welt, ſie ſelber war das graue Gefängnis, in
dem ich litt. Nach allen Seiten hin hätte ich durch die Türen und Gänge der menſch-
lichen Eitelkeit entweichen können, ich aber wollte und konnte nicht. Mein Blick
Martens: Der Damon des Lichte 9
ging ſenkrecht die Wände hinauf. Aus ungeheurer Höhe fant das verzauberte Licht
in die Dunkelheit meiner Zelle, mein Weſen bäumte ſich empor; unendlich hoch
ſtiegen die Mauern zum Zenit hinan, die ringsum mit geheimnisvollen Zeichen
und Viſionen bedeckt waren. Ach, mein Weſen ſuchte nicht die behagliche Fülle und
Breite des Lebens, es wollte ſteil empor und ſtieß ſich wund und blutig an den ſchar⸗
tigen Kanten und Fugen des grauen Geſteins.
Selten, ſelten kam aus den Irrgängen hervor ein liebreiches Frauenantlitz und
lächelte mich an, Troſt ſpendend mit feiner holden Geelen- und Lebenswärme.
Da quoll ein Blutſtrom neuen Lebens durch mein Verließ. Und da fang ich, im An-
ſchauen des hohen geheimnisvollen Lichtes und der lieblichen Erſcheinung ver-
ſunken, mein Leid, betete meine Lieder und malte die Schmerzen meiner Ein-
ſamkeit auf die kalten tauben Wände des Kerkers. —
Die Stimme des Einſamen verſtummte. Als ich wieder aufblickte, war die Er-
ſcheinung verſchwunden, und der helle Schein, der im Zimmer glänzte, erloſch
langſam. Die Nacht war immer noch wild und ſtürmiſch, und da träumte mir von
einer funkelnden Flamme in der Dunkelheit, die lange gegen den Sturm und die
Wellen mühfam und flackernd im Winde antampfte, bis fie von ihnen nicht mehr er-
reicht werden konnte und hoch über den Sternen herrlich einging in die Fülle des
ewigen Lichtes.
Das Buch der Einkehr
1640
1.
Amſterdam iſt die großmächtige Handelsſtadt der Welt geworden, der bedeutendſte
Stapelplatz des Feſtlandes. Einſt war es Venedig, die Gleißende, das Emporium
zwiſchen Orient und Okzident. Gleichzeitig erhob ſich Brügge, die ſtolze nordiſche
Frau im Dunſt des Meeres, die Königin der Nordmänner. Die See zog ſich vor ihr,
der Hochmütigen, zurück und ließ fie ſtehn in einer Wüſte. Sie verſandete, die un-
heimlich funkelnde Stadt. Da ward Brügge zur klöſterlichen Frau; die Abgeſchiedene
ſtarb für die prunkende Welt. Die Zeiten verändern das Angeſicht der Erde. An
der Schelde wuchs Antwerpen empor, die Stadt der Uppigteit und Lebensfreude,
das ſchöne fürſtliche Weib der flandriſchen Tiefebene. Philipp der Spanier ließ fie
am Marterpfahl bluten. Sie ſchwieg geduldig und erhob ſich noch einmal in der
Gunjt der Welt, als Rubens, der Maler, fie malte als üppige Frau. Die Sinjoren-
ſtadt liebte die gefüllte leckere Tafel, von der ſie ſich nicht mehr erheben konnte;
fo gemäſtet hatte fie ſich. Sie fiel unter den Tiſch.
Auf ihrem breiten Platz an der Tafel der Welt ſaßen plötzlich zwei wolfshungrige
Buben, Leiden und Amſterdam, die Städte Calvins, und begannen in die Braten-
ſchüſſel zu langen mit gierigen Händen.
Fleißig, fürwahr, waren die Jungen, der Handwerker und der Handelsmann.
Sie blieben zuſammen in Eintracht, bis Amſterdam Leiden an Macht und Anſehn
überflügelte. Sein Hunger war nicht mehr zu befriedigen; bis nach Indien und Peru
ſegelten feine gewaltigen Kauffahrer und Kriegsſchiffe, um die koſtbarſten Leder-
biſſen herbeizuſchaffen. Amſterdam der Handelsmann ſiegte über den Handwerker.
10 Martens: Der Dämon bes Lichts
Triumphiere nicht zu früh! Albion rüftet ſich im ftillen. Was Albion will, das
erreicht es mit ſeiner ſtiernackigen Zähigkeit.
Aber die Dichter beſingen dich, Amſterdam, auch als die lieblichſte der nordiſchen
Städte, Lieblich iſt dieſe ſtolztürmige, hochgieblige Stadt am J. Jede Straße hat
ihr eigenes Gepräge. Sie liebt es, im Bogen zu laufen, ſich an der Kühlung einer
Gracht, die von breitblättrigen Linden bedeckt wird, in heißen Sommern zu laben,
oder ſie windet ſich im Zickzack hin und her, von irgendeinem verwitterten Stadttor
beſchattet. Die Höhe der ſchmalen ſechsſtöckigen Häuſer iſt erſtaunlich; oft muß noch
der Söller zum Warenlager herhalten. Würden die ſich gegenũberſtehenden ſchwarz-
berußten Backſteinhäuſer einmal das verſtändige Bedürfnis empfinden, ſich nach
dem langen Stehen der Länge nach auf das Straßenpflaſter hinzulegen, ſie würden
ſich böſe die Köpfe ſtoßen.
Unzählige im Bogen erbaute Holzbrücken überqueren die Grachten. Nur wenige
ſind befahrbar für die hohen roträderigen Staatskaroſſen und die ſchweren plum-
pen Gefährte der Gemüſebauern, die mit ihren Kollegen, den Viehzüchtern, weit
aus dem Ackerland der Polder und dem Weideland der Flüſſe in die Stabt fahren,
um ihre Kunden zu bedienen und die großen Märkte zu beliefern. Die aus den
ferneren Teilen des Landes ſtammenden Lebensmittel werden in einer Leichter
flotte nach Amſterdam verfrachtet. Vor den Brücken und Schleuſen ſtauen ſich die
ſchwerfälligen Kähne, auf denen ſich die Schifferfrauen in ihren bunten Kopftüchern
fröhlich die Neuigkeiten des Tages zurufen.
Der,
Fabritius und de Ronind find Freunde. Ihrem Lehrvertrag mit dem Meifter
Rembrandt gemäß müſſen ſie bei Aufgang der Sonne in der Anthoniesbreeſtraat,
dicht an der Brucke, mit der Arbeit beginnen. Fabritius iſt der Liebling des Meifters,
der von ihm jagt, er fei der einzige feiner Schüler, der den Funken des göttlichen
Lichtes in ſich trage. Ach, es iſt fo ſchwer, ſich mit übernächtigen Augen an die Arbeit
zu machen. Der Meiſter grollt auch, wenn er Seegras in den Augen der jungen
Leute aufſpürt, und er ſieht doch alles. Noch in der Dunkelheit ſchleichen die Züng-
linge von Vlooienburg fort, an den langen ſchmutzigen Häuſerreihen vorbei, die
nach verweſtem Fleiſch riechen, und in deren Türen die ſchwarzhaarigen Mädchen
der Iſraeliten ſtehen und ihnen nachſchauen. Sie wollen ſich in der Seeluft des
Hafens die Augen taufriſch durchwehen laſſen. An den öſtlichen Seilerbahnen geht
es entlang bis nach Kattenburg, wo ein Teil der ſtolzen Kriegsflotte liegt. Noch
arbeitet keine Hand; in unheimlicher Stille ruht der glitzernde Hafen. Sie laſſen
ſich nach dem Haringpakkerturm mit der Fähre überſetzen. Dann klettern fie hur-
tig an Land und wandern Arm in Arm an den Werkſtätten der Tuchmacher und
Tuchfärber vorbei, wo es immer fo übel nach Säure und Beizen riecht. Indigo
farbige Stoffe werden hier gewalkt und gefärbt, auch ſcharlachrote für die eng-
liſche Kundſchaft. Hier nahbei werden die Farben aus wertvollen fremblän-
diſchen Hölzern und Erden gewonnen. Ein ſcharfer Pechgeruch erfüllt die Luft,
und der üble Geſtank von ungegerbten Häuten und roher Wolle ſchlägt einem an
die Naſe.
& — ne gs ee A gall gehen oe
Martens: Der Damon tes Lichte 11
All dies iſt Amſterdam, die großmächtige Metropole des Handwerks und Handels,
die Stadt der Heringe und Käſe, der geteerten Taue und Tranfäſſer, der Zünfte
und Gilden, der Grachten und bewimpelten Kauffahrer, die Stadt der Sekten
und Synagogen, der Laſter und Lebensfreude, die Stadt ber fleißigſten Männer
und der ſchönſten Frauen.
Hier inmitten dieſer bunten waffenſtrotzenden und -flirrenden Handelsſtadt, die
das Herz der Welt genannt wird, lebt Rembrandt, der ruhmreiche Maler der Pa-
trizier, in deren Häuſern er ein und aus geht, beſucht von den Forſchern und Reifen-
den, die des Weges kommen, geehrt von den Rabbinern und Pfarrern, die er zu
jeder Stunde der Erholung und der Erbauung in feinem prächtigen, mit Kunſt-
ſchätzen und Sonderlichkeiten angefüllten Hauſe empfängt, geliebt von den Armen,
die er unermüdlich beſchenkt.
Zu ihm eilen Fabritius und de Koninck. Fabritius mit wütenden Gebärden des
Ekels vor der Arbeit, die er vollbringen muß, um ſein Meiſterbild zu vollenden,
de Koninck mit dem ewigen Grinſen, das ihm anhaftet und ſein unſchönes Geſicht
zur Fratze entitellt.
1641
— Laß die Herren herein, Saskia. Wer alles iſt denn gekommen? Frans Baning
Cocq und feine fünfzehn Leute? Wo bleibt der Leutnant Ruytenburch? Kommt
ſpäter? Sft nod jemand da? Ein junger Mann vom Magiſter Olfers aus Leiden,
der die Geſchichte meiner Vaterſtadt neu herausgibt; biographiſche Notizen über
Rembrandt will er haben. Den berühmteſten Maler des Nordens hat er mich ge-
nannt? Ha, ha, ha, worauf die Leute nicht alles kommen! Was macht unſer kleiner
Schreihals, der Titus? Er kräht vor Vergnügen, das will ich meinen. Saskia, mein
Lieb, biſt du endlich ganz, ganz glücklich? Als Mutter und als Weib, wirklich? Laß
die Herren herein! — Immer höher ſteigt mein Ruhm, immer höher. Wo ſoll das
noch hinführen? Mein Glück ſcheint keine Grenzen mehr zu kennen. Alles ge-
deiht mir: die Liebe, das Leben, die Kunſt! Welche Zeiten, Rembrandt, welche
Zeiten! —
— Herein, meine Herren, herein! Es wird eine langwierige Sitzung geben.
Saskia, laß den Morgentrunk umherreichen. Kapitän Baning Cocq, über die Be-
dingungen ſind wir wohl einig. Jeder zahlt hundert Gulden, die Hälfte im voraus.
Das iſt ſchön. Aber die allübliche ſteife Gruppierung um einen langen Tiſch, das
geht doch nicht an bei ſiebzehn wackeren Schützen. Was ich vorſchlage? Was meinen
die Herren dazu, wenn wir den Augenblick wählen, da die ſtolze Kompagnie aus-
rũckt zu einem fröhlichen Feſt beim Klang der Pfeifen und Trommeln? Beraten
ſich die Herren einmal darüber. Saskia, das Glas des Kapitäns dürſtet nach mehr.
Fabritius, de Koninck, ſeid den Herren behilflich. —
— Junger Herr aus Leiden, leider kann ich mit keinen Anekdoten aufwarten.
Spitz die Ohren: ich bin ein vielgeplagter Mann, meine Zeit iſt ſcharf bemeſſen.
Am fünfzehnten Juli des Jahres Sechs dieſes für unſere Republik glorreichen
Jahrhunderts wurde ich zu Leiden in der Weddeſteeg als vierter Sohn des Malz-
millers Harmen Gerritsſohn van Ryn und feiner Ehefrau Neeltje Willemstochter
van Zuytbrouck geboren. —
12 | Martens: der Dämon bes Lichts
— Wie, Rapitän, die meiften der Leute ziehen ben langen mit einer roten Dede
geſchmückten Tiſch vor, an dem fie in würdevoller Haltung abtonterfeit werben
wollen, wie Frans Hals und Miereveldt es hundertfach mit ihren Vorfahren getan?
Das will mir gar nicht recht gefallen. — Überreben Sie Ihre Leute zu etwas
Beſſerem! —
— Gift du ſoweit mit deinem Geſchreibſel? Meine Eltern waren herzensbrave
Leute — ſie ruhen ſchon im Frieden der Ewigkeit —; ihr Lieblingsgedanke war,
aus dem aufgeweckten Jungen einen gelahrten Stubenhocker zu machen. Das
wollte dem Bürſchlein nicht im geringften gefallen. Es gab Tränen und böſe Kämpfe,
bis ich endlich zu dem biederen Malermeiſter Swanenburch in die Lehre kam, drei
Jahre lang; dann auf ein halbes Jahr zu Pieter Laſtman nach Amſterdam, länger
hielt ich es dort nicht aus: mich langweilte die abgedroſchene italieniſche Manier,
die pathetiſche Gebärde mit den himmelnden Augen. Und ewig Schüler fein, das
lag mir nicht im Sinn, wenn es auch die meiſten Maler, die keine eigenen Schwingen
haben, lebelang bleiben. —
— Das iſt recht, Kapitän: das Los ſoll entſcheiden. Fabritius, gebrauch Fetzen
Leinwand dazu. —
— Nun wieder zu dir, Freund Skribent. Ich machte mich in meiner Vaterſtadt
ſelbſtändig. Jan Lievens, mein alter Jugendfreund, tat ein gleiches. Wir waren
ungeheuer fleißig; Greiſenköpfe und Orientalen gelangen dem Lievens beſſer als
mir. Er hatte den Zug ins Große, mir ſtand die Hergenseinfalt beſſer an. Wie ſoll
ich dir dies deuten? Ich nahm das ungeſchminkte und unerhöhte Leben der kleinen
Leute zum Stoff. Und vermittelſt eines beſtimmten maleriſchen Farbenzaubers
oder irgend eines Linienreizes bekleidete ich das nackte brutale Leben, wie ich es
ſah, mit einem unirdiſchen Schimmer. Dies war die umgekehrte Art der gebräuch-
lichen Manier, die nach irgend einem poetiſchen Motiv ſucht, um dieſes möglichſt
lebenswahr zu geſtalten. Verſtehſt du mich? Nicht ganz? —
— Mein Gedanke, Frans Baning Cocq, hat alſo obgeſiegt. Das freut mich. Da
Ihr nun alle hier verſammelt ſeid, liebe Herren, — dort kommt ja auch der Leut-
nant — reizt es mich, mit Feder und Tuſche eine ungezwungene Gruppe zu geftal-
ten. Kapitän und Leutnant kommen natürlich in den Vordergrund, in das ſtärkſte
Licht. Der Trommler geht vorneweg. Oder ſoll er zum Sammeln trommeln? Das
würde die fröhliche Gemeinſchaft außerordentlich beleben. Von allen Seiten ſtrömen
die Schützen herbei, darunter auch Zuſchauer, vor allem Kinder, und dieſe mannig-
faltigen Gruppen in eines zuſammenzufaſſen, das gäbe ein großes lebendiges Bild.
Nur keine Unnatur, keine geſuchten poetiſchen Situationen. Hier, meine Herren,
iſt der flüchtige Entwurf! —
— Auch du, mein Freund aus Leiden, wirft endlich begriffen haben, was ich
meinte. Warum Jan Lievens und ich nicht nach Italien zogen, wie es bisher Brauch
und gute Sitte verlangten? Vielleicht war es bei mir die Furcht, von dem Wege
meiner natürlichen eigenbrödleriſchen Veranlagung abgedrängt zu werden, die mich
zu Haufe bleiben ließ. Ich wollte die Welt mit meinen holländiſchen nordiſchen Au-
gen betrachten, nicht mit denen einer angelernten angebildeten Kultur. —
— Herr Hauptmann, Herr Leutnant, ich dränge beileibe um keine Entſcheidung.
„„ - ͤ————U᷑UPæt . Er we
Martens: Der Dämon des Lichts 13
Beſprechen Sie meinen Vorſchlag in aller Ruhe mit den Kameraden der Gilde.
An dieſem Jahr kann doch nicht mehr mit dem Schützenſtück begonnen werden;
noch bin ich zu ſtark mit anderen Aufträgen in Anſpruch genommen. Ihr Beſuch,
meine Herren, hat mich geehrt. Vielleicht kommen wir bald zu einem allſeitigen
Einverſtändnis. Fabritius, de Koninck, begleitet die Herren hinaus. —
— Beſtell dem Magiſter Olfers meine Grüße. Seit wann ich hier wohne? Laß
ſehen, es wird um das Jahr Dreißig geweſen ſein. In Leiden erhielt ich damals
aus Amſterdam eine ſolch erkleckliche Anzahl bedeutender Aufträge, daß ich mich
entſchloß, hierher überzuſiedeln. Nun bin ich an dieſer feuchten klammigen Erde
kleben geblieben und kann nicht wieder davon los. Ob ich mich geſund fühle? Präc-
tig geſund, mein wiſſensbegieriger Freund, und glücklich, fo glücklich! Schau dir
einmal dies leckere holde Weibchen an, meine Saskia, und den Krakehler, den kleinen
Titus! Die miiffen hier für mich ſprechen. Ob ich noch mehr Kinder mein Eigen
nenne? Ach, drei winzige Kinderleichen mußten wir ſchweren Herzens unter ihre
kleinen Grabſteine bergen. Dein Mutterherz blutet, ach, Saskia! Wenn wir nur dem
Wege treu bleiben, den der Herr uns weiſet! —
1642
In ſcheuer Ehrbarkeit, in ehrbarer Scheue vor der Weihe der Liebe, wie in einem
Gefühl der immer näher heranrückenden Brautnacht, hatten ſich alle zurückgezogen
und den Meiſter allein gelaſſen. Die ſeidenen Vorhänge des freiſtehenden Ehebetts
waren zuruͤckgeſchlagen worden und legten die geſchnitzten Figuren der Säulen frei,
die den Baldachin trugen. Auf jeder der vier Seiten ftanden ſilberne Leuchter, den-
jenigen aus dem Tempel der Juden nachgebildet und ihre Flammen warfen flat-
kernde Lichter in den nächtigen Saal. Totenſtille herrſchte in ihm, nur zuweilen
von den Glocken der Oude Kerk unterbrochen. Doch ſie jubilierten zu keiner Hoch-
zeit, ſie lockten zu keinem ſtrahlenden Feſt der Seele. Sie riefen ernſt und mahnend
den entſeelten Leib zur letzten Ruheſtatt.
Der einſame gebeugte Mann, der entblößten Hauptes in der Stille des Gemaches
zu Füßen des Bettes ſtand, hörte die Glocken nicht. Seine Gedanken gingen ab-
ſonderliche ſeltſame Wege, abſeits der Erregungen und Mahnungen der Stunde.
Unbeweglich ſtand er vor der hochgebetteten tiefblaffen jungen Frau, die un-
heimlich ſtill mit gefalteten Händen auf dem Lager lag, angetan mit dem Myrten-
kranz, dem Brautſchleier und dem weißſeidenen Hochzeitskleide, das er ſo gut
kannte.
Dies ſollte Saskia ſein? Nein, ſie war es nicht. Es war eine andere Frau, mit
der er keine Gemeinſchaft hatte. Ach, Saskia! Sie war für ihn der Traum des
Lebens geweſen, ein ſprühendes Feuer von Geiſt und Blut, zart und lieblich, heiter
und geduldig. Vom erſten Tage ihrer Liebe an hatte er ſie vergöttert, ſie zu ſeiner
Muſe gemacht, ſie immer wieder geliebkoſt; er hatte zu ihren Füßen demütig im
Staube gelegen, denn ſie hatte ihn reich und groß gemacht. Wie fröhlich war ihr
Necken geweſen, wie übermütig ihre Launen. Die große Dame und das verliebte
Naturkind in einer Verſchmelzung. Und fiel ihn die Luſt an nach den Geiſtern des
Weines, immer war ſie es, die ſich ihm geſellte. Nahm ihn Trauer gefangen, der
14 Martens: Dir Damion des Lifts
nie ganz zu überwindende Weltſchmerz in die zitternden Arme, fie, ſeine Saskia,
ſtrich ihm zärtlich mit guten Worten die Falten von der Stirn, die ſich bei ihm fo
tief zwiſchen den Augenbrauen einniſteten. Und wollte er allein fein mit feinen
Selbſt, mit feinen brauſenden Gedanken, fie hielt Wache vor feiner Tür, und nie-
mand konnte zu ihm eindringen. Ach, Saskia, du warſt das heiße ſprühende Leben,
das er liebte, aber die bleiche lebloſe Geſtalt dort auf dem Lager war ohne Glanz
des Geiſtes, ohne Licht der Liebe, ohne Sonne der Seligkeit. Sie war der tote bleiche
Mond in trüben nebligen Nächten. Jedes Sonnenftäubchen, das im Weltall tanzte,
ſtellte ſie in den Schatten.
Und doch, er begriff dieſe Abneigung nicht: jene Frau war doch derſelbe Leib,
deſſen Blut er geliebt, der an feinem Herzen gelegen, deſſen Herzſchlag er in un-
ruhigen Nächten gelauſcht, wenn die Ziegeln im Sturm auf die Straße fielen und zer-
ſchlugen. Es war der Leib, der ihm Kinder geſchenkt, es war das Fleiſch, das blonde,
roſig angehauchte Fleiſch, das er immer wieder gemalt, in blühende Farben gehüllt
und mit dem Schmuck feiner Phantaſie behängt und verbrämt hatte. Jedes Fält-
chen, jedes Grübchen kannte er, jede Ader und Linie der Hände war ihm im Gedadt-
nis. Und erſt ihr rötlichgoldiges Haar mit den neckiſchen Löckchen!
Und doch, dieſer Leib war nicht mehr Saskia. Es war tote Natur, kalt wie Stein,
entſeelt, ohne Säfte und lebendige Kräfte. In dieſem Leibe herrſchte der Tod, nicht
mehr der ſchöpferiſche Gott des allmächtigen Lebens. Dieſer Leib war der Tod
ſelbſt.
Warum ſtand er hier wie angetlammert? Was verband ihn noch mit dieſer toten
Frau? Konnte er fie kraft feiner Liebe vom Tode erwecken wie Chriſtus den Lazarus?
Es war das grenzenloſe Gefühl der Ehrfurcht, das ihn gebannt hielt. Dieſe Tote
hatte ihn im Leben mit der Macht ihres Reichtums, mit der Kraft ihrer Liebe zum
Abgott von Amſterdam erhöht, hatte ihn auf den Thron des Lebens und Ruhmes
erhoben. Der Erwerb all der Kunſtſchätze, die ihn läuterten und verinnerlichten,
die ihn die Harmonie mit dem Weltall lehrten, von denen er ſich angefeuert fühlte
im Kampf gegen die Launen der Welt, war nicht ohne ihre Zuſtimmung möglich
geweſen. Ja, es war die zarte Scheu der Ehrfurcht, die ihn dieſen erkalteten Leib
noch ehren ließ mit der Demut ſeines zerſchlagenen Herzens. |
Er war arm geworden; die Heimſuchung des unerbittlichen Schickſals hatte be-
gonnen, er war aus dem Eden feines Dafeins geſtoßen; Mühſal und jeglich Un-
gemach würden ſich an ſeine Ferſen heften, ſie würden ſeinen männlichen Mut
Stück um Stück zerbrechen. Die Freude war gegangen, und die Bettlerin Notdurft
würde eines Tages die Herrin ſeines Lebens werden.
Da ſtürzte er ſchluchzend auf die Knie und ſchlug ſich an die Bruſt und wehklagte,
daß es im ganzen Hauſe zu hören war, und die Freunde und das Geſinde in Tränen
ausbrachen.
Als er ſich wieder erhob, war es ihm, als wäre das Gemach von einem unſagbar
zarten Schimmer erhellt, und eine Stimme hub an zu ſprechen:
— Das Glück hat ſich aufgemacht; die Mauern des Hauſes find kalt geworden
und die Gemächer dunkel und troſtlos. Die Einſamkeit hat die Schwelle betreten,
und die Erinnerungen werden ihren ſcharfen Zahn in dein Fleiſch bohren. Die
Gcude: gwel Sonette 15
Dämonen in deiner Bruſt find erwacht und werden dich quälen und mit glühenden
Zangen dir die Augen der Seele zu blenden verſuchen. —
Eines der Fenſter flog auf. Das Klirren der Scheiben ließ die Stimme ver-
ſtummen. Ein milchiger Mond ſchien die Nacht zu erhellen. Ein überirbiſches Lächeln
lag auf den Zügen der Toten.
Und die Stimme hub wieder an zu reden:
— dch bin das Licht deiner Seele. Behüte und bewahre mich in dem Sturm der
Welt! —
Der Schimmer war vergangen, und die Tote hatte zu lächeln aufgehört.
(Fortſetzung folgt)
Zwei Sonette
Von Kurt Geucke
Die Schöpfung
Im Anfang war der Geiſt und ſtieß die Finſternis.
Da ward aus Nacht, drin Zeit und Na um verloren,
Aus Weltendämmerung das Licht geboren
Und fraß die Nacht mit ſeinem Sterngebiß.
Ein Schleierſtrom vom Eisgeſichte riß
Der Ewigkeit, die in dem Nichts erfroren.
Was in dem Urſchoßdunkel glanzerkoren —
Jetzt war s der Stunde, jetzt des Lichts gewiß!
Weltfeuer ballte ſich zu Mond und Sonnen.
Es ſchieden ſich die Veſten und die Bronnen.
Es wechſelten die Eimer Tag und Nacht.
Ein Stern ſank ab voll Schmerzen und voll Wonnen —
Und ſieh, der Wunder höchſtes ward vollbracht:
Aus Gott und Erde ward der Menſch gemacht!
Tod und Leben
Am Seil der Zeit, im Brunnen der Spiralen
Seit ewig zwiſchen Grund und Brunnenmund,
Herauf, hernieder um das Weltenrund
Zwei Eimer wechſeln und zwei goldne Schalen.
Und was die Näderwerke droben mahlen
Der Beitenmühle, daß es werde kund:
Es wärmt, es glänzt, es fintt hinab zu Grund
Zu jenen Spiegeln, die kriſtallen ſtrahlen
Aus Nätſeltiefen blaues Sonnenlicht.
So taufendmal — das ſchöpfen keine Zahlen! —
Geheimnisſchwer, zu abertauſend Malen,
Gezogen von der Eimer Flutgewicht —
Hier Tod, hier Leben, rollend Schicht um Schicht —
Herauf, hernieder gehn zwei goldne Schalen
16
Zwei Oberlinbriefe
es Elſaͤſſer Pfarrers Oberlin fo ſtarke als vaterlid) gütige Perſönlichkeit ift uns
allen wohl bekannt. Lienhards Roman hat uns ſein anziehendes Bild neu
vor die Seele geſtellt. Um ſo ſicherer können die beiden Briefe, die bis jetzt unter
Familienpapieren verborgen lagen, des Anteils eines größeren Leſerkreiſes ſein. Sie
ſind gerichtet an
Monsieur Hermann
Docteur et Professeur en Médecine
Strasbourg.
Wer dieſer Mann war, der das Steintal vom Pfarrer bis zum Hirtenknaben (und
auch andere Leute, gelehrte wie ungelehrte im Elſaß und weit brüber hinaus) in den
Dienſt feiner Sammler- und Gelehrtentätigkeit ſtellte, das wollen wir nachher hören.
Gut iſt es vielleicht, vorauszuſchicken, daß damals eine faſt leidenſchaftliche Ve-
geiſterung für die neuerwachenden Naturwiſſenſchaften durch alle Kreiſe ging. Die
Beſchäftigung damit hatte, bezeichnend für die kulturelle und politiſche Atmoſphäre
der Zeit, faſt die Stelle eingenommen, die früher der Kunſt zukam. Mit den Natur-
wiſſenſchaften befaßte ſich auch der Laie in feinen Mußeſtunden.!
Und nun die beiden Briefe.
Liebſter Herr Profeſſor!
Nun iſt der Feldzug bald vorbey, und nichts noch hab ich erobert, das Ihrer werth
wäre; ſo ſehr ich mich auch darnach geſehnet. Ich ſelbſt bin oft drauf ausgegangen,
und habe nichts, nichts gefangen; worüber ich mich aber doch nicht ſonderlich wun-
dere, da ich mich vors erſte der Sonne kaum zeigen darf, zweitens um des Zahn-
wehes willen mich nicht leicht bücken, und nicht leicht eine ſchnelle Bewegung machen
darf; ſondern meiſtens meinen Kopf wie einen übervollen Hafen ſchön ſtät und
ſanfte tragen muß. So iſt mir meine Lieblings-Beſchäftigung ſo gut als unterſagt.
Mit den Steinthälern mag ichs nur nicht mehr verſuchen. Ich habe nun zwei Jahr
im Frühling diejenigen Hirten Knaben, die mir unter allen die fähigſten hiezu fdie-
nen, zu mir gerufen, ihnen Meſſer, Scheeren etc. gezeiget und verſprochen. Laden
(Schachteln), Nadeln und Büchslein aber ſogleich gegeben, und fie unterrichtet, was
und wie ichs wüͤnſchte. Einigen, wo ichs gut zu ſeyn glaubte, gab ich gleich ein Meſſer
oder Scheer. Die einen oder andern brachten mir, nachdem ſie meine Gebuld ziem-
lich geübet hatten, endlich Schachteln voll der allergewöhnlichſten Inſeckten, Pa-
pillon und Roßkäfer, lauter zu Ihrem Zweck untaugliche Waare — und dies 1, 2,
3 mal und blieben ſo dann nach und nach alle, alle aus. Da dieſes zum Theil daher
kommt, weil ſie ſo gar nichts kennen, und ganz keinen Geſchmack daran haben; ſo
hab ich den Schuhlmeiſtern, jedem eine Inſeckten Tafel gegeben, worein ich die Ein-
theilung der Inſeckten in die 7 Ordnungen geſtecket. Ins Künftige denke ich ihnen
noch mehr zu geben, damit vors erſte die Schuhlmeiſter und hernach durch ſie, die
Kinder Kenntnis und Geſchmack daran bekommen — haben wir das (aber wie viel
Geduld zu allem gehört, erfahr ich immer beffer) fo werden wir fie ſodann zu unſerm
Zweck beſſer gebrauchen können; wiewohl gewiß nie fo gut als gewickelte gewandte),
ag pus (+Feyaspuejneuog) Sepprwydeulswuosjeds
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gwel Oberlinbriefe 17
von Kind auf lebhaft und wißbegierig gezogene Straßburger, denen noch dazu das
Land und alles was es liefert, was neues iſt.
Nun lieber Freund! wiſſen Sie was? Da Sie dergleichen Sachen auch nicht
nachlaufen können, ſo ſchicken Sie ins Künftige jährlich einen jungen Studenten
hieher, der für Sie auf die Jagd gehet 8, 14 Tag und zwar, wann Sie es gut finden,
in verſchiedenen Jahreszeiten. Koſt und Logis ſtehen demſelben mit wahrem Ver-
gnügen zu Dienſten, ſo wie auch der Vorrath an Meſſern, Scheeren und ſofort, der
von dem überſchickten noch übrig iſt. Der junge Student hätte ohne Zweifel an
einer ſolchen Kommiſſion Freude; wir — gewiß; Sie — kämen zu Ihrem Zweck —
und vielleicht brächte ein ſolcher die jungen Steinthäler ſelbſt auf die Spur, und
jagte ihnen durch ſein Exempel einen Sporn in den Leib. Machen Sie es ſo, mein
lieber Herr Profeſſor; — und wenn Sie glauben daß es noch ein wenig Zeit iſt,
machen Sie es dies Jahr noch ſo — und bleiben Sie, ſammt Ihrem lieben Weibgen
gewogen Ihrem
betrübten, troſtloſen, leider ohne feine Schuld unnütz
gewordenen, Inſeckten - Jäger -Freund und Diener
Hans Fritz Oberlin.
Waldersbach, Montag
den 15 Oct. 1777.
Wald., den 24 März 78.
Mein liebſter Herr Profeſſor!
Nun recht, daß Sie nicht bös auf mich ſind! Auch hätte ichs nicht verdienet, denn
ich bin Ihnen herzlich gut.
O wegen Ihrer Jungfer Schweiter? ſeyen Sie doch ruhig! Man ſchnurrt ja hier
an Leib und Seele ein, wenn man nicht bisweilen Menſchen von ſeiner Art ſieht.
Ihrer Zungfer Schweſter Beſuch iſt uns immer in mehrerem Betracht nützlich, fo
daß wir Ihnen immer heraus ſchuldig find. Und welche Freude, diejenigen wieder fo
ganz bei ſich zu haben, die man vorher zu bearbeiten berufen war! O unſrem
Wunſche nach wäre vieles, das nicht ift — ja unſrem Wunſche nach beſäßen wir jede
unſrer Jungfern wieder jährlich einige Wochen. Wären wir reich, fo ließen wir eine
um die andere in der Kutſch abholen.
Meinen Schülern hab ich Lanius sarge, Muscardinus (Hafelmaus) etc. etc. an-
empfohlen, und Meſſer, Scheeren etc. verſprochen. — Es iſt alles (unleſerliches
Wort). Doch vielleicht kommts wieder.
Linderns Hortus Alsaticus? habe ich ſchon lange nicht mehr — ich habe Ihnen
denſelben nebſt dem andern Buch, fo dabey war, längſtens wieder zurück gegeben,
und wo ich nicht irre, einen Verweis von Ihnen gekriegt, daß ich ihn nicht länger
behalten.
Vergeben Sie, daß ichs Ihnen nicht ſchon lange berichtet, ich hatte vergeſſen dieſen
Artikel in Ihrem Briefe gelefen zu haben, und gleich konnte ich nicht ſchreiben. Ge-
ſchäfte, Niedergeſchlagenheit, Mattigkeit, Faulheit und andere heiten.
dch war, wie es ganz Straßburg weiß, einige Tage über Rhein, — auch zu Brey-
ſach. Die ganze Strecke der kleinen Leinenberge vom alten Schloß Limburg an
gegen Markolsheim über) bis gegen Köndringen kam mir als en von
der Würmer XXVIII, :
18 gwel Oberlinbdriefe
Volcans vor. Schreibe ich Ihnen was altes, oder gar was dummes, das weiß ich
nicht, ich wollte doch Ihnen meine richtigen oder unrichtigen Gedanken eröffnen.
Zu Köndringen ſagte mir Herr Sander“, ein Bürger habe ſchöne Bauſteine ge-
funden, zuſammengeführt um zu bauen — da aber die Sonne drauf geſchienen,
ſeyen fie in Stücke zerfallen. Ich dachte, die Steine müßten im Feuer geweſen ſeyn,
und zu ſchnell kalt geworden, vielleicht wäre es Lava, konnte aber keine zu ſehen be-
kommen. Zu Baſenweiler (Waſenweiler) fand ich einen Mann vieredigte Steine ab-
laden, ich wünſchte ihm dazu Glück, er ſagte ſie zerfallen wenn die Sonne drauf
ſcheint. Bald fand ich den ganzen Steinbruch, viele Manns hoch, ſchwarz oder
ſchwärzlich mit Spatadern durchfloſſen von oben herunter, ich nahm einige Stüdlein
mit — und ſchabte ich aus einem Ritz ein wenig Spat-Erde heraus, fo viel ich bey
der ziemlich ſtrengen Kälte kriegen konnte. Zu Breyſach fand ich dann ganz ähnliche
Steine, woraus der Berg beſteht. Bey Fort-Mortier fand ich am Wege wieder ähn-
liche, weiter aber nicht. Da ich zuruck kam, zeigte ich fie (und gab échantillons) meinen
Schuhlmeiſtern, denen ich eine kleine Steinſammlung zur beſſern Einſicht des neuen
Orbis Pictus® zu verſchaffen ſuche — ließ bald darauf 2 davon übern Rhein gehen,
um die dortigen Schuhlen zu ſehen, fie fanden ſchon zu Saſpach beim Schloſſe Lim-
burg, wo man mit der Fährt von Markolsheim anländet, ſolche Steine, und ſagten
es wäre daſelbſt alles voll. Sie brachten kaum ſoviel mit, daß ich und ihre 2 andern
Amtsbrüder ein Stückchen davon nehmen konnten. Iſt Ihnen das alles bekannt
genug, oder wünſchten Sie einige ſolcher Steine zu ſehen und zu haben, ſo befehlen
Sie, ſo bringe ich mit, wann ich in 14 Tagen nach Straßburg gehe, den 5 Aprill.
Laden (7) habe ich nie keinen geſehen, kenne auch den Baſalt und den Schörl
(Turmalin nicht, und verſchiednes ſonſt, das im neuen Orbis Pictus vorkommt.
Herr Kirchen Rath Sander und Hofrath Schloſſer Goethes Schwager), denen ich die
3 Bögen davon zugeſchickt, ſind darüber ganz ausnehmend vergnügt, und laſſen
durch mich die lieben Freunde bitten, doch ja ſich ihre Mühe damit nicht verdrießen
zu laſſen. Nein, mein liebſter Herr Profeſſor in Ihrem Leben haben Sie keine Zeit
beſſer angewandt. Ich kann es immer mehr und beſſer einſehen, inſonderheit wenn
es der Schuhlmeiſter in meiner Gegenwart den Kindern auf Patois® erklärt. Die
armen Steinthdler! man behandelt fie franzöſiſch, und ihre Sprache iſt dem Fran-
zöſiſchen ſo weit oft als dem Griechiſchen entfernt. Ich lerne dadurch Patois.
envénimé = évoeulmé. la cage = dchesatte.
le hoquet = lo sonkiotto. VYautomne = lo voyin.
fermenter = perré. la salive = da chkeu.
un pan de habit = déchatte und fofort.
Kein Wunder, daß es in unſeren Schuhlen fo fürchterlich ſchwehr hält. Ich hoffe
aber der liebe Orbis, das Hauptdenkmal Ihrer Liebe zum armen, armen, armen
elenden Steinthal ſoll eine Reformation zu Wege bringen.
Leben Sie doch wohl, und behalten Sie nebſt Ihrem verehrungswürdigen Weib-
gen lieb
Ihren
* *
Oberlin.
Gwel Oberlindriefe 19
Wer war nun der Verfaſſer dieſes „Orbis Piotus“, das die Kinder des Steintals
ſowohl im Leſen des Franzöſiſchen üben, als auch über die ſie umgebenden Dinge
der Natur unterrichten ſollte?
Johann Hermann’, geboren zu Barr im Elſaß am 31. Dezember 1738, alſo wenig
älter als Oberlin, und wie dieſer ein Pfarrersſohn, beſuchte mit 7 Jahren das Gym-
naſium, mit 15 Jahren die Univerſität in Straßburg, wo er Literatur, Philoſophie,
Phyſik und Mathematik, ſchließlich Medizin ſtudierte. Neigung und Gefundheitsrüd-
ſichten veranlaßten ihn jedoch, anſtatt einer ärztlichen Praxis nach beendeten Stu-
dien Vorleſungen über Naturwiſſenſchaften zu beginnen. Dieſe Wiſſenſchaft war bis
dahin in Straßburg noch nicht öffentlich gelehrt worden. Junge Leute aller Fakul-
täten, ja auch Damen, beſuchten dieſe Vorleſungen. Seine vollendete Kenntnis des
Deutſchen, Franzöſiſchen und Lateiniſchen befähigte ihn, dieſelben je nach Belieben
in einer dieſer Sprachen zu halten.
Von der republikaniſchen Regierung zum Profeſſor an der neuen „Ecole Centrale
du Bas-Rhin“ ernannt, ſetzt der fleißige Gelehrte, oft unter den ſchwierigſten Ber-
hältniſſen, neben feinen Vorleſungen feine Sammlertätigkeit für das von ihm be-
gründete naturwiſſenſchaftliche Muſeum fort, unterhält einen regen Briefwechſel
„mit allen Gelehrten Europas und der neuen Welt“, leitet wiſſenſchaftliche Erkur-
ſionen und arbeitet unermüdlich an vielen kleineren und einem großen Werk:
„Tabula affinitatum animalium uberiore oommentatione illustrata“, Strasb. 1785.
„Erxſchöpft durch übermäßige Arbeit“, wie es in feiner Biographie von Lauth heißt,
ftarb er am 4. Oktober 1800 in Straßburg.
Oberlin und Hermann, dieſe beiden in Beruf, Lebensführung und Perſönlichkeit
ſo verſchiedenen Männer haben mehr als ein Gemeinſames in Charakter und Weſen.
Zwar der eine ſitzt in Sammlungen und Büchern vergraben in ſeiner Straßburger
Gelehrtenſtube, allerdings von Zeit zu Zeit mit Schülern und Freunden Streifzüge
durchs Elſaß machend, von denen er mit wiſſenſchaftlicher Beute beladen zu den
zarten, vielleicht etwas verzärtelten Damen feines Hauſes zurückkehrt in ein bebag-
liches Heim, in die ſchöne elegante Stadt, während der andere im armen, rauhen
Steintal Wege und Brücken baut, Schulen verbeſſert, Sparkaſſen gründet, und das
entſagungsvolle Leben des Vergpfarrers lebt, und als die Revolution kommt, ſich
naturgemäß für dieſe begeiſtert, — wogegen der Gelehrte, deſſen Sammlungen ſie
zu zerſtreuen, deſſen mit vielen perſönlichen Opfern angelegten botaniſchen Garten
ſie in einen Nutzgarten umzuwandeln droht, ihr wenig Neigung entgegenzubringen
vermag. Doch können alle Umwälzungen und daraus entſtehenden Unbequemlid-
keiten und Gefahren weder den einen von feiner tiefen und tätigen Liebe zur Menfch-
heit abbringen, noch den andern von feiner heißen Begeiſterung für die Wiffen-
ſchaft — beide nicht von der Gewißheit, daß ſie ihrem Vaterlande am beſten dadurch
dienen, daß ſie ihre Arbeit gewiſſenhaft fortführen. Während der Profeſſor Briefe
empfängt und beantwortet, die, gleichviel ob von Metternich, J. H. Merck, Cuvier
oder andern, mit Politik kaum etwas zu tun haben und ſich nur um wiſſenſchaftliche
Fragen drehen (die Creigniffe der Zeit werden in den Familienbriefen eingehend
behandelt), finden bei dem Pfarrer der Revolutions mann wie der flüchtende Adelige,
der Prieſter wie der Jude eine gaſtliche Stätte und ein warmes Herz. Unerſchüttert
20 Sternberg: Nachtboot auf dem Rhein
ſtehen dieſe beiden echten Elſäſſer und echten Deutſchen im Sturm der Zeit, ein
Troſt und Beiſpiel für viele. E. Reinſch
* *
*
1 Bezeichnend hiefür iſt eine Stelle aus einem Briefe Clemens Metternichs (datiert: Raftatt,
19. Sept. 1798), der Hermann eine Schildkröte, einen Pelikanbalg und Mineralien verſpricht,
und am Schluſſe ſagt, er danke ihm für Belehrung in einer Wiſſenſchaft, die zu allen Zeiten
und beſonders „in dem Jahrhundert in dem wir leben“ den Reiz des Lebens ausmacht, indem
fie uns auf die Betrachtung der Natur konzentriert „en nous éloignant de tout ce qui n'est
pas aussi stable qu'elle“.
2 Oberlin hatte dieſe, die Tochter des Diatonus Joh. Hermann an der neuen Kirche zu Straß;
burg, wie andere junge Mädchen, eine Zeit lang zur Erziehung in feinem Haufe gehabt.
Lindern, Francois Balthaſar de: „Hortus Alsaticus, plantae in Alsatia nobili etc.“ Ar-
gent. 1747,
Verfaſſer einer Naturgeſchichte und mehrerer Andachtsbuͤcher (ſ. Oberlins Lebensgeſchichte,
Dr. Hilpert, Stöber u. a.).
5 Gemeint iſt damit Hermanns Buch: „Coup d' Eil sur le Tableau de la Nature“, Straß -
burg 1779. „Anonymus libellus in usum puerorum vallis rupese“ (ſ. Vitam Johannis Hermann,
scripsit Thomas Lauth, Argent. 1801). Oieſes Naturgeſchichtsbüchlein mit einem Anhang
über Seſundheitslehre ſollte dazu dienen „die Kinder des Steintals im Leſen zu üben“ und
ihnen die erſten naturwiſſenſchaftlichen Begriffe geben.
® Die eigenartige Mundart trug wohl an der Abgeſchnittenheit des Steintals ſowohl von der
deutſchen als auch der franzöfiihen Kultur viel Schuld.
7 Vgl. Sitzmann, Alsaciens célébres; Lauth, Vitam Joh. Hermann, Argent. 1801.
Nachtboot auf dem Rhein
Von Leo Sternberg
Auf Strom und Bergen rabenſchwarze Nacht
ech, unterirdiſches Stampfen . . Dumpfer Nadſchlag,
er näherkommt ! .. Jetzt, dort aus Felſentoren —
Was glüht heran mit roten, grünen Augen?
Es kreuzt von Landeſteg zu Landefteg
Mit Doppelgalerien goldner Fenfter;
Der Tiefe Lampenkette drunter her.
An gegen berliegenden Stationen,
Wo trüb die ſpäte Wachtlaterne brennt,
Der Paſſagiere Schatten aus und ein
Dann ſchaufelt raſch die ſchwimmende Sonneninſel
Von hinnen, wie fie kam... Kein winkend Tuch
Nur ein Vermummter, mit ans Land geftiegen,
Das ausgeſtorbne, das die Wogen ſchlagen,
Verfolgt das Licht in ferne Finfternis ...
21
Spätſommergeſpenſt
Novelle von Curt Hotzel
s war ein melancholiſcher Spätſommer, den ich am Bodenſee in dem uralten
Meersburg zubrachte.
Es hatte viel geregnet. Tag für Tag walgten ſich die grauweißen, naſſen Wolken
am Himmel hin, und manche Bäume ließen ſchon dem Weſtwind gelbe Blatter in
Menge. Beſonders die Abende waren von einer eigenen Traurigkeit, die mit langen
Nebelſchleiern das Gemäuer des tauſendjährigen Schloſſes umzog. Hin und wieder
bizte eine ſonnige Stunde durch das eintönige Grau, und dann war der See friſch
und ſtrahlend, und das helle Grün der Ufer leuchtete fröhlich in erwachter Sommer-
ſeligkeit.
Am Abend eines ſolch ſeltenen Tages, an dem man ſich, über die ſpät reifende
Pracht der Weinberge hinwegträumend, des ſonnigen Bildes freuen konnte — traf
ich an der Torbrücke der Burg, da wo die prächtige Barocktreppe des neuen Schloſſes
auffteigt, im Dämmer auf eine Frauengeftalt, der ich in dieſen Wochen ſchon mehr-
fach begegnet war. Wo ich ſie zum erſten Male geſehen hatte, konnte ich mich nicht
mehr genau erinnern. Sie war in meiner Nähe aufgetaucht wie ein Schatten. Mög-
lich, daß ich fie unten am Landungsplatz zuerſt erblickte, nach der Ankunft eines
Dampfers im regennaſſen Winde — jedenfalls hatte fic) mir dieſe etwas altmodiſche
Figur eingeprägt, ohne daß aber mein Gntereffe irgendwann bei ihr verweilt hätte.
Sch kam aus der dunkelnden Gaffe und fab fie im Halblicht des Durchblicks zwiſchen
den Schlöſſern auf der Brücke ſtehen. Sie blickte hinaus, über die Dächer der Unter-
ſtadt hinweg auf den See. Das Mondlicht ſilberte auf dem weiten Waſſer, und drüben
glitzerten die Lichter von Konſtanz. Ich blieb in dieſen ungewöhnlich ſchönen Anblick
verfunten etwas entfernt von ihr ſtehen.
Da geſchah etwas Seltſames. Sie wandte ſich langſam um, wie magnetiſch ge-
zogen, ihre Augen ſtarrten mich weitgeöffnet an — und dann lief ſie ſchwebend auf
mich zu und begann die Arme auszubreiten! Plötzlich aber blieb fie erſtarrt ſtehen —
fuhr fi mit der Hand über die Augen und ſtammelte: „Verzeihung! ... Eine Ver-
wechſlung!“
Weshalb bin ich ihr damals nicht ausgewichen, wie es ein gewiſſes Taktgefuͤhl doch
erfordert hätte? Ich habe das fpäter oft bereut. Nun — ich blieb ſtehen, wohl auch
durch das faſt erſchreckende Gebaren der fremden Frau gebannt, und ſie raffte ſich
auf und ſtellte eine Frage. Ich hatte den Eindruck, als wollte ſie den Bann brechen
und Geſpenſter verſcheuchen.
„Ach, können Sie mir Auskunft geben,“ ſagte ſie mit leiſer und feiner Stimme,
ein wenig ängftlich, „ob das Schloß noch immer gezeigt wird?“ Ich muß geſtehen,
daß ich von dieſer Frage beinahe unheimlich berührt war... „Noch immer ... das
klang aus einer OBämmertiefe. Wenn ich jetzt daran denke, jo höre ich immer noch das
dumpfe Rauſchen des Mühlbachs, der unterhalb der Brücke über ein ſeltſam hohes
Rad läuft
Aber ich antwortete damals höflich und ſachlich: „Jawohl, gewiß wird das Schloß
gezeigt. Bei Tage —“ |
22 | Hogel: Spätfommergefpenft
„Natürlich — bei Tage!“ fiel fie mir mit einem gezwungenen Lachen ins Wort.
Und ich wollte doch nur erläuternd ſagen: Bei Tage finden Sie dort am Tor eine
Anzeige der Beſuchtszeit .
Da die Fremde noch verweilte, ich aber auch nicht gehen mochte aus Höflichkeit
oder, Gott weiß, welchem Grunde, ſo fühlte ich mich verpflichtet, noch einige Worte
zu ſprechen. „Ja — es iſt wohl wert, beſucht zu werden, das alte Schloß ... Die
Erinnerungen überwältigen einen dabei..“ |
Da bemerkte ich, wie fie mich wieder mit einem erſchrockenen Ausdruck anſtarrte.
Ihre grauen, alten Augen waren weit aufgeriſſen. Dann, als ich weiterſprach,
ſchienen fie wieder in fic ſelbſt zurückzukehren. „Dort iſt zum Beiſpiel eine Inſchrift,
dem unglücklichen Konradin zum Gedächtnis, der von hier nach Neapel aufs Blut-
gerüſt ging ...“
Sie hüllte fic feſter in ihren Schal und ſah recht altjüngferlich aus. Als ich nun
etwas betreten ſchien, nickte ſie mir ſchnell einen Gruß zu und verſchwand in der
Dunkelheit.
Es folgten wieder trübe Tage. Trotzdem drückte eine feuchte Wärme auf das Land.
Die Fiſche im See ſprangen, und die Erde wurde nicht trocken. Es roch überall
modrig. Auch das Seewaſſer hatte einen üblen Geruch nach Fiſchen. Ich machte alſo
meine Spaziergänge auf die freieren Höhen hinauf, wo die Zinnen des Schloſſes
und ſelbſt der hohe Kirchturm bald hinter prächtigen Buchenwipfeln verſchwinden.
Dort ſaß ich dann lange auf den Bänken und ſah auf die weite Waſſerfläche hinaus
und in das wechſelnde Spiel der Wolken, die manchmal die Schweizer und Tiroler
Bergſpitzen in zarten Umriſſen freigaben. Es geſchah wohl auch, daß ein Sonnen-
ſtrahl irgendwo drüben einen Fleck Ufers grüngolden erglühen ließ.
So kam ich zwei Tage nach der abendlichen Begegnung auf der Schloßbrüde von
einem ſolchen Gang am Spätnachmittag den Weg oberhalb der Weinberge zurück
und wollte noch einmal auf jenen Ausſichtspunkt hinaustreten, der mit einem
Spalier von Lebensbäumen gegen die Straße abgegrenzt iſt, hoch oben am Felſen.
Dieſes immergrüne Gatter mit einem Denkſtein inmitten, ehrwürdig und feier-
lich, hatte mich immer an einen Friedhof gemahnt. Es ſchien, als ob hier Tage ver-
ſunkener Sommerfreude eines ſtilleren Jahrhunderts eingeſargt wären.
Dort nun fand ich auf einer ſchmalen Bank die altjüngferliche Fremde. Ich bin
wohl ein wenig betroffen ſtehen geblieben, denn ich entſinne mich des ängſtlichen
Blickes, mit dem ſie mich empfing Aber ich grüßte, und ſie dankte mit einem Lächeln
um die ſchmalen Lippen, das fo viel wehmütiges Verzeihen ausdrückte, wie ich es nie
wieder in einem Menſchenantlitz gefunden habe.
„Das find trübe Tage in dieſem Spätſommer“, fagte ich, nur um etwas zu jagen.
Aber fie [hüttelte den ſchmalen Kopf und ſprach leiſe vor fic hin: „Es ſchadet nichts,
wenn man nur die hellen Tage gekannt hat.“
Das ſchien mir eine ziemlich nichtsſagende Bemerkung zu fein, und meine Anteil-
nahme an dem Schickſal der merkwürdigen Frau erloſch mit dieſer ernüchternden
Begegnung faſt völlig.
Am Abend trat der Rat Spitzel aus dem Schwäbiſchen an mich heran: „Hatten
Sie nicht nach den Wetterausſichten gefragt?“ Ya ich damals noch nicht wußte, daß
gozel: Spätfommergefpenft 23
der alte Kauz alle Geſpräche und Mitteilungen mit folden improviſierten Anfragen
zu eröffnen pflegte, war ich ein wenig verlegen. „Ja, alſo dann kommen Sie mit
hinaus“, fuhr er entſchloſſen fort. Draußen am Hafenplatz erklärte er mir die Wetter;
lage und folgerte umſtändlich, daß es vor dem Herbſt noch heißes Wetter geben müßte.
Das wäre auch dem Wein ſehr zu wünſchen
Mitten im Fluß ſeiner Rede unterbricht er ſich aber, nimmt mich beim Rockknopf
und zieht mich zu ſich heran: „Da ſchauen Sie nur, wie die blonde Dame Sie
fixiert ... Schon eine ganze Weile ſteht fie da und läßt Sie nicht aus den Augen.“
Es war die Fremde, die ich am Nachmittag auf der Bank oben wiedergefunden
hatte. „Kennen Sie die Dame?“ frage ich den allerweltsklugen Rat, und er antwortet
mit einem liſtigen Blick hinüber: „Za — nein! Oder doch: Hinrichſen heißt jie — ja,
ginrichſen. Sie hat einen Tag hier unten gewohnt. Fest ſoll fie in der Oberſtadt ge-
mietet haben ... Hinrichſen ... wiederholte er noch einmal und ſtrich ſich ſcheinbar
gedanken voll den Bart. Dann ſetzte er lächelnd hinzu: „Das iſt aber nichts für Sie...
A bah ... alte Jungfer ... Nur ſchönes blondes Haar ... Aber ich denke, wir
trinken noch.“
Nun — ich kam nach einer längeren Sitzung beim Meersburger Roten um Mitter-
nacht auf meinem Kämmerlein oben im Oachgeſchoß eines der alten Häuſer an. Der
Mond ſchien gerade durchs zerriſſene Gewölt und bleichte die Gaffe unten mit feinem
Licht. Da ſah ich von ungefähr einen Schatten an den Häuſern hinhuſchen. War es
nun der Wein in meinem Kopfe oder eine peinliche Erinnerung — ich empfand etwas
wie einen leichten Schreck: Das war doch das Fräulein Hinrichſen, die da die Gaſſe
entlang ſchwebte.. . Und trug fie nicht Blumen in den Händen? Ein ganzes Bund
oder gar einen Kranz? Sie war aber im Augenblick verſchwunden. Ich ging zu Bett
und wurde im Traum von einer ſpukhaften weißen Frau verfolgt.
Auch die folgenden Nächte waren mondhell, und ich entſchloß mich eines Abends
zu einer Wanderung oberhalb des Städtchens die Straße hinaus. Im grünlichen
Licht lagen die Türme und Giebel hinter mir. Ich ſetzte mich auf einen Meilenſtein
und träumte. Es iſt nicht ſehr verwunderlich, daß ich mich der weißen Mondfrau
erinnerte, die in meinem Traum geſpukt hatte. Ich wollte die Erinnerung abſchüͤtteln,
denn fie wurde mir läftig; aber es gelang mir nicht. Meine erregte Phantaſie ſuchte
Geſtalten in dem Schattengewirr unten. Ein leichter Wind bewegte die Wipfel und
Zweige. Tolle Schattenfiguren tanzten im Mondglaſt. Ich ſtand auf und ſuchte den
Weg heimwärts. Das ſchwarze Loch eines der alten Stadttore nahm mich auf. Ich
wußte, dort hinten führte der Weg zum Friedhof, und lächelte über mich ſelbſt und
meine gelinde Furcht vor Spuk und Traum. Aber es wollte mir nicht aus dem Sinn:
Dort hinten liegt die Droſte begraben, die romantiſche Magierin, die in dem alten
Schloſſe drüben ihre letzten einſamen Jahre verträumte... Wenn fie nun mit einer
unerfüllten Sehnſucht verlöfchte... Haben Sehnſüchte magiſch begabter Menſchen
nicht erweckende Kraft?
Auf einmal war es mir, als ob Fräulein Hinrichſens blaſſer Schatten hinter mir
herhuſchte und ſeitwärts in einer Gaſſe verſchwand. Ich beſchleunigte meine Schritte,
um in mein Haus zu gelangen. Mit klopfendem Herzen legte ich mich nieder — noch
immer meine Spukfurcht belächelnd. Endlich ſchlief ich ein.
24 Hotzel: Spätformmergefpenft
Am nächſten Morgen machte ich einen erfriſchenden Gang in die Felder hoch über
dem See. Ich freute mich des reifenden Obſtes, der fetten Wieſen, der üppigen
Gärten voller Gemüſe. Dies ſaftige, kräftige Leben tat mir wohl. Kinder ſaßen am
Raine, braun und übermütig, und lachten mich an, indes die Alten eifrig auf den
Feldern ſchafften.
Da war auch ein farbenſtrotzender Blumengarten. Ich fab die mannshohen Stock-
roſen leuchten und daneben Gladiolen und andre ſpäte Blumen. Süßer Duft
ſchwebte herüber. Als ich weiter ging, ſah ich Fräulein Hinrichſen hinter der Mauer
der Stockroſen ſtehen — ſie ließ ſich gerade von dem Gärtner einen Strauß binden.
Bei einer Wendung erblickte ſie mich. Ich grüßte, wieder verlegen, und ſie redete
mich auch etwas verwirrt an: „Sind das nicht herrliche Blumen? So üppig findet
man fie bei uns doch nicht im Freien, auf dem Felde ...“
„Ja, das iſt freilich ein anderes Klima. Ich vermute, Sie kommen aus Nord-
deutſchland?“
„Ja — aus Hamburg ...“
Während fie nun dem Gärtner Geld gab, ſprach fie weiter — wie um mid von
ihrem Einkauf abzulenken:
„Und darf ich fragen, wo Ihre Heimat iſt?“
Ich gab ihr Auskunft und mußte währenbddeſſen an die Blumen in ihrer Hand
denken, als ſie in jener Nacht durch meine Gaſſe im Städtchen ſchlich. Sie behielt
mich feſt im Auge, und es ſchien mir, als ſähe fie durch mich hindurch.
Auf einmal fragte jie unvermittelt: „Sagen Sie — glauben Sie an die Wieder-
kehr des Gleichen?“
„Sie meinen,“ forſchte ich aufmerkſam vortaſtend, „die Wiederkehr desſelben
Menſchen in anderer Geſtalt?“
Darauf ſah ſie ins . und lachte gezwungen: „Ach — das ſind ja nur ſolche
Gedankenſpielereien ..“
Damit verabſchiedete ſie ſich und eilte der Stadt zu.
Der alte Gärtner ſchuͤttelte den Kopf und meinte in feiner derben Mundart: „Ein
abſonderliches Fräulein! Kauft jeden Tag da fo einen Bund Blumen... Hat fie
jemanden auf unſerm Gottesacker liegen — einen Liebſten vielleicht, He?“ Mit
meckerndem Lachen machte ſich der Alte wieder an ſeine Arbeit.
Mir aber erſchien der ganze Garten jetzt als ein großer trauriger Friedhof...
Ohne Zweifel: fie hatte in mir den Doppelgänger eines Verlorenen erblickt...
Von dieſer Stunde an mochte ich mich ſelbſt nicht mehr gern im Spiegel ſehen.
Auch das Alleinwandern war mir verleidet. Wenn ich durch den dumpfen Wald ging,
ſo blieb ich plötzlich ſtehen und bekam beinahe Furcht vor den bleichen Pilzen. Ich
ſprang dann über die moraftigen Stellen weiter durchs Dickicht über knackende
Fichtenreiſer hinaus auf die Wieſenböſchung gegen den See hinunter. Dort ließ ich
mich aufatmend ins Gras fallen und war froh, wenn ſich der Himmel ein wenig auf-
klärte.
Ich war jetzt öfters der Kneipenkumpan des Rates Spitzel. Der ſagte wohl ein-
mal: „Wenn Sie mich danach fragen — was das Fräulein Hinrichſen betrifft... Nun,
ſeien Sie nur ſtill: ich hab' Sie mit ihr geſehen! — Ja, dann kann ich Ihnen nur
gotzel: Spätfommergefpenft 25
antworten: ihr Geſchau will mir gar nicht gefallen... Nein, gar nicht! — Als ob ſie
Seipenfter am hellichten Tage fähe... Ein zu merkwürdiges Geſchau!“
Das waren feine Worte; und wenn ich auch nicht viel darauf gab, fo trafen fie
mich doch ins Herz. Es iſt ja ſeltſam, von welchen Geſpenſtern wir aufgeklärten Men-
ſchen uns erſchrecken laſſen. Aber was hilft es, ſich einen Narren zu ſchelten, wenn
man fremde Gewalten um ſich |pürt?
So ging es mir jetzt oft. Ich wich dem Fräulein Hinrichſen gefliſſentlich aus. Ich
wollte ihr nicht die Ruhe dieſer letzten Sommertage opfern, zumal ſich das Wetter
beſſerte. Der Oftwind hielt an und Land und See glühten auf wie Edelgeſtein unter
der Sonne.
Nach einem der erſten ſonnigen Tage kehrte ich von einer Seefahrt zurück und
ſaß unſchlüſſig in meiner Kammer im Erker des alten Hauſes. Die Nacht ſtieg nur
lmgjam herauf. Die Giebel drüben ftanden noch lange im bleichen Licht, und die
Gaffe hallte von Menſchenſtimmen wieder, denn die Leute waren ſpät von den Fel-
dern und Weinbergen gekommen. Ich mochte nicht ſchlafen. Bei einer Kerze begann
ich zu leſen. Als ich um Mitternacht einmal aufſchaute, ſah ich mich im Spiegel.
Und dann überkam mich jenes ſeltſame und erſchütternde Gefühl, dieſen Augen-
blick ſchon einmal erlebt zu haben.. Dieſe Gaffe zu kennen von einer früheren Jugend
und dieſe Spätſommerangſt ſchon einmal durchlitten zu haben... Um Worte, Zeichen
drehte ſich der Kreis der Wiederkehr des Gleichen .. Grauenhaft! Ich nahm meinen
Hut und ging hinunter. Unſchlüſſig trieb es mich umher. Das Städtchen lag ſtill. Ich
lief auf den Fußſpitzen durch den hallenden Hof des Reithauſes jenfeits der Vorburg.
dch ſtand im Nachtwind auf dem Känzele, jenem Erker der Mauerbrüſtung hoch über
dem Hafen. Der See lag dunkel und ſtill unter den funkelnden Sternen. Drüben
blitzten noch Bergfeuer im Schweizer Hochland. Mir wurde die Bruſt weit, und ich
fühlte mich hineingezogen in dieſes Wogen der Weltennacht, in dieſen Reigen der
Geſtirne, unter denen nach feſtem Plan die Zeiten aufſteigen und verſinken. Ich
ſpuͤrte das Leben dieſes ſeligen Landes um mich kreiſen, in mir weben .. Zeitlos
Völker kommen und gehen, Veſten, Burgen, Städte wachſen, vergehen. Der Wein
reift, wird von blühenden Menſchen gekeltert, kreiſt im Blut, weckt Leben, zeugt
Leben... Ein ewiges Auf und Ab! ...
Keine Wiederkehr? — Hinunter, hinunter das Vergangene!
Erſchreckt ſah ich mich um. Es war mir, als raſchelte ihr leichter Schritt im frühen
gerbſtlaub am Boden. Aber es war der Wind. Dann machte ich mich auf den Rück-
weg. Und fand mich bald vor der Burg, auf der Brücke, dort wo dieſes ſeltſame
Doppelſpiel der ſchemenhaften Frau begonnen hatte. Da wehte mich plötzlich ſüßer
duft an. Gab es hier Blumen? Rofig, wie Fleiſch und Blut leuchtete es von der
Ruhebank, einem der Lieblingsplätze des unſteten Fräulein Hinrichſen. Als ich näher
trat, fand ich einen Kranz Blüten, Roſen und Gladioalen, Lilien und Garten-
blumen...
Und ich war überzeugt: fie hatte dieſe Stätte bekränzt. Wem zu Liebe? Zu
weſſen Gedächtnis?
Ich floh den Ort. Der Wind ließ die Wetterfahnen kreiſchen hinter mir her...
Am nächſten Tage ſchien die Sonne warm und hell in mein blaues Kämmerlein,
% Hotzel: Spätfommergefpenft
als ich erwachte. Der nächtliche Spukgang war vergeſſen. Ich ließ mich durch einen
Blick aus dem Fenſter belehren, daß es Sonntag war; die Gaſſe lag ſtill, und die
Kinder gingen ſteif in ihren hellen Kleidern umher, friſch gebügelt.
Um die frühe Mittagsftunde ſtieg ich hinab zum Hafen, wo um dieſe Zeit das
Schiff aus dem Öfterreichifchen anzulegen pflegte. Ich fand denn auch viele Men-
ſchen dort, wo der große Dampfer lag mit der Bregenzer Flagge. Oben auf dem
Deck ſpielte eine Kapelle, Männer mit Spielhahnfedern auf den Hüten, die heitere
Muſik des Donaulandes. Es war eine feſtliche Stimmung über allem; aber ich wurde
all dieſer Freudigkeit nicht froh und hatte auch bald die Urſache meiner Bellommen-
heit gefunden: Die Fremde ſtand dort hinten am Rande der Straße und beobachtete
mich! Als ich ſie erblickte, ſah ſie zur Seite, und bald darauf verſchwand ſie vom
Platze.
Ich war in dieſem Augenblick froh, auf Rat Spitzel zu ſtoßen. „Ja — Sie waren
es doch,“ fragte er getreu ſeiner Art, „der den vorzüglichen Ungarwein in Waſſerburg
probieren wollte?“ — Sd fügte mich diesmal gern, und er forderte mich auf: „Gut.
Kommen Sie, es wird die höchſte Zeit. Da iſt das Schiff.“ Ich ging mit ihm an Bord;
aber der Kapitän nahm ſich offenbar Zeit, oder der rührige Rat hatte ſich nur meiner
Geſellſchaft verſichern wollen und mich vorzeitig hinaufgelockt. Er begann nun von
der beſten Art der Bodenſeefelchen zu erzählen, und wie man dieſe Fiſche am
ſchmackhafteſten zubereite. Jahrzehntelange Erfahrungen ſtanden ihm zur Ver-
fügung. Schließlich blieb er bei einer feinen Manier, ſie in Butter zu braten, dann
feien ſie zart und zerflöſſen auf der Zunge wie Forellen. „Forellen, junger Freund,“
fuhr er im Schwunge fort, „ißt man ...“ Da blieb ihm das Wort wie eine Grate im
Halſe ſtecken, denn Fräulen Hinrichſen ſtrich vorüber. Wie war fie an Bord gekom-
men? Das Schiff dampfte ſchon eine geraume Weil gegen Friedrichshafen hin.
Selbſt der luſtige Rat ſchien über ihr Erſcheinen ein wenig erſtaunt, denn er flüjterte
mitten in den ſchmackhaften Rezepten: „Ein Geſchau ... närriſch ...“
Ja, wie kam es, daß ich mich bald von ihm losgemacht hatte, um mich in einem
Geſpräch mit ihr wiederzufinden? Beſaß fie magiſche Macht über mich?
„. Ich wollte meine Scheu vor feſtlichen Menſchen überwinden, wiſſen Sie.
Früher war das etwas, worauf ich mich die ganze Woche über freute, dieſe Sonn-
tagsfahrten daheim auf der Unterelbe.“ So plauderte fie lebhaft. Ich war ſehr ver-
wundert, weshalb erzählte ſie mir dies alles? Ein paar rote Flecken leuchteten
krankhaft auf der zarten Haut ihrer ſchmalen Wangen.
Und während wir nun im warmen Wind auf dem oberſten Oeck ſtanden, den Blick
auf den weiten, blauen, Goldfunken ſprühenden Spiegel des Sees gerichtet und die
luſtigen Orte des flachen Uferlandes, die drüben vorüber zogen, ließ fie gleichſam
im Selbſtgeſpräch ihre eigene Jugend vor ſich aufſteigen. Ich fab zu meiner höchften
Verwunderung im Geiſte die ſtille Wohnung der Kaufmannswitwe draußen an der
Außenalſter im Obergeſchoß der Villa Hinrichſen, in der nun fremde Leute wohnten;
die mũhſam mit dem Erlös koſtbarer Handarbeiten verdeckte Not, die faſt puritaniſche
Frömmigkeit... „Jeden Sonntag gingen wir morgens in die alte Margaretenkirche.
Sa, Mutter war ſehr ſtreng gegen ſich .. Und nachmittags leiſteten wir uns im
Sommer die billigen Dampferfahrten. Ach, es waren ſchöne Stunden...“ Sie ſprach
Hotzel: Spãtſommergeſpenſt 21
das St nach hanſeatiſcher Art. „Und dann kam wieder die Woche mit ihrer eintönigen
Arbeit und den Erinnerungen an die früheren Jahre, an Papa und das große Haus,
ehe das Unglück tam... Ja... damals als Papa ſtarb, war ich achtzehn ..“ Sie ſtrich
ſich ſinnend mit der Hand über die Stirn.
„Einmal fuhren wir auch im Frühling hinaus... Wir glaubten, die Obſtbäume
blühten ſchon, aber es war noch kalt, und am Nachmittag kam naſſer Nebel von der
See her, und Schneetreiben ſetzte ein... Damals erkältete ſich Mama ſehr heftig...
Sie lag zwei Monate zu Bett bis ...“ Sie machte eine lange Pauſe. „Nun, es iſt
vielleicht ganz gut, daß es fo gekommen iſt ...“
Nun lebte Fräulein Hinrichſen allein von dem Erlös der mühſeligen Arbeit, und
ſie hatte wohl alle Erſparniſſe der letzten einſamen Jahre zuſammengerafft, um dieſe
Sommerreiſe zu machen. „Nach Meersburg, wo ich mit den Eltern damals vor dem
Unglüd ...“
Sie brach jäh ab. Die Flecke in dem blaſſen Geſicht ſchienen größer zu werden,
und ſie ſah mich wie aus einem Traum erwachend erſchreckt an. Das Schiff bog um
den Kopf der Mole von Friedrichshafen, wo die Leute fröhlich aus einem eiſernen
Pavillon winkten.
„Ach,“ rief Fräulein Hinrichſen plötzlich, „ſehen Sie doch dieſes reizende Städtchen!“
„Kannten Sie es noch nicht?“ fragte ich.
Sie ſchüttelte den Kopf und ſah ſcheinbar intereſſiert nach der Landungsbrücke
hinüber.
Wir fuhren dann zuſammen weiter, aber fie blieb ſchweigſam. Und ich wagte es,
offen geſtanden, nicht, fie nach jenem früheren Beſuch der alten Bodenſeefeſte zu
fragen. Er mußte ihr die ſeltſame Begegnung gebracht haben, die jetzt in ihrer Seele
geſpenſterte.
Vor Waſſerburg ſtieg ſie aus. Ich atmete auf. Rat Spitzel kam zu mir heran.
„Hören Sie, ich bin froh, daß fie nicht bei uns bleibt, denn .. Na, Sie wiffen ja...
Es wär übrigens ſchade um Sie...“
„Sie wollten mir doch,“ ſchnitt ich ihm das Wort ab, „etwas von den Forellen er-
zählen.“
Er ſah mich unangenehm überraſcht an. Als ich den Blick aber kalt erwiderte, be-
gann er langſam in fein altes Fahrwaſſer zurückzukehren. Und als wir die erſte
Flaſche des ſchweren Ungarweins in Waſſerburg hinter uns hatten, war er mit den
Forellenrezepten ziemlich zu Ende.
Auf der Rückfahrt am Abend meinte der allwiſſende Rat mit Bedeutung: Das
Wetter werde wohl bald wieder umſchlagen. Ich ſpüre es ſchon im linken Vein...
Es folgte nun ein Tag, deſſen traumhaftes Erleben mir heute noch ganz unbegteif-
lich iſt.
Ich traf Fräulein Hinrichſen auf dem Nachmittagsſpaziergang. Es fiel mir ſofort
auf, daß ſie heller gekleidet war als ſonſt, duftiger in ein weißes Mouſſelinkleid. Ihre
Haut ſchimmerte roſiger, und ihr Blick war hell und frei. Wir gingen durch den abge-
trockneten Wald und bewunderten das grüngoldene Licht, das in den Buchenhallen
wogte. Wir blieben oft ſtehen und lachten uns an —in einer Art Glückſeligkeit, die
jenſeits des Begehrens liegt.
28 Hotzel: Gpaͤtſommergeſpenſt
Auf einer Wieſe zwiſchen hohen Buchen und Eichen, den Blick hinaus auf den
ſilbernen See, ließen wir uns im hohen Graſe nieder. Moospolſter machten das Lager
angenehm und trocken. Wir waren ausgelaffen wie Kinder im ſpäten Sommerglüd.
„Wie ſchön, daß uns dieſe Tage noch geſchenkt ſind“, ſagte ein über das andere Mal
Fräulein Hinrichſen und ſah mich dabei voll und froh an. Ihre blonde Haarkrone
funkelte unter den ſchrägen Sonnenſtrahlen. Wie verjüngt ſie ausſah!
. Und dann ſagte fie wieder: „Manchmal meine ich wirklich, es müßte noch ein größe
res Glück kommen. Vielleicht find es ſchon ſolche ſpäten Tage voll Sonne und Freude.
Oh — ſehen Sie nur: dieſen Käfer, wie er funkelt, grüngolden. Und dort jetzt die
Mainau... Wie ein Traumſchloß am Meer... Davon hab' ich immer wieder ge-
träumt, von dieſer glüdjeligen Inſel. ..“
Darauf wurde ſie ſtill. Die Mücken ſurrten und Libellen kamen herauf. Ich ſchlug
jetzt vor, weiter zu wandern, weil ich das Geſpenſt in ihrer traumbeladenen Seele
fürchtete. Sie ſtand auf, und wir waren bald in der Nähe einer kleinen Ortſchaft am
See. Fräulein Hinrichſen war bis dahin ſchweigſam geblieben. Jetzt ſah fie mich
wieder an und ſagte verlegen: „Wiſſen Sie, wozu ich Luſt habe? — Ein Glas Wein
zu trinken, roten Meersburger.“
Ich nahm ihren Vorſchlag mit Freuden auf. Wir wollten ja auch hier das Schiff
für die Rüdfahrt erwarten.
Ein Gaſthof bot ſeine zwiſchen üppigen Gärten am Ufer gelagerte Terraſſe zum
behaglichen Dämmerſchoppen. Bald ſtand der hellrote Wein vor uns. Der See fun-
kelte unter der ſinkenden Sonne. Golden gezackt ſtand das ferne Gebirge im blauen
Nebel. |
Wir tranken uns zu.
„Ich bin ſo dankbar für dieſen Tag“, ſprach ſie leiſe vor ſich hin, und ihre ſchmalen
Lippen ſchienen nun röter als ſonſt.
Mich hatte der Drang, das Geheimnis ihrer früheren Begegnung zu erforſchen,
längſt verlaſſen. Ich freute mich ihrer heiteren Gelaſſenheit. Jetzt verlor ſich ihr Blick
in die Dämmerung, die im Oſten heraufſtieg. Dunkel blaute dort der See unter dem
leuchtenden Grün der überhängenden Bäume.
Ich ſtieß mit ihr an, obgleich die Becher recht unbeholfen waren und nur einen
matten klirrenden Ton gaben.
Noch immer in die blauende Dämmerung hinausſtarrend, legte ſie vertraulich ihre
ſchmalen Hände auf meinen Arm. Ich ſpürte peinlich einen Strom Wärme von ihr
zu mir herüber ... und hielt doch ſtill und wagte nicht, mich ihr zu entziehen. Es war,
als ſähe fie fern über den Waſſern den Verlorenen und wollte ihm mein Leben ein-
verleiben |
Ich fröſtelte. Sie muß es geſpürt haben, denn fie jah mich mit warmem Blick
groß an und ſtreichelte meine Hand.
Da pfiff ſchrill und ſchreckhaft der Dampfer hinter uns am Steg, und wir eilten
zum Schiff hinunter. Ich war glücklich, dieſer quälenden Situation entronnen zu
fein. —
Am nächſten Tage machte ich mit Rat Spitzel wieder eine kleine Reiſe am Ufer
entlang.
Hobel: Spaͤtſommergeſpenſt 29
Als wir am Abend nad Meersburg zurückkehrten, fanden wir das Städtchen illu-
miniert. Muſik erklang an allen Ecken. Rat Spitzel war ſehr entrüftet darüber, daß
man ihm den ſchnellen Entſchluß zu einem Sommernachtsfeſt nicht vorher mitgeteilt
hatte. Er ſtellte ſich aber bald in den Mittelpunkt der Feſtlichkeit, während ich nicht
recht wußte, was ich anfangen ſollte. Mich rührte der Jubel der Einheimiſchen über
ihre Muſikkapelle, die wieder und wieder heitere Weiſen anſtimmte. Der kleine
Marktplatz zwiſchen den Giebelhaͤuſern und Erkern gleich einer erleuchteten Szene
aus den „Meiſterſingern“. Feuerwerk ſprühte draußen über dem dunklen See, und
bald erſtrahlte dieſer und jener Teil der Burg im farbigen Licht.
Plötzlich ſtand Fräulein Hinrichſen neben mir, ſcheu, als ſuche ſie Schutz in dem
Getümmel. Wir ſprachen wenig. Aber ich bemerkte im bunten wechſelnden Lichter-
ſchein den wärmeren Ausdruck ihrer Augen, wenn ihr Blick den meinen traf. Das
feſtliche Treiben half mir über das Unbehagen hinweg, das dieſe Veränderung wieder
in mir erweckte. Ja, das unſichere flackernde Licht machte es auf den Treppen und
Steigen notwendig, meine Begleiterin zu ſtützen. Ich bot ihr den Arm. Sie nahm
ihn mit ungewohnter Vertraulichkeit, und ich fpürte ihre zarte Schlankheit warm an
meiner Seite. Wir gingen umher und wurden eigentlich wieder recht fröhlich —
vielleicht auch nur, um uns über das Neue und Ungewohnte der Situation hinweg-
zutäuſchen. Schließlich, als das Umbergehen ermüdete — es war ſchwül an dieſem
Abend —, ſetzten wir uns auf das Rangele.
Die Leute hatten ſich jetzt in die Gaſtwirtſchaften verlaufen, und es wurde bald
ganz ſtill bier oben, auf dem weiten dunklen Platz zwiſchen dem Viereck des Reit-
baufes und dem maſſigen Bau des Prieſterſeminars. Der See lag ſchwarz in der
Tiefe. Hin und wieder flackerte Wetterleuchten im Weſten.
Wir ſaßen nebeneinander auf der Bank, die ins Mauerwerk des Balkons einge-
laſſen war und ſchauten in die Nacht hinaus. Ich fühlte, wie die aufgeſammelte
Sehnſucht des ſpäten Mädchens in dieſer lockenden Sommernacht erwachte, und wie
jie ſich in die Gegenwart zurüdfand.
Ich wurde ſehr traurig und fand doch nicht den Mut, abzubrechen. Zaghaft faßte
ſie meine Hand. Vom See her drang fernes unheimliches Brauſen, während der
Waſſerſpiegel unten noch glatt und ſtill war. Der erſte Blitz zerriß die Nacht über
dem Gebirge drüben. „Hören Sie das Wetter? — Ob es zu uns kommt?“ Angſtvoll
drückte fie meine Hand, und im Scheine der nun ſchnell auf einander folgenden
fernen Blitze ſah ich ihre Augen weit und flackernd.
„Es wird wohl bald hier ſein“, ſagte ich. Und ſie ſchmiegte ſich noch enger an mich.
Der Sturm flog dem Wetter voraus. Strähne ihres Blondhaars peitſchten mir
das Geſicht. Da fiel ihr Kopf an meine Schulter. Klatſchende Regentropfen, Vor-
boten des Unwetters, trug der Sturm heran. Der Donner rollte.
Wie hilflos war ich damals! Ich hätte dieſen müden Kopf ganz zart in meine
Hände nehmen und die ſchmalen zaghaften Lippen küſſen mögen ... unendliches
Glück verſtrömend in ein glückloſes Herz ... aber ich ſaß ſtill. Ich fühlte tiefſtes Mit-
leid mit dieſer troſtloſen Frau und konnte es ihr doch nicht bezeigen. Denn war es
nicht ein anderer, den ihre Seele hier ſuchte? .. Wie ein Froft fiel es über mich im
Toſen des nahenden Wetters: war ich es denn, dem ſie ſich jetzt anſchmiegte?
30 Beaulieu: Ou fagft...
Ich ſaß ſtill, bis fie fic) aufrichtete, langſam, angſtvoll. Und als fie dann zu mir
aufſah, Tränen im Blick, und ich mich dennoch in einem Gefühl wärmſter Teilnahme
mit einem nur geahnten Schickſal ihrem Munde näherte, zerriß ein greller Blitz die
Nacht über uns, und der Donner fchütterte krachend das Firmament... Im kalten
Lichte des Wetters aber erloſch mein mattes Verlangen.
Vom Regenguß gepeitſcht, eilten wir in den Schutz der Häuſer. Und im Torweg
des Reithaufes lehnte ſich das verzweifelte Mädchen in einen Winkel, die Stirn auf
den Arm gegen die Wand preſſend, und ſchluchzte. Ich trat zu ihr und empfand tief,
daß ſich hier ein grauſames Schickſal erfüllte. Es ging über mein junges Troſt-
vermögen.
Das Wetter zog ſchnell vorüber. Als das Rauſchen des Regens nachließ, wandte
ſich Fräulein Hinrichſen jäh um, und ehe ich's mich verſah, war fie in der Ounkelheit
verſchwunden.
Ich verſuchte ihr zu folgen, rief und irrte im Regen umher — fie blieb verſchwun⸗
den. Müde und gänzlich verwirrt langte ich in meiner Manſarde an.
Tags darauf ſah ich mich vergeblich nach Fräulein Hinrichſen um. Ich machte
meinen Spaziergang über die Höhen nnd durch den Wald. Alles atmete Friſche, die
Sonne ſchien heiß, und das Erdreich duftete. Aber ich blieb allein. Das Unwetter
ſchien alle Geſpenſter vertrieben zu haben.
Als ich am Abend Rat Spitzel traf, ſagte er: „Wiſſen Sie, daß Fräulein Hinichſen
ganz plötzlich fort iſt? Abgereiſt, mit dem erſten Schiff heut in der Frühe ..“
Du fagft...
Von Heloiſe von Beaulieu
Du ſagſt, du liebteſt dieſes kleine Zimmer,
Und dachteſt gern daran, wenn du geſchieden,
Und ſögeſt dir aus der Erinnrung immer
Ein Wohlgefühl von wundervollem Frieden.
Wie wohl vermochten das die armen Wände,
Die nur von Leiden und Entbehren wiſſen,
Wie eine Jugend langſam ging zu Ende,
Don Hoffnungen, die Stück für Stück zerriſſen — ?
Das mein Geſchick umſchloß ſeit langen Jahren,
Mein armes leidbeſchriebenes Gef is,
Sollſt du fo [pat ein Wunder noch erfahren ?
— Jah frage nicht und danke dem Verhängnis.
Derftummt ift heut' das unheilvolle Nannen,
Die Qualgeſtalten blaſſen und zerfließen.
Die Wände ſind voll Freundlichkeit. Sie ſtaunen,
Weil ſie zum erſtenmal ein Glück umſchließen.
achdem eine Reihe bekannter deutſcher Gelehrter feit Kriegsende Spanien offiziell beſucht
hat, um Kunde von den Leiſtungen deutſcher Wiſſenſchaft zu unſeren iberiſchen Freunden
zu tragen, war es ein guter Gedanke des kunſtſinnigen deutſchen Generalkonſuls in Barcelona,
des Herrn v. Haſſell, auch einmal einen Vertreter deutſcher Muſikwiſſenſchaft über die Pyre-
nden zu locken, und ich bin gern feiner Einladung im letzten März gefolgt. Wie geplant, rollte
die Reiſe in etwa drei Wochen glatt ab — ich gab auf Einladung der kataloniſchen Geſellſchaft
Amics de musica in ihrem eignen Sinfoniehaus (Palau catalan) einen Vortragsabend
mit eingeſtreuten Liedern — unter mehreren vorgeſchlagenen Themen hatte man dortſeits als
voltstümlichſtes „Das deutſche Lied von Schubert bis Brahms“ gewählt, und die Zeitungen
von Barcelona vermertten nachher mit verwunderter Freude, daß man ganz neue große Meiſter
wie Löwe, Franz, Jenſen, Cornelius dadurch erſtmals kennen gelernt habe. Aus den ſpäter
noch zu beſprechenden politiſchen Schwierigkeiten hatte ich den Ausweg gewählt, weder katalo;
niſch noch ſpaniſch noch gar franzöͤſiſch zu Sprechen (letzteres wäre mir in dieſer Zeit als durchaus
unmögliche Kulturpropaganda für den Landesfeind erſchienen), ſondern das dem Kataloniſchen
nah verwandte ZItalieniſch zu gebrauchen, das denn auch beſtens verſtanden wurde; die Lieder
fang ich deutſch, aber die Zuhörer hatten auf dem Programm treffliche kataloniſche Uberſetzungen
von Herrn Francisco Pena in der Hand, dem ausgezeichneten Barceloneſer Wagnerüberſetzer,
deſſen kataloniſche Ausgabe der Lieder Beethovens z. B. zu den beſten überhaupt gehört. Dann
hielt ich im Deutſchen Klub von Barcelona feds deutſche Vorträge mit Lied-, Opern- und
Oratorienbeiſpielen über die deutſche Muſikentwicklung der letzten zweihundert Jahre, eine
allgemein einführende Überficht, die von dieſem weiteren Laienkreiſe dankbar aufgenommen
wurde, wie die von Abend zu Abend ſteigende Zuhöͤrerzahl deutlich erkennen ließ. In
Madrid wurde ein Vortrag vor Spaniern in der Weiſe gehalten, daß einer der erſten dortigen
Muſiktritiker eine Überfegung meines Vortrags kaſtiliſch vortrug, die liebenswürdig Herr Dr.
Moldenhauer, der Leiter der Vermittlungsſtelle für deutſch-ſpaniſchen Wiſſenſchaftsaustauſch
angefertigt hatte, während ich wieder in deutſcher Sprache — im Saal der deutſchen Schule —
ſang; und ſchließlich hielt ich auch noch einen Liederabend vor deutſchem Publikum im Madrider
Klub „Germania“ ab — ein etwas anſtrengender Dienſt an neun von zwölf Abenden, zumal da
ich die betreffenden Tage doch bis an den Rand mit Beſichtigungen des fremden Landes aus-
gunugen trachtete. Immerhin ſcheint der beabſichtigte Werbezweck für die deutſche Sache er-
reicht worden zu ſein; und dies ſowie die Fülle herrlich feſſelnder Eindrücke hat mir die kleinen
Strapazen der Unternehmung doppelt wettgemacht.
Urſ pruͤnglich hatte ich gehofft über Genua und von dort mit dem Dampfer nach Barcelona
reifen zu können, doch ſtellte ſich dieſer Weg als teuer und unregelmäßig gangbar heraus, während
meine Zeit knapp bemeſſen und pünttliches Eintreffen Pflicht war. So wurde die Landroute über
Baſel—Senf— Lyon — Narbonne — Port Bou gewählt. Das preußiſche Kultusminiſterium be-
ſorgte in liebenswürdigfter Weiſe beim Auswärtigen Amt die mancherlei Viſa für Hin- und Rüd-
fahrt, und ich konnte pünktlich abfahren. Bis auf die leidige Einrichtung, daß man vom Schweizer
Perſonal auf der kurzen Nachtſtrecke Baſel—Genf viermal zwecks Fahrkartenreviſion geweckt
wurde, bleibt über den erſten Teil der Reiſe nichts zu vermelden. Sonntag früh auf dem Genfer
Wartejaal fand man ſich inmitten übernächtiger Bummler- und ſtudentiſch frühaufſteheriſcher
Stipdrdhen durchaus ſchon in franzöſiſchem Sprachbereich; herrlich die Fahrt dann längs der
durch den Jura brechenden Rhone bis zu der mit Recht ſo benannten Grenzſtation „Bellegarde“,
von wo ſich's maͤhlich nach Lyon hinabſenkt, der ſchön um eine Rhoneinſel aufſteigenden Handels-
32 Spaniſche Reife
ſtadt. Sehr lohnend weiter die Ausblicke auf ſüdlicher Pelem-Fahrt: jede Viertelſtunde bringt
neue Vegetationsbilder, immergrüne Eiche, Lorbeer, Zypreſſe, Olbaum, Zitrone finden ſich an,
ſchöne Mittelgebirgsſilhouetten wie jene des (wenig phantafievoll benannten) Montagne du Lion-
nais oder ein vereinſamtes Seealpenmaſſiv begrenzen den Horizont, aus immer trocknerem
Gebirgsland ragen verfallene Troubadourburgen und ſeltſam tote Städtchen an weißgelben
Berglehnen empor — jenes Provencer Lied aus Lienhards „Spielmann“ tönt unwillkürlich
auf. Orange und das zinnengefhmüdte Avignon der Päpſte rollen vorbei, bei dem „unfterb-
lichen“ Tarascon des franzöſiſchen Nationalhelden Tartarin geht's über die breite Rhone auf
ſchönen Brüden, dann über abendliches Hochplateau, wo nur noch kurzes Gras Schafherden
lockt. Ich grüße Montpellier mit feinen Motettenhandſchriften des 15. Jahrhunderts, fpüre bei
Cette nächtliche Mittelmeerbriſe und verbummle mehrſtündigen Aufenthalt im ſtillen Narbonne
mit feinen Kanälen und dem träumenden gotiſchen Rathaus. Perpignan wird verſchlafen,
aber plötzlich wecken Zollſchranke und Umſteigepflicht: bei Portbou ſin dwir in Spanien. Grellſter
Mondſchein ſchlägt mir entgegen, drohend nahe Pyrendenberge zeigen auf ſeltſamen Abfall-
rücken à la Dord bunte Hazienden, Gepäcktraͤger mit ihren maleriſchen Magen, Apachenſchals
und weißen Stickereibluſen ſchleichen auf ihren nationalen Filzſchuhen umher und zeigen uralte
Mönchsgeſichter — man fpürt die Verſetzung ins Märchenland; und irgendwie bleibt diefer
Unterton des unwahrſcheinlich Märchenhaften feither auf der ganzen Reife mein Begleiter.
So läßt Aufregung über alles Neue den Fremden auch nicht mehr auf der Weiterfahrt im
bequemen ſpaniſchen Schnellzug die Augen ſchließen, und man wacht gern den Tag heran.
Eigentümlihe Baumgruppen, zumeift Maulbeer und Platane, auch ſeltſam gekugelte Pinien
feſſeln das Auge, vor allem ſeltſam aber wirken die dreieckigen Formen der Acker, wie denn
überhaupt in allen Grundriſſen ein phantaſtiſcher, uns irgendwie tiefverwandter Hang der
Spanier zum Unregelmäßigen, Spitzwinkligen, eine Abneigung gegen die ruhige Gejdloffen-
heit der italieniſchen Kunſt, ſtets wieder erſtaunen macht. Endlich Barcelona, die volkreichſte
Siedlung des Landes, die alte Hauptitadt Kataloniens.
Man darf die Kultur der Stadt nicht nach der argentiniſch prunkvollen Gerablinigteit der
neueren Teile meſſen, obwohl ſich's auch da ſtellenweis ſehr huͤbſch „unter Palmen wandelt“
und ſogar bemerkenswert eigenwilliges Drängen nach einem eigenen, bodenſtändigen Bauſtil
in einigen Paläſten und Kirchen neu hervortritt. Aber das eigentliche Barcelona iſt doch die
Altſtadt nach dem Hafen zu mit ihrem unendlichen Menſchengedränge zwiſchen Blumenſtänden
und Vogelhändlern, Stehkonditoreien und Hundchenverkäufern die „Rambla“ hinab, mit den
bunten Mittelmeeraquarien der Fiſchereien und den unendlich engen Nebenſtraßen voll Fremd-
länderei und Malerreiz. Das ganze Spaniertum ſpricht aus dem myſtiſchen Dunkel des
Doms, aus dem nur allmählich Goldgepränge, Architektur, wundervolle Vierungsd ämmerung
hervortritt, jener düſtere Gekreuzigte, der ſich in der Seeſchlacht von Sepanto als Gallionfigur
an der tuͤrkiſchen Kanonenkugel vorbeibog, vor dem nun hundert Frauen mit weißen Spitzen
tüchlein auf dem Scheitel knien und Miniſtrantenkerlchen wichtig knickſen. Weſtgotiſche Ratfel-
runen im würflig- eckigen Torbau des Kirchleins San Pedro in Campo, breite Hallen Spät
gothik bei Santa Maria del Pino, vor allem phantaſtiſche Höhen des Domkreuzgangs, in deſſen
Mitte heilige Enten ihr Schwimmfeld haben, bleiben als ſtarke Eindrücke haften. Und all die ent-
zuckenden, verträumten romantiſchen Clauſtri (Rreuggange), ins Land hinein, all die verſchwie ;
genen armen Bergkapellchen, deren mittelalte rliche Fresken-Phantaſtik ſich jetzt dem ſtaunenden
Betrachterauge im Cataloniſchen Nationalmuſeum darbietet — ein unerſchöpfliches Land! Un-
erfhöpflich auch für andere Forſchungsgebie te, wenn man ſieht, wie ein ausgezeichneter dortiger
Prähiſtoriker, Schüler unſeres Berliner Meiſters Karl Schuchhardt, in wenig mehr als einem
Jahrzehnt einesd er bedeutendſten Vorgeſchichtsmuſeen Europas, die Sammlung höͤchſt felb-
ſtändiger neolithiſcher Stilrichtungen, mit dem Ausgrabeſpaten in Barcelona zuſammengetragen
bat. Unerſchöpflich vor allem auch als Quelle für die Staatengeſchichte des ſpätmittelalterlichen
Eberhard Ege
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Epanifche Reife 33
Europa, wenn man ehrfürchtig durch die kataloniſchen Archive wandert, deren lückenloſe Rech-
nungsbücher, Urkunden und Geſandtſchaftsberichte vom 14. Jahrhundert an ein erſtaunliches
Bild der damaligen Welt malen. —
Es rührt den Beſucher zu ſehen, mit welcher opferwilligen Begeifterung die Ratalanen, lauter
junge Gelehrte, ihre Nationalbibliothek faſt aus dem Nichts zu einer Hochburg der Forſchung
ausgebaut haben, und man empfindet reg die Schwere ihrer gegenwärtigen Lage. Damit be-
rũhre ich kurz die innerpolitiſchen Probleme des Landes, an denen man nicht vorüberkommt.
Spanien erſcheint uns von Oeutſchland her als ein beſonders ſtraff einheitliches Staatsgebilde.
gn Wirklichkeit lebt, wie das Königreich aus mehreren Teilſtaaten hiſtoriſch zuſammengewachſen
iſt, noch immer ein ſtarker Partikularismus, der ſich ſchon auf die erheblichen Sprachunterſchiede
zwiſchen Kaſtiliern, Katalanen, Basken, Andaluſiern und Portugieſen ſtützen kann. Unter dem
älteren, läßlichen Regime hat ſich dieſes Dezentraliſationsbeſtreben als eine der vielen national
tomantiſchen Wellen des 19. Jahrhunderts kräftig entfaltet und z. B. in Barcelona zu einem
Auſſchwung des eigenen geiftigen Lebens geführt, den jede einſichtige Zentralregierung als ein
kulturelles Mehr für die Geſamtheit buchen und unterſtützen ſollte. Nun ſcheint ihr dies aber
allmählich von einigen Enthuſiaſten etwas ſchwer gemacht worden zu fein, deren Eigenbrö-
telei zumal durch franzöſiſche Einflüffe fo geſteigert wurde, daß man in Madrid das Geſpenſt
eines ſchlie lichen Separatismus aufſteigen fühlte. Als nun Primo de Rivera durch fein traft-
volles, auch perſönlich tapferes Eingreifen mit einem Schlage die ewigen fonditaliftifden
Sombenattentate zu Barcelona unterdrückte, fühlte ſich zunächſt alles erleichtert. Aber als das
Direktorium gleichzeitig auch allen katalaniſchen Sonderbeſtrebungen mit Härte einen Riegel
vorſchob und die Zufuhren unterband, wich die Dankbarkeit für das Direktorium zorniger Ver-
zweiflung. Auf die Dauer muß Hier eine Verſtändigungsbaſis gewonnen werden, wenn der
Schade für beide Parteien nicht immer ſteigen ſoll: die Katalanen werden lernen müſſen, ihre
Sonderbeſtrebungen wirklich nur auf kulturellen Boden zu beſchränken und rein ſtaatlich durch
ein kräftiges Bekenntnis zur geſamtſpaniſchen Sache Madrid allen Vorwand zur Abdroſſelung
zu entziehen; die Zentralregierung ihrerſeits wird begreifen müſſen, daß ihre bisherige Über-
ftrenge nur Märtyrer vom iriſchen Muſter ſchafft und abſolute Bildungswerte mindert, an
deten Stelle fie nichts Ähnliches zu ſetzen vermag. Dem Diktator könnte ein Blick auf Oeutſchland
zeigen, was eine kulturelle Dezentralifation bei politiſchem Unitarismus an geiftigem Reichtum
und innerem Segen bedeutet, zumal da dem ganzen Weſen der Spanier dieſes Prinzip eines
kulturellen Föderalismus viel näher verwandt erſcheint als der Zentripetal Bau von Frankreich
Paris. Dann werden die franzöſiſchen Nachbarn mit ihrer mephiſtopheliſchen Propaganda des
„Divide et impera“ hier doppelt das Nachſehen behalten und die ſchöne Utopie eines, Landweges
nach Tunis“ ſo weit entſchwinden ſehen als ſie es irgend verdienen. So wünſchen wir unſeren
ritterlichen ſpaniſchen Freunden doppelt aufrichtig den inneren und äußeren Frieden zur wei-
teren Aufwärts entwicklung ihres Landes, die zumal ſeit den Neutralitätsjahren während des
Veltkrieges fo bedeutſam eingeſetzt hat und, wie ſchon die erſtaunliche Bauluſt zeigt, trotz ge-
legentlicher Marokko ⸗Rüuͤckſchläge vermöge nationaler Tüchtigkeit weiter anhalten wird.
Spanien iſt ſehr unitalieniſch und darin weſentlich anders, als es wohl der deutſche Reifende
zunächſt erwartet. Schon landſchaftlich — die Luft iſt von einer oft ſchier erſchreckenden Klarheit,
die alle Ronturen mit einer ſeltſamen Überdeutlichkeit, mit einer ſcheinbar geradezu veränderten
Perſpektive vor unſer Auge ſetzt und auch den Farben eine andere Brechung zu verleihen ſcheint.
3h glaube, die herrlichen Grecos, die ich in Toledo ſah, und die erſtaunlichen Goyas im Mad-
rider Prado find recht eigentlich nur aus den beſonderen Lichtgeſetzen der ſpaniſchen Luft zu
verſtehen. Spanien iſt noch immer in irgend einer Art gotiſch, in der zackigen Eigenwilligkeit
feiner Sitten, die in tauſend beſonderen Zügen frappieren, im ſtolzen Freimut der Charaktere,
deten unerhörten Individualismus wohl niemand ſo tief erraten hat wie Velasquez in ſeinen
Porträts, am tiefſten vielleicht in dem einſamen Leidensantlitz ſeines Aeſop, das mich ſeitdem
Der Türmer XXVIII, 1 3
34 Spaniſche Reife
nicht wieder verlaffen hat. Und Spanien ijt zugleich viel mehr Orient als unſereins gunddft
glaubt — in der Harem ⸗Strenge, mit der der Spanier Fremden feine Kemenate verſchließt,
wie in der Geſtalt des Landes. Wenn man etwa bei Tarragona (der herrlich mit Römerruinen
beftandenen Weinftadt am Meer!) die Küſte verläßt und am Ebro aufwärts nach Saragoſſa
fährt, fo erſchüttert die gewaltige Odnis dieſer wafferlofen, rotgelben Felfenwiiften, dieſes
furchtbar erhabene Trümmerfeld der kaſtiliſchen Hochebene, wo man immer auf den nächſten
Ldwen warten möchte — leonum arrida nutrix. Gotiſch erſcheint der ſchnurrige Humor des
Volkes, arabiſch die ſpitzenfeine Architektur, die etwa in den Moſchee Synagogen von Toledo
ihre magiſchen Wirkungen entfaltet; katalaniſch find die grellbunten Kacheln, die in den Villen
garten um Barcelona leuchten und noch die Bergkirche auf dem Tibidabo mit kindlicher Freudig-
keit ſchmücken. Jener beherrſchende Berg über der Großſtadt, auf den der Verſucher den
Herrn entführt haben ſoll: „Knie nieder und bete mich an — tibi dabo alle Herrlichkeiten der
Welt“ —, fo [hin iſt der Blick von dort zu den Pinienwäldern hinab und über das Häufer-
gewirr, hinter dem ſich das Meer fpannt, und zu den Schneehäuptern der Pyrenäen hin und
zum heiligen Berge Montſerrat hinüber. Spaniſch inbrünftig wie die geiſtlichen Verzückungen
in Hugo Wolfs Liederbuch iſt die unerhörte Pracht der Goldgewänder im Domſchatz von Toledo,
ſpaniſch eigenwillig der Anblick des Marktplatzes von Manreeſa (am Fuß des Montſerrat), wo
wir Sonntag mittags Hunderte ſich zum Rhythmus der Sardana im Tanz ſchwingen ſahen: mit
einer verſunkenen Feierlichkeit halten Frauen und Männer, Mädchen und Zünglinge aller
Altersſtufen und Klaſſen, ohne ſich zu kennen, einander an der Hand und ſchreiten in Gruppen
zu zehn bis zwanzig ihren Ringelreihen, während eine Muſikbande mit trompetenſtarken Alt-
oboen, Hörnern, Kontrabaß ihre prickelnden, kirchentonartlich gefärbten Melodien ſpielen; und
niemandem darf das Mittanzen verweigert werden — jchönes, rührendes Mittelalter.
In hundert kleinen Paradoxen zeigt Spanien ſeinen Eigenwillen. Das Lieblingsgetränk der
erwachſenen Männer iſt heiße Milch mit Zucker; aber bei Kindergeſellſchaften gibt man zu
trockener Schokolade und Weißbrot — ein großes Glas Waſſer. Gehſt du abends nach Haufe, ſo
beginnt der junge, bettelarme Nachtwächter des Bezirks mit Kerze und Spieß einen Wettlauf,
um vor dir am Haustor zu ſein und ſein Sperrſechſerl zu verdienen — gewinnſt du aber zum
Spaß den Wettlauf, fo quittiert er mit dem Lachen eines Kavaliers die Tatſache deiner längeren
Beine und leuchtet dir. Die Ejelquälereien des Stalieners kennt er nicht, aber die Blutekſtaſen
des Stierkampfes, und ſelbſt beim Baskiſchen Ballſpiel (das 'ich mir ftatt jener Roheit anfah)
kann er grauſam und wütend gegen die unerhört geſchickten Matadore mit ihrer Handſchute
werden, die gewöhnlich früh an Herzüberanſtrengung fterben.
Einer der [hönften Tage in Spanien wurde der Ausflug zum Einſiedlerberg Montſerrat, der
ſeinen Namen als „geſägter“ Gipfel zu vollem Recht trägt — dieſe ſäulenhaften Zinnen, die
die Bildungen der ſächſiſchen Baſtei verhundertfacht in den blauen Himmel tragen, könnten
wirklich wie ſonſt kein zweiter Punkt der Welt die Gralsburg des Heils, den Montſalvat (= Wil-
denberg und Heilsberg) des Wolfram von Eſchenbach getragen haben. Der beſte ſpaniſche
Kenner der mittelalterlichen Muſikgeſchichte, Pater Angloͤs, machte den liebenswürdigen Führer,
durch ihn konnte ich bei den freundlichen Mönchen des Bergkloſters ſeltene Notenpergamente
ſehen und durch ihre Bibliotheksräume gehen (das alte Kloſter mit feinen unermeßlichen hiſtori-
ſchen Quellen haben franzöſiſche Melacs von 1809 verbrannt), wo zwei Drittel der Bücher-
beſtände in deutſcher Sprache gedruckt ſind. Wo mein Stalieniſch zur Verdolmetſchung nicht
ausreicht, hilft Latein, beſonders feſſelt eine reiche Sammlung von bibliſchen Realien. Aber all
dies Menſchenwerk verſchwindet gegen die feierliche Einſamkeit Gottes zwiſchen den kahlen
Felsbaſtionen droben, wo ich zwiſchen Schneereſten die erſten kleinen gelben Narziſſen, unſere
Oſterblumen, pflüde, der Lieben daheim gedenke, und etwas wie Brucknerſche Adagiofrömmig-
keit in mir aufklingt. Ich mag den Anachoretenberg nicht beſchreiben, man leſe in Lien hards
„Spielmann“ nach: der Dichter hat den Berg recht geſehen
Die neuldeal iſtiſche Pädagogik der Gegenwart | 35
Und ob id dann in Madrid durch bie erdrüdende Gemäldeherrlichkeit des Prado gewandert
bin oder in Toledo auf der Burg des Cid geträumt habe oder in San Sebaſtian gegen die Bran-
dung des azurblauen Ozeans anzuftürmen verſuchte — trotz all dieſer Herrlichkeiten blieb doch
der „heilige Berg von Katalonien“ das vielleicht größte Erlebnis auf dieſer Reife.
Prof. Dr. Hans Joachim Moſer
Die neuidealiſtiſche Pädagogik der Gegenwart
eben die beiden großen und verbreiteten pädagogiſchen Strömungen, die wir als Sozial-
pädagogik und Individualpädagogik zu bezeichnen pflegen, iſt ſeit längerer Zeit in
deutſchland eine neuidealiſtiſche Pädagogik getreten, die ſich im weſentlichen an die Philo-
ſophie Rudolf Euckens anſchließt. Sie wurde eingeleitet durch eine Anzahl kleinerer Schriften,
von denen hier O. Käſtner, Sozialpädagogik und Neuidealismus, O. Braun, Rudolf Eudens
Philofophie und das Bildungsproblem ſowie meine Schriften „Verſuch einer prinzipiellen Be-
gründung der Pädagogik der höheren Knabenſchulen auf Rudolf Eudens Philoſophie“ und „Die
Wandlung des Bildungsideals in unſerer Zeit“ erwähnt ſeien, an die ſich bald andere Schriften
und Auffage anſchloſſen. Im Jahre 1914 ift dann mein Werk „Noologiſche Pädagogik“ im Verlag
von Beyer & Söhne in Langenſalza erſchienen, in dem ich verſucht habe, auf der Grundlage der
Philofophie Euckens ein eigenes Syſtem der Pädagogik aufzubauen und auch die aus einem
ſolchen Syſtem ſich ergebenden Folgerungen für die pädagogiſche Praxis herauszuſtellen. Die
Bezeichnung „noologiſche Pädagogik“ habe ich im Anſchluß an die von Eucken in feiner Philo-
ſophie befolgte „noologiſchen Methode“ gewählt; fie ſoll beſagen, daß die Grundlage dieſer
Pädagogik ebenſo wie der Philoſophie Eudens das natur und zeitüberlegene Geiſtesleben bildet,
das im Mittelpunkt der Weltanſchauung des Zenenfer Denkers ſteht. Weil die Lehre Eudens
einen neuen Idealismus darſtellt, fo hat man fie auch eine neuidealiſtiſche Philoſophie
und auch die an fie ſich anſchlleßende Pädagogik die „neuidealiſtiſche Pädagogik“ genannt.
Die moderne Sozialpädagogik iſt aus der auf dem Boden des von dem Franzoſen
A. Comte vertretenen Poſitivismus erwachſenen neuen Wiſſenſchaft der Soziologie hervor-
gegangen, die nach einer beſonderen Methode die verſchiedenen Zuſtände der ganzen Menſchheit
in ihrer Aufeinanderfolge und nach ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang vergleichen will. Im
Lichte dieſer Soziologie erſcheint als der Hauptquell aller Mißſtände des modernen Lebens die
intellektuelle Zerrüttung, die darin hervortritt, daß das Leben in lauter individuelle Meinungen
und Strebungen auseinandergeht und daß es an einer genügenden Gegenwirkung gegen die
Selbſtſucht der Individuen fehlt. Dieſe unhaltbare Lage kann nach Comte nur durch die Wiffen-
ſchaft überwunden werden, die uns lehrt, den biologiſchen Begriff des Organismus auf die
menſchliche Geſellſchaft zu übertragen, die eben die höchſte Form dieſes Organismus darſtellt.
Bei ſolcher Betrachtung wird es klar, daß alles menſchliche Leben ſich nur im Zuſammenſein,
nur innerhalb der Geſellſchaft entwickelt und daß ſich nach ihrem Stande auch die Art und das
Wohl des individuellen Oaſeins bemißt. Das iſt ein Geſichtspunkt, den auch die Erziehung zu
beachten hat. Sie darf nicht individualiſtiſch gerichtet fein, fie darf nicht den Zweck jeder indivi-
duellen Leiſtung außerhalb des ſozialen Lebens ſetzen, denn ſonſt befördert ſie den Egoismus.
In dieſer Beziehung war nach Comte die bisherige Erziehung auf einem falſchen Wege. Sie
fann nur dann auf den richtigen Weg gebracht werden, wenn die Biologie und die Soziologie
die Srundwiſſenſchaften der Pädagogik werden. Die Biologie zeigt uns, daß es ſich bei den
Neigungen, Gefühlen und Fähigkeiten des Menſchen um ſehr biegſame Organiſationen handelt,
die in jedem Sinne modifigierbar find. Wie aber dieſe Modifikation, d. h. in dieſem Fall die Er-
ziehung, zu erfolgen habe, das kann uns nicht mehr die Biologie, ſondern das kann uns nur die
56 Dic nenibealiftifhe Pädagogik der Gegenwart
Soziologie lehren. Sie ſtellt aber als den höchſten Geſichtspunkt, unter dem ſich das Indivi-
duum betrachten läßt, die Geſellſchaft hin. Deshalb muß die Geſellſchaft das Ziel ſein, nach
dem hin die Entwicklung des Individuums ſyſtematiſch zu leiten iſt. Die Pädagogik muß daher
eine Sozialpädagogik werden, die alle ihre Ziele und Aufgaben von der Geſellſchaft aus beſtimmt
und die Wege zu dieſen Zielen aus der Biologie entnimmt. In Oeutſchland hat dieſe poſitiviſtiſche
Sozialpädagogik vor allem einen Vertreter gefunden in Paul Bergemann, deſſen im Jahre 1900
erſchienenes Werk „Soziale Pädagogik auf erfahrungswiſſenſchaftlicher Grundlage und mit Hilfe
der induktiven Methode als univerſaliſtiſche oder Kulturpädagogik“ ſich in den Grundgedanken
durchaus an Comte anſchließt. Beide wollen das Erziehungsziel der empiriſch vor-
handenen Geſellſchaft entnehmen.
Einen anderen Ausgangspunkt als dieſe poſitiviſtiſche Sozialpädagogik nimmt die ideali-
ſtiſche Sozialpädagogik der Gegenwart, deren bedeutendſter Vertreter der im vorigen
Jahre geſtorbene Marburger Univerſitätsprofeſſor P. Natorp iſt. Sie entnimmt das Er-
ziehungsziel nicht der Erfahrung, ſondern einer Idee, nämlich der Idee deſſen, was fein ſoll,
alſo der Idee des Guten oder des Vollkommenen. Dieſe iſt aber nicht in der Erfahrung gegeben,
die wohl zeigt, was iſt, aber nicht, was ſein ſoll. Jene Idee ſtammt vielmehr nach Natorp aus
dem menſchlichen Selbſtbewußtſein. Nun iſt aber die Entwickelung des Selbſtbewußtſeins nur
moglich im Wechſelverhältnis von Bewußtſein zu Bewußtſein, folglich nur in und mit der Ent-
wickelung der Beziehungen, die aus dem empiriſchen Bewußtſein des einzelnen Subjekts hinaus
zur Gemeinſchaft hinüberreichen. Deshalb führt die Frage, wie im Menſchen das Selbſtbewußt⸗
ſein ſich entwickelt, mit Notwendigkeit zu einer Sozialpädagogik. Zwiſchen Gemeinſchaft und
Erziehung beſteht nicht bloß ein äußeres Verhältnis, ſondern die Erziehung beruht ſchon ihrem
Begriffe nach auf der Gemeinſchaft, und es iſt auch eines ihrer wichtigſten Ziele die Tauglichkeit
nicht nur zum Leben in der Gemeinſchaft, ſondern zur eigenen Teilnahme am Aufbau einer
menſchlichen Gemeinſchaft. Von dieſer Gemeinſchaft kann die Erziehung gar nicht abſehen, ſie
muß vielmehr daraus ihre Zielſetzung entnehmen. Aber es handelt ſich bei dieſer Gemeinſchaft
nicht um die empiriſch vorhandene Geſellſchaft, von der die poſitiviſche Sozialpädagogik ausgeht,
die Natorp ablehnt, ſondern um eine angenommene ideale Geſellſchaft, in der die Idee der
Sittlichkeit verwirklicht gedacht wird. Diefe Idee ſtammt aus dem Selbſtbewußtſein, das Gelbft-
bewußtſein aber entwickelt ſich nur in der Gemeinſchaft; ſomit iſt dieſe Gemeinſchaft auch in
letzter Linie die Schöpferin der Idee und muß deshalb auch, weil dieſe Idee allein für die Er-
ziehung zielbeſtimmend ſein darf, die eigentliche Grundlage der Pädagogik ſein.
Gegen die Sozialpädagogik wendet ſich die moderne Individualpädagogik. Sie nimmt
ihren Standort nicht in der Geſellſchaft, weder in der empiriſch vorhandenen noch in einer ideal
gedachten, fondern in dem Individuum. Sie geht in erſter Linie auf Nietzſche zurüd und be-
rührt ſich mit ihm in der Verwerfung aller ſozialiſtiſchen Gleichmacherei, durch die ihrer Meinung
nach die individuelle Eigenart des Menſchen, die an ihm gerade das Wertvollſte iſt, vernichtet
wird. Die Sozialkultur will die Geſellſchaft zum Träger und Maßſtab des Lebens machen; ſie
will das Individuum, um mit Nietzſche zu reden, der „Herde“ opfern. Doch „die Herde,“ heißt
es bei Nietzſche, „iſt Mittel, nicht mehr. Aber jetzt verſucht man, die Herde als Individuum zu
verſtehen und ihr einen höheren Rang als dem einzelnen zuzuſchreiben.“. „Das Individuum iſt
etwas ganz Neues und Neuſchaffendes, etwas Abſolutes, alle Handlungen ganz ſein Eigen. Die
Werte für feine Handlungen entnimmt der einzelne zuletzt doch ſich ſelber, weil er auch die über-
lieferten Werte ſich ganz individuell deuten muß.“ Und dieſes ſo wertvolle Individuum will der
Sozialismus beſeitigen, um die Maſſe zur Herrſchaft zu bringen. „Oer Sozialismus,“ bemerkt
Nietzſche an einer anderen Stelle, „iſt der phantaſtiſche jüngere Bruder des faſt abgelebten De-
ſpotismus, den er beerben will; ſeine Beſtrebungen ſind alſo im tiefſten Verſtande reaktionär.
Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie fie nur je der Deſpotismus gehabt hat; ja
er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums an-
Oie neuide oliſtiſche Pãd ag oglk der Gegenwart 57
ſtrebt, welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweck
mäßiges Organ des Gemeinweſens umgebeſſert werden foll.“ Wenn man das Entſtehen großer
und feltener Männer von der Zuſtimmung der Maſſe abhängig gemacht hätte, würde es niemals
einen bedeutenden Menſchen gegeben haben. Der große Menſch kann ſich nur entwickeln, wenn
er ſich von aller Bindung an die Geſellſchaft frei macht.
Das hat auch die Erziehung zu beachten. Sie darf in ihren Maßnahmen nicht von der Gefell-
ſchaft, ſondern ſie muß vom Individuum ausgehen. Nicht die Tauglichkeit für die Zwecke der
Geſellſchaft ſoll deshalb nach Nietzſche das Ziel der Erziehung fein, ſondern die höchſtmöͤgliche
Ausbildung des einzelnen Individuums oder vielmehr eigentlich die Züchtung des
Genies. Nun kann man aber innerhalb der heranwachſenden Jugend das Genie nicht von vorn-
herein erkennen; deshalb muß eine große Menge von Menſchen herangebildet werden, allerdings
nicht um ihrer felbft, ſondern um des Genies willen, das unter ihnen aufwächſt. Dieſe Maſſe von
Aus erleſenen, unter denen das Genie lebt und die ſelbſt ihm näher oder entfernter verwandt find,
nennt Nietzſche die Jugend der „erſten Generation“, Sie ſtellen die Starken, die Kommenden,
die Vernichter dar, die berufen find, die ganze Afterbildung der Gegenwart zu ſtürzen. Dieſe
petite Generation“ muß ganz ſelbſtändig und frei von allen Einflüffen der Kultur und der Ge-
ſellſchaft erzogen werden. Auch dürfen ihr keine religidfen Bindungen auferlegt werden. Der
Religionsunterricht ijt aus der Jugendbildung zu entfernen. Dagegen muß in ihr die Kunſt eine
hervorragende Rolle ſpielen, denn ſie iſt beſonders geeignet, die heranwachſende Jugend auf ſich
ſelbſt zu ſtellen und ſo wahrhaft frei zu machen, ſo daß ſie ſelbſt die Geſtalter ihres Lebens und
Menſchen werden können, die von allen äußeren und inneren Bindungen losgelöſte, nur in ſich
felbft das Gefek ihres Handelns ſuchende und findende ſelbſtherrliche Perſönlichkeiten find. Eine
ſolche Erziehung ſetzt aber Lehrer voraus, die ſelbſt ausgeprägte Individualitäten und Kuͤnſtler⸗
naturen find. Der Lehrer muß nicht in erſter Linie ein Ubermittler der Tradition, ſondern viel-
mehr eine aus dem eigenen Innern ſchöͤpferiſch geſtaltende Perſönlichkeit, er muß nicht ſowohl
Selehrter als Kuͤnſtler fein.
So ſtehen ſich in der Sozialpädagogik und in der Individualpädagogik zwei entgegengeſetzte
Anſchauungen gegenüber, zwiſchen denen es keine Vermittelung zu geben ſcheint. Die eine will
alle Aufgaben und Maßnahmen der Erziehung allein von der Geſellſchaft, die andere allein von
dem ſelbſtherrlichen Individuum aus beſtimmen. Damit verfallen beide in eine Einſeitigkeit,
die einer wahrhaften Menſchenbildung hinderlich wird. Es fehlt bei beiden Richtungen
der erforderliche Ausgleich zwiſchen den ſozialen und den individuellen Be—
langen. Oazu kommt, daß beide das Erziehungsziel aus dem bloß menſchlichen Kreiſe ent-
nehmen, der keine abſolutwertigen Normen zu bieten vermag, weil alles bloß Menſchliche immer
noch in der Entwickelung begriffen und deshalb unvollkommen iſt, demnach auch immer nur
relative, und keine abſoluten Werte zu geben vermag. Das gilt vor allem von der poſitiviſtiſchen
Sozialpͤdagogik, die das Erziehungsziel von der empiriſch vorhandenen Geſellſchaft aus be-
ſtimmt. Oieſe Geſellſchaft kann aber für die Erziehung keine feſten Normen abgeben, weil ſie
ſelbſt ſolche nicht beſitzt.
Den dadurch bedingten Relativismus überwindet aber auch die idealiſtiſche Sozialpädagogik
Natorps nicht, obgleich ſie nicht auf der Erfahrung, ſondern auf einer Idee fußt. Das kommt
daher, daß Natorp den Urſprung diefer Idee in das menſchliche Selbſtbewußtſein verlegt, das
er wiederum aus der Gemeinſchaft hervorgehen läßt, daß er alſo damit auch innerhalb des
men chlichen Kreiſes bleibt, aus dem nun einmal keine abſoluten Werte zu gewinnen ſind. Alles,
was jenem Kreiſe entſtammt, bleibt unvollkommen. Mithin kann die Idee des Guten oder des
Vollkommenen nicht in dieſem Kreiſe ihren Urfprung haben, fie kann vielmehr nur einer dieſem
Kreiſe überlegenen Inſtanz angehören. Wird dieſer Urſprung beſtritten, dann hörte jene Idee
auf, die Idee des Vollkommenen zu fein und verliert ihren abſoluten normgebenden Wert. Das
trifft auch auf die Idee zu, die Natorp ſeiner Sozialpädagogik zugrundelegt und zu der er
38 Die neulide aliſtiſche Pädagogik der Gegenwart
auf dem Wege einer bloß logiſchen Erkenntnis, durch Analyſe des Bewußtſeins gelangen zu
können glaubt. Noch viel weniger wird der Relativismus aber überwunden von der auf Nietzſche
fußenden Individualpädagogik, die vom Individuum aus das Erziehungsziel beſtimmt und alle
Metaphyſik nicht minder ſchroff verwirft wie die poſitiviſtiſche Sozialpädagogik.
Die Pädagogik bedarf abſoluter Werte. Woher kann ſie dieſe nehmen? Oarauf gibt die
Philoſophie Euckens die Antwort, und deshalb iſt gerade ſie ſo geeignet, die Grundlage für eine
Pädagogik der Gegenwart zu liefern. Sie bietet uns in dem Geiſtes leben, das in ihrem Mittel-
punkt ſteht, die Inſtanz, aus der wir ein von allem Wandel menſchlicher Verhältniſſe und Mei-
nungen unabhängiges abſolutwertiges oberſtes Erziehungsziel gewinnen können.
Dieſes Geiſtesleben iſt der Natur und dem menſchlichen Kreiſe überlegen; mit ſeiner Hilfe
können deshalb die Einſeitigkeiten überwunden werden, die den bloß aus der Natur und dem
menſchlichen Kreiſe geſchöpften Weltanſchauungen anhaften, wie ſie uns in dem Poſitivismus,
dem Natorpſchen Logizismus, dem Sozialismus und dem Individualismus entgegentreten. Mit
ſeiner Hilfe können wir auch von einem höheren Standort aus den Gegenſatz zwiſchen einer
Sozialpädagogik und einer Individualpädagogik überbrücken. Denn nun handelt es ſich nicht
mehr um die Frage, ob die Aufgaben und Ziele von der Geſellſchaft oder vom Individuum aus
beſtimmt werden ſollen, ſondern jetzt wird vielmehr die Forderung aufgeſtellt, daß
ſich beide, Geſellſchaft und Individuum, den unwandelbaren und ewigen Normen
des Geiſteslebens unterordnen und nach ihnen das Leben zu geftalten ſich be
mühen. Damit wird der Gegenſatz zwiſchen Individuum und Geſellſchaft in einer höheren Ein-
heit aufgehoben und zugleich der Relativismus aller aus dem bloßen menſchlichen Kreiſe ftam-
menden Werte durch Setzung abſoluter Werte überwunden. Ohne ein ſolches Geiftesleben iſt
auch nicht zu einer wahren und echten Ethik zu gelangen, aus der allein das Perſönlichkeits-
ideal zu gewinnen iſt, das aller Erziehung vorſchweben muß. Indem das Geiſtesleben, das an
ſich einer höheren Ordnung der Dinge angehört, in den menſchlichen Kreis hinabſteigt, gerät es
in Kampf mit dem Bloßmenſchlichen und muß ihm gegenüber ſeine Selbſtändigkeit behaupten.
In dieſem Kampf des Geiſteslebens gegen das Bloßmenſchliche hat jeder einzelne Menſch als
Teilhaber am Geiſtesleben mitzuwirken. Das verſetzt fein Leben in eine gewaltige innere Be-
wegung, die zu einer aktiviſtiſchen Ethik führt.
Man redet heute viel von Perſönlichkeitsbildung, faßt dabei aber meiſtens den Begriff der
Perſönlichkeit einſeitig oder direkt falſch. Sehr oft wird dieſer Begriff mit dem der ſinnlich felb-
ſtiſchen Individualexiſtenz des Menſchen verwechſelt. In Wahrheit führt aber das Problem der
Perſönlichkeit gerade über dieſe Individualexiſtenz hinweg, und es wurde, wo eine Welt des
Perſönlichſeins zu kräftiger Entfaltung gelangte und die Menſchheit über die bloße Natur wefent-
lich hinauszuheben ſuchte, jene Exiſtenz überſchritten, ja ein Kampf gegen ſie aufgenommen.
Wenn Perſönlichkeit nichts anderes bedeutet als ein von den Zuſammenhängen der Wirklichkeit
möglichſt abgelöſtes Fürſichſein, dann kann ſie kein lebengeſtaltender Faktor ſein. Der Begriff
der Perſönlichkeit verdient nur dann die hohe Schätzung, die ihm hervorragende Denker bis zur
Gegenwart haben zuteil werden laſſen, wenn er den Träger eines neuen Lebens gegen-
über der bloßen Natur bedeutet. „Wer im Zuſammenhang einer Weltanſchauung für Per-
ſönlichkeit eintritt,“ bemerkt Eucken, „behauptet damit, daß das Geiftesleben keinen bloßen An-
hang der Natur, ſondern eine eigentümliche Art des Seins beſagt; er behauptet, daß es nicht in
einzelne Betätigungen und Vermögen aufgeht, ſondern eine ihnen überlegene und fie um-
faffende Einheit enthält und damit zu einem Beiſichſelbſtſein, einem Selbſtleben wird; er be-
hauptet endlich, daß dies Selbſtleben kein bloßer Sammelpunkt ihm zugeführter Elemente,
ſondern aktiver Art iſt, eine umwandelnde Kraft an allem Empfangenen übt und das ganze Da-
fein auf eine höhere Stufe hebt. Nur wenn dies alles zutrifft, bringt Perſönlichkeit etwas wefent-
lich Neues in unſer Daſein und rechtfertigt damit den Affekt, mit dem ſie von vielen ergriffen
wird.“
die neulde allſtiſche Pädagogik der Gegenwart 39
zn dem Sinne des Euckenſchen Perſonalismus, der oben kurz gekennzeichnet iſt, eine Perfön-
lichkeit zu werden, iſt die Beſtimmung des Menſchen. Weil nun die Erziehung den heranwadfen-
den Menſchen vor allem auf ſeine eigentlich menſchliche Beſtimmung vorbereiten und ihn ihr
zuführen foll, fo muß es das erſte und oberſte Ziel aller Erziehung fein, in den jungen Menſchen
die Perſönlichkeit wachzurufen und zu pflegen. Wir erkannten nun, daß wahre Perſönlichkeit
nur aus dem Geiſtesleben erwachſen kann. Des halb muß dieſes der Standort werden,
von dem aus die Pädagogik ihre Ziele und Aufgaben zu beftimmen hat; feinen
Forderungen haben ſich Geſellſchaft und Individuum gleichmäßig zu unterwerfen. Damit wird
die Pädagogik über Sozialpädagogik und Individualpädagogik mit aus dem
bloßen menſchlichen Kreis geſchöpften relativen Werten hinausgehoben zu einer
auf noologiſcher Grundlage ruhenden, d. h. im Geiftesleben wurzelnden Perfön-
lichkeits pädagogik mit aus dieſem Geiſtesleben geſchöpften abſoluten Werten.
Im Hinblick auf die Möglichkeit der Erziehung und ihre verſchiedenen Ziele ergibt ſich
für eine ſolche noologiſche Pädagogik Folgendes: der Menſch iſt ein Naturweſen und ein Geiftes-
weſen. Als Naturweſen gehört er der Welt der Erfahrung an und unterſteht als ſolcher dem die
ganze Natur beherrſchenden Kauſalitätsgeſetz, als Geifteswefen gehört er dem Geiftesleben an,
das eine ihm überlegene Welt darſtellt, die aber doch auch in ihn hineinreicht und von ihm ange-
eignet werden kann. Als ein ſolches Geiſtesweſen beſitzt er eine Freiheit des Willens, ſo daß
et zwiſchen gut und böfe wählen und angeleitet werden kann, fic für das Gute zu entſcheiden.
Ohne eine ſolche Willensfreiheit wäre jede Erziehung illuſoriſch; fie erſt gewährleiftet die Mög-
lichkeit der Erziehung. Welche Ziele muß ſich nun eine das Geiſtesleben als oberſte Inſtanz
anertennennde Pädagogik ſetzen? Eben weil für fie dieſes Geiſtesleben die höchſte Inſtanz iſt,
muß ihr erſtes Anliegen fein, die Jugend fo zu erziehen, daß fie die Forderungen des Geiftes-
lebens als unbedingt bindende Normen anerkennt und zur Erfüllung dieſer Forderungen fähig
wird. Damit legt ſie die Grundlage zu einer wahren Perſönlichkeitsbildung, die, wie wir ſahen,
allein auf dem Boden des Geifteslebens erwachſen kann. Und weil fie dadurch den Menſchen zu
ſeiner eigentlichen Beſtimmung als Menſch führen ſoll, nennen wir dieſes oberſtes Erziehungsziel
das humaniſtiſche. Man könnte es auch das religiös ethiſche nennen. Dieſem oberſten Er-
diehungs ziel haben fic die anderen Ziele unbedingt unterzuordnen. Vor allem gilt dies von dem
ſozialen Erziehungsziel, das die Sozialpädagogik an ſeine Stelle ſetzen möchte. Ein ſoziales
Erziehungsziel iſt an ſich durchaus anzuerkennen, denn der Menſch gehört nicht bloß dem Geiftes-
leben, ſondern auch der Welt der Erfahrung an, in der er innerhalb einer Gemeinſchaft zu leben
und zu wirken berufen iſt. Da nun jede Gemeinſchaft beſtimmten Exiſtenzbedingungen unterſteht,
die von dem einzelnen Menſchen, der ihr angehört, anerkannt und beachtet werden müſſen, fo
muß der Menſch auch fo erzogen werden, daß er die Bedingungen und Forderungen eines fo-
zialen Zuſammenlebens kennenlernt und gewillt wird, ſich ihnen zu fügen. Aber dabei darf die
Erziehung nie aus den Augen verlieren, daß die ſozialen Forderungen, zu denen wir in dieſem
Zuſammenhang auch die ſtaatlichen rechnen, in keiner Weiſe den Forderungen des huma-
niftiichen Bildungszieles, deſſen Primat unantaſtbar ift, widerſprechen dürfen, ſondern ſich dieſen
unbedingt unterordnen müffen, daß, mit anderen Worten, auch die ſoziale Erziehung ihre Richt-
linien von einer im Geiſtesleben wurzelnden Ethik erhalten muß und die humaniſtiſche Per-
ſönlichkeits erziehung nicht beeinträchtigen darf, wie dies z. B. unter dem Einfluß eines
auf Hegels Überfpannung der Staatsidee zurüdzuführenden Politismus (der Ausdruck ſtammt
von Eucken) im vorigen Jahrhundert vielfach geſchehen iſt. Zu dem humaniſtiſchen und dem
ſozialen Erziehungsziel kommt dann noch ein drittes hinzu, das ich das naturhafte genannt
habe, und das ſich aus dem Umſtande ergibt, daß der Menſch auch ein Naturweſen und als ſolches
an die Geſetze gebunden iſt, die die Natur beherrſchen.
So prävaliert in dieſer Zielſetzung das humaniſtiſche Erziehungsziel, das die
Bildung zu wahrem Menſch ent um erſtrebt, und damit greift die neuidealiſtiſche Padagogit
40 Die neulbealiftiihe Päbagogit ber Gegenwart
der Gegenwart auf den Standpunkt der Führer der deutſchen Erziehung zurück, die bei aller
Verſchiedenheit darin einig waren, „daß der Menſch an erſter Stelle nicht für draußen befindliche
Ziele, auch nicht für die menſchliche Geſellſchaft, ſondern für ſich ſelbſt zu bilden fei, indem er zu
einer ſelbſtändigen Perſönlichkeit und zu einer geiſtigen Individualität erhoben werde“, und
„daß der Menſch eben dann, wenn er nicht den äußeren Nutzen zum Hauptziele macht, ſondern
vor allem feine Seele vertieft und kräftigt, auch in der ſichtbaren Welt am meiſten wirken und er-
reichen wird“,
In den Dienſt jener Zielſetzung hat ſich auch der Unterricht zu ſtellen, der niemals Selbſt⸗
zweck werden darf, ſondern in erſter Linie als ein Mittel zur humaniſtiſchen Perfönlichkeits-
bildung angeſehen und geſtaltet werden muß. Deshalb müſſen auch die Ziele des Unterrichts
den Erziehungszielen entſprechen. Demnach muß der Unterricht in erſter Linie eine huma⸗
niſtiſche Bildung erftreben, d. h. nach unſerer Faſſung eine Bildung, die in dem Zögling
die Quellen des Geiſteslebens zum Fließen bringt, die ihn mit den Forderungen dieſes Geiftes-
lebens bekannt macht und in ihm die Luſt und den Willen weckt, ſich ihnen zu unterwerfen. Die
Quellen des Geifteslebens find im Menſchen Gemüt, Wille, Intellekt und Phantaſie. An fie alle
muß der Unterricht ſich wenden; er darf nicht die eine Kraft auf Koſten der anderen pflegen.
Damit iſt dem einſeitigen pädagogiſchen Intellektualismus, der nur auf Derftandes-
und Gedächtnisbildung abzielt und der ſeit Hegels Zeit in verhängnisvoller Weiſe in der deut-
ſchen Schule vorgeherrſcht hat, das Urteil geſprochen. Er unterbindet die wahre Perſönlichkeits⸗
bildung. Neben das humaniſtiſche Unterridtsgiel muß dann, dem fozialen Erziehungsziel ent-
ſprechend, auch ein ſoziales Unterrichtsziel treten. Dieſes verlangt, daß die Schüler im
Unterricht einmal darüber belehrt werden, wie überhaupt menſchliche Semeinſchaften wie Volk,
Staat uſw. entſtehen und ſich entwickeln, und beſonders wie ſich die engere Gemeinſchaft, der
fie angehören, alſo das eigene Volk und der eigene Staat, gebildet hat, und daß fie andrerſeits
erfahren, welches die Grundlagen der Organifation dieſer Gemeinſchaft find, und auf welchem
Übereinkommen, welchen Geſetzen und Verordnungen fie beruht. Es bedarf alſo mit anderen
Worten einer geſchichtlichen und einer ftaatsbürgerlihen Unterweiſung. Endlich muß, dem
naturhaften Erziehungsziel entſprechend, auch ein naturhaftes Unterrichtsziel gefordert
werden. Dieſes beſagt, daß die Schüler die Geſetze kennen lernen müffen, die in der Natur herr
ſchen und durch deren Kenntnis ſie ſich die Natur dienſtbar machen können, und daß ſie ferner
auch mit den Bedingungen bekannt gemacht werden miffen, an die alles organiſche Leben ge-
tniipft iſt und die fie deshalb auch bei der eigenen Körperpflege zu beachten haben. Daraus ergibt
ſich die Forderung eines naturwiſſenſchaftlichen Unterrichts, der eine Unterweiſung in der Bio-
logie in ſich einſchließen muß.
Im Hinblick auf diefe drei genannten Unterrichtsziele werden auch die Unterrichtsgeg en-
ſtände oder die Lehrfächer ausgewählt und bewertet werden müſſen. Entſprechend der Vor-
rangſtellung des humaniſtiſchen Erziehungs- und Unterrichtszieles werden im Mittelpunkt des
Lehrplans diejenigen Fächer ſtehen müſſen, die für die humaniſtiſche Bildung am meiften zu
leiſten vermögen. Das ſind aber die ſogenannten ethiſchen Fächer, alſo Religion, Deutſch und
Geſchichte. Es kann deshalb vom Standpunkt der neuidealiſtiſchen Pädagogik aus nicht gebilligt
werden, daß bislang in den höheren Schulen die fremden Sprachen und die Mathematik die
Zentralſtellung innehaben, die den ethiſchen Fächern zukommt. Dieſer Lehrplangeſtaltung iſt es
zuzuſchreiben, daß die höheren Schulen bisher zu ſehr bloße Gelehrtenſchulen geweſen ſind, die
vorwiegend im Oienſt einer bloß intellektuellen Kultur ſtehen, während fie Menfchenbildungs-
anſtalten ſein ſollten, deren Hauptziel eine ethiſche Kultur iſt. Auf dieſe Einſeitigkeit des höheren
Schulweſens hat ſeinerzeit ſchon Nietzſche in ſeinen Baſeler Vorträgen über die Zukunft unſerer
Bildungsanſtalten überzeugend hingewieſen. Sie wird beſonders bedenklich gerade in unſerer
gegenwärtigen Zeit, die leider ein ſittlicher Tiefſtand kennzeichnet, trotzdem fie große intellektuelle
Leiſtungen aufweiſen kann, und für die deshalb in beſonderem Maße die folgenden Worte
Sas Haus der Brentano zu Winkel im Nhelngau 41
Schillers in ſeinen Briefen über äſthetiſche Erziehung gelten: „Das dringendere Bedürfnis
unſeres Zeitalters ſcheint mir die Veredelung der Gefühle und die ſittliche Reinigung des Willens
zu fein, denn für die Aufklärung des Verſtandes ijt ſchon ſehr viel getan worden.“ Aus dieſem
Grunde lautet auch die erſte der Forderungen, die ich in dem jetzt als Brofhüre (Verlag Beyer
& Söhne in Langenſalza) vorliegenden Vortrag über das Thema „Was fordern wir für die Neu-
bildung der höheren Schulen?“ (1924 im Auftrage des Euckenbundes in Jena gehalten), auf-
geſtellt habe: Wir fordern im Intereſſe einer ethiſchen Kultur als pädagogiſches Leit-
motiv für die höheren Schulen ſtatt des ſeit Hegels Zeit in ihnen vorherrſchenden
zntellektualis mus einen religiös ſittlichen Voluntarismus oder, um mit Eucken
zu reden, einen ethiſchen Aktivismus und eine dieſer Forderung entſprechende
Seſtaltung des Lehrplans und der Methodik der ethiſchen und fremdſprachlichen
Lehrfäch er.
Ran ſieht hieraus auch, daß es ſich bei der neuidealiſtiſchen Pädagogik der Gegenwart nicht
etwa um eine für die Praxis der Jugendbildung belangloſe bloße pädagogiſche Theorie handelt,
ſondern daß ſie gerade für dieſe Praxis durchgreifende und für die innere Erneuerung unfres
volles äußerft wichtige Folgerungen ergibt. Prof. Dr. Gerhard Budde
Das Haus der Brentano zu Winkel
im Rheingau
enn mit der Wende des 18. Jahrhunderts die Geſchichte der nationalen Erneuerung ein-
ſetzt, fo hat die Romantik daran weſentlichen Anteil. Sie war der Sehnſucht eines Ge-
ſchlechtes entſprungen, das unter der Troſtloſigkeit der politiſchen Verhältniſſe, unter der Obn-
macht, Armut, Enge und Nüchternheit eines durch Fremdherrſchaft ausgebluteten und gefeſſelten
Volkes litt und der die Welt entgdtternden Aufklärung oder dem Klaſſizismus, der mit Winkel-
mann das abſolute Ideal von Kunſt und Leben in der Antike ſah, daher kein gläubiges Ohr
mehr lieh. Obwohl fie ſcheinbar ein äſthetiſches Lebensideal an Stelle des ſittlichen der Klaſſiker
kette, handelt es ſich doch nicht um eine Runftbewegung, ſondern um eine neue Weltanſchauung,
die auf einer myſtiſchen Empfindung beruht. Denn unter der Urpoeſie, die darnach alles durch-
dringen ſollte, verſtand man nichts anderes als die Zmmanenz des Göttlichen, in deſſen zentraler
Harmonie und magiſchem Univerfalismus die Gegenſätze zwiſchen Glauben und Wiſſen, Bhan-
taſie und Wirklichkeit, Kopf und Herz verſöhnt waren. Wiſſenſchaft, Naturſinn, Vaterlandsliebe
erfuhren in einem fo verinnerlichten, überſinnlichen, aus einem religiöfen Zentrum gefpeiften
Veltgefühl höchſte Belebung. So wurde auch die deutſche Dichtung von ihr auf heimatlichen
Boden zurückgeführt. Doch wenn Friedrich Schlegel auch derjenige fein mag, der fie zuerſt auf
len Rhein als das treue Bild unſeres Vaterlandes, unſerer Geſchichte und unſeres Charakters
xtwies, fo hat die ſpezifiſche Rheinromantik doch im Rheingau ihren Ausgangs- und Mittel-
punkt, und das Haus Brentano in Winkel iſt ihr Stammſitz.
Vohl haben Klopſtock, Claudius, Hölty und Hölderlin ihre Rheinlieder gedichtet, aber der
temantiſche Klang fehlt ihrer Harfe vollkommen. Anders verhält es ſich mit Goethe. Wenn feine
Rheingauerinnerungen in „Dichtung und Wahrheit“ oder die Aufſätze von feinen Rheingau-
teiſen in den Jahren 1814 und 1815 in ihrer wiſſenſchaftlichen Sachlichkeit das Gefühls- und
Stimmungsmäßige auch vermiffen laſſen, fo bedeuten fie trotzdem einen Sieg der Rhein-
tomantik. Denn fie bezeugen das unter ihrem Einfluß wiedererwachte Heimatgefühl des großen
Kosmopoliten, das ihn auch zum deutſchen Mittelalter bekehrte. Sicherlich hatten ihn die
Khwärmerifchen Naturſchilderungen Bettinas aus Winkel in das Brentanoſche Landhaus dort
42 Das Haus der Brentano zu Winkel im Nheingau
gezogen, von wo er den Niederwald, Rüdesheim, Cibingen, Notgottes, Schloß Vollrads, Yngel-
heim und zum zweitenmal den Rodusberg beſuchte, Wanderfahrten, die ihm das „St. Rochus-
feſt zu Bingen“, „Im Rheingau Herbſttage“ ſowie die „Kunſtſchätze am Rhein, Main und Neckar“
eintrugen. Die Fülle der geologiſchen, hiſtoriſchen, ſozialen, volkswirtſchaftlichen, landſchaftlichen,
kunſt- und naturwiſſenſchaftlichen Beziehungen, mit denen er darin den Rheingau umfpannt,
und die Tatſache, daß er als Fortſetzung der Aufſätze die Zeitſchrift „Aber Kunſt und Altertum“
begründete und bis zu feinem Tode redigierte, verraten deutlich, daß der Rheingau auch ihn in
ſeinen Zauberkreis gezogen hatte.
Wenn im Lande ſelbſt Pater Bär aus Kloſter Eberbach die Kultur des Rheingaus erforſchte,
in der Gerichtsrepoſitur zu Eltville eine Handſchrift des Schwabenſpiegels ausgegraben wurde,
der ehemalige Franziskaner Kin dlinger aus Neudorf und Bodmann die rheingauifche Altertums
kunde förderten, die Familie von Oſtein das Jagdſchloß auf dem Niederwald mit phantaſtiſchen
Zauberhöhlen und Ausſichtstempeln in hoch überm Rhein hängendem Parke ſchuf, ſo mp aud
darin Auswirkungen der neuen Lebensridtung zu erkennen.
Alle einheimiſchen Einzelleiſtungen treten jedoch zurück vor der ſeltſamen Erſcheinung, der
ſchon Bodmer Ausdruck verliehen:
Hier iſt poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel empfangen,
Dichter in ſeinem Schoß zu erziehn.
Denn tatſächlich wurde jetzt eine Landſchaft zur ſchöpferiſchen geiſtigen Macht und formte ſich
eine Didtergeneration, in der fie ſich vermenſchlichte. Es iſt die balladeske Stromſtrecke, die
die Schiffer das Gebirg nennen, im Gegenſatz zu den epiſch ſich ausbreitenden Ufern oberhalb
der Binger Lochbänke. Hier fand Brentano das Element, in dem er nach dem Ideal der Ro-
mantik Zauberer und Verzauberter zugleich fein konnte. Auf zwei Reifen, einer mit Arnim und
einer mit Savigny, ſog er die belebende Atmofpäre ein:
O, willkomm! willkomm! willkommen!
Wer einmal in dir geſchwommen,
Wer einmal aus dir getrunken,
Der iſt Vaterlandes trunken.
Mit blauer Halsbinde, roter Freiheitsmütze auf den ſchwarzen Locken und dünnem Rohrſtöckchen,
zu Fuß und zu Schiff ging es ſtromabwärts mit dem Vertrauten —
der Braune trug die Laute,
das Lied der Blonde gab —
und faft jede Ortlichkeit zwiſchen Winkel und Bacharach lieh feiner Dichtung Farben. Seine
durch Rüdesheimer Schauplätze inſpirierten Rheinmärchen, entzückende Gebilde volksmäßiger,
mit alten Sagenzügen frei ſchaltender Phantaſie, find ebenſo wie fein Roman „Godwi“ von
ſolchen Romanzen durchrankt, und manches, was er hier aus dem Munde des Volkes erlauſcht,
wurde bei der Überarbeitung des mit Arnim herausgegebenen „Des Knaben Wunderhorn“ in
dieſe erfriſchende Volksliederſammlung eingeſchmolzen, die durch ihre überraſchende Urwüchfig-
keit Epoche machte. Denn man fühlte darin den geborenen Schatzgräber der deutſchen Seele
an der Arbeit, dem ſein Hang, ſich das Leben zur Poeſie zu machen, dabei trefflich zuſtatten
kam. Wie er, auf der Rheinfahrt zufällig mit einem Theaterdirektor bekannt geworden, der ein
neues Stück ſucht, das Notizbuch zieht und das Singſpiel „Die luſtigen Muſikanten“ für ihn ent-
wirft, ſo fand er in jedem, der ſeinen Weg kreuzte, in Bürger und Bauer, Mann und Weib,
Wandergefährten, griff zur Gitarre und lockte alte Mären und Weiſen, an denen der Mittel-
rhein ſo ergiebig iſt, als reiſender Spielmann aus ihrer Verſchollenheit.
Dos Haus ber Brentano zu Winkel im Rheingau 43
Wie Brentano, fo durfte auch feine Schweſter Bettina vom Rheingau fagen:
Wie Reben ſich ranken
mit innigem Trieb,
ſo, meine Gedanken,
habt hier alles lieb.
Sich weſensgleich, wie Zwillingsgeiſter, entdeckte Bettina den Rheingau epiſch, wie ihr Bruder
ihn lyriſch entdeckt hatte. Freilich iſt ihre Proſa vollkommen in Lyrik aufgelöſt, wie es nicht
anders fein kann bei einer Ddmonifden Elementarkraft, die ſelbſt bekennt: „Ich bin elektriſcher
Natur; alles Elektriſche regt den Geiſt zu muſikaliſcher, fließender, ausſtrömender Erzeugung.“
Niemals hat eine Oichterſeele ſolche Zwieſprache mit einer Landſchaft gehalten, wie fie mit den
theingauiſchen Nächten, wo fie allein durch die langen, bis zum Rhein führenden Traubengänge
ihres Win keler Gartens geht, ſich über die Mauer lehnt, ins Geplätſcher der Wellen; ringsum
„gtanzverhüllt liegen die Berge da mit ihren Rebſtöcken und ſaugen ſchlaftrunken das nahrhafte
Mondlicht. Soll vielleicht der Menſch die Natur erlöſen?“ Sie fährt in laubbekränztem Nachen
den Rhein hinab, um die hundertfältige Feier des Weinfeſtes an beiden Bergesufern mitanzu-
ſehen, während auf allen Ruinen große Tannen aufge pflanzt find, um bei anbrechender Bůmme
rung entzündet zu werden; fie folgt den Prozeſſionen, die den ſteilen Rüden des Johannis-
berges hinauftlettern, um den Weinbergen Segen zu erflehen; ſie durchſtreift den nächtigen
Bergwald mit dem Felſenneſt, das über dem ſchäumenden Bingerloch hinabſieht, wo die
ſchlanken Dreiborde wie Eidechſen durch die reißende Flut am Mäuſeturm vorbeiſchießen;
morgens, abends, in Nebel, Regen und Sonnenſchein erſteigt ſie den Rochusberg, der von der
Ferne lockt, fo glatt und ſammetartig, daß man ihn gerne befühlen, ſtreicheln möchte; fie legt
ſich auf eine der Felſen platten, die wie harte, kalte, heilige Betten aus der Wiſper ragen, und
läßt ſich beregnen von den ſtürzenden Waſſern; fie begleitet den Leinpfad entlang das fackeln;
tragende Nachtſchiff, deſſen Schatten in dem erleuchteten Rhein wie ein Ungeheuer mitſegelt
und mit grellem Feuer über die Auen flammt; lieft, von der zuhörenden Bauernſchaft um-
lagert, auf mondweißen Uferwieſen die Homeriſchen Geſänge — und verwebt dies alles in
kriſtallenen Mitternddten zu jenen einzigen Nature vangelien, die voll find von der Muſik des
Stroms und die Seele der Landſchaft atmen, als fühle die Natur ſich hier ſelig im Geiſte des
Wenſchen. ö
Sie richtete dieſe berauſchendſten Stimmungsbilder in deutſcher Sprache ſeit „Werther“, die
fpäter in ihrem Buche „Goethes Briefwechſel mit einem Rinde“ erſchienen, nach Weimar. Denn
ihre Liebe zu dem Goetheſchen Genie wie zu den Mächten dieſer Natur floſſen aus derſelben
Quelle, und ihr Verkehr mit beiden bewegte ſich daher auf der „Geifterbafis des Abermenſch⸗
lichen“, die ſie in ihnen fand: „Als ich von meinem Bett aufſtand in die kühle Nachtluft am
Fenfter, da war der Mond ſchon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte die Welten unter
ſich getrieben .. Ich nahm das volle Laub des Weinſtocks, der an meinem Fenſter hinaufwächſt,
in den Arm . .. Keinem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieſer Liebe gegönnt.“
So hat fie das Winkeler Landhaus, wo ihr „die Allmacht Gottes zu jedem Fenſter herein;
ſchaute“, zur Hochburg der Romantik erhoben und mit der überſtrömenden Zärtlichkeit ihrer
franziskaniſchen Naturbefreundung der Landſchaft des Rheingaus die gültige romantiſche Geſtalt
gegeben, wie nur ein ſympathetiſcher Geiſt fie bleibend unſerer Vorſtellungswelt ein verleiben
konnte.
Blut von ihrem Blut pulſt in ihrer Freundin Karoline von Günderode, die ſich aus unglüd-
licher Liebe zu dem Geſchichtsprofeſſor Creuzer in den Uferweiden von Winkel den Dolch in
die Bruft ſtieß.
„Erde, du meine Mutter, du, mein Vater, der Lufthauch,
und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, o Strom“
44 Urwelt, Sage und Menſchheit
beginnt die Grabſchrift, die ſie ſich ſelber wählte, und Novalisſche Vorſtellungen ſind es, denen
wir auch bei Bettina begegnen, wenn ſie in ihrem „Mohamed“ ſagt: „Die Seele des Menſchen
ſtirbt nicht mit dem Tode des Leibes; ſie ſteigt empor in den Raum der Geſtirne und bildet
fi einen Körper aus Luft, der alle Sinne hat wie der vorige, nur in einem höheren Grade.“
Aber während Bettinas Drang, ſich über das ganze Erdenleben hinauszuheben, immer von dem
Flügel fitliden Temperamentes und rheingauiſcher Fröhlichkeit getragen iſt, wendet ſich bei
Karoline von Günderode, auf deren Oichtung noch Oſſianiſche Sturmwolken niederhängen,
alles in Düfter und Schwermut, ein Gegenſatz, dem fie ſelbſt den ergreifenden Ausdruck ver-
m: Phönix der Lieblichkeit,
dich trägt dein Fittich weit
hin zu der Sonne Strahl —
Ach, was iſt dir zumal
mein einſam Leid!
Die Novelle „Melück Maria Blainville“, in der Arnim das Andenken ihres „muſenheiligen
Lebens“ ehrte, ſowie das aus Erinnerungen und phantaſtiſchen Ausſchmuͤckungen gemiſchte Buch
„Die Günderode“, in dem Bettina der Zugendfreundin das Denkmal ſetzte, haben dazu bei-
getragen, daß auch die unglückliche Sängerin, derer „leerer Nachen im nächtigen Rheine treibt,
zur Huldin jener Sagengaue“ geworden ift.
So wurde der Same der Romantik, der an dem Winkeler Stromufer aufgegangen war, von
dem Brentanoſchen Freundeskreiſe weiter ausgeſtreut, und bald hatten ſich um die von Arnim,
Brentano und Görres herausgegebene „Zeitung für Einſiedler“ alle aufbauende Kräfte der
zerrütteten Nation geſammelt: die Brüder Grimm, Creuzer, Eichendorff, Fouqué und Uhland.
Die Pflege des deutſchen Geiſteserbes vereinte ſie alle und bereitete damit nicht nur den Boden
für die vaterländiſche Bewegung vor, die der Druck des völkiſchen Schickſals allmählich unter
ihnen auslöſte, ſondern verklammerte zugleich Grenzland und Mutterland aufs innigſte, als die
Fremdherrſchaft ihren Zuſammenhang gefährdete. Mit Recht konnte daher der Freiherr vom
Stein ſagen, daß in dieſem Kreiſe ein guter Teil des Feuers ſich entzündet habe, das ſpäter die
Franzoſen verzehrte. Leo Sternberg
Urwelt, Sage und Menſchheit
as unter dieſem Titel bei R. Oldenbourg, München, erſchienene Werk Edgar Dacqués
trägt den bemerkenswerten Untertitel: „Eine naturhiſtoriſch-metaphyſiſche Studie“.
Ein ungewohnter Zuſammenklang zweier Begriffe, aus denen die Gegenwart in der Regel
nur eine ſcharfe Diſſonanz herauszuhören pflegt! Vor 120 Jahren wäre man über eine ſolche
Zuſammenſtellung weniger uͤberraſcht geweſen. Im Zeitalter der deutſchen Klaſſik und Roman-
tik hatte ſich das Bedürfnis nach lebendiger Geſamtanſchauung in Goethes Naturbetrachtung und
in der romantiſchen Naturphiloſophie ein Gegengewicht gegen die zerſtreuten Einzelreſultate
der exakten Wiſſenſchaft zu erzeugen gewußt. Freilich, die Wirkung dieſer Ideen hielt nicht lange
an. Das 19. Jahrhundert verwarf nicht nur Löſungen und Betrachtungsweiſen jener Denker
vollkommen, es arbeitete darüber hinaus nach Kräften daran, eine möglichſt tiefe Nluft zwiſchen
Philoſophie und Naturwiſſenſchaft aufzureißen.
Wir ſtehen heute nicht mehr auf dem gleichen Punkte. Das 20. Jahrhundert erkennt den
Sieg der mechaniſtiſchen Anſchauung mehr und mehr als Pyrrhusſieg, es hat den traurigen
Surrogatcharakter materialiſtiſcher „Naturphiloſophie“ längſt durchſchaut; ja, es hat wieder
Verſtändnis für Forſchungsziele ähnlich denen, wie ſie einſt Goethe, Schelling und Novalis
Urwelt, Sage und Menſchhe it 45
vorgeſchwebt hatten, d. h.: im Gegenſatz zu der einfeitigen Zurüdführung alles Qualitativen
auf Quantitatives die Idee einer Auffaſſung von Natur, die die innere Bedeutſamkeit ihrer
Erſcheinungen ergreift, die einen einheitlichen Sinn in der Mannigfaltigkeit des Naturge-
ſchehens aufſucht. Freilich: es beſteht ein Unterfchied zwiſchen dem „inneren Geiſt“ der Zeit
und ihrer ſichtbaren Außenform. In der Praxis des heutigen wiſſenſchaftlichen Lebens regiert
noch beinahe unbeſtritten der mechaniſtiſche Gedanke. Deshalb bedeutet eine Veröffentlichung
wie bie von Oacqué ein kühn entſchloſſenes Heraustreten aus der äußerlich feſtgefuͤgten natur-
wiſſenſchaftlichen Geſamttradition.
Man darf nicht überſehen, daß es, im Unterſchied zu ehedem, ein Naturforſcher iſt, der
den neuen Schritt wagt. Darin liegt ein Moment von mehr als nur hiſtoriſcher Bedeutung.
Sunddft erſcheinen die Vorbedingungen gerade für den Naturforſcher günſtiger zu fein: feine
Beſtrebungen werden wohl nie den feſten Untergrund des ſtrengen wiſſenſchaftlichen Methoden-
bewußtſeins, der kritiſch- nüchternen Tatſachenforſchung ganz verleugnen können. Gerade in
dieſer Richtung war ja von der romantiſchen Naturphiloſophie am meiſten gefehlt worden; ihre
Gegner hatten gegen dieſen Punkt ihre Angriffe konzentrieren können. Anderſeits: ſo, wie die
Dinge heute ſtehen, kann ein derartiger Verſuch den Charakter eines Übergriffes, einer Grenz-
überfchreitung, kaum vermeiden. Es iſt bei der materiellen Ausdehnung der heutigen Einzel-
wiſſenſchaften fo gut wie unmoglich, daß ſich mit der vollen Beherrſchung des Fachgebiets die
zu einem ſolchen Unternehmen geforderte philoſophiſche Schulung verbinden läßt. Und in der
Tat — um dies vorwegzunehmen — der philoſophiſche Leſer wird oft genug Anſtoß nehmen
können an dem Mangel einer ſoliden logiſch-erkenntnistheoretiſchen Fundamentierung, er wird
öfters zurüdichreden vor dem naiv-unbekümmerten Hantieren mit der philoſophiſchen Ter-
minologie. Es läßt ſich nicht leugnen, daß infolge dieſer Umftände Dacqués Werk gewiſſermaßen
zwiſchen zwei Stühle gerät: die Naturwiſſenſchaft wird ihm gram fein wegen der immer noch
serpönten philoſophiſchen Grundeinſtellung, der Philoſoph wird ſich an den unvermeidlichen
formalen Mängeln ftoßen. Jedoch: der Geiſt der Werkes iſt es, auf den alles ankommt. Fit
ber Geiſt zu bejahen, fo muß man auch einige Löcher im Kleid verzeihen können. Vielleicht ift
mehr Freude im Himmel über einen Naturforſcher, der — wenn auch mit nicht ganz adäquaten
Mitteln — eine Vereinigung mit übergreifender philoſophiſcher Geſamtanſchauung zu verwirt-
lichen ſtrebt, als über taufend gerechte Nur⸗Einzelwiſſenſchaftler. —
Das Hauptthema des Werks: die Ermittlung des erdgeſchichtlichen Alters des Menſchen,
die Einſicht in die älteſte Entwicklung und die früheſten Zuſtände des Menſchenſtamms, wird
von Dacqué weſentlich unter der Form eines hiſtoriſchen Problems erfaßt. Die Voraus-
ſetzung dafür iſt eine ungeheure Erweiterung des geſchichtlichen Sehens. Denn hier handelt
es ſich nicht darum, in Jahrhunderten oder in Jahrtauſenden zu denken, ſondern in beinahe
unfaßbar großen planetariſchen Zeiträumen. Da dieſe gewaltigen Perioden zunächſt nur durch
Naturbeftimmungen zu unterſcheiden find, entſteht aber von vorherein die Gefahr einer im
Prinzip naturaliſtiſchen Betrachtungsweiſe; das zeigt ſich vor allem in der Verwiſchung der
Scheidelinie, des „qualitativen Sprungs“, zwiſchen Prähiſtorie und hiſtoriſcher Kulturmenſchheit
6. . „So iſt es in der organiſchen Welt, und hierin iſt kein Unterfchied zwiſchen den Gattungen
der Lebeweſen und den Lebensbildungen der Rulturen“). Jedenfalls wird gerade durch Dacqués
Unterſuchungen die Bedeutung jenes Problems ins Licht gerückt, das gleichſam den Gelenk-
punkt zwiſchen Naturhiſtorie und Kulturhiſtorie darſtellt: die Frage nach dem „Anfang“ der
Seſchichte im engeren Sinn, die einſt von Hegel mit ſolchem Ernſt behandelt worden iſt.
Die materielle Hauptſchwierigkeit für die Durchführung liegt nun in dem Mangel an ge-
ſchichtlichen „Quellen“ im eigentlichen Sinn. Nur durch ſcharfſinnige methodiſche Divination
kann das Fehlende erſetzt werden, wenn nicht hemmungsloſer Hypotheſenbildung das Feld
überlaffen bleiben ſoll. Mehr noch: die beiten ſpezialwiſſenſchaftlichen Renniniffe allein können
nicht zum Ziele führen; die Art der Aufgabe erfordert es, „die äußere Empirik der Wiſſenſchaft
46 Urwelt, Gage und Menſchheit
mit der Innenſchau des Sehers zu vereinigen zu einem vertieften ſymboliſchen Weltbild“.
In welcher Weiſe dieſes Ziel zu erreichen fei, darüber ſpricht ſich Dacqus in dem einführenden
Kapitel „Theorie und Wiſſenſchaft“ aus. Der uralte Gegenſatz zwiſchen Denken und Schauen,
zwiſchen Wiſſen und Glauben, bildet das Grundmotiv dieſer Ausführungen, die als Stim-
mungsſymptom höchſt bemerkenswert find. Eine gewiſſe Hinneigung zur Begriffsfeindſchaft,
eine überbetonte Stellungnahme zugunſten der alogiſchen, nur gefühlsmäßigen Unmittel-
barkeit iſt nicht zu verkennen; die erkenntnistheoretiſche Sackgaſſe der „Lebensphiloſophie“
wird nicht ganz vermieden. Allein viel bedeutſamer im Vergleich dazu iſt die Tatſache, daß das
im Bereich der Naturwiſſenſchaft von heute ungewöhnliche Bekenntnis deutlich und kraftvoll
ausgeſprochen wird: Wahrheit liegt nur im Ganzen, wahre Wiſſenſchaft iſt Gott-
ſuchen; „wir alle ſuchen im Grunde Religion, inſofern wir Wahrheit meinen und
inbrünſtig wollen“.
Das Buch gliedert ſich in zwei Abſchnitte: „Naturhiſtorie“ und „Metaphpſik“. Das
objektive Schwergewicht ruht auf dem erſten Teil; als Ausdruck perſönlicher Überzeugung ift
der metaphyſiſche Teil wichtiger. Der „naturhiſtoriſche“ Teil behandelt zunächſt die Deſzendenz⸗
theorie in eingehender Kritik. Es iſt höchſt verdienſtvoll, daß ein Naturforſcher ſelbſt einmal
dieſes immer noch herumſpukende Geſpenſt energiſch von der Schwelle weiſt (nachdem die logifh-
erkenntnistheoretiſche Fragwürdigkeit der Oeſzendenztheorie von anderer Seite aus ſchon
herausgearbeitet worden iſt); um ſo mehr, als er ſich nicht auf bloße Negation beſchränkt, ſondern
eine plaufible pofitive Anſchauung an ihre Stelle ſetzt. Dacqus zeigt, wie unbiologiſch im Grunde
jener Erklärungsverſuch der lebenden Form iſt, der durch zufällige Häufung kleinſter Varianten
die Mannigfaltigkeit der Arten entſtanden denkt. Die begriffliche Unſicherheit und faktiſche
Erfolgloſigkeit der Stammbaumkonſtruktionen wird aufgedeckt; es zeigt ſich, daß ihr letzter
Ausgangspunkt keineswegs eine mit innerem Verſtändnis für das Lebendig-Organifde er-
ſchaute Urform, ſondern ein abſtrakt konſtruierter, formaler Schemen iſt. Dacqus ſtellt dem
von einem verzerrten Entwicklungsbegriff beherrſchten linearen Schema der Abſtammungs-
lehre feine Typentheorie entgegen. Ihre Baſis iſt die Annahme eines gleichzeitigen, freien
Nebeneinanderbeſtehens von Grundformen, innerhalb deren allein von Evolution die Rede
fein kann. Zu dieſen, die bleibenden Merkmale der gegebenen Geſchlechterfülle bezeichnen
den Grundtypen tritt aber ein weiterer Aſpekt (durch den zugleich ein eigentlich „hiſtoriſches“
Moment ſich Eingang verſchafft): ähnlich wie im geſchichtlichen Leben ein „Zeitgeiſt“, ſo muß
auch im prähiſtoriſchen Bereich ein die verſchiedenen Perioden charakteriſierender biologiſcher
„Zeithabitus“ angeſetzt werden, der alle Organismen durchdringt und zu einer gewiſſen Ein-
heitlichkeit verbindet, z. B. der Amphibien-, Reptil- oder Affencharakter. Die bleibenden Grund-
typen und die von Periode zu Periode ſich wandelnde Zeitſignatur überſchneiden ſich; durch
ein Gegeneinanderabwägen beider läßt ſich die Fülle der organiſchen Formen, ihr Rommen
und Vergehen, erklären und entwirren.
Der Typentheorie kommt eine außerordentliche methodiſche Bedeutung zu. Sie ermöglicht
eine neue, geſichertere Altersbeſtimmung des Menſchengeſchlechts und zugleich eine entſchei-
dende Widerlegung der Hypotheſe der Affenabſtammung des Menſchen. Dacquss letzte Abſicht
ijt die Verſöͤhnung zwiſchen der „uralten, das Bild des Menſchen rettenden Schöpfungsidee und
der . .. neuzeitlichen Abſtammungslehre“. Den Abſchluß bildet der Gedanke: „So iſt doch der
Menſch ... die Krone der lebenden Natur; aber nicht im Gedankengang der älteren Abftammungs
lehre als ein letzter Zweig, auch nicht im Sinn einer mißverſtandenen religidfen Auffaſſung
als eigenes, der Tierwelt fremd gegenuͤberſtehendes Schöpfungswert: ſondern als beides zu-
gleich, indem ſeine jetzige vollendete Geſtalt im Lauf eines langen Leidensweges ſich immer
reiner als Ausdruck der lebendig in ihm liegenden Entelechie heraushob ... wobei
ſein urſprünglicher, das Tieriſche mitumfaſſender Stamm alles das aus ſich entließ, was ſich im
Lauf der erdgeſchichtlichen Zeit an Geſtalten neben ihm entfaltet hat“.
Urwelt, Gage und Menſchheit 47
Dieſe naturgeſchichtliche Theorie aber ftellt nur die Vorbereitung dar für das oben bezeichnete
Hauptziel der Arbeit: Aufbau eines „hiſtoriſchen“ Gefamtbilds der Urmenſchheit. Den Weg zu
dieſem Ziel bahnt ſich Dacqué mit Hilfe eines neuen methodiſchen Gedankens, der ſich als ſehr
fruchtbar erweiſt. Er verſucht die rein natut- und entwicklungsgeſchichtliche Forſchung mit einer
deutung des reichen, aber chaotiſchen Guts, das in den älteſten Sagen und Mythen über⸗
liefert ift, zu vereinigen. Von der Kombination beider Betrachtungsweiſen erhofft er eine im
Vergleich zu unſerer bisherigen Kenntnis viel umfaſſendere Oechiffrierung gleichſam des lüden-
haften Hieroglyphenbildes der Ur vergangenheit. Die Grund vorausſetzung zu ſolcher Vereinigung
it aber die, daß den Sagen und Mythen wenigſtens in gewiſſem Maß dokumentariſcher Wert
zugeſprochen werden darf. Dacqus nimmt Stellung gegen die rein philologiſche, in pſycholo⸗
gifierendDen und allegorifierenden Möglichkeiten ſich erſchöpfende Sagenauslegung und ſucht
in wertvollen und vielfach überzeugenden Aus führungen bie Antitheſe zu begründen: im alten
Ecgengut liegt unbewußt überlieferte natur- und menſchheitsgeſchichtliche Wirklichkeit. Die
Schwierigkeit bei der Herausarbeitung des wirklichkeitshaltigen Kerns liegt in der richtigen
Ertenntnis und Ausſcheidung der Überſchichtungen und Entſtellungen, die durch die (uns im
allgemeinen allein zugänglichen) Spätfaſſungen des Sagenmaterials hervorgerufen find. Aber
das Korrektiv liegt eben in der Heranbringung naturgeſchichtlicher Tatſachen und Möglichkeiten.
Vie weit die Freilegung des Urſprungsgehalts der verſchiedenen Sagenmotive als gelungen zu
betrachten ift, könnte nur durch eingehende kritiſche Unterſuchung der Einzelfälle entſchieden
werden. Die Fruchtbarkeit, der heuriſtiſche Wert der Methode als ſolcher wird kaum bezweifelt
werben können.
Es heben ſich ſchließlich aus dämmerndem Halbdunkel die (freilich vielfach hypothetiſchen)
Umriffe eines vorgeſchichtlichen Menſchheitslebens heraus: bisher unverſtandene, aber hart-
nddig wiederkehrende Motive erhalten Sinn; undurchdringlich erſcheinende Zeiträume gliedern
ſich in abgrenzbare Epochen; völlig verblaßte und nur noch ahnend ertaſtete vorgeſchichtliche Er-
eigniſſe (Untergang der Atlantis, die Sintflut) gewinnen wieder Farbe und Bedeutung. In
Verbindung damit baut fich, greifbar bis zu einem gewiſſen Grad, die Geſtalt des vorgefchicht-
lichen Renſchen auf, der ſich im Zuſammenhang mit feiner geographiſchen und tieriſchen Am-
welt entfaltet und eer im Laufe der großen Perioden gewiſſe Wandlungen durchzumachen hat.
(Leider geraten in einem Abſchnitt „Kulturſeele und Urwelt“ die Fäden durch den fachlich kaum
begrindbaren Verſuch einer Amalgamierung mit den Anſchauungen von Spengler und Fro-
benius etwas in Verwirrung.) Nicht nur die körperliche Beſtimmtheit des Urmenſchen, auch
feine ſeeliſche Beſchaffenheit ſucht Oacqus zu rekonſtruieren. Er kommt dabei zu Entwürfen,
die von hohem Intereſſe find und die möglicherweiſe Anwendung finden könnten zur Auf-
hellung gewiſſer Fragen, die ſich in der Gegenwart immer ſtärker hervordrängen: des ganzen
komplexes der magiſchen Erſcheinungen. Dacqué glaubt als Hauptkennzeichen des vorge-
ſchichtlichen Menſchen ſeine „Naturverbundenheit“ und damit im Zuſammenhang das Vermögen
der „Naturſichtigkeit“ (als Inbegriff der magiſch-dämoniſchen Anlagen) feſtſtellen zu können.
der Vert dieſer und ähnlicher Anregungen iſt unbeſtreitbar, auch wenn es ſich oft nur um kurze
und nicht bis in die letzten Ronſequenzen verfolgte Ausblicke handelt.
Zweifellos hat Dacqués Methodik ihre Gefahren. So wohltuend in unſerer Zeit des intellet-
tuellen Hochmuts jenes Moment der Ehrfurcht vor der Menſchheit uraltem Wiſſen empfunden
wird, fo leicht kann dieſe Tendenz zu einer Schwächung der Kritik und zu einer Überfpannung
der konſtruktiven Phantaſie verleiten. Wiſſenſchaftlicher Verſtand und anſchauende Phantaſie,
begriffliche Durchdringung und frei ſchaffende Einbildungskraft wohnen auf dieſem Felde
näher beieinander als in anderen Wiſſensgebieten. Aber daß es doch weſentlich der Gegenſtand
ſelbſt iſt, der hier den ſtark hypothetiſchen Charakter aller Erkenntniſſe bedingt, das lehrt ein
Vergleich von Dacqués Ergebniſſen etwa mit der Phantaſtik mancher darwiniſtiſcher Ron-
ſtruktionen, oder auch mit den Erklärungsverſuchen formal allegoriſierender Mythologien.
48 Dom ungegebenen Sotte
Eine völlig neue Ebene bezeichnen die Ausführungen des 2. Hauptteils („Metaphyſik“,
die beſonders wichtig find für das volle Verſtändnis des Werks, und zwar von der menſchlich⸗
perſönlichen Seite her. Dem populären Intereſſe kommen die hier niedergelegten Gedanken
wenig entgegen („Denn wir gehen in die Tiefe, zurden Müttern“ — wie der Autor ſagt). In
ſachlicher Hinſicht fällt jetzt die Beſchränkung auf den naturhiſtoriſchen Geſichtskreis hinweg;
vielmehr dringt das für die Geſamteinſtellung entſcheidende Motiv des Philoſophiſch-Religiöſen
völlig zur Oberfläche durch. Es ergibt ſich, daß hinter dem auf die äußeren Naturbezie hungen
gerichteten Forſcher der religiöſe Dichter ſteht, der ſich über die endliche Betrachtung der Er-
ſcheinungen zu erheben und ihre Beziehung zum Ewigen zu ergreifen trachtet. In dieſem neuen
Zuſammenhang handelt es ſich nicht mehr um Klauſalerklärung, ſondern um das Gewinnen
einer vertieften, unter dem Geſichtspunkt des Sym boliſchen ſtehenden Anſchauung, d. h. um
ein konkretes Zneinsfehen von Außerem und Innerem, von ſichtbarer Wirklichkeit und geiſtigem
Sinn — beherrſcht von dem hohen Ziel eines verſtehenden Umfaffens des Natur- und Menſch⸗
heitsganzen. ö
Lebendiges Gefühl der Totalität iſt der Nährboden dieſer Vorſtellungen. Aber das Gefühl
ringt ſich nicht immer zum klaren Gedanken der Totalität durch. Ein in ſich hineinhorchendes,
der Fülle ſeiner oft ans Viſionäre ſtreifenden Geſichte nachgehendes Meditieren iſt am Werk,
nicht ein objektiv-ſyſtematiſch gerichtetes Denken. Auf eine eingehende Erörterung muß leider ver-
zichtet werden; es ſei nur kurz der Umkreis der berührten Fragen bezeichnet: die Bedeutung
des Metaphyſiſchen in Natur und Mythus, Probleme der Rosmogonie (mit einer eigenartigen
Emanationstheorie der Menſch- und Tierſchöpfung), die Polarität von Naturdämonie und
Göttlich- Apolliſchem im Menſchenweſen, das Problem von Tod und Erlöſung. Ihrem Charakter
entſprechend gehören dieſe Ausführungen, in denen die gedankliche Klärung des erlebten Ge-
fühlsgehalts noch nicht überall bis ans Ziel gelangt iſt, nicht vor das Forum philoſophiſcher
Kritik im wiſſenſchaftlichen Sinn. An vielen Stellen aber finden fic tiefe und wahrhaft ſpekula⸗
tive Formulierungen; und dort fühlt der Leſer, daß er ſich in unmittelbarer Nähe deſſen be-
findet, was die großen einſamen Geiſter von der chriſtlichen Myſtik bis zu Hegel erfüllt und be-
wegt hat. Dr. Friedrich Seifert
Vom ungegebenen Gotte
icht an alle Menſchen treten die Rätſel des Kosmos und des Lebens als ein gedankliches
N Problem heran. Aber wohl jeder hat die Problematik des individuellen Dajeins erlebt,
der aus inneren und äußeren Wirrniſſen nach Erlöſung in wahrem Glide ſuchte. Das Bewußt-
fein der Endlichkeit und Begrenzung irdiſchen Glückes führte eine letzten Endes doch weltver-
neinende Religion und Philoſophie zur Forderung eines „jenſeitigen“ Lebens. In ihm ſolle
die Seele, von aller Laſt des Sinnlichen befreit, als reiner Geiſt ein unendliches Glück genießen.
Die Unzulänglichkeit der irdiſchen Güter ſei dort in einem höchſten Gute, in Gott, aufgehoben.
Faßte man Gott hier einerſeits als höchſten Wert, der dem Sehnen der gehetzten und innerlich
zerriſſenen Kreatur als letztes Ziel und alleiniger Spender vollkommenen Glückes erſchien, ſo
wurde er andererſeits zugleich auch als Urgrund des Daſeins, als Schöpfer der Welt gedacht.
Wertgrößtes und Seinsgrößtes oder, wie man es auch ausgedrückt hat, „axiologiſcher“ Gott
und „kosmologiſcher“ Gott verſchwammen in eins.
Hier ſetzt die Frage nach dem Weſen Gottes ein, die Hermann Schwarz in feiner „Philo-
ſophie des Ungegebenen“ (9. Schwarz, Das Ungegebene. Eine Wert- und Religions-
philoſophie. Tübingen 1921), ausgehend von Gedanken der mittelalterlichen Myfti und des
deutſchen Idealismus, einer tiefgegründeten Löſung entgegengeführt hat.
Dom ungegebenen Gotte | 49
Mit feinem Erkennen reicht der Menſch nicht an tranſzendente Bezirke heran, fie find ihm
ewig verſchloſſen. Lediglich des äußerlich Geg ebenen, der Welt der Erſcheinungen und des
innerlich Gedachten, Gewollten und Erlebten wird er gewiß. Ein ſolches innerlich Gedachtes
iſt auch Gott als Schöpfer oder als Herr der Welt oder als Seinsgrößtes. Es iſt ein Bild, eine
Idee, eine Vorſtellung im menſchlichen Bewußtſein. Aber dieſe Betrachtungsweiſe hält das
Bild für eine „jenfeitige Größe“, nimmt Gott als „überſinnlichen Gegenſtand“. Es kommt
hinzu, daß der Menſch dieſem jenſeitigen Größten auch Wertunendlichkeit beimißt. So ge-
nommen ſoll die Gottesvorſtellung nicht nur dem rein gedanklichen Streben nach Vereinheit-
lichung des Weltbildes dienen, ſondern dieſes Gottesbild iſt geboren aus der Wertnot der Seele
und ſoll ihre Wertleerheit füllen. Indes die Vorſtellung eines höchſten Gutes da draußen im
Weltraum gibt dem Hunger der Seele nach echten Werten kein Brot des Lebens. Gott bleibt
bier immer nur ein Bild. Nur ein wirklicher Wert könnte uns ſatt machen, und der bleibt, wie;
viel man das Gedankenbild Gottes ausfchmüde, dem Herzen ungeg eben. Seligkeit und Frieden
könnte die Seele erſt gewinnen, wenn ſich die bloß vorgeſtellte Wertunendlichkeit in ihr zu einer
realen Macht verlebendigte, wenn Göttlichkeit als nicht überbietbarer Lebensgehalt fie in der
Seele entſiegelte. Worin aber offenbart ſich uns das Weſen ſolchen unendlichen Lebensgehaltes?
Auf der Suche nach Werten haftet der Blick zunächſt am Gegebenen. Die Gegenſtände unſeres
Sefallens ſtellen ſich uns in einem eigentümlichen Glanze dar, der von ihrer Werthaftigkeit
auszuftrömen ſcheint: fie ſtehen für uns im Wertſchein. Wertgehalt, fo meint man, fei ſchon
in den Dingen gegeben und man brauche nur in dieſen auswärtigen Reichtum, in die Welt
der Natur und Kultur hineinzulangen, um daran ſatt und ſelig zu werden.
Indeſſen, Werthaftigkeit ijt keine wirkliche Eigenſchaft des Seins, die auf uns uͤberſtrömen
konnte. Alles Seiende an ſich, losgelöſt von jedem ſchaͤtzenden Bewußtſein, iſt feinem innerſten
Weſen nach nicht werterfüllt gegeben, es iſt vielmehr Sein ſchlechthin und nichts weiter. Die
Welt des Gegebenen, der Vielheit, hat ſich aus einer urſprünglichen gottheitlichen Einheit ent-
faltet, die indes bar iſt jeder Wertgöttlichkeit. Auch die entfaltete Welt iſt wertfrei geblieben.
Die Gegenſtände dieſer Gegebenheitswelt, z. B. unſere Mitmenſchen, unſer Volkstum, Kunſt⸗
ſchönes uſw. treten uns lediglich als Wert er ſcheinungen gegenüber, unſer Gefallen an ihnen
verwandelt fie nicht in objektive Werte. Aber wir verwandeln uns in Wert, wenn wir in eine
unſelbſtiſche und bejahende Beziehung zu den Werterſcheinungen treten, d. h. wenn wir es ner-
mögen, fie nicht in ſelbſtiſcher Weiſe als Mittel zur eigenen Luſterhöhung, ſondern als Auf-
gaben zu ergreifen, die von uns Opferung und liebende Hingabe verlangen.
Noch genauer: ein Wertſtrom erſchafft ſich in unſerer Seele. In dem Augenblicke, wo ich
einer Werterſcheinung mein Herz und meinen Willen ſchenke, hat ſich ſchon eine Wertwirklich⸗
keit in mir entſiegelt, die ſich mir ſchenkt. Sie allein vermag das Ich mit Gehalt zu erfüllen
und erfüllt es mit bleibendem Gehalt, wenn dieſes fein Leben einheitlich auf Dienen und Opfern,
Schaffen und Helfen ſtellt. Diefe uns durchlebende Wertwirklichkeit erſchiene als Göttlichkeit,
wenn fie als die Selbſtexiſtenz eines höchſten, nicht überbietbaren Werts ſich darboͤte. In ſolchem
Wertwunder hätte ſich eine Gottesgeburt in der Seele vollzogen.
Der Menſch, der die Werte als ſeiende Größen draußen denkt und ſich ihnen in ſelbſtiſchem
Wollen naht, der gewinnt nur Luſt. Aber Luſt ſchenkt dem Ich keinen bleibenden Lebensgehalt,
ſondern nur die Annehmlichkeit von Augenblicken. Hier wird das Ich immer armer durch neu
geſchaffenes Bedürfnis. Im Genuß vergänglicher Lüfte verflüchtigt ſich jeder Anſatz zu echtem
Wertleben.
Auch der Perfonwertgläubige, der Narr eines Selbſtkultus, der Wert als etwas Gegebenes
in fic zu tragen glaubt, fei es als ſtets hervortreibbaren Vollwert, fei es als entwiklungs fähigen
Keim, gelangt nicht zu echtem Wertleben, weil das Ich nicht werthaltig, ſondern wertbedürftig
gegeben iſt. An ſich iſt das Individuum ohne Wertgehalt, erſt die Bewegung über das eigene
Selbſt hinaus treibt den ungegebenen Wert ans Licht.
Ser Türmer XXVIII, } 4
50 Vom ungegebenen Gotte
Das Weſen der unſelbſtiſchen Einſtellung beruht darin, daß wir uns der Gegenſtände unſerer
Hingaben nicht zu Eigennutz bemddtigen, ſondern daß wir uns ihnen mit allen Kräften ſchenken,
damit ſie leben. Der metaphyſiſche Sinn dieſes Tuns, das wir auch Li ebe nennen im weiteſten
Sinne, liegt in ſeiner Einigungskraft, dem Fundament alles Wertlebens. In der Liebe will
Gott als Wert Wirklichkeit gewinnen. Das ſelbſtiſche Streben erwirkt immer nur Bereinzelung,
Beſonderung und damit Feindſchaft: fie ift das Grundprinzip alles Böfen. Liebe aber eint
auch das Gegenſäãtzliche, fie ſucht den Widerſtreit und die Seins-Dielheit der Dingwelt auf-
zuheben in einer höheren Wert -Einheit und iſt deshalb das Grundprinzip alles Guten. Liebe
gebiert, nein, ſie iſt das Wertleben der Seele und erfüllt dieſe mit bleibendem Lebensgehalt,
wenn der Menſch unabhängig von den Wünfchen des Augenblicks immer die Liebe als Grund-
haltung feines Wollens wählt. Ein ſolches Leben, das Einheit in ſich und zugleich einend in
ſeiner Beziehung zur Umwelt iſt, erhebt das Individuum zur Bedeutung der Perſönlichkeit.
Die Tiefe des Wertlebens, in dem Gott als Liebe ſich entſiegeln will, hängt von der Kraft
und Fülle der Hingabe ab. Da iſt es nicht gleichgültig, welchen Gegenſtänden wir unſere Hin-
gabe ſchenken. Nehmen wir Einzelmenſchen als Aufgaben unſeres ſelbſtloſen Handelns, fo be-
tätigen wir die altruiſtiſche Form der Hingabe. Söͤttlichkeitsleben regt ſich ſchon hier in der
Seele, aber in un vollkommener Weiſe. Daneben können auch ideelle Gegenſtändlichkeiten, wie
Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit liebend ergriffen werden. Eine Erhöhung feines Wertlebens
erfährt das Ich durch fie nur dann, wenn nicht der Ichwille, ſondern der Werkwille es treibt.
Mit reicherer Selbſtſetzungskraft bricht die Gottesmacht im Menſchen hervor, wenn die Vat er
landsliebe fein Wollen ergreift und bewegt. In den überperſönlichen Hingaben, die aus dem
tat- und opferbereiten Vaterlandsgefühl herausquellen, wurzelt die Gemeinſchaft. In ihr iſt
die ſich widerſtreitende Vielheit der Einzelwillen durch den Einheitsgeiſt des Gemeinſchafts⸗
willens aufgehoben.
Nicht auf dem Gedankenwege über eine Idee oder über einen jenſeitigen Gott kommen wir
zu ſolcher Willensgemeinſchaft. Sondern als etwas Urſprüngliches ergreift uns die Liebe zu
den Stammesbruͤdern. Sie iſt Gottesdrang des ungegebenen Göttlichen in uns, das nach Daſein
verlangt. Wer im Gemeinſchaftsgeiſte lebt, in dem hat ſich das Söttliche in einer höheren
Lebensform verwirklicht, als jegliche Einzelhingabe fie zu ſchenken vermöchte. Noch aber ift
nicht die höchſte Form in uns ſich ſetzenden Gotteswertes gegeben.
Erſt dort, wo in einer hingebenden Seele die Liebe ſo ſtark und weit geworden iſt, daß ſie
mit Allkraft alles umſpannt, kommt es zum vollen Durchbruch des Gotteslebens. Solche Liebe
ijt das größte Werterleben der Seele und bedeutet deshalb eine Überhöhung aller Hingabe
und Gemeinſchaftserlebniſſe, nicht etwa eine bloße Addition. Sie iſt ihrem Weſen nach Erlöfung,
weil alle Wertnot des Ich in der Seligkeit der ſich vollendenden Setzung Gottes verſinkt. Die
Seele iſt zur Allmöͤglichkeit geworden; alle Träger und Ziele von Hingaben find der Möglichkeit
nach in fie hineingehoben, und kein Unterſchied im Rang der Objekte beſtimmt mehr die Willens!
binwenbung ihrer Güte. In der Liebe, die alles fein kann, verſteht ſich der in uns entfiegelte
Gott mit den Gottesquellen in jedem beliebigen Menſchen. Dies verwirklichte Gottmenſchentum
der Liebe iſt jedem aus ſich ſelbſt ſchenkende Hilfe zur Verwirklichung feiner Gotteskinbſchaft.
Dr. Dr. Paul Wolfgang Junker
— —
jene Halle
Sie dier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustaufe deen e Einſendungen
find unabhängig vom Standpunkte bes Herausgebers
Die Chriſtengemeinſchaft
Vorbemertung. Die folgenden Ausführungen betrachte man als einen Nachhall zu unſren Erörterungen
über Kirche und Religion’, die ſich durch die letzten Hefte gezogen haben. D. T.
m Sommer 1922 begann eine kleine Schar von Mitarbeitern in aller Stille ein religiöfes
Wirken, auf dem eine große Hoffnung ruht. Selten wohl haben ſich ſo verſchiedenartige
Renfhen in einem großen Willen zuſammengefunden: Theologen und Naturwiſſenſchaftler,
Rinftler und Arbeiter, Philoſophen und Landwirte. In der Überzahl waren es junge Menſchen,
diele unter ihnen durch das Sehnen und Streben der Jugendbewegung gegangen, lauter Men-
iden, in denen es drängte nach einem kraftvollen innerlichen Wirken in dieſer Zeit, zu dem fie
bie Moglichkeit innerhalb der beſtehenden Kirchen nicht gefunden hatten. Auch einige Frauen
fanden ſich mit gleichen Hoffnungen und Wünſchen unter ihnen ein. Myſtiſche Sentimentalität
wer nicht in bieſem Kreis, aber die Selbftverftändlichkeit einer großen klaren Berufung, die das
gaye Leben in eine höhere Sphäre hebt. Kein reicher Gönner ſtand hinter der Sache, keine
ſichernde Summe, nur eine Gewißheit, die einen feſten Willen gebiert. In einem kleinen Dorf
m einem oberbayriſchen See kamen die Mitarbeiter zuſammen, noch nicht fünfzig an der Zahl,
und hielten in einem verlaſſenen Stall, der zum dürftigen Verſammlungsraum umgewandelt
war, ihre vorbereitenden Beſprechungen. Seitdem ſind in etwa vierzig deutſchen Städten
Gemeinden entſtanden, noch klein, zum Teil fehr klein, aber von ſeltener Opferwilligkeit und
ſieghafter Hoffnungskraft. Aus den bisherigen Kirchen löſten ſich die werdenden Gemeinſchaften
nicht los. Sie ſtellten ſich mitten hinein, boten ſich allen an und warteten auf die Antwort. Alle
Mitarbeiter wiſſen, daß erſt im Kleinen erprobt werden muß, ob wirklich werden kann, was für
einen größeren Kreis ſegensmächtig werden ſoll: Religiöſe Erneuerung und Chriften-
gemeinſchaft. Um die Zeitſchrift aber, die wie eine Fahne der Schar vorangeht, „Die Ehriften-
gemeinſchaft“, ſammelt ſich eine täglich wachſende Zahl von aufmerkſamen Leſern. (Alle Lite-
tatur der jungen Bewegung, zum Beiſpiel auch die Schriftenreihe „Chriſtus aller Erde“, 18 Bänd-
chen umfaffend, durch die Geſchäftsſtelle der Chriſtengemeinſchaft, Stuttgart, Arachſtraße 41.)
Benn hier auf Wunſch des Herausgebers vom Leben der Chriſtengemeinſchaft erzählt werden
foll, fo kann das ja nur fein wie ein Glockenläuten, das wohl weithin gehört werden mag, aber
doch nur ein Rufen iſt und Einladen über einem Heiligtum, das fein Geheimnis für den Kom-
menden ſelbſt aufbewahrt. Die Seele der Chriſtengemeinſchaft iſt nicht ein Glaube oder gar
an Dogma, nicht ein Streben oder gar ein Programm, ſondern Chriſtus ſelbſt als lebendige,
ſchaffende Gegenwart. Nicht ein vergangener geglaubter, nicht ein kommender erhoffter,
ſondern der heute wirkende Chriſtus iſt das ſtrahlende Herz der Chriſtengemeinſchaft. Die Prieſter
ber Gemeinschaft fühlen ſich wie das Blut, das zur Reinigung und Stärkung immer ins Herz
zurücktehren muß in Meditation und „Einkehr“, um dann alle Weiten des Welt-Körpers mit
Leben erfüllen zu können in wahrhaft ſakramentalem Wirken.
Wenn viele religiöfe Gemeinſchaften dem lebendigen Chriſtus dienen, wird ſich ihr Wert be-
fimmen durch die Kraft und Ausſchließlichkeit, mit der fie für ein ſolches Chriſtuswirken da find.
In einem aber unterſcheidet ſich die Chriſtengemeinſchaft von allen religiöfen Gemeinſchaften,
die außer ihr heute da ſind: darin, daß Chriſtus in ihr als ein ſchaffend Handelnder gegenwärtig
etlebt wird. Nur die katholiſche Kirche hat auch dieſen Charakter, aber in Formen, die in einer
vergangenen Zeit ihre Wahrheitsgröße und Lebensgewalt beſaßen, aber vom lebendigen Geift
ber Gegenwart immer ſtärker als fremd empfunden werden.
52 Die Chriftengemeinfdaft
Nod ausſchließlicher und zugleich mitten aus dem lebendigen Gegenwartsgeiſt heraus will
die Chriſtengemeinſchaft ganz dem umſchaffend wirkenden Chriſtus dienen. Die Sonne kann man
ſtill betrachtend ſchauen. Will man mit ihr leben, ſo muß man mit ihren Strahlen gehen und
wirken. Nicht anders iſt es bei Chriſtus. Die Sentimentalität und Seligkeitsſchwarmerei, die man
fo oft in Kreiſen findet, die ſich für auserwählt chriſtlich halten, der ganze Heilsegoismus, der
im eignen Ich die Gnade einſperrt, iſt die Anbetung eines ganz anderen Gottes als Chriſtus.
Dort iſt Chriſtus, wo Wandlung ift. Man könnte auch das Johanneswort gebrauchen, das
in der Lutherbibel mit „Verklärung“ wiedergegeben iſt. Aber nichts Luziferiſch-Aſthetiſches
dürfte darin empfunden werden, ſondern das Söoͤttlich- Werden aller Dinge, das Eingehen des
Chriftus-Wefens in alles, was lebt und iſt, damit Gott werden kann alles in allem. Will man alſo
ſagen: Die Chriſtengemeinſchaft bringt einen neuen Sakramentalismus, ſo iſt das richtig nur,
wenn man unter Sakrament nicht das Intellektualiſtiſch-Ausgedörrte verſteht, wie allermeift
in der evangeliſchen Kirche, und nicht das Magiſch-Iſolierte, wie allermeift in der katholiſchen
Kirche, ſondern wenn man verſteht, daß Chriſtus alles, was er berührte, was er nur anſchaute,
zum Sakrament machte, zum Erdenträger göttlicher Weſenserſtrahlung, daß jedes Wort, das
er ſprach, Sakrament war. Man kann ja auch wirklich heute noch aus einem Chriſtuswort, wenn
man es nur ſtark genug in ſich da ſein läßt, ſeinen Leib und ſein Blut empfangen. Was wiſſen
die Theologen, die heute unter der Loſung: „Nicht buddhiſtiſche Verſenkung, ſondern chriſtliches
Gebet gegen die chriſtliche Einkehr und Einswerdung ankämpfen, von der lebendigen Anweſen⸗
heit Chrifti in feinen Worten, aus denen er hervortreten kann auferweckend, wie wenn aus dem
Altarſchrein eine Lichtgeſtalt lebendig hervortritt und dem Menſchen das Abendmahl reicht.
Man redet heute an den größten Geheimniſſen unkundig vorüber,
Aus ihrem Grunderlebnis von der Wandlungsmacht des Chriſtus iſt die Chriſtengemeinſchaft
auch der Überzeugung, daß alle ſogenannte „reine Ethik“, wie man fie ihr oft entgegenhält,
eine ſchwache Ethik iſt. Stark fängt die Ethik erſt an zu werden, wenn man davon etwas fpürt,
wie das Heilige umſchaffend wirken kann bis ins Körperliche hinein, gunddft im Menſchen,
dann aber durch den Menſchen auch weit über den Menſchen hinaus. „Magiſcher Idealismus“
hat Novalis gejagt. Er hat abgewieſen ebenſowohl eine Magie, die nicht aus reinen Kräften
ſtammt, wie einen Idealismus, der keine Verwandlungskraft hat.
Wem Chriſtus als Weltwirklichkeit da iſt, der ſpürt immer erſchauernder bis ins Mark hinein,
wie grundverdorben die Menſchheit iſt, wie grundverdorben vor allem er ſelbſt iſt. Nur durch
die ſeit Jahrtauſenden in der Menſchheit wühlende Sünde konnte er das werden, was er jetzt ift.
Allein Chriſtus mit der Kraftfülle feines göttlichen Gnadenweſens vermag eine neue Welt zu
ſchaffen, zunächſt im Menſcheninnern. In ihm tritt die ſiegende Allgewalt hinein in das Reich
des Niedergangs, und nur, wo ihr Einlaß wird, kann Heil werden. Da aber wird alles von Grund
auf neu. Es iſt heute viel peinliches Streiten unter den Theologen, ob die Sünde auch ernſt
genug“ genommen wird. Die Chriſtengemeinſchaft hat keine Neigung, ſich an dieſen Distuffionen
zu beteiligen, auch nicht, wo es gegen fie ſelbſt geht. Jeder aufrichtig Wollende aber kann ein-
feben, daß ein Sakramentalismus, wie wir ihn geſchildert haben, nur Sinn hat, wenn Chriſtus als
neue Weltſchöͤpfungskraft inmitten einer von Verderbensmächten ergriffenen Welt erlebt wird.
Es gibt kein ſtärkeres Bekenntnis zu Chriſtus als dem alleinigen Heiler als einen ſolchen Gatra-
mentalismus. Wenn gegen die Chriſtengemeinſchaft geſagt worden ift, vor aller Gnade müffe
erſt die „peinliche“ Einſicht kommen, daß nur der Sünder Gott recht fei, fo verrät ſich uns aller
dings in ſolchem Fordern und Formulieren der Geiſt einer individualiſtiſch-intellektualiſtiſchen
Zeit, die wir hinter uns gelaſſen haben. Das iſt mißhandelter Paulus. Die Wahrheit iſt, daß
gerade die echten Kinder der Zeit ſich gar nicht ſo als Einzelne fühlen können, ohne unwahr zu
werden, daß ſie ſich ganz anders fühlen in und mit der Menſchheit, in und mit der Welt. Und
die Wahrheit iſt, daß ſolche Forderungen der Fülle und lebendigen Tiefe des religidfen Ge-
ſchehens nicht gerecht werden können. Das ſtammt aus einer gedanklichen Einſtellung, die den
47
Die Chriſtengeme inſchaft 53
Schritt von der Bewußtjeinstultur zur Weſenskultur, von der Selbſtkultur zur Weltkultur noch
nicht getan hat. Poſitiv geſprochen: Laßt Chriſtus zu den Menſchen kommen und wehret ihm
nicht! Reigt nicht auseinander, was eine Einheit ift: Selbſterkenntnis und Chriſtus erkenntnis!
Reißt nicht an die Oberfläche, was in der Tiefe lebt: Sündenbekenntnis und Chriftusbetenntnis t
Letzt nur Chriſtus da fein, jo ſtark und ausſchließlich als es moglich iſt, und überlaßt ihm ſelbſt,
was er den Menſchen zu ſagen hat!
Die Chriſtengemeinſchaft fühlt ſich im Glanz einer neu aufgehenden Chriſtusſonne. Sie
redet nicht bloß von einer neuen Morgenröte. Sie fühlt ſich in ihr. Sie iſt ſelbſt ein Teil von ihr.
Shee eigene Verbindung mit Chriſtus iſt ihr fo heilig, daß fie davon hier nicht reden möchte. Sie
weiß, daß Ehriftus auch außerhalb ihrer auf vielerlei Weiſe den Menſchen nahe fein kann
und nahe kommen will. Aber ſie weiß auch, daß Chriſtus ſie ſelber zu ſeinem Organ geſchaffen
hat. Alles ift in der erſten Entfaltung. Mächtig aber ſchreitet heute ſchon Chriſtus durch die Weihe;
hanblungen der Chriſtengemeinſchaft. Eine reine Weihe des ganzen Lebens, wie fie Goethe
m „Dichtung und Wahrheit“ erſehnte, wie fie in der Gott; entleerten Gegenwart immer mehr
Nenſchen elementar ſich wünfchen, iſt im Kommen. Nur eine Chriſtustat kann fie fein. Als
wir den neuen Sakramentalismus empfingen, erkannten wir nachträglich zu unfree größten
Freude, wie in ihm wiedergeboren find für unfre Zeit die ſieben Großtaten des Chriftus, die
im Johannesevangelium berichtet werden. Viel Ahnliches könnte erzählt werden. (Vergleiche
J B. „Welterneuerung“ in der Schriftenreihe „Chriſtus aller Erde“.)
Ein e Erlöfung wird heute von vielen erſehnt. Die Natur iſt uns tot geworden. Nur im Ge-
fühl jpridt fie noch mächtig zum Menſchen. Das „Wort“ ijt geſtorben in der Natur. Die alten
Germanen hörten es noch, wenn fie in die Natur lauſchten: Göttergeſchehen war es, was im
Sturm an ihnen vorüberzog. Die alten Griechen lebten menſchenwuͤrdiger als wir. Auf den
Gonnenftrablen hörten fie einen Gott fein hehres Harfenlied ſpielen. Chriſtus iſt geſtorben in der
Natur, das „göttliche Schöpferwort“, von dem noch das ZJohannesevangelium ſpricht, nicht aus
„gnoftifcher Spekulation“, ſondern aus Offenbarung. Das iſt ihrem innerſten Weſen nach die
Baldurtrauer der Germanen, die in allen unſern Seelen lebt. Wir haben heute eine tote Natur
wiffenſchaft. Aber in hohen Welten hat ſich begeben, wovon die Lazarusgeſchichte im Johannes
evangelium ein Exdennachhall ift. „Lazarus, unſer Freund, iſt geſtorben, doch ich gehe hin, daß
ich ihn auferwecke — ſprach Chriſtus in der Hohe, hinabblickend auf das im Erdengrab geſtorbene
goͤttliche Lebens wort, zu ſich ſelbſt. Er kam auf die Erde. Und ſeitdem begann die Erde wieder zu
klingen. In feinen Gleichniſſen hebt es an. Das göttliche Wort wacht auf. Chriſtus auferſteht
aus bem Erdengrabe. Nicht nur einmal geſchah es im fernen Land, es iſt das heilige Geſchehen
der ganzen kommenden Menſchheitsgeſchichte. Im Menſchen, der durch ihn Leben geworden iſt,
bolt er ſich auch die Welt zurück.
Wir find eingetreten in ein gewaltiges Neu-Aufwachen der Chriftustat auf Golgatha. All-
überall erleuchtet fie ſich uns als ber tiefſte Sinn der Menſchheitsgeſchichte. Kein Geſpräch kann
wahrhaft geführt werden zwiſchen Menſch und Menſch, ohne daß Chriſtus mitten unter ihnen iſt.
Sie werden ſich nur verſtehen in dem Mag, als ſie ſich einander „hingeben“, als das Myſterium
von Tob und Auferſtehung Chriſti unter ihnen iſt. Ja auch jeder Einzelne: er kann fühlen, daß
jedes ungütige Wort, das er ſpricht, eine Fortſetzung der Fluchtat auf Golgatha iſt an dem
heute lebenden Chriſtus. Jedes Wort wahrer Güte aber iſt ein fpürbares Aufleben Chriſti.
Auferſtehung will alles ergreifen. Lebend weiht und wandelt Chriſtus die Welt. Aus dem Men-
iden heraus wirkt er, aus feinem Schauen, aus [einem Sprechen, aus feinem Handeln, aus ſeinem
Denken. Die Welt will neu werden. Wer das nicht ſpürt, kennt Chriftus nicht. „So denket in
uns Chriſti Leidenstob, ſeine Auferſtehung, ſeine Offenbarung durch alle folgenden Erdenzeiten.“
Wenn über den Menſchen dies Große kommt: „Ich will nichts wiſſen als Chriſtus den Ge-
kreuzigten und Auferſtandenen“, ihn aber will ich wiſſen in allem —, dann fühlt er ſich, wenn
et fidy’s ehrlich gefteht, heimatlos in den heutigen Gottesdienſten. Er möchte Chriſtus ſchauen
54 Die Chriſtengemeinſchaft
in reiner Anbetung. Er möchte atmen in feiner Nähe. Er möchte aufleben in der Gegenwart
feines heilenden Weſens. Er möchte auferſtehen lernen in ihm. Ein Gottesdienſt, der ihm dies
brächte, ſteht als Ahnung vor ihm. Er ahnt den neuen Kultus.
Wiſſen die Menſchen heute, was Gottes dienſt iſt? Es ſoll nicht vergeſſen fein, welche unend-
liche Mühe ſich viele proteſtantiſche Pfarrer mit ihren Predigten geben, und wieviel Gutes
von ihnen ausgeht. Aber die Predigt iſt im beſten Fall Gottesdienſtvorbereitung, im ſchlimmen
Fall, der gar nicht ſelten vorkommt, iſt fie Gottesdienſtſtörung. Oer katholiſche Sottesdienſt
geht auf vielen anderen Wegen in die Seele hinein. Aber die Menſchen des vollerwachten
Gegenwartsbewußtſeins und des frei gewordenen Ich haben in ihm doch das klare Gefühl,
daß fie ſich ſelbſt verleugnen müfjen, wenn dies ihr Leben werden ſollte, aber nicht in dem Sinn,
wie Chriſtus Selbſtverleugnung von feinen Jüngern fordert. Sie fühlen ebenſo die Dergangen-
beitsgröße, wie die Gegenwartsfremdheit des echten Katholizismus. Was an neuen Gottes-
dienſten auftaucht aus dem aufwachenden Sehnen der Zeit, iſt entweder unwahre Altertüntelei
oder kurzatmiger Subjektivismus. Wo iſt ein Gottesdienſt, an dem alle Engelwelten Freude
haben, in dem ſich der Raum erfüllt mit ſtillem, üͤberirdiſchem Jubeln bis hoch zum göoͤttlichen
Thron hinauf? Die Chriſtengemeinſchaft hat zu verkündigen, daß ein ſolcher Gottesdienſt ba iſt.
Langſam tritt er aus dem Ounkel der göttlichen Welt hervor. Die Not der Zeit hat ihn gerufen.
In der Menſchenweihehandlung iſt da, was je an Gottesdienften groß war in allen Völkern
und Zeiten. „Eine deutſche evangeliſche Meſſe“ iſt zu wenig von ihr geſagt, es fei denn, daß man
unter „deutſch“ reines Geiſtdienen verſteht, und unter „Meſſe“ gegenwärtiges Chriſtus handeln
in Opfer und Auferſtehung, und unter „evangeliſch“: Daſein des Himmels im liebenden Ich des
Menſchen. Noch werden viele Vorurteile überwunden werden müſſen, ehe die Menſchenweihe⸗
handlung anerkannt iſt als das, was fie iſt. Ja wir müͤſſen felbft erſt lernen, unſre Gottesdienſte,
die uns anvertraut ſind, zu feiern. Aber wir haben ſchon Gottesdienſte gehabt, da ſtand wie eine
göttliche Heimat der Himmel auf der Erde, mitten unter den Menſchen. Man meinte, Engel
haben dieſen Gottesdienſt auf die Erde getragen, damit alle Hungrigen und Ourftigen herbei
gerufen werden können: Nehmet! Eſſet!
Iſt es dies, was in der bitteren ſozialen Bedrängnis der Gegenwart uns not tut? — Wer an
Vereine und Parteien, Prinzipien und Programme glaubt und in ihnen die göttlichen Löfungen
für alle Not der Zeit erblickt, wird ſagen: Nein! Wer ſich nach dem Aufſpringen neuer Quellen
der Kraft und Klarheit ſehnt, wer neue Weiheſtätten der Menſchheit, in denen die Augen auf-
gehen im göttlichen Licht, in denen die Seelen auferſtehen in göttlicher Reinheit und Kraft,
für das Allerdringendſte hält, wird ſagen: Ja!
Aber „das Volk“? Iſt dies alles nicht viel zu hochgeiſtig und lebensfern für die große Maffe?
Brauchen wir nicht für das Chriſtentum, wenn es die weiten Reiche der Menſchheit ergreifen
ſoll, die wuchtig echte Volkstümlichkeit, in der der einfachſte Mann ſich ſelbſt neu erleben kann?
Wenn einmal nicht falſche Volkstümlichkeit geſucht, ſondern echte Volkstümlichkeit verſtanden
wird, dann wird man ſehen, wie in Bild und Wort des neuen Kultus die edle Allgemeinmenſch-
lichkeit da iſt, die von den Menſchen der verſchiedenſten geiſtigen Höhen aufgenommen werden
kann, wenn keine Vorurteile mehr die religidfe Empfänglichkeit lähmen. Daß auch die Probe
der Dauer beſtanden werden wird, wiſſen wir heute ſchon aus Erfahrung. Aus Wort und Bild
des neuen Kultus, der zugleich alt- heiligen Anbetungsformen der Menſchheit verwandt iſt, aus
Wort und Bild eines neuen Evangelienverſtändniſſes, in dem wir leben, wird auch allmählich eine
neue Volkstümlichkeit der religiöfen Rede erblühen, die wir heute noch nicht haben, aber ahnen.
Aber warum nicht in der Kirche? Muß immer gleich eine neue „Sekte“ gegründet werden? Zit
nicht all dies auch recht gut innerhalb der Kirche möglich, wenigſtens innerhalb der proteftan-
tiſchen Kirche? Ganz gewiß iſt es innerhalb der Kirche möglich — und es geſchieht ja innerhalb
der Kirchen. Aber es geſchieht nicht im Namen des offiziellen Kirchenamtes. Und man muß
wenig Erfahrung haben von dem Tempo der Kirchenentwicklungen, wenn man glaubt, daß man
Dre Chriſtengemeinſchaft 55
der Menſchheit ein Neues, Göttliches erſt bringen dürfe, wenn es den Weg gemacht hat durch
Pfarrtonferengen, Kirchenſynoden und Konſiſtorien. Darauf kann unſre Zeit nicht warten.
Darauf kann auch das Neue ſelbſt nicht warten. Dem kann es ſich gar nicht ausliefern, wenn es
nicht Selbfſtmordgedanken hat. Rein von Verfälſchungen kann es ſich nur bewähren, wenn es
frei und ſtark aus ſich ſelbſt heraus ſein Leben beginnt. So wenig wie Chriſtus, wenn er heute
unter uns erſchiene, den Weg durch die kirchlichen Prüfungen und Vorruͤckungsordnungen ginge,
ſo wenig kann auch ein Chriſtuswerk, das ſich von Chriſtus unmittelbar an die Menſchen innerer
Not gewieſen ſieht, erſt um einen kirchlichen Stempel ſich bewerben. Man hilft heute auch der
Kirche am beſten von außerhalb der Kirche, das heißt von außerhalb ihrer ſteifgewordenen
Ordnungen. —
Wir haben nun noch kein Wort geſprochen von dem Zuſammenhang der neuen religidfen
Bewegung mit der Anthropoſophie. Das Neue wollte ſeine eigene Seele ſagen. Aber es
will nun auch ausſprechen, wem es Dank ſchuldet. Wer nicht das Gute und Wahre anerkennen
kann, woher es auch ſei, kommt ja doch als ernſthaft religiös Suchender nicht in Betracht.
Die jungen Menſchen, von denen wir erzählten, kamen aus den verſchiedenſten Lebens“
kreiſen. Sie kamen auch und vor allem von den drei Univerſitäten, die heute die proteſtantiſche
Theologie führen: Berlin, Marburg, Tübingen. Gerade dort hatten fie nicht gefunden, was
ſie ſuchten. Aber ſie ließen ſich auch nicht abhalten durch Zeitvorurteile, bei einem Mann um
Hilfe zu fragen, den keine offizielle Univerſität anerkannte: Dr. Rudolf Steiner. Es war
die einzige Stelle in der Welt, wo fie nicht enttäuſcht wurden. Nur als ein dienender Vermittler
und freier Rater wollte er unter ihnen fein. Aber fie kamen immer wieder. Er wurde ihnen eine
ganze Univerſität. Er wurde ihnen mehr: er wurde ihnen eine Stimme aus den Tiefen des
Univerfums ſelbſt. Wer Rudolf Steiner hat walten ſehen unter dieſen Menſchen, die durch
Jugendbewegung und Kriegserleben gegangen im Selbftgefühl gärender Kraft nach ſtarker,
hilfemachtiger Religion fragten, der findet nichts falſcher und unwirklichkeitsgemäßer als das
Reden von dem ſuggeſtiven Machtgelüfte des Anthropofophiebegründers. Er war nichts anderes
als ein beſcheidener, reiner, gütiger Bote aus dem Heiligtum einer höheren Welt. Er fühlte ſich
ſelbſt, ſo überragend menſchlich groß er war, als Vorbereiter deſſen, was kommen ſoll, als ge-
horchender Diener des Chriſtus. Darum bewahren die Gründer und Führer der Ehriftengemein-
ſchaft keinem Menſchen tiefere Dankbarkeit als Rudolf Steiner, und ſprechen dies um ſo deutlicher
aus, je mehr die dunklen Wolken der Verkennung dieſen lichtumſtrahlten Geiſtesboten der Menſch⸗
beit verhüllen wollen. Darum bürfen fie aber auch nach der andern Seite hin ſagen: Kommt zu
uns, ohne irre zu werden durch das Wort Anthropoſophie, ohne euch abhalten zu laſſen durch
üble Vorurteile gegen den Führer der Anthropoſophie! Prüft mit aufgetanem Gelſt und Herzen
was uns gegeben iſt, und was wir allen anzubieten den Auftrag haben!
Dr. Friedrich Rittelmeyer
Literatur,
Bildende Nunſt, Musik
Mar Halbe
Zum 60. Geburtstage des Dichters, 4. Oktober
VBordemerkung. Olefer weſtpreuhiſche Dichter iſt an bemſelben Tage desſelben Jahres geboren wie ich, ber
Elfäſſer: er um 1 Uhr morgens, ich um 3 Uhr nachmittags, was einigen Aftrologen zu ganz artigen Vergleichen
Anregung gegeben hat. Unſer Leben hat ſich nach anfänglichen kurzen Berührungen in Berlin ſehr verſchieden⸗
artig gestaltet. Man kann fi nun, auf der Höhe des Lebens, zum gemeinſamen Geburtstag unde fangen beglüd-
wünfden. F. L.
m Vormittage des 23, April 1893 brauſte ungeheurer Jubel durch das Neſidenztheater Sieg-
mund Lautenburgs zu Berlin: Max Halbes „Zugend“ erlebte ihre Premiere. Kaum einer
von allen denen, die dieſer frühlingsſonntäglichen Aufführung beiwohnten, wußte etwas über
den jugendlichen Verfaſſer und über die vielen Enttäufchungen, die feine ſiebenundzwanzig Jahre
ſchon umſchloſſen; und keiner der Freunde, der nach dieſem ftürmifchen Theatererfolge dem Dich-
ter eine glänzende dramatiſche Laufbahn prophezeite, hat Recht behalten. In Halbes Leben iſt
jener 23. April 1893 ein Sonntag geblieben — und die Lebenswoche hat viele Alltage.
Alltag war ſchon ſeine Kindheit geweſen, ſonnenloſer Alltag droben im dörflichen Guettland,
im Werder der Weichſel, über das vom Meere her die Stürme gehen, über das blau und fil-
douettenhaft die alten Türme von Danzig ſchauen und durch deſſen endloſe Weite Winters der
Eisgang donnert und ſchollert. Das Kind einer disharmoniſchen Ehe — und ſelber früh voller
Dis harmonien. Das Elternhaus verödete, als mit dem beginnenden Kulturkampf die Pro-
teftanten der Gegend die katholiſche Familie Halbe geſellſchaftlich boykottierten. In dieſer
Umgebung wuchs der Knabe heran, einſam innerlich und duferlid, mit dem Schweine
jungen als einzigem Spielgefährten, zudem ſchon zeitig, allzuzeitig von den Leidenſchaften
der Wut und des Trotzes gezauſt. Wilde Gymnaſiaſtenjahre in Marienburg, im Schatten
des alten Oeutſchordensſchloſſes, folgten. Verbummelt, duͤſter und menſchenfeindlich, bei Mit-
ſchulern und Lehrern als „Anarchiſt“ verſchrieen — die Novelle „Dr. Sieverings Heimfahrt“ be-
richtet davon — verließ der noch nicht Achtzehnjaährige im April 1883 die Schule. Es war, als
könnte er die Heimat gar nicht weit genug hinter ſich laſſen. Heidelberg, die Feine, ward erſte
Station auf der Lebens fahrt, für zwei juriſtiſche Semeſter, die gleichwohl auch unterm Sterne
des großen Mannes an der Alma mater ſtanden: Kuno Fiſchers ... und, last not least, des vor-
trefflichen Martgrdflers, von dem der junge, [hon in Marienburg dem Alkohol nicht abgeneigte
Studioſus auf feiner Bude ein ganzes Siebzigliterfaß in der vorgeſchriebenen Zeit bewältigte.
Literatur? Sie war damals noch nicht ernſtlich über den Lebenshorizont getreten, obwohl im
Heidelberger „Frühlingsgarten“, den ſpäter, viel ſpdter die gleichnamige Novelle verklärt auf-
erſtehen läßt, hie und da ein Gedicht aufblühte, wie in der fo ganz anderen Atmofphäre der
Schule ein paar kecke Satiren von der Lippe geſprungen waren. Lebensmacht wurde ſie erſt, als
Halbe ein Jahr ſpaͤter nach München überſiedelte: hier geriet fein irrendes Lebensſchifflein als-
bald in ſtuͤrmiſch gehende vorrevolutionäre Wogen. Franz Held, den man um ſeiner kühnen
Neuerungsverſuche willen den Georg Kaiſer feiner Zeit nennen könnte; Gottheil-Chriftaller,
der Verfaſſer der „Ariſtokratie des Geiſtes als Löſung der ſozialen Frage“; Ludwig Scharf, der
Sänger der Tſchandala-Lieder; der fpdtere Abgeordnete Schönlant, damals Redakteur der
„Münchener Poſt“ und zugleich ſtadtbekanntes Original, der zum Gaudium der Münchener ſeine
frugale Abendmahlzeit auf den Stufen der Staatsbibliothek einzunehmen liebte: das war der
Raz Halbe 57
Kreis des jungen Studenten — der hier im Übrigen feiner Fakultät entlief und zur Germaniftit
überging, um Moritz Carridre, den großen W. H. Riehl und den alten Bernays zu hören, Friedrich
Hebbel, Heinrich von Kleift, Otto Ludwig waren feine geiſtige Nahrung; indem er an ihren
Felſen ſchlug, begann ihm ſelbſt die dramatiſche Ader zu rinnen. Im September 1884 wurden bie
erſten Szenen zum „Emporkömmling“ geſchrieben.
Man lebte leicht und luſtig, allzuleicht und allzuluſtig in der Münchener Boheme. Nach einem
Jahre dieſes Treibens hatte der weſtpreußiſche Bauernſohn das ſtark ans Gewiſſen pochende Ge-
fühl, daß er abermals am Rande des Verbummelns ſtand. Geſunder Inſtinkt trieb ihn hinweg.
er ſchnuͤrte fein Rangel und zog nordwärts, nach Berlin. Das quartier latin wurde neuer Lebens-
ſchauplatz — das Haus in ber Brunnenſtraße Nr. 4, wo er wohnte und bald die ſpaͤtere Gattin
kennen lernte, zehn Jahre ſpater heiterer Schauplatz der Komödie „Lebenswende“.
In Berlin ſattelte er zum zweiten Male um. Geſchichte war das Fach, das ihn nun lockte, und
die Papſtgeſchichte fein befonderes Lieblingsgebiet. Ihr entnahm er das Thema zur Ooktor-
Miertation: „Kaiſer Friedrich IL und fein Verhältnis zu den Päpſten feiner Zeit“. Die Dor-
erbeiten wurden in Berlin angefangen — Weiterarbeit am „Emporkömmling“ und feine fchließ-
ide Beendigung gingen nebenher, und nebenher ging ein reger Verkehr mit dem Haufe Mar-
ſchalk, das, gleichfalls aus dem Danziger Werder entſtammend, ſpäter der „Voſſiſchen Zeitung“
den glänzenden Mufittrititer — und Gerhart Hauptmann die zweite Gattin gegeben hat. Dort
lernte er den Maler Walter Leiſtikow kennen, dort führte er den jungen Naturburſchen Emil
Etrauß ein, mit dem er gewaltige Nachtmärſche in die Berliner Umgebung machte. An Lite-
tatiſchem brachte die Zeit einen größeren Aufſatz über Ibſens „Frau vom Meer“, den Michael
Georg Conrabs aufrühreriſches Kampfblatt „Die Geſellſchaft“ druckte, wo bald auch die erſten
dichteriſchen Arbeiten des jungen Autors eine Heimſtätte finden ſollten. Dieſen Aufſatz ſandte
galbe an den damals, noch unberühmt, noch kaum bekannt in Erkner lebenden Gerhart Haupt-
mann: die Antwort war ein Exemplar des Schauſpiels, das bald darauf die kuͤnſtleriſche ä in
einen heißen Streit der Meinungen ftürzen follte: „Vor Sonnenaufgang“.
Aber ehe noch mit der ftürmifchen Aufführung dieſes Stüdes die große Epoche des Naturalis-
mus begann, hatte Halbe Berlin bereits wieder den Rüden gekehrt und ſich abermals nach Mün-
chen gewandt, wo er, Hörer Grauerts und Heigels, den philoſophiſchen Doktorhut erwarb, im
übrigen aber, Mitglied des Kreiſes um Conrad und Conradi, ſich ſchon durchaus als Juͤngſt-
deutſcher fühlte. Das dauerte zwei Jahre.
Dann tauchte, den Kopf voller dramatiſcher Ideen, der Vierund zwanzigjährige wieder in
Berlin auf. Wun lernte er auch Hauptmann kennen — in deſſen Wohnung in der Schlüͤterſtraße,
und in Geſellſchaft Otto Brahms, an jenem denkwürdigen Abend, an dem die Aufführung von
‚Bor Sonnenaufgang“ in der „Freien Volksbühne“ beſchloſſen wurde. Wie für das ganze
Süngfte Deutſchland begann an jenem Tage unter dem ſtarken Eindruck des Stücks auch für
galbe die rein naturaliſtiſche Epoche, — die lange Zeit Licht und Schatten über den Lebensweg
des Dichters werfen follte.
Der erſte Tribut, den er der neuen Kunſtrichtung zollte, war das 1890 beendete Schauſpiel
Freie Liebe“ mit dem Untertitel: „Szenen junger Leute von 18%“. Der Stern Hebbels, der
noch über dem „Emporkömmling“ geleuchtet hatte, war verblaßt, ein Eigenes, Selbſtändiges war
gefunden — und wurde von den Theatern prompt abgelehnt
Der Sommer 1890 ſah Halbe bereits wieder in München und als eifriges Mitglied des „Aka⸗
demiſch· philoſophiſchen Vereins“ und der „Geſellſchaft für modernes Leben“. Gumppenberg
md Schaumberger wurden die nddften Genoſſen, in ſtürmiſcher Anziehung lernte er Frank
Bedelind kennen, heftige Debatten bei tropfenden Kerzen in leergetrunkenen Weinflaſchen
hielten die Freunde oft bis vier Uhr morgens an den Marmortiſchen des Café Luitpold feſt.
Anderthalb Jahrzehnte war dieſer enthuſiaſtiſch-wechſelvollen Freundſchaft zu dauern be-
ſchieden.
58 Maz Halbe
Wieder ſchlug das Lebenspendel nach Berlin zuruck. Der Fünfundzwanzigjährige gründete
Familie und Haushalt: eine 8weizimmerwohnung in der Kulmſtraße wurde der Schauplatz erſten
Ehe- und Vaterglücks (denn 1891 wurde der erſte Sohn geboren, dem in kleinen Abftänden eine
Tochter und abermals ein Sohn folgten) — und ernſter Arbeit in dem frei gewählten und hoff-
nungsvoll vor dem jungen Stürmer und Dränger liegenden Beruf. Er ſtand nun auf eigenen
Füßen, und es galt für ihn, ſich durchzubeißen. Eine lange Novelle „Fertig“ wurde geſchrieben;
unter dem Titel „Oer Kämpfer“ ging fie ſpäter in die Buchausgabe über. Das ſoziale Drama
„Eisgang“, das feine Motive aus der weſtpreußiſchen Heimat ſchöpfte, entſtand raſch, während
die freundſchaftlichen Beziehungen feines Verfaſſers zu Otto Erich Hartleben, Wilhelm Bölfche,
Bruno Wille, Richard Dehmel und dem ganzen Friedrichshagener Kreis ſich anſpannen, in dem
gelegentlich auch die fauſtiſche Geftalt Strindbergs auftauchte. In Friedrichshagen las Halbe vor
den Freunden und außerdem vor den beiden Volksbühnengewaltigen, den Brüdern Heinrich
und Julius Hart, fein Stück zum erſten Male vor, und die Aufführung in der „Freien Volksbühne“
wurde ins Auge gefaßt. Zum erſten Male, nach vielen Enttäuſchungen, eroberte ſich alſo ein
Drama des jungen Oichters die Bretter, und wenn es ſich auch darauf nicht halten konnte, fo
gab doch die Aufführung ſeinem Verfaſſer manchen nützlichen Wink für die Bühnenwelt und
ihre nur im Rampenlicht ſich entſchleiernden Geſetze; und obendrein gab fie ihm als ſchönſtes
Geſchenk die Lebensfreundſchaft mit dem damaligen Regiffeur, J. ©. Stollberg, der nachmals,
als Direktor des Muͤnchener Schauſpielhauſes, manchem Halbeſchen Stück, fei es mit Segens-
ſpruch, ſei es mit der Geburtszange, ans Licht der Theaterwelt verholfen hat.
Gleich nach der Aufführung, befeuert von dem noch nachhallenden. Bühnenerfolge, gereizt
auch durch manchen Widerſpruch der Kritik, warf ſich Halbe auf einen neuen dramatiſchen Plan.
Wie beim „Eisgang“ bot die weſtpreußiſche Heimat die Menſchen und den Schauplatz. In zwei
Monaten wurde das Stück niedergeſchrieben. Es trug den Titel „Im Pfarrhofe“ und wurze lte
in Eindruͤcken, die, neun Jahre früher, der junge Mulus auf einem Verwandtenbeſuch beim alten
Pfarrer Rompf in Griebenau nahe Thorn gewonnen hatte. In der Literatur- und Bühnen
geſchichte aber lebt es und wird es leben unter dem Titel „Jugend, ein Liebesdrama“. Paradox
und faſt humoriſtiſch erſcheint es, daß dieſes Werk, noch heute eines der meiſtgeſpielten deutſchen
Schauſpiele, ehe es das Licht der Rampen erblickte, eines der meiſtabgelehnten Stucke geweſen
iſt und daß ein Theaterdirektor — wir wollen den Namen mit dem Mantel chriſtlicher Liebe
decken! — in feinem Ablehnungsbrief wortlich ſchrieb: „Ein Bühnenerfolg iſt nahezu aus
geſchloſſen“!
Den Sommer nach der Beendigung des Werkes verlebte Halbe mit feiner Familie, im heiter
ländlichen Genuſſe der neugewonnenen Freundſchaft Otto Julius Bierbaums, in Amerland am
Starnberger See; von hier aus gingen die Abſchriften ſeines Schmerzenskindes an die Theater;
kanzleien, und hierher kamen fie, eine nach der andern, wie Bumerange zurüdgeflogen. Des
Dichters beſorgte Gattin ſtellte ſich allmorgendlich vor der Poſtſtation auf, um den Briefträger
„abzufangen“ und dem nervös und nervöſer werdenden unglücklichen Autor die neue Enttäu-
ſchung moͤglichſt ſchonend beizubringen.
In Leiſtikows Berliner Atelier las Halbe, nach der Reichshauptſtadt zurückgekehrt, das Werk
Emanuel Reicher vor, der damals gerade ein Stück für die Wiener Theaterausſtellung ſuchte;
auch Hartleben und Ludwig von Hofmann waren dabei. Doch die Sache kam auch diesmal nicht
zuſtande, die martervolle Wartezeit begann von neuem. Inzwiſchen entſtanden dem unermüdlich
arbeitenden Dichter die erſten Szenen zum „Amerikafahrer“. Endlich zeigte ſich ein Lichtblick:
durch die Freie Volksbühne war Halbe in Verbindung mit Rudolf Rittner, dem nachmaligen
erſten Darſteller des Florian Gener, gekommen, der die Handſchrift dem in allen Waſſern und
Laugen des franzöſiſchen Schwankes gewaſchenen Intendanzrat Siegmund Lautenburg, Ritter
vieler Orden, übermittelte; und Lautenburg erklärte endlich gnädig, daß er das Stüd ſpielen
wolle — unter gewiſſen Kautelen allerdings: er könne die Aufführung nämlich nur wagen, wenn
Maz Halbe 59
fein naͤchſter frangdfifher Schwank im Reſidenztheater einen mittleren Erfolg habe; habe er
namlich großen Erfolg, fo fei an ein neues Stüd nicht zu denken — und habe er keinen Erfolg,
jo miiffe ſofort ein neuer franzöſiſcher Schwank die Scharte im Hauptbuche auswetzen. Von fol-
chen Vorbedingungen alſo hing das Schickſal eines Stüdes ab, das nachmals zahlloſen Theater-
direktoren beſſer als alle franzöſiſchen Schwänke die Kaſſen gefüllt hat!
Im März 1893 war es, daß Hauptmanns „Weber“ mit ungeheurem Erfolge zum erſten Male
geſpielt wurden. Mit geballten Fäujten ſaß Halbe, der warten, warten und nochmals warten
mußte, im Haufe feines Schwiegervaters in Oerben a. d. Elbe: alle kamen fie dran — wann
würde denn einmal ſeine Stunde ſchlagen ?!
Sie ſchlug ſchnell und ganz unvermittelt. Sonntag, den 16. April lieſt der ahnungslose Dichter
zufällig in der Zeitung, daß die Proben zu „Jugend“ begonnen hätten und daß die Aufführung
auf den 23., naͤchſten Sonntag alſo, feſtgeſetzt fei. Er eilt nach Berlin und findet die Vorberei-
tungen bereits in vollem Gange. Lautenburg felbft, der geringes Vertrauen zu der Sache hat,
halt ſich abſeits und greift erſt bei der Hauptprobe mit feinen erfahrenen Händen ein. Und dann
tommt jene Aufführung mit Rittner, Jarno, Biensfeldt und der herrlichen — bisher überall ent-
laſenen — Vilma von Mayburg als Annchen, kommt jener erfte große Erfolg, von dem ſpaͤter
der alternde Dichter ſelbſt melancholiſch rüdblidend bekannte, daß er ihn „ſchwer errungen und
teuer bezahlt“ hat.
Gott weiß, aus welchen vertraglichen Gründen Lautenburg das erfolgreiche Stüd nach ſieben
Aufführungen abſetzte! Erſt im Oktober besfelben Jahres wurde es im „Neuen Theater“ wieder
aufgenommen und erſt zwei Jahre, auf den Tag, nach der Premiere im Refidengtheater begann
es, von der Bühne des Brahmſchen „Oeutſchen Theaters“ aus, ſeinen eigentlichen Siegeszug.
Kaum daß die Woge ihn emporgehoben, glitt Halbe wieder ab. Ein Schwank in Knittelreimen,
der ſchon während der Wartezeit begonnene „Amerikafahrer“, erlebte dreiviertel Jahre nach
dem Erfolg der „Jugend“, am 3. Februar 1894, einen Durchfall ohnegleichen. Der ſchwer ent;
täufchte Dichter ging auf eine längere Reife, die ihn über Hamburg und Bremen, über Köln,
Wiesbaden, Frankfurt und München nach Zurich und ſchließlich an die Riviera führte. Neues
Müßgeſchick harrte dort feiner: das Manuſkript eines Romans, den er in Amerland, auf einen
Vorſchuß des Verlegers S. Fiſcher hin, zu ſchreiben begonnen hatte (und aus dem die Künftler-
geſchichte „Ein Meteor“ ein Bruchſtüͤck iſt) wurde ihm geſtohlen. Auf der Rüdreife fand er am
Bodenfee, in Kreuzlingen, ein ſchöͤnes Landhaus, das es feinem Herzen antat. Der Abſchied von
Berlin, der Stätte fo vieler Enttäuſchungen, war leicht beſchloſſene Sache. An feinem alten
Schickſalstage, dem 23. April, elf Jahre nach der Jugendpremiere, ein Jahr vor der Wieder-
aufführung im „Oeutſchen Theater“, zog Halbe mit den Seinen in Kreuzlingen ein.
Es war eine glückliche und doch auch nicht glückliche Zeit, die der ſchwer kämpfende Dichter
an dem fchönen, rebenbekränzten, obſtbehangenen Ufer des Schwäbiſchen Meeres verlebte. Be-
denkliche Nervenzuftände leiteten eine böfe innere Kriſis ein. Menſchliche Konflikte bedrängten
ihn: er trennte ſich von feinem Verleger S. Fiſcher; durch Vermittelung Paul Schlenthers fan-
den ſeine Werke bei Georg Bondi eine neue Heimſtätte. Anderes kam hinzu: das Drama, mehr
noch bas Theater hatte ihn vielfach enttäufcht, mit Macht zog es ihn zum epiſchen Schaffen.
Unter dem milden Stern Gottfried Kellers entſtand allerlei Proſaiſches, aber die Kraft reichte
nicht aus, es blieb Bruchſtüͤck, es blieb liegen. Der Plan zum „Tauſendjährigen Reich“, der hier
entworfen wurde, war des Dichters Echo auf den magiſchen Lockruf des Theaters, der in feiner
Beuft nicht verſtummen wollte. Er verließ die Seinen und ſtürmte, von Unraſt gejagt, nach Ber-
lin, nach Wien. Schließlich brach er ſein Gezelt in Kreuzlingen ab und zog am 14. März 1895 in
München ein — das ihm nun für immer zweite Heimat wurde.
Das Tauſend jährige Reich“ war liegen geblieben, wie fo vieles, wie faſt alles aus jener Zeit;
die Komödie, Lebenswende“ hatte es verdrängt. Ihr gehörte Halbes Arbeit während des Jahres
1895, und er mochte große Hoffnungen auf dieſes Kreuzweg und Übergangsftüd mit dem neu-
60 Mar Halbe
geſchaffnen Litelwort fegen, das gerade zu feinem dreißigſten Geburtstag fertig war. Am 21. Ja-
nuar wurde die Komödie in Brahms „Deutſchem Theater“ mit Rittner als Ebert, mit Elfe Leh-
mann, Pauli Eberti, Emanuel Reider zum erſten Male gefpielt — aber die Aufnahme war,
nach des Dichters eignen Worten, „nur ſo zwiſchen Schlaf und Wachen“.
Große Niedergeſchlagenheit bemächtigte ſich Halbes, dem ſich, nach jähem Aufſtieg, der dra-
matiſche Erfolg nun ſchon zum zweiten Male hartnäckig verſagte. Wieder, wie ſchon in Kreuz
lingen, langte er in dieſer Stimmung nach epiſchen Stoffen, wieder nahm er ſeinen Roman auf,
wieder brach er ihn ab. War die Zeit ber epiſchen Reife noch nicht gekommen? Man könnte es
glauben, wäre nicht in jener Zeit eine Novelle entſtanden, die zu dem Beſten zahlt, was Halbes
Kunſt überhaupt gelang: die Oorfgeſchichte „Frau Mefed, ein wahres, den beiten Vorgängern
feiner Gattung nicht unebenbürtiges Kabinettſtück der Menſchengeſtaltung, Landſchaftſchilderung
und Stimmungsmalerei, das denn auch ſofort einen nachhaltigen literariſchen Erfolg einbrachte.
Und fo ſtark und lebenstrdftig war der Stoffkomplex, der ſich zu dieſer Erzählung verdichtete, daß
er, unmittelbar nachdem er in Zweig und Blüte geſchoſſen, noch ein zweites Reis emportrieb: den
Plan zu „Mutter Erde“.
Freilich kam es nicht ſogleich zur Ausführung dieſes großen Gedankens. Schwere Lungen-
entzündung warf den Dichter nieder, bange, lebensgefährliche Wochen vergingen, ehe die er-
loͤſende Kriſe eintrat. Auf einer weiten Reife, nach Italien, ſuchte er Erholung und die Kraft,
die zur Meifterung des weitſchichtigen Stoffes nötig war. Im Herbſt naͤchſten Jahres, am
18. September, erſchien „Mutter Erde“ zum erſten Mal auf dem „Oeutſchen Theater“, in einer
Beſetzung, die einzigdaſtehend und des ſtarken, dramatiſch-lebenskräftigen Werkes würdig war.
Die Hauptrollen trugen die erften Namen der naturaliſtiſchen Schauſpielkunſt: Elfe Lehmann,
Rudolf Rittner, Hermann Müller, Paul Biensfeldt, und auch die kleineren Rollen waren fämt-
lich mit Schaufpielern beſetzt, die nachmals zu Führern einer neuen theatraliſchen Generation
werden ſollten. Max Reinhardt ſpielte den Inſpektor Zindel. Der Erfolg war groß.
Aber auch diesmal wollte er Halbe nicht treu bleiben. Als der Dichter übers Jahr ſein erſtes
hiſtoriſches Schauſpiel, das Renaiſſancedrama „Der Eroberer“, auf die Bühne brachte, gab es
einen rieſigen Theaterſkandal mit wildgewordenen Parkettbeſuchern, die während der letzten
drei Akte faſt ununterbrochen ziſchten, johlten, lärmten, wieherten — und einigen Börfianern
fogar, die vor der Direktionsloge ausfpudten ...
Doch Halbe erlebte eine raſche Genugtuung. Das Schaufpiel „Die Heimatloſen“, deſſen Idee
ſich in feinem Hirn noch während der Aufführung des „Eroberers“, im Lärm der hitzigſten
Theaterſchlacht, geboren hatte, errang in derſelben Spielzeit, auf der ſelben Bühne, vor dem-
ſelben Publikum einen ſchönen Erfolg. Und das gleiche Jahr — 1899 — ſollte ſich dem Dichter
noch als beſonders produktiv erweiſen, denn es ſchenkte ihm endlich den großen Wurf des „Tau-
fendjabrigen Reiches“, das ſchon vor Jahren in Kreuzlingen zum erſten Male über den Horizont
getaucht war, und deſſen Uraufführung am Hoftheater München — Halbe kehrte nun zum erſten
Male den Berliner Theatern den Rüden — einen außerordentlichen Erfolg brachte.
Wieder war Halbe von den epiſchen Zielen, die er ſich geſtellt und zu denen er ſchon einen
glüdverheigenden Schritt getan hatte, abgedrdngt worden, und noch ein volles Jahrzehnt ſollte
es bauern, bis er den Weg zu ihnen zurück ſuchte. Ein Jahrzehnt, in dem es „bergauf, bergab,
im Reifedrang des Strebens“ ging. Das Schauſpiel „Haus Roſenhagen“ fand bei feiner Urauf-
führung in Dresden großen Beifall und iſt ſeitdem Repertoireftüd der deutſchen Bühnen ge-
blieben; „Walpurgistag“ wurde ebenbort lau aufgenommen. Der „Strom“, nächſt „Jugend“
Halbes bekannteſtes Drama, erneuerte noch einmal den alten Glüdsftern, und fein Erfolg, aus!
gehend von der Wiener „Hofburg“, ſchuf für den Dichter, innerlich wie äußerlich, eine neue
Situation. Die ſtark ſatiriſche „Inſel der Seligen“ wurde in München ausgeziſcht, das große
dramatiſche Gemälde des „Wahren Geſichts“ fand, unter Baron Bergers verſtändnisvo ller Lei-
tung, im „Deutſchen Schauſpielhaus“ in Hamburg freundliche Aufnahme. Und ſchließlich brachte
Max Halbe 61
1908 die Künftler- und Ehekomödie von den „Blauen Bergen“ in Berlin wieder einen unver-
hohlenen Mißerfolg. Da endlich brach der epiſche Strom, der lang aufgeſtaute, durch — es war
genau zehn Jahre nach dem „Tauſendjährigen Reich“.
Dies ganze Jahrzehnt hatte Halbe in München gelebt, wo ſich, beſonders ſeit der Jahrhundert
wende, um ihn, um den Grafen Eduard von Keyferling und um den eben aus der Parifer Der-
bannung zurüdgelehrten Frank Wedekind ein ſehr geſchloſſener Kreis geſammelt hatte. Diefe
drei Männer bildeten damals fo etwas wie einen Dreibund, der in allen künſtleriſchen Dingen
Münchens eine Art Diktatur ausübte, Alle drei ſtanden zu jener Zeit auf der Sonnenhöhe ihres
Lebens und in der Vollkraft ihres Schaffens: Keyferling ſchrieb in dieſen Jahren „Oumala“
und bie „Abendlichen Häuſer“, er war noch nicht von dem Siechtum befallen, das ihn fo bald an
die Matratzengruft feffein ſollte, und Wedekind brannte eben das Feuerwerk des „Marquis von
Keith“ ab. Damals, in dem erſten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende, ging es in Schwabing
nicht weniger leicht und luſtig her, als in den Tagen, da der junge Student dieſem Capua und
der Gefahr des Verbummelns entflohen war. Es war bie tolle Zeit der „Elf Scharfrichter“, mit
denen Halbe enge Verbindung unterhielt; es war die Zeit, da die Schwabinger Runft- und
Literaturkreiſe ſich nächtlicherweis auf den berühmten Kegelbahnen verfammelten, da Wedekind
allnachtlich bis zum Morgengrauen in der Torggelſtube zu finden war, da der Faſching mit feinen
lebens luſtigen Bals Parés in voller Blüte ſtand, die große Zeit des „Simpliziſſimus“, zu deſſen
Verleger Albert Langen Halbe in jenen Jahren überging. Wie ein Schatten fällt über dieſe Zeit
ein ſchwerer menſchlicher Konflikt mit Wedekind, der die alte Freundſchaft zerſtörte, und auch,
als er nach drei Jahren mittels einer etwas künſtlichen Verſöhnung beigelegt wurde, nur ver-
harſchte, nicht vernarbte.
1910 erfolgte der epiſche Durchbruch: Halbe ſandte feinen erſten großen Roman hinaus, „Die
Tat des Dietrich Stobãus“; und feds Jahre fpäter ließ er ihm einen zweiten mit dem Titel
230” folgen, der fo recht fein Lebensroman geworden iſt. Beide zeigen eine gereifte meiſterliche
Kraft der Geſichte, der Darſtellung und des Gedankens, wie fie leider nicht überall in gleichem
Maße in den in der Zwiſchenzeit entſtandenen Dramen — „Der Ring des Gauklers“ und „Frei-
heit“ — wirkſam ijt. Schuld daran mag wohl fein, daß der Dichter in dieſen Jahren eine lange
und ſchwere Nerventrife, mit ſchlimmen Zuftänden von Angſt und Verfolgungswahn, durchlebte,
die nur langſam verebben wollte und, als fie verklang, unmittelbar in den bald nach der Auf-
führung von „Freiheit“ losbrechenden Krieg mit feinen Sorgen und Schrecken einmündete. So
ift either Halbes Schaffen, das feinem Werke die Dramen „Schloß Zeitvorbei“, „Hortenfe Ru-
land“ und die Komödie „Kikeriki“ hingufiigte, ſpärlich und ohne den rechten Segen geweſen.
Vergeblich harren bis heute die vielen Freunde ſeiner in hohen Auflagen verbreiteten Romane
darauf, baf er aus problematiſchen Komoͤdienverſuchen den Weg zum Roman zurüͤckfindet, der
offenſichtlich feinem beſonderen Talent größere und breitere Wirkungsmoͤglichkeiten gibt als das
Drama und namentlich die Komödie. |
Denn gerade bie Romane und ein Werk wie „Frau Meſeck zeigen, daß Halbe ein echt deutſcher
Dichter im umfaſſendſten Sinne des Wortes iſt: kühn in Sturm und Orang, aufrecht in der Ge-
ſinnung, innig im Gefühl und im Verhältnis zur Mutter Erde, zart in den Naturſtimmungen,
ſtart im Erklingenlaſſen betörender Lebensmelodie. Den Glauben an die unſichtbaren Schidjals-
machte, an die Erde, die Liebe, die Jugend und das Glück hat in unferer Zeit kaum ein anderer
Dichter fo leidenſchaftlich und innig zu verkünden gewußt wie dieſer Sohn der weſtpreußiſchen
Scholle, deren großes, heute doppelt ſchmerzlich- zeitgemäßes Epos wir noch immer von ihm,
gerade von ihm erwarten und fordern.
Hans von Hülſen
5 Bruno Bauchs Hauptwerk
er Jenenſer Philoſoph Bruno Bauch hat vor 2 Jahren ein umfangreiches Buch er-
ſcheinen laſſen, das dem Gebiete der wiſſenſchaftlich-ſyſtematiſchen Philoſophie angehört
und den Titel „Wahrheit, Wert und Wirklichkeit“ trägt (erſchienen im Verlag von Felix
Meiner in Leipzig, 1923, VIII., 543 S.). Die große Bedeutung, die dieſem neueſten Werke Prof.
Bauchs innerhalb der Berdffentlidungen der philoſophiſchen Literatur etwa des letzten Jahr
zehnts zukommt, rechtfertigt es, wenn wir die Aufmerkſamkeit des im allgemeinen nicht fach;
philoſophiſch vorgebildeten Leſerkreiſes des Türmers diesmal auf etwas ſchwierige und ab-
ſtrakte Gedankengänge hinlenken.
Auf Grund des Titels könnte es den Anſchein gewinnen, als ob es ſich in dem vorliegenden
Buche um die Darftellung der drei in der Überſchrift bezeichneten ſpeziellen philoſophiſchen
Probleme handelte. In der Tat ſtehen die Wahrheitsfrage, die Wertfrage und das Wirklichkeits⸗
problem im Mittelpunkt der Unterfuchungen. Wie es aber in der Philoſophie ſtreng genommen
überhaupt keine Sonderprobleme gibt, ſondern jedes Sonderproblem in den Gefamtzufammen-
hang des Syſtemganzen hineingeflochten iſt und nur von dieſem aus Sinn und Bedeutung und
feine Löſung erfahren kann (im Gegenſatz zu den empiriſchen Wiſſenſchaften, in denen ſich
Einzelprobleme ſehr viel leichter geſondert behandeln laſſen), fo hat auch der Verfaſſer mit der
Herausitellung dieſer drei Problemkomplexe nichts anderes liefern wollen und können als
Bauſteine zur Errichtung eines ſyſtematiſchen Ganzen. Er hätte ſein Werk daher mit vollem
Recht einen Syſtemverſuch nennen können, ſofern das philoſophiſche Syſtem Vorausſetzung
und Ziel all feiner Unterfuchungen ift in dem Sinne, wie er ſelbſt zwiſchen hiſtoriſch in die Er-
ſcheinung tretenden Syſtemverſuchen und dem dieſen objektiv zugrunde liegenden Spftem-
ganzen der Philoſophie unterſcheidet.
Das philoſophiſche Syſtem iſt ein lebendiger Organismus, ein Gebilde von Fleiſch und
Blut, von Knochen und Muskeln, und vor allem mit einem Herzen, welches das Ganze durch-
waltet und durchpulſt. Dadurch unterſcheidet es ſich von dem bloßen Aggregat beliebig zufammen-
geſetzter Anſichten, aus dem man ohne Schaden einen Teil herausnehmen und einen anderen
dafür einſetzen kann. Bauchs Werk ift ein Syſtem von echtem Schrot und Korn, einheitlich und
organiſch geſchaut und gedacht; man fühlt den Pulsſchlag des Herzens und die volle Hingebung
der Seele nicht nur in feinen zentral gelegenen Teilen, ſondern bis in die peripheriſchen Aus-
wirkungen und Ausſtrahlungen hinein.
Was alſo die hiſtoriſche Orientierung angeht, ſo muß zuvor noch auf einen prinzipiellen Punkt
bingewiefen werden. Er betrifft die Kontinuität der geſchichtlichen Entwicklung, den Fort-
ſchritt des philoſophiſchen Gedankens von Syſtem zu Syſtem. Auch hierüber finden ſich in
dem Werke ſehr wertvolle und treffende Bemerkungen. Man hat die geſamte Philofophie-
geſchichte gelegentlich mit einem großen Friedhof verglichen, auf dem ſich ein Syſtemgrab an
das andere reiht, und man ftößt oft auf die ebenſo irrige wie weitverbreitete Anſicht, daß jeder
Denker eigentlich ganz von vorne anfangen müſſe, wenn er ſein Syſtem errichtet, daß jeder
Syſtematiker gleichſam in einem ſelbſtgezimmerten Gehäuſe ſitze, aus dem er nicht mehr heraus
könne und das ihn von jeder Berührung mit der Außenwelt abfperre. Solche Meinungen münden
dann meiſt in völligen Skeptizismus aus, in radikalen Zweifel daran, ob die Philoſophie über
haupt einen Sinn und eine Exiſtenzberechtigung habe. Daß dieſe Anſicht völlig verfehlt iſt und
als ſolche von jedem erkannt werden muß, der einmal tiefer in die Problemzuſammenhänge
der Geſchichte der Philoſophie eingedrungen iſt, dafür liefert gerade Prof. Bauchs vortreff
liches Buch den beſten Gegenbeweis. Auch die Philoſophie iſt und ſoll nichts anderes ſein als
ſtrenge und ernſte wiſſenſchaftliche Arbeit, die in einem kontinuierlichen Zuſammenhang
ſteht, wo ein Problem das andere aus ſich hervortreibt und ein Forſcher da weiterarbeitet, wo
der andere aufgehört hat. So gibt es in der Philoſophie ebenſo einen Fortſchritt wie in den
beſonderen Wiſſenſchaften, wenn dieſer auch nicht ſo ſichtbar und handgreiflich in die Erſcheinung
Sruno Bauchs Hauptwerk | 63
tritt und burch häufigere Rüdichläge und Seitenſprünge gehemmt und aus der geraden Bahn
herausgeworfen zu ſein ſcheint. Dies kann nicht anders ſein, wenn man unter Philoſophie wie
Kant, Hegel und ber Verfaſſer unſeres Buches nicht ein fertiges, zu irgend einer Zeit abgefchloffe-
nes und zu Ende gekommenes Gebilde, ſondern eine Aufgabe und ein Ziel verſteht, eine zu
erfüllende Zdee, der alle wirkliche, von Menſchen erdachte Philoſophie ſtets nachzuſtreben,
von ber fie jeweils ein Stuͤck an ſich zu reißen hat, damit dem Ziel wohl näher zu kommen, es
aber nie ganz zu erreichen vermag.
Von hier aus geſehen bedeutet es nun ſicherlich keine Schmälerung und Herabſetzung der
durchaus originalen und ſelbſtändigen Leiſtung des Verfaſſers, ſondern vielmehr gerade die
hoͤchſte Anerkennung derſelben als ſolcher, wenn wir jagen, daß hier im Anſchluß und unter
voller Berüdfihtigung und Verarbeitung des bisher im Rahmen des kantiſchen und neukantiſchen
Denkens Geleiſteten ein wirklicher Fortſchritt über dieſes hinaus erzielt worden iſt; hier iſt die
Kontinuität mit dem bisher Vorhandenen im beſten Sinne gewahrt und gerade deshalb iſt die
wiſſenſchaftlich- philoſophiſche Arbeit durch dieſes Buch um ein gutes Stück vorwärts gekommen.
Geſchichtlich aber fügen ſich die Unterfuchungen des Verfaſſers ganz allgemein in den weiten
Rahmen ein, den wir kantiſche oder Tranſzendental-Philoſophie nennen. Das ſchließt
nicht aus, daß auch wichtige Gedanken der griechiſchen Philoſophie, beſonders Platons, weiter-
gebildet und nach ihrem Durchgang durch den tranſzendentalen Grundgedanken und im Sinne
dieſes neu bearbeitet und fortgeführt werden; das ſchließt ferner nicht aus, daß auch Hegel
hier in irgend einer Weiſe aufgearbeitet iſt, weniger vielleicht durch unmittelbaren Anſchluß an
ſeine Problemſtellungen als in der allgemeinen philoſophiſchen Einſtellung überhaupt und
der methodifden Behandlung dieſer Probleme. Daruber wird fpäter noch zu reden fein. Inner;
halb des Neukantianismus ſteht Prof. Bauch der ſüdweſtdeutſchen Schule am nächſten,
was durch die Widmung des Werkes an Heinrich Rickert, den derzeitigen Führer dieſer Schule,
ſchon äußerlih zum Ausdruck kommt; aber auch von Lotze, dem dieſe Schule vieles verdankt,
{paren wir ftarfe Einflüffe, und ſchließlich ſtimmt der Verfaſſer in weſentlichen Punkten mit
Sedanken der Marburger Schule, alſo vor allem Hermann Cohens, überein. Gerade
dieſes Letztere ſcheint mir von beſonderer Wichtigkeit zu fein; es dürfte viel dazu beitragen,
dieſe beiden im Vordergrund ſtehenden neukantiſchen Schulen einander anzunähern und damit
zu gemeinſchaftlicher Arbeit zuſammenzuſchließen. Inſofern trifft ein lange vor dem Erſcheinen
dieſes Werkes geſchriebenes Wort Riderts auch heute noch den Nagel auf den Kopf, welches
ſagt: „Bruno Bauch zeigt, daß ſich Marburger Anregungen ſehr gut mit ſüdweſtdeutſchem
Denken vereinigen laſſen“. Aber es kann ſich bei der Aufzeigung derjenigen philoſophiſchen
Richtungen und Strömungen, an die des Verfaſſers Werk mittelbar oder unmittelbar anknüpft,
wie noch einmal beſonders hervorgehoben ſei, nicht um mechaniſch zuſammengeleſene Beftand-
teile aus verſchiedenen Syſtemen, alſo um ſo etwas wie einen eklektiſchen Synkretismus, handeln,
ſondern wir haben es hier mit einem ſtreng in ſich geſchloſſenen, wertvolle Gedanken verſchiedener
Schulen zuſammenſchweißenden, aus einem einheitlichen Grundprinzip organiſch entwickelten
Syftenwerſuch zu tun oder zum mindeſtens doch mit den forgfdltig und gewiſſenhaft aufge-
führten Grundmauern zu einem ſolchen. Denn daß hier drei zentrale, mit dem Ganzen des
Eyſtems innig verſchlungene Problemzuſammenhänge herausgegriffen und nicht in ihrer
Seſondertheit, ſondern vor allem in ihrer durchgängigen Bezogenheit aufeinander und auf das
Ganze bargeſtellt werden, darin liegt die in hohem Maße ſyſtembildende Kraft dieſes Werkes
bereits beſchloſſen. Wir haben es aber hier nicht mit einem vollabgerundeten Syſtemgehauſe
zu tun, in dem ſich ſicher und bequem wohnen läßt, alſo nicht mit letzten und endgültigen Feit-
legungen, ſondern der Charakter dieſes Syſtemverſuchs beſteht gerade darin, daß er der weiteren
philoſophiſch-wiſſenſchaftlichen Arbeit vollen Spielraum läßt, überall die Tore künftiger For-
ſchung weit offen hält und ſomit ſtreng genommen kein geſchloſſenes, ſondern ein „offenes
Syſt em“ im Sinne Rickerts iſt.
64 Bruno Bauchs Hauptwert
Daß der Verfaſſer nicht einſeitg auf eine ganz beſtimmte Schule oder Richtung feſtgelegt ift,
darin ſehen wir die beſondere Stärke feiner Poſition. Dies ſoll im folgenden kurz gezeigt werben,
indem wir aus der Fülle der behandelten Probleme und Fragen nur einige beſonders fruchtbare
und bedeutſame herausgreifen.
An den Unterſuchungen über das Problem der Wirklichkeit laſſen ſich Methode und Be-
handlungsweiſe des Verfaſſers beſonders deutlich aufzeigen. Die Empfindung iſt zunächſt das
wichtigſte Wirklichkeitskriterium, ſofern fie dasjenige Element im Problem des Erkennens
bildet, das uns in irgend einer Weiſe auf den wirklichen Gegenſtand hinweiſt, uns mit dieſem in
Beziehung ſetzt. Davon aber, daß der reine Senſualismus dieſes Problem in ſeiner ganzen
Komplexheit und Verſchlungenheit löſen könnte, kann allerdings nicht die Rede fein. Der Emp-
findung kommt lediglich die Aufgabe der beſonders deutlichen Stellung und Aufzeigung des
Problems zu. Sie gibt gleichſam nur den erſten Anſtoß dazu, daß das Wirklichkeitsproblem ein;
mal in ſeiner ganzen Problemhaftigkeit überhaupt geſehen werden kann. Und daß die Probleme
als Probleme überhaupt richtig geſehen und geſtellt werden, damit iſt gegenüber der Problem;
blindheit zahlreicher Richtungen der gegenwärtigen Philoſophie ſchon viel genommen. Philo-
ſophie ift eben ſchließlich nichts anderes als die Schärfung des Blicks für die Problematik des
Seins, als das Sichtbarwerden von Problemen und Problemzuſammenhängen, an denen das
naive Denken und z. T. ſogar die Einzelwiſſenſchaften mit gutem Recht ſorglos vorübergehen.
Bei der Empfindung können wir alſo nicht ſtehen bleiben. Die Wirklichkeit iſt vielmehr mit
dem objektiven Geltungszuſammenhang der Wahrheit ſelbſt unlöslich verbunden. Und gerade
weil fie vom ſubjektiven Denken des Individuums unabhängig iſt, ihm gegenſtändlich gegen ·
überfteht, muß fie vom objektiven Denken ihre Geltung empfangen, um überhaupt wirklich
fein zu können. So wenig fie mit der Wahrheit ſelbſt zufammenfällt, fo iſt fie doch nichts ohne
und außerhalb der logiſchen Geltung der Wahrheit. Sie iſt ſelbſt nichts anderes als eine tate-
goriale Geltungsform, die das Wirkliche als ihr Material in ſich einbezieht und damit dem Herr
ſchaftsbereich des Logos unterwirft. Schon hier finden wir eine bedeutſame Abweichung von
der ſüdweſtdeutſchen Schule eines Rickert und Laſk, die ein Wirkliches, Empfindungshaltiges,
bloß Gegebenes, alfo einen irrationalen, von der Ratio nicht umſchloſſenen Faktor außerhalb
des theoretiſchen Geltungsbereichs ſtehen laſſen und ſomit eine Sphäre irrationaler Geltungs-
ſtruktur prinzipiell anerkennen. Und zugleich ſehen wir, wie das Wirklichkeitsproblem mit dem
Wahrheitsproblem unlöslich verbunden iſt und ohne dasſelbe nicht einmal als Problem ſichtbar
wird, geſchweige denn einer Löſung entgegengeführt werden kann.
Dieſer Abſchnitt iſt beſonders charakteriſtiſch für die bohrende Tiefe des Gedankens, die dem
Verfaſſer eigen iſt. Nichts wird hier einfach hingenommen; in immer tiefere Schichten gräbt die
Pflugſchar des Denkens hinunter, immer weiteres Erdreich wühlt ſie auf. Wo ein neuer Begriff
auftaucht, wird er alsbald wieder in den Schmelztiegel der Problemhaftigkeit hineingeworfen
und darin von neuem aufzulöfen verſucht, nur um eine neue, tiefere Problemſtellung aus ſich
herauszutreiben. Manchmal wird an einem Punkte der Unterſuchung eine ſcheinbare Löſung
erreicht, aber alsbald zeigt ſich auch fie für den weiteren Fortgang als unzulänglich, ſtellt {ich
heraus, daß hier zwar ein Problem als Problem geftellt, aber noch keine Löſ ung ge funden if.
Ein Seilproblem kann losgelöft von den letzten Zuſammenhängen des Syſtems allenfalls
eine vorläufige Löfung finden. Die endgültige Löſung offenbart ſich erſt, wenn das Ganze des
Syſtems ſichtbar wird. „Die Wahrheit iſt das Ganze“, jo drückt Hegel dieſen Gedanken aua,
und daran werden wir in den vorliegenden Unterſuchungen ſtändig erinnert. Und ſo ergibt
ſich weiter, daß das Wahrheitsproblem mit dem Geltungsproblem in enger Beziehung
ſteht, und dieſes wiederum mit dem Wertproblem. Daher bietet erſt der 4. und letzte Tell des
Buches Ausblicke in diejenigen Regionen des philoſophiſchen Syſtemganzen, in denen die
einzelnen Probleme wie die Töne einer Melodie oder eines Akkordes zuſammenklingen und
ſomit erſt auf dieſer zuletzt erreichten Stufe ihrer Auflöſung entgegengehen. Hier kündigt ſich
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Samo Bauche Hauptwerk 65
auch das an, was id den „metaphyſiſchen“ Grundgedanken dieſes Werkes nennen möchte, fo
wenig auch ſonſt von Metaphyſik die Rede iſt, der Gedanke nämlich von dem alles durch;
dringenden Logos, aus dem die Wirklichkeit zeitlos entſprungen iſt und dem ſie als Ziel ihrer
zeitlichen Exiſteng wiederum zuſtrebt. Leider konnte gerade dieſer letzte Abſchnitt nur noch
ftiggenbaft ausgeführt werden; aber auch dies hängt ſicherlich mit der Selbſtbeſcheidung und
vornehmen Zurückhaltung des Verfaſſers zuſammen, die nur zaghaft und mit einer gewiſſen
Scheu an die letzten Dinge rührt.
Der 2. Teil beſchäftigt ſich mit den fundamentalen Strukturformen der Wahrheit und
gibt eine bis ins Einzelne ausgeführte Urteils- und Begriffstheorie; dieſer Abſchnitt be-
handelt alſo das eigentliche Gebiet der Logik. Wenn man heute noch in weiten Kreiſen unter
Logik nichts anderes verſteht als die traditionelle formale Logik mit ihrer Lehre vom Begriff,
dom Urteil und vom Schluß, die von Ariſtoteles ihren Ausgang genommen und von der
Rant geſagt hat, fie habe bis auf feine Zeit nicht den geringſten Fortſchritt über Ariſtoteles
bnaus gemacht, fo zeigen dieſe grundlegenden und ganz neue Ausblicke eröffnenden Unter-
ſuchungen, welche ungeheuren Fortſchritte gerade auf dieſem Gebiet die wiſſenſchaftliche Philo-
ſophie ſeit Kant in ſteter, zäher und unermüdlicher Arbeit gemacht hat. Wir ſtehen nicht an zu
behaupten, daß die Einſichten, die der Verfaſſer über die logiſche Struktur des Urteils und vor
allem des Begriffs gewinnt, zum Bedeutendſten, Tiefſten und Originellſten gehören, was
ſeit Hegels Logik in der philoſophiſchen Literatur zu Tage getreten iſt.
Der 3. Teil behandelt Fragen der Wiſſenſchafts- und Methodenlehre und ſchließt ſich
enger an die bekannten Unterſuchungen Riderts über die Methodologie der Wiſſenſchafts⸗
ftrutturen an. Aber auch hier ſteht der Verfaſſer durchaus ſelbſtändig den ſchon zur Genüge
behandelten Problemen gegenüber, und wenn er in den Ergebniſſen in vielem mit feinem Lehrer
übereinftimmt, fo gelingen ihm doch oft überrafchend neue und eigenartige Begründungen.
So wird z. B. der vielumſtrittene Gedanke der Wertbeziehung durch die ſcharfen, vielfach
über Ridert hinausgehenden feinen und feinſten logiſchen Unterſcheidungen m. E. bedeutend
geſtärkt und vertieft und die noch ſchwankende und oft mißverſtandene Poſition Riderts damit
weſentlich befeſtigt. Grundfaglid trifft gerade hier das oben erwähnte Wort Riderts zu: mit
der Marburger Schule verbindet den Verfaſſer der ſtreng durchgeführte Methodenmonismus,
die ſcharfe Herausarbeitung der Einheit aller wiſſenſchaftlichen Methode und Methodenſtruktur
aus der übergreifenden Geſetzlichkeit des Logos ſelbſt, von der die Naturgeſetzlichkeit der exakten
Wiſſenſchaften und die Wertgeſetzlichkeit der Geſchichts- und Geiſteswiſſenſchaften nur beſondere
Fälle find. Daß hiermit die neuen und fruchtbaren methodologiſchen Gedanken der ſüdweſt⸗
deutſchen Schule voll vereinbar ſind, das beweiſt das tiefe Verſtändnis, mit dem der Verfaſſer
in die logiſche Struktur der Geſchichte als der zum Beſonderen divergierenden, von allgemeinen
Momenten aber ebenſoſehr wie die Natur durchdrungenen Wiſſenſchaft der Wertgeſetzlichkeit
bineinblidt. Damit überwindet er einerſeits den ſchroffen Methodendualismus Riderts,
beſſen allzuſcharfe logiſche Grenzabſteckungen dem wirklichen Wiſſenſchaftsbetrieb nicht gerecht
zu werden vermögen, andererſeits die an der Mathematik und den mathematiſchen Naturwiffen-
ſchaften allzu einſeitig orientierten Gedanken Cohens und der Marburger, für welche eine
große Wiſſenſchaftsgruppe, nämlich die Geiſteswiſſenſchaften, überhaupt noch nicht für die
methodologiſch- philoſophiſche Beſinnung reif geworden war.
Diefe Überwindung iſt aber nicht eine Negierung der wertvollen Gedanken, an die der Ver-
faſſer anknuͤpft, fondern eine „Aufhebung“ im Hegelſchen Sinn der Aufbewahrung in einer
höheren Syntheſe. Und damit kommen wir zu dem, was wir am beiten als das ſpezifiſch Hegel
ſche Moment in der Grundeinſtellung des Verfaſſers bezeichnen möchten. Kant hat das Ge-
{aft der Kritik, d. h. des Analyſierens, Scheidens, Abſteckens der Grenzen und Bezirke vielleicht
etwas zu gründlich betrieben und nicht immer den Weg zum Zuſammenſchluß der fo getrennten
Glieder und Momente zurüdgefunden. Der philoſophiſche Srundzug Hegels dagegen, des
der Türmer XXVI, 1 5
66 eberhard Ege
größten Syſtematiſators in der Geſchichte des Denkens, liegt darin, daß er überall zur Ver-
einigung, zum ſynthetiſchen Zuſammenſchluß des vom Verſtande Getrennten und Zfolierten
weitergeſchritten iſt. Ohne die analytiſche Vorarbeit Kants wäre dies nicht möglich geweſen;
erſt nachdem das Verſtandesdenken ſeine Arbeit geleiſtet hatte, konnte das Vernunftdenken zur
Syntheſe emporfteigen. Ein ſolch Hegelſcher Grundzug liegt nun m. E. auch den Unterſuchungen
dieſes Werkes durchgängig zugrunde. Überall werden Gegenſätze und Alternativen ausgeglichen
und verſöhnt, überall wird nach der über- und umgreifenden Einheit geſtrebt, überall die zunächſt
gegeneinander iſolierten Momente und Faktoren wieder in einem höheren Begriff gufammen-
geſchaut und vereinigt. Inſofern wird man des öfteren an die dialektiſche Methode erinnert.
Wir können dies an einem Beiſpiel kurz zeigen. Einer der prachtvollſten Abſchnitte iſt der über
Rationalität und Irrationalität, ein wahrhaftes Meiſterſtück tiefdringender Denkanalyſe.
Während gewöhnlich das Rationale und das Irrationale als zwei ſich ausſchließende Bezirke
ſchroff einander gegeniibergeftellt werden, wird hier ein Begriff des Frrationalen gefunden,
der die Alternative rational- irrational übergreift und auch das Irrationale in die möglichſt
weit gefaßte Nationalität mit hineinbezieht. Ein ſchlechthin Irrationales, das gleichſam von
aller Vernunft verlaſſen wäre, iſt undenkbar; auch das Irrationale muß noch der Ratio als
dem Inbegriff der Möglichkeitsbedingungen des Oenkbaren irgendwie unterſtehen. Es iſt zwar
nicht, wie Hegel ſagt, ſelbſt vernünftig, wohl aber vernunftbedingt.
Damit iſt der Standpunkt des Hegelſchen Panlogismus oder, wie Laſk es nennt, der
Panarchie des Logos gewonnen, und der Begriff, deſſen Allgemeinheit die unendliche
Allgemeinheit iſt, iſt eben der Hegelſche Begriff, fo ſehr auch der Verfaſſer den Gedanken des
konkreten Begriffs abweiſt und an deſſen Stelle den das Konkrete beſtimmenden konkreſzenten
Begriff ſetzt. Damit ſoll der tiefliegende Unterſchied der beiden Begriffslehren nicht verwiſcht
werden, und es ſoll nicht gejagt fein, daß hier der Hegelianismus in irgend einer Form ein-
fach erneuert iſt, wohl aber, daß wichtige und grundlegende Gedanken in der Richtung nach
dieſem hin tendieren. Und damit tritt auch die Philoſophie Bruno Bauchs in jenen umfaſſenden
problemgeſchichtlichen Zuſammenhang ein, der heute bereits bei einer Mehrzahl von Denkern
ſichtbar wird, in jenen Zuſammenhang, in dem das Geiſtesgut Kants und Hegels in irgend
einer Weiſe ſich vermählt und damit vielleicht einer neuen Epoche der Philoſophie den Anſtoß
gibt. Dieſe Vermählung Kantiſchen und Hegelſchen Geiſtes, nicht ihrer zeitlich bedingten
Lehren, ſcheint uns, wenn wir die Zeichen der Zeit richtig deuten, das wichtigſte Ferment in
der kommenden philoſophiſchen Entwicklung zu ſein. Wir glaubten es auch am Grunde der
Syſtematik des Verfaſſers, wie fie in „Wahrheit, Wert und Wirklichkeit“ zum Durchbruch ge-
kommen iſt, deutlich zu erkennen, und deshalb bezeichnen wir dieſes Werk als im beſten Sinne
epochemachend, d. h. als in eine philoſophiſche Zukunft weiſend, in der Vergangenheit und
Gegenwart zu neuem Leben auferſtehen werden. Dr. Rudolf Metz
Eberhard Ege
talien hat Herrn Profeſſor Ege die ſchöne Villeggiatur, die er vorm Kriege in Vicovaro beſaß,
wieder zurückgegeben. Die „Reſtitution“ beſchlagnahmten Privateigentums iſt eins der
triibjten Nachkriegs kapitel. Das edle Amerika gibt wohl die Beſchlagnahme im kleinen frei, behält
aber von den feit 1917 aufgelaufenen Erträgen 75 Prozent als Proviſion zurück!
Wenn es Ege in dieſer Beziehung italieniſcherſeits gut ergangen iſt, ſo liegt das nicht etwa
an einer vornehmeren Geſinnung der Regierung dieſes Landes, ſondern an der Erinnerung, daß
man dort Ege ſehr viel verdankt, und an der Hoffnung, ihm, nach ſeiner Rückkehr in das alte
Heim, noch mehr verdanken zu können.
Eberhard Ege 67
Ege hat in der weiteren Umgebung von Vicovaro, dann auch im Neapolitaniſchen, in aller
Stille manche archaologiſchen Studien gemacht, manches alte Wertftüd entdeckt und der Negie-
tung erhalten, das ohne ihn vom Baͤuerlein oder Pfäfflein heimlich entfernt und über die Grenze
verkauft worden wär..
Das wird wohl der Grund fein, warum man ſich — nicht großmütig, ſondern einiger“
maßen — anſtändig gegen ihn zeigt, jedenfalls es ihm ermöglicht, fortan wieder die Hälfte des
Jahres dort zu leben und zu ſchaffen, wohin ihn fein Küͤnſtlerſchickſal nun einmal verſchlagen
hatte.
Auch in unſeren Tagen find die Romfahrer unter den deutſchen Rünftlern nicht ausgeſtorben —
ich erinnere nur an Greiner. Ege hat, wahrſcheinlich ohne es gerade zu ſuchen, dort den Nährboden
gefunden für mindeſtens die größere Hälfte feiner beſten Schaffensjahre.
Unbeſchadet mancher Figurenbilder, die er geſchaffen hat, und zahlreicher Bildniſſe, zu denen
er ſich hat bequemen müffen, iſt Profeſſor Ege mit ganzem Herzen doch nur Landſchafter geweſen.
Vor etwa zwanzig Jahren, kurz nachdem er ſich in Ztalien niedergelaſſen hatte, mag ihm eine
Neubele bung der heroiſchen Landſchaft vorgeſchwebt haben. Damals ſtand fie nicht eben hoch im
Anſehen. Aber unſer Geſchlecht erkennt ja in äſthetiſchen Dingen als höchſten Satz nur das
„variatio delectat“ an, und in bem tollen Taumel, der uns Schlag auf Schlag von einer „Wahren
Liebe zur anderen geführt hat, hat ſich das erneute Verſtändnis für die heroiſche Landſchaft
langſt wieder eingeſtellt.
Daß wir dieſes überhaupt verloren, liegt an dem Treiben der letzten Vertreter dieſer Gattung.
Das waren Meiſter in der Art des Joſeph Anton Koch, der in den ſchweren Zeitläuften, unter
denen er aufgewachſen war, nicht zur rechten Erkenntnis ſeines eigenen Gefühls gelangte.
Seinem Anlauf zur groß geſehenen Form und zur monumentalen Linie tut immer wieder der
nicht unterdrückbare romantiſche Hang Abbruch, den er von feinen Zeitgenoſſen übernimmt. So
ſtellt ſich eine Zwitterform ein, bei der Nleinliches, Maleriſches in ſtetem Widerſtreit mit Großen,
Maſtiſch-Zeichneriſchem liegt. Der ganze geiſtige Rampf des Tages ſchiebt die Nünſtler auf ein
falſches Gleis. Sie mißachten — gerade wie es unſere Jüngſten heutzutage taten und zum Teil
noch tun — das Handwerkliche zugunſten des Gedanklichen. So haben die Meiſter der heroiſchen
Landſchaft dieſer Epoche uns die Freude an ihr verleidet, weil in ihrem Werk vielleicht am aller;
ſtärkſten der klaffende Zwieſpalt zwiſchen Wollen und Können auffällt.
Aber es gibt die alte, wahrhaft ideale, heroiſche Landſchaft des Nicolas Pouſſin: gerade an die
haben wir ja wieder den Anſchluß zu finden vermocht.
Es war auch nicht einzuſehen, warum damals, als Ege das Problem aufgriff, ein Erfolg nicht
zu erzielen geweſen wäre. Trotzdem die naturaliſtiſche, impreſſioniſtiſch aufgefaßte Naturdar⸗
ftellung foeben einen gewaltigen Sieg errungen hatte, war dadurch eine Entwicklungsrichtung
auf unabſehbare Zeit doch keinesfalls feſtgelegt. Ja, nicht nur die große Fläche, die ſcharfe, klare
Weite, die edle Linie konnte einer wagen, wieder vorzuführen, es wäre nicht allzukühn geweſen,
wenn er ſich vermeſſen hätte, erneut mit Mythologie und Allegorie als Staffage zu kommen.
Veil eben die Welt am Auf und Ab, am ewigen Wechſel ihr Vergnügen findet.
Ege hat ſich zu feinen Zwecken nicht nur an eine aſthetiſch-klaſſiſche Auffaſſung gewagt, ſondern
fic auch auf hiſtoriſch-klaſſiſchen Boden begeben. Die große Landſchaft „An Homeriſchen Ge-
ſtaden“ iſt wohl die bedeutſamſte Probe dieſer Beſtrebung. Noch drängt ſich das Literariſche oder
rein Außerlich-Gedankliche nicht an das Licht des Tags. Um das Jahr 1903, in dem das Bild
entſtanden ift, war man doch noch zu ſehr an die Forderungen des Realismus gewöhnt, als daß
ein ernſthafter Maler es hätte wagen dürfen, uns das Begräbnis der Amme des Aeneas etwa
oder das Verſinken feines ſchlaftrunkenen Lotſen im Tyrrheniſchen Meer aufzutiſchen. So er-
blicken wir, ftatt einer Staffage aus der Aeneis, hier an deren hoͤchſt eigentlichen Stätte, nur ein
kam paniſches Rind, das, nebenbei gefagt, allein ſchon durch die Ungewohntheit feiner Erſcheinung
uns leiſe an die Antike gemahnt.
68 berhard Ege
Diele Fabre fpdter nahm Profeſſor Ege nochmals bie heroiſche Landſchaft auf. Es handelt ſich
faft um dieſelbe Kuͤſtenſtrecke, die Gegend in der Nähe des Raps Palinuro ſüͤdlich von Neapel.
Aber dieſes Mal ſteht in der vergiliſchen Hochebene die klaſſiſche Staffage in Geſtalt eines „Paris
urteils“.
Man kann das Bild nicht ganz verſtehen, wenn man nichts von einer Eigenheit des Landſtrichs
weiß. Oort gibt es gegen Abend, nach ſchon eingetretener Dämmerung, eine Art merkwürdigen
Rückfalls in ein Leuchten, das ſich einigermaßen mit dem wahren, echten Alpenglühen vergleichen
läßt. Schon iſt die Dunkelheit auf das Land gefallen, da glänzt der Himmel nochmals kurz in
ſilbrigem Schein auf. Es ijt, als ob dieſer vom Abendſtern, von der Venus ausſtrahle. Hieran
knũpft der Kuͤnſtler in feinem Werk. Die edle, großzügige Landſchaft liegt vor uns in gedämpften,
von keinen unmittelbaren Gonnenftrablen geftügten Tönen, aus denen die Haut der Liebes
göttin wie Perlmutter hervorſchimmert. Der Stern an ihrer Stirn wird wenigſtens den Kun-
digen ſogleich auf die Anſpielung leiten. Maleriſch belebt wird die Aufgabe noch durch den Gegen;
fat dieſer Geftalt mit dem ſtrotzend prächtigen Goldton des Rarnats der Hera und dem kũhl neu-
tralen Fleiſch der Pallas.
Bei der Wichtigkeit der Figuren — ſie ſind etwas über lebensgroß — treten dieſe ſo hervor,
daß das ganze Bild nun nicht mehr den Charatker einer ftaffierten, heroiſchen Landſchaft behält,
ſondern eines „Parisurteils“ mit etwas hervorgehobenem landſchaftlichem Hintergrund, zumal
in der Wiedergabe, bei der das Regelnde der Farbengebung wegfällt.
Schon um die Zeit des Homeriſchen Geſtadebildes pflegte Ege aber die Landſchaft auch in
einem anderen Geiſt, der derjenige werden ſollte, in dem ſeine ſchönſten Werke geſchaffen worden
ſind. Seinerzeit ſah ich zum erſtenmal mit Entzücken das Gemälde „Abend in einer römiſchen
Villa“: nun, da ich es nach Jahren wiedergeſehen, hat es ſogar einen noch viel größeren Eindruck
auf mich gemacht. Es iſt die klangreichſte und ſatteſte Symphonie in Grün, die ich kenne. Mit
einem beſonderen Feingefühl für die Reize der Gartenbaukunſt iſt der Ausſchnitt ſo gewählt,
daß er das Anheimelnde, Lauſchige des Baſſins mit ſeiner verwitterten Baluſtradeneinfaſſung,
inmitten der prächtigſten Bäume, die ſich rückwärts den ſteilen Abhang hinunterziehen, fefthalt.
Die glühendften Strahlen einer ſinkenden Sonne prallen voll auf die Rüdfeite der Hauptbaum-
gruppe, fo bak uns durch deren vorderes Laub hindurch ein fabelhaft leuchtendes Rot-Goldlicht
entgegenfunkelt. Je nach der Art des Baums und der Lage der nicht mehr unmittelbar von der
Sonne beſchienenen Blätter, wogt uns eine unendlich reiche Abſtufung von fein abgetönten
Srünen entgegen. Das Gemälde iſt ein koloriſtiſches Prachtſtuck, bei dem die Geiſtigkeit des Vor
trags dem blendend erfaßten und ausgeſtalteten Farben problem das Gleichgewicht hält.
Dieſes nun, die Freude an der berauſchenden Farbigkeit, iſt der eigentliche Ausgangspunkt der
ferneren Landſchaftsmalerei unſeres Meiſters.
Wenn man fo etwas lieſt, denkt ein jeder an Fortuny, Roffetti, Moreau, Unger und ähnliche
Künſtler, vor allen an Böcklin. Wie verſchieden iſt deren Kolorismus untereinander, und keinem
einzigen unter ihnen gleicht Ege! Seine Farbe erfüllt ihn ſo tief und ſtark wie irgendeinen, und
doch wüßte ich niemanden, bei dem ſie ſich ſo ungezwungen, ſo unprogrammatiſch gäbe, wie bei
unſerem Künſtler. Für Böcklin iſt die Natur eine Stütze nur inſoweit, als unbedingt notwendig iſt;
für Ege bleibt ſie immer die unumwundene Gebieterin. Vor einem Gemälde des erſteren hat
man ſtets den Eindruck, daß er in Farbe denkt; bei letzterem, daß er in Farbe ſieht. Es iſt, als ob
er es vermöge, einen dämpfenden Schleier, der auf allem ſitzt, hinwegzuziehen. Was unferem
Auge gebrochen erſcheint, verſteht er rein zu ſehen ! So bleibt bei ihm was blau iſt blau, was grün
grün, was rot rot. Aber die urſprüngliche Farbigkeit wird gleichſam geſteigert, und was uns
ſelbſt in der Wirklichkeit mehr oder minder trüb erſcheint, wird in ſeinem Kunſtwerk zu einem
leuchtenden Leben gebracht. .
In dieſem Geiſte hat Ege viele Motive aus der engeren und weiteren Umgebung von Vicovaro
in der Nachbarſchaft Roms — wo er ſich niederließ — und an der geliebten ſüdlichen Wefttafte
&berhard Ege 69
dtaliens gemalt; dann, als der Krieg ihn aus feinem ſchönen Beſitztum vertrieb, ſolche an ver⸗
ſchiedenen Stellen der Donau, des Allgäu und des Bodenſees.
Von der Farbigkeit durch Worte Mitteilung zu geben iſt ein ſchwierig Ding, ein Unding: zumal
in dieſem Fall, wo fie wahrhaft vollblütig durchgluͤht, aber, wie ich ſchon ſagte, gar nicht kaprizlös
iſt. Oft malt Ege auf einem roten Grund. „Rot iſt das Bett der Farbe“, ſagt Lenbach, denn jede
Farbe ſteht auf rot. Eges Untermalung beſteht aus einer dünnen, ſtarktonigen Fläche ohne Ded-
farbe, die nicht durchwächſt. So ſoll Gainsboroughs „Blue Boy“ gemalt worden fein. „Man
ſieht anders auf dieſem Grund; die Farben werden ſonorer, man ſieht ſie voller und bekommt
teine kalten, ſpröden Töne in die Augen.“ Manchmal, wann der Klang beſonders rauſchend war,
fand ich, daß der Künſtler den Mut gehabt hatte, hie und da kleine Fleckchen der Untermalung
einfach ungedeckt zu laſſen. Die roten Stellen trugen zum Funkeln der Farbe bei.
Eines der ſchönſten Bilder dieſer Gruppe iſt die „Welle“ vom Jahre 1904. Die Gegend iſt
wiederum die tyrrheniſche Rüfte. Seit Böcklin iſt nie wieder fo wäſſeriges Waſſer gemalt worden.
Faſt unbegreiflich iſt die Meiſterſchaft, mit der der Augenblicksmoment erfaßt und feſtgehalten
wird! Aber der Maler ſagt, er male gern die Bewegung, und ſo erklärt es ſich wohl, daß er ſie
fo gut erhaſchen kann. Daraus geht ſchon hervor, daß er, wie in einem Furor, ſchnell zu arbeiten
vermag. Bei der „Woge“ geſchah das in geradezu erſtaunlicher Weiſe. Das Bild, etwa dreiviertel
Quadratmeter groß, iſt in einer Stunde fertig geworden. Die Zeit drängte aber auch; denn ein
Sturm nahte heran, und zuletzt find der Künſtler und feine Frau noch patſchnaß geworden. Den
drohenden Sturm verewigt ſchon das Bild und das Braun des durch Regen geſehenen Sonnen-
lichts am Horizont, klingt mit dem Schwarzgrau der Gewitterwolken und dem unbeſchreiblich
Ihönen Grün der Woge zu einem mächtigen Akkord zuſammen. Wie ein großer Virtuos gar
nicht auf die Taſten ſeines Klaviers zu blicken braucht, ſah Ege beim Malen nie auf die Palette,
auf die feine Gemahlin die Tuben kaum raſch genug auszudrücken vermochte. Die Farben mifch-
ten ſich während des Malens auf der Leinwand. Aus ſolcher Ekſtaſe der Erfaſſung und ſolchem
Eifer des Handwerklichen heraus entſtand aber auch ein Werk von ſprühendſter Unmittelbarkeit.
Daß die echte Begeiſterung des Künſtlers, für den es äußere Schwierigkeiten nicht gibt, Eges
Seele erfüllt, zeigt nun auch feine neueſte Tätigkeit. Er iſt kein Jüngling der Sturm- und Drang-
jahre mehr: dieſe aber und diejenigen, die überhaupt nicht mehr arbeiten, verbreiten gern den
Satz, daß nur die Zugend im erſten Ungeftüm wirklich Großes ſchafft. Die Anſicht wird von der
Allgemeinheit unbe kümmert nachgebetet. Ze reifer man ſelbſt wird, deſto anfechtbarer erſcheint
einem dieſe Behauptung, und man fühlt: mag alles, was man geleiſtet hat, mehr oder minder
belanglos ſein, jedenfalls das, was man in der Zugend vor ſich gebracht hat, war keinesfalls das
Befte. Mit Genugtuung gedenkt man der berühmten Vorbilder. Oder möchte irgend jemand
wagen, den zwanzig bis dreißigjährigen Tizian und Rembrandt auch nur in die Nähe des, ge-
ſchweige denn über den fünfzig bis ſechzigjaͤhrigen zu ſtellen!
Ege hatte mir vieles Wunderfhöne gezeigt — das Allerbefte blieb aber doch bis zuletzt: feine
neueſten Bilder. Es find Hochalpenmotive, unter viel Beſchwer erreicht, nachdem mit laſtendem
Gepdd auf anſtrengenden Pfaden Höhen von zweitauſend und mehr Meter erklommen worden
waren. Man kommt aus normalem Spãtherbſtwetter, ſteigt ſich in eine tropiſche Rörpertemperatur
hinein und muß dann faſt bei Rältegraden malen! Die Jugend führt viel eher das große Wort im
Mund, als daß ſie die Liebe aufbrächte, die derartige Mühſeligkeiten ohne Murren auf ſich nimmt.
Meinem Gefühl nach hat ſich zum einen großen Hochgebirgsmaler, Segantini, nun ein zweiter
geſellt. Ege iſt in der äußeren Mache mit Segantini nicht vergleichbar. Er beſcheidet ſich bei der
unübertrefflich freien, aber im ſonſtigen üblichen Impreſſionstechnik. Ferner iſt er nie bedacht,
fo wie Segantini die Aufmerkſamkeit auf die beſondere Erd konfiguration des Hochgeländes zu
lenken. Wiederum iſt er minder pointiert und betont das rein Alpine weniger als man erwartet
hätte. Aber gerade wie Segantini, weiß auch er in wundervollſter Weiſe die Naturſtimmung in
kin Bild für uns einzuſchlie zen, und es trotzdem ganz und gar völlig zum Runftwerk zu geſtalten.
70 Georg Vollerthun
Im übrigen iſt es halt wieder etwas, über das ſich nicht reden läßt, iſt es die Apotheoſe der
Farbigkeit, um die es ſich hier handelt. Ein Dutzend und mehr ſolcher Naturſkizzen, aus der Ge-
gend um den Gepatſchgletſcher, habe ich geſehen, und jedes erfüllte einen mit geſteigerter Freude.
Dieſe Gemälde find aber nicht etwa Abſchriften. Der Meiſter kann die Natur gar nicht wie ein
Chronift aufnehmen. Das Auge feiner Seele empfängt fie von allem Anfang an ftilifiert, wenig-
ſtens unter dem Geſichtswinkel einer monumentalen Farbigkeit.
Von dieſen Alpenbildern hat der Künſtler verſchiedene nochmals in etwas größeren Maßen
„ausgeführt“, wenn ich mich fo ausdrücken darf. Ich hätte es nicht für möglich gehalten und ge-
wahrte nun doch, daß die Farbigkeit noch einmal geſteigert worden war! So etwas kann nur die
vollſte Reife leiſten; das bringt kein Zugendüberſchwang zuwege. Es iſt für jeden die größte
Gefahr, wenn er einen gelungenen Wurf zum zweitenmal vornimmt. Faſt nie gelingt es, denn
immer ſteht einem im Wege, daß man Ropift, wenn auch fein eigener iſt. Nur wenn die ſichere
Könnerſchaft es vermag, ſelbſt den Zauber der ſtarken erſten unmittelbaren Eingebung noch zu
verklären, wird eine noch größere Wirkung bezwungen. Nichts zeigt einem fo ſehr, wie ein der;
artiger Beweis von innerer Kraft, daß Eges Stern, trotz ſeiner fünfzig und etlichen Jahre, noch
nicht daran denkt, an Glanz einzubüßen. Prof. Dr. Hans Wolfgang Singer
Georg Vollerthun
Zu unfrer Muſikbeilage
; er weſtpreußiſche Tonſetzer Georg Vollerthun galt wohl den meiſten Muſikern bislang als
D einer jener feinen Stillen im Lande, die ſich eines Tages vom Tageslärm angeekelt in
Worpswediſche Einſamkeit zurückziehen, um auf die innere Stimme ſchoͤpferiſch zu lauſchen. Go
hat dieſer treffliche Künſtler nach langer Main zer und Barmener Theaterkapellmeiſtertätigkeit,
Pariſer Muſiklehrer- und Berliner Kritikerjahren ſich abſeits nach Biſſenmoor in Holſtein, dann
nach Strausberg bei Berlin geſchlagen, um ſich in einer ſtattlichen Reihe von Klavierliedern und
Duetten als bald wirkſamer, bald verſonnener Fortſetzer jener etwa freikonſervativ zu nennenden,
aber den gefunden Fortſchritt verbürgenden Richtung zu bewähren, die feiner guten Berliner
Schulung bei Tappert, Radecke und vor allem Gernsheim entſprach. Da überraſchte heuer der
nun Fünfzigjährige, deſſen Oper „Veeda“ (Raffel 1916) ſich infolge der Kriegsverhältniſſe
nicht voll hatte ausſchwingen können, die Öffentlichkeit durch den großen Münchner Erfolg ein es
zweiten Bühnenwerks, das allem Anſchein nach auch weiter feinen Weg machen wird: das Mufit-
drama „Island Saga“ nach einer wuchtigen Dichtung von Bertha Thierſch (Klavierauszug und
Textbuch bei Ad. Fürſtner, Berlin). Wir find ja gegen Edda-Stoffe trotz der Corneliusſchen
„Gunlöd“ und der Schillingsſchen „Ingwelde“ im allgemeinen etwas zurückhaltend geworden,
weil wir ſtets unkräftiges Wagner Nachfahrentum argwöhnen. Aber hier ſchwingt ein ſtark Eign es,
das wirklich — und zwar in unabläffig ſteigerndem Auftrieb bis zum prachtvollen Schluß — die
Merkmale des unbedingt Notwendigen trägt. Aus dem Ganzen ſpricht unverkennbar Arktiſches,
jener „blutige Nordlichtſchein“ etwa von Fbſens „Nordiſcher Heerfahrt“, man fpiirt in den eckigen
Tonreihen der Grundgedanken unmittelbare Verwandtſchaft mit den Urwikingern des Nordens.
Wir können in der Muſitbeilage (Lied der, Ardanna“ aus dem dritten Aufzug) notgedrungen nur
eine kurze Stichprobe geben, denn das Bezeichnendſte des ſchönen, ernſtgemuten Werkes ſind
ſeine weiträumigen, über grollenden Orgelpunkten brauenden Entwicklungen. Möge man felber
zum Klavierauszug greifen oder etwa der bevorſtehenden Weimarer Erſtauffuͤhrung offen en
Herzens beiwohnen. Prof. Dr. Hans Joachim Moſer
Weltregierer Eigennuz Der Breigabbau und feine Wider⸗
ftände - Frankreichs Schuldenpolitik und Churchills Kniff - Der
Pakt als Luftgeſchäft - Kriegerifche und kriecheriſche Pazifiſten -
Das „Nicäa der Ethik“?
a, wenn der Eigennutz nicht wäre, die auri sacra fames, die alle Sterblichen in
ihre niederträchtige Botmäßigkeit zwingt! Daß jeder genug haben will, das
it fein Recht. Denn der menſchliche Wille geht auf Selbſterhaltung. Meiſt will er
jedoch mit weniger Arbeit nicht nur leben, ſondern auch ſchwelgen, ſelbſt wenn der
Nächfte noch lange nicht genug hat. Die heilige Sehnſucht nach groß Fried’ ohn’
Unterlaß und dem Ende aller Fehden wäre erfüllt, wenn der Menſch dem Menſchen,
das Volk dem Volke aufhören wollte, Werwolf und Klapperſchlange zu ſein.
Vorläufig beherrſcht noch wie der Neid die Politik, fo die Konjunktur die Wirt-
ſchaft. Man nützt fie aus, um viel zu raffen, wenig dranzugeben. Ihr Lohn und
Preisgeſetz ſucht man wohl zu eigenem Vorteil zu biegen, ſchreit aber Hallo, ſobald
dann zum Vorteil der Geſamtheit auch einmal der Staat dazwiſchengreift.
Der Beſchluß des Reiches, auf einen Preisabbau zu drücken, iſt daher löblich,
aber ein heikles Unterfangen. Mit raſchen Ukaſen ijt da nichts geſchafft, und der Miß
erfolg der Kriegszwangswirtſchaft warnt vor neuen Wageſtücken. Es war ein So-
jialifierungsverjud, was indeſſen die Sozialdemokratie keineswegs abhielt, den
Fehlſchlag zum Sturz derer auszubeuten, die doch bloß nach ihren Rezepten gear-
beitet.
Aber geſchehen muß etwas. Das begütigende Freihändlerwort vom freien Spiel
der Kräfte hat wie immer verſagt. Die Preiſe klettern, und wir zahlen für des Leibes
Nahrung und Notdurft ſchon ein Drittel mehr denn vor dem Kriege.
Schlechte Kenner und ſcharfe Wühler unken bereits von der neuen Inflation.
Das iſt, wie wenn der Arzt bei einer Erkältungsgeſchwulſt gleich auf Krebs riete.
Denn gleiches Merkmal entſpringt noch nicht gleicher Urſache. Jetzt werden die
Waren teurer, damals wurde das Geld ſchlechter. Wir empfanden dies nur deshalb
als Teuerung, weil Löhne und Gehälter ſich der raſch ſinkenden Kaufkraft des Pa-
pierſcheins viel zu langſam anpaßten. Nicht in der Tat, ſondern nur für unſeren targ-
lichen Verdienſt wurden die Waren unerſchwinglich. Der währungsſtarke Ausländer
fand ſie ſogar ſpottwohlfeil und kaufte uns daher aus. Heute läßt er die Finger davon,
weil die Mark wertbeftändig ift; aber der Preis hoch. Er hat es zu Haufe billiger.
Woher nun dieſes vermaledeite Hochſchnellen des Brotkorbes? Wir danken es
zunächſt dem verlorenen Kriege und dem Verſailler Erpreſſerfrieden. Auf dem
Markte entrichten wir der Hökerin, am Ladentreſen dem Verkäufer unſren täglichen
Anteil an dem Tribut, den der Sieger uns aufpackte. Denn Erzeuger wie Händler
müffen Reparationsfteuern zahlen. Die Eiſenbahn hat ungeheure Überfchüffe heraus-
zuwirtſchaften; nicht ſie beſtimmt die Frachten, ſondern Herr Parker Gilbert, unſer
72 Zürmers Tagebuch
Reparationsagent und finanzieller Reichskaiſer. Das treibt natürlich die Preiſe.
Man ſchätzt dieſe Auflage auf 25 bis 40 vom Hundert. Zwar wurde ſie jetzt geſchickter
verteilt, und vom Nachlaß der Umſatzſteuer erhofft man allein ſchon einen Abbau
von 16 Prozent. Allein darüber müffen wir uns klar fein, daß die behaglichen Gage
der Vorkriegszeit gar nicht wieder erreicht werden können. Wer für Erfüllung
ſchwärmt, der ſtöhne daher nicht über Teurung. Aber wie das fo ift, gerade er zetert
am lauteſten.
Allerdings ſtehen die Preiſe weit über dieſem Unvermeidlichen. Von der Schieber-
zeit her ſitzen nämlich noch allerlei dunkle Zwiſchenhändler an der Warenſtraße und
erheben einen raubritterlichen Durchgangszoll. Vom Stall bis zur Bratenſchüſſel
geht das Schwein durch ſieben Hände, deren vier entbehrlich ſind, aber jede bezahlt
fein will. Hier gilt es auszuſchalten, und zwar durch rückſichtsloſen Konkurrenzkampf.
Unfere Induſtrie hat längſt keine Rücklagen mehr und braucht Kredite. Im ver-
armten Lande iſt das Geld knapp und muß daher ſchier wucheriſch verzinſt werden.
Die Hochfinanz trieb Plusmacherei; leider unter Vortritt der ſtaatlichen Inſtitute.
Es iſt ſomit ein Erfolg, wenn das Kabinett die Reichsbank zum Verzicht auf allerlei
Zins- und Gebührenſätze bewog, was die Privatbanken nötigt, ein gleiches zu tun.
Auch dies entlaftet das Gewerbe und wirkt aufs Billigerwerden.
Die Erzeugerkartelle haben ſich oft ungeſund überfpannt. Durch Abreden wurde
der Wettbewerb ausgeſchaltet und ein Richtpreis feſtgeſetzt, der höher war, als ein
redlicher Anſchlag geſtattete. Endlich will die Regierung kraftvoll durchgreifen und
tut recht daran. Gegen die Webſtoffinduſtrie hat fie bereits die Klage beim Kartell
gericht angeſtrengt. Möge dieſes nur ja ſchnell, alſo doppelt geben!
“ Aber auch der Arbeitnehmer krankt nicht minder an dem Übel kurzſichtigen Eigen-
nutzes. Er begegnet den Preiserhöhungen durch emporgeſchraubte Lohnanſprũche
und erzwingt dieſe oft auf dem Kampfwege des Streiks. Nie denkt er daran, daß er
damit dem Nächſten ins Fleiſch ſchneidet und ebenſo überquer von dieſem hinein-
geſchnitten wird. Denn hoher Lohn ſchafft hohen Preis. Der Tucharbeiter verteuert
daher dem Lohgerber den Anzug, dieſer ihm das Schuhzeug, der Bäcker allen das
Brot; der Maurer allen und ſich ſelber dazu die Wohnung. Nicht nur, daß der gh-
eoffte Vorteil alſo ſchwindet; es ſteigern auch Lohn und Preis einander bis zu finn-
loſer Höhe zum Schaden der geſamten Wirtſchaft. Geſunder Zuſtand bleibt ſtets ein
mäßiger, aber geſicherter Wochenverdienſt bei wohlfeilem Markte.
Der ſozialdemokratiſche Gewerkſchaftsführer lehnt dieſe Folgerichtigkeiten ab.
Sein Fach iſt nicht Wirtſchaftsfriede, ſondern Lohnkampf. Demgemäß wurde der
Zolltarif als preistreiberiſch verſchrien und im Reichstag mit den Mitteln der Ob-
ſtruktion befehdet. Der ausländiſche Arbeiter hat längſt erfaßt, welche Vorteile ihm
eine kluge Einfuhrſteuer bringt; nur der deutſche hält querköpfig wie ein amerifa-
niſcher Fundamentaliſt feſt an dem für ihn ſelber verheerenden Freihandel.
Sänken die Preiſe, ſo bewieſe dies die Nichtigkeit der erhobenen Einwände wider
den Tarif. Daß doch nur ja in Ehren bleiben die Parteiorakel und gerettet werden
die Fraktionsgötter! Teurung reizt überdies und iſt daher ein reißendes Werbe-
mittel für die Linksorganiſationen wie für Neuwahlen. Daher wird dem Preis-
bemühen der Regierung von vornherein jede Erfolgausſicht abgeſtritten; ja man
Türmers Tagebuch 73
lieft fogar, es fei nur Theatergeſte und höherer Schwindel. Um tätige Beihilfe an-
gegangen, wichen die freien Gewerkſchaften aus mit der Antwort, fie könnten keinen
Blankowechſel unterzeichnen. Iſt das Dienſt am Arbeiter oder Dienſt am Schieber?
Kanzler Luther hat feierlich verſprochen, vom erſten Oktober ab den Preisabbau
mit allen Mitteln zu erzwingen. Ob es gelingt, iſt eine Frage; aber keine Frage ſollte
ſein, daß der Verſuch zu fördern iſt von jedermann, der es wohlmeint mit Reich und
Vaterland. So hat denn auch der Führer der chriſtlichen Gewerkſchaften, der Zen-
trums mann Stegerwald, der Regierung zugerufen: „Greif ridfidtslos in das
Weſpenneſt, du retteſt damit das deutſche Volk!“
* *
*
Unſerer Wirtſchaft ſitzt in der Tat das Meſſer an der Kehle. Im erſten Quartal
des Vorjahres gab es 218 Konkurſe, im gleichen Zeitraum 1925 hingegen nicht we-
niger als 3171 und nebenbei über tauſend Geſchäftsaufſichten! Seitdem hat ſich
die Lage immer mehr zugeſpitzt; man muß demgemäß auch für den Jahresdurch-
ſchnitt auf eine Verzwanzigfachung rechnen.
Trotzdem ſagt man draußen, uns könne es gar nicht vortrefflicher gehen! Durch
den genialen Spitzbubenſtreich der Inflation hätten wir unſere Gläubiger um ihr
Geld gebracht und ſeien nun der einzige Staat Europas ohne Staatsſchuld. Daß
dieſe Seiſachtheia uns drei Viertel unſeres Wohlſtandes koſtet und Dawes uns die
Haare vom Kopfe frißt, davon ſpricht man lieber nicht. ö
Oieſer vorgeblich glänzenden Lage des ſchuldbefleckten Oeutſchlands ſtellt die
Pariſer Preſſe den troſtloſen Stand des unſchuldigen Frankreichs augenblendend
gegenũber. Wenn es darauf ankommt, verſteht jeder Franzoſe ebenſo meiſterhaft zu
ſtöhnen, wie ſonſt zu prahlen. Verweiſt man auf die dicktueriſchen Gipfelzahlen ſeiner
eigenen amtlichen Handelsbilanzen, dann wird das Geſtändnis nicht geſcheut, ſie
ſeien gefälſcht geweſen.
Dies Weh und Ach hat ſeine abgewogenen Gründe. England und Amerika haben
an die Kriegsſchulden gemahnt; ſeitdem empfindet man, daß die, wenn wir Deutſche
ſie treiben, ſo wohltuende Erfüllungspolitik doch auch recht rauhe Seiten zeigt,
ſobald ſie einem ſelber zugemutet wird.
Und wie groß ift doch der Unterſchied! Wir zahlen Tribute; auferlegt von er-
pteſſeriſchen Feinden unter Vorwand, Verleumdung und Wortbruch. Uns bindet
Zwang, aber keine Ehrenpflicht. Frankreich hingegen ſoll nur zurüderftatten, was ihm
bilfreihe Freunde vorſtreckten, als es im Rouge ou noir des Kriegsſpiels die erften
Einſätze verloren hatte. Spielſchulden aber find Ehrenſchulden.
Mit 623 Millionen Pfund ſtand man in der engliſchen Kreide, und London hatte
für das franzöſiſche Gegreine vorläufig ein verwünſcht hartes Ohr.
Allein der liſtige Finanzmann Caillaux verhandelte mit Churchill in dem düſteren
Beratungszimmer des Schatzamtes von Whitehall. Der franzöſiſche Sachverſtändige
verftand es, die engliſchen geſchickt auszuſchalten. Da der Miniſter ſelber keiner iſt,
verfiel er unter vier Augen rettungslos der wohldurchdachten Mache. Vor der ver-
ſpertten Türe hingegen ſaßen, wie Lloyd George lebendig erzählt, die wirklichen
Fachleute auf den Wartebänken und ſchäumten vor Wut.
74 Zürmers Tagebuch
Wieder einmal fiegte der franzöſiſche Zungenſchlag. England hat auf volle zwei
Drittel ſeiner Anſprüche verzichtet und zu alledem noch eine Stundung bis 1930
bewilligt.
Als Caillaux nach London abreiſte, drohte ihm die Pariſer Lärmpreſſe mit Stein-
würfen, wofern er dort zuviel verſpreche. Bei ſeiner Rückkehr hingegen trug ihn der
Straßenpöbel, der ihm vor acht Jahren die Standrechtskugeln zudachte, auf den
Händen als den Retter des Vaterlandes aus den Klauen des britiſchen Shylocks.
Die engliſchen Blätter aber find aufs höchſte vergnittert. Dieſes Milliarden-
geſchenk ſei ein Mißbrauch und unverdiente Nachſicht. Ein Land, das derart handle,
ſchrieb der „Star“, müſſe ſehr reich ſein oder ſehr leichtſinnig. Dem „Evening
Standard“ ſchwant, daß dieſer Edelmut von den Franzoſen übel belohnt werde.
Lloyd George findet es unerhört, daß ein nüchterner Staatsmann am hellichten
Tage derartiges zugeſtanden habe. Und es ſei wirklich erſt drei Uhr nachmittags,
alſo lange vor der Portweinſtunde geweſen.
Vielleicht iſt aber Churchill doch klüger als fie alle. Es könnte fein, daß er philo-
ſophiſch dachte, Schenken ſei beſſer als Borgen, da es höchſtens Undank einträgt,
während der Schuldner meiſt ſchnell zum Haſſer wird. Als ſolcher iſt Frankreich nach
Lage und Tücke beſonders unbequem. Tauſende von Luftbomben können auf Lon-
don niederhageln, ehe der Cockney überhaupt weiß, daß ſchon Krieg iſt. In Caillaux'
ſchmeichleriſchem Gebettel liegt daher auch eine verſchwiegene Erpreſſung.
Ihr begegnete Churchill mit Lift. Wie ſchon oft empfingen die Franzoſen hoch-
beglückt ein Etwas, das wie ein Demant glitzerte, aber in ihren Händen zu ſchmelzen
droht, da es nur ein täuſchend geſchliffenes Eisſtückchen iſt. Das nachſichtige Ab-
kommen gilt nämlich nur, wofern Frankreich aus Amerika einen gleichen Verzicht
herausholt. I
Die Union iſt der Großgläubiger aller; auch Englands. Deſſen Angſtgefühle vor
dem Schuldner teilt es nicht; es liegt ja behaglich abſeits der keckeſten Reichweite
franzöſiſcher Flugzeuge. Mögen ſie daher haſſen, wenn ſie nur zahlen. Man hat
plenty money vorgeſchoſſen, und die Kaufmannsader des Yantees wehrt ſich gegen
jeden anderen Gedanken als den ſchlanker Rückgabe mit Zins und Zinſeszins.
Erboſt vernahm Coolidge daher von jenem duckmäuſeriſchen Vorbehalt. Er durch-
ſchaut darin die vorweggenommene Bloßſtellung ſeiner beabſichtigten Hartherzig-
keit; einen moraliſchen Druck, ebenſo großmütig zu fein. Nicht bloß gegen Frank-
reich, ſondern auch gegen Italien, Belgien und — das großmütige England ſelber.
Denn das Tilgungsabkommen, das dieſes bereits ſchloß, war voreilig, daher un-
günſtig und bedarf einer freundvetterlichen Feile.
Hier liegt der Kniff. Was zuerſt herzlich dumm ausſchaute, wird, ſobald man es
richtig verſteht, ſogar ganz verwünſcht geſcheit. Wenn es gelingt, dann hat ſich Chur-
chill zugleich Frankreich verpflichtet, läßt ſich von Amerika die Koſten bezahlen und
ſteht dennoch vor der Welt in der gefälligen Poſe des offenhändigen Gentlemans.
Schlau wie der Plan iſt auch die Ausführung. Ein Spiel mit verteilten Rollen
wurde eingefädelt. Als erſten Vittſteller um Nachlaß ſchickte man nämlich Belgien
nach Waſhington. Ausgerechnet Belgien. Denn es konnte dort drüben auf warme
Gefühle rechnen. Es iſt ja das unglückliche Ländchen, das die Hunnen mitten im
‘Giiemers Tagebuch 75
Frieden überrannten, um Dome zu beſchießen, Bibliotheten einzuäſchern, fried-
fertige Bauern aufzuknüpfen und kleinen Kindern die Händchen abzuhacken. Poor
Belgium war alſo die leckere Lockſpeiſe für amerikaniſche Empfindſamkeit. Aus dieſer
heraus hatte ſchon während des Krieges Wilſon zugeſichert, daß die belgiſche Schuld
nicht aufs Kerbholz kommen ſolle.
Der Anſchlag glückte denn auch. Belgien braucht nur ſoviel zu zahlen, als ihm von
deutſchland gezahlt wird; zwei Drittel feines Solls werden friſchweg geſtrichen.
Doppelt ermutigt macht ſich nun Caillaux auf den Bittgang zum Potomac. Er
technet beſtimmt darauf, daß man dort auch für Frankreich ein hochſinniges Einſehen
haben und ſich mit der Mark begnügen werde, wo man den Taler hergab.
Aber die amerikaniſche Empfindſamkeit für die affogiierte Republik iſt ſeit Friedens-
ſchluß in ſtarkem ſtetem Schwinden. Hier kennt man den Stand der Kriegsſchuldfrage
beſſer als bei Belgien, und brummt daher unwirſch: „Wenn Poincaré partout an
den Rhein wollte, warum verlangt er dann gerade von uns die Auslagen?“
Geſchickt wie immer bereitet demungeachtet die Pariſer Preſſe den Vorſtoß vor.
Tief gekränkt ſchreibt fie, es fei höchſt unmoraliſch, daß Amerika die europäiſchen
Staaten zu langer Zwangsarbeit verurteilen wolle. Man ſollte fie drüben nachdrück-
lichſt an das „Was du nicht willſt, das man dir tu —“ erinnern, denn die deutſche
Zwangsarbeit hat das franzöſiſche Zartgefühl noch nie beſchwert. Die Union hält
jetzt Frankreich in der Hand. Denkt fie imperialiſtiſch, dann nimmt fie die franzöſiſchen
Antillen an Zahlungsſtatt. Will ſie aber wirkliche Weltbefriedung, wie immer betont
wird, dann kommt fie Frankreich nur ſoweit entgegen, als dieſes abrüſtet und uns
entgegenkommt. “ 4
*
Denn daran fehlt es nod immer. Als Briand in London eintraf, fand man dort,
daß er einem Maulwurf gleiche. Nun ja, fo erklärte man fich’s, er tut ja auch Maul-
wurfsarbeit.
Seine Paktnote an uns war zwar im Ton verbindlich, lehnte aber in der Sache
jede Verbindlichkeit ab. Wenn etwas vereitelt werden foll, dann iſt eine artige Als-
ob-Taktik beim Diplomaten immer noch die Patentlöſung.
So tut man, als täte man. Zur Prüfung der Vorfragen des Paktes trafen ſich die
rechtskundigen Vertreter. Sie kramten ſehr freundſchaftlich miteinander und ſtellten
zum Beiſpiel feſt, was eine flagrante Verletzung ſei. So geſchickt walteten ſie ihres
Auftrages, mit klugen Worten wenig zu ſchaffen, daß, als ſie ſchieden, ein engliſches
Blatt als tatſächliches Ergebnis nur zu berichten wußte: „Man kam zuſammen.“
Nach den fünf Zuriften ſollen fi nunmehr die fünf Außenminiſter an denſelben
Tiſch ſetzen. Aber auch Luther wünſcht dabei zu ſein und wahrſcheinlich kommt ſogar
Muſſolini. Er bat anfangs, die Konferenz möchte in Rom ſein. Unter Umſtänden
nũtzt er uns allerlei in Dingen, die für Italien Mus wie Miene ſind. Gegen die Fran-
zoſen am Rhein, mehr gegen die Polen, die er nicht leiden kann, an der Weichſel.
Vor kurzem nannte er die ganze Paktgeſchichte noch eine Affenkomödie. Wenn er
ſich jetzt dafür erwärmt, dann hat er einen Nagel entdeckt, von dem aus ſein italie-
niſches Seil gewunden werden kann. Mutmaßlich will er ſich die Brennergrenze
ſichern laſſen und den Anſchluß Oſterreichs hindern, wovor ihn Loebes Wiener Rede
76 Zürmers Tagebuch
aufs neue bange macht. So nimmt feine Rechte im Süden, was feine Linke etwa
im Weſten oder Oſten darbietet, und wird damit ein weiterer Koch, der den Brei
verderben hilft.
Trotzdem hört man immer die Zuverſicht, daß etwas zuſtande komme. Solange
für Frankreich der Verſailler Vertrag ein Monumentum aere perennius bleibt, kann
es freilich nur ein papierenes Dingelchen ſein. Etwa in der Form, die ein witziger
Weltbeobachter jüngft vorausſagte: Deutſchland verzichtet auf etwas, was es nicht
mehr beſitzt und mangels hinreichender Militärmacht auch in abſehbarer Zeit nicht
wieder nehmen kann. Es erhält daher als Gegenleiſtung von Frankreich und England
auch nichts zugeſtanden. Dieſer weltbewegende Vertrag wird von allen durch Unter
ſchrift aufs feierlichſte bekräftigt und in Senf hinterlegt.
Man ſoll doch nicht glauben, daß es Luftgeſchäfte nur an der Börſe gebe. Der
ganze Völkerbund iſt ein ſolches, wenn man ihn auf fein Programm prüft. Wirklich-
keit gewinnt er immer nur als S. m. b. H. zur Niederhaltung Deutſchlands.
Wir ſollen jetzt eintreten. Aber ohne Vorbehalt. Denn Ausnahmen könnten nicht
gemacht werden. Sind ſie denn nie gemacht worden? Sowohl die Schweiz wie
Irland lehnten die Bindungen desſelben Artikels 16 ab, wogegen auch wir uns ftrdu-
ben. Man antwortete nicht, aber nahm ſie trotzdem auf. Es geht alſo, wenn man will,
nur im deutſchen Falle will man eben nicht. Das iſt für uns zureichender Grund,
auch nicht zu wollen.
Wir verlieren nichts daran. Würden ja doch immer nur überſtimmt werden. In
jedem praktiſchen Falle verſagt der heilige Bund, wie diesmal wieder der Moſſul-
ſtreit zeigen wird. Mit dem Schmachfrieden an demſelben Tage geboren, trägt er die
Züge dieſes Zwillingsbruders. Er meint, Gewalt werde Recht, ſobald er fie billige.
Daher ſagt er laut: Wehe dem Friedensbrecher, aber leiſe denkt er: Wehe dem
Schwachen!
Es ijt immer ein pomphaftes Schauſpiel, wenn allherbſtlich die Bundesvollver⸗
ſammlung zuſammentritt. Ein verſchrobener Amerikaner wollte es noch feierlicher
geſtalten, indem er für den hohen Rat rotſeidene Richtertalare mit Hermelinbeſatz
ſtiftete. Welch Schauſpiel; aber ach, ein Schauſpiel nur! Denn es wird ganz richtig
Komödie geſpielt. Glaubt man denn einem Briand, wenn er die Abrüſtung anregt?
Seit wann geht Speiſe von dem Freſſer aus und Süßigkeit von dem Starken? Wir
wiſſen, daß er bloß dem nordiſchen Antrag zuvorkommen, daß er vornean ſein
will, damit nur ja nichts daraus werde.
Wer ſpüͤrt etwas von der neuen beſſeren Moral, die der Völkerbund nach Pain-
levé geſchaffen? Im Gegenteil fehlen ihm alle religids-fittliden Vorausſetzungen.
Er kennt allen Menſchen- und Engelzungen zum Trotz, womit er fic ſelber anpreift,
weder das vornehmſte und größte Gebot: Die Liebe zu Gott als der Quelle alles
Rechtes, noch das andere, das dem gleich iſt: die Liebe zum Nächſten als ſich ſelbſt.
Daher ſucht jeder in ihm feinen Vorteil. Er iſt der Vielverband der Eigennützigen,
die nicht logiſch denken wollen.
Zu ihnen bekennen ſich auf den Pazifiſtentagen jene Wirbelköpfe, die nicht logiſch
denken können. Daher geht es auf dieſen Jahrmärkten der Brüderlichkeit immer fo
hitzig zu. Nirgends zankt man ſich leidenſchaftlicher als dort. |
Zürmers Tagebuch 77
So war es auch diesmal in Paris. Ber franzöſiſche Pazifiſt Herriot ſagte ab, weil
der deutſche Pazifiſt Loebe eine Rede halten ſollte. Die franzöſiſchen Friedensfreunde
ſprachen gegen Frankreichs tatſächliche Abrüͤſtung, weil Deutſchland noch nicht mo-
raliſch abgerüftet ſei. Sie find nur für einen Pazifismus der ferneren Zukunft;
wollen friedfertig ſein, wenn Frankreich ſich ſatt erobert hat.
Am widerwdrtigften gebdrdeten ſich die deutſchen Kongreßteilnehmer. Sie legten
einen Kranz auf das nationaliſtiſche Grabmal des unbekannten Soldaten. Dieſe
merfwürdigen Friedens freunde klatſchten ſich die Hände wund, als ein Franzoſe
die Kolonialkriege Frankreichs Kulturtaten nannte und Abd el Krim einen Räuber-
hauptmann. Hello v. Gerlach verläjterte fein Vaterland derart, daß ihn der Franzoſe
Rioch mit empörten Worten ſtäupte. Von der redlichen Schwärmerin Berta
v. Suttner bis zu ihm — ach, welch ein Abſtieg!
* *
*
In denſelben Wochen tagte zu Stockholm das große Konzil. Aus 37 Völkern hatten
ih 600 Teilnehmer verſammelt. Sie vertraten 123 chriſtliche Kirchengemeinſchaften.
Nur die katholiſche blieb fern, und das iſt ſchade, weil ſie die größte und geſchloſſenſte,
daher mächtigſte iſt. Hindenburg und Coolidge ſandten Glückwünſche; Präſident
doumergue, obwohl auch Proteſtant, ſchwieg. Kanzler Luther ließ ſich entſchuldigen,
aber der Vortrag wurde verleſen, den er hatte halten wollen. Macdonalds warm-
herziges Schreiben pries den chriſtlichen Geift und nahm als Pfadführerin aus dem
heutigen Schlamaſſel die Friedensmacht der Kirche in Anſpruch. So der englijde
Sozialdemokrat; wo blieben die deutſchen?
Daß dieſes Konzil wurde, iſt ein unvergängliches Verdienſt des ſchwediſchen Erz-
biſchofs Soederblom. Es bedeutete den erſten praktiſchen Verſuch, aus dem un-
gebändigten Triebleben dieſer Welt wieder einmal an den Glauben zu appellieren,
der die Welt überwindet.
Man hoffte daher von dieſem „Nicäa der Ethik“, daß es ein geiſtlicher Völkerbund
werde, der durch die Wucht ſeines Strebens nach Wahrheit und Recht im Aufblick
auf den Weltheiland den politiſchen ſeeliſch durchdringe werde und dadurch die
Menſchheit dem chriſtlichen Ideale des Reiches Gottes auf Erden näherführe.
Dieſe Hoffnung wurde indes ziemlich enttäuſcht. Denn es zeigte ſich, daß der
Genfer Geiſt weit ſtärker auf Stockholm wirkte, als umgekehrt. Wollten doch die
Engländer das Konzil kurzerhand auf den Völkerbund feſtlegen, den ſie, ſo wie er iſt,
ſchlankweg für gottgeſchaffen erklärten. Da konnten die Deutſchen allerdings nicht
mittun. Durch den Mund des Rheiniſchen Generalſuperintendenten Klingemann
erklärten fie ſich für außerſtande, in dem gegenwärtigen Weltſchiedsamt irgendeine
teligidje Kraft geſchweige denn einen Anklang an das Reich Gottes zu erkennen.
Das war würdig und recht. Daß dieſer Proteſt aber überhaupt nötig wurde, daß
man die Kriegsſchuld frage gar nicht aufwarf, die Wahrheit alſo nicht zu Worte kom-
men ließ, das verrät denn doch, wieviel Allzumenſchliches ſogar dort mit unterläuft,
wo ſich die zuſammenfinden, deren Herzen und Sinne der chriſtlichen Sittlichkeit
am weiteſten aufgetan ſind. F. H.
Die Deräußerlihung des vater⸗
landifden Gedankens
u Leipzig am Völkerſchlachtden kmal ſam;
melten ſich etwa 30000 Jungdeutſche mit
ihren Bannern; es war ein gewaltiger Tag.
Am germannsdenkmal waren gleichfalls an
die 15000 Jungdeutſche verſammelt; es war
„eine erſchütternde Treuekundgebung für
den Ordensmeiſter Mahraun.“ Die übrigen
Verbände, darunter der Stahlhelm, „waren
ihrer Größe entſprechend nur mit wenigen
tauſend Mann vertreten.“ Man muß den
folgenden Bericht im, Jungdeutſchen“ (Nr. 186)
im Zuſammenhang auf ſich wirken laſſen:
„Schon der Sonnabend verriet, daß der
nddjte Tag ein großer werden ſollte. Von
überall her rückten die Bruderſchaften des
Ordens in die überaus reich beflaggte Stadt.
Wohin man fab, nur Ordensbrüder. In
mehreren Gdlen fanden Begrüßungsabende
ſtatt, in denen der Hochmeiſter überall, vom
ſtürmiſchen Jubel der Bevölkerung umbrauſt,
glühende Worte der Vaterlandsliebe an ſeine
Anhänger und Freunde richtete. Der Sonn-
tag, der eigentliche Feſttag, begann mit
großem Wecken durch die Ordenskapelle und
fand ſeinen Auftakt in Feldgottesdienſten für
beide Konfeſſionen.
„um 10 Uhr ſetzte ſich der Feſtzug in Ve-
wegung, der ein großartiges Bild von der
Macht des jungdeutſchen Sedankens
bot. In mehr als einer Stunde zogen an
15000 Brüder in muftergültiger freiwilliger
Difziplin an ihrem Führer, der vor dem
Theater Aufſtellung genommen hatte, vor-
über. Banner auf Banner, Bruderſchaft auf
Bruderſchaft, alle Brüder die rechte Hand
auf dem Herzen, in endloſen Kolonnen!
„Hinter dem Orden marſchierten Hitler
Verbande und der „Stahlhelm“, deren kurzen
(man beachte die Spitze! D. T.) Dorbei-
marſch der Fürft Leopold von Lippe - Detmold
und einige ehemalige Generäle abnahmen,
nachdem der Hochmeiſter ſich wieder an die
Spitze ſeiner Bruderſchaft geſtellt hatte.
„Nach ſtundenlangem Marſch rückte der
Orden auf den Platz vor dem Hermanns-
denkmal. Ein packendes Bild: der ragende
Freiheitsheld! Zu feinen Füßen hunderte
von Bannern mit ſchwarzem Kreuz auf
weißem Feld und auf dem Platz, bis weit
in den rauſchenden Tannwald hinein, Tau-
ſende von Ordensbrüdern. Nach dem
niederländiſchen Dankgebet ſprach General-
leutnant Salzenberg über Freiheit, Einigkeit
und freiwilligen Geborfam. Dann redete der
Hochmeiſter zu den dicht gedrängten
Maſſen und fand im Angeſicht Hermanns,
des Befreiers, die großen Worte, daß die
Einigkeit der Nation, nicht nur die Einigkeit
im nationalen Lager, das größte Ziel des
Jungdeutſchen Ordens fei. In muftergiiltiger
Ordnung rückten die Mannen des Ordens
wieder ab, zuruck in das ſchöne Detmold, das
Zeuge von dieſer gewaltigen Kund—
gebung der großen jungdeutſchen Volks-
bewegung geworden war.“
Kein junger Menſch wird ſich der be-
rauſchenden Wirkung eines ſolchen begeiſterten
Berichtes entziehen — noch weniger der Be-
geiſterung und Berauſchung ſelbſt, die dort an
Ort und Stelle durch das Maſſenaufgebot be-
wirkt wurde. Und wir möchten unſererſeits
nicht in den Verdacht geraten, daß wir un-
fähig ſeien, ſolche Schwingungen mitzufühlen.
Es ſtärkt das Bewußtſein, einem großen Volke
anzugehören, wenn Banner an Banner mit
immer neuen Gruppen vorüberzieht; und es
erhebt das vaterländiſche Gefühl ins Außer-
ordentliche, wenn dann der Redner dieſer um-
faſſenden Bruder Stimmung bedeutenden
Ausdruck gibt, wie es dort Mahraun getan hat.
Aber — und nun geſtatte man uns, in aller
Sachlichkeit einige Bedenken gegen dieſen
Maſſenbetrieb auszuſprechen.
Wir haben einen Stoß Schriften durdge-
leſen, die uns der Jungdeutſche Orden nach
unfrem erften Vorſtoß im „Türmer“ (Auguft-
heft) zugänglich machte. Durch alle dieſe
Reden und Aufſätze zieht ſich in [hiner Weiſe
der Gemeinſchafts- oder Bruder -Gedanke.
>
*
222 — Zr Sr Zr, Be
auf der Warte
„Im Ordensleben erſt wird die Grundlage der
Einheit und Kraft geſchaffen, denn in ihm
erwachen die Mächte brderlicher Ramerad-
ſchaft und die vom Ehrgefühl im Kreiſe der
Semeinſchaft gehobene Pflichttreue und Hin-
gabe (Schriftenreihe des jungdeutſchen
Ordens, Heft 1). Dieſer Grundgedanke wird
übrigens nicht nur bei den Jungdeutſchen
herausgearbeitet, ſondern — in mannigfachen
Sarbentönen, meiſt mit nachklingendem fol-
datiſchem Geiſt — auch in andren vaterländi-
ſchen Verbänden. Er wird ſogar in den ſozialen
Scuppen betont, wobei das Vaterland freilich
zurüdttritt, die Partei und ihr Programm aber
bruderſchaftbildend den Vordergrund be-
herrſcht. Jener Grundgedanke arbeitet der
Zerſetzung entgegen; inſofern iſt er geſund
und notwendig. Er beruft ſich mit Recht auf
Fichte und auf die Burſchenſchaft der Wart-
burg. Aber — er reicht für ſich allein heute
nicht aus.
Fichte trieb ſtracks in den großen Be-
freiungskrieg; und die Wartburg -Burſchen
kamen ftrads aus dem Felde und wollten das
gewaltige Befreiungswerk im Innern fort-
ſetzen. Befreiung rund herum! Heute ſind wir
ein zuſammengebrochenes Volk und müſſen,
ohne jede Ausſicht auf abſehbare äußere Be-
freiung, das Werk der Beſinnung ganz
langſam und behutſam, ganz in der Stille und
Tiefe, ganz zunächſt auf dem Gebiete der
Kultur und der Seele vornehmen, wie es
ſich bei einem Kranken und Schwerwunden
von ſelbſt verſtehen ſollte. Und da ſind dieſe
Parademärſche, Bannerweihen und Maffen-
aufzüge, im europäifchen Voͤlkerganzen be-
trachtet, von nahezu lächerlicher Belanglofig-
keit. Denn hinter ihnen ſteht keine Möglich-
teit der großdeutſchen Tat.
Das deutſche Volk von 1815 war ſiegreich;
das deutſche Volk von 1918 iſt verftlavt. Das
iſt der bedeutende Unterſchied. Alle Proteſte
und Aufmärſche helfen da nichts, andern an
der Tatſache zunächſt nicht ein Jota, täuſchen
vielmehr Kräfte von ZJungmannen vor, die
jetzt keine Kräfte find. Uns hilft jetzt nur Be⸗
finnung auf unſer ſeeliſches Gebiet, das
wir in all den letzten Jahrzehnten vernach⸗
läſſigt haben — und wo das Geheimnis
79
der Kräfte auch für die vaterländiſche
Geſundung zu ſuchen iſt. Es fehlen der
vaterländiſchen Bewegung die metaphy-
ſiſchen Hintergründe, die jene Burſchen
von 1815, geſchult durch Kant und Fichte und
Schiller, reichlich beſaßen.
Und auf dieſe ſtille Vertiefung, die ſich
beſonders an die Einzelnen und an kleine
Gruppen oder Zellen wenden muß, ſind
weder Jungdeutſche noch Stahlhelm vorerſt
eingeſtellt.
Damit brechen wir für heute wieder ab.
Wir werden das nächſte Mal auf einige Zu-
ſchriften und Außerungen eingehen, z. B. auf
Thomas Weſterich („Oeutſche Front“), der
unter den vaterländiſchen Führern vielleicht
mit am beſten weiß, worauf es ankommt.
Chriſtwunder aus der Sonne Homers
3. führende Werte, die uns reihe Ein-
blicke in die altchriſtlichen Wirklichkeiten
im öſtlichen Mittelmeer vermitteln, haben vor
kurzem ihre zweite Auflage erlebt: das alt-
bekannte, grundlegende Werk von Heinrich
Brockhaus über „Die Kunſt in den Athos-
Klöſtern“ (Leipzig, F. A. Brockhaus, 1924)
und das ebenſo fundamentale Buch von
D. Adolf Deißmann über „Paulus, eine
kultur- und religionsgeſchichtliche Skizze“
(S. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
1925). Beide gelehrten Werke, in denen die
geographiſche Eigenſchau der Verfaſſer eine
weſentliche und reizvolle Rolle ſpielt, ſind
auch einem weiteren Publikum angelegentlich
zu empfehlen.
Die Halbinſel Athos mit ihrer RKlofter-
republik iſt ohne jeden Zweifel zu den wunder-
barſten Schöpfungen der Erde zu rechnen, und
das Buch, welches unter weitgehender Be⸗
ruͤckſichtigung der bisherigen Literatur nicht
nur den küͤnſtleriſchen Reichtum dieſes para-
dieſiſchen Landes ſehr eingehend durchforſcht,
ſondern auch über die Landſchaft, die Klöſter
und ihre Verfaſſung und Lebensweiſe mannig-
fache und anſchauliche Berichte enthält, ſollte
in der guten Bücherei keines Kunſtfreundes
fehlen. Die Ausſtattung mit Zeichnungen,
Photographien und einer Karte, der ge
80
diegene Einband, das Papier und der Oruck
empfehlen das Brockhaus' ſche Buch als aus-
gezeichnete Einführung in eine der inter-
eſſanteſten Gegenden der Erde und als Pracht;
werk jedem Liebhaber beſonderer Selten
heiten. Denn trotz den Büchern von Fall-
merayer bis Gelzer iſt der Athos, glücklicher;
weiſe, nur in den geiſtigen Beſitzſtand weniger
Eingeweihten getreten.
Das Brockhaus' ſche Buch gibt naturlich vor
allem Aufſchluß über die Kunftfhäße des
Athos, über Architektur, Plaſtik, Malerei,
Handſchriften und Kunſtgewerbe vom Mittel-
alter bis ins 19. Jahrhundert. Die mehr als
dreihundert großen Seiten durchforſchen dieſe
Gebiete bis ins einzelne, wiſſenſchaftliche Be-
lege und Beziehungen auf alles früher Er-
ſchienene den eigenen Beobachtungen und
Urteilen reich verbindend. Was griechiſche
und deutſche, franzoͤſiſche, engliſche und
flavifhe Gelehrte an Vorarbeiten geleiftet
haben, wird mit aller Sorgfalt in den Dienft
des monumentalen Werkes geſtellt. Die Einzel-
heiten der zwanzig fo verſchiedenen Klöſter
werden auf das klarſte geſchildert, ſo daß der
Leſer außer der Belehrung auch eine gewiſſe
Verſenkung in das älteſte der europäiſchen
Weltwunder mit gewinnt. Man weiß all-
gemein von den Herrlichkeiten Griechenlands,
Italiens, Konſtantinopels, Agyptens; aber
den Athos, welcher mindeſtens ebenſo reiz-
voll in ſeiner Art iſt, kennen die wenigſten.
Das „ewige Volk, in welchem niemand ge-
boren wird“, das Paradies der Weltüber-
winder gehört zu den unbekannteſten Glang-
punkten Europas.
Die zweite Auflage des Brockhausſchen
Buches enthält ein höchſt überraſchendes
neues Kapitel: „Der Athos und Utopien“.
Der Verfaſſer will nachweiſen, daß Thomas
Morus die Idee feines Staates aus den tat-
fächlihen Verhältniſſen der Athosrepublik
gewonnen habe. Und er iſt in der Lage, für
ſeine Hypotheſe recht einleuchtende Gründe
anzugeben. Für das Verſtändnis der be-
rühmten Schrift ergeben ſich dann neue
Folgerungen: „Es zeigt ſich, wenn man den
Athos kennt und im Sinne hat, daß Utopien
bisher in der ganzen Literatur falſch aufge-
Auf der Warte
faßt iſt.“ „Die Athoskultur tritt in helles Licht,
wenn wir ſo ſehen: ſie hat als Leitſtern gerade
dem Buche vorgeſchwebt, das in der Schil-
derung des Landes Utopien dem Abendlande
ein unerreichbares Ideal vorhielt.“ Wer ſich
mit dem Brockhausſchen Buche zur erſten
Einführung in das Studium der Athos-Halb-
infel befaßt, erweiſt ſich einen Gefallen. An-
merkungsweiſe darf ich erwähnen, daß eine
neuerdings im Inſel Verlag erſchienene Athos;
Symphonie im Literaturnachtrag noch hätte
erwähnt werden können. Im übrigen gibt das
Werk zu weiterer Befaſſung mit dem Stoff den
unerläßlichen Ariadnefaden recht zuverläſſig.
Von nicht unähnlicher Geſamtſtimmung
durchdrungen iſt das Oeißmannſche Buch
über Paulus. Auch dieſes erwähnt als eine
ſeiner Lehrmeiſterinnen jene neue, die „ganz
und gar nicht akademiſch und ganz ohne
Papier und Paragraphen alles, was ſie lehrt,
in Freilicht und Freiluft mit gütiger Hand
ſpendet: die Welt des Südens und Oſtens,
die Welt des Paulus“. Zwei Orientreiſen
haben manche belebende Farbe zur Endgeſtalt
des tiefgründig gelehrten Werkes beigeſteuert.
Wie Renan das Leben Fefu, fo hat Deißmann
das Weſen des Apoſtels Paulus auch aus den
realen Quellen, die außer den Schriften vor-
liegen, wirklichkeitskräftig geſchaut und dar-
geſtellt: aus der Sprache von Landſchaft und
Kultur und aus dem Sinn des uralt über-
kommenen Kultes, deſſen griechiſch - orthodoxe
Grundformen übrigens nach der Theſe Kerns
auf eleuſiniſche Myſterienüͤberlieferung zu-
rũckgehen ſollen. Deißmanns Werk hat bei
aller Gründlichkeit einer philologiſch fun-
dierten Gelehrtenarbeit jenen menſchlich
warmen Geiſt, der den Apoſtel tiefer verſteht
als die ältere Schule, die aus ihm einen bloßen
Chriſtologen machte. Nach OSeißmann iſt
Paulus Ehriftusträger und Myſtiker, nicht
dogmatiſcher Intellektualiſt. Die pſycholo-
giſchen Tiefenzuſammenhänge feines Lebens
und feiner Lehre werden menſchlich begreif-
bar und vielfeitig dargeſtellt. Das Zufammen-
wirken jüdifch-öftlicher und helleniſtiſch⸗weſt⸗
licher Kulturſtröme im Urchriſtentum wird
lehrreich erörtert. Die Verklärung der Perſon
Jefu zum Pneuma-Chriftus und die ganze
Auf der Warte
ſich an dieſen Begriff anſchließende pauliniſche
Chriſtusmyſtik in ihren Einzelheiten, die ja
zur Grundlage des chriſtlichen Glaubens ins-
befondere in der evangeliſchen Kirche ge-
worden find, erfährt eingehende Durch-
leuchtung. Dak auch Theologie und Religions-
philoſophie den Gedanken der Polarität mit
Vorteil verwenden können, zeigt Deißmann
an verſchiedenen Stellen. Die tontemplative
Entfaltung der Gottes und Chriſtusgewißheit
des Bekehrten, der in der Gemeinſchaft mit
Ehriftus die — im Gegenſatz zu ſchwärme⸗
riſchem Selbſtgenuß — reagierende Myſtik
der Liebesgemeinſchaft durch die Gnade ver-
wirklicht, wird vom Verfaſſer in überzeugender
Weiſe entworfen. Es erübrigt ſich zu ſagen,
daß das langbewährte Buch in die Einzel-
beiten der Quellen hinabſteigt und mit um;
faffendfter Sachkenntnis geſchrieben iſt. Einem
breiteren Leſerkreis, der aus dem Werke viel
entnehmen kann — erinnert es in ſeiner
Wärme und Menſchlichkeit des Tones doch an
Bücher wie Schures „Heiligtümer des Oſtens“
— dürfte die Feſtſtellung dienlicher fein, daß
die ganzen Lebenswirklichkeiten der Welt des
Paulus fo anſchaulich geſchildert und nader-
lebt ſind wie ſein inneres Werden und Wollen.
Von des Verfaſſers Eigenart mögen feine
Bemerkungen gegen eine boshafte Kritik
Zeugnis geben: „Das letzte und beſte Ver-
ftändnis der pauliniſchen Chriſt-Innigkeit
kann mit den rein grammatiſch-hiſtoriſchen
Mitteln der Studierſtube nicht erreicht werden;
es kann nur intuitiv erſchloſſen werden. Im
Heiligtum, im Sanktiſſimum der chriſtlichen
(oder doch chriſtlich eingeſtellten) PBerfönlich-
keit — und im Heiligtum der um den Meiſter
kultiſch geſcharten Gemeinde ... Die kultiſche
Praxis der chriſtlichen Gegenwart, obwohl bei
ms oftmals doktrinär abgeſchwächt, myftit-
ſcheu und trivialiſiert, iſt die Hoheſchule für
das letzte und beſte Verſtehen der urchriſtlichen
Frömmigkeit.“
Die beiden Bücher erſchließen uns Chriſt-
wunder aus der Sonne Homers — jenes das
Wunder einer ehrwürdigen Kulturſchöpfung,
dieſes das Wunder einer ſeeliſchen Wieder-
geburt.
Privatdozent Dr. Ernſt Barthel (Köln).
Der Türmer XXVIII, 1
81
Tirpitz
aiſer Wilhelm II. ſagt in ſeinem Buche
„Exeigniſſe und Geſtalten“ über den
Großadmiral v. Tirpitz: „Es iſt nur zu wün-
ſchen, daß dieſe Kraft dem in Not und Be-
drangnis befindlichen armen deutſchen Vater
lande bald wieder helfend zur Seite ſtehen
möge, Sie wird können und wagen, was viele
andere nicht wagen. Jedenfalls gilt vom Ad-
miral v. Tirpitz das Dichterwort: Höchſtes
Glück der Erdenkinder ijt doch die Perfönlich-
keit.“
Und tatſãchlich ijt der alte Seerecke und greife
Staatsmann wieder auf dem Plane erfdie-
nen, um „feinem Volle zu helfen, ſoweit feine
Arbeitskräfte noch reichen, und da weiß er
keinen anderen Weg, als den der Wahrheit“.
Das ganze deutſche Volk iſt dem Großabmiral
zu tiefſtempfundenen Oank verpflichtet, daß
er, deſſen langes, arbeitsreiches Leben ein
ewiger Kampf für Deutſchlands Aufſtieg zur
Weltmacht gegen ſeine Widerſacher jenſeits des
Kanals und — Gott ſei's geklagt — auch im
eigenen Lager war, trotz ſeinem hohen Alter,
noch einmal für die deutſche Sache ſtreiten
will, indem er ſeine „Erinnerungen“ (1919 bei
Köhler, Leipzig) durch „Politiſche Ooku-
mente“ (1. Band „Der Aufbau der deutſchen
Weltmacht“ bei Cotta, Stuttgart) ergänzt und
damit einen Vernichtungsfeldzug gegen das
Märchen über die deutſchen Ruͤſtungen für
den Weltkrieg und wider die Kriegsſchuldlüge
eröffnet.
Alle rechtlich denkenden Deutſchen muß es
mit Abſcheu erfüllen, wenn das offizielle Or-
gan der ſozialdemokratiſchen Partei, der „Vor-
warts“, am 28. November 1924 feinen Leſern
vorſetzt: „Herr v. Tirpitz hat ſich Aktenſtüͤcke an;
geeignet und veröffentlicht, die dem Staate,
nicht ihm gehören. Er hat Akten unterfdla-
gen... Er hat es getan, um feine werte Perjon
weiß zu waſchen — im Gegenſatz zur geſchicht;
lichen Wahrheit und unter Aufopferung der
Intereſſen Deutſchlands. Er hat es weiter
getan aus Gewinnſucht, um mit feinen Publi-
kationen zu verdienen. Seine Haltung iſt fo un-
ehrenhaft, daß er ein erledigter Mann ſein
müßte ...“
6
82
Unb Scham rötet unfere Stirnen, wenn wir
lefen, daß der Bibliothekar der Preußiſchen
Landesverſammlung, Dr. Thimme, in zwei Ar-
tikeln (im „Berliner Tageblatt“) „Armer Herr
von Tirpitz“ es wagt, den Großadmiral als
„Lügner“ und „Vater der Lüge“ zu bezeich-
nen und behauptet, er habe elend gekniffen,
als er 1916 Nachfolger des Reichskanzlers von
Bethmann -Hollweg werden follte! Das ift die
Sprache des Mannes, der den verantwor-
tungsvollen dienſtlichen Auftrag erhielt, in
einer Akten veröffentlichung „England und die
deutſche Flotte“ ein objektives, nur auf
geſchichtlichen T atſachen aufgebautes Bild
von dem Schöpfer der deutſchen Flotte zu
geben!
Wie anders haben fremde Völker, fogar die
ehemaligen Widerſacher des Großadmirals,
dieſes Buch aufgenommen! Die „Times“
ſchreibt: „Admiral v. Tirpitz, der ſelbſt eher
den Figuren aus der Zeit Wilhelms I.
gleicht ..“ und weiter: „Es iſt eine Über-
raſchung zu ſehen, daß Admiral v. Tirpitz gegen
den Plan einer Flottenvermehrung war und
ſich ihm mit ſeiner ganzen Kraft entgegenſtellte
im Intereſſe der Friedenser haltung...“
Der Großadmiral iſt einer von den Großen,
denen das Schwerſte im Leben nicht erſpart
geblieben iſt: nach den jubelnden Hofianna-
Rufen das bittere „Kreuziget ihn!“ Damals,
als im deutſchen Volke die alte Sehnſucht nach
Wiedergewinnung verlorener Seegeltung und
Seemacht wach wurde und jeder Oeutſche be-
geiſtert dem Kaiſer auf dem Wege der Welt-
machtpolitik folgte, jubelten die Vertreter
aller Parteien und Geiſtesrichtungen dem
Schöpfer der deutſchen Flotte zu, und bis tief
in die linken Reihen der Demokratie hinein hat
man an Tirpitz geglaubt und feſt zu ihm ge-
halten, als er ſchon in Kaiſerliche Ungnade
gefallen war und ſeinen Abſchied erbeten
hatte. So widmete z. B. die „Voſſiſche Yei-
tung“ (16. März 1916) dem Staatsſekretär
folgenden Nachruf: ,... Sein Rücktritt in
ſchickſalsſchwerer Zeit weckt nicht nur in der
Marine lebhaftes Bedauern, ſondern auch
überall im Lande, ohne Unterſchied der Par-
teien. Denn in ihm ſcheidet der Mann, in dem
fic für weite Kreiſe unſeres Volkes die deutſche
Auf der Warte
Marine mit all ihren herrlichen Waffentaten
verkörperte, deſſen nie erlahmende Tatkraft
und vorbildliche Pflichttreue die Emporfüh-
rung des deutſchen Flottenweſens auf ſeinen
heutigen Stand in materieller, geiſtiger und
moraliſcher Hinſicht zum guten Teil zu danken
iſt. Es wäre zu wünfchen geweſen, daß es ge-
rade dieſem hervorragend tatkraͤftigen Golba-
ten und Staatsmann vergönnt gewefen wäre,
an ſeinem Teil bis zum Ende dieſes großen
Ringens mitzuwirken.“
Und überſchwenglich ſchrieb eine führende
Perſönlichkeit des linken Flügels des Zentrums
in der „Germania“ über „unſeren Tirpitz“.
Und doch haben ſie das Gelöbnis vergeſſen
und ihm in ſchwerſter Zeit die Treue gebro-
chen!
Jeder halbwegs einſichtige Menſch, dem die
Partei nicht über das Vaterland geht, muß
beim Leſen der „Politiſchen Dokumente“ zu
der Überzeugung kommen, daß der Groß-
admiral niemals den Krieg gewollt und vor-
bereitet hat, daß in keinem Falle perſönliche
Eitelkeit die Triebfeder zu, uferloſen“ Flotten
plänen geweſen ift. Jeder, wenn er nur objet-
tiv und wahrheitsliebend iſt, auch der, der im
anderen politiſchen Lager lebt, muß, wenn er
dieſes Werk (in dem alle Gegner des Groß-
admirals zu Worte kommen) zur Hand nimmt,
zur Überzeugung kommen, daß das Gegenteil
wahr iſt.
Aus dieſem Grunde muß man das Tirpitz
ſche Werk als eines der beweiskräftigſten Bü-
cher anſehen, die ſeit Beendigung des Krieges
zu Deutſchlands Entlaſtung im Kampf gegen
die Kriegsſchuldlüge geſchrieben worden find,
Näher auf den Inhalt einzugehen, iſt mir
im Rahmen dieſer Gedanken nicht möglich.
Für den Politiker ift es eine köſtliche Fund-
grube bezüglich der großen weltgeſchichtlichen
Ereigniſſe in ihren urſächlichen Zufammen-
hängen. Wir durchleben beim Leſen noch ein-
mal ſtolz die große Zeit der Entwickelung der
deutſchen Weltmacht. Aber auch bittere, trübe
Gedanken werden in uns wach, wenn wir
lefen, wie wir uns ſelbſt geſchwächt und zum
enblichen Siege unfähig gemacht haben. Es
ijt zu wünſchen, daß dieſes Werk von jedem
gebildeten Deutſchen geleſen werde und daß
Auf der Warte
immer weitere Kreiſe unferes Volkes den un-
geheueren politiſchen und geſchichtlichen Wert
dieſer Dokumente eines unſerer Beſten er-
kennen — eines Mannes, zu wertvoll, um
weiterhin den Parteien als Zankapfel zu
dienen. Topp, Oberleutnant zur See.
Unfranzõſiſches aus dem Elſaß
ei der Eröffnung der elſäſſiſchen Ge-
werbeausſtellung in Münſter äußerte
der Abg. Burger, Leiter des Winzerverbandes,
in einem Trinkſpruch, Schiller habe für die
Franzoſen die Jungfrau von Orléans gejdrie-
den, für die Spanier den Don Carlos, für die
Schweizer den Tell und für die Deutſchen die
Räuber. In Form eines heiteren Briefes von
Friedrich Schiller aus der anderen Welt ſtellt
die neue elſäſſiſche Wochenſchrift „Zukunft“,
ein tapfer geleitetes Blatt, die ſonderbaren
Angaben des verwälſchten Elſäſſers richtig.
Danach hat Schiller die Jungfrau von Or-
lẽans nicht für die Franzoſen, ſondern für die
Elſäſſer geſchrieben im Hinblick auf das
Wort: „Nichtswürdig iſt die Nation, die nicht
ihr Alles freudig ſetzt an ihre Ehre“. Die „Räu-
ber“ aber ſchrieb Schiller für die Franzoſen,
und in Paris fanden ſie ſo lebhaften Beifall,
daß die revolutiondre Konventsregierung
Schiller zum Ehrenbürger Frankreichs er-
nannte.
Wie erinnerlich erhob die franzöſiſche Liga
gegen die deutſche Kultur im Elſaß Einſpruch
gegen die Aufführung von Goethes Fauſt im
Straßburger Stadttheater. Darauf antwor-
tete nicht übel die Straßburger „Röpublique“
mit folgenden Verſen aus dem Fauſt:
Rnurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel’ umfaſſen,
Will der tieriſche Laut nicht paſſen.
Bir find gewöhnt, daß die Menſchen verhöhnen,
Das ſie nicht verſteh'n,
Daß jie vor dem Guten und Schönen,
das ihnen oft beſchwerlich iſt, murren;
Dill es der Hund, wie fie, beknurren?
Den Franzoſen noch unliebſamer äußerte
ſich der franzöfifche General Percin, der ſchon
früher die Kriegsſchuld Poincarés behandelte,
85
in der franzöſiſchen Zeitſchrift „Midi socia-
liste“ mit Bezug auf die Straßburger Reden
des Präſidenten Doumergue und des Minifter-
präjidenten Painlé vs: Elſaß-Lothringen —
ſagt er gradraus — hatte gar nicht den
Wunſch, wiederum franzöſiſch zu wer-
den. Darüber war man in Paris unterrichtet.
Deshalb entzogen die Pariſer Friedensmacher
den Elſaß- Lothringern das verkündete Selbſt⸗
beſtimmungsrecht und verweigerten ihnen die
verlangte Volksabſtimmung. Sollte heute in
Elſaß-Lothringen eine Volksabſtimmung vor-
genommen werden, fo würde fie mit erdrücken;
der Mehrheit gegen Frankreich ausfallen oder
wenigſtens ganz bedeutende Selbſtändigkeit
verlangen. Das oben erwähnte, durch ſeine
tühne Haltung Aufſehen erregende Blatt „Die
Zukunft“ ſchreibt in einer feiner letzten Num-
mern: „Bei uns nimmt das Malaife (Unbe-
hagen) ſeit 1919 ftändig zu. Während in der
erſten Zeit nach dem Waffenſtillſtand die Be-
geiſterung für Frankreich groß, der gute Wille
zur ſprachlichen und andren Aſſimilation all-
gemein und faſt rührend war, find die Elſäſſer
heute ganz gewaltig abgekühlt. „O' Güdle
ſin' ne uffgegange 5 Ein dumpfes Murren geht
durch das Land...“ D.
Straßburger Theaterſkandal
in neues, ſchneidig geleitetes Blatt in El-
ſaß-Lothringen, „Die Zukunft“ (Straß
burg, Stephansgaſſe J kämpft dort in einer
bisher unerhört kühnen Tonart um elfäf-
ſiſche Heimatrechte. Und zwar nur von
Elſaß-Lothringern geſchrieben und unterjtüßt.
In dem feigen Kompromißlertum oder in der
allgemeinen Gedudtheit, die ſich dortzulande
ſo leicht einſtellt, fällt dieſer herzhafte Ton
wahrhaft befreiend auf. Wie die Sprachen-
frage auf dem Theatergebiet angefaßt
wird, beweift der folgende Artikel (Jahrg. I,
Nr. 17):
„„ . . Vor einigen Tagen iſt der Spielplan
des Straßburger Stadttheaters für den kom-
menden Winter bekanntgegeben worden: viel
Altes, auch ſaftige Frohſinnlichkeit neben ab-
gekühltem Reiz, gewiß wenig Neues, doch all-
gemein Muſik, Tanz, Komödie, wippelnde
84
Beinchen. Kurzum alles, was herkömmlich ift
und war. Kein Wort aber von deutſcher
Vorſtellung, keines von der Möglichkeit
die, denen der Schnabel nicht welſch
gewachſen iſt, auch an der Kunſt im Theater
ſich zu wärmen! Und das ſind achtzig vom
Hundert der Bürger.
Mit dem Spielplan des Theaters wird auch
ſein Finanzplan zu gleicher Zeit bekannt.
Fehlbetrag für die Spielzeit 1925—1 926, von
der Gemeinde Straßburg zu decken, rund
1217000 Frs. Dazu ein Staatszuſchuß von
95000 Frs., aus dem Vermächtnis Apffel wei-
tere 236000 Franken und ein nicht bezifferter
Zuſchuß aus der mietfreien Hergabe des
Theatergebäudes. Anderthalb Millionen
Franken alles in allem! Dieſe Summe aber
zahlen nicht die Nutznießer des Millionen-Auf-
wandes, denn der Leute, die Franzöſiſch kön-
nen, fo können, daß fie mit Genuß den Dar-
bietungen zu folgen vermögen, gibt es unter
den Straßburgern gar wenige. Es find höͤchſtens
zwanzig vom Hundert der Einwohnerſchaft.
Wer alſo nicht begreift, daß nie Straßburg
deutſches Theater brauchen kann, wohl aber
immer ein ftodfranzöfifches haben muß, dem
iſt halt nicht zu helfen. Vielleicht merkt's einer
doch, wenn das Loch im Stabtfddel größer
wird. Das Defizit betrug feit 1920: 1114670;
914023; 987717; 1038023; 1100000 Fran-
ken, wozu jetzt die 1217000 aus dem Boran-
ſchlag kommen, zuſammen 6% Millionen
Franken! Dieſe Summe, in Steuerzuſchlag
aufgelöft, bedeutet etwa 54 Zuſchlagscentimes,
fo daß jeder Straßburger Bürger, der für ein
Jahr 1000 Franken Gemeindeſteuern zahlt,
zu dem angeführten Theaterdefizit mit etwa
250 Franken ſich herangezogen ſieht. Diefe
Summe wäre doppelt fo hoch, wenn die Gagen
alle den Stand erreichten, der anderwarts für
gute Kräfte maßgebend iſt. Aber Straßburg
bezahlt die Kuͤnſtler erbärmlich, wiewohl für
dieſes Jahr ein guter Schritt vorwärts getan
worden iſt. Unſer wackerer Münch, der aller
dings nur ein Elfäffer iſt, verdient — man
darf es ja ſagen, weil ſie alle im Budget ſtehen
— ganze 1360 Franken im Monat. Der Hel-
dentenor hingegen erſingt ſich 10000 Franken
in derſelben Zeit!
Auf der Warte
Es ſoll hier weiter keine Kritik an der Or-
ganiſation, keine an der Finanzwirtſchaft,
keine auch an den Leiſtungen geübt werden.
Schärfſte Kritik fordert aber die Sprachen-
politik des Theaters heraus: das iſt ein
Skandal!
Man zwingt die Steuerzahler, ohne An-
ſehen der Perſon, zu den Koſten des Theaters
beizutragen; man ſchließt aber die achtzig
Prozent davon, die überhaupt nicht
oder nur mangelhaft Franzöſiſch ver-
fteben, ohne Ridfidt vom Beſuch des
Theaters aus. Wo in aller Welt wiederholt
ſich eine ſolche — man kann nicht anders
ſagen — eine ſolche behördliche Dumm-
heit oder Frechheit? Eine derartige Zu-
mutung ließe ſich anderwärts doch nirgends
die Bürgerfchaft gefallen. Und wenn die
Stadtverwaltung verantwortlich dafür wäre,
jagte der allgemeine Unwille zwiſchen Eröff-
nung der Kaſſe und Beginn der Vorſtellung
Bürgermeiſter und Ratsherren zum Tempel
hinaus, fiele die Verantwortung aber auf die
Regierung, dann verriegelte die Selbſt-
achtung der Stadt das Theaterhaus
eher für Jahr und Tag, als daß ſie ſolchen
Abergriff duldete.
Dod in Straßburg ift das anders, iſt über-
haupt alles anders. Es wird viel von der Be-
hauptung der Selbſtverwaltung geredet, aber
nichts anderes dafür getan, als wieder geredet.
Man hat im Theater ſchon etwas gelernt:
beugt den Kopf, duckt die Seele und dankt für
ben Orden. Die Herrſchaften aus dem In-
térieur find uns teuere“ Freunde. Für ihr
Gelüſt fronen wir, bislang ohne lautes
Murren. Von ihnen dulden wir die
Spradtyrannei, die fie fo ergöͤtzlich finden.
Aber nicht lange mehr.
Den deutſchſprachigen Theaterfreunden,
der großen Maſſe der Bürger, hat man herab-
laſſend, nachdem ſie ſechs Jahre lang darauf
gewartet, in der vorigen Spielzeit zweimal
die Pforten ihres eigenen Hauſes zu einenz
Sdhaufpiel geöffnet. Zweimal in ſechs Jahren 1
Man hat die Einheimiſchen gezwungen, nach
dem fie ſechs Jahre lang den größten Teil bes
Stadtzuſchuſſes zugunſten vornehmlich der
Zugewanderten zuſammengeſteuert hat —
Auf der Warte
ten, beide Male einen Eintrittspreis zu zahlen,
den ein kleiner Beamter oder Arbeiter über-
baupt nur ausnahmsweis erſchwingen konnte.
Sonſt toftet der Stadt jeder Spielabend rund
zehntauſend Franken Zuſchuß, bier mußte
aber noch ein Überſchuß herausgepreßt wer-
ben. Und dennoch war das Haus überfüllt,
kehrten Hunderte vor der nach zwei Stunden
wieder ausverkauften Kaſſe um. In dieſen
beiden Tatſachen lag ein ſtummer aber wür-
diger Proteſt gegen die geiſtige Knebelung
unferes Volkes, eine ſcharfe Verurteilung der
Haltung der Regierung. Man muß dabei ge-
wefen fein, um es zu erfaſſen.
In Straßburg iſt vieles anders, wie gejagt.
Dielleicht lernt hier Frankreich auch noch
etwas Neues: ſich zu ſchämen vor Europa
fiber den kleinlichen Geift feiner Re-
gierung. Sudermanns Dramen mußten aus
dem Schriftdeutſchen in den elſäſſiſchen Dia-
lekt überſetzt werden, um aufgeführt werden
zu dürfen. Iſt das nicht zum Heulen? Wahr-
baftig !
Man ftelle fid vor, in Metz hätte Roſtands
Cytano erſt ins Patois messin überfegt werden
miffen, um vom Bezirkspräſidenten zur Auf-
führung zugelaſſen zu werden! In Elſaß⸗
Lothringen iſt alles möglich? Heute, ja...“
Dieſe Koſtprobe genügt. Man legt das fei-
ſelnde Wochenblatt, wenn man es zu leſen
begonnen, ſo leicht nicht wieder aus der Hand.
Hier find Elſaß-Lothringer, die fid, mit be-
wußter Unabhängigkeit von Oeutſchland, end⸗
lich einmal felber zu helfen wiſſen. Dieſer
„Hans im Schnokeloch' weiß, was er will!
Die Lebendigmachung des Mittel⸗
ſtandes
swald Spengler ſchrieb in feinem Neu-
aufbau des Reiches über den „Sumpf“.
Heute gähnt er uns in feiner nackten Scham;
und Troſtloſigkeit an.
Das Bürgertum hat alle bie Jahre über am
ſchwerſten gelitten. Es hat feine Ideale ge-
opfert, ſein Glaube iſt ihm untergraben, ſein
Dermögen unter den Händen zu Waſſer ge-
worden, Es hat geduldet und geſchwlegen.
Ringsum fab es Zuſammenſchluß: bei den mit
8⁵
moskowitiſchen Phraſen und mit mostowi-
tiſchem Geld gefangenen Kommuniſten, bei
den ſozialiſtiſchen Gewerkſchaften und auch in
den Reihen des treu bei feiner Stange blei-
benden Zentrums.
Das Bürgertum war allzu abhängig vom
alten Beamtenſtaat und von den Armeen ge-
weſen. Es hatte ſich hinter dieſen wie für die
Ewigkeit feitgefügten Palifaden ſicher ge-
fühlt und war feinem Handel und Wandel
nachgegangen, fo individuell und vielfeitig,
wie feine Belange waren,
Nun ſtand es plötzlich ſchutzlos da und war
froh, daß es auch noch in den Revolutions
wirren ſeine Exiſtenz, wenn auch eingeengter
und hoffnungsloſer, fortfriſten konnte. Es war
eben doch zu ſehr an Reglementierung und
Nichtgefragtwerden gewöhnt worden. Diefer
ſchwere Fehler des alten Staatweſens rddte
ſich nun. Dem Bürgertum war jedes ftändifche
Gefühl verloren gegangen. Es wußte nichts
mehr von ſeinen Pflichten, die ſeine Rechte
waren, nichts mehr von der großen reorgani-.
ſatoriſchen Erweckungstat, mit der einſt der
geniale Reichsfreiherr vom Stein 1808 dem
niedergebrochenen preußiſchen Volke durch
die Selbftverwaltung neues, eigenwüchſiges,
torporatives Leben und damit neues Gelbit-
bewußtfein gab. Längſt vergeſſen hatte es
feine hohe Blüte im Mittelalter, wo die ge-
meinfreien Stände in den Reichs- und Freien
Städten ein großartiges Leben zum Blühen
brachten, wo ſich in den Innungen und
Zünften die „Geſchlechter“ im Dienſt ihrer
Städte zuſammenſchloſſen und in berechtigtem
Stolz an die Ehre und das Anſehn ihres Ge-
meinweſens alle Kräfte ſetzten; wo die Bau-
bitten als Hiterinnen überkommener Weis-
tümer die gewaltigen Kirchen und Münjter
ſchufen, in denen die Gemeinſchaft ihre innere
religidfe Zuſammengehoͤrigkeit bekräftigte.
Wir ſtehen heut an einer Schickſalswende.
Der geſunde Kern unſeres Volkes iſt des
unfruchtbaren Politiſierens müde. Er ſehnt
ſich nach einer das Daſeinsminimum gewähr-
leiſtenden Arbeit und nach einer neuen fitt-
lichen und anſtandshaften Lebensführung.
Nun kommt zur rechten Stunde ihm ein
Helferpaar.
86
Willy Schlüter, der Schöpfer des
„Deutſchen Tatdenkens“, der an Stelle des
Habewerts den Hebewert, das fchöpferifche
Werden in einem unendlichen Tun ſetzte, tat
ſich mit Dr. Wilhelm Dresden zuſammen:
und beide Kratologen und Tatdenker ſchufen
das ſittliche Grundbuch einer neuen, auf dem
tiefſten völkiſchen Ethos beruhenden Standes-
forſchung in ihren 99 Theſen für das
ſchaffende Volk: „Die Miffion des
Mittelſtandes“. (Auch dies Werk erſchien
wie das „Deutſche Tatdenken“ im rührigen
Verlag Oskar Laube Dresden.)
Man hält es kaum für möglich, was ſchaf⸗
fensträchtige, volkserzieheriſche, auf reale
Ziele gewandte Begeiſterung auch heute noch
vermag. „In kaum fünf Wochen wurde das
Werk in einem Zuge geſchrieben.“ In kräftig
kernigen Sätzen werden die Leitgedanken in
Theſen hingewuchtet: klar, einfach und ein-
dringlich. An jede ſchließt ſich eine tief durch-
dachte, aus tiefſtem ſchmerzlichen Erleben ge-
borene Exegeſe.
Zunächſt gilt es den Begriff des neuen
Mittelſtandes zu begründen. Der Mittelſtand
iſt nicht nur Volks-, ſondern auch Adelsſtand:
denn er fußt auf einer vielhundertjährigen
Tradition.
Seine Überlegenheit über das Partei-
denken erweiſt ſich in ſeinem Umfaſſen: „Er
iſt Mitdemokrat, Mitariſtokrat, Mitſozialiſt,
Mitnationaler, Mitkonſervativer, Mitliberaler,
je nach der Eigenart der ſich ihm ſtellenden
Führungsaufgabe und immer im Hinblick
auf das Volk in ſeiner Ganzheit“.
Seine Kraft liegt nur in feinem Standes-
bewußtſein. Er denkt niemals proletariſch,
fondern immer potentariſch. „Im Arbeiter,
der ſolchermaßen Stand in ſein Walten baut,
adelt ſich das proletariſche Weſen mit ſeinem
Abwärtsdeuten zum potentariſchen Aufwärts-
werten der Arbeit.“ Die Heiligung der Arbeit
erfolgt durch die geſinnungsmäßige Um-
einſtellung. Der Kern der Arbeit liegt in der
Beſeelung. Der Mittelſtand muß wieder
lernen, daß auf der Arbeitsfreude, auf dem
Grund der Rechtlichkeit des ganzen Volkes
Kultur und Kunſt beruht.
Dazu iſt Wechſelbelebung und Wedfel-
Auf der Warte
hebung Vorausſetzung. Wahrer Mittelſtand iſt
großgeiſtig, erkennend, fauſtiſch, nicht klein-
bürgerlich - enges Spießbürgertum.
Oer Werkgang beſtimmt die fällige Pflicht.
Geſunder Mittelſtand kann mit jeder Art
Doktrinarismus, jeder Art Schwarmgeiſterei
nichts anfangen. Es gibt nur Fortſchreiten,
kein Endziel. Der Mi ttelſtand wahrt die hifto-
riſche Stetigkeit: er nimmt langſam Neues an,
aber er verarbeitet es und ſchafft es weiter.
Die Verfaſſer verlangen ſichtbare Tat des
neuen überparteilichen Zuſammenſchluſſes
aller werkſchaffenden hand- und kopftätigen
Glieder des Mittelſtandes, einen allgemeinen
Arbeitsbienft zur Neubelebung von In-
duſtrie, Handel, Handwerk und Landwirtſchaft.
Durch dieſen Arbeitsdienſt, zu dem nament-
lich die Jugend gefordert wird, ſoll Trans-
portweſen, Straßenbau, Hausbau gefördert,
Pünktlichkeit, Straffheit, Verantwortungs-
freude geſchult werden. „Daß heute Werk-
wirtſchaft gegen ſteuerungsloſe Warenwirt-
ſchaft, Werk-Ethos gegen Parteipolitik ge-
drängt wird, ift eine weltgeſchichtliche Situ⸗
ation, wie ſie in dieſem Ausmaße, dieſer
Menſchheitsgefährdung noch nicht dageweſen
ist.“
Gelingt diefer ſtändiſche Zuſammenſchluß,
fo fintt das öde finnlofe Parteigetriebe ab,
und den Agitatoren geht ber Stoff aus. Tat-
geift braucht keine Schwadroneure. Gelingt es
nicht, rafft ſich das Volk aus ſeiner tatloſen,
völlig ungeiftigen Schlaffheit nicht auf, fo droht
völliger Zerfall, Bürgerkrieg, und was ba-
mit zuſammenhängt.
Ohne eine innere Befriedigung, ein
Loskommen von unfruchtbarem Rlaffen-
kampf, von ewig negierendem Raſſenhaß und
Maſſenwahn kann Oeutſchland nie von ſeiner
inneren Machtloſigkeit geneſen. Nur durch
Ausſcheiden aller Drohnen, deren Grundſatz
Skrupelloſigkeit und Anſittlichkeit iſt, und
denen Egoismus höher ſteht als Brüderlich-
keit, kann es geſunden.
Auf geſunder Arbeitsteilung beruht die
Kontrapunktik der Tatfüͤhrung. Ihr entſpricht
kein bürofratifcher Zentralismus, fondern
weitgehendſte Selbſtverwaltung der Gemein
den und Provinzen.
E
Auf der Warte
Zum Stand gehört als Ergänzung der
Rang, den Schlüter in der demnächſt folgen-
den „Führungskunde“ tatgeiſtig neufunda-
mentierte.
So find hier heilskräftige Geifter am Werk,
Deutſchland aus feiner tiefen Verworrenheit
zu neuer Klarheit und neuem ftandesmäßigen
Selbſtbewußtſein zu führen. Es iſt der Geiſt
Fichtes, der hier von neuem zu „Deutſchen
ſchlechthin“ ſpricht. Möchte er bereits Men-
ſchen mit offenen Sinnen finden! Möchte es
nicht zu ſpät zu einem endlichen Zufammen-
finden in einer poſitiven Doltsgemein-
ſchaft ſein. Unſer ganzes Wohl und Wehe,
Sein oder Nichtſein hängt davon ab. Handelt!
Paul Friedrich
Steiner und Rittelmener
ir haben in einem kurzem Nachruf in
der Mainummer des Türmers mit
einer gewiſſen Zurückhaltung von Rudolf
Steiner geſprochen. Nachfolgende Wiirdi-
gung ſtammt nun aus der Feder eines feiner
getreueſten Verehrer: des früheren Berliner
Predigers Dr. Friedrich Rittelmeyer,
der jetzt eine eigene „Chriſtengemeinſchaft“ im
Zuſammenhang mit der Anthropoſophie ge-
gründet hat. Er ſchreibt in feiner gleich;
lautenden Zeitſchrift (Stuttgart, Urachſtr. 41)
unter anderm folgendes, und das Übermaß
ſeiner bedingungsloſen Verehrung kann ſchwer-
lich überboten werden (wir müßten gleich
vom erſten Satz an Bedenken äußern, be-
ſchränken uns aber auf eine Schlußbemerkung):
„ . . Rudolf Steiner war nicht nur ein
Menſch, der auf der Höhe feiner Zeit dahin
ging, ſondern er war auch der erſte Menſch,
in dem wir eine wirkliche Welt- Bildung
verkörpert ſahen (). Goethe trug europãiſche
Bildung in ſich und reicht in ſeinem Alter noch
in den nahen Oſten hinüber. Indien kannte er
faft nicht. Steiner umfaßte wirklich die
Kultur feines Planeten. In dem Augen-
blick, wo die Volker und Kulturen der Erde
ſich berührten, erſchien auch ein Menſch, der
ſie in ſich vermählte. und doch hat man
Steiner keine größere Verſtändnisloſigkeit
entgegengebracht, als wenn man immer wie-
der behaupten konnte, er habe dies und das
87
von Indien ‚übernommen‘. Das hat er gerade
nicht getan. Nichts ſteht dem eindringlichen
Kenner feſter als dies. Man hat wirklich keinen
Begriff von der freien Selbſtändigkeit, in der
dieſer Geiſt überall lebte, wenn man von
Entlehnungen ſpricht. Er kam auf ſeinen
eignen Wegen zu Entdeckungen, die ihn
allerdings auch Indien verſtehen lehrten,
beffer als — man darf das ſchon ſagen, fo an-
ſpruchsvoll es klingt — bisher je ein Euro-
päer es verſtanden hat. () Es war eine
hohe Freude, Rudolf Steiner unter den
indiſchen Geiſtesſchätzen walten zu ſehen, er-
klärend, ergänzend, verbeſſernd. Er hatte den
ganzen Verfall des heutigen Indiens vor ſich,
aber auch die ganze wunderbare Weisheit der
indiſchen Vorzeit. Sie durchſchaute er, aber
als einer, der nicht darin ſeine Heimat hat,
ſondern von einem höheren Berge darauf
herabſieht. Dieſer Berg war Chriſtus. Mit
höchſter Verehrung ſprach Steiner von
Buddha, aber als von einem, deſſen Werk
durch das Chriſtusereignis der Vergangenheit
zugewieſen wurde. „Weil Buddha recht hatte,
darum mußte Chriſtus kommen.“ Als ich vor
faſt zwanzig Jahren Buddha genauer ſtudierte,
mußte ich das Studium abbrechen, weil ich
immer deutlicher die Überzeugung gewann,
daß bei dieſen Indern geiſtige Erlebniſſe vor-
liegen, die uns Europäern fremd find und die
wir erſt auf unſerem Wege neu gewinnen
müffen, wenn wir die Inder wirklich follen
beurteilen können. Durch Steiner lernte man
dieſe Erlebniſſe kennen. Er ſprach über die ver-
ſchiedenen Bewußtſeinszuſtände, die in den
indiſchen Schriften eine ſo große Bedeutung
haben, und über alle anderen Erfahrungen
des Boga fo vollkommen als Sachkundiger,
daß der Inder von heute durch ihn die Größe
ſeines eignen Landes und ſeiner uralt heiligen
Offenbarung hätte kennen lernen können.
Und doch ſprach er nicht wie die englifd-
indiſche oder amerikaniſche Theoſophie, als ob
der Kern aller Religionen derſelbe ſei, ſondern
im klaren Licht der Erkenntnis, daß Chriſtus
der Offenbarung Fülle ift, in dem auch be-
ſchloſſen liegt, was einſt Indien groß machte,
aber fo, wie wir es heute brauchen, und größer
als Indien es je beſeſſen bat...
88
Rudolf Steiner war ein Menſch, von dem
man ohne Übertreibung ſagen kann: in ihm
bat die Weltgeſchichte das Auge eines Erden
bewußtſeins aufgeſchlagen. Er dachte immer
weltgeſchichtlich im allergrößten Stil.
Auch während des Weltkriegs hat er ja —
die Reden von feinem antibeutſchen Verhalten
ſind reine Verleumdungen, er wollte immer
den Oeutſchen helfen — den praktiſchen Be-
weis für feinen durchdringenden weltge-
ſchichtllchen Blick erbracht. Es war eine Luft,
mit ihm durch die Menſchheitsgeſchichte wie
durch eine erhabne Landſchaft zu wandern.
Alles war klar, hoch und weit, nichts war
mumienhaft abgelebt oder gedankenſtarr wie
oft bei Hegel, alles lebendurchblutet, voll-
menſchlich lebenswarm.
Vorausſetzung für die Geſchichtsbetrachtung
Rudolf Steiners war, daß man die Ver-
gangenheit nicht nur aus Dokumenten durch
Schluͤſſe erkennen kann, ſondern mit höheren
Geiſtorganen einfach zurückblicken in das,
was geweſen iſt. Und Vorausſetzung für
dieſe Geſchichtsforſchung war wiederum, daß
alles Geſchehen zwar nicht in der äußeren
Welt, aber in einer höheren, geiſtigen Welt
feine Spuren, gewiſſermaßen geiſtige Ab-
drücke hinterläßt, die der mit geiſtigen
Augen Sehende auch finden kann. Das iſt
die Anſchauung von der Akaſchachronik,
die Steiner fo erbitterte Gegnerſchaft und fo
bequemen Spott zugezogen hat. Sie iſt eine
echt bibliſche Anſchauung. Man will es nur
nicht wahr haben, was in der Offenbarung
Johannis zu leſen iſt von den Büchern, in
denen alles verzeichnet iſt, was getan wurde,
und die einmal aufgeſchlagen werden. Reli-
gidfe Forſcher find oft dieſen Gedanken auf
ihre Weiſe nachgegangen, daß das Vergangene
nicht nur vergangen fein kann, ſondern irgend;
wo aufbewahrt ſein muß. Es könnte ja im
Bewußtſein höherer Weſen fein und könnte
dort geleſen werden, wenn der Menſch zu
ſolcher Höhe einmal aufzuſteigen vermag.
Und fo muß man ſich auch die Akaſchachronik
in Wahrheit denken.
Wenn Rudolf Steiner von allen lebenden
Menſchen der war, der weitaus am meiſten
aus dieſer Akaſchachronik erzählte, ſo war er
Auf der Warte
ſich deſſen bewußt, was dies von ihm forderte,
und die ihm gubdrten und ihn nicht in allem
nachprüfen konnten, waren ſich auch zum Teil
deſſen bewußt, was ſie von ihm zu fordern
hatten. Er ſprach erſt, nachdem er ſehr lange
gewartet und mit aller nur moglichen Strenge
ſeine eigne Begabung geprüft hatte. Er ſprach
immer nur von Oingen, die er nach den
ſicherſten Methoden, die er ſich gebildet
hatte, abſolut gewiß wußte. Er ſprach von
vielem nicht, wenn er irgend einen einzelnen
Punkt nicht zur vollen Klarheit gebracht hatte.
Er ſprach niemals, um mit einer Entdeckung
zu prunken oder zu üͤberraſchen, niemals um
menſchliche Neugier oder Wißbegier zu be-
friedigen, niemals um für ſich ſelbſt irgend
einen Vorteil zu erreichen, und wäre es nur
der der größeren Glaubenswüuͤrdigkeit. Nur
durch dieſe größte Strenge und Gewiffen-
haftigkeit konnte er ſich bei ernſten, vorſichtigen
wiſſenſchaftlich geſchulten Männern allmählich
das Vertrauen erwerben, das er genoß. Nur
durch dieſe größte Strenge und Gewiffen-
baftigteit war es auch moglich, daß er durch
über zwanzig Jahre frei ſprach über die ver;
ſchiedenſten Gebiete, oft taͤglich mehrere Vor;
träge, immer aus der Fülle heraus, ohne
ſich je zu widerſprechen ..“ (? O. T.)
Hier brechen wir mit einem Fragezeichen
ab. Wir hätten an vielen Stellen dieſes Frage;
zeichen einfügen muͤſſen. Man fieht aus diefen
Worten Friedrich Rittelmeyers, daz eine
höhere Einſchätzung ſchlechterdings nicht mög-
lich iſt. An anderer Stelle desfelben umfang-;
reichen Aufſatzes heißt es: „Rudolf Steiner
war der erſte Chriſt von allen, die wir
kennen, dem der Himmel auf der Erde
offen ſtand.“ Man könnte zwar an Sweben-
borg und manche Viſionen der Heiligen er-
innern, aber es wäre zwecklos. Rittelmeyer
behauptet und glaubt: „Oie Toten lebten ihm,
er konnte ſie verfolgen in ihrem Weiterleben,
er konnte ſich mit ihnen verſtändigen
Er lebte im Schauen und konnte mit den
Propheten und Heiligen wie mit
Seinesgleichen über ihre Erlebniffe
reben“ ()
Wieder an anderer Stelle leſen wir: „Seit
Ariſtoteles iſt wohl kein Geiſt bekannt,
Auf der Warte
der ſo die Seiſtesfülle des Lebens in
fid umſpannte. Hier war mehr als Ari-
ſtoteles: ein Auftun der Zukunft, wo dort
mehr ein Abſchließen der Vergangenheit war.“
Und endlich gegen Schluß: „Dieſer reine
Chriftusgeift war in ihm. Vor Gott und allen
Engeln ſei es bezeugt. Es iſt ſichere, lautere
Wahrheit
Steiner iſt alſo für Rittelmeyer mehr als
Soethe, Hegel, Ariſtoteles — und nur eben
bei Chriſtus macht er halt.
Die Auffaſſung dieſes ernſten Mannes wird
jeder Leſer hochachten, auch wenn er mit
anderen Augen ſchaut. Aber die entſchei ;
dende Vorfrage ijt von Rittelmeper gar
nicht aufgeworfen, nicht einmal empfunden.
Ehe man nämlich die Frage ftellte: „Wie er-
langt man Erkenntnis überſinnlicher Welten?“
(Stemer), mußte die erkenntnistheo-
retiſche Vorfrage geldft fein: „Iſt ob-
jettive Exkenntnis überſinnlicher Welten für
uns ſinnengebannte Planeten bewohner über;
haupt möglich?“ Oer Chrift und der Denker
(Rant), beide, haben bisher beſcheiden ge-
ſagt: „Nein.“ Sie haben dieſe Gebiete dem
Glauben und der Ahnung überlaſſen.
Der Literat Steiner hat ſchlankweg das Gegen-
teil vertündet und hat feine Verehrer, als
unbedingte Autoritätsgläubige, für bie-
ſelbe fubjettive Auffaſſung gewonnen. Für
diejenigen aber, die nicht mitzugehen ver-
mögen, wenn fie auch Steiners bedeutende
Anregungen und konſtruktive Phantaſie achten,
bleibt die Vorfrage ungelöft.
Auch das neueſte Buch über „Anthropo⸗
ſophie und Chriſtentum“ (von Liz. A. F.
Stolzenberg, Privatdoz. a. d. Univerfitat
Berlin, Verlag Speyer & Peters, Berlin)
legt auf die erkenntnistheoretiſche Frage den
entſcheidenden Wert und kommt zu einer
runden Ablehnung.
Afrikaans
frikaans ift die ſüdafrikaniſche Form des
Hollandijden, aud „Taal“ genannt, die
ſich im Laufe der Zeit ſelbſtändig entwickelt
hat, nach dem die holländiſchen Koloniſten die
Verbindung mit dem Mutterland verloren
89
hatten. Afrikaans iſt jetzt zu einer in jeder Be-
ziehung dem Engliſchen gleichberechtigten
Sprache in Südafrika gemacht worden, und
dieſes Land iſt fortan ein zweiſprachiges.
In Anbetracht der Kämpfe deutſcher Min-
derheiten um ihr Recht auf die Mutterſprache
iſt es intereſſant, auch hier wieder die Be-
ſtätigung des Satzes zu finden, daß es leichter
ift, ein Volk zu unterdrücken, als feine Sprache.
Bon 1625 bis zu Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts ſprachen die Kapkoloniſten
holländiſch. Als die Engländer ſich des Kap⸗
landes bemädhtigten, dekretierten fie Engliſch
als die Staatsſprache. Im Verwaltungsdienſt,
in der Rechtspflege, in den Schulen wurde nur
Engliſch geſtattet. Als die Kapleute ein Parla-
ment bekamen, wählten ſie einen Farmer, der
nur holländiſch ſprach, doch durfte er nicht
ſprechen. Die Sprache wäre ausgeftorben,
wenn die Bauern nicht ſo konſervativ und ihre
Höfe fo weltabgeſchieden geweſen waren. Doch
aus dieſer Lage entwickelte ſich auch die Ab-
weichung vom Holländiſchen. Als das Rap-
land 1872 eine Selbſtregierung erhielt, wuchs
das Gefühl für eigenes Volkstum, beſonders
im Gefolge der Behandlung, die die Buren;
republiken erbulbeten, mddtig empor. Der
Afrikanderbund wurde gegründet, und
feine politiſ che Bedeutung erzwang Sprach-
konzeſſionen. Jameſons Einfall und der
zweite Burenkrleg erhöhten das Raſſegefüͤhl.
Überall erhoben ſich Ver eine zur Pflege der
Mutterſprache, und Privatmittel errichteten
Schulen. Mit der Selbſtregierung der einſtigen
Burenrepubliten (1906-7) kam die Gleich-
berechtigung der beiden Sprachen. Die Stabt-
verwaltungen waren jetzt gezwungen, Be-
kanntmachungen in beiden Sprachen anzu-
ſchlagen, und es gab Leute, die weder Steuern
noch Fahrkarten noch irgend welche Öffentliche
Zahlungen machten, wenn ſie nicht auf
bolländifch gefordert wurden, fo gut jie auch
Engliſch verſtanden. Noch 1910 beſtand man
auf beiden Sprachen bei allen Beamten.
Und dies alles, trotzdem faſt alle Afrikander
Engliſch ſprechen, aber ſehr wenige Engländer
Afrikaans. Auch hier hat die Zaͤhigkeit gefiegt,
und das will viel heißen, wenn es ſich um
zwei ſo zähe Stämme handelt, wie Holländer
90
und Engländer. In der Südafrika-Akte von
1909 waren Engliſch und Holländiſch als
gleichberechtigt aufgeführt, durch ein Amen-
dement hat man nun klargeſtellt, daß Afri-
ka ans in allen Fällen dieſe Gleichberechtigung
genießt. L. M. Schultheiß.
Jeden Tag eine Briefſtelle
er wir keine Briefe mehr ſchreiben,
iſt alles Seruhſame aus unſerem Leben
wie weggeblaſen. Was teilten unſere Eltern
noch einander in Briefen für Schätze an Geiſt
und Güte mit! Briefe wurden vorgeleſen,
Stellen aus neuen Büchern wurden in Briefen
mitgeteilt, Reifeeindrüde, Erlebniſſe vermittelt,
Briefe wurden aufbewahrt und wie Heilig
tümer gehütet, vererbt. Freilich, auch in den
vier ſchlimmen Jahren des letzten Krieges
ſchrieb man viele, viele Briefe — aber fie wa-
ren alle voller Sorgen und Bangen, Trauer
und bitterem Weh. Dann hat man das Briefe
ſchreiben gar flugs wieder verlernt, hört lieber
Radio, ſieht Kino und beſtaunt die Briefe
unſerer Väter aus der Ferne als veraltete
Wunder, die nach Lavendel duften.
Und dann ſetzt ſich in der Niederlößnitz bei
Dresden ein Mann der angewandten Wiffen-
ſchaft, Verlagsleiter und Redakteur der Gad-
ſiſchen Handwerker- und Gewerbe- Zeitung
hin und ſammelt in vielen Jahren viele, viele
Stellen aus Dichterbriefen, ſtellt ihrer je bis
zu einem Dutzend für jeden Tag des Jahres
zuſammen, verſieht ſie mit mehreren, ſehr
zuverläffigen Regiſtern und legt der deut-
ſchen Familie damit ein Haus buch, der
Jugend ein geiſtiges Rüſtzeug fürs Le-
ben, dem Lehrer und Geiſtlichen, Redner und
Schriftſteller ein Handbuch zum täglichen
praktiſchen Gebrauche im Berufe auf den Tiſch,
wie es eben nut ein Nachfahre aus dem
Volke Goethes ſchaffen kann. Wie wuͤrde die
große Exzellenz von Weimar, unübertroffen
auch im Sammeln und Sichten, Einordnen
und Gruppieren alles Geleſenen, Geſehenen
und Erlebten, ob dieſer „Dichterweisheit in
Briefen“ von Dr. Hans Zimmer (Greiner
& Pfeiffer, Stuttgart) ſchmunzeln und ſeinem
Amanuenſ is Eckermann zulächeln, der auch
Auf der Warte
faſt für jeden Tag im Jahre fein Sprüchlein
aufſchrieb!
Hausbuch nannte ich es — als einen ewigen
Bildungskalender könnte man dieſe faſt 500
Seiten in blauem Leinen ebenſogut bezeichnen
und allen zum guten Gebrauche in die Hand
drucken, die öfter in ein Stammbuch oder
„Poeſiealbum“ ihr Sprüͤchlein einzuſchreiben
gehalten find; der Stumpfſinn unſerer heu-
tigen gedankenleeren Stammbücher wäre mit
einem Schlage ausgerottet. Oder wer eine
Rede halten ſoll oder muß und um Gedanken
verlegen iſt, wer mit Leſefrüchten mühelos
glänzen will, bediene ſich dieſes Sammelwerks
täglicher Briefſtellen. Man kann fie auch fogu-
ſagen ad hoc und per se mit Gewinn leſen,
zumal jede Stelle in Jahreszahl und Adreſſat
ihren kleinen Kommentar hat.
Für wen dieſe Stellen, wiſſen wir alſo. Von
wem — iſt noch kurz zu ſagen. Natürlich ſteht
Goethe als der fruchtbarſte aller Briefſchreiber
obenan, dann folgt Hebbel, nach ihm Schiller,
Wieland und Jean Paul mit den meiſten Stel-
len. Fontane und Humboldt, Herder, Heine,
Körner, Leſſing, Kleiſt, Richard Wagner und
Storm, Anzengruber, Grabbe und Görres.
Und wer noch alle — auch Dehmel und Hart-
leben, Gjolde Kurz, Liliencron von den Jün-
geren. Luther iſt freilich nur mit einer ein-
zigen armſeligen Briefſtelle bedacht — hat der
fleißige Sammler, der 87400 Oruckſ eiten
durchnahm, weiter nichts von ihm gefunden
oder zählt ihm Luther nicht unter die Dichter?
Wenn auch Bismard nicht eben hierhergehört,
ſo wird man doch Moltke und Friedrich II.
von Preußen, die auf ihre Art Dichter waren
und wunderbar tiefe Briefe ſchrieben, ungern
vermiſſen. Hier darf ich vielleicht auch anmer-
ken, daß es dem Buche genützt hätte, für jeden
Tag eine neue Seite anzufangen; der Mehr
aufwand an Papier wäre im Verhältnis zur
größeren Aberſichtlichkeit gering geweſen und
gewiß kaum ins Gewicht gefallen. Prächtig iſt
das Sachregiſter und etwas Neues die Adreſ
ſatentafel: praktiſche Literaturgeſchichte.
Für den Weiterbau deutſcher Bildung ift
allen Volksſchichten hier das nützlichſte Se
ſchenkbuch geſchaffen. Blättert nur in biefere
dreitauſend Briefſtellen, und ihr werdet des.
Auf der Warte
Erftaunens kein Ende finden, wie geſcheit und
gut die Dichter fogar in Briefen waren. Wahr-
baftig, ſolch ein Buch iſt ebenſo nötig wie
Flagge und Nationallied. Paul Burg
Sternheim, der Retter
an wird auf mancherlei Weiſe berühmt,
der eine durch die Wirkungskraft ſeiner
Bücher, der andere durch eine geſpreizte Eitel-
keit
Da ift Karl Sternheim, der 1918 einen
Verein zum Abbau der bürgerlichen Fdeo-
logie gründen wollte und mit allerlei „Sa-
titen“ kam, um ein zweiter Molidre (!) zu
werden, ohne je einzuſehen, daß er nur ein
Heiner Artiſt war. Er wird nun zum Retter
md gibt ein Buch heraus „Oskar Wilde. Sein
Mama“, vor deſſen Aufführung alle guten
Geifter das deutſche Volk bewahren mögen.
Ob Drama oder Kitſch, das iſt hier ja gleich.
Denn dieſe Sorte Schriftſteller weiß nichts
mehr von einem Erkämpfen der dramatiſchen
Form; in einer Gelbitüberhebung wird da
vom „Drama“ geredet, als hätte nie ein Shake;
ſpeare, Schiller, Kleiſt, Hebbel, Ludwig (mit
ſeinen wichtigen Shakeſpeare Studien) ge-
lebt. Sternheim ſcheint ein Wort des lieben
Wilhelm Raabe („Abu -Telfan“) falſch ver-
ſtanden zu haben (wenn er uns in Vorworten
belehren will): „Nur Mut, und Selbſtver⸗
trauen bis zur Unverſchämtheit.“ Es heißt bei
dieſem Literaten: „Vincent van Goghs, des
großen Holländers, Rettung in den Himmel
weſentlicher Menſchen (1), habe ich in einem
Buch, das gerade erſcheint, durchgeſetzt ().
An Wildes erſchũtterndem Drama arbeite ich
mit Hingabe, und man wird es, durch ſchlechte
Darftellung vorausſichtlich entfeelt, im nddften
Winter auf deutſchen Bühnen ſehen. Heines
alle deutſchen Dichter überragendes
Denkmal gegen die fortſchreitende Derblö-
dung feiner Landsleute () allein zu er-
richten, behalte ich mir für die Zeit meines
50. Lebensjahres vor, wo ich die geiſtige Reife,
die es zu feiner Deutlichmachung braucht, im
Aus land erreicht zu haben hoffe!“
Ift ſolch ein Geſchreibſel nicht zum Ohr-
feigen?! Und ein deutſcher Verlag (Riepen-
91
heuer) verlegt das, dieſe Herausforderung
eines Bramarbas, der als Clown auf dem
deutſchen Parnaß herumhüpft! Wenn Stern-
heim ſo arm wäre, wie ſein Vorbild Frank
Wedekind, der in ſeiner Narrheit doch aber
ehrlich kam, wenn er nicht ein „Grand-
ſeigneur“ (wie Bernhard Diebold jagt) und
äußerlich reid) begütert wäre, würde ich an-
regen, daß man zu einer Fahrt für dauernden
Aufenthalt im Ausland öffentlich ſammelt.
Dann wären wir dieſen Gecken los.
Ich empfehle die Lektüre dieſes klapper-
duͤrren Wilde nicht, will aber einen kleinen
„Dialog“ (in Sternheimſcher Auffaſſung von
Dialog) geben. Es handelt ſich um die Szene
vor Wildes Verhaftung. Dort lieſt man:
„Tubby (zu Wilde): Wie würdeſt du dich
ſelbſt eindeutig mit einem Wort in die Ewig-
keit () nennen?
Wilde: Ich mich? — Wilde!
Roß: Das iſt's!
Tubbp: Abgemacht!
Roß: Dein Fall iſt weltgeſchichtlich (1) klar.
Tubby: Ohne Zutun der Welt glatt er-
ledigt.
(Vor der Glastüre werden Silhouetten
zweier Poliziſten ſichtbar.)“
Soll man über das Geſchwãtz lachen?
Jedenfalls: auch der Fall Sternheim iſt
„weltgeſchichtlich klar“. Dr. W. E. G.
Das kleine Glas
n einem wirklich wundervollen Sommer-
tag kam ich einen märchenhaft ſchönen
Weg gegangen: wehende Kornfelder, blühende
Raine, Eichenrieſen, die um ſtille Teiche ftan-
den, und Wolken, aller himmliſchen Farben
voll! Meine Seele trank ſich froh und leicht
an dem ewigen Quell Natur. Mir war, als
kame eine ſtille Reinheit über mich wie ein
großes, heiliges Geſchenk. Neu war mir alles,
und das Leben fing von vorne an.
So kam ich, das Gemüt lichtgebadet, und
mit Gedanken wie lauter kleine Sonnenſtrah-
len, in ein Städtchen gewandert, wo ich einer
jungen Braut Glück wünſchen wollte. Du
lieber Gott, was braucht's da eigentlich noch
gewünfchtes Glück, wo die Aberfiille ſchon la-
92
chenden Einzug gehalten bat! „Rofenzeit und
Madchenzeit !
Ich wurde gleich in die beſte Stube ge-
bracht und ein Weilchen noch mit mir allein
gelaſſen. Mit mir und einem großen Tiſch voll
Gaben. Aber wie ich die aufgehäuften Schätze
betrachten wollte, da war's doch nicht anders,
als führe eine Kreuzotter gerade auf mein Ge-
ſicht los. Schnapsgläfer hatte man dieſem
lieblichen Kind geſchenkt, Verzeihung, nein,
„Likörſervice“, eins, zwei, drei, ein halbes
Dutzend, hohe, niedrige, geſchliffene, ge
malte...
Wahrſcheinlich hatten urfprünglich auch noch
ein paar „Bullen“ dageſtanden, aber die waren
wohl an dem hohen Tage ſchon draufgegangen,
damit „Stimmung“ käme, und die Gäſte ſich
„amüljierten“,
Da war doch eine ſehr bdfe, düftere Wolke
über meinen fonnenfeligen Himmel gelaufen.
Solche Verlobungsgeſchenke hat man jetzt er-
funden, zur erſten Ausſtattung des „lieben
jungen Haushalts“!
Seht in den Zeitungen nach: wieviel Men;
ſchen kommen alljährlich auf den Ozeanen um!
Und befragt die Budthdufer und die Irren;
anſtalten: Viel, viel mehr junges Menfchen-
glück ertrinkt im kleinen Glaſe!
Und weil die alten Schnapsbrüder nicht
mehr alles, was hergeſtellt wird, allein trinken
konnen, erzieht man jetzt die jungen Bräute
— wer wollte „prüde“ fein ! — die Mütter des
kommenden Geſchlechts, zum „Schnäpschen“.
Ernſt Stemmann
Die Schuld der Umgebung
u den Bemerkungen Prof. Bornhaks,
des klarſten Hiſtorikers der letzten Jahr
zehnte, über Wilhelm II., daß er Wider-
ſpruch vertragen und die Wahrheit hören
konnte, wenn ſie ſich zu begründen wußten,
vgl. im Türmer, Auguſt 1925, S. 468, fei eine
unſcheinbare, immerhin auch nachdenkliche
Beitätigung erlaubt. Ich habe fie von einem
verſtorbenen Freunde, der ein grundehrlicher,
liebenswertefter Schwabe und Bildhauer
war; er wird manchen unvergeſſen fein. Pro-
feſſor Wilhelm Wiedemann, ſo hieß er, war
an dem „Märchenbrunnen“ für Berlin mit
Auf der Warte
Auftrag beteiligt. Wilhelm II. beſuchte die
Werkſtätte, beſichtigte das begonnene Modell,
hatte fofort feine neuen Ideen dafür. Der
Bildhauer ſieht dem Kaiſer ins Geſicht und
fagt in ruͤckſichtsvollem Ton: „Entſchuldigen
Majeftät, es läßt ſich nicht gut machen!“ Das
Hofgefolge iſt peinlichſt entſetzt, nicht weniger
der einführende Berliner Stadtrat oder Kunft-
beamte. Der Kaiſer, den Kopf aufwerfend:
„Wieſo?“ — „Majeſtät, aus den und den
(kuͤnſtleriſch menſchlichen) Gründen“. Ber
Kaiſer und der Bildhauer ſtehen Auge in
Auge. Darauf der Kaiſer: „Sie haben recht!“
und ſtreckt ihm kräftig die Hand hin.
Eine Augenblickstatſache. Weiteres zu-
gunſten dieſes Enkels (die deutſche Geſchichte
hat mehr ſo unſelige Enkel, Otto III., den
Staufer Friedrich II.) ſoll nicht damit geſagt
ſein. Nur, daß ſolche Augenblicke viel zu viel
gefehlt haben. Aber die Deutſchen insgeſamt
tragen mit die Schuld, daß die Byzantiner
und Neidinge das Kartenſpiel behielten.
Ed. Heyck
Die Stockholmer Weltkonferenz
der evangeliſchen Kirchen hat aus 37 Völkern
der Alten und Neuen Welt Vertreter zuſam-
mengefüͤhrt, die faſt zwei Wochen lang getagt
haben (19. bis 31. Auguſt). Wir verzeichnen
dieſe Tagung nur als ein Symptom: als einen
Verſuch, durch ein Aufgebot von Vertretern
des Chriſtentums über die ddmonifd düftere
Weltlage Herr zu werden oder wenigſtens zur
Klarheit zu kommen. Das Chriſtentum, die
Religion des führenden Europas, hat die
Schlachterei des Weltkriegs mit feinem Ver-
nichtungswillen nicht verhindern können. Der
bedeutende Erzbiſchof Söderblom rief nun die
Geiſtlichkeit der halben Welt in jenes neutrale
germaniſche Land, damit man gemeinfam
die Sachlage oder — deutlich geſagt — dieſ en
Bankrott der religiöfen Mächte be-
rate. Die Stimmen, die wir von dort hörten,
find voll von Lob über den bedeutenden Ein-
druck des Ganzen, beſonders über den Ver-
ſtändigungswillen, und über die wertvollen
Außerungen im einzelnen. Schon daß ein fol-
ches Zuſammenkommen möglich war, iſt be-
zeichnend für die veränderte Geſinnung. Aber
Aut ber Marte
auch bie Fühnften Optimiften find im Gejamt-
urteil etwas zurüdhaltend und begrüßen dieſe
Tagung nur als einen verheißungsvollen An-
fang. „Ein Ausſchuß iſt eingeſetzt, der das
Werk fortſetzen foll*: fo pflegen faſt alle La-
gungen zu enden. Man hat ſich wohlweislich
(4. B. in bezug auf den heiklen Völkerbund)
der „Beſchluͤſſe“ enthalten. Es waren bemer-
tenswerte Bekenntniſſe auf ſozialem, fitt-
lichem, ſogar raſſiſchem Gebiete uſw. zu ver-
zeichnen; und im Mittelpunkt ſtand immerhin
der Meifter der Chriſtenheit.
Man darf das Ganze vielleicht am knappſten
als ein Bekenntnis zum Willen zur Liebe
bezeichnen nach dem voͤlker verheerenden Wil;
len zur Macht, den der Weltkrieg darſtellte.
Inſofern ſtecken in dieſer groß angelegten
Kirchenkonferenz geheime Werte, die ſich viel;
leicht im Laufe der nddften Fabre und Jahr;
zehnte auswirken werden.
Nobelpreis und Fritz v. Unruh — ?
s ſcheint jetzt geſchmackloſe Mode zu wer-
den, der ſchwediſchen Rommiſſion fuͤr den
Nobelpreis öffentlich Vorſchläge zu machen.
So wird nun, nachdem man früher für Arno
Holz geworben, in einem Teil der deutſchen
Zeitungen für Fritz von Unruh Stimmung
gemacht. Wir hoffen, daß man ſich in Schwe
den von dieſer aufdringlichen Mache nicht be⸗
einfluſſen läßt.
Wir unſrerſeits verlangen, vom parteilos
deutſchen Standpunkt aus, daß man in einem
wirklichen Vertreter deutſchen Geiſteslebens
irgend etwas ſpuͤre von der beſondren deutſchen
Herzens - und Schickſalskraft, von deutſchem
Können, von deutſchen Hoffnungen im Sinne
jenes Aufbaues, der jetzt bei uns überall Chaos
in Rosmos verwandeln will. In Fritz v. Unruh
ſpũren wir bislang nur chaotiſche Krämpfe,
keine Rraft. Und der Pazifismus dieſes unfer-
tigen und vielleicht nie reifenden Oichters ift
ungefund, geſpreizt, tendenziös verzerrt oder
zerfließend, in keiner Weile jedoch bezeichnend
für das, was in den beſten deutſchen Herzen
und Röpfen jetzt zur Geſtaltung trachtet. Ja,
ſchroff geſagt: fein Dichten iſt bislang eher der
Fratze benachbart als der Geſtaltung.
Dies muß un zweideutig ausgeſprochen wer;
95
den. Denn bier ift wieder einmal Tendenz und
Machenſchaft am Werke. Dies iſt nicht Oeutid-
land in feiner Weſenheit und in feiner Ganz-
heit.
Man könnte allen falls verſtehen, wenn man
deutlich umriſſene Perſonlichkeiten wie Ricarda
Huch, Paul Ernſt, Stefan George, Handel-
Mazzetti, ſogar den Grafen Repferling in Vor-
ſchlag brächte, halten aber eine öffentliche Er-
örterung überhaupt nicht für angebracht.
Das Radio, ein modernes Narko⸗
tifum
an könnte etwa folgenden allgemeinen
Satz aufſtellen: Es gibt keine techniſche
Erfindung, und fie fei nod fo beglüdend und
fortſchrittverheißend, die nicht an irgend einer
Stelle von der Menſchheit mit Schädigungen
bezahlt würde. Der Menſch erfand den Buch-
druck, und er erlag mehr denn je der Macht der
Züge und büßte an Anſchauungsfähigkeit ein.
Oer Menſch erfand die Maſchine, und er wurde
zum Sklaven der Maſchine, wie wir es alle
heute unentrinn bar fpüren. Es müßte alfo bei
einer ſo erſtaunlichen Erfindung wie der des
Radio von vornherein gefragt werden kon-
nen: wo rächt ſich dieſer prometheiſche Griff
über die Grenze, die uns Sinnenweſen bisher
geſetzt war?
Allerdings wird man da faſt nie aus der Ab;
ſtraktion heraus die richtige Antwort finden
konnen, man wird aber auf der anderen Seite
nicht allzu erſtaunt ſein, zu ſehen, daß bereits
an einer Stelle das Radio als Danaergefdent
ſich zu erweifen beginnt. Es hat ſich da in den
fanatiſchen Anhängern des Radio ein ganz
merkwürdiger Menſchentyp herausgebildet,
der mir zu ſeltſamen Betrachtungen Anlaß gab.
Freilich ſind hiermit nicht jene ehrenwerten
Menſchen gemeint, für deren arbeitsreiches
und eintöniges Leben unter Derhdltniffen, die
koſtſpielige Vergnügungen nicht erlauben, das
Radio eine wirkliche Quelle der Freude und der
Abwechſlung bedeutet, ſondern jene außer
ordentlich reichhaltige Gattung von Menſchen,
in deren Begeiſterung für den Radio ein fan a-
tiſcher Beigeſchmack ſteckt, ähnlich, wie
etwa nach dem Kriege weite Rreife eine fana-
tiſche Tanzluſt ergriff. Beobachtet man nun
94
dieſe Art irgendwie zwangsmäßig an den Na-
dio gebundener Menſchen, wie ſie in völliger
Auflockerung ihres ſonſtigen ſeeliſchen Gefüges
dieſen merkwürdigen modernen Sirenenklän-
gen ſich hingeben, wie ſie oft nicht ſchlafen
können, ohne ſich vorher an dieſer ſonderbaren
aluſtiſchen Nahrung geſättigt zu haben, fo hat
man das twppiſche Bild eines unechten
Rauſch zuſt andes, wie er Folge aller Nar-
kotika iſt. |
Wodurch unterſcheidet fid der narkotiſche
Rauſch von dem echten Rauſchzuſtand, wie ihn
etwa die Freude, die Liebes begeiſterung, echte
Runfteindrüde uſw. zu erzeugen vermögen?
Einfach darin, daß ſich beim unechten Raufch-
zuſtand die Gemütsaufwallung bereits mit
einer Erſchlaffung verbindet, die zugleich halb-
bewußt von zehrender Natur iſt; und dann
darin, daß das betreffende Individuum ohne
jede innere aktive Spannkraft ijt, vielmehr ein
völlig paſſives Verhalten gegenüber den zu-
geführten Reizſtoffen beſteht, ein wolluͤſtiges
In⸗ſich-hereinnehmen der Raufchmittel. Wer
etwa einmal Kokainiſten hat ſitzen ſehen, wird
nie dieſen Eindruck völliger Erſchlaffung und
zerſtörender Auflockerung vergeſſen, den hier
der Rauſchzuſtand felber bereits bietet. Aller-
dings ſind hier dieſe typiſchen Merkmale in
reinſter Form anzutreffen, aber irgendwie hat
jeder unechte Rauſchzuſtand an dieſen typi-
ſchen Abläufen Teil.
Es kann nun aber nicht einmal behauptet
werden, daß das Radio nur eine ſehr lockere
Art verbindung zu anderen narkotiſchen Raufch-
guftdnden aufweiſt, vielmehr kann man den
Radio, wenigſtens in feiner jetzigen Form, ge-
troſt als ein echtes modernes Narkotikum
bezeichnen, deſſen verheerendſte Wirkung be-
ſonders in ſeiner Maſſen verbreitung liegt.
Schon die Art des Aufnehmens der Radio-
muſik ift typiſch. Ich wurde bei einem Men-
ſchen direkt an die verzerrten Nokainiſtengeſich-
ter erinnert durch die völlige Erſchlaffung und
Paſſivität, die ſich in dem geſamten Gehaben
des Hörers ausdrückte. Welch ein Gegenſatz
zu einem wirklichen Konzert! Schon die ſchein⸗
bar ſo unweſentlichen Außerlichkeiten, wie die
Bezahlung der gewünſchten Freude, das Sich
hinbegeben an den entſprechenden Ort, der
räumlich ſpannende Kontakt mit den Mufi-
Auf der Warte
zierenden, die Einmaligkeit des Gebotenen:
all dieſe wirklichen Begebenheiten bereiten
ganz unwillkürlich bei dem Hörer einen Zu-
ſtand aktiver Spannung vor — nicht im Sinne
von rein pſychiſcher Erregtheit, ſondern von
vitaler Organbelebung — der im Durchſchnitt
nur kraftſteigernd, aber nicht als verzehrende
Auflockerung wirken kann. Wogegen der Ra-
diohörer ohne die geringſte Aktivität ſich Tag
für Tag dem Geplätſcher ſeichteſter Unter-
haltungsmuſik überläßt. Es iſt klar, daß dieſe
unermüdliche Zuführung von akuſtiſchen Reiz-
ſtoffen nur zerſtörend wirken kann und ſchließ⸗
lich eine Vernichtung der pſychiſchen Spann-
kraft erzeugt.
Die Gefahr liegt vor allem in dem rein tech
niſchen Ablauf der Radiobenutzung. Der Radio
ijt nun einmal gegeben und aller Welt zugäng-
lich; Einſicht in die wirklichen Zuſammen hänge
und Wille, den Schädigungen zu entgehen,
iſt nicht vorhanden. So wird dann ohne den
geringſten Widerſtand der Lodung der aku-
ſtiſchen Narkotiſierung nachgegeben, ohne daß
dieſer Tatbeſtand im geringiten in das Be-
wußtſein dringt, ebenſo wie es ja allgemein
nicht bewußt iſt, in welchem Maße durch die
gewohnheitsmäßige paſſive Aufnahme einer
unnötigen Menge von Leſeſtoff Urteilskraft
und Anſchauungsfähigkeit herabgeſetzt wird.
Und es iſt womöglich kein Zufall, daß gleich-
zeitig mit dem Radio das Volk mit den aus
Amerika eingeführten Magazinen über-
ſchwemmt wird. Diefe Magazine — ſchon das
Wort iſt furchtbar — verſetzen ebenfalls ihre
Lefer in den völlig paffiven Zuſtand, in dem
jedes geiſtige Verantwortungsgefühl gegen-
über dem aufgenommenen Stoff, jede objet-
tive, eine Belehrung oder Gemuͤtsbereicherung
erzeugende Teilnahme ausgeſchaltet wird und
lediglich eine Flut amüfanter, ſeichteſter Ge-
ſchichten, Anekdoten und Ruriofitdten aus aller
Welt den Leſer in den gewünſchten wohligen
Dämmerzuſtand verſetzt, deſſen narkotiſcher
Charakter um ſo weniger bemerkt wird, als die
Lähmung an Urteils vermögen und geſunden
Inſtinkten (den Folgen dieſes Zuſtandes) ſich
nicht körperlich greifbar auswirkt.
Man könnte nun ſagen: die Magazine wie
das Radio und was es noch ſonſt gibt, ſind Zu-
fallserſcheinungen; was aber nicht zufällig iſt,
Auf der Warte
das find die geiſtigen Epidemien, für deren
Ausbruch ſolche Erfindungen nur den äußeren
Anlaß bieten. Ein fo ſchwer erſchuttertes Volk
wie das deutſche muß durch Kriſen und Epide-
mien hindurch, es find unvermeidbare Über-
gangszuſtände. Das iſt gewiß in den Grund-
zügen richtig, und darum wäre es unſinnig,
nun einen Antiradiokampf zu entfeſſeln. Was
aber nicht fein darf, das iſt die offizielle Förde;
rung dieſer Dinge, wie fie zum mindeſten un-
eingeſtanden geübt wird. Es iſt ein Unterſchied,
ob Hindenburg zu einem wichtigen Zweck den
Radio benutzt, oder ob man die Gefdmad-
loſigkeit begeht, z. B. Rarfreitagspredigten
durch den Radio halten zu laſſen und gleichſam
halbamtlich aller Welt in den Blättern dies
Geſchehnis des offiziellen Rundfunks zu ver-
linden. Es liegt ein tiefer Sinn in dem alten
Bort, daß die Gottheit in ihrem Heiligtum
wohnt, und daß man ſich zu ihr hinbemũhen
muß, um ihres Segens teilhaftig zu werden;
und ich entſinne mich noch, wie mir aus Rom
von dem Entrüſtungsſturm dort berichtet
wurde, als ein — ich glaube deutſches Blatt —
berichtete, daß wahrſcheinlich nächſtens der Ge-
gen des Papſtes durch Rundfunk weitergege-
ben würde! |
Borauf es ankommt, ift eben, daß in den
führenden Schichten des Volkes das Verant-
wortungsgefühl für dieſe Dinge geſtärkt
wird. Dr. Werner Achelis
Der Deutſche Sprachverein
s gibt noch viel zu wenig Oeutſche, die
E von den Beſtrebungen des Deutfden
Sprachvereins wiſſen oder ſeine Zeitſchrift
kennen. Eine Anſprache von Studienrat Prof.
Dr. Ludwig Haſenclever, die wir in einem der
letzten Hefte der von Dr. Oskar Streicher vor-
trefflich geleiteten Zeitſchrift finden, faßt jene
Beſtrebungen zuſammen (Vorſitzer iſt übrigens
Oberlandesgerichtspräſident Ernſt Oronke,
Frankfurt a. M., Rüfterfte.13). Dort heißt es:
wee Der Deutſche Sprachverein ijt, Sie
wiſſen es längſt, kein Unterhaltungsverein,
fo ſehr wir wünfchen, daß Sie ſich heute recht
gut unterhalten mögen; er iſt auch kein Verein
zut Ausmerzung des Fremdwortes, ſo wichtig
ihm dieſe Aufgabe dünkt; er iſt auch nicht
95
eine Vereinigung von Schulmeiftern, die den
Drang in ſich fühlen, zu ihren Wodhenftunden
hinzu von Zeit zu Zeit eine deutſche Stunde
vor Erwachſenen zu halten, ſo dankenswert
uns derartige Vorträge jederzeit ſind. Der
Deutſche Sprachverein ſuchte kürzlich — und
wenn ich recht unterrichtet bin, ſo ſucht er
heute noch — nach einem Leitſatz, der als
knappſter Ausdruck ſeiner Beſtrebungen an
der Spitze feiner Zeitſchrift ſtehen ſoll. Ich
wüßte einen vorzuſchlagen; freilich hat er
nicht den Vorzug der gewünſchten ſprich-
wörtlichen Kürze, dafür aber den anderen,
aus der Feder eines großen Sprachſchoͤpfers
deutſcher Zunge zu ſtammen. ‚Die Sprachen“,
meint Friedrich Nietzſche, ,ift ein von den
Vorfahren übernommenes und den Nachkom;
men zu hinterlaſſendes Erbgut, vor dem man
Ehrfurcht haben ſoll, als vor etwas Heiligem
und Unſchätzbarem und Unverletzlichem. Nun:
als Hüter dieſes Erbes fühlt ſich der Deutſche
Sprachverein, und als feine Aufgabe be-
trachtet er es, das Bewußtfein von der Heilig-
keit, Unſchätzbarkeit und Unverletzlichkeit der
deutſchen Sprache zu erhalten und, wo es
not tut, zu wecken.
Aber der angeführte Satz Nietzſches ſtammt
aus dem Sabre 1873, aus dem Sabre alſo,
da die letzten deutſchen Truppen das beſetzte
Frankreich verließen. Seitdem iſt ein halbes
Jahrhundert vergangen, und wie hat ſich
das Blatt gewendet. Die eben gekennzeichnete
Aufgabe des Sprachvereins dünkt uns heute
beinahe eine Verſtiegenheit. Ach, nicht mehr
die Schönheit, nicht mehr die Heiligkeit und
Reinheit der deutſchen Sprache ſteht auf dem
Spiel. Auf dem Spiele ſteht — wenigſtens
für viele Tauſende unſerer Volksgenoſſen —
die Sprache ſelbſt, und in ihr verteidigen
wir, Gott fei’s geklagt, bald das letzte Boll
werk, das unſerem Volke geblieben iſt im
Rampfe gegen Knechtſchaft und in der Ab-
wehr des geiſtigen Untergangs.
Lebendige deutſche Ortsnamen wurden
und werden italieniſch, franzöſiſch, däniſch,
polniſch, litauiſch, tſchechiſch, kroatiſch, fla-
woniſch, rumdnifh; deutſche Straßen-
namen, Dentmäler geſchichtlicher Größe und
bürgerlichen Verdienſtes, weichen Bezeich-
nungen, die für uns unlesbar, unausſprech⸗
96
lich, ſinnlos find. Yunderttaufende beutfcher
Brüder und Schweſtern empfangen ihre
Verhaltungsmaßregeln in fremden Spra⸗
chen oder grauſamen Entſtellungen unſerer
eigenen. In deutſchen Rat häuſern und
Amtsſtuben rekelt ſich welſches Schreiber;
volk und läßt deutſchgeſchriebene Geſuche
achtlos in den Papierkorb wandern. Oeutſche
Männer ſtehen auf deutſchem Boden vor
franzöſiſchen Richtern, wenn man fie fo
nennen will, werden verteidigt, wenn man es
fo nennen will, von franzöſiſchen Anwälten
und miiffen ſich ihr Urteil, wenn man es fo
nennen will, aus dem Franzöͤſiſchen über ⸗
ſetzen laſſen. Wahrlich ſchlimm genug!
Aber, was das Schlimmſte iſt: deutſche
Kinder wachſen auch ohne die Segnungen
der deutſchen Schule auf. Sie gewöhnen ihr
Ohr in Straße und Haus an fremde Laute
und müffen — Gewalt und Not zwingen
dazu — die fremden Sprachen lernen. Und
das iſt ein anderes Lernen heute als damals,
wo der Sohn des deutſchen Siedlers etwa
polniſch, der Sohn des deutſchen Kaufmanns
italieniſch von ſelbſt erlernte. Damals lernte
er es, um in dieſen Sprachen zu befehlen;
heute lernt er es, um die fremden Befehle zu
verſtehen und zu befolgen. Wie will man es
hindern, daß mit jedem ſo erlernten fremden
Wort ein deutſches dafür verloren geht? daß
mit jedem ſo verlorenen deutſchen Worte ein
Stück deutſchen Selbſtbewußtſeins ſchwin⸗
det und Selbſtverachtung, Stlavenfinn in den
jungen Seelen ſich einniſtet? Wie will man
es hindern, daß in dieſen Seelen der Ehrgeiz
wach wird, der erbdrmlide bedienten hafte
Ehrgeiz, den Fichte meint, wenn er hohnvoll
ſagt, es ſei ‚der Gipfel des Triumphes, wenn
man uns ja nicht mehr für Deutide, ſondern
für Aus länder hält’? Wie will man es hindern,
daß mit der Zweiſprachigkeit auch die Doppel-
züngigkeit ſich einſtellt? Denn derſelbe Fichte
weiß es: ‚Nicht der Menſch bildet die Sprache,
ſondern die Sprache den Menſchen! “
Oer Oeutſche Sprachverein iſt kein poli-
tiſcher Verein, politiſch im gewohnlichen Sinne
Auf der Warte
des Wortes; er dient keiner Partei; er iſt nicht
‚monarchiſtiſch' und nicht „republikaniſch',
nicht ,tonfervativ’ und nicht „radikal; er iſt
nicht ſozialiſtiſch' und nicht ‚chauviniſtiſch'.
Er ift nur — deutſch.Politiſch' darf man
aber wohl auch Beſtrebungen nennen, die
darauf gerichtet find, die innere Einheit ein es
Volkes und ſein Selbſtbewußtſein nach außen
zu erhalten. In dieſem hoͤchſten Sinne des
Wortes wirkt der Verein allerdings, und
ſeine Aufgabe iſt es heute, beizutragen zur
Erhaltung der deutſchen Sprache, wo
immer fie gefährdet iſt, als eines Geſ un d-
brunnens deutſcher Art und Kraft und
als des einzigen wirklichen Gemeingutes
aller Oeutſchen.“
Gegen die Kanzleiſprache
och immer lebt ſie in Geſetzgebung, Recht;
ſprechung und Verwaltung, obwohl von
manchen höheren Stellen eine Art von Sprach-
polizei geübt wird, um die Schwerfälligkeit
der papierdeutſchen Amtsſprache zu befeitigen ;
und der Deutide Sprachverein, der manch
mal ſolche Stümpereien an den Pranger ftellt,
hat immer noch Arbeit genug. Es gilt auch
heute noch für manche Kreiſe der Rechts-
gelehrten Daubenfpeds ſcherzhafte Außerung:
„Hätte ein Rechtsgelehrter die heiligen Bücher
geſchrieben, fo würden die erſten Zeilen lau-
ten: „Im Anfang wurde feitens Gottes Him-
mel und Erde geſchaffen. Die letztere war
ihrerſeits eine wiifte und leere und iſt es
früher auf derſelben finſter geweſen.“
Vor der Geſellſchaft Hamburger Juriſten
empfahl Dr. Michaels in einem Vortrag über
„Die deutſche Sprache im Recht“ die Schaf-
fung eines deutſchen Reichsſprachamtes
in Berlin nach dem Muſter der franzöfifhen
Akademie. Ahnliche Vorſchläge wurden ſchon
mehrfach gemacht und verdienen ernſthafte Er-
wägung, doch ſollte man fremde Einrichtungen
nicht zum Muſter nehmen. Die Behandlung
der Sprache iſt eine Kunſt, die als ſolche ge-
pflegt werden muß. Ob die neue „Oeutſche
Akademie“ hier belebend eingreift? O.
Herausgeber: Profeſſor Dr. Friebrich Llenharb in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Kon tab Oürre,
Welmar, Rarl-Alezanber-Allee 4. Für unverlangte Einfendbungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen.
Annahme oder Ablehnung von Gebidten wird im „Brieflaften“ mitgeteilt, fo daß RAdfendung erſpart bleibt,
ebendort werden, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſenbungen bitten wir Rückporto beizulegen.
DOruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart.
4
PR, für is und Geist
ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT
Herausgegeben von Prof. Dr h. c. Friedrich Sionbard
— er; SGeannot Emil Greibherr von Grotthuß
RE iabrg. | November 1925 Heft 2
ee LLL Ot ©
Die Jiinglinge
(an Mignous Gruft):
Wohl verwahrt ift nun der Schatz,
das [chine Gebild der Vergangen⸗
heit! Hier im Marmor ruht es un⸗
verzehrt. Auch in euren Herzen lebt
es, wirkt es fort. Schreitet, ſchreitet
ins Leben zurück! Nehmet den hei⸗
ligen Ernſt mit hinaus! Denn der
Ernſt, der heilige, macht allein das
Leben zur Ewigkeit.
Goethe
AI
Us
7
Der Tümer XXVIII, 2
Die Eleuſiniſchen Myſterien
Eine Rekonſtruktion von Woldemar von Urtull
I. Einleitung.
s gab im alten Griechenland zwei Religionen, zwei Stufen der Gotteserkennt-
nis. Die bekannte, offizielle fand ihren Ausdruck in den ſchönheitsverklärten
Gottesdienſten, auf denen das gottbegnadete Volk der Hellenen feine Götter ver-
ehrte und zu ihnen flehte. Die hauptſächlichſten Zentren dieſer allgemeinen, öffent-
lichen Religion waren Delos, Delphi und Olympia. Die Feſte, die dort gefeiert wur-
den, ſollten zwar in erſter Linie eine Ehrung der Sötter ſein, ſie hatten aber auch
auf die ganze Entwicklung des Volkes einen tiefgehenden kulturellen Einfluß. Es
wurde dort nicht nur der einzelne von den Prieſtern unterwieſen, er pflegte dort
nicht nur durch Gebet und Opfer die Beziehungen zu den Göttern, ſondern es wurde
auch die Jugend in Spiel und Wettkampf geſtählt und durch Dichter und Sänger
veredelt. Dort bildete ſich das griechiſche Nationalgefühl aus, dort ſchwanden die
Stammesunterſchiede im ſeligen Bewußtſein, Hellene zu ſein, und dort ward auch
jene Eigenart erzeugt, die andern Völkern unerreichbar geblieben iſt, eine Eigen-
art, die jeder größeren Bewegung im Kulturleben der Menſchheit mächtigen abeinden .
Antrieb und unerreichbare Vorbilder gegeben hat.
Aber außer der offiziellen, allen zugänglichen, allen bekannten Religion gab es
noch verſchiedene Geheimkulte für diejenigen, die mehr wiſſen wollten. Es hat immer
Leute gegeben, denen der hergebrachte, übliche Gottesdienſt nicht genügte, die tiefer
in das Weſen der Dinge hineinzuſchauen verlangten, die die großen Fragen „woher
kommen wir, weshalb leben wir, wohin gehen wir“ beantwortet haben wollten.
Für diejenigen, die mehr Licht und Erkenntnis ſuchten, gab es alſo verſchiedene
Geheimkulte, unter denen die Eleuſiniſchen Myſterien unſtreitig den erſten Rang
einnahmen. In anderen Myſterien mag das ſexuelle Moment hervorgetreten ſein,
in Eleuſis ſtrahlte ewige Wahrheit in reiner, himmliſcher Schönheit. Alle Dichter,
Hiſtoriker und Philoſophen, ſoweit ihre Ausſprüche uns erhalten worden ſind, reden
nur mit der größten Ehrfurcht von dem Kultus der zwei großen Göttinnen. Während
eines Zeitraumes von über tauſend Jahren haben die bedeutendſten Perſönlichkeiten
des einzig begabten Volkes der Hellenen in Eleuſis die herrlichſten und tiefgehendſten
Eindrücke ihres Lebens empfangen. Der Kultus der beiden großen eleuſiniſchen
Göttinnen, Demeter und Perſephone, war allen griechiſchen Staaten fo heilig, daß
es für kriegführende Heere allgemein Sitte war, für die Dauer der Myſterien mit-
einander Waffenſtillſtand zu ſchließen.
Dak die Eleuſiniſchen Myſterien aber in fo hohem Anſehen ſtanden, hatte feinen
Grund nicht nur in einer gewiſſen religiöfen Pietät und Ehrfurcht, nein, das Leben
der Eingeweihten war ein Zeugnis von der Heiligkeit und heiligenden Kraft des
Dienſtes der „großen Göttinnen“. Ariſtophanes gibt den Eingeweihten das Zeugnis,
daß fie fromm und gerecht gegen Einheimiſche und Fremde ſeien. Xenofrates, einer
der erſten Schüler Platos, erzählt uns, die Eingeweihten befleißigten ſich, drei Ge-
ſetze zu halten: die Eltern zu ehren, den Göttern nur Fruchtopfer darzubringen und
Arkull: Ole Geuſiniſchen Myſterien 99
keinem lebenden Weſen, alſo auch keinem Tiere, Schmerz zu bereiten. Proklus und
Nonnus bezeugen, durch die Einweihung werde die Seele von den Banden des fterb-
lichen Körpers befreit, denn der Eingeweihte müſſe die ſinnlichen Lüſte verleugnen.
Was Chriſten und Juden beim Namen Ferujalem, was Mohammedaner beim
Namen Mekka empfinden, dieſes und mehr fühlte der eingeweihte Grieche beim
Namen „Eleuſis“. Denn wenn Zeruſalem den Chriſten heilig ift, weil Jeſus Chriſtus
daſelbſt gelehrt und gelitten hat, und wenn es den Juden der Ort iſt, an dem ihr
Tempel ſtand und vielleicht einſt wieder ſtehen wird, wenn die Mohammedaner nach
Mekka pilgern, um dort gewiſſe Gebete zu verrichten, ſo erlebte in Eleuſis der Grieche
etwas, was ex nie vergeſſen konnte, das ihm Kraft, Licht und Troſt für den Reft
ſeines Lebens gab. Er war dort in Berührung mit dem Überirdiſchen gekommen,
der Schleier, der die unſichtbaren Welten von uns trennt, war vor ſeinen Augen ge-
lüftet worden, er hatte „das große Licht von Eleuſis“ geſehen. Sophokles, einer der
größten Dichter Griechenlands, der ſelber ein Eingeweihter war, faßt ſeine Eindrücke
über die Einweihung in folgende Verſe zuſammen:
Dreimal ſelig, ewig ftillbeglüdt
Sit der Sterbliche, der jene Weih' erblickt
Ehe er zum Hades niederſtieg.
Seiner harrt dort Freude, Licht und Sieg,
Ihm allein iſt Sterben neues Leben;
Ooch den andern wird viel Leid gegeben.
In Eleuſis wurde den Einzuweihenden auch ein heiliges Drama vorgeſpielt. Die
Stifter der Eleuſiniſchen Myſterien hatten mit Recht erkannt, daß die Vorführung
gewiſſer Ereigniſſe ſich dem menſchlichen Gedächtnis feſter und tiefer einprägt, als
deren bloße Erzählung. Wir dürfen daher Eleuſis mit vollem Recht als die Mutter
unſerer heute fo oft entarteten Theater anſehen.
Die Eleuſiniſchen Gottesdienſte beſtanden aus den kleinen und großen Myfterien.
Die Heinen Myſterien fanden jeden März in Agrae, einem Städtchen in der Nähe
von Athen, ſtatt. Die großen Myſterien wurden aber nur alle fünf Jahre gefeiert,
im Herbſt, im Monat Boedromion, der ungefähr unſerem September entſpricht.
II. Der Ort der heiligen Handlung.
Die große Straße, die Athen mit dem Peloponnes verbindet, hieß bis zum Städt-
chen Eleuſis, das etwa 22 Kilometer weſtlich von Athen an der Bucht von Eleuſis
liegt, die heilige Straße. Sie trug dieſen Namen nicht nur der Grabdenkmäler
wegen, die fie zu beiden Seiten ſchmückten. Es bewegte ſich auf ihr die heilige Pro-
zeſſion, die den Höhepunkt der großen Myſterien einleitete. Wir wollen, ehe wir
die uralte Mythe an unſer Ohr klingen und den Vorgang der Einweihung vor uns
aufleben laſſen, uns mit dem Orte der heiligen Handlung bekanntmachen. Wir ver-
laſſen Athen durch eines ſeiner weſtlichen Tore, durchwandern die meiſt von Töpfern
bewohnte Vorſtadt und gehen über den Markt, auf dem ſie ihre Waren feilboten,
den Kerameikos. Durch Gärten gelangen wir zum graugrünen Olivenhain, durch den
der Kephiſſos ſtrömt, den wir auf einer Brücke überſchreiten. Hier wehen uns zum
erſtenmal altgriechiſche Erinnerungen entgegen, denn an dieſer Brücke pflegte ſich
100 Axkull: Die Eleuſiniſchen Mpfterien
allerlei Volk aus der Stadt und den Vororten zu verſammeln und den Zug der Feft-
teilnehmer mit verſchiedenen, mehr oder minder derben Scherzen zu empfangen,
ſich dabei im beißenden attiſchen Witze übend.
Bald nach Verlaſſen des Haines fängt die Straße an allmählich emporzuſteigen
und überſchreitet nach einigen Windungen auf der Höhe des Daphnipaſſes das Aga-
leosgebirge. Die blauglänzenden Fluten des in großem Halbkreis nach Norden ins
Land einſchneidenden Buſens von Salamis liegen vor uns. Links heben ſich die
zackigen Berge von Salamis in ſcharfen Umriſſen vom Himmel ab. Am gegenüber-
liegenden Ufer iſt Eleuſis ſichtbar, das Ziel unſerer Wanderung und die Geburts-
ſtätte des größten griechiſchen Oramendichters Aſchylos. Mehr als die Hälfte des
Weges ift zuruͤckgelegt. Die Straße ſenkt ſich nun zum Meere, macht eine ſcharfe
Biegung nach rechts, nach Norden, und zieht ſich dann längs dem Ufer hin. Wir
kommen an zwei kleinen Salzſeen vorbei, den Rheitoi, in denen zu fiſchen ein Vor-
recht der eleuſiniſchen Prieſter war, und gelangen durch die triaſiſche Ebene nach
Eleuſis, jetzt ein ärmliches Dorf, einſt aber der Ort, in dem die geiſtige Blüte Grie-
chenlands zuſammenſtrömte, um durch Offenbarung uralter Weisheit zu höherer
Weltanſchauung zu gelangen. Die Straße führt zu den großen Propyläen, an der
Stelle eines früheren Feſtungstores von Hadrian erbaut. Rechts und links von den
Propyläen ſtehen Triumphbogen. Sie bilden einen Platz, auf dem uns zwiſchen
den Propyläen und dem öſtlichen Tor der ſchon von Homer erwähnte Brunnen des
ſchönen Reigens (Kallihoron Frear) gezeigt wird. Um ihn. führten und führen noch
heute an beſtimmten Tagen die Frauen von Eleuſis feit uralten Zeiten Reigentdnge
auf. Das erſtemal tanzten ſie, wie die Sage lautet, um die trauernde Demeter zu
erheitern, als dieſe, ihre Tochter Perſephone ſuchend, durch Eleuſis kam.
Nachdem wir durch die großen Propyläen geſchritten, gehen wir quer über den
Vorhof und gelangen zum zweiten Eingange des Heiligtumes, den kleinen Pro-
pyläen. Wir durchſchreiten fie und betreten das Innere des heiligen Bezirkes, der
von Feſtungsmauern aus verſchiedenen Zeiten eingefaßt wird. Von den kleinen
Propyläen führt die heilige Straße am Plutonion vorbei, der Plutogrotte, von der
heute nur noch fpärlihe Reſte vorhanden find, zum großen Weihetempel, dem my»
tikos sekos, in dem die Hauptfeier, die eigentliche Weihe ſtattfand. Vor dieſem
zweiſtöckigen Gebäude liegt gegen Südoſt die mit doriſchen Säulen gefhmüdte Vor-
halle des Philon, durch die man in das Innere des Tempels, das Teleſterion tritt,
der durch beide Stockwerke geht. Acht Sitzreihen, zum Teil aus dem Fels gehauen,
zum Teil aufgemauert, umgeben den gewaltigen viereckigen Raum, deſſen Decke
von 42 Säulen getragen wird. In die Galerie des oberen Stockwerkes gelangen wir
von einer Felsterraſſe aus, die im Nordweſten an die Hinterwand des Heiligtums
ſtößt, und zu der zu beiden Seiten des Tempels in den Fels gehauene Treppen füh-
ren. In den Perſerkriegen zerſtört, wurde der Tempel bald wieder noch ſchöner und
bedeutend umfangreicher in einer Größe von ca. 28000 Quadratfuß hergeſtellt,
wobei ſich Perikles und der berühmte, den Bau leitende Baumeiſter Iktinos be-
ſonderes Verdienſt erwarben. Im Süden des heiligen Bezirkes befinden ſich Vor-
ratskammern und das Buleuterion, ein halbrunder Saal, in dem die Prieſter ihre
Ratsſitzungen abhielten.
Urtull: Die Eleuſiniſchen Myfterien 101
III. Die Mythe.
Die Mythe, die den Stoff zum heiligen Drama von Eleuſis lieferte, iſt uralt und
von durchſichtiger Klarheit und Schöne. Perſephone, die Perſonifikation der Men-
ſchenſeele und zugleich die Gottheit, die die Geſchicke der Menſchenſeele leitet, war
die Tochter der Demeter, der großen Mutter, der Weltenſeele, der Gottheit, die das
Leben des Kosmos darſtellt, leitet und geſtaltet. Sie ſollte nach Beſchluß der Himm-
liſchen ſich mit Dionys, dem göttlichen Geiſte, der alles belebenden Naturkraft, ver-
mdblen; aber Pluto, der Beherrſcher des Hades, der Schatten, der Sinnlichkeit, ent-
führte ſie mit Hilfe des Eros, der Liebe. Demeter durchzog nun trauernd, auf der
Suche nach ihrer Tochter, alle Länder. Sie kam auch in der Geſtalt einer alten Frau
nach Eleuſis. Im Hauſe des Königs Keleos fand ſie gaſtfreie Aufnahme. Die Frauen
von Eleuſis tanzten abends um den Brunnen einen Reigen, um die trauernde
Fremde zu erheitern. Zum Dank für die erwieſene Gaſtfreundſchaft ſchenkte Demeter
dem Sohne des Keleos, dem Triptolemos, ein Weizenkorn und lehrte ihn den Acker-
bau. Sie weihte ihn aber auch in die Bedeutung des Säens und des Emporkeimens
der Saat zum Lichte ein. Sie ſtiftete, fo ſagte die Überlieferung, den Geheimkultus
zu Eleuſis. | |
Dann zog fie auf der Suche nach Perſephone weiter. Sie begegnete Hekate, der
Söttin der Wandlungen, der Metamorphoſen. Dieſe konnte ihr Aufſchluß über den
Aufenthaltsort ihrer Tochter geben. Demeter erfährt, daß Perſephone im Hades als
Semahlin des Pluto weilt. Sie dringt zuſammen mit Dionys in den Hades ein und
befreit Perſephone. Pluto aber will feine Rechte auf Perſephone nicht aufgeben.
Der Streit wird vor Zeus getragen, der das Urteil ſpricht, Perſephone ſolle zwei
Drittel des Jahres bei Dionys im Himmel und ein Drittel des Jahres bei Pluto im
gades weilen, bis Finſternis und Sinnlichkeit keine Macht mehr über ſie haben und
fie ſich nicht mehr nach dem Hades zurüdjehnen würde.
IV. Geſchichte und Hierarchie.
Die Entſtehung der Eleuſiniſchen Myſterien verſchwindet im Dunkel der Zeiten;
ſie fällt in vorhomeriſche Zeit.
Eumolpos, der die Weihen ſelber in Agypten empfangen haben ſoll, wird als
Stifter genannt. Er iſt der Ahnherr des Eleuſiniſchen hohenprieſterlichen Geſchlechts.
Nach ihm wurden ſeine Nachkommen Eumolpiden genannt. Das Wort Eumolpiden
hatte aber noch einen zweiten Sinn, ließ eine zweite Deutung zu. Eumolpiden
konnte auch die „Wohlſingenden“ bedeuten. Und in der Tat, die Eumolpiden ver-
ſtanden das Singen; neben dem Zauber rhythmiſchen Tanzes war rhythmiſch melo-
diſcher Gefang von großer Wirkung bei der Feier des Geheimkultes. Die Lieblichkeit
wohllautender Melodien, die von einem ſtarken, andauernd wiederholten Rhythmus
getragen wurden, brachten es zuſtande, die Seelen derjenigen, die eingeweiht werden
ſollten, in ſtarke Schwingungen zu verſetzen, ſie mitzureißen, emporzuheben. Die
Harmonie unſerer Muſik hingegen und der ſpannende und löſende Reiz des Über-
ganges aus einer Tonart in die andere, war den Griechen fremd. Ob ſie, wie die
Agypter, mit jedem Tone auch einen Begriff verbanden und folglich die Muſik nicht
102 Urtull: Ole Lleufinifden Myſterlen
nur hörten und genoffen, ſondern auch in ganz anderem Sinne, wie wir, verſtanden,
das läßt ſich bei dem wenigen, das wir von altgriechiſcher Muſik wiſſen, heute ſchwer
entſcheiden.
Zur Zeit der Unabhängigkeit Griechenlands ſtand der Kultus der beiden großen
Göttinnen unter dem Schutze des atheniſchen Staates. Uneingeweihte, die ſich in
die Myſterien einſchleichen wollten, wurden mit dem Tode beſtraft. Sogar Anjfpie-
lungen auf das, was in Eleuſis geſchah, waren verboten. Daß aber ein Eingeweihter
die heiligen Geheimniſſe Unberufenen mitgeteilt hätte, iſt während der ganzen Dauer
der Myſterien nicht vorgekommen. Nachdem Griechenland längſt römiſche Provinz
geworden war, fuhren die Eleuſiniſchen Geheimfeiern fort, ſich größten Anſehens
zu erfreuen, weil es in Rom Mode geworden war, in Eleuſis die Weihe zu emp-
fangen und weil die meiſten römiſchen Kaiſer ſich hatten einweihen laſſen und
Eleuſis in jeder Beziehung ſchützten und bevorzugten. Nero jedoch, an deſſen Händen
das Blut fo vieler unſchuldiger Opfer klebte, hatte nicht den Mut, ſich den Eleufi-
niſchen Myſterien zu nahen, ſondern vermied es, auf feinen Reifen durch Griechen
land Eleuſis zu berühren. Heutzutage iſt das Heiligtum der großen Göttinnen ein
wiiftes Trümmerfeld, auf dem es dem Beſucher ſchwerfällt, ſich zurechtzufinden.
Ob Alarich, der Gotenkönig, oder Theodoſius, der chriſtliche Imperator, das Heilig-
tum zerſtört hat, iſt für uns ziemlich gleichgültig. Ungebildeter Unverjtand hat immer
wieder auf Erden Schätze vernichtet, ohne für ſich irgendeinen Vorteil davon zu
haben, unerſetzliche Schätze, die gottbegnadete Künſtler im Laufe vieler Jahre in
heißem Ringen geſchaffen hatten.
Aus dem Geſchlechte der Eumolpiden ſtammte immer der Hierep ben der Hohe
prieſter, dem im heiligen Drama die Rolle des Zeus zufiel. Seine Gattin, die Hiero-
phantin, ſtellte meiſtens die Demeter dar.
Die zweithöchſte Würde in der eleuſiniſchen Hierarchie war die des Fackelträgers,
des Daduchos, die im Geſchlechte des Triptolemos erblich war.
Aus dem Geſchlechte der Keryken wurde der heilige Herold, der Hierokeryx, ge-
nommen, der die Einzuweihenden während der Feier durch Zurufe und Erklärungen
auf das, was geſchah und auf das, was ſie zu beobachten hatten, aufmerkſam machte.
Es war die dritthöchſte Würde in der eleuſiniſchen Hierarchie.
V. Die kleinen Myſterien
Der Grieche, der in Eleuſis die Weihe empfangen wollte, hatte zwei Paten, d. h.
zwei Eingeweihte zu finden, die für ihn gutſtanden. Er wurde darauf ſeitens der
eleuſiniſchen Prieſter einem Examen unterworfen, in dem er ſeine freie Geburt als
Bürger eines helleniſchen Staates und ſeine Ehrenhaftigkeit dartun mußte. Er
mußte ſchwören, reine, d. h. nicht mit dem Blute eines Nebenmenſchen befleckte
Hände zu haben und ſich als ein Mann von einer gewiſſen Erziehung und Bildung
ausweiſen. Entſprach er dieſen Anforderungen, ſo wurde er angenommen und hieß
nun Neophyte. Einer feiner Paten wurde gewöhnlich fein Myſtagoge, d. h. er blieb
ihm während ſeiner Einweihung zur Seite, und da er für den Neophyten verant-
wortlich war, ſo ſagte er ihm alles, was er zu tun hatte. Oft verband dann treue
Freundſchaft den Neophyten oder ſpäteren Myſten und Epopten mit dem Myſta-
— —
Artull: Die Aeuſiniſchen Myfterien 105
gogen, eine Freundſchaft, die in der heiligſten Stunde, die der Einzuweihende
durchlebt, ihren Anfang nahm und bis ans Lebensende dauerte.
Bis zur Einweihung in die kleinen Myſterien hieß der Einzuweihende Neophyte;
nach Empfang der erſten Weihe ward der Neophyte Myſte (d. h. ein Verſchleierter)
genannt, und nach der Einweihung in die großen Myſterien war er ein Epopte (d. h.
ein Sehender oder einer, der geſchaut hatte).
Die kleinen Myſterien fanden im Heiligtume der Demeter in Agrae, einem
Städtchen in der Nähe von Athen, ſtatt. Nach einem Bade im FIlyſſos wurden die
Neophyten angewieſen, ſich am Eingange des Tempelbezirkes einzufinden, wo ſie
der Hierokeryx, wie Hermes mit Flügelſtab und Schlapphut, an der Spitze der
Myſtagogen empfing und ins Innere des heiligen Haines vor einen kleinen Tempel
führte. Unter dem Vortritt der Prophantide trat ein Chor von Hierophantiden auf,
weiß gekleidet, mit wallendem Haar, in ſtark hervorgehobenem Rhythmus tanzend.
Sie ſtellten ſich vors Heiligtum hin und ſangen ein uraltes doriſches Lied, in dem
den Neophyten geſagt wurde, ihr jetziges Leben ſei nur ein Traum, ſei nur ſcheinbar,
es gäbe aber noch ein anderes, ein wirkliches Leben, das ſie vor der Geburt gelebt
hätten und welches fie nach ihrem Tode wieder leben würden. Zum Schluß trat die
Prophantide vor und flehte zuerſt mit emporgehobenen Armen den Segen der
großen Göttinnen auf die Neophyten herab, daß fie durch Finſternis zum Lichte durch-
dringen mögen. Sie ſprach aber auch einen fürchterlichen Fluch über denjenigen aus,
der die heiligen Geheimniſſe Unberechtigten mitteilen würde, die Strafe der Göt-
tinnen würde ihn treffen im Scheine der Sonne oder im Schatten des Hades.
Die Neophyten wurden dann aus dem heiligen Bezirk hinausgeleitet und hatten
die empfangenen Eindrücke einige Tage in ji nachklingen zu laſſen. Ein beſtimmtes
Faften wurde ihnen auferlegt. Sie hatten gewiſſe Gebete zu verrichten. Die Neo-
phyten hatten auch jeder ein Schwein den großen Göttinnen zu opfern, worin
vielleicht eine Andeutung lag, daß ſie gewillt ſeien, alles Tieriſche, Unreine in ihnen
herzugeben, zu opfern, zu töten. Sie handelten darin in Übereinftimmung mit dem
Ausſpruche des Apulejus, die Einweihung fei gleichſam ein freiwilliger Tod und
die Wiedergeburt zu einem neuen Leben.
Nach einigen Tagen hatten ſie ſich wieder beim Eingang des Heiligtumes einzu-
finden. Sie wurden wie das erſtemal vom heiligen Herold und den Myſtagogen
empfangen, der ihnen erklärte, die Geſchichte der Perſephone, die fie jetzt ſehen wür-
den, ſei die Geſchichte ihrer eigenen Seele. Die Entführung Perſephones aus der
Oberwelt in den Hades bedeute das Herabkommen der Seele aus lichten Höhen auf
dieſe Erde in der Stunde der Zeugung. Sie würden ſehen, wie Eros Perſephone
verführt, wodurch Pluto, der Beherrſcher der Schatten, Gewalt über fie erhält.
Durch irdiſche Liebe angezogen, werde die Seele in dieſes Leben hineingeboren, wo
fie im Dunkeln weile, bis fie ſich wieder in der Stunde des Todes zum Lichte durch-
ringt. Die Neophyten konnten ſolchen Gedankengängen folgen. Sie waren ja nicht
ganz rohe, ungebildete Menſchen. Sie waren Leute, die eine gewiſſe Bildung ge-
noſſen hatten und die durch Schule, Theater und öffentliches Leben gewohnt waren,
auch abſtrakte Begriffe in ſich aufzunehmen.
Dann nahte der Höhepunkt der kleinen Myſterien, der erſte Akt des heiligen Ora-
104 Uxtull: Oie Lleufinifhen Myſterien
mas. Oer Hierokeryx geleitete die Neophyten in den heiligen Hain auf eine Wald-
lichtung. Aus einer Felswand ſprudelte ein Quell und bildete ein kleines Waſſer⸗
becken, um das Nymphen ruhten und ſtanden. Im Vordergrunde ſaß Perſephone
und ſtickte an einem Schleier, der in den Farben des Regenbogens ſchillerte. Sie
ſtellte die menſchliche Seele dar, die ſich mit himmliſchen Dingen beſchäftigt. Ihre
Mutter Demeter mag neben ihr geſtanden haben. Nachdem die Neophyten einige
Augenblicke das liebliche Bild mit ehrerbietiger Schau betrachtet hatten, trat der
Hierokeryx vor und ermahnte die Neophyten, ja recht achtzuhaben auf das, was fie
hören würden. Demeter, die große Mutter, ſei auf die Erde herabgeſtiegen, um der
Menſchheit zwei große Gaben zu bringen: die Frucht des Feldes und die Einweihung,
die den Eingeweihten einen bleibenden Sonnenſchein, eine lichte Hyffnung für
dieſes Leben und für alle darauffolgenden Zeiten gebe. Darauf ermahnte Demeter
feierlich Perſephone, bis zu ihrer Rückkehr am Schleier weiterzuſticken, an Dionys,
den ihr vom Himmel beſtimmten Gemahl zu denken, ja nicht auf Eros zu hören,
falls er ſich ihr nahen ſollte, und vor allen Dingen nicht die aus der Erde ſprießenden
Blumen zu pflücken, deren Duft fie fo berauſchen würde, daß fie die Erinnerung an
alles Himmliſche verlieren müßte.
Perſephone gelobt der Mutter Gehorſam, und Demeter entfernt ſich. Aber trotz
der Mahnungen des Nymphenchores fängt Perſephone bald an, ſich in Gedanken
mit Eros zu beſchäftigen. Sie erinnert ſich eines Ausſpruches ihres Vaters Zeus,
daß durch Eros die Seelen aus dem Chaos zum Leben gerufen würden. Die wieder-
holten Warnungen der Nymphen find vergeblich. Der Name Eros wirkt berauſchend
auf Perſephone, ſie läßt den Schleier ſinken, ſie hört auf, ſich mit himmliſchen Dingen
zu beſchäftigen, fie fühlt fi angezogen von irdiſchen Gewalten. Die Nymphen er-
mahnen fie am Schleier weiterzuarbeiten, aber umſonſt. Perſephone äußert zuletzt
den Wunſch, Eros möge ſich ihr offenbaren — und — aus dem Walde tritt ein ſchöner
geflügelter Knabe, der ſich als Eros zu erkennen gibt, der von Perſephones Ver-
langen angezogen, gekommen ſei. Er umgarnt fie mit Schmeichelworten und be-
redet fie, auf der MWieſe Blumen zu pflücken; er rät ihr, den Duft einguatmen, fie
würde dadurch Offenbarungen empfangen über Liebe und über die ewigen Geſetze,
wie Menſchenſeelen ins Leben hineingeboren würden. Perſephone weigerte ſich
zuerſt, eingedenk des Verbotes der Mutter; als aber Eros mit ſeinem Bogen die
Erde berührte und eine wundervolle, große, weiße Narziſſe emporſprießt, da ver-
langt ſie zuerſt den Namen der Blume zu erfahren und zuletzt, trotz der verzweifelten
Mahnungen des Nymphenchores, beugt ſie ſich, bricht die Blume und zieht ihren
Duft ein. Da erſchüttert Oonner die Luft, die Erde ſpaltet fi, auf einem von
Drachen gezogenen Wagen erſcheint Pluto, reißt Perſephone zu ſich auf ſeinen Wagen
und fährt mit ihr davon — in den Hades. Aus der Ferne hört man Perſephones Weh-
geſchrei; ihre Stimme ſchallt ſchaurig durch den Wald, auf den ig die Schatten des
Abends legen: „Zu Hilfe, Mutter, zu Hilfe!“
Der Hierokeryx trat nun wieder vor die ſchweigend und ergriffen daſtehenden
Neophyten und erklärt ihnen, fie hätten ſoeben der Geſchichte ihrer eigenen Menfdh-
werdung zugeſchaut. Perſephone ſtelle ihre, der Neophyten, Seele dar, die, anſtatt
ſich mit Dionys, dem göttlichen Geiſte, zu vermählen, durch Eros, die irdiſche, finn-
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Uztull: Die Lleufinifden Mpfterien 105
liche Liebe und ihre hinreißende Anziehungskraft verführt, der Macht der Finſternis
verfalle, die durch Pluto dargeſtellt worden ſei. Es wurde ihnen geſagt, daß ſie
jetzt, eben, noch in Finſternis wandelten, in einem Leben, das nur ſcheinbar ſei;
einft aber hätten fie das wahre Leben gelebt, bis fie, durch Eros Zauber angezogen,
in den irdiſchen Abgrund gefallen ſeien. Nur ihr vergangenes und zukünftiges Leben
ſei wahres Daſein. Sie wurden angewieſen, über die Worte des Empedokles nach
zudenken, „die Entſtehung des Menſchen ſei eine furchtbare Kataſtrophe, durch
welche ewig Lebendige zu Sterblichen würden“.
Schweigend, beim Scheine von Fackeln, verließen die Neophyten darauf den nächt-
lichen Hain, während die Hierophantiden vom Heiligtum her ihren verzweifelten
Klageruf: „Perſephone, Perſephone!“ durch das Dunkel erſchallen ließen. Auf
einem Vorgebirge aber am Meeresufer verſammelten ſich Frauen Athens in Trauer-
kleidung und erfüllten die Luft mit Weherufen und leidenſchaftlichen Klagen um
Perſephone.
Der erſte Teil der Myſterien war zu Ende. Die Neophyten hießen nun Myſten,
Verſchleierte. Sie hatten erkannt, daß das jetzige Leben nur ein Übergang zum
wahren Daſein ſei. Sie waren Verſchleierte, ſie hatten das große Licht, die volle
Wahrheit noch nicht geſehen, aber ſie ahnten, ſahen ſie, wie durch Schleier, von
ferne. Sie hatten ſich auch den Ausſpruch des Olympiodorus einzuprägen, der Zweck
der Myſterien fei, ihre Seelen in den Zuſtand wieder zurüdzubringen, von dem fie
(vor dem Fall in die ſichtbare Welt) ausgegangen wären. Es wurde ihnen geſagt,
ihr Geift fei durch fein Verſchulden, durch ſeinen Drang, die Liebe kennenzulernen,
in einem Gefängnis, ſie dürften daher auch nicht ſelber die Zeit ihrer Gefangenſchaft
durch Selbſtmord abkürzen, dies fei ein Frevel, den die Götter ſchwer ſtraften. Be-
ſchäftigt mit der neuen Gedankenwelt, die ſich nur ihnen eröffnete, erwarteten ſie mit
Ungeduld und Ehrfurcht den Zeitpunkt, da fie durch das Erleben der Großen My-
ſterien Eingeweihte, Wiſſende, Seher („Epoptai“) werden und aus der Finſternis
zum großen Lichte geführt werden würden. Sie durften bis dahin den Beſchäfti-
gungen ihres Berufes nachgehen, hatten aber täglich gewiſſe Meditationsübungen
vorzunehmen und vorgeſchriebene Gebete zu verrichten.
VI. Die Großen Myſterien
Die Großen Myſterien wurden, wie gejagt, alle fünf Jahre im Herbſt, zur Ernte-
zeit, im Monat Boedromion gefeiert.
Am erſten Tage verſammelten ſich die Myſten in Eleuſis. Die Prieſter emp-
fingen fie und hießen fie im Heiligtum willkommen. Sie machten fie mit den Auf-
nahmebedingungen bekannt. Die Myſten hatten im Heiligtume zu übernachten.
Am zweiten Tage wurden die Myſten von den Tempeldienern mit dem Rufe:
puns Meer, ihr Myſten, ans Meer“ geweckt. Sie hatten an den Strand zu eilen und
im Meere gewiſſe Waſchungen vorzunehmen. An dieſem Tage ſetzte für die Myſten
das Schauen des heiligen Dramas wieder ein. Der zweite Akt zeigte ihnen den
Schmerz und die Verzweiflung der Demeter über den Verluſt ihrer Tochter. Sie
waren Zeugen der Ankunft der Göttin in Eleuſis, ihrer gaſtfreien Aufnahme im
Haufe des Keleos, des Reigens der Frauen um den Brunnen, der Übergabe des
106 Uxtull: Ole Aeuſiniſchen Myſterien
erſten Weizenkornes an Triptolemos und der damit verbundenen Erklärungen und
Unterweiſungen. Sie ſahen, wie Demeter nachher mit Hekate, der Göttin der Me-
tamorphoſen, zuſammentraf und hörten, wie dieſe der verzweifelten Mutter Auskunft
über den Aufenthaltsort der Tochter geben konnte. Der Hierokeryx erklärte den
Myſten den ſymboliſchen Sinn des heiligen Schauſpiels. Er ſprach von der göttlichen
Liebe der Weltenſeele, die die Menſchenſeele ſucht, um fie aus den Banden der Ma-
terie zu befreien und mit ſich zu vereinigen. Er ſprach von den Metamorphoſen,
denen die menſchliche Perſönlichkeit auf ihrer Wanderung durch verſchiedene Da-
ſeinsſtufen unterworfen ſei. Heiliges Singen verſchönerte die Feier. 8
Am dritten Tage wurden den beiden großen Göttinnen Opfer dargebracht.
Am vierten Tage fand in Eleuſis eine Prozeſſion ſtatt, wie ſie eben nur unter
Hellas blauem Himmel geſehen werden konnte: auf blumenbeſtreuten Wegen trugen
blumengeſchmückte Jünglinge einen Rieſenkorb, den Kalathos, aus dem die Fülle
ſüdländiſcher Blütenpracht quoll, in dionyſiſch froher Prozeſſion zum Altare der
Perſephone.
Der fünfte Tag war, in ſtarkem Gegenſatz zum vorhergehenden, der Trauer und
Buße geweiht, wobei die Myſten, indem fie um Perſephone trauerten, die im Hades
weile, auch an ihre Seele dachten, die ebenfalls in einem Gefängnis, dem Körper,
feſtgehalten werde. Es iſt anzunehmen, daß dieſe Bußübungen und Meditationen
auch mit Faſten und Gebet verbunden waren; ſicher aber iſt, daß zum Schluſſe
dieſer Zeremonien die Myſten einen geheimnisvollen Trank genoſſen. Woraus der-
ſelbe beſtand, läßt ſich nicht mehr mit Genauigkeit feſtſtellen, wir dürfen aber an-
nehmen, daß er nicht einfach Wein allein, ſondern auch andere Ingredienzen ent-
hielt, die den Myſten befähigten, ihn in Stimmung verſetzten und vorbereiteten,
das Wunderbare, Außergewöhnliche aufzunehmen, das ſich ihm am nächſten Tage
bieten ſollte.
Am ſechſten Tage, dem Höhepunkte der Myſterienfeier, erhielt jeder Myſte am
Morgen einen Thyrſusſtab und einen verſiegelten, mit Efeu geſchmückten Korb, den
Ciſtus, den er den ganzen Tag mit ſich tragen mußte, ohne ihn öffnen zu dürfen. Er
enthielt drei geheimnisvolle Gegenſtände und wurde nur in der kommenden, der
großen und heiligen Nacht der Einweihung vom Hierophanten eigenhändig gedff-
net, der dann den Myſten die im Ciſtus enthaltenen Gegenſtände zeigte und deren
Bedeutung ihnen erklärte. Der Hierokeryx aber ſagte den Myſten nach Empfang des
Ciſtus, daß auch dieſes, das Tragen dieſes verſchloſſenen Korbes, für fie voller Bedeu-
tung ſei; ſo wie ſie dieſen verſiegelten Korb nun mit ſich herumtragen müßten, ſo
trügen fie auch in ſich allerlei herum, wovon fie eben noch nichts wüßten, gebeimnis-
volle Fähigkeiten, die in ſpäteren Zeiten zur vollen Entwicklung gelangen würden.
Dieſer ſechſte Tag war, wie geſagt, der Höhepunkt des Feſtes; an ihm fand abends
die große, die heilige Prozeſſion ftatt, die oft bis 30000 Teilnehmer zählte. Unter
Anführung des Daduchos, des oberſten Fackelträgers aus dem Geſchlechte des Tri-
ptolemos, ſetzte ſich der Zug nach Sonnenuntergang von Athen aus in Bewegung.
Er folgte der uns ſchon bekannten heiligen Straße. Viele Teilnehmer trugen brennende
Fackeln. Unter allgemeinem Jubel und freudigem Jauchzen, unter Klängen froher
Lieder zu Ehren des Gottes wurde die myrtenbekränzte Statue des Dionys von
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Urtull: Ole Eleufintfchen Myſterlen 107
Athen nach Eleuſis getragen. Das Volk, unwiſſend und abergläubiſch, jubelte der
Statue des Gottes zu; es hatte ſeine Freude am Feſte, am Fackelſcheine und Lieder-
klang. Die Eingeweihten aber, die in früheren Jahren die Weihe empfangen hatten
und mitgingen, hatten Grund zu tieferer Freude. Für fie war Dionys, der ſich auf-
machte, um Perſephone aus der Macht Plutos zu befreien, der göttliche Geiſt, der
ſich nahte, um die Menſchenſeele aus der Macht der Finſternis zu erlöſen.
Wunderbar iſt die Geſtalt des Dionys. Zuweilen wurde er als erwachſener Mann,
zuweilen als Kind dargeſtellt. Er war ein Auferſtandener, ein Wiedergeborener.
Von den Sitanen zerfleiſcht und aufgegeſſen, wurde fein Herz von Pallas Athene
den Titanen entriſſen und dem Vater, Zeus, zurückgebracht. Dieſer nahm das Herz
des Sohnes in ſeine Bruſt und von dort, aus dem Schoße des Vaters, ſollte der einſt
zerfleiſchte als Retter wiederkommen, die leidende Menſchheit zu erlöſen. Dieſer
Gedanke und dieſe Erkenntnis erfüllten das Herz des Eingeweihten mit ſtürmiſcher
Freude, einer Freude, die ſich mit ſüdländiſcher Lebhaftigkeit in Liedern und Jauchzen,
in Sprüngen und Tänzen äußerte. Dionys wurde an dieſem Tage auch des öfteren
Fakchos genannt, und am häufigſten mag von den Begeiſterten das uns erhaltene
Tanzlied zu Ehren des Jakchos geſungen worden ſein, das mit den Worten anfing:
„dakchos, dem der Tanz lieb, komm, geleite mich.“ Die Myſten, die in dieſer Nacht
die letzte Weihe empfangen ſollten, ſpähten von Eleuſis aus, von den Zinnen des
geiligtums nach dem Zuge. Als ſich dann die Nacht in der Ferne erhellte und die
heilige Prozeſſion auf der Höhe des Agaleosgebirges erſchien und ſich wie eine feu-
rige Schlange auf dem Abhange herunterwand, da ſetzten ſich die Myſten ebenfalls
in Bewegung. Sie gingen dem Zuge der ſchon Geweihten, von Athen kommenden
entgegen, und zuſammen unter verdoppeltem Jubel zogen alle nach Eleuſis ins
Heiligtum. Die Ankunft des Dionys Jakchos kündete den Myſten das Nahen ihrer
eigenen Wiedergeburt durch die Kräfte des göttlichen Geiſtes an, dem Wieder-
erneuerer der Menſchenſeele, der dieſe aus der Finſternis zum Lichte zurückführt.
Durch die großen Propyläen zog die Prozeſſion ins Heiligtum ein. Dort empfing
ſie der heilige Herold und zwang die Unberechtigten, die ſich zuweilen einſchleichen
wollten, durch den Ruf: „Eskato bebeloi !“ — die Fremden hinaus — das Heiligtum
zu verlaſſen. Aufs unberechtigte Eindringen zu den Geheimfeiern ſtand der Tod.
die Myſten aber hatten unter Androhung der Todesſtrafe zu ſchwören, Unein-
geweihten nichts von dem zu verraten, was ſie hier erleben und ſehen würden. Nach
dem Schwur ſagte der Hierokeryx den Myſten, fie ſeien nun auf der Schwelle zu
Perſephones unterirdiſcher Wohnung, um jedoch zum großen Lichte zu gelangen,
müßten ſie zuerſt durch Finſternis gehen; um vom wahren Oaſein ihrer Seele etwas
zu verſtehen, müßten ſie zuerſt durch das Reich des Todes ſchreiten. Dies ſei die
Prüfung, durch die ſie aus Myſten Epoptai, Eingeweihte, würden.
Die Myſten hatten darauf ihre Kleidung abzulegen. Sie wurden mit einem Rebfell
bekleidet, ein Symbol deſſen, daß ihre aus dem Himmel ſtammende Seele durch ihre
Geburt, durch ihre Menſchwerdung einen Leib erhalten habe, der aus demſelben
Stoffe beſtehe, aus denen auch der Leib der Tiere zuſammengeſetzt fei und auch den-
ſelben Geſetzen unterworfen. Hierauf löſchte der Daduchos ſeine Fackel aus und
ſofort taten die andern Fackelträger dasſelbe. Die Myſten wurden nun von ihren
108 Ugtull: Ole Eleuſiniſchen Mpfterien
Myſtagogen zum Eingange eines unterirdifchen Labyrinths geführt. Dort herrſchte
völlige Finſternis. Sie ftellte den Zuſtand ihrer Seele dar, die nur ihren natürlichen
Verſtand hat, nichts mehr aber von ihrem früheren Leben weiß und der das große
Licht der Erkenntnis und Einweihung noch nicht aufgegangen iſt. Der Zug der My⸗
ſten bewegte ſich langſam vorwärts in völliger Nacht. Plötzlich hörten ſie, die durch
Gebet, Faſten, Belehrung und den geheimnisvollen Trank vorbereitet und in Stim-
mung verſetzt waren, allerlei ferne unheimliche Geräuſche, ſchaurige Seufzer,
ſchreckliche Schreie. Hin und wieder rollte ein Donner durch die gewölbten Gänge.
Ein greller Blitz zerriß die Nacht und zeigte den erſchreckten Myſten allerlei grauen;
volle Erſcheinungen: drohende Ungeheuer, Schlangen, Geiſter, Gerippe, zerfleiſchte
Leichen. Dabei wechſelten die Erſcheinungen raſch Geſtalt und Anſehen, was bei den
Myſten Betäubung und Schwindel hervorrief. Doch nur einen Augenblick ſahen fie
das Schreckliche, das ſie umgab, und wieder wurde es völlige Nacht. Obſchon ſie
noch im Leibe wandelten, ſo wurde dennoch durch Wiſſen und Können der Prieſter
in dieſer Stunde für fie der Vorhang gelüftet, der die unſichtbaren Welten von den
ſichtbaren trennt, und es wurden ihnen hier Einblicke in die unteren Schichten der
Geiſterwelt gewährt. Plutarch, der ſelber eingeweiht worden war, vergleicht das
Grauen, das der Myſte im Labyrinth verſpürt, mit den Schrecken des Todes. Dann
gelangte der Zug in eine Krypta, einen großen gewölbten Raum unter dem Weihe
tempel. Hier erblickten die Myſten zum erſten Male wieder Licht, allerdings nur
flackerndes, unſicheres Licht. Unter einem großen Keſſel brannte Holz. Ein Prieſter
in einem gelb und ſchwarz geſtreiften Talar ſtand hinter dem brodelnden Keſſel und
warf von Zeit zu Zeit allerlei Gräſer und Gewürze hinein. Aus dem Keſſel quoll
immer dichter werdender Dampf und Qualm. Den Myſten wurde befohlen, am
Eingange bei der Wand niederzuknien. Ein Chor von Dämonen trat auf, um nach
ſchaurigem Geſange wieder zu verſchwinden. Der Rauch im Raume wurde immer
dichter, und mit Schaudern erkannten die Myſten beim flackernden Lichte allerlei
ſich drohend auf ſie zu bewegende Ungeheuer oder Geſpenſter. Wilde Tiere fletſchten
ſie an. Feindliche und ſchreckliche Geſichter ſtarrten auf ſie. Fratzen grinſten. Mancher
Myſte mag hier an die alte Sage von Zerberus, dem Hüter des Höllentores, gedacht
und fie nun ganz anders verſtanden haben. Da erhob der Prieſter die Hand und wies
auf die andere Seite des Saales. „Geht dahin!“ befahl er. Die Myſten mußten auf-
ſtehen und hatten durch den Raum zu gehen, aber der ganze Geiſterſchwall umringte
die Erſchreckten, drang auf fie ein, verſperrte ihnen den Weg. Viele machten mehrere;
mal vergeblich den Verſuch, denn unſichtbare Gewalten ſtellten ſich ihnen entgegen.
Geiſterhände hielten fie feſt, zogen fie zurück. Za es kam vor, daß der eine oder andere
auf den Fußboden hingeworfen wurde. Mutige Myſten hatten zuweilen mehreremal
den Verſuch zu machen, den Saal zu durchqueren, ehe es ihnen gelang. Furchtſame
zogen es vor, umzukehren und durch das Labyrinth den Ausgang zu ſuchen; ſie
waren aber dann für immer des Rechtes verluſtig, die Weihe zu empfangen. Wer
aber feine Hoffnung auf die Götter ſetzte und mutig vorwärts ſchritt, der kam durch,
und der ganze tolle Spuk konnte ihm nichts anhaben.
Die Myſten wurden durch dunkle Gänge weitergeführt, aber der Höhepunkt der
Schrecken war überſtanden. Der heilige Herold teilte den Myſten mit, fie kämen jetzt
Artull: Ole Fleufinkchen Myſterlen 109
ins Plutonion, in die Behauſung des Beherrſchers der Unterwelt. Sie würden nun
den dritten Teil des heiligen Dramas ſchauen. Unterm rhythmiſchen Geſang unfidt-
barer Geiſterchöre betraten die Myſten die Grotte. Der Raum wurde durch einige
Lampen erhellt. Die Decke wurde von einem aus Kupfer getriebenen Baume, dem
Baume der Träume, getragen, deſſen glänzendes Laub den ganzen Raum über-
dachte. Aus den Zweigen ſtarrten Fratzen und Fledermäuſe auf die Myſten herab.
Auf einem prachtvollen Boppelthrone ſaßen Pluto und Perſephone. Die Myſten
erkannten ſie wieder, doch ihr Antlitz war verändert; ein ſchwarzer Schleier bedeckte
fie und tiefer Schmerz lag auf ihren Zügen.
Der Hierokeryx trat wiederum vor und erklärte den Myſten, fie hätten im Schickſal
Perſephones die Geſchichte ihrer eigenen Seele zu erblicken. So wie Perſephone
unter der Herrſchaft Plutos leide und ſich nach ihrer Mutter und ihrer lichten
Heimat febne, fo leide auch ihre Seele unter der Macht der Finſternis und Sinnlich
keit und ſehne ſich ununterbrochen nach dem Lichte ihrer himmliſchen Heimat, die
ſie verlaſſen. Die aus dem Laube des Baumes der Träume ſie anſtarrenden Fratzen,
die in Wirklichkeit ihnen nicht ſchadeten, ſeien Bilder der Schmerzen und Leiden,
die die Menſchen während des irdiſchen Dafeins, das ja nur ein Schlaf fei, zu er-
dulden hatten. Der Hierokeryx ſchwieg.
Perſephone aber gab ihrem Schmerze und ihrer Sehnſucht erſchütternden Aus-
druck. Die Augen voller Tränen, hob ſie die Arme im Schmerze empor und wollte
ſich erheben. Aber auf einen Blick und gebietenden Zuruf ihres Gatten fiel ſie wieder
auf ihren Sitz zurück und mußte aus dunkler Schale den Saft eines Granatapfels
trinken, den Pluto ihr reichte. Der heilige Herold erklärte darauf den Myſten, dies
ſtelle die Macht der Sinne über die Seele dar und ihre vergeblichen Verſuche, ſich
zu befreien.
Den Myſten wurden darauf Narziſſenkränze in die Hand gegeben, und ſie erhielten
die Weiſung, der Göttin dieſes Blumenopfer darzubringen.
In dieſem Augenblick ſprang ein großes Doppeltor auf, und ſtrahlendes Licht er-
hellte den Raum. Der Ruf erſchallte: „Herbei, ihr Myſten, herbei! Dionys Jakchos
iſt da! Demeter erwartet Perſephone! Evohe!“
In den Gängen ſchallte der Ruf wider, und die Wölbungen der Halle wiederholten
ihn. Perſephone fährt in die Höhe, als ob ſie nach langem Leide erwache. „Licht,“
ſchreit fie, „meine Mutter! Dionys Jakchos!“ Sie will forteilen, aber Pluto erfaßt
fie und zwingt fie auf ihren Sitz zurück. Da fällt fie hin und ſtirbt.
Es verlöicht alles Licht, und in tiefſter Dunkelheit ſpricht eine Stimme: „Sterben
iſt wiedergeboren werden.“
Die Myften wurden von den Myſtagogen hinausgeführt. Sie haben nun die
Schrecken der Unterwelt hinter ſich. Sie werden oben vom Daduchos und vom Hiero-
teryx empfangen. Es wird ihnen befohlen, das Rehfell abzulegen. Sie baden ſich in
geweihtem Waſſer und erhalten weiße Gewänder. Sie werden in den gewaltigen
Tempel geführt, der im Lichte einiger tauſend Fackeln ſtrahlt, und werden von dem
in Purpur gekleideten Hierophanten, dem Hohenprieſter, empfangen. Aus alten
ſteinernen Tafeln lieſt er den Myſten Dinge vor, die ſie bei Todesſtrafe nicht verraten
dürfen. Dann bringen Tempeldiener den Myſten ihre Ciſtuſſe.
110 Urtull: Oie Eeuſiniſchen Myſterien
Der Hierophant zerbricht die Siegel und öffnet die Körbe. Die Myſten haben die
Gegenſtände, die ſich darin befinden, herauszunehmen. Es waren ein Ei, eine
Zirbelnuß und eine Spiralſchlange aus Kupfer. Der Hierophant erklärt ihnen den
ſymboliſchen Sinn dieſer Gegenſtände. Das Ei fei nicht nur ein Symbol der Auf-
erſtehung, es zeige auch den Menſchen, daß es zwei Leben nacheinander gebe. Erſt
ein Leben, begrenzt und gleichſam im Dunkel, in Unwiſſenheit, in der Schale, dann
nach dem Zerbrechen der Hülle ein anderes Leben, im Licht, mit viel größerer Be-
wegungsfreiheit und mit einem viel weiteren Horizont. — Die Zirbelnuß ſei nicht
nur ein Symbol der Fruchtbarkeit, ſie ſoll auch die Myſten daran erinnern, daß ſie
im Kopfe eine Drüſe haben (die fog. Zirbeldrüſe, glandula pinealis), das verküm-
merte Organ, mit dem die Menſchen früher ins Geiſterland haben ſchauen können,
der Reft des dritten Auges der Zyklopen. Dieſes Organ könne wieder belebt, ent-
wickelt und benutzt werden, um Verbindung mit Perſonen zu pflegen, die räumlich
weit voneinander entfernt find. Der Hierophant gab den Myſten die Meditations-
übungen an, die zur Entwicklung dieſer Fähigkeit führen. Zuletzt erklärt er ihnen den
Sinn der Spiralſchlange. So, wie eine Schlange, die ſich in den Schwanz beißt, die
Ewigkeit bedeute, fo fei eine Schlange, die ſich ſpiralförmig emporwinde, ein Sym-
bol für die Evolution der Geiſter, die ſich allmählich zu immer größerer Vollkommen⸗
heit hinauf entwickeln. Abwechſelnd durch Geburt und Tod, durch ſichtbare und un-
ſichtbare Welten, ſteigend und ſinkend, ſchreiten ſie empor zur Urquelle des Seins.
Während dieſer Rede hatten helle, lichtvolle Wolken den hohen Raum allmählich
erfüllt. Sie zerteilen ſich, und vor den entzüdten Augen der Myſten zeigten ſich die
Gefilde der Seligen: ſonnenbeſtrahlte, blumengeſchmückte Auen. Die Eumolpiden
waren auch Melſter in der Kunſt des Malens. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß in dieſer
heiligen Stunde bei vielen Epoptai wirklich hellſeheriſche Fähigkeiten, bei manchen
vielleicht nur vorübergehend, geweckt wurden. Plato iſt ein Zeuge für die wunder-
bare Stärkung oder Belebung des Gedächtniſſes bei den Eingeweihten. Die Erinne-
rung an vormals, d. h. in früheren Leben, geſchaute und erkannte Dinge, ſagte er,
würde wiedererweckt. Etwas Ahnliches lehrte auch Sokrates, der ja ſelber, um frei-
mütig reden zu können, ſich nicht hatte in Eleuſis einweihen laſſen. Er ſagte, all unſer
Lernen fei weiter nichts als ein Sich- wieder- erinnern. Und nun begann der vierte
und letzte Akt des heiligen Dramas.
Unter Zubelgefängen unſichtbarer Chöre wird die durch ihren Tod aus der Macht
Plutos befreite Perſephone von Demeter und Dionys zu ihrem Vater Zeus zurüd-
geleitet. Trunken von Glück, unter freudigen Zurufen der Zuſchauer, betritt fie die
heimatlichen himmliſchen Gefilde. Der Hierokeryx erklärt den Myſten, die Menſchen⸗
ſeele werde vom Geiſte Gottes und von der Weltenſeele, der Mutter Natur, in die
himmliſche Heimat zum Vater zurückgeführt. Aber Pluto will feine Rechte auf Perje-
phone nicht aufgeben. Er verlangt fie zurück. Dionys und Demeter weigern ſich, ihm
Perſephone auszuliefern. Der Streit wird zur Entſcheidung Zeus vorgelegt. Der
Hierophant empfängt als Zeus auf erhabenem Throne in majeſtätiſcher Ruhe die
Streitenden. Nach Anhören beider Parteien fällt er den Richterſpruch: Perſephone
ſolle zwei Drittel des Jahres oben im Himmel bei Dionys weilen, ein Drittel aber
unten im Hades bei Pluto, bis fie völlig erlöft ſei, bis die Macht der Finſternis und
Tf: Cobesahmung 111
kinnlichkeit keinen Widerhall in ihr mehr finden und nichts Anziehendes, Ver-
endes für ihr Herz mehr haben würde, — ein Bild der Wanderungen der Seele
dom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel.
ein Hymnus zu Ehren des Zeus, der Demeter, des Dionys und der Perſephone
murde darauf geſungen. Mancher Eingeweihte hatte in dieſer Stunde Difionen von
keliden, lichtvollen Geſtalten, die ſich unter die Feſtteilnehmer mengten. Nach
Sendigung des Liedes ſprach der Hierophant den höchſten Segen über die Myſten
as: „Mögen deine Wünſche erfüllt werden, kehre zurück zur Seele der Welt.“ —
get heilige Ritus war vollendet, und die Myſten find Epoptai, Seher geworden.
Am ſiebten und achten Tage fanden in Eleuſis Spiele und Wettkämpfe zu
Siren der beiden großen Söttinnen ſtatt.
Am neunten Tage fanden die Myſterien ihren Abſchluß durch eine eigenartige
mbolifche Zeremonie. Zwei große, mit Waſſer gefüllte Gefäße wurden im Often
m Weſten des Tempels aufgeſtellt. Nach einem Hymnus zu Ehren der Göttinnen
ruden fie unter dem Ausſprechen gewiſſer Formeln und Gebete umgeſtüͤrzt, fo
ich ich das Waſſer gen Morgen und gen Abend ergoß, wohl den Segen darſtellend,
ler don Eleuſis ausging.
Gn früher nie gekanntes Glück aber und ein uͤbermenſchlicher Friede ſoll die
deren der Geweihten dann erfüllt haben: Die Schrecken des Todes waren über-
mmden, die Rätjel des Lebens gelöſt. Eine hehre, lichte Freude vereinigte und be
feligte alle. Sie hatten den Oelphiſchen Befehl, erkenne dich ſelbſt, erfüllt, fie hatten
ihr Doppelwefen erkannt, fie wußten, daß ihres Geiſtes eine lichtvolle Zukunft
harrte, während der Körper dem Zerfall entgegenging. Shr Geiſt freute ſich daher auf
die Stunde ſeiner Befreiung vom Körper. Sie knechteten dieſen, ſie hatten ungern
Ierbindung mit ihm. Dieſe Erkenntnis und dieſe Stellung blieben nicht ohne Ein-
fluß auf ihre Sittlichkeit, ſie veredelten ihre Ethik. Im nächſten Frühling aber konnte
der Eingeweihte mit ganz anderem Verſtändnis den ſchönen alten Brauch der Grie-
chen, Blumen auf die Gräber ihrer Toten zu pflanzen, begehen, denn ſolches hatte
für ihn nun einen tiefen Sinn. Er wußte, daß fo wie die Blumen aus dem dunklen
Schoß der Erde durch die Kraft des Lebens zum Lichte emporſprießen würden, alſo
ſeien auch feine Toten aus der Unwiffenheit, Enge und Finſternis dieſes Lebens in
ein höheres Daſein eingegangen, in lichtdurchflutete Räume.
Todesahnung
Von Traugott Pilf
32 zwei, fagt an, was tut ihr da?“
len, wir graben hier ein Grab.“
tut ihr, wenw’s zu End geſchah,
Wen ſenkt ihr dann ſo Sef hinab?“
Der eine ſieht mich an, der mich
Um Haupteslänge überragt.
Er ſpricht, gräbt weiter emſiglich:
„Du Tor, doch immer den, der fragt!“
112
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens
: (Fortfetzung)
1643
1.
as Sdhiigenbild haben fie mir ganz verleidet. Etliche von der Kompagnie woll⸗
ten ſogar dafür entſchädigt werden, daß fie nicht in vollem Sonnenlicht gemalt
wurden. Als ob ſie ſich nicht alle der Kunſt zu unterwerfen hätten, und nicht die
Kunſt ſich ihnen, den querköpfigen Spießern. Doch je ungehaltener die Leute über
mich ſind, um ſo ſtolzer kann ich ſein. Es iſt ein Zeichen, wie ich immer weiter vom
Pöbelgeſchmack fortkomme. Und wie tückiſch fie find! Jan Lievens, mein alter treuer
Jugendkumpan, wäre raſend geworden. Wie hätte er auf die Fiſchbäuche geflucht,
wie er die Geſchäftskrämer und Heringspacker hierzulande zu nennen beliebte!
Der gute Jan! Ob er jetzt in Antwerpen glücklicher iſt? Der ruheloſe Gefelle! Ich
glaube, am liebſten wäre er doch nach Italien gewandert in feinen fröhlichen Jung-
meiſtertagen, obſchon er es immer mit einem infernaliſchen Ingrimm beſtritt.
Ich feb’ ihn noch vor mir mit Neeltje und Doortje im Arm, feine Leidener Pflege-
kinder, wie er ſie nannte. Er hatte den Auftrag erhalten, an den Hof Karls des Erſten,
des guten Königs von England, zu kommen. Da ſtand er im ganzen Stolz ſeines
jungen Ruhms, den Galanteriedegen umgehängt, mit dem er ſich gern ſehen ließ,
und ſchimpfte über einen alten Mann, der ſich weigerte, von ihm gemalt zu werden.
Als ob es nicht für ſie alle eine Ehre wäre, von ihm gemalt zu werden, ſchrie er
wütend. Titian malte im Zenit ſeines Ruhmes nur Könige und Kaiſer. Lebten
fie nicht im Freiſtaat der Oranier, alle Großen der Welt kämen nach Leiden
O Jan, du wirkteſt immer unfagbar ernſt und feierlich!
— War das wieder eine Nacht, eine rufende Nacht! Warum quälſt du mich ſo,
mein Gott, warum vernehme ich jetzt immer in der Stille der Nächte deine dunkel-
taunende Stimme? Soll ich dies reiche vornehme Leben von mir werfen wie einen
Brokatmantel und in die Einſamkeit gehn, um dich zu ſuchen? Ich ſuche dich doch
immer, Tag für Tag, um das Licht deiner ſonnenhaften Augen zu erhaſchen, will
ich doch dich und deinen eingeborenen Sohn, will ich doch alles Göttliche im Alltag
malen, in meinem nordiſchen proteſtantiſchen Alltag, im Helldunkel der winter
lichen Tage. —
2.
Wer iſt Jan Six? Rembrandt fragt immer wieder nach Jan Six, ob er ſchon
gekommen ſei, um ihn abzuholen. Sie haben ſich verabredet, um von nun an oft
die Umgebung der Stadt zu durchſchweifen. Wer iſt Jan Six? Dod nicht der be-
kannte Dichter dieſes Namens? Vielleicht der Sohn der Anna Wymer Six, die
der Meiſter gemalt? Hoogſtraaten, der Lehrling, Samuel van Hoogftraaten aus
Dordrecht weiß es nicht; und er weiß doch ſonſt alles, was im Hauſe vor ſich geht.
Fabritius geht herum mit wuͤtendem Geſicht und flucht, als er gefragt wird; de Ko⸗
ninck grinſt.
Endlich pocht einer mit dem Türklopfer an die ſchwere eichene Haustür, jo daß
Otto Quante
November
5
Martens: Oer Dämon des Lichts 113
Geertje Claes, Titus Amme, die Frau des an der Südgrenze des Landes ftatio-
nierten Trompeters, deren Milchfülle zwei Säuglingen genügte, faſt vor Schreck
auf den Fließen der Küche ausgeglitten wäre, in der ſie als Haushälterin nach dem
Rechten ſehen wollte. Die junge flinke Magd rennt die Kellerſtufen empor, um dem
ungeduldigen Klopfer zu öffnen. Es iſt Jan Six, der Tuchfärber, ein friſcher rot-
bäckiger junger Herr in der Mitte der Zwanziger, der den Meiſter zum Wandern
abholt.
Oer ſteht wie immer emſig vor der Staffelei und hält Zwieſprache mit ſeinem
Sh. Er malt Saskia — die tote Saskia? Nicht doch, die Lebendige, Hübſche will
er malen, die ewige Geliebte ſeiner Seele, die er nicht vergeſſen kann, die ihn ruft
in den Nächten, wenn er vor Verlangen nach ihr ſich im breiten Himmelbett bäumt
und ins Leere greift, immer ins Leere.
Meiſter, du vollbringſt gewiß Erſtaunliches, wenn du den Mut aufbringſt, die
hundertmal Geſtaltete wieder zu malen, als ſtände ſie noch vor dir in ihrer glücklichen
Schönheit, vollbuſig, zärtliche Falten unterm Kinn, die goldbraunen Augeu von
der Laſt des Glides nicht völlig geöffnet, eine rote Blume in der Hand, die Linke
auf der liebeatmenden Bruſt. So malteſt du ſie, als ſie noch lebte und die vierte
goffnung eines Erben unter dem Herzen trug.
Meiſter, dein Unterfangen iſt über die Maßen kühn: eine Tote ins Leben zurück-
zurufen, als bedecke noch nicht der Brautſchleier ihre eingeſunkenen erloſchenen
Augen im kühlen Bette der Erde.
Laß ab von dieſem tollkühnen Wagnis! Nicht wieder wirſt du die Lebendige auf
das geduldige Holz malen können, denn die Toten find nicht mehr von dieſem Reich,
und keiner hat ſie geſtalten können.
Verwirrt, unſchlüͤſſig ſtehſt du vor dem ſeltſamen Konterfei, das du mit fo viel
Liebe malſt, das wohl die Züge der Erinnerung trägt; aber etwas Starres, Lei-
dendes haft du hinzutun miiffen, weil Saskias ſterbendes Antlitz dir das Bild der
Lebendigen trübt. Zu dieſer Erkenntnis wirſt du eines Tages kommen und du wirſt
fühlen, daß du nur ein Menſch biſt, ein ſchwacher gebrechlicher Menſch.
3.
Rembrandt und Jan Six wandern die Amſtel hinauf, auf dem linken Ufer auf
der alten Oeichſtraße. Es iſt düſiges Wetter; zuweilen bricht eine rötliche Sonne durch
den Nebel. Dann blitzen die Bũſche und Sträucher von Tau. Nicht lange mehr dauert
es, jo öffnen ſich allüberall im Lande die Blätterknoſpen. Es iſt ein Wetter, um in
die Welt hinauszuträumen, während der Nebel von den Bäumen tropft.
Was mag dieſe beiden ſo völlig verſchiedenen Männer ſo feſt verbinden? Immer
ſtreifen fie zuſammen durch das unwegſame Land. Jan Six iſt kein Mann, an dem
ein Mädchen traumlos vorübergeht. Seine ſchöne ſchlanke Geſtalt, fein freimütiges
offenes Weſen, ſein geiſtvolles Geſicht und ſein Reichtum machen ihn zu einem der
angeſehenſten jungen Republikaner feiner Zeit. Schon mit jungen Jahren ent-
wickelt er einen ungewöhnlich ſtarken Sinn für die geheime Macht der Farbe. Seine
Vorliebe für farbenprächtige Dinge iſt ſo ſtark, daß es ſeiner Mutter rätlich erſcheint,
ihn davon abzuhalten, Rembrandts Bilder Stück für Stüd zu ſammeln. == hätte
Der Türmer XXVIII, 2
114 Martens: Der Dämon des Lichts
ſich nicht unnötig zu beunruhigen brauchen: ihr Sohn iſt ein nüchterner Kaufmann
und Fabrikant; er bringt die Tuchfärberei des Vaters zu einem außerordentlich hohen
Stand. Nirgendwo anders wird Tuchware von einer ſolchen Farbenſattheit her-
geftellt. Er hätte niemals ſeine Mittel überfchritten. Sein Weſen iſt glücklich begrenzt:
kein chaotiſcher Drang bewegt ſeine Seele.
War Rembrandt nicht der beſte Kenner roter und gelber Töne, der je auf hol-
ländiſcher Erde gewandelt? Doch das allein iſt es nicht. Die beiden Männer wur-
den ſich in kurzer Zeit unentbehrlich, und beide wuchſen förmlich aus ſich heraus:
Rembrandt aus feiner angeborenen Schwermütigkeit, Jan Six aus feiner Jungen
haftigkeit, die ihm immer noch zum Verdruß der Mutter anhaftete.
Sie durchwandern die weite Umgebung der Stadt bis an das Neue Meer, bis
nach Ouderkerk, ſelbſt bis nach Haarlem. Der gemiitstrante Meiſter ſehnt ſich nach
einem Menſchen, den er in ſein Herz ſchließen kann, und da die Heiterkeit des jüngeren
Mannes von der erquidenden Art iſt, die nur jungen unverdorbenen Seelen eigen,
wird ihnen das Freundſchaftsbündnis zu einem unverſiegbaren Born der freien
Ausſprache. Der Geiſt des Tuchfärbers iſt ein ſcharfes blitzendes Schwert, das den
Nebel der Bedrüdung durchſchneidet und die Feſſeln der Schwermut ſprengt. Sein
neuer Freund iſt dem Meiſter ein Erlöſer.
Nun bricht eine neue Schaffenszeit an, die der Kunſt des Stiftes und des Stichels
in erhöhtem Maße gilt. Das Geheimnis, das auf der ſchwermütigen Landſchaft
der Waterkant liegt, wird entſiegelt. Die herzliche Schlichtheit im Verkehr der bei-
den Männer geht auch auf Rembrandts Zeichnungen und Radierungen über. Ein
unendlich feiner Hauch belebter Stille ruht auf den Weitſichten, die feine ſchlichte un
fehlbare Meiſterhand erſchafft, und die ſein wahres Weſen anſchaulich zum Aus-
druck bringen.
1644
1
Was wußte ich Tor von den Wonnen der einſamen rufenden Nacht! Quälerei
war ſie dem Kinde, mich ſchreckten die Stimmen im Dunkeln. Als ich zum Jüngling
heranwuchs, verletzte ſie meine Scham wie ein nacktes üppiges Weib, das mich zu
entflammen getrachtet. Da ſuchte ich Schutz bei den Spielen und Tänzen der Ju-
gend; umſonſt, nicht lange ward ich gefeſſelt, bis ſich ein Mädchen mir ſchenkte.
Da fand in den dunkeln Stunden ich Ruhe vor ihr, der Nacht, die meine Seele be-
gehrte, meine kindiſch ſich wehrende Seele.
Als ich ein Meiſter geworden im Malen des menſchlichen Herzens, da rang ich
die Nächte zu malen, die einſamen rufenden Nächte, ihr Weſen, die Züge und
Stimmen zu bilden im tröſtenden Bild, auf daß fie nicht länger mich quälten, doch
konnt' ich nicht faſſen ihr Weſen.
Nun hat ſich mir alles geändert, feit einſam mein nächtliches Lager: Troſtſpen-
derin, Freundin ward ſie, die einſt gefürchtete Stille. In den Nächten geht mir ihr
Atem, ich fühle die ſingenden Schläge des dunkel tönenden Herzens. Nicht einſam
mehr läßt mich die Nacht, feit mir die Sanfte im Arm ruht. Wie lauſch' ich begebr-
lich dem Flüſtern in wilden, laubrauſchenden Nächten, wenn ſtürmiſch die Wellen
im Strom am ſteinernen Ufer ſich brechen.
Martens: Der Dämon des Lichte 115
Ich lernte die Einſamkeit malen im Antlitz der Inſichgekehrten, die Gott ſchon
auf Erden ſich nähern. Zur Freundin ward mir die Stille, den Trauerſchleier im
Antlitz. Nun hat ſie ans Herz mich gepreßt, mich einſamen Träumer der Nacht.
2
Der Meifter kann nicht ſchlafen. Aus dem Halbdunkel des Zimmers ſieht er
zwei Augen vorwurfsvoll auf ſich gerichtet, die ihm den Schlaf rauben, blaue,
tiefblaue Augen. Der Mann, deſſen Erſcheinung ihn bedrückt, iſt von großer Statur
und hat blondes wallendes Haar. Er ſieht einem der Vatavier ähnlich, wie der
Volksmund ſie von alters her ſchildert. Solche hohen majeſtätiſchen Geſtalten trifft
der Wanderer noch zuweilen an der frieſiſchen Küſte an. Es iſt der Trompeter
Abraham Claeß, deſſen Frau Geertje nach Saskias Tode Amme des Titus war.
Sie lebt noch immer im Hauſe Rembrandts, ſie iſt von üppiger Geſtalt und eine
jener nicht ſeltenen Frauen, die ohne ſchön zu ſein durch irgend einen geheimen
Reiz den Männern die Luft zum Weibe wachruft. War es ein beſtimmtes Wiegen
im Gang, die Haltung der Bruſt? Jedenfalls, es war kein Geheimnis mehr, daß
der ſtarkſinnliche Meiſter Gefallen an ihr fand und ihrem dunkeln Locken ſich ge-
fangengab. |
Ex kennt den Trompeter: ein ruhiger ſelbſtſicherer Mann. Gut und ehrlich find
ſeine Augen; oft können ſie ſogar ſich ehrerbietig ſenken. Würde dieſer gerade
ehrenfeſte Mann ihm verzeihen, wenn er wüßte, wie ſchwer der Meiſter ſich an feinem
Weibe vergangen? Die Nacht iſt ganz ohne Bewegung, beängſtigend ſtill. Immer
ſieht er ſich im Bann der blauen, tiefblauen Augen.
Der Meiſter kann nicht ſchlafen; ihn quält der Entwurf zu einem Bilde, das er
ſchon lange zu malen ſich unterfangen. Seit einem Jahre trägt er ſich mit dieſer
Schöpfung; viele Zeichnungen wurden entworfen und wieder verworfen. Er kam
nicht weiter. Jetzt hat ihn wieder der Drang zum Schaffen gepackt; den muß er
ausnutzen. Chriſtus und die Ehebrecherin: „Wer unter euch ohne Sünde ijt, der
werfe den erſten Stein auf ſie.“ Dieſe furchtbare Anklage gegen alle Kritiker und
Richter will er geſtalten, dieſe ſtumme Aufforderung an alle Hochmütigen und
blinden Fanatiker, ſich doch erſt an die eigene ſündige Bruſt zu ſchlagen, ehe ſie
über einen Menſchen zu Gericht ſitzen. Nicht wie in früheren Bildern bibliſcher Stoffe,
die er grotesk, in der ganzen Herbheit feines energiſchen Pinfels, in einer Auf-
faſſung feſthielt, die vor Wahrheit, vor Lebendigkeit ſchrie, und deren Art ſeine
früheren Schüler Eekhout und Flink, auch der ganz von ihm beeinflußte Salomon
Koninck mit einer Schamloſigkeit nachahmten, die ihresgleichen ſuchte, nicht in
dieſer Art wollte er dieſen Stoff behandeln. Hier ſollte ein Werk heranreifen, wie
die Welt noch keines von ihm kannte, von einer unerhörten Malart, die den Kirchen-
bildern der van Eyck an Feinheit des Strichs, an Zartheit der Farben und an Ge-
nauigkeit der Wiedergabe gleichkam. Nicht ein einziger ſeiner Nachahmer würde
ſich an die Kunſt dieſes Bildes heranwagen.
Er ſtand auf, hüllte ſich in feinen Mantel und ſchlich hinauf in die große Mal-
kammer, wo er mehrere Leuchter in Brand ſetzte. Dann ließ er ſich vor feiner großen
Staffelei nieder, auf der das nur bis zur Untermalung gediehene Bild ſtand. Da-
116 Martens: Der Odmon des Lichte
neben hatte er die Zeichnung geſtellt, welche die Anordnung der einzelnen Gruppen
Andächtiger im Tempel bis auf die große Mittelgruppe enthielt, die ihm immer noch
nicht gelingen wollte. Mit ſorgſam abwägenden Blicken prüfte er den gewaltigen
verhaltenen Eindruck, den die Kompoſition auf den Zuſchauer ausüben ſollte. Er
konnte mit ihm zufrieden ſein. Nun galt es ein viel Größeres: in der koloriſtiſchen
Wirkung dieſen Eindruck bis zur Erſchütterung zu vertiefen. Niemand durfte an
dieſem Bilde vorbeigehen, ohne ſich ſelber zu kaſteien. Das Gemurmel des zur An-
dacht verſammelten Volkes follte vernehmbar fein und ein Echo finden in dem un-
endlich hohen weiten Tempelbau. Langſam ſchreitet der Heiland durch die Menge,
die ehrerbietig vor ihm ausweicht, als wäre er einer der Hohenprieſter. Niemand
wagt es, ſich Jeſu von Nazareth in den Weg zu ſtellen, von dem das zauberhafte
Licht des Myſteriums ausgeht.
Jede Geſtalt, auch die nebenſächlichſte im Hintergrund, ſoll deutlich aus dem Däm-
mer des Tempels hervortreten. Mit dem feinſten Haarpinſel will er all dieſe mannig-
faltigen Figuren in ſchlichter ergreifender Stellung malen, ſchlicht wie fein Väter
glaube, ergreifend wie die Bibel ſelbſt. Nie hat er ſo viel über ein Werk nachgegrübelt,
niemals ſchien er der himmliſchen Wahrheit der Dinge ſo nahe gekommen zu ſein.
Ein Hauch vergangener Gefühlswelten ſollte hier wieder Leben gewinnen und ſich
mit der ſeinigen zu einer Tiefe des Ausdrucks verbinden, die ſein ganzes Schaffen
krönen mußte.
Lange ſtarrte er hinüber zu der Zeichnung, der die Geſtalten des Heilands und
der vor ihm hingeſunkenen Frau immer noch fehlen. Bis in jede kleinſte Einzelheit
hatte er ſich die Mittelgruppe ausgedacht: Petrus, in gebüdter Stellung des an-
dachtig Lauſchenden; dann die Ehebrecherin, demütig, ergeben in ihr Schickſal,
harrend des Wunders; und die Phariſäer und Schriftgelehrten. Wie viele Studien
hatte er gemacht, keine Mühe fic) verdrießen laſſen. Nur der Heiland wollte ſich feiner
Einbildungskraft nicht geben. Und ehe dies nicht geſchehen war, konnte er nicht mit
dem Malen beginnen. Auch hielt ihn eine unbeſtimmte Angſt davor zurück, den
Zeichenſtift an dieſe Geſtalt zu ſetzen, bevor er ſie nicht innerlich erlebt hatte.
Einſt hatte er Chriſtus malen wollen in dem Augenblick, da die Jünger ihn beim
Mahl in Emmaus erkennen. Er entſann ſich noch genau der vielen ſinnenden Stun-
den dieſer unvergeßlichen Tage, an denen er zum erſtenmal mit der Geſtalt des
Heilands ringen mußte. Plötzlich war ihm die Eingebung ſtark und überwältigend
gekommen: Der dunkle Kopf des Gekreuzigten gegen den ſtark leuchtenden Hinter-
grund, ewige Majeſtät des Auferſtandenen in der Haltung des geiſtſprühenden
Hauptes; der eine der Jünger wirft ſich vor der Erſcheinung zu Boden, dem an-
deren, der noch am Tiſche fist, ſcheint der letzte Biſſen im Halſe fteden geblieben
zu fein. In wenigen Stunden war das Bild fertig entworfen worden.
Damals war es ihm geweſen, als hätte er die Eingebung des Bildes wie eine
Erſcheinung erlebt, und lange wollte der Glaube nicht von ihm weichen, daß ihm
Sefus leibhaftig erſchienen war. —
Die Nacht ſchwebt durch das hohe getäfelte Zimmer. Eine große Stille herrſcht
im Hauſe, nur von dem Schlagen der Stunden unterbrochen. Er ſitzt immer noch
vor der Staffelei, den Kopf in die Hände geſtützt, ſinnend, grübelnd, auf etwas
ame
Martens: Der Dämon des Lichte 117
wartend, das nicht kam, das ſeit einem Jahr nicht kommen wollte. Wie oft wartet
einer ein ganzes langes Leben auf einen einzigen Augenblick! Warum ſollte er nicht
warten, bis der Wind nicht mehr im Kamine heulte, die Uhren nicht mehr ſchlugen,
bie große, große Stille der Ewigkeit hereinbrach in ſein Leben?
Traͤumt er, ijt es ein Traum, der ihn umfängt?
Per biſt du, großer blonder Mann mit dem wallenden Haupthaar, der vor mir
ſteht, die Linke auf die Bruſt gelegt, die Augen blau, tiefblau? — Nein, ſchau mich
nicht an! Ich halte den Blick nicht aus und konnte doch ſonſt jedem Menſchen in
die Augen ſehen — du bückſt dich und ſchreibſt mit der rechten Hand auf den Boden
— du büͤckſt dich? Dod nicht vor mir, der ich nicht frei von Sünde bin? Verbergen
muß ich den Kopf vor dir, meine Augen haft du mir verbrannt, mit dem Lodern
deiner Blicke verſengt. Herr, ich glaube, ich bin ganz klein und blind geworden vor
dir. Herr, Herr, laß mich den Staub küſſen, wo dein Fuß wandelt, Licht der Welt! —
1645.
Ihr Wieſen und Heideflächen, ihr verborgenen Moorgewäſſer und ver-
ſumpften Waldſtrecken zwiſchen der Amſtel und dir, dem Neuen Meer, du
breitefter Polderſee in der Tiefebene, mit deinen ſtarren Binſen und verkrüppelten
Weiden, warum wölbt ſich der zerriſſene Wolkenhimmel ernſt und bang über eure
herbſtliche Schönheit? Warum ſtößt der Sturm ſeine Fittiche Magend über die
dergehende Pracht, den hinſchmelzenden Liebreiz eurer bleichenden Wangen?
Brich hervor, Sonne, aus dem klaffenden Spalt drohend geballten Gewölkes!
um einen einzigen breiten Lichtſchein bettelt die ſterbende Natur. Sie will nicht
dahingehen, ohne noch einmal ſich geſchmuͤckt zu haben gleich einer älteren ſchönen
Frau, die einmal, nur einmal ihren Liebhaber betören will, ſie in die Arme zu
ſchließzen, bevor das bezaubernde Licht ihrer Augen für immer erliſcht, bevor das
rauhe harte Alter fie am Gürtel zerrt, um fie in feine dunkle, wintertrübe Be⸗
hauſung zu ſchleppen, wo keine ſinnbetörenden Geigen zum Tanz aufſpielen.
Du herrliches Stuck Erde, ſiehe, dein Geliebter kommt den Feldweg daher, der
an der Amſtel hinter dem Gute Koſtverloren hinüberbiegt zu einer verhaltenen
verſchwiegenen Traumſchönheit. Sonnenaugen hat dein Geliebter, was braucht er
der Sonne, um deren unirdiſchen Wehmutzauber zu erfaſſen. Seinen großen Maler;
hut wirft er nachläſſig ins Gras und beginnt fein Zeichengerät hervorzuholen.
Seine Blicke fangen zu lodern an; wie ein König [haut er auf dich herab, als wäreft
du ihm untertan.
Fühlſt du, wie dieſer kleine breitſchultrige Mann Gewalt über dich hat? Du
öffneft ihm demütig deine ſehnſuüͤchtigen Arme, öffneſt all deine geheimen Reize
ſeinen farbentrunkenen Augen, bis er dich bezwungen hat, bis er dich zu ſeiner
Geliebten gemacht, die er nicht mehr vergeſſen kann.
Oer Sturm fährt über euch hinweg, und ein Zittern der Erregung geht über das
weite einſame Land, das im fahlen Licht der Abendſonne ſein letztes Laub aus
müden Händen auf die Erde ſtreut und in den weiten See hinauswirbelt, auf dem
ein verlaſſenes Segelboot verträumt vor Anker liegt.
118 Martens: Der Dämon des Lidts
1646.
1.
— Nein, feit ich mit der Frau und der Schar kleiner Rotznaſen von Antwerpen
fort bin, um mich hier anzuſiedeln, wollen mir Holland und ſeine Leute nicht mehr
gefallen. Bin ich denn zu lange in der Fremde geweſen, wo es ſich leichter lebt,
um mit euch fchwerblütigen Geſellen am Ende nicht mehr fertig werden zu tin-
nen? Es will mir fo bedünken. Auch zwiſchen uns iſt etwas gekommen. —
— Jan, du träumſt. Alles Einbildung von dir. —
— Sch weiß nicht, Rem; ein Geſpenſt läuft jetzt immer hinter dir her mit langen
Schritten durch die Räume deines koſtbaren Hauſes, aber nicht mehr dein alter
San Lievens. Da ſtimmt irgend etwas nicht. —
— Lievens, ſtoß dich nicht an meiner veränderten Art. —
— Redſelig warſt du ja nie. Und von Draufgängertum keine Unze. Niemals
hatteſt du einen unglüdfeligeren Einfall, als dich mit Saskia auf dem Schoße zu
malen, das Sektglas in der Hand. Es war ſicher Leichenbitterwaſſer in dem Kelch.
In Wahrheit haft du in deiner Brautzeit ſchmachtend Hand in Hand mit ihr ge-
ſeſſen. Zum Küſſen hat es wohl gerade noch gelangt? —
— Jan, nicht alle ſind ſolche Mädchenfreſſer wie du. —
— Ad nein, aber auch alle nicht ſolche ſchwerbluütigen Grübler, die Himmel und
Hölle durchforſcht haben. Weißt du, ich habe immer einen ungeheuren Refpelt vor
dir gehabt, weil du uns alle zuſammen in die Taſche ſteckteſt und noch einige Kerle
wie Rubens und Jordaens dazu. —
— Wie du wieder übertreibſt. Mit knapper Not halte ich mich jetzt über Waſſer.
Meine Bilder werden nicht mehr begriffen. Die Schützengilde noch am eheſten.
Ein Dezennium lang war ich hier der Modeporträtiſt. Andere find in meine Fuß-
tapfen getreten; meine erſten Schüler Eekhout, Flink, Dou haben mehr Anklang
als ihr Meifter. Sie pflegen noch meine alte Art. Die wird immer noch mit klingen
der Münze bezahlt. —
— Rem, dir muß Saskias Tod verflucht nahe gegangen fein. Wenn ich all dieſe
ganz erſtaunlich lebendigen Schilderungen aus dem Leben des Heilands betrachte,
dann kommt mir das Heulen an über meine lebenstolle Art, die der deinigen gerade
entgegengeſetzt iſt. Es könnte bei Gott mir eines Tages einfallen, fromm zu wer-
den und Aufnahme in ein Trappiſtenkloſter zu erbetteln, wo kein Wörtlein, nicht
einmal ein Fluch die Lippen paſſieren darf. Oder es könnte mir einfallen, dir vor
lauter Ehrfurcht den Saum deines Kleides zu küſſen. —
— Jan, nun genug von dieſem Wortgetaumel! —
— Laß mich, Rem! Es muß heraus. Sonſt müßt' ich meinem Herzen auf eine
andere Weiſe Luft machen, die ſich nicht ſchön ausnehmen würde vor dieſen Bil-
dern, vor denen man nur flüſtern dürfte. — Ach, dies Kindchen hier in der Wiege.
And dort dieſe einfältig gläubigen Bauerngeſichter. Und dieſer Mutterblick der Maria.
— Rem, Rem, du biſt unheimlich gewachſen, in die Tiefe gewachſen. Menſch, mich
packt ein Verlangen, dir mit Poſaunen in die Ohren zu blaſen, was ich fühle. —
— Das laß lieber fein, Jan! Ou haft dich doch kein Lot verändert. Immer noch
die alte wilde Begeiſterung. Trinkſt du noch immer ſo viel? —
Martens: Der Dämon des Lichte 119
— Trinken? Nie, Rem, niemals! Höchſtens am Sonntag und Feiertag ein
Gläschen, wenn Frau und Kinder in der Kirche find. —
— Aus der du dir wohl nicht viel machſt, alter Lüderjahn. Und die Weiber,
der ewige Verdruß deiner Kameraden? —
— Zunge, da triffſt du eine empfindliche Stelle in meinem Lotterherzen; eine
nie heilende Wunde, eine Art Geſchwür. —
— Laß gut ſein, Jan! Auf dieſem Gebiete haben wir uns nie verſtanden! —
2.
— Lievens, was ich unter Malen verſtehe? Einen göttlichen oder irdiſchen
Traum auf ein armſeliges Stück Leinwand hinzaubern. Immer müßte es etwas
Traumhaftes ſein, etwas Phantaſiebeſchwingtes, niemals ein Abklatſch der Natur.
Und je lebendiger die Geſtalten der Viſion aus dem beängjtigend rohen Leben
genommen ſind, aus dem Leben von Feld und Straße, aus den heimeligen und
mbeimliden Behauſungen der Menſchen, mit um fo tieferer Wirkung ſteht das
Bild vor uns und rührt an die verſtaubten Saiten in unſerem Herzen, die wir
längft vergeſſen hatten. Und fie klingen wieder wie damals in den beſſeren Tagen
des Frohſinns.
Oft braucht es nicht viel, um dies Traumhafte in eine lebenswahre Darftellung
hineinzutragen. Ein ſeltſam unirdiſch erſcheinender Lichtſchimmer, ein verzücktes
Geſicht, eine zuckende Flamme in einem alten harten, faft erloſchenen Auge. Ein
traumhaft zarter Wolkenſchatten in einer weiten Sommerlandſchaft, ein krauſes
Windſpiel im durchſichtigen Dunſtſchleier. Oft braucht es nur eines tieferen Schat-
tens, eines helleren Lichts, als die Natur fie zeigt, um ein Bild zu einem Kunſt-
werk in meinem Auge zu erhöhen.
Schönheit? Die häßlichſte Frau kann Schönheit ausſtrahlen. Bewegung? Ein
heftig ſchlagendes Herz in einem leidenſchaftlich erregten oder durch eiſernen Willen
beherrſchten Körper malen zu können.
Was macht den Maler? Unfehlbare Beobachtungsgabe, ein vortreffliches Ge-
daͤchtnis, Farbenſinn, Mut, ungeheuer großer Wagemut, und der ewige Zug nach
den Sternen! —
— Kannſt du mir, Rembrandt, erklären, warum ich ſelbſt die Dinge ganz anders
auffaſſe, wie du es tuſt? —
— Läßt ſich überhaupt das Weſen des Künſtlers erklären? Keine doctores kön-
nen es. Alle Kunſtlehre iſt ein fruchtloſes Beginnen. So wenig wie Gott zu erklären
it. Und wir find doch alle ein Stück von Gott. —
3. |
Als Lievens gegangen war, öffnete Rembrandt eines der oberen Fenſter und
mußte lange in den grauen Himmel hinaufbliden. Das ernſte Kunſtgeſpräch hatte
ihn warm gemacht und ihn mit einer tiefen Sehnſucht nach den Tagen erfüllt, da
ſie noch jung waren und nächtelang über die Kunſt und ihre Zwecke ſtritten. Es
gab oft bitterböſe Worte zwiſchen ihnen. So leidenſchaftlich faßten ſie alles in ihrer
Jugend an.
120 Martens: Der Dämon des Lichte
Und als er fo in den Himmel hinaufblidte, der voll Sturm und Regen war, tam
ihm der ſtürmiſche Tag in den Sinn, da fie ſich beide zu Fuß von Leiden nad
Amſterdam aufgemacht hatten. Es war im Herbſt Einunddreißig. Lievens wollte
mit dem Schiff nach London an den Hof Karls des Erſten, und er in Amſterdam
ſich die erſten Lorbeeren feines jungen Ruhmes pflüden.
Der Himmel ſtrotzte damals förmlich von Windwolken. In langen Reihen ſegelten
fie oftwärts, lange Streifen von runden, dicht aneinandergeſchloſſenen, blendend
weißen Wolken. Dazwiſchen blaſſes leuchtendes Spätherbſtblau.
Wie genau er ſich deſſen noch entſann! Und wie hatten fie als blutjunge An-
fänger kämpfen müſſen, wie hatten fie es ſauer gehabt! Zugeflogen kam ihnen
nichts. Harte, unbarmherzig ſchwere Arbeit Tag und Nacht. Oft ſahen fie zuſam-
men die Sonne aufgehen, wenn ſie mit ihren Beratungen nicht zu Ende kamen,
ohne weiter darauf zu achten. Und wann kamen ſie je damit zu Ende? |
Auf den Wäldern und Wieſen lag wehmütige Todesſtimmung. Das kümmerte
ie nicht. In den Kanälen klatſchten die Wellen an die Ufer, wenn der Sturm ein-
mal gewaltig ausgeholt hatte. Schwere brabantiſche Gäule zogen die immer zu
ſchwer beladenen Kähne nach Often zu, von Haarlem nach Amſterdam; fie feuchten
zum Gotterbarmen, doch die harte Peitſche der Knechte kannte keine Gnade. Die
Schiffstaue ddgten und verbreiteten einen ſcharfen Teergeruch. Es war harte Ar-
beit gegen den ſeitlichen Sturm. Das alles konnten ſie von der Landſtraße be-
obachten, die eine Seitweile längs des Leidſchen Kanals bis an den J führte.
Sie war von dem Regen der letzten Tage aufgeweicht und voll tiefer Radfurchen,
die ſich an vielen Stellen zu Pfützen verbreitert hatten. Lievens ſcherte das nicht;
feine langen Storchbeine wateten mit ganz beſonderem Vergnügen durch den
tiefiten Oreck. Immer vornhinaus, ein freches Bänkelſängerlied im Munde und
ein friſches Männerherz im langen Leib. Kamen Dorfmädchen daher auf ihren
niedrigen, von Hunden gezogenen Karren, ſo kam er mit ihnen ins Geſpräch, kniff
fie in die prallen roten Arme und flüfterte ihnen verliebte Dinge in die Ohren.
Sie tanzten um ihn herum, ſtemmten die bloßen Arme übermütig in die Seiten
und ſtoben auflachend auseinander, wenn er eine von ihnen zu haſchen verſuchte.
Und kam dann eine Bs im Galopp daher, flogen die Röcke der drallen Kinder
in die Luft und Lievens rief:
— Raſch, ihr Jungfern, die Röcke fein zuͤchtiglich feſtgehalten. Welche leuchtenden
Welten enthüllt der Sturm meinen ſchauluͤſternen Augen, wenn ihr fie unachtſam
flattern läßt:
Monde in kühlen Nächten
gehn funkelnd durch die Welt! —
So ſang er unbekümmert und ſein junges, noch bartloſes Malergeſicht glänzte vor
Abermut, während er, Rembrandt, hinter ihm her keuchte, er, fein Schatten, fein
kleiner, kurzbeiniger Dackelſchatten, wie Jan ihn nannte. Es waren noch herrliche
Tage! |
Fortſetzung folgt)
121
Vom Erleben des Todes
Dem Andenken meiner gefallenen Freunde Herbert Tlich und Johannes Lorſchelder
Von Egon⸗Erich Albrecht
eulich kramte ich unter allerlei alten Papieren, um aufzuräumen und alles
N irgendwie Entbehrliche und Unwefentlide endlich fortzuwerfen. Da hielt ich
plötzlich ein halbzerfetztes Notizbuch in der Hand, die ſchwarzen Wachstuchdeckel faſt
losgelöſt, die Ränder gelbſchmutzig angelaufen, lehmig: ein Feldnotizbuch aus dem
Jahre 1917. Voll Neugier, mit der ſich eine gewiſſe Wehmut paart, blättere ich darin,
finde Adreſſen längſt gefallener, längſt verſchollener Freunde oder ſolcher, die
das zu ſein vorgaben, dann einen Liebesbrief, der ſeine Berechtigung lange ſchon
verlor, ein paar flüchtig aufgezeichnete Feldgedichte, nicht beſſer und nicht ſchlechter,
als fie alle damals waren... plötzlich fällt mein Blick auf ein paar beſonders liebe-
voll mit Bleiſtift geſchriebene, aber inzwiſchen ſchon halb verwiſchte Worte und ich
lefe:
„Nur der, dem einft der Tod zum Weggeſell und Bruder ward,
erfaßt dich ganz, du tiefes, ſüßes Glück der Gegenwart!
Houthulſter Wald, Okt. 17.“
And dabei liegen einige verblichene trockene Grashälmchen. —
Und alles ſteht wieder deutlich, als wäre es erſt geſtern geweſen, vor meinen
Augen: Oktober 1917 in Flandern, Draibank, Melaane-Wirtshaus, Houthulſter
Wald .. eine Stelle, von der halbverkohlte Baumſchäfte ausſagen, daß fie einmal
ein Waldrand war... Wir zu dritt in einem lehmigen Erdloch, unter der Be-
zeichnung „Trichter“ auch der Heimat allgemein bekannt, und um uns das Gebrüll
der Schlacht, die raſende, zermalmende Wut engliſcher Granaten. Der Morgen
graute ſchon ſacht herauf, die Nacht war empfindlich kalt geweſen, wir hatten
uns aneinandergerollt, um uns gegenſeitig etwas zu wärmen. Wir drei waren
ſchon feit langen Stunden eine Welt für uns; ob jemand, irgend ein lebendes Weſen
noch vor uns, neben oder hinter uns war, wußten wir nicht, konnten es aber kaum
annehmen, denn nach menſchlicher Berechnung mußte der Geſchoßregen der letzten
dierundgwanzig Stunden edes Krümchen Erde im ganzen Abſchnitt mindeſtens
dreimal um und um gedreht haben. So fühlten wir uns als die Letzten, denn daß es
ah uns treffen würde, war uns völlig ſelbſtverſtändlich, und von dem Augen-
blicke an, da uns dieſe Erkenntnis gekommen war, war die Angſt, das Grauſen und
Entſetzen, das uns in den erſten Stunden erfüllt hatte, da wir in dieſe toſende
Hölle kamen, einer großen inneren Ruhe, ja geradezu einer gewiſſen Heiterkeit
des Herzens gewichen, die uns anfangs ſelbſt ſeltſam, aber doch wiederum köſtlich er-
ſchien: wir waren ja ſchon fo gut wie tot, wenn uns auch noch eine vorläufig unbe-
ſtimmte Friſt zur Beſinnung und Sammlung gegeben war. In unſeren Augen
ſtand nur die leiſe Frage: bis wann noch, bis neun Uhr, oder ſchon um acht? —
Selaſſen ſahen wir nach der Uhr und ſtellten dieſe mögliche Begrenzung des uns
vom Tode gütig gewährten Aufſchubs feſt. Überhaupt: die Welt und alles, was
uns mit ihr verband, lag weit, unendlich weit, weiter als die Sonne, die wir auch
nicht ſahen, von uns entfernt, irgendwo dahinten hinter der donnernden Wand,
122 Aldrecht: Dom Erieden des Todes
unerreichbar und mertwürdigerweife auch gar nicht ſonderlich erſehnt. Gewiß, wir
dachten auch an einzelne Menſchen in der Heimat, die uns lieb geweſen waren,
aber mit der lächelnd überlegenen Ruhe des Herzens, mit der vielleicht ein Sechzig;
jähriger ſeiner Primanerliebe gedenkt; es ſchmerzte uns nur ein wenig, dieſen
Lieben durch das, was man „Heldentod“ nannte, weh tun, vielleicht auf uns ge
ſetzte Hoffnungen und Erwartungen enttäuſchen zu mülffen. |
Wir ſahen noch einmal Brieftaſche, Notizbuch und unſer ſonſtiges totes Inventar
durch, daß alles auch klar und in Ordnung war, zum letzten Appell bereit; Herbert,
der von jeher viel auf ſich hielt, nahm ſogar ſeine Nagelfeile hervor und machte
gelaſſen Maniküre, und das war nicht etwa die Außerung eines krampfhaften
Galgenhumors, ſondern entſprach nur ganz dem Weſen dieſes peinlich ſauberen
Menſchen. Ich nahm meine Feldflaſche, goß den Reſt des darin noch vorhandenen
Schnapſes in meinen Trinkbecher, trank einen Schluck, ſo daß es mir wärmend bis
in die von Näſſe und Nachtkälte erſtarrten Füße fuhr und reichte Hannes den noch
halbvollen Becher. Der richtete ſich etwas auf, hob den Becher in die Höhe, als
freue er ſich des hellen, glitzernden Widerſcheins, den der blanke Aluminiumbecher
unter dem Kuß des erſten, eben durchbrechenden Sonnenſtrahls gab, dann ſank
er zurüd, ohne einen Laut; ein kleiner, ſcharfer Granatſplitter hatte ihm Bruſt
und Herz durchſchlagen. Hannes war ſofort tot; doch auf ſeinem Geſicht lag ein
kindhaft frohes, leuchtendes Lächeln ſtill zufriedenen Glücks: er hatte ja noch die
Sonne geſehen!
Sorgſam, liebevoll lehnten wir den ſeines Reichtums beraubten Körper gegen
die dem Feinde zugekehrte Trichterwand und waren nicht beſtürzt oder traurig:
Hannes war uns ja nur vorausgegangen, wie immer, wenn wir drei auf Patrouille
gingen. Es war noch nicht acht Ahr. Und um neun Uhr? — Wer wird der letzte fein?
Und es wollte wohl jeder von uns beiden gern der vorletzte und nächſte ſein.
Wie ſo ganz anders war dieſe Begegnung mit dem Tod, als noch am Abend
zuvor! — Wir waren erſt zu viert im Trichter geweſen, aber am Abend war dann
Karl am Trichterrand emporgekrochen, um zu ſehen, was die „anderen“ machten.
Da fegte es pfeifend, aufjauchzend wie im Triumph heran, Karl blieb liegen, indes
wir uns mit dem die Gefahr witternden Inſtinkt des alten Frontſoldaten geduckt in
den feuchten, klebrigen Schlamm preßten. Schlag auf Schlag fuhr dumpf dröhnend,
fauchend, krachend in unſere nächſte Umgebung, mit feinem Lärm den Jammer
mitleidig verſchlingend. Grauſen, Entſetzen, Verzweiflung, irre Angſt hockten uns
im Nacken und drückten uns immer tiefer in den naſſen Dreck, fraßen an unſeren
Herzen, zerriſſen unſer Hirn. Als es etwas ruhiger um uns wurde und wir uns
wieder ſcheu, verſtört aufrichteten, war Karl und auch das, was einmal ſeine Seele
getragen hatte, fort, verſchwunden, ohne die geringſte Spur hinterlaſſen zu haben. —
Auch jetzt brüllte um uns die Schlacht, fuhr Schlag auf Schlag in die aufftöhnende
Erde, — und doch waren wir ruhig, gelaſſen, ohne die irrſinnige Angſt vom Tage
zuvor: wir waren andere geworden, wir waren frei, denn wir hatten die
Angſt vor dem Tode überwunden. Der Tod hatte uns ja ſchon die Hand ge-
reicht und zögerte nur noch einen Augenblick, uns mit ſich zu führen.
And wir zwei letzten unterhielten uns leis, wie ſchön doch das Leben geweſen
om
Areht: Dom Erleben des Todes 123
fei, wie herrlich, wie voll Gnade und Licht, und wir empfanden beide, daß wir diefe
beglüdende Erkenntnis nur dem Erleben des Todes in den letzten Stunden ver-
dankten. Wir waren aber nicht traurig und verzweifelt, weil nun alles gleich „zu
Ende“ fein würde, nein, denn wird etwas Schönes dadurch ſchöner, daß es länger
währt? Mit ſo unendlicher Dankbarkeit gegen die Güte Gottes wie noch nie zuvor
nahmen wir das Geſchenk der Sonne entgegen, die ſieghaft Qualm und Nebel
teilend uns noch einmal mit mütterlich linden Händen ſtreichelte, ſahen wir ein
kleines Büſchel Gras, das mit dem Teil einer Baumwurzel bei uns gelandet war,
und empfanden zum erſtenmal fo ſtark und bewußt die ganze ſchlichte, zarte Schön-
hei. der Hälmchen, die wir ehrfürchtig faft durch unſere Finger gleiten ließen.
Einige nahm ich, legte fie in mein Notizbuch und ſchrieb aus der Ergriffenheit der
Stunde heraus, ſozuſagen als Vermächtnis für die, welche meinen Körper vielleicht
finden würden, die zwei Zeilen hin, die ich heute wiederfand.
& wurde Abend, und der Tod zögerte noch immer. Da kam ein Gegenſtoß unſerer
Auppen, riß uns empor und vorwärts. Der übernächſte Tag ſah uns ſchon wieder
in Shourout. Als vom Tod Beurlaubte — fo fühlten wir uns — genoſſen wir felig
Luft, Wind, blauen Himmel, wandernde Wolken in mancherlei wunderlicher Geſtalt,
Regen und Licht, Halm, Strauch und Vogelſchrei wie unſagbar köſtliche Geſchenke.
Vir waren ja vom Tode geſegnet und hatten ſo erſt des Lebens ganze Tiefe und
Schönheit erkannt. —
Herbert fiel einige Wochen ſpäter bei Bourlon, ich ſelbſt kam nach mancherlei
Faͤhrniſſen wieder in die Heimat zurück. Oft noch hat mir der Tod die Hand gereicht
bis zum November 1918, aber es war keine eiſig kalte, dürre Knochenhand ſondern
eine warme, feſte Freundeshand.
*
*
Warum ich das Erlebnis dieſer Stunden im flandriſchen Granattrichter hier er-
sable? Gewiß nicht, um die Legion der Schilderungen „wie es vorne war“ um eine,
dazu nicht einmal beſonders gute zu vermehren, denn andere, vor allem die, die
nicht dabei waren, haben das vor mir ſchon weit beſſer und trefflicher getan. Nein,
ich habe das alles erzählt, weil es für mich zum entſcheidenden Erlebnis meines
Lebens überhaupt geworden iſt. Und auch das wäre noch hidft belanglos, wenn
dies Erlebnis rein perſönlich bedingt und begrenzt wäre, aber ich meine, fühle, ja
weiß, daß es allgemein menſchlicher Natur iſt. Nur wer den heiligen Segen des
Todes erkannt hat, wird die Schönheit des Lebens in ihrer ganzen Tiefe und ihrem
koſtlichen Reichtum empfinden und erfaffen können.
So viele, um nicht zu ſagen die meiſten Menſchen fürchten ſich vor dem Tode,
haſſen ihn gar. Sft es aber nicht geradezu lächerlich und widerſinnig, das zu fürchten
und zu haſſen, was dem Leben erſt ſeinen Wert gibt? Wäre das Leben nicht der
fürchterlichſte Fluch, eine unerträglich grauſame Plage, wenn es ewig dauern
würde? Gerade dadurch, daß es weiſe nach dem Willen des Höchſten begrenzt iſt,
erhält es doch erſt feinen Wert. Auch hier heißt es: bereit fein iſt alles, denn nur
der, wer ſeine Rechnung ſtets klar und in Ordnung hat, ſo daß er jederzeit von dieſer
Bühne abzutreten bereit iſt, wird das Wunder des Lebens, das ihm jeder Tag in
der unermeßlichen Fülle ſeiner Offenbarungen verſchwenderiſch beut, ganz erleben,
124 Schummelpfeng: Herbftaberd
feine Schönheit jauchzend erfaſſen und vor ihm in Demut und Ergriffenheit ſich
neigen, nur er wird vor dem großen ewigen Geiſt, der hinter und in allem Leben
ſteht, anbetend und ehrfürchtig ſich beugen. Jede kleinſte Blume wird ihm zur
Offenbarung, jedes Vogellied zum Wunder, jedes Kinderlachen zur Beglüdung,
jeder Sonnenſtrahl zum gottſeligen Geſchenk werden, und er wird das Leben ſo
innig, fo mit allen Faſern und Fibern feines Seins bis in feine letzten Tiefen er-
leben, wie es ſonſt einfach nicht möglich iſt. Und er wird auch feine Pflicht tun auf
dem Platz, an den ihn das Leben geſtellt hat, denn er iſt ja bereit, jederzeit ſeinen
Platz freizugeben; wer wird aber feinem Nachfolger ein unaufgeräumtes und ım-
ordentliches Tagwerk hinterlaſſen wollen?!
Und warum ſollten wir uns auch vor dem Tode fürchten, uns vor ihm bangen?
Wegen der Ungewißheit, die ihn umgibt? Eins iſt doch allen gewiß, ſowohl denen,
welche an die Unſterblichkeit glauben, wie ſogar den anderen: der Tod nA immer
der Frieden, fet es nun der Frieden des heiter ſtrahlenden, unendlichen Lichtes,
ſei es der Frieden des ſanften, begütigenden, mitleidigen Ountels, und gibt es etwas
Köſtlicheres, etwas Vollkommeneres als den ewigen Frieden?!
Darum lernt den Tod als Freund lieben, und ihr werdet das Leben als Glück
gewinnen!
Herbſtabend
Von K. A. Schimmelpfeng
Wie eine klare blau und weiße Glocke
Steht jetzt der Himmel über meinem Scheitel
Von zarten ro oie Wolken leicht geftreift,
Die aus der 950 e noch den Gruß der Abendſonne ſenden.
Durch die gewölbten Bogen ſchöner Brücken
Seh ich den Fiſcherſtaden einer alten
Und eingeſchlafnen Stadt
Die an den Pfählen leiſe ſchaukeln,
Während der Abendwind in zarten Netzen ſpielt.
Schneeweiße Gänſe ziehen we. übers Waſſer
Zu ihren heimatlichen Ställen
Die Köpfe Task geſtellt
Und dumpf erſchauernd
Unter dem lauten himmelfernen Schrei
Der wilden Schweſtern
Die in roten Wolkenhöhen ſüdwärts wandern.
Steil und voll Würde ſtechen dunkle Pappeln
Die hohen ſchlanken Spitzen
In den kalten Ton des Himmels
Als immer treue Wächter.
Und ihre Blätter zittern unaufhörlich
Voll u und froher Luft am Wachen
Aber die Ruh’ des Stromes,
An dem ſie ſtehen
Und aus dem ſie wachſen.
125
Der Freund
Von Gabriele Hartenftein
s war Herbſt.
Über die Erde ſtrich der Abendwind und hob Blatt um Blatt von den Baum-
kronen, ſchon verfärbt vom Sterben. Die Axt des Holzfällers dröhnte durch den
Schlag. Ohne Glut verfiel die Sonne.
Der Forfter ſaß mit feinem Nachbarn bei einer Flaſche Weines in der getäfelten
Stube. Sie hatten vom Tod geſprochen, die beiden, eine volle Stunde lang.
Ein Ritt durch den ſterbenden Wald hatte die Gedanken gebracht, und die beiden
Männer, voll noch von Kraft und Lebenswillen, hielten heut abend mit einemmal
den Atem an, als ſei etwas Geſpenſtiſches über ihren Weg geflattert.
»Ich hätte gegen den Tod nichts einzuwenden,“ — fagte der eine — „wenn ich
ihn beſtellen könnte, wann es mir eben gefiele, zu ſterben.“
Ich haſſe ihn in jeder Form und in jedem Augenblick“ — ſagte der andere leiden-
ſchaftlich. „Lieber kein Leben, als ein Leben, das mit dem Tode endet.“
„Wir haben zum letztenmal vom Tod geſprochen. Wir wollen leben ohne den
Und ſie erhoben die Gläſer und tranken auf das Leben.
Aber das Blatterwert der Buchen vor den Fenſtern flog ein Schauer.
Der Nachbar brach auf, der Förſter geleitete ihn über den Hof und ſchloß das
ſchwere eichene Tor hinter ihm.
Er war nicht lange in der Stube, als jemand an die Tür pochte. Wer konnte das
ſein, wie kam da noch jemand herein?
Der Förſter trat hinaus.
Da ftand ein Mann im Flur, in dunklem Mantel, groß und von ehrfurdtge-
bietender Haltung. Wo ſein Auge ſich verhing, blieb es lange haften; der Glanz
des Friedens lag in feinen Zügen.
„Was wünſchen Sie?“ — war die Frage des Förſters.
„Ich möchte hier ein wenig raften,“ — ſagte der fremde Mann.
„Willkommen!“ — erwiderte der Förſter. „Man plaudert gern, die Abende ſind
lang. Mein Nachbar iſt hier geweſen. Wir haben ſoeben vom Tode geſprochen.“
Der Unbekannte trat einen Schritt vor.
„Ich bin der Tod“ — ſagte er ſchlicht.
Voll Grauen wich der Forſtmann zurück, und feine Knie begannen zu wanten.
„Sei ohne Bangen,“ — ſprach der abendliche Gaſt — „noch iſt deine Stunde nicht
reif.“ — Und er ließ ſich am Fenſterkreuz nieder und neigte das Haupt, in grenzen
loſer Milde.
Der Forſtmann ſtand noch zagend im Hintergrund; da aber allgemach ein Gefühl
des Vertrauens durch fein Inneres zu ſtrömen begann, trat er an den ſpäten Wan-
dersmann heran und blickte ihm tiefer in die Züge.
„Man liebt dich nicht. Warum ſuchſt du uns auf?“
„Tauſche dich nicht,“ — war die Antwort des Fremden — „man fürchtet und
liebt am Ende nichts ſo ſehr wie den Tod!“ — Und ſein Auge, voll Schwere und
Seheimnis, verhing ſich in der Aſche des Himmels.
126 Dartenftein: Der Freund
Der Forſtmann, jo nahe an das Unbegreifliche herangeriidt, wollte es enthüllen,
um jeden Preis.
„Offenbare mir das Geheimnis, Tod, damit ich nicht ſchaudere, wenn du wieder-
kehrſt. Lächelnd möchte ich die Hand dir reichen.“
Langſam wandte der Tod das Haupt ihm zu.
„Du lächelſt ſchon“ — war ſeine Antwort.
Eine Helle floß durch den dunkelnden Raum jetzt, und man wußte nicht, kam
der Schein vom Monde her, der ſachte ſchon die Buchen ſtreifte, kam er aus dem
Antlitz des königlichen Gaſtes.
Jetzt war der Forſtmann wie ein Kind.
„Du biſt gut. Man muß dich nur geſehen haben. Dein Name ift’s, vor dem die
Herzen ſchaudern.“
„Streiche meinen Namen. Nenne mich Wandlung.“
„Wohin die Wandlung? Sterbe ich nicht?“
„Du gehſt weiter.“
„So gibt es keinen Tod?“
„Es gibt nur Leben. Tod iſt die große, göttliche Verjüngung.“
„Was iſt das Leben?“
„Ein Übergang.“
Des Förſters Augen leuchteten; er hing den Worten nach, brach in alle ihre Tiefen
ein. Jetzt aber glitt ein Schatten über ſeine Züge und zweifelnd hob er das Haupt.
„Warum ſchmerzt der Tod von allen Schmerzen am tiefſten?“
„Entwicklung ſchmerzt; Tod iſt höchſte Entwicklung; höchſte Entwicklung iſt
höchſter Schmerz.“
Der Förſter lächelte wieder.
„Laß mich erfüllen, was ich zu erfüllen habe, dann begrüße ich dein Kommen.“
„Ou haſt nichts zu erfüllen, wenn du dich ſelbſt nicht erfüllſt. Man verſäumt
nichts, wenn man ſich ſelbſt nicht verfäumt.“
„Wir Toren!“ — rief jetzt der Forſtmann aus. „Die Menſchen haben fic die
Friedhöfe gebaut!“
„Ich baue die ewigen Hallen des Lichtes,“ — ſprach ſinnend der Tod — „ich bin
die Pforte zum Leben.“
Damit erhob ſich der majeſtätiſche Pilger.
Seine Stimme, ſanft und tragend, hatte den Raum durchdrungen. Es war, als
begännen die Mauern leiſe zu klingen und als huben, fern in der Abendtiefe, die
Glocken eines Domes zu tönen an.
„Verweile!“ — bat der Förſter — „Laß mich vergehen an deinen Worten!“
Der Tod hob den Arm und machte eine Bewegung ſanfter Entſcheidung. Man
fab ihm an, daß er mehr wußte, als er ſagen mochte. Fest ſchlug er die Falten feines
Mantels um die königliche Geſtalt und wandte ſich zum Heimgang.
„Tod,“ — rief der Förſter dem Scheidenden nach — „warum entſchwindeſt du
mir? Erhabener Freund!“ |
Und wie ein Kind, das die Führung der Mutter ſucht, taftete er nach der Hand
des Mächtigen und tauchte in den Schatten, den ſein weiter Pilgermantel warf.
Wiffer: Die Eiche 127
Mit einer erhabenen Geſte des Mitleids legte der Tod den Arm um die Schultern
des Forſtmannes, und fo, wie er über ihn ſich neigte und tief und tiefer in feine
Augen jah, erkannte er nur mehr eine einzige Sehnſucht darin.
Der Raum verdämmerte. Es ſanken die Wände, als ob eine ſanfte Hand ſie
teilte.
Tod und Forſtmann wandelten den dämmernden Gründen zu, und wo die beiden
den Fuß hinſetzten, fiel ein Schimmer auf die Erde hin.
Draußen, auf dunkelſchwerem Felde ſtand, wie mit menſchlicher Haltung, ein
Apfelbaum; verſchüttet lag das Laub zu feinen Füßen, und die fruchtbeladenen
Zweige neigten ſich tief zur Erde, wie in grenzenloſer Sehnſucht nach ihr.
der Tod blieb ſtehen und hob den Arm; ſeine Hand ſtreifte da und dort die Aſte:
mit dumpfem Anſchlag fielen die herbſtſchweren Apfel der Erde in den Schoß.
die beiden ſchritten weiter und ſahen ſich an, in lächelndem Verſtehen.
Die Eiche
Von Ernſt Wiſſer
Herr, hörſt du mich?
a. Die 3 m. auf dem Hügel,
Bahr OP 10 doch doch also dir entgegen!
Mit der Gewalt ihrer Krone faugt fie an Deinem Lichte
Wie der Löwin Brut an ihrer Mutter Liebesbrüſten.
üppig und voll hat fie ſich geſogen,
Zum runden Walde hat ſie ſich dene u.
Darin die Geſtirne wandeln des Na
Aber am Tage wühlen darin der 1
Der Winde Finger.
— Aber es kommt November,
Und Stürme fallen in ihre Krone.
Wie wilde Kriegshorden fallen ſie ein,
Schwenken hin, reißen wieder —
Ihres Haſſes Wut ſtrebt und heult,
Herauszureißen, hinzuſchmettern —
Daß ich dann meine ungen tief geſenkt habe, o Herr,
In Dein Geheimnis!
Daß ich ſie wohl nährte,
Sie ausſandte in Länge und Breite!
Daß ich Dir tauſendfach hin und wieder verflochten bin,
Unausreißbar in Dir gegründet!
Daß ich mächtig rauſchen 2. und ftandbalten
Und herrſchen und nicht wanken —
Und weithin rauſchen von Deiner Größe!
128
Sottvaters Gericht
Schluß des „Balladion“ von Friedrich dem Großen
Übertragen von Eberhard König
Oieſer Schluß von Friedrichs des Großen tomlfdhem Heldenepos „Le Palladion“ iſt — wohl wegen des tey-
riſchen Inhalts — in der großen Hobbingfchen Ausgabe weggelaſſen worden. Uns ſcheint aber, wir find heute über
Friedrichs Eigenart genugend unterrichtet, um biefe Dinge hiſtoriſch zu werten. Eberharb Königs mufterhafte Der
deutſchung verdient ſchon als ſolche Beachtung. D. T.
. . . Geſchlagen war die große Schlacht.
Nun ſammelt ſich von fern und nah
Mählich der Preußen Heeresmacht.
Viktoria! Viktoria!
Hei, da erging
Hoch und gering
In Jubel ſich und Siegsgeſchrei,
Ein Mordskrakeel war's und Juchhei,
Und in das Toben der ſiegfrohen Menge
Miſchten ſich helle Fanfarenklänge.
Der Tod, der Sohn der Ewigkeit,
Verſammelte von den Kriegern allen,
Die mit Ehren auf dieſer Walſtatt gefallen,
Die ledigen Seelen fahrtbereit.
Himmelempor ſeine Reiſe ging.
Doch unterwegs — da wuchs und wuchs
Die Schar und Länge des Totenzugs
Vom endloſen Zugang, den er empfing
Aus aller Welt, bei jedem Schritt:
Wir warten ſchon! Nimm uns mit, nimm uns mit!
Welch Durcheinander von allen Ständen:
Herrn und Geſinde, Soldaten und Prieſter,
Weiſe und Könige, und ihre Miniſter
Von aller Welt Enden!
Wie ſie vom Leib ihrer Mutter kommen,
So fährt das dahin; und ſie hadern all,
Daß ihr Erdengeſchick ſolch ein Ende genommen —
Und nun dieſer grimmige Reiſemarſchall!
Der aber führte ſie all hinan
Wohl vor den Thron der Ewigkeit,
Wo ihre Muſterung begann.
Da ſah man Erdenleid und Streit
Noch manchem bangen Antlitz an,
Die Schrift, die jüngſt das Entſetzen geſchrieben,
In manchem Geſicht war ſie ſtehngeblieben,
Rathmann
W.
N den
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*
1
4
$-
iefern
Ostmarkenk
Gottoaters Bericht
Der Türmer XXVIII,
129
Nicht anders als die Schmiſſe und Schrammen,
Die aus dem letzten Kampfe ſtammen.
Drauf ließ ſich der Vater die Liſte reichen
Von all den Jammergeſtalten, den bleichen;
Da ſtund denn von jeglichem Toten zu leſen,
Was er vorgeſtellt unten und wie er geweſen.
Oer Reihe nach vor des Thrones Stufen
Wurden ſie namentlich vorgerufen.
Der da war ein König. — „Hinweg!“ ſprach der Herr;
Jener ein Mönch — verworfen auch der.
Sprach da ſein Sohn: „Aber Herzenspapa,
Warum verdammſt du die beiden da?
Sind doch ſo hochanſehnliche Leute!“
„Mag fein,“ ſpricht Gottvater — „in meinen Augen
Die Wohlanſehnlichen beide nichts taugen!
Zu oft find fo Kön'ge der Ehrſucht Beute;
Ging's nach ihnen, du kannſt mir's glauben,
Verſuchten ſie uns ſelbſt die Krone zu rauben.
Nichtsnutze ſind's halt und Liederjahne!
Nun — und die Mönche? Bei uns in den Himmeln
Tut's ohnehin von der Art ſchon wimmeln;
Sieh nur, was Kutte und Soutane
Hier oben bereits für 'ne Rolle ſpielen!
Und denk mal, wenn von den Schlingeln gar
Irgendein Papſt uns noch ein paar
Zuweiſen ſollte — ſchon mancher war
Auf Heilige verſeſſen! — noch ein paar,
Ich bitt' dich, Kind, zu unſern vielen ..?“
Drauf wird ihm das Kriegsvolk vorgeſtellt,
Auf dem Felde der Ehre dort unten gefällt;
Ruft da der König voller Gnaden:
„Nur nähergetreten, Kameraden!
Ich denke, es wird hier im ewigen Leben
Schon irgendein warmes Eckchen geben,
Wo ihr in Ruh' euer Garn könnt ſpinnen,
Alter Kriegsfahrten euch entſinnen,
Alten Ruhmes mit Stolz gedenken;
Siehſt du, ich will dieſen guten Leuten —“
Alſo tät er dem Sohne bedeuten —
„Allzumal meine Gnade ſchenken,
Weil ohne Falſch und arge Liſt
Das Herz ’nes rechten Soldaten iſt.
2 9
Nun gebt meinen Braven tüchtig zu eſſen,
nen guten Trunk nicht zu vergeſſen!“ —
Und daß an dieſer Gnadenſtätte
Auch jeder was fürs Herze hätte,
Gebot er: „Sorgt mir auch jederzeit
Für das nötige bißchen Weiblichkeit;
Wir haben ja bei unſeren Heil' gen
Auch manche weniger langweil'gen —“
(Er meinte mit denen
Wohl Magdalenen)
„Genug — dieſe Helden ſtehn zehnmal höher
Denn meine andächtelnden Augenverdreher,
Und darum wünſch' ich, ſoll's ihnen allen
Hier weidlich gefallen.
Doch wer kommt dorten an die Reih?
Wer iſt der Mann?“ — „O Herr, verzeih,
Das iſt John Locke; in Ehrfurcht naht er
Zu deiner Huld’gung.“ Und Gottvater:
„John Locke? Wer iſt das? Und was kann er?“
Der Brite neigt ſich: — „Herr,“ begann er,
„Ich bin ein Menſch, der all ſein Leben
Dem Drang nach Wahrheit hingegeben,
Dem Senken wies ich neue Bahn;
Ich lehrte nur,
Was die Natur
Verſtändlich mir entgegenbrachte,
Was als Gewißheit ich erfuhr,
Und was ich ſtreng dann, frei von Wahn,
Zu ſinnvoll Ganzem fertigdachte.
Hab' auch des Aberglaubens Macht
Nach Kräften in Verruf gebracht,
Der Heil' gen Reich und Herrlichkeit
Derläftert nach der Möglichkeit.
Mein Herz iſt lauter, meine Religion
Weiß nichts von Porphyrios' eiferndem Hohn.
Und ob auch den Irrwahn mein Fuß zertreten,
Stets hab' ich in Treuen zu denen gehalten,
Die reinen Sinnes zum Schöpfer beten,
Hab tiefergriffnen Gemütes verehrt,
Was ewiglich unſerm Begreifen verwehrt,
Herr, deiner Allmacht Walten.“
Rief da der König: „Ha, bei der Hölle,
Recht hat er, der Weiſe! Und ich bin's ſatt,
Des Ränkeſpiels in der Ewigen Stadt,
Sottvatets Gericht
Der Argerniſſe früh und ſpat,
Und darum — heut' noch, auf der Stelle
Säubr’ ich mein Haus
And werf' alle Heil’gen zum Tempel hinaus!
Raus, ihr Verfluchten! Ihr wollt euch vermeſſen
Vor Erdenkindern der Rechte deſſen,
Der dem Donner gebeut?
Ihr großen Heil'gen des Weltenrunds,
In den Kohlenofen des Höllenſchlunds
Verſtoß' ich euch heut'!
Du, Locke, bleibſt hier,
Und mein Friede mit dir!
Sollſt hier mit neuerſchloßnem Schau' n und Denken
In meiner Allmacht Wunder dich verſenken.“
And alſo geſchah's, wie der Ew'ge gebot,
Und reingefegt war allſogleich
Vom Schelmengezüchte das himmliſche Reich;
So trieb der güt’ge, der weiſe Gott
Hinaus die Heiligen und Sophiſten,
Doch alle redlichen Oeiſten
Die hat er in Gnaden
Fein zu ſich geladen.
Zu ſeiner Rechten ſitzen ſie da
Und ſchaun ſein Angeſicht ganz nah.
O Freunde, ſo wünſch' ich's für euch wie für mich,
Geſcheh' es denn alſo!
Friederich
X. Januar 1749.
131
152
Der Tod der Künftlerin
Von Georg Mehlis
s ging zu Ende. Der letzte ſchwere Kampf ſtand unmittelbar bevor, da das
Leben ſich ſcheidet, und des Geiſtes geheime Form von aller ſinnlichen Stoff-
lichkeit ſich loft, um in jene Tiefen zurückzutreten, denen fein reines Weſen entſtammt.
Die große Künſtlerin, der eine fo ungeheure Macht über die menſchlichen Gemüter
gegeben war, erwartete den Tod, und der Tod wartete auf ſie, und ſtand ernſt und
drohend zu Häupten des Lagers. Sie ruhte in dem breiten franzöſiſchen Bett auf
weichen Kiſſen, aber auch dieſe Weichheit ſchien noch zu hart und rauh für die armen,
ſchmerzbewegten und fiebergequälten Glieder. Sie ſaß halb aufgerichtet, um leichter
Atem holen zu können. Und an der dunklen Rückenwand des Bettes, mit ihrem
einfachen und vornehm gehaltenen Schnitzwerk zeichnete ſich das blaſſe ſchmale
Geſicht ſo deutlich ab. Die dunklen, von weißen Silberſtreifen durchzogenen Haare
umfluteten die ſchmalen, etwas eckigen Schultern. Die von Ourft und Fieberhitze
hart und ſpröde gewordenen Lippen waren halb geöffnet, und man hörte jene
ſcharfen, ſchnellen Atemzüge, in denen die letzten Kräfte des Lebens um Löſung
und Erleichterung ringen. Und die ſchönen dunklen Augen, die ſo tief in das Leben
geſehen, beſchauten die ſchmerzliche Zerſtörung des Seins und ſchienen alles Leid
der Welt aus kummerſchweren Tiefen auszuſtrahlen. Schweiß ſtand auf der hohen,
ſchmalen Stirn, und dieſe ſchönen Hände, die der Dichter gefeiert hatte und die
durch eine Geſte und zarte Bewegung das geheime Leben der Seele verraten und
andeuten konnten, die zu reden und ſprechen vermochten, wie ſonſt nur kluge ſchöne
Lippen ſprechen, dieſe Hände irrten in wirrer Bewegung auf der ſeidenen Oecke
des Bettes umher. Sie hatten ihre Sprache verloren, dieſe ſchöne bezeichnende
Sprache der Seele, die für alles menſchliche Sein den würdigen Ausdruck fand.
Die Ausdrucksbewegung dieſer Hände war verſtummt. Sie waren nicht mehr von
Vernunft beſeelt und redeten die Sprache des Wahnſinns. Dieſe armen irren Hände
hatten aber nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Sie waren nur noch ſchmaler
und zarter geworden, und ihr blaues Geäͤder trat noch deutlicher hervor. Es ſchien,
als ob der Tod ihre geiſtige Weſenheit noch reiner und tiefer offenbaren wollte.
Niemand war im Zimmer als die Krankenſchweſter und der Freund, der ihr
in den letzten Jahren treu zur Seite geſtanden. Sie ſaßen am Fußende des Bettes,
und beobachteten mit tiefer Bewegung dieſen ſchmerzlichen und grauſamen Kampf
des müden ſcheidenden Lebens.
Die Krankenſchweſter reichte den ſpröden, bebenden Lippen manchmal ein edel-
geformtes Glas, mit kühlendem Getränk, denn was ihren Augen nahe kam, mußte
das Zeichen der Schönheit tragen, und der Freund überdachte, was die große
Kunſt der Bühne mit ihrem Scheiden verlor, und daß fo manche Geſtalt der Dichtung
nicht mehr leben könnte, wenn ſie nicht mehr war, die ihr eigenes Weſen mit ihr
verſchmolzen und ſich in ſie verwandelt hatte.
Der Mund der ſterbenden Künſtlerin begann jetzt Worte zu bilden, ausdrucksvoll
und leiſe, im haſtigen, eiligen Tempo, fortgetrieben von einer Macht, die ſie ſelber
nicht mehr beherrſchte. Der ſüße Wohllaut dieſer Stimme, welche die Menſchen be-
Nehls: Der Tod der Künſue rin ; | 133
zaubert hatte und deren Ausdrucksfähigkeit jo groß war, daß ſelbſt das leiſe geflüfterte
Wort die Zuhörer der fernſten Theaterplätze erſchauern und erbeben machte, dieſe
Stimme hatte ihren beſtrickenden Wohllaut noch nicht eingebüßt. Und der Freund
überlegte, daß nun bald niemand dieſe Stimme mehr hören würde, daß fie un-
widerruflichen Anteil hatte an der Vergänglichkeit, und daß ein kaltes und unwider-
tufliches Ende, ein hartes grauſames Muß, das Leben der Schönheit bedrohte.
Die große Tragödin erlebte noch einmal den Schickſalsgang ihres Lebens, der
ein ununterbrochener Aufſtieg zur Größe, und doch ein Weg des Leides geweſen
war. All dieſes Suchen, Kämpfen und Ringen, dies Zweifeln und Verzweifeln und
ſchließlich der Sieg. Als ſie ihres erſten großen Triumphes gedachte, leuchteten ihre
müden, ſchmerzgequälten, von Tränen des Leides benetzten Augen noch einmal auf.
Sie ſah die Geſtalt des nordiſchen Dichters vor ſich, die von allen ſeinen Schöpfungen
iht am meiſten geweſen war: Nora, in ihrem Puppenheim, das Kind und die
geldin. Sie kannte das lachende, tollende Spiel mit weichen Kindergliedern, dies
Drehen und ſich Wälzen mit Jubeln und Schreien auf dem weichen Teppich des
Wohnzimmers, und fie verftand die unendliche Anmut der Bewegung in jenem
Tanz, der verrät und gleichzeitig verhüllt, und die naive Unſchuld opferfreudiger
Neigung, die vor dem Verſtoß gegen das Geſetz nicht zurückbebt, wenn es gilt, den
Mann ihrer Liebe zu retten. Vor allem aber konnte fie verſtehen, daß feiger Gelbft-
judt und Verſtändnisloſigkeit gegenüber längeres Zuſammenleben und Verweilen
Schuld und Frevel war. Und ſo gingſt du denn, mutige kleine Nora, von dem Mann
fort, für den du alles zu opfern bereit warſt und fort von den Kindern, die du liebteſt,
um dich ſelber wiederzufinden, nachdem alles zerbrochen war, was dich bisher ge-
halten hatte. Und war dieſes Gehen und Verlaſſen von Mann und Kind und Haus
an jenem Abend nicht zu einem unerhörten Erfolg ihrer Künſtlerſchaft geworden?
Hatte fie durch die Macht ihres Spieles nicht alle überzeugt, daß Nora gehen mußte,
daß ſie nicht das Geſchöpf und Spielzeug eines unwürdigen Mannes ſein und
bleiben durfte? War nicht ihr Name auf aller Lippen, hatte der unermüdliche Bei-
fall des großen Theaters fie nicht als ein glühender Rauſch der Begeiſterung ge-
faßt und getragen und fie als berüdender Taumel berührt?
Noch einmal zogen ſie vorbei an den Augen ihres Geiſtes und durchfluteten ihre
gereizte und gepeinigte Phantaſie, dieſe Geſtalten der Dichtung, denen fie wahr-
haftes Leben verliehen. Noch einmal durchfuhr der Wahnſinn Ophelias ihre ge-
quälten Glieder, und fie ſiechte dahin, mit kranker, blutender Lunge als jenes arme,
ausſchweifende Mädchen, das die Blüten der Kamelien liebte, und ſie fühlte den
Schmerz der ſchmerzensreichen Mutter, die ihren einzigen Sohn dem Wahnſinn
verfallen ſieht, da Geſpenſter umgehn, die ſchonungslos das Verhängnis bereiten.
Ihre Augen hatten die großen Linien des Lebens geſchaut, wie fie die Kunſt
der Dichter in ihren Werken gezeichnet hat. Sie hatte dieſe Linien mit den Zügen
ihres Weſens aufs engſte verbunden. Sie hatte die ſchönen bedeutungsvollen Worte
des Dichters in ſich auftönen laſſen und ihnen jenen Ausdruck und beſeelten Klang
verliehen, der die Hörer erbeben machte. Aus ungeahnten Tiefen der Empfindung
klangen dieſe Worte empor und hatten ſich in dieſem Munde zur höchſten Reinheit
des geformten Satzes und zu hinreißender Wirkung des Wortes in Sagen und
134 | Mehlis: Der Tod der Nunſtierm
Sprechen erhoben. Sie hatte die großen Geftalten der Kunſt nicht nur verſtanden,
erlebt und geſpielt, ſie war das alles ſelber geweſen; ſie war immer wieder eine
andere, weil ſie immer ganz das war, was der Dichter gemeint, was eine ſchöpferiſche
Phantaſie geſtaltet hatte, und war doch immer dieſelbe große Künſtlerin, die den
Schmerz und das Leid und die wogenden Leidenſchaften mit der vollendeten
Meiſterſchaft tragiſcher Geſtaltung ſichtbar machen konnte Das kunſtverſtändige
Publikum zweier Weltteile hatte ihr zugejubelt. Ein unerhörter Triumphzug war
ihre Künſtlerlaufbahn geweſen. Die Kritik mußte verſtummen. Der Größe ihrer Er-
ſcheinung gegenüber konnte man nur anerkennen und verehren. Immer wieder
vermochte ſie von neuem zu überraſchen und anders zu ſein und anders zu wirken.
Eine unerſchöpfliche Lebensfülle ſchien in ihr aufbewahrt, die immer wieder neue
Geſtalten durchbluten und beſeelen konnte und ſie ſo ſtark und überzeugend bildete,
daß ſie ein ſelbſtändiges und ſelbſtverſtändliches Leben gewannen. Und dieſe
Lebensfülle ſchwand jetzt dahin und kämpfte in qualvollem Ringen und machte den
Tod ſo ſchwer.
Über das ausdrucksvolle Geſicht der Sterbenden wehte ein ſchmerzlicher Schatten,
und dann bewegte ſie das Haupt mit leichtem Neigen. Vielleicht denkt ſie an ihn,
dachte der Freund, an den jungen Dichter, dem die Liebe ihrer reifen Jahre ge-
hörte, dem ſie unendliche Fülle der Anregung gab, deſſen Dichtungen ihr Feuer
durchglühte, und der ihre Empfindungen, ihre Liebe, das geheime Weben ihres
Seins fo ſchonungslos der Öffentlichkeit und der Kritik preisgegeben hat, der Oinge,
die immer im geheimen wohnen ſollten, an das kalte Licht des Tages zerrte, nur weil
ſeine Eitelkeit mit jener Gunſt prahlen wollte, die ihm die große Tragödin erwieſen
hatte.
Wer kennt die geheimen Schatten, die ein Leben umdüſtern, das ſcheinbar in Licht
und Sonne getaucht ift! Ruhm und Erfolg können fie nicht verſcheuchen. Sie lauern
am inneren Eingang zur Seele, und laſſen jenen einfachen und ſchlichten Gefühlen,
jenes geheime Wunſchverlangen nach Liebe, Schonung und Duldſamkeit keinen
Raum und keine Sonne. So muß denn alles abſterben, und es ſtirbt wohl manchmal
recht ſchwer, weil in dieſem ſcheinbar fo Selbſtverſtändlichen ein Glück unſeres
Lebens ruht.
„Sie iſt eine fromme Frau,“ flüſterte die Krankenſchweſter, „ſie hat noch vor
einer Stunde den Kruzifixus geküßt. Hoffentlich kommt der Prieſter noch zur rechten
Zeit, um ihr die letzte Wegzehrung zu reichen.“
Was für ein reiches Leben, dachte der Freund, was für ein Künftlertum! Wie
groß war doch der Erfolg, der ihr zuteil wurde! Seltſam ſchön und reich war das
alles. Sie vermochte das Geheimnis des Lebens kund zutun.
In dieſem Augenblick ſchien die Leidende bemüht, ſich etwas höher aufzurichten.
Die Krankenſchweſter war ihr behilflich. Ein ſchwaches Lächeln umſpielte ihr müdes,
ängſtlich geſpanntes Antlitz. „Die Bühne“, ſagte fie leiſe. Was nicht alles in dieſem
Wort gelegen war, was nicht alles mit dieſem Wort von ihr ging! So viel Glanz
und Fülle, fo viel Kampf und Ringen um echtes Künftlertum.
Ich habe ſie ſo oftmals ſterben ſehen, dachte der Freund, und immer wieder hat
ſie mich von neuem erſchüttert und bewegt. Das Sterben eines fremden Todes
Boll: Trübe Land ſchaft 135
ſchien mir immer ihr eigener Tod zu fein. Fest iſt es die Wahrheit des eigenen Todes,
die nicht erheben, ſondern nur vernichten kann. Und doch, indem fie ihren eigenen
Tod ſtirbt, ſcheint ſie wieder ein neues Geheimnis des Lebens zu offenbaren.
Er war dicht an das Lager herangetreten, ihre Lippen bildeten faſt unhörbar
einen Namen. Sie kann ihn noch immer nicht vergeſſen, den Mann, der ihr ſo viel
Leides getan. Wie ſeltſam ſich doch in unſerem irdiſchen Dafein, und gufammen-
gefaßt, in der Geſtalt des Todes, Liebe und Untergang, Schmerz und Sehnſucht
berühren!
Er verſuchte die eine der beiden irrenden Hände feſtzuhalten. Sie ſah ihn groß
und erſchrocken an. Dann ſchien ſie ſich ganz von ferne ſeiner zu erinnern. „Das
Leben“, fo kam es leiſe, geheimnisvoll andeutend über ihre Lippen. „Ich habe nichts
vom Leben verſtanden.“
Er zuckte ſchmerzlich zuſammen. War das die ſpäte Erkenntnis einer Frau, die
fo vielen durch ihre Kunſt das Geheimnis des Lebens kundgetan hatte?
„Eleonore“, flüſterte er leiſe.
Sie aber erhob noch einmal ihren gepeinigten Leib und die Arme mühſam nach
tücwaͤrts gewandt blickten ihre dunklen, tränenfeuchten Augen gerade und feſt
vor ſich hin. Das fliehende Leben ſchien noch einmal in dieſem Blick gebannt zu
fein, der ruhig und groß den Weg nach feinem fernem Ziel durchmaß, als ob fie
willens fei, ihn furchtlos und feſt zu betreten in der Erwartung, daß das Unver-
ſtändliche und Rätfelhafte des Daſeins doch endlich eine Löſung finden müßte.
Trübe Landſchaft
Von Paul Wolf
gm fahlen Dämmer geiftert um das Moor
e Nebelfrau und webt mit blaſſen Händen
Um Fels und Winterwald den grauen Flor.
Wie Tränen tropft es von den kahlen Wänden
Müd taftet ſich der Fluß durch Nied und Rohr
Voriiber an erftorbenen Geländen,
Bang birgt das Grauen ſich an dunkler Klippe
Und ſtarrt mit hohlen Augen in die Nacht:
Ein Wandrer ſteigt mit Stundenglas und Hippe
6 tiſch ſtill dũſterm E t —
Bun Aleſenſher den dehnt ich ein Gerippe,
Und hält im toten Lande ſtumm die Wacht
‘at 322 . ] ]ð§U⁵ en ne CE Se LS Mn 4 A En SE we es esc Me = ra 25
136
Siebenzigmal fieben!
Von M. Schneider⸗Weckerling
ie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir ſündigt, vergeben?
Iſt's genug ſiebenmal?“ — „Ich ſage dir, nicht ſiebenmal, ſondern fieben-
zigmal ſiebenmal.“
Was für ein Wort: „Siebenzigmal ſiebenmal“ vergeben! Alſo unendlichmal
vergeben!
Haft du ſchon erlebt oder probiert, deinem Todfeind ein einzig Mal zu vergeben?
Ein einzig Mal nur?
Weißt du, was es heißt, vergeben, wenn die Luſt des Haſſes in dir tobt, des Haſſes
und der Rachſucht? Ja, beſchönige es nur nicht, Haß iſt im Grunde Rachſucht:
Rache für erlittene Unbill, erlittene Qual, ausgeſtandenes Unrecht; ein Ventil für
angeſammelte Bitterkeit, die ſteif und ſteil, hoch bis zum Hals hinauf ſteigt, ſo daß
wir glauben, erſticken zu müfjen und [don genug zu tun, wenn wir uns nur einiger-
maßen beherrſchen, daß es niemand merkt.
Es gehört zum Vergeben übermenſchliche Kraft. Es geht durch Haß und Rad-
ſucht etwas wie ein Gift, wie eine Seuche in unſer Blut über. Wir müſſen es wieder
ausſcheiden. Dies geſchieht gemeinhin durch Befriedigung des Rachegelüͤſtes. Der
Feind hat uns geſchädigt, alſo ſchädigen wir auch ihn. Vergeben? Er will's ja gar
nicht; es hat ja gar keinen Sinn und Zweck. Es iſt unmenſchlich, fo etwas zu ver-
langen
Wenn nun freilich ein Andrer zwiſchen dieſe haßvollen Zuſtände kommt, der
ſtirbt vor Gram über den Unfrieden. Reine Augen flehen Tag und Nacht: „Vergib
ihm! Du kannſt es. Du biſt größer als er. Wenn du willſt, ſo geht's, ſo gibt es wieder
reine Luft, und ich kann ruhig ſterben.“
Was dann? Was iſt deine Antwort?
In dir tobt's: nein, nein, niemals! Unmöglich. Ganz unmöglich! Verlange alles,
was du willſt, nur das nicht! Doch du wagſt das nicht laut auszuſprechen und blickſt
nur düſter unter dich.
Der Vermittler ſpricht auch nicht mehr. Nur der Gram in ſeinen Augen ſpricht.
Und ſo wirkt jene Haßkrankheit weiter und verbreitet een wohin dein Fuß
tritt.
Da erfaßt dich der Jammer um ihn.
In ſtiller Nacht ſpricht eine Stimme: „Kannſt du auch um ſeinetwillen nicht ver-
geben? Kannſt du dies letzte, größte Opfer nicht bringen?“
„Niemals!“
Die Nacht ift pechſchwarz. „Unmöglich! Unmögliches kann man von einem
Menſchen nicht verlangen!“ Du liegſt lange wach, ſinnſt, verarbeiteſt — und kannſt
das Gift doch nicht ausſcheiden.
„Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir geſündigt, vergeben?
Iſt's genug ſiebenmal?“ — „Nicht ſiebenmal, ſondern ſiebenzigmal ſiebenmal!“
Du verſuchſt es mit Händefalten.
„Ich weiß, daß ich dies tun muß. Vergeben! Um der gramvollen Augen willen.
+
Edneider-Wederling: Sledengigmal fleden! 137
Und ich kann nicht. Hilf mir, wenn es einen Gott gibt! Haft du das wirklich gefagt,
Meiſter Jeſus Chriſtus?“
„Nicht ſiebenmal. Sondern ſiebenzigmal ſiebenmal!“
Das heißt alſo: immer, täglich und ſtündlich, ſein ganzes Leben lang ſeinem
Todfeind gegenüber in verſöhnlicher Stimmung ſein. |
Verſöhnlich? Alſo nicht vergiftbar! Alſo unempfindlich gegen Kränkung?
Das ganze Leben lang! Welch einen Seelenzuſtand ſetzt das voraus! Welch ein
ausgeglichenes Nervenſyſtem! Welch eine Reife!
Da gibt's kein Entrinnen. Immer vergeben können! Täglich „ſiebenmal fiebzig-
mal“, und wenn er dich ebenſooft kränkt, beleidigt, verachtet, mit jedem Blick, mit
jedem Wort, mit jedem Atemzug!
Was für ein Mann muß er geweſen fein: Fefus Chriſtus, der fo hoch über Men-
ſchenmaß ſtand! Wie war der Tonfall feiner Stimme, als er es ſagte: „Nicht fieben-
mal, nein, ſiebenzig mal ſiebenmal“? —
Da zuckt das Herz noch einmal in dir, — ein Ruck: — du ſchwingſt dich an die
Seite des Heilandes, deine Ketten ſind verwandelt in Flügel — du biſt frei! Der
Mille entſcheidet. Du willſt nun. Du lachſt, wenn der andre haßt. Was iſt Menfchen-
gut, was Mein und Oein im Vergleich zu der Gewalt, die von einer ſolchen Tat der
inneren Befreiung ausgeht?!
Nun lacht die Au, durch die du ſchreiteſt, es grünt die Flur, auf die du trittſt —
denn du biſt giftfrei und ſchauſt wieder mit reinen Augen.
Scheinbare Zufälle kommen dir nun zu Hilfe, und du merkſt, wie dein Leben von
unſichtbaren Kräften weitergeſchwungen wird. Verdunkeltes hellt ſich auf, und die
Vögel deines guten Gewiſſens zwitſchern
Geheimnis iſt um ſolchen inneren Sieg. Man zerſchellt an einer Wand und denkt:
nun iſt es aus, nun geht's nicht weiter. Und ſieht, daß die Wand ſich teilt nach dem
Sieg und ein weiter, ungeahnter Blick in neue Landſchaften ſich öffnet. Es iſt ein
höherer Lebensgrad erreicht.
Wer feinem Todfeind vergibt, tritit- und reſtlos, der ſtirbt eine Art Tod in dem
Schmerz der Selbſtüberwindung. Iſt's geſchehen, fo kommt die neue, ſtumme
Kraft, die dem Ohnmächtigen zu Teil wird nach fürchterlichem Kampf, nach großem
Schmerz. Sie iſt wortlos. Du wirſt aber durch ſie viel mehr beſchenkt als dein Gegner.
Der alſo Beſchenkte, in all ſeinen Tiefen aufgerüttelt, möchte wahrlich nicht
tauſchen mit den Satten und Glücklichen der Oberfläche, denen ſolche Qualen und
auch ſolche inneren Errungenſchaften verſagt bleiben.
Wer gefühlskräftig zu haſſen, und ebenſo ſtark zu vergeben und zu überwinden
vermag, der ſteht der wahren Liebe näher als der Laue, der ſolche Stürme nicht
kennt.
2
uw 0 J c fy a u
Das tote Syrakus
an hat oft die Frage aufgeworfen, was einmal aus unſeren Weltftäbten werden wird.
Sie ſind vergänglich, wie alles Menſchliche vergänglich iſt. Manche ſind freilich ſehr alt.
Paris z. B., die ſeinerzeitige Lutetia, war ſchon unter den Römern eine gewaltige Weltſtadt,
deren lebensgenießerifche Kultur bereits die nach Gallien berufenen Ronfuln zu ſchätzen wußten.
Und Rom ſelber, deffen ſagenhafte Gründung man um etwa 750 v. Chr. zu verlegen ſich jetzt ent
ſchloſſen hat, dürfte wahrſcheinlich noch viel älter fein. Von Wien weiß man, daß ſchon die Men-
ſchen der Bronzezeit dort ſiedelten, Schwerter ſchmiedeten und das Töpferrad drehten. Alter aber
als etwa 4000 Sabre dürfte, von ihren früheſten Anfängen an gerechnet, keine Stadt in Europa
ſein. Und das iſt, mit dem Maße des menſchlichen Lebens gemeſſen, und mit ſeiner erſtaunlichen
Wandelbarkeit und Entfaltungs fähigkeit verglichen, eigentlich ſehr viel.
Aber es gibt tote und verlaſſene Weltſtädte, in deren Herzen nur, gleichſam kümmerlich und
verſtohlen, die Menſchen niften, etwa fo, wie wenn ein paar Spatzen familien von einem verlaf-
ſenen Adlerhorſt Beſitz nehmen. Und iſt man melancholiſch und fulturmübde, fo kann man fic allen;
falls vorſtellen, daß einmal fernſte Nachkommen fo in den Reften von Berlin oder London oder
Neunor’ haufen werden.
Sch ſpreche von Syrakus.
Heute iſt es eine ſiziliſche Provinzſtadt, die im Staub eines regenloſen Himmels erſtickt und
von einer ſo tödlichen Schläfrigkeit umfangen iſt, als läge ſie irgend weit draußen am Ende der
Welt. Es iſt ſymboliſch für ſie, daß man auf dem Wege zu ihr, fern und in grenzenloſer Nacht
verloren, die Feuer von Rap Spartivento flimmern ſieht, die letzten Lichter des Kontinentes
Europa.
Fir den, der nicht mit den Idealen des KNulturforſchers nach Syrakus reift, iſt überhaupt das
Schönfte an dieſer Stadt die Fahrt zu ihr durch die Meerſtraße von Meſſina, die (wenn das Schiff
halbe Kraft einſtellt) nicht länger als eine Nacht dauert.
Zunächſt find die Ufer ganz nahe aneinandergerüdt. Der Meeresarm verengt ſich fo ſchmal, daß
man ſcharf die beiden Riiften unterſcheiden kann. Die Nacht iſt von einer unfäglich tiefen und
reinen Bläue. Die Geſtirne des Südens heben ſich mit ſtärkerem Leuchten und glänzenderem
Schimmer, als wir dies im Norden gewöhnt find. Weit und immer weiter hinter uns zuckt rhyth⸗
miſch ein Flackerſchein auf, rötlich, von weißſprühenden Funken durchlodert. Das iſt der Atna mit
feinen Ausbrüchen. Ihn ſelber erblickt man kaum, denn er iſt faft ſtets in Wolken gehüllt und fein
ſchneegefrorener Gipfel, der ſich einſam und übermächtig in die geſtirnte Nacht hebt, und der die
ganze Geſchichte dieſer Länder ſah, den verzweifelten Rampf der Krieger, die lindernde Fülle der
ſanften Natur, Erde und Himmel und bie vielbewegten blauen Fluten des Fonifden Meeres —
er läßt nun die modernen Rieſendampfer mit einer Fracht vergangen heitsfremder Menſchen an
ſich vorüberziehen, und iſt immer noch derſelbe, in ſich gefeſtigt, unferem Zeitbegriff nicht unter
tan, ein Titan, der mit Elementen ſpielt.
Aber auch ſonſt iſt die Nacht wunderſam erhellt von irdiſchen Lampen. Links, wenn man zurüd-
ſchaut, ſinkt Meſſina ſchon unter den Himmelsrand. Aber rechts ſpannt ſich ein funkelndes Lichter
band, viermal geknotet. Jeder Knoten iſt eine Stadt von Tauſenden von Menſchen. Man weiß
nichts von ihnen, nichts, als daß fie ihre Nächte mit Lichtern erleuchten. Das iſt alles. Ihre Schick
ſale, ihre Taten, ihr Leben und Sterben iſt uns einerlei. Wir fahren vorbei und freuen uns wie
Kinder am wandernden Reigen der bunten Hafenlaternen und am Glitzern der erhellten Straßen-
züge. Reggio (das alte Nhegium, zu dem die „Kraniche des Ibykus“ ziehen) iſt wohl die größte
Das tote Spratus 139
unter ihnen. Weiter hinten liegt Palmi, dann ſchließt fid Scilla und San Giovanni an. Darüber
hinaus weitet fich der dunkle Spiegel. Das Meer wird frei, dehnt ſich ins Uferlofe. Horizont und
Flut verſchmilzt in eins.
Lautlos gleiten und vergleiten die Stunden. Grün giſchtend ſchäumt das Rielwaffer. Darin
funkelt es manchmal von leuchtenden Meertieren. Man weiß, da unten iſt alles von Leben erfüllt.
Gon dem taufendgeftaltigen, ſich unzaͤhlig erneuernden Leben der Nleinwelt bis zu den gewaltigen
Saien, die zuweilen aus den afrikaniſchen Meeren herüber bis an die Grenzen von Europa
ſchweifen. Da ziehen in langen Ketten die lila Wurzelquallen, die zu Tauſenden im ſchmutzigen
gafenwaſſer von Meſſina wohnen, da phosphoreſzieren die mattroſa Seefedern, da windet ſich
Khlängelnd der Denusgürtel, wie ein breites Band aus geheimnisvoll belebtem, regenbogen
farbigem Opalglas, durch das Wellen und Fiſche hindurchſchimmern. Da bewegen ſich langſam
die bunten See anemonen, die kleinen Loligos mit ihren ſchwarzen Augen ſchweben wie elegante
Tinzerinnen, perlmutterfarben und zart, wie nur dieſe zierlichen Tintenfiſche es fein können.
Die Rochen flattern mit ihrem geſchwungenen Schwimmſaum wie bleiche, nackte Fledermaufe.
Unemüdli wandert das zahlloſe Heer der Fiſche, bis zum ſpringenden Oelphin und ſchief⸗
dugigen Katzen hai. Korallen bauen ihr rotes oder roſafarbenes, vielzackiges Gerüft, und die ge-
waltigen Meeresſchnecken, Murer und Tritonshörner, kriechen träg und gefräßig im Schlamm.
Nichts hat ſich ſeit damals geändert, ſeit Alkibiades mit 134 athenifchen Trieren auszog, um
des reihe Syrakus zu ſchleifen und zu plündern. Und es find doch faſt 2300 Jahre ſeitdem ver-
gangen und fo vieles iſt anders geworden. Stünde jener Alkibiades auf, oder Demoſthenes, der
an dieſen Rüften mit 6000 Kriegern die Macht und das Glück Athens verlor — fie würden die
Welt nicht wieder erkennen. Das Leben der Tiefe, die Lavaftröme und das dumpfe Qonnern des
Aua aber find dieſelben geblieben. Alles ift fo wie in verſchollenen Griechentagen, alles, bis auf
den ſchwuͤlen Hauch, der lechzend durch die Nacht von Afrika, dem unſichtbar im Blau verlorenen,
fremden Rontinent, herüberkommt. Wir Menſchen aber glauben, die Rätfel des Lebens inzwiſchen
gelöft zu haben. Vielleicht haben wir recht, vielleicht wurden wirklich Geheimniſſe entſiegelt. Aber
dann entſtammten fie nur der vergaͤnglichen Menſchenwelt. Von den großen und zeitloſen Fragen
des Seins war keine darunter
Am frühen Morgen macht ſich das Schiff bereit, in den Hafen von Syrakus ein zulaufen. Man
ſieht einen gelben, hügeligen Rüftenftreifen, öde und verlaffen in der grellen Morgenſonne. Auch
das iſt ein Geſtorbener. Er war einſt das antike Vorgebirge Plemmyrion. Heute ift er eine trau-
tige Tuffbank, die nur die eine Funktion hat, den Hafen gegen Süden zu vom offenen Meere ab-
zuſchlie ßen. Dieſer „Porto grande“, der durch feine ausgezeichnete Lage einer großen Handels-
ſtadt würbig wäre, ift faft leer. An feinem rechten Rande ſitzt die Stadt, enggedrängt, in Terraſſen
aufgeſteilt. Rommt man näher, fo ſieht man, daß das eigentliche Ufer viel weiter nach links liegt,
und daß Häufer und Straßen ſich auf einer Halbinfel zuſammengefunden haben, die ſchmal und
halbmondförmig ins Meer hinausragt.
Vollte man die blutige und wechſelvolle Geſchichte von Syrakus in einem Senſationsroman
beſchreiben, fo könnte man ihn allenfalls nennen: „Zm Banne von Ortygia.“ Denn Ortygla heißt
jene Landzunge. Von dort begann die Stadt, wahrſcheinlich ſchon zu Punierzeiten, denn man
vermutet, daß „Syrakus“ ein phönizifches Wort iſt, das „Oſtland“ bedeuten ſoll. Von der Halb-
inſel aus ſiedelte fie auf das Feſtland Aber; dehnte ſich weit in die Rüfte hinein, breitete ſich auf
der flachwelligen und ſteinigen Hocheben aus, zu der hier Sizilien abfällt; reichte bis zu dem ſchma⸗
len, traumhaft lieblichen, purpurblauen Ryaneflüßchen, das neben dem Anapo, heute weit von
Syrakus, gerade am anderen Ufer des Hafens mündet. Zahlen geben den beſten Begriff. Diefe
Stadt, die heute mit ihren knapp 23000 Menſchen ein unbedeutender Provingort iſt, umfaßte
einſt 33 Rilometer im Umkreis und vermutlich einige hunderttauſend Bürger. Sie war eine kunſt⸗
geſchmuͤckte Weltſtadt und obgleich ſchon unter ihren Tyrannen und im Rampfe mit Rarthago,
det nimmerſatten Angreiferin, ſo gänzlich zerſtört, daß das Vieh in den Vorſtädten wohnte und
140 Das tote Syratus
die Kühe auf dem Marktplatz (der Agora) grafen gingen, doch von ſolchem Ruf, daß es nur einer
allgemeinen Aufforderung bedurfte, um 50000 Manner in die Stadt zu locken. Die bauten (es
war 344 vor unferer Zeitrechnung unter Timoleon) alles von neuem auf, und die öffentlichen Ge-
bäude, ein weitgedehntes Gymnaſion, vielleicht auch ein Odeion, erſtanden ſchöner und prunt-
voller als vorher.
Aber Syrakus ift wieder auf Ortygia zurüdgelehrt. Es hat von all den Grokmadttrdumen feit
langem Abſchied genommen. Es hat ſich eng und klein und ein bißchen nuͤchtern eingerichtet. Die
Weltſtadt, oder vielmehr das, was einmal Weltſtadt war, liegt drüben auf dem fonnendürren
Steinfeld, über das der Staub weht, jahraus, jahrein, und an deſſen Rand die malariadrohenden
Nebel der zwei großen Sümpfe Sirako und Lyſimella in trügerifhen Streifen entlangwandern.
Wenn Menſchen die Urheber ihres Schickſals find, jo müſſen es Städte nicht minder fein. Und
wenn eine Stadt, fo war es Syrakus, die ſich ihr Schickſal ſchmiedete und als druckendes Zoch auf
den Nacken legte. Sie war korinthiſche Kolonie (vordem vermutlich Phöniker-Faktorei), ganz früh,
{chon 734 vor unferer Zeitrechnung, gegründet. Ein königlicher Flüchtling, deſſen gewalttätige
Liebe zu ſchönen Rnaben wohl nur der Vorwand war, um ihn aus Korinth zu verbannen, Archias,
der Bakchiade, ließ ſich dort, mitten im fruchtbaren ſikeliſchen Land, nieder. Nach 70 Zahren
fühlte die junge Stadt ſich ſtark genug, von Ortygia auf das Feſtland hinüber ſich auszubreiten.
Aber mit anderen korinthiſchen Lebensformen hatte man auch die hochmütigen Traditionen
einer un verantwortlichen Adelsherrſchaft von der Mutterſtadt mit herübergebracht. Seit dem
erſten „Tyrannen“ von Syrakus, Gelon von Gela (wobei man unter Tyrannen nicht etwa einen
Robes pierre, ſondern einen meiſt ſehr tüchtigen und begabten Mann verſtehen muß, der mit ener-
giſcher Hand das Wohl der Stadt durchſetzte und nur eben keine Erbfolgerechte beſaß), um 485 vor
Chriſtus bis zur Eroberung durch die Römer, um 212 v. Chr., die das tatfächliche und endgültige
Aufhören der Bedeutung dieſer antiken Weltſtadt einleitete, haben die Bewohner ſich nicht ent-
ſchließen können, eine klare, ihrer Ziele bewußte Politik zu treiben. Eine Regierungsform wird
gewaltſam von der anderen zertrümmert. Tyrannenherrſchaft und Republik, dann und wann
von einer Pöbeldiktatur auf kurze Zeit unterbrochen, liegen fic ſtändig in den Haaren. Feldherren
(wie Hieron II. von 275 bis 216) werfen ſich zu Königen auf. Andere (wie Agathokles 317 bis
289) werden durch Gift und Verrat beſeitigt. Der politiſche Mord iſt an der Tagesordnung, und
die Unruhen nehmen kein Ende. Syrakus, das jeden Anſturm von außen ſiegreich abgewehrt hat
und ein halbes Jahrtauſend uneinnehmbar iſt, bietet in ſeinem Inneren geradezu das typiſche
Bild griechiſcher Stadtregierung, die durch Unfügſamkeit, Treuloſigkeit, Volks aufwiegelung durch
gewiſſenloſe Hetzer und prahleriſche Einſichtsloſigkeit in ſtändigem Zerfall begriffen iſt und nur
durch Gewaltherrſchaft Jahre ruhiger und reicher Entwicklung genießt. Denn wirklich, rechnet
man zuſammen, was die „Tyrannen“ für dieſe Stadt getan haben, wie ſie Sorge trugen, ſie mit
Tempeln, Schatzhäuſern, Raftellen, Arſenalen und ſonſtigen öffentlichen Bauten, mit Bildwerken
und Luxusdingen zu ſchmuͤcken, wie fie alles, was zu jener Zeit neue Formen der Geiſtigkeit
prägte, förderten und zu fic beriefen, fo wird man ſicher eine andere Meinung von den wirklichen
Zuſtaͤnden haben, als die Schillerſche Ballade „Die Bürgſchaft“, die ſich auf Dion yſos I. von Sy
rakus bezieht, uns einprägen möchte. Denn dieſe ſelben „Tyrannen“, deren Herrſchaft angeblich
fo unerträglich war, daß man Meuchelmöͤrder zu ihnen ſchicken mußte, hatten Geſchmack genug,
eine Reihe der damals größten Dichter, darunter Pindar und Aiſchylos, jahrelang an ihrem Hof
als verwöhnte Säfte zu hegen und berühmte Plaſtiker ſelbſt aus Athen (fo Ralamis) mit Auf-
trägen zu bedenken.
Darüber hinaus beſchirmten fie die Stadt nicht nur vor den ſtändig drohenden Angriffen der
Punier, ſondern auch vor der Raubluſt der atheniſchen Landsleute. Von dem verzweifelten Ernſt
ſolcher Rämpfe kann man ſich einen Begriff machen, wenn man lieſt, daß jener entſcheidende Sieg
Gelons bei Himera, der Syrakus zur erſten Stadt Siziliens machte, über 200 karthagiſche Sa-
leeren und 100000 Soldaten fo völlig erfochten wurde, daß nur eine einzige Barke nach Karthago
Das tote Sptatus 141
entkommen fein ſoll. Später, als der Feſtungsring mit dem nach Weiten vorgeſchobenen mächtigen
Fort Eur palos ſchon vollendet war (man hatte gegen Ende des 4. Jahrhunderts ganze fremde
Stadtbevdllerungen zwangsweiſe dort angeſiedelt, um die große Vorſtadt Epipolae mit Bewoh-
nern zu füllen) tat ihnen freilich eine Peſt, die aus den großen Salzſeen an der Rüfte des Plem-
myrion aufſtieg, den Gefallen, das dort lagernde Heer des Himilco gründlicher zu vernichten, als
die ſyrakuſiſchen Schwerter dies vermocht hätten. Vielleicht hätten die Tyrannen mit Archimedes!
Hilfe ſich auch des römiſchen Angriffes unter Marcellus entſcheidend erwehrt, wäre nicht eines ver-
räterifhen Spaniers Hand das tuͤckiſche Zünglein an der Wage geweſen. An der lieblichen Are-
thufaquelle, dem kleinen Stadtheiligtum, dort wo heute die Tulpenbäume blühen und friedliche
Enten unter Bapprusitengeln im klaren Waſſer plätſchern, drangen die Römer in die Stadt ein.
Die vom Dianenfeft trunkenen Verteidiger leiſteten kaum Widerſtand. Tyche, Epipolae, Neapolis,
die jenfeitigen Dorftddte, waren ſchon in römiſcher Hand. Der große Stadtteil Achradina und die
Ortygia wurden wehrlos gemacht mit dieſem Verrat. Archimedes ward erſchlagen, eine ungeheure
Beute fiel Rom zu. Die Größe von Syrakus, von der Cicero noch begeiſtert ſpricht, ſank in wenigen
Generationen. Die Stadt verfiel, verengte ſich, und zu chriſtlichen Zeiten hauſte ein Häuflein
Schutzbeduͤrftiger und Beſitzloſer in den Ruinen der Vergangenheit, hoffnungslos und immer
mehr zufammengedrängt wie eine Horde von Schakalen in ihren halbverſchütteten Schlupfwinkeln.
An alles dies denkt man, wenn man den Boden von Syrakus betritt. Weißleuchtend empfängt
die Stadt den forſchenden und pruͤfenden Blick. Sie ſieht ſehr afrikaniſch aus mit ihren geraden
Faſſaden und den flachen Dächern, zwiſchen denen faft nirgends wohltätiges Grün auffproßt,
ausgenommen die breite Hafenpromenade und eine ſchöͤne, ſchattige, freilich winzige Parkanlage,
die durch einen waſſertropfenden Grottenbogen hinüber zur Arethuſaquelle führt. Früher ſüß
und trin kbar, war fie einmal ſicher eine ſebr große Verlockung, ſich hier niederzulaſſen. Zetzt ſoll
ſie durch eines der zahlreichen ſiziliſchen Erdbeben etwas ſalzig geworden ſein und hat wohl eine
unterirdiſche Verbindung mit dem Meere. Aber das Märchenhafte und Traum verlorene iſt ihr
geblieben, in deren fanftes Riefeln ſich das nicht minder ſanfte Rauſchen der Papyruskronen
miſcht, die federig und bräunlich zart wie eine durchſichtige Kugel auf den bis zu 6 Meter hohen,
kantigen Stengeln ſtehen. Halb aufgeſchloſſen und von den vier ſpitzen Nelchzipfeln eingefaßt,
die dann fpäter abfallen, erinnern fie an ägyptiſche Hieroglyphen, in denen fie als Sinnbild einer
Provinz immer wiederkehren. Sie find ja auch Kinder des Nils, und die Araber, die fie beim
großen Sarazeneneinfall mitbrachten, um die feuchten, halbverlandeten Ufer des Anapo und
des Nyaneflüßchens zu bepflanzen (wo fie heute noch mit ihrem weithin ſichtbaren einförmig
hellen Grün verwildert wuchern, als der einzige Papyrus, der in Europa ungepflegt und anders
als in botaniſchen Garten wächſt), haben wohl kaum daran gedacht, daß dieſe Pflanze alle in es
fein würde, die ſie in Sizilien überlebte. So wie auch Archimedes ſicher nicht davon geträumt hat,
daß er in dem kleinen Stadtpark von Syrakus einft ein Bildwerk haben würde, das ihn, die
Schraube (die feine Erfindung geweſen fein ſoll) und den Hebel neben ſich, darſtellt als einen
junglingshaft ſchmächtigen Greis mit langem Bart und bewegter Geſte, immer noch den erho-
benen Brennſpiegel in der Hand, um die römiſchen Schiffe damit anzuzünden. Angeſichts dieſes
ſchlanken, gepflegten Menſchenkörpers, dem man es anſieht, daß er ſeit Generationen nur den
Mühen des Geiſtes zugetan war, ſteigt unwillkürlich jener „Denker“ von Rodin in der Erinnerung
auf, erdſchwer, gewiſſermaßen belaſtet von feiner eigenen Muskelkraft, mit geballten Fauften um
Gedanken ringend. Und wieder einmal empfindet man die grundlegende, bis in die entſcheidenden
Tiefen des Plasmatiſchen hinabreichende unüberbrüdbare Verſchiedenheit der Menſchen diesſeits
und jenfeits der Alpen, und fragt ſich ſeufzend, warum uns erſt jetzt, nach 2000 Jahren überflüf-
ſigſter Opfer um Unerreichbares, dieſe Einſicht dämmert
Die Wege hinaus zu der weiland antiken Stadt find von unbeſchreiblicher Frembdenfeindlidteit
und jetzt, im frühen März, bereits in die unüberfhaubaren Staubwolken eines endloſen Som-
mers gehüllt, die der freiſtreichende Wind in langen Wirbeln aufwühlt.
142 Das tote Spratus
Man betrachtet dieſes öde, ſonnen verbrannte Hochfeld, das einſt eine reiche und prunkende
Stadt trug, die zu den Wundern ihrer Zeit gehörte. Oüͤrre, gelbe Grundftüde, kreuz und quer von
balbhohen, oft genug zerfallenen Mauern eingefriedet. Einſame, verwahrloſte Hütten, in denen
Rinder ſchreien und über deren Dächer Zuckerrohrhalme hinauswachſen. Und, überall dem Blick
begegnend, verſtreut, einzeln oder zu zweien und dreien, hohe, düftere Zypreſſen, im Winde
ſchaukelnd wie ſtaubbedeckte Totenfahnen. Und das geht, ſoweit das Auge reicht, ohne Ab-
wechſlung, ohne Steigerung, bis am Rande des Horizontes der weißliche, ſchattenloſe Himmel
es blendend abſchließt.
, Das ift alles, was auf den erſten Blick von der einſtigen Griechenſtadt Syrakus zu ſehen iſt.
Es iſt tatſaͤchlich faſt nichts übriggeblieben, als das, was Menſchen hand mühevoll aus dem le⸗
benden Stein herausgemeißelt hat, der, vom Plemmprion heruͤberzie hend, überall bis zur fieber;
reichen Anapoebene den Grund der Kuͤſte bildet.
Die Linie einer mächtigen Mauer, von der die Achradina im Weſten und Norden umgeben
war, die bis zum Fort Euryalos reichte und dann offenbar wieder zum Hafen zurückkehrte, iſt im
großen und ganzen noch in Trümmern feſtzuſtellen. Es ſteht auch noch einiges von den fünf Zür-
men des Forts, und die unterirdiſchen Gräben mit Ausfallöffnungen, alles in Fels gehauen, find
gut erkennbar. Der Blick von dort, der weit über das Vorgebirge, den Porto grande und Ortygia
ſchweift, iſt großartig und erſchütternd zugleich. Dieſe in Staub zerfallenen, ſchweigſam wieder
in die geduldige Erde hineingekrochenen Menſchenwerke muten an wie ein erbarmungsloſer
Kommentar der Gegenwart, jeder Gegenwart, denn jede Gegenwart iſt von Hoffnungen, Wün-
ſchen und Plänen ins Zeit; und Grenzenloſe hinaus durdgliht.
Im allgemeinen kann man ſich die Art und Veiſe, wie ganze Städte in den Boden verſinken,
nur ſchwer und meiſt unrichtig vorſtellen. Immer glaubt man an ſchreckhafte Rataftrophen, an
Erdbeben, Stürme, Zyklone, die keinen Stein auf dem anderen laſſen und in aufgähnenden Spal-
ten ftüdweife die Oberwelt begraben. Die Wirklichkeit ift weit weniger romantiſch und doch nicht
minder grauenvoll in ihrer gleihmütigen, emſigen Sachlichkeit. Die winzige Welt von Klein;
weſen, die jede Erdfcholle bewohnen und alles Verweſende wieder in junges Grün umwandelt,
iſt es, die alles einebnet. Sie tut es ganz lautlos, ganz heimlich. Jahrhundert um Jahrhundert
bauft fie über die Trümmer menſchlicher Kultur Erd koöͤrnchen und Sand. Ganz allmählich werden
die Dinge eingefargt durch die unaufhörliche Tätigkeit von Millionen folder Geſchöpfe, die
ſtändig auf dem ganzen Erdball die Oberfläche feiner Rrufte zerkratzen, zerſcharren, durchgraben,
zernagen, trimein und in einem ſteten Kreislauf von Freſſen und Gefreſſenwerden, von Ab- und
Aufbau des Lebensſtoffes verändern und erneuern.
So, auf dieſe einfache und ſehr natürliche Art iſt auch das alte Syrakus, ſoweit man die Men;
ſchen habe nicht vorher wegſchleppte und die Steine forttrug, um anderswo neue Hdufer mit ihnen
zu bauen, in die Erde eingewandert. Wie tief, davon kann man ſich einen entſprechenden Begriff
machen, wenn man die beiden Säulen in der Via Diana der neuen Stadt ſich zeigen läßt, die zu
einem ſehr frühen Apollotempel gehören, deſſen übrige Reſte annähernd 5 Meter unter dem heu-
tigen Straßenpflafter liegen. Es war ein ſehr großer Tempel und man ſchätzt, daß er aus dem
6. Jahrhundert vor unſerer Zeitrechnung ſtammt. Und doch iſt er faſt ganz verſchwunden und man
mutmaßt nur, daß er 19 Säulen in der Länge und zwei Reihen von je 6 Säulen in der Vorder-
front beſeſſen habe, und daß ein Tyrann Rleomenes der Verfaſſer jener altertümlichen und nur
in Brudftüden noch entzifferbaren Schrift geweſen fei, die, als Widmung an den Gott, auf der
oberſten Stufe des Unterbaues eingegraben iſt.
Eine einzige Säule iſt auch von der Agora übriggeblieben, die nahe an der jetzigen Straße nach
Catania ſteht, dort, wo ſich zwiſchen der Achradbina und Ortygia einft der antike Marktplatz be-
fand, den eine Anzahl prachtvollſter Gebäude umſchloſſen haben ſoll. Und auch unten in der An apo
niederung ragen zwei einzelne Säulen, doriſch, aber ihres Rapitells beraubt. Dort befand ſich das
Olympeion, ein Palaſt von edelſten Formen nach den Berichten der Zeitgenoſſen. Heute kommen
Pas tote Spratus 143
vom ZI Pantano, dem großen Sumpf am Ryanefluß, bie giftigen Nebel herüber, das Röhricht
tauſcht mit trauriger Stimme, und die Zikaden heben ihr Schrillen gegen einen Himmel, der
gleich unbarmherzig gegen die Toten wie gegen die Lebendigen iſt.
Nur einer jener von Cicero begeiſtert gerühmten Tempel hat ſich erhalten. Er war einſt der
Athene geweiht, mit Bildwerken aus edlem Metall geſchmuͤckt und ein Höhepunkt des ſonſt ſchlich
ten doriſchen Stiles. Die Türen ſtrotzten von elfenbeinernen Figuren und waren reich mit gol-
denen Rnöpfen beſchlagen. An der Cellawand im Hintergrund befand ſich ein Gemälde der
Schlacht des Agathokles, und außerdem bewahrte man dort 27 Bilder von ſiziliſchen Tyrannen
und Königen auf.
Set iſt von dem allem keine Spur mehr, denn dieſer Athenetempel iſt — der Dom von Syra-
kus. Man hat nicht allzuviel an ihm geändert. Nur bie Vorder- in die Rüdfeite verkehrt (denn auf
dieſer befindet ſich jetzt der Eingang), den Längsſäulengang in eine Mauer verwandelt, in die
ziemlich roh die doriſchen Säulen hineingeklebt ſtehen, und darüber die Wand erhöht, um Fenſter
ausbrechen zu können. Eine Barockfaſſade foll das ganze Stuͤckwerk verhüllen und wahrſcheinlicher
machen. Aber es geht mit dieſer Kathedrale wie mit dem Chriſtentum ſelber. Man kann in der
Levante den neuen Gott von der alten Antike unendlich ſchwer trennen, und es gibt eigentlich
kine Zeitangabe, angeſichts derer man genau fagen könnte: damals herrſchte noch der Olymp,
und von da an trat das Chriſtentum an ſeine Stelle.
Dennoch hat der lebende Stein der Vorſtadt Neapolis das Bild einer untergegangenen Kultur
noch beſſer erhalten, als die Umwandlung in eine chriſtliche Kirche (von der man übrigens nicht
weiß, wann fie geſchehen iſt). Ich meine die großen Schauftüde von Syrakus, feine antiken Thea-
ter, die Gräberftraße und die Latomien.
Alles das ift erſtaunlich lebendig geblieben. Mag fein, daß man uns ſeit Generationen diefes
Bild des Hellenentums am ſtärkſten eingeprägt hat und daß wir beim Anblick des griechiſchen
Theaters gewiſſermaßen etwas Vertrautes und Altbekanntes zu ſehen glauben. Aber dieſe ftei-
nerne Bühne mit ihren vielen übereinandergetürmten Stufenſitzen (ſchon die Oramen des
Aiſchylos wurden auf ihr geſpielt) macht wohl auf die meiſten den nachhaltigſten Eindruck.
Die Steine find in dieſem regenarmen Land kaum angewittert. Eher ſcheinen fie von vielen
ungeduldigen Füßen zertreten zu fein. Die Sonne ſtrahlt von den unzähligen Stufen blendend
wider. Blau blitzt das Meer, über dem da und dort die großen Lateinerſegel ſtehen. Von Syrakus
kommen dann und wann Rufe, Lärm, Hämmern oder Lachen herauf. Man ſieht hinüber auf
feine flachen Dächer, feine ſteilen, grellen Faſſaden. Es wimmelt neben uns von Eidechſen. Die
Snfetten ſummen um himmelsfarbenen Bienenſaug. Es duftet nach Lorbeer, nach bluüͤhendem
Oleander, nach Rofen. Irgendwo in der Nähe rauſcht die gewaltige Waſſerleitung, die das reine
und kalte Naß der Quellen ſchon zu antiken Zeiten vom Plemmyrion herunterleitete, und die
heute noch Geſundheit und Rible ſpendet, trotzdem fie zum Teil ſchon verfallen tft. Auch in anderer
Beziehung ijt fie der Wegweiſer zum Einft. Aus ihrem Verlauf und der Wiederaufdeckung zahl-
reicher an fie angeſchloſſener Brunnen konnte man die Lage der ehemaligen Stadt auch dort er-
kennen, wo nur noch die Einöde einer längft übergrünten Schuttfläche vorhanden iſt.
» Aber dieſes griechiſche Theater hat immer noch etwas von dem vergangenen Lächeln verfchol-
lener Welten. Es iſt [hiner oder mindeſtens nicht weniger ſchöͤn als das zu Taormina. Es iſt auch
verlaſſener; hat noch etwas von dem Reiz des Un berührten. Die Zeit ſteht hier horchend ftill. Wo
ift das Echo, das antwortet? Das die geſtorbenen Ideen neu erweckt?
Es iſt kein Echo. Auch die erſten Überwinder diefer Welt find gleichfalls dahin. Das römifche
Amphitheater iſt faſt noch verfallener. Der Frühling von Syrakus hat von ihm Beſitz genommen.
Große Orchideen zerſtreuen ſich wie lila Kerzen im zarten Grün, Löwenmäulchen, leuchtend wie
aus Scharlachſamt, ſteife, gelbe Wachsblumen. Man fühlt noch den Stein unterm Fuß, aber man
tritt ſchon auf Rafen. Auch die Arena unten iſt ein Pflanzenteppich geworden. Man konnte fie
einſt zu Waſſerſpielen in ihrer Mitte in ein Baſſin von doppelt mannshoher Tiefe umwandeln.
144 Requiem
Seht erkennt man noch die Anlage und die Verbindung mit unterirdiſchen Randlen. Ger den Gan-
gen der Gladiatoren hängt blühender Zelängerjelieber. Ralt weht es aus dem Dunkel hervor,
dort, wo einſt die wilden Tiere zu den Rampfipielen verwahrt wurden. Aber Tiergebrüll und
Gladlatorenruf hier, Berfe von Pindar und Aiſchylos und die Traveſtien der Luſtſpieldichter
(vielleicht jenes witzigen Epicharmos, des Tyrannenfreundes) drüber ſind beide dahin. Auch die
Namen Hierons und einer Nereis — man glaubt, es war feine Schwiegertochter — find nur
noch Linien, die man in einen Stein gegraben hat, der einſtmals Koͤnigsſitz im griechiſchen Theater
war. Auch jener zerbröckelnde Altar desſelben Hieron, der heute noch 1014 Meter hoch iſt, und auf
dem gleichzeitig 450 Stiere geſchlachtet worden ſein ſollen, hat keine Bedeutung mehr. Auch die
Gräberſtraße, die ſich ſchmal und mit tiefen Radſpuren immer noch vom griechiſchen Theater
emporwindet, mit finſteren Höhlungen zu beiden Seiten, denen aller Schmuck fehlt, und die zu⸗
weilen jo eng find, daß wohl nur Aſchenvaſen darin aufgeſtellt werden konnten, — das alles ijt
zerbrochene Form, die niemand mehr zuſammenkitten wird und kann.
Annie Francé-Harrar
Requiem
aß du, alter Freund, lieber Wanderer mit der Geige in der Hand und dem Lachen der
Arglofigteit auf den Lippen, in jenen Elementen wieder ein Teil bit, ein Hauch in jener
Luft, die ich ſo begierig einatme, erfuhr ich an einem Abend der milden Farben und des Friedens,
Die Schnelligkeit unſeres fo geprieſenen Jahrhunderts hatte deinen Kopf an den Prellſtein
einer der großen Automobilſtraßen geſchmettert, ſo daß in einem Augenblick all deine frohen
Einfälle mit deinem Leben ausgelöſcht waren
Welch ein Jahrhundert! Es haſtet und eilt, es ſchwirrt und klirrt, es geht ſo raſend vorwärts,
gibt kein Halten. Mach Platz! Freund, um Himmels willen ſieh dir nicht von der Straße aus
eine dir anmutig erſcheinende Hausfaſſade an, werde nicht alt und langſam, ſei nicht ſorglos
wie ein Kind, das fröhlich ſpielt — es iſt dein Tod, denn der Verkehr kann keine Rüͤckſicht nehmen,
er muß dich überrennen. Du flüchteſt in menſchliche Wohnungen mit dem Oruck der Angft,
dem Gefühl des Geſtoßenwerdens am Körper, weil die wild bewegte Straße dich hetzt. Doch hier
umfängt dich von neuem ein Klappern unter haſtigen Händen, die Gedachtes ſchnell, nur nicht
langſam, zu Papier bringen; ein fortwährendes Klingeln zwingt das übermübete Ohr, fernen
Nachrichten, deren Wichtigkeit oder Unwert dem Hörenden kaum noch ins Bewußtſein dringt,
zu lauſchen. Du eilſt an den Rand der Stadt. Bergwerke ftiirgen zuſammen und ein Zug un-
geheuerlichen Leids wälzt ſich zu den Friedhöfen. Das Leid ſchüͤttelt die Geſichter. Doch in den
Fahnen rauſcht es: Kein Entrinnen gibt es dem Schickſal! Und in klugen Gehirnen wird die
Moglichkeit erwogen, wie ganze Städte, ganze Landſtriche durch Gas, Feuer und Schwefel
wie mit einem Federſtrich zu vernichten ſind.
Halb träume ich wieder, und es ſteigen wie die Nebel auf den Havelwieſen, jenen Wieſen
grün und voller Blumen, wo vor zwölf Jahren die Wandervogeljugend Volkstänze tanzte zu
deiner Geige, wie Nebel voller Geſtalt und Bedeutung Bilder auf, die ſo klar ſind, wie das
Land, das unter den Blitzen aufleuchtet, während der Regen ihm die friſchen Farben des erſten
Schöpfungstages wiedergibt. Haydns Kinderſymphonien, Schiffsbauten und Ritterſpiel mit
viel Lärm, zerhauenen Holzſchwertern, herrlich bemalten Schilden, die nach dem Kampf in
Stüden lagen, Bogenſchießen mit Pfeilen, die heimlicher - und verbotenerweiſe mit Nägeln an
den Spitzen verſehen wurden, ſo daß dem Walter, der nachmals ein ſo guter Maler geworden
iſt, faſt das Auge ausgefchoffen wurde. Schneeballſchlachten, Schlittenfahren, Bratäpfel am
Abend und gemeinſames Schulaufgabenmachen, Beduinen und Eskimoſtimmungen und
die Schule mit ihren merkwürdigen Regenten, die wir nicht liebten, weil fie uns auch nicht
Requiem 145
liebten; die Fähigkeit, in Maſſen rohe Kartoffeln zu eſſen, mit welcher Fähigkeit wir auf Jahr-
märkte ziehen wollten, alles dies beſchäftigte uns hinreichend, um glücklich zu fein.
Das Theaterſpielen bildete den Höhepunkt unſerer ſtattlichen kleinen Geſellſchaft, die im
ſogenannten alten Sanatorium, einem großen, gänzlich leerſtehenden zweiſtöckigen Gebäude,
Kuliſſen ſelbſt malte, alte Möbel zu wundervollen Szenerien verwandte und mit Oleandern
in Kübeln von den Gartenwegen eine Parklandſchaft für das große Duell mit den prachtvoll
dröͤhnenden Piſtolen aufbaute. Begeiſtert von der napoleoniſchen Zeit und den ſoldatiſchen
Ehrbegriffen ſchrieb einer von uns — er liegt längſt in Frankreich begraben — ein Stück, das
ſogar die Billigung der Alten fand; ja, bei der Aufführung war ein alter General ganz begeiftert
von den verdammt exakt militãriſchen Bewegungen der verflirten Bengels. Napoleon kam fogar
vor an feinem Arbeitstiſch, von einem rieſigen Hut beſchattet, Talleyrand war groß in Ver-
beugungen und der Anrede Sir; de la Croiſe und Maſſena duellierten ſich um eine Cécile oder
Madeleine, die gleichfalls einer der Unferen ſpielte, während im Schlußakt durch rollende Hanteln
Geſchũtzdonner gemacht und ſämtliche Gaſſenjungen der Umgegend mit uns ihr Vive l'empereur
brillten. Dies alles hinderte nicht, daß wir unferen guten alten Pfarrer in der Konfirmanden
ſtunde ein anderes Bild von Napoleon, als wir es uns malten, entwerfen ließen, der den großen
Dann nur als „das Scheuſal jenſeits der Vogeſen“ bezeichnete.
Im Herbſt wurde es „jo langweilig“ in der Schule, wie wir unſeren erſchreckten Angehörigen
mitteilten, denen gerade die Zeit vom Herbſt bis Oſtern als eine dugerft wichtige Schulan-
gelegenheit in Erinnerung war, daß wir zur Abwechflung einen richtigen Bootsbau anfingen
mit ſehr wenig Geld. Wir knüpften Freundſchaft in der Sägemühle an, wo unter anderen kräftigen
Männern ein gewiſſer Lieſegang beſchäftigt war, ein alter Bootsbauer von der Vaſſerkante.
Es ſollte eine Segelſcharpie, wie der Fachausdruck unſeres Baſtlerbuches hieß, werden, für nur
zwanzig Mark. Die Seitenbretter wurden geſchnitten, ins Waſſer gelegt und geſpannt, dann
der Boden angefügt und alle Ritzen mit Werg gedichtet. Das meiſte machte Lieſegang, während
wir uns ſehr tätig vorkamen. Unterdeſſen war es Frühling geworden. Eines ſchönen Tages wurde
das Boot angefahren, im Hof abgeladen und zwiſchen die Hühner geſetzt auf den gelben Sand,
wo wir es ſelbſt ſtreichen wollten. Der Maſt wurde errichtet, bunte Wimpel aufgezogen, wir ſetzten
uns alle unter das Segel und lebten der völligen Illuſion, bald auf dem nahen See zu kreuzen.
Hierzu wurde uns die Erlaubnis von den Pächtern nicht erteilt, ſo daß wir wohl ein Boot, aber
nicht das dazu nötige Waſſer hatten. Und das Unangenehmſte war bie von dem Sägemüller
dem „Druck von oben“, wie wir unſere Eltern nannten, prdjentierte Rechnung, die das Fünffache
des in dem Buch angegebenen Koſtenanſchlages betrug, was gänzlich unſere Tafchengeldvor-
ſtellungen überftieg. Das Ergebnis des fo „langweiligen“ Schuljahres war Sitzenbleiben, und
ſo ſaßen wir nun in unſerem Boot bei ſchönem Wetter, während der weiche Kiefernwind unſere
Segel blähte. Demuͤtigungen blieben uns nicht erſpart. Ein befreundeter Marineoffizier, der
die Schwimm; und Segeltüchtigkeit des Bootes begutachten ſollte, zuckte ſehr geringſchätzig die
Achſeln und meinte „nicht zehn Taue hielten ihn in dem Seelenverkäufer feſt“, und mütterliche
Bekannte veranſtalteten ſonntägliche Zuſammenkünfte und Schmaufereien auf dem ſicheren
Boot, dem fie auf dem Waſſer ſich nie anvertraut hätten. Später, nach zwei Jahren, brachten
wir dann unſere „Nixe“ auf die Havel und machten viel glückliche Fahrten ohne Havarien.
Kennſt du die Havel im Frühling, wenn der Wind in den Kiefern auf den Höhen rauſcht, wenn
ſich die Wogen blaugrau wölben, die Kähne mit Teer friſch geſtrichen kieloben liegen, um in der
Sonne zu trocknen, Netze geflickt werden, irgend ein Hämmern die feiertägliche Stille unter-
bricht, eine Fähre zu einer Inſel herübergezogen wird und ganz fern drüben am Horizont des
Waſſers helle Dörfer aufleuchten? Wenn die Wildenten und die Haubentaucher ſchnattern und
im Schilf wieder Leben ift, in jenem Schilf, das den ganzen Fluß entlang wächſt und fo merk⸗
würdig klar und etwas klagend in fahle, verdämmernde Abende nickt, während einige zerzauſte
Kiefern auf Vorſprüngen des Urſtromtales, auf den hohen Sanddünen wie treue Wächter
der Türmer XXVII. 2 10
146 edateſpeates Rantheit und Cod
über den Fluß ragen, um die die Raben ſich vor der Nachtruhe zanken! Dort an den Ufern, in
den Wäldern, auf den Inſeln loderten unſere Sonnwendfeuer auf, traf ſich die gange wandernde
Sugend, war an den Tagen getanzt, gefpielt und geſungen worden, ging es fo luſtig, fo freudig
zu. Die Wieſen waren grün, Waſſer und Himmel blau, die Kleider und Blumen der Mädchen,
die Geſichter der Jungen fo frifch.
Hans Spielmann, der ſpielte und die Fiedel die ſang —
Du gute alte Vigolin, ja Vigolin, du Fiedel mein!
Und der Wind trug die Tine fo weit, daß all den Scharen, die noch durch den Wald heran-
wanderten, die Freude ans Herz ſprang. Ein Rythmus waren die Heimmärſche in der Nacht
mit Fackeln vor und hinter dem Zug, mit deiner Geige, Flöten und Lauten, mit dem Singen
der Unſterblichkeit in den Reihen, ſo tauſendfältig und ſtark. Es lebte ja alles wieder! In den
Liedern zogen die Landsknechte und Bauern, die Soldaten und Offiziere, das verlaſſene Madchen
und der Tod, die Ernte, der Frühling und Sommer, das ganze deutſche Leben.
Und ſpäter ſaßeſt du auf deiner Scholle in Schleſien, wo vor den kleinen Fenſtern die rote
Sonne des Morgens und Abends brannte, wo die Luft rauh, das Dorf arm, Tiſche und Stühle
aus feſtem Holz waren; dein Pferdeſtall wärmte, deine Frau mit dem Jungen, deſſen Bruſt
ſo breit, wie ich ſie noch ſelten geſehen, lachte froh und die Geige klang wieder, wenn die Freunde
beiſammen ſaßen und wir Luckner erwarteten.
Dein Korn wurde noch auf alte Art gedroſchen. Die Pferde zogen den Göpel und ſetzten die
Maſchine in Bewegung. Es war oft etwas nicht in Ordnung, oft blickte dein Kopf aus der im
Oreſchſtaub verſchwimmenden Scheunentuͤr, um „weiter“ zu rufen, und das iſt mein letzter
Eindruck.
Groß, mit breiter Bruſt und feſtem Rücken, mit einer ſcharfen Naſe und braunen, klugen
Augen, die ausgeprägten Falten zwiſchen den Brauen, mit dunklem Haar und der ganzen
Gutmütigkeit deiner Perſon und Hände, die mich ein letztes Mal über Land fuhren im Schnee,
ſtehſt du vor mir. Wie gern würd’ ich dir noch einmal die Schneeſchuhriemen feſter ziehen!
Nun iſt das Lied aus. Aber das weiß ich:
Wenn die Jugend, die künftige und die fernſte, zu neuen Fahrten in neuer Hoffnung aus-
zieht und fie fingen an deinem Grab vorbei, dann wirft du, wo du nun auch fein magſt, ihnen zu-
nicken und wieder mit ihnen ziehen als Lied — als Ton einer Geige.
Sandro Langsdorff
Shakeſpeares Krankheit und Tod
on Shakeſpeare wiſſen wir nur mit Beſtimmtheit, daß er in Stratford zur Welt kam,
heiratete, Kinder hatte, nach London ging, dort Schauſpieler wurde, Gedichte und
Dramen ſchrieb, nach Stratford zuruͤckkehrte, ſein Teſtament machte, ſtarb und begraben wurde.“
Der bekannte Satz des alten Stee vens, ebenſo inhalts voll wie „biographiſch“ troſtlos, befteht im
Licht der modernen Shakeſpeareforſchung nicht mehr zu Recht, während er mit Vorliebe noch
immer von Baconianern und ähnlichen Gelehrten ins Treffen geführt wird. Das Leben eines
ſolchen Genies könnte doch unmoglich von den Zeitgenoſſen fo ganz unbeachtet geblieben fein.
Nun — von dem Schwan vom Avon ſprechen zahlreiche zeitgenödſſiſche Zeugniſſe, und über fein
Leben iſt dank ſeiner alten Biographen weit mehr überliefert, als wir von andern berühmten
Eliſabethaniſchen Dramatikern, beiſpielsweiſe von „rare Ben Jonson“ und „mighty Marlowe“
wiſſen. Völlig unberechtigt werden biographiſche Angaben als unwahrſcheinlich oder phantaſtiſch
verworfen. Warum ſollte er nicht feinem verarmten Vater als Burſche im Schlächterhandwerk
geholfen haben? Warum ſollte nicht einmal ein Rehbock von ihm ſtibitzt fein, da man auf wohl
Ehaeipearcs Krankheit und Lod 147
feilere Art eine darbende Familie und einen eigenen jungen, hungernden Magen mit faftigem
Braten nicht zu verſehen vermag? Der kleine Jagdfrevel, — meint Gervinus —, dürfte ſchwer⸗
lid feine ſchlimmſte Sünde geweſen fein; denn große Genies pflegen in Sturm- und Prang-
perioden die Grenzen von Sitte und Geſetz nicht gar peinlich zu beobachten.
Shakefpeare ftarb erſt 1616, und fein letztes Stück wurde ſchon 1613 oder 1611 gefchrieben.
dieſes Verhalten nennen die Shatefpeare-Leugner geradezu — rätfelhaft, —babei ſtarb Bacon
erft 1626 —, während ernſte Forſcher vorerwähnten Umjtand aus „pſychologiſchen“ Gründen
im allgemeinen ſehr erklärlich finden. Nach dem Brand des Globetheaters, der Hauptſtätte
ſeiner Wirkſamkeit, und dem Verluſt wertvoller Manufkripte hätte ſich der ſteinreiche Poet nach
dem Vorbild feines Montaigne zu beſchaulicher Muße in das heimiſche Stratford zurückgezogen.
die Erklärung ſcheint nicht überzeugend. Schwer begreiflich, daß ein Hirn von ſchier göttlicher
Stoͤße plötzlich ganz aufs Schaffen verzichten ſollte, wenn die Maſchine noch tadellos arbeitet.
der moderne Arzt, der über „Arterioſkleroſe“ genau Beſcheid weiß, kann in dieſem Fall dem
giſtoriker wertvolle Unterſtützung leiſten. Da uns genaue ärztliche Berichte über Shakeſpeares
krankheit nicht überliefert find, fo wird ſich die Diagnoſe aufbauen müſſen — auf Lebens-
führung im allgemeinen, auf Leidens verlauf und dem einzigen zu unſrer Kenntnis gebrachten
feantheitsſymptom, nämlich — Fieber. Das gibt wahrlich nur ein armſeliges Fundament, aus
techt luftigem Stoff gewebt, aber — wir hoffen, die Unterlage durch eine neuerdings berbei-
geholte „ſtoffliche“ Stütze, auf die wir fpdter zu ſprechen kommen werden, um ein bedeutendes
zu ſtarken.
der Arzt geht von vornherein in ganz andrer Weiſe an den Gegenſtand heran, als es der
Hiſtoriker bisher tat. Statt hier ein vermeintliches Rätfel ldfen zu wollen, — als ſolches erachtete
es auch unſer Bismarck —, ſieht der Arzt in dieſem „ominödſen“ Schweigen ein Zeichen, das ihm
zu einer Diagnofe verhilft. Auch Nicht- Arzte fanden vereinzelt früher ſchon inftinttiv die rechte
Spur. Go bemerkt Gervinus, der Charakter und Leben des Poeten durch das Studium feiner
Werke zu entſchleiern trachtete, ganz kurz: „Er ſcheint lange Zeit krank geweſen zu fein.“
Wir wiffen von dem Didter, daß er einem Glaͤschen nicht abhold war. Faſt will es ſcheinen,
als ob ihm des dicken Ritters anheimelnde Worte „Soll ich in meiner Kneipe nicht meine Ruhe
haben? aus eigener Seele geſprochen ſeien. Allerdings halte ich die von einigen auf Grund
zeitgenöſſiſcher Briefnotiz aufgeſtellte Annahme, daß Shakeſpeare den Spitznamen „Falſtaff“
getragen habe, für verfehlt. Aber wir wiſſen, daß Shakeſpeare ein fleißiger Gaſt in gewiſſen
Stammlokalen, dem „Eberskopf“ und der „Seemaid“ war. Das Potatorium, wie wir es heute
nennen, war in der engliſchen „Geſellſchaft“ noch bis zu den Tagen Pitts, ja Byrons in höchſtem
Schwunge. Peele, Greene und andre Poeten gingen frühzeitig am Trunk zugrunde; Marlowe
wurde von feinem Rivalen in einer Taverne erſtochen. (Nach neuentdeckten Dokumenten von
einem Gentlemann im Zwiſt um die Zahlung der Zeche.) Erſt unter Jakob I. begann man in
England die Benutzung der Gabel. Sicher hat das unkultivierte Hineinſchieben der Biſſen in
den Mund bewirkt, daß man damals in höherem Grade der Völlerei huldigte, als in der „fanf-
teren“ Folgezeit. Wenn man von jeder wohlhabenden Perſon des Shakeſpeareſchen Zeitalters
ſchlechtweg annimmt, daß ſie, ſo lange ihr Magen geſund war, zu viel Eiweiß verſpeiſte, dürfte
man in feiner Annahme nicht fehl gehen. Ein berühmter moderner engliſcher Arzt, der die Ur-
face der „Arterioſkleroſe“ feſtſtellt, erinnert dabei an das Sprüchwort feines Landes: „The
platter kills more than the sword.“ „Die große Schüſſel würgt mehr, denn das Schwert.“
Dazu kam die immer mehr zunehmende „Unfitte“ des Rauchens, gegen das Rönig Jakob eine
Abhandlung ſchrieb. Seine Untertanen ſollten doch nicht ihren Mund zum Schornſtein machen.
Wie zeitgenöſſiſche Bilder ergeben, glich die Taverne damals einem Tabakskollegium, ... nur
ſtatt leichten Holländers — der von Ben Zonfon mehrfach zitierte echte Virginia. Raum anzu-
nehmen, daß William ohne Pfeife in feiner Rneipe geſeſſen hat; darum zeigt ihn Pilotys be-
rühmtes Bild als Raucher. Auch ſonſt iſt Shakeſpeare nicht gerade ein Budmäufer geweſen.
148 Ehalefpeares Rrantheit und Tod
Aus den Sonetten erkennen wir, daß er ſich mannhaft aus dem Sumpf, der ihn zu verſchlingen
drohte, herauszuarbeiten ſuchte. Als charakteriſtiſches Beiſpiel Dafür diene Sonett 129:
Om Geiſt verſchwendet man in [chnöder Schande,
Den Sinnen fröhnend; dieſe Luſtbegier
Kennt, unbefriedigt, keine heil'ge Bande,
> Falſch, grauſam, mörderifch wie ein reißend Tier.
Ein — Teufelsköder ! Wenn man ihn verſchlungen,
Fühlt jäh von Tobſucht fi das Hirn erfaßt.
Verachtet wird — was eben froh errungen,
Mit gleichem Un verſtand begehrt, — gehaßt.
Wahnſinn bringt der Beſitz, Wahnſinn das Streben;
Des Blutes Sehnen bleibt ſtets ungeſtillt.
Erhaſcht, — erquickt's, um — wildes Weh zu geben.
Statt holder Wirklichkeit — ein Traumgebild.
Das weiß die Welt, doch — wer kann widerſtehen? —
Der — Himmel lockt, zur — Hölle mußt du gehen. — —
(Eigene Abertragung)
Sa, die damalige Zeit war ſehr unhygieniſch. Auch die Könige, deren Lebensfaden nicht
gewaltſam riß, ſtarben im allgemeinen verhältnismäßig jung. Mit Wahrſcheinlichkeit wäre in
Shakeſpeares Anamneſe zu notieren: „Bezüglich Alkohol und Speiſe nicht ſparſam; Raucher
echten Tabaks; zeitweilig Ausſchweifungen; angeſtrengte geiſtige Arbeit als Schauſpieler,
Theaterdirektor und ⸗Oramatiker !!“ Wenn ſich bei einem ſolchen Leben heutzutage im Alter
von 49 Jahren arterioſklerotiſche Erſcheinungen zeigten, ein moderner Mediziner würde das nicht
„rätfelhaft“ finden. Eine genaue Diagnofe war nicht die Sache der damaligen Arzte. Wir ver-
muten, daß ſich bei dem Dichter Anno 1612 die erſten Beſchwerden einſtellten. Patient fühlte
ſich oft müde, litt gelegentlich — beſonders bei Erregung — an Kopfſchmerz und Schwindel,
bemerkte eine Abnahme ſeiner geiſtigen Leiſtungsfähigkeit. Wenn auch die Arzte kein beſonderes
Leiden fuͤr vorliegend erachteten, ſo mag Shakeſpeare, der es ſich leiſten konnte, jetzt doch den
Ruheſtand vorgezogen haben. Shakeſpeare und — Medizin! — Auch darüber find Bücher ge-
ſchrieben. Vielleicht wußte der Mann, der Mutter Natur den Spiegel vorhielt, die Bedeutung
feiner Krankheitszeichen beſſer zu beurteilen, als die damaligen Mediziner. Die meiſten Forſcher
nehmen an, daß der Dichter im „Sturm“ Abſchied von Bühne und Publikum genommen hat.
Es bleibt dabei wirklich gleichgiltig, ob dieſes Stück fein letztes geweſen ift, hat er doch oft feinen
Dramen ſpãter noch beträchtliche Zufäße gegeben. Proſperos Worte „Ich breche meinen Zauber
ſtab und vergrabe ihn Klaftertief“ u. a. m. deutet man im Sinne des Lebewohls. Wenn der
Poet ſich in dieſen Außerungen mit Proſpero identifizierte, mag er auch noch in Sätzen, die ſich
auf die körperliche Konſtitution des alten Magikers beziehen, an feine eigne Perſon gedacht
haben. Die Gründe für feinen Eintritt in den Ruheſtand würden dadurch herrlich motiviert:
Oer Ärger über Calibans Verſchwörung regt den Alten „ganz ungewöhnlich“ auf, und dabei
miſchen ſich plötzlich auf ſeltſame Art trübfelige Empfindungen mit dem — Zorn. Die Schwäche
feiner Ronftitution fühlend, wird er — ſchwermütig. Todesahnungen tauchen in ihm auf. „Um-
faßt von Schlaf iſt unſer kurzes Leben. The great globe shall dissolve, der große Erdball (Doppel-
ſinn = das große Globe Theater) muß in Nichts zergehen, wie wir ſelbſt, die wir aus Träumen
gemacht ſind.“ Er fährt fort: „Geduld mit mir! Mein alter Kopf iſt ſchwindlig. Seid wegen
meiner Schwachheit nicht beſorgt!“
Alter Kopf? In den Sonetten findet ſich Shakeſpeare bereits in der Blüte feiner Mannes
jahre alt, und — Arterioſkleroſe ſchafft zweifellos ein frühzeitiges Greiſenalter.
Ganz dem Landleben hingegeben, lebte er bis Ende 1615 in erträglichem Zuſtand. Zu dieſer
Zeit aber begann er nach biographiſcher Angabe zu — kränkeln, was wohl bedeuten ſoll, daß
Ehalefpeares Krankheit und Tod 149
die bedrohlicheren Symptome der chroniſchen Krankheit einſetzten. Er machte fein — Teſtament.
(Das uns erhaltene Teſtament trägt drei Unterſchriften, die ſamt drei andern als authentiſch
gelten. Alle ſtammen aus den Jahren 1612— 1616. Nach Gutachten von Graphologen u. a.
iſt die Schrift pathologiſch infolge Schreibkrampfs oder Alkohol Tremors. Der graphologiſche
Befund beſtätigt unſre Hypotheſe, daß Shakeſpeare jahrelang an chroniſcher Krankheit litt.)
Die Worte darin „Bei guter Geſundheit uſw.“ ftellen eine Formel dar, die ſpäteren Einfprüchen
vorbeugen will und es mit der Wahrheit nicht ſo genau nimmt. Aus der Natur der Arterioſkleroſe
lagt ſich ſchließen, daß der Patient an Herzſtörungen litt, die wir heute für ſehr ernft halten
würden. Ein rationelles Leben hat der Patient dabei nicht geführt, und es wird ein ewiges
Geheimnis bleiben, ob die ärztliche Vorſchrift fehlte oder übertreten wurde. Nach Bericht des
Seiftliden Johann Ward und anderer Überlieferung trat die Rrantheit nach einer — unmäßigen
Crnterei in ein gefährliches Stadium. „Er ward danach von einem Fieber ergriffen.“ Die
moderne Forſchung will nicht an dieſe Trinkerei glauben, weil Ähnliches von andern zeitge-
nöſſſchen Dichtern erzählt wird, und weil — Alkohol kein Fieber erzeugen könnte. Halliwell
nimmt darum an, daß es ſich um ein miasmatiſches Fieber, infolge einer langen Reihe von
Schweineſtällen bei New Place, gehandelt habe. Aber der Mediziner kann nicht zugeben, daß
bem Geiſtlichen die Glaubwürdigkeit abgeſprochen wird. Wie leicht kann ſich ein Betrunkener
Lungenentzündung zuziehn, fei es durch Erkältung oder Einatmung eines Fremdkörpers, letzteres
ein beim Vomitus nicht ſeltener Vorgang. Und bei Arterioſkleroſe kann es danach noch eher zum
Fieber kommen. Das von Alkohol gepeitſchte Herz reißt Blutgerinſel von verkalkten Gefäß-
wänden, und das führt zu den ſogenannten emboliſchen Entzündungen, vorzüglich der Lunge.
Das arterioſklerotiſche Herz kann ſchließlich durch Alkoholvergiftung fo gefhwächt werden, daß in
gautgewebe und Rörperhöhlen Flüͤſſigkeit tritt. das Odem wird im Geſicht weit mächtiger, wenn
fid noch eine Nierenentzündung, — Urfache ebenfalls Alkohol und Arterioſkleroſe, — den übrigen
Schäden geſellt. Letztere Betrachtung wird ſpäter einen hohen „praktiſchen“ Wert gewinnen.
‚grühlingsbeginn“ war es, als nach der Zecherei mit Ben Zonfon und Michael Orayton
bes Fieber auftrat. Erſt jetzt entſchloß fi Shatefpeare, das im Januar fertiggeſtellte Teſtament
zu unterſchreiben. Das ſpricht doch für die „chroniſche“ Natur des Leidens. Unſrer un vergleich
licher Humoriſt war gewiß ein chroniſch ſchwerkranker Optimiſt, der noch gar nicht ans Sterben
dachte, wie ſchlecht er ſich auch einſchätzte. Exitus — 23ten April. Frühlingsanfang in dem von
Golfwinden überwehten Stratford Mitte März angenommen, dauerte die Fieber-Romplitation
zirka A—5 Wochen. Eine zeitgendſſiſche Außerung, nach der man den Tod des Oichters nicht
oo bald“ erwartet hatte, kann in verſchiedenem Sinn gedeutet werden, fo daß fie nicht zu unſrer
Erleuchtung beiträgt. Die vermutete Diagnofe „Arterioſkleroſe“ fügt fich reſtlos in den Rahmen
der Überlieferungen.
Aber noch etwas Realeres, als nur Überlieferungen zur Erhärtung einer ärztlichen Hypotheſe,
die — Totenmaske des Dichters! Nicht die „angebliche“ im Mainzer Troͤdelladen aufgefundene
Keſſelſtädter, ſondern die unzweifelhaft echte, ſoweit fie noch aus den Zügen des 1623 aufge-
ſtellten Srabmonuments erkennbar wird. Meſſungen von Bildhauern haben ergeben, daß der
hollandiſche Steinmetz Zohnfon den Kopf auf dieſe Art hergeftellt hat, aber auf — ſehr plumpe
BWeife. Ein rundes Geſicht, kleine geiſtloſe Augen, kaum eine Ahnlichkeit mit dem von Ben
gonſon beglaubigten Stich der Folio, in dem der Meiſter ſiegreich mit der Natur gerungen hat.
Haß ſich die Büfte einer beſonderen Sympathie der Zeitgenoſſen erfreut hätte, iſt unwahr-
ſcheinlich. An vier Stellen finde ich ſie erwähnt, aber nur — negativ. Der Verfaſſer der
darunter ſtehenden Inſchrift, gewiß ein Londoner Freund, iſt der Anſicht, daß — Shate-
ſpeares Name ein beſſerer Grabſchmuck fei, als „cost“, was „Pomp“ bedeutet, wobei man
vielleicht gleichzeitig an „Koſten“ denkt, die fic in dieſem Fall nicht gelohnt zu haben ſcheinen.
L. Digges fpricht in der Folio von jener Zeit, in der das Monument — nicht mehr beſteht,
während Name und Werk des Oichters unſterblich geblieben find. Und von Ben Zonfon be-
150 Die Sterne, Goethe uud wit
reits früher „felbft ein Monument“ genannt, bedarf Shakeſpe are nach Miltons erhabenen
Worten nicht ſolch einer ſteinernen Schöpfung.
Die unbegreifliche Ungleichheit der beiden einzigen „authentiſchen“ Shakeſpe are porträts
erwies fic ſeit Generationen für die Kritik als peinlich harte Nuß. Die Keſſelſtädter Totenmaske
trägt magere edle, durchgeiſtigte Züge. Die fie für echt halten, nehmen darum an, eine Hypo-
theſe auf die andre pflanzend, daß unter Zugrundelegung ihres „Originals“ die durch Rrant-
heit abgemagerten Züge abſichtlich vom Steinmetz voller geſtaltet feien. Er hätte alſo aus einem
edlen, ſchönen, dem Original ähnlichem Antlitz ein unſchönes, unähnliches in woblüberlegter
Abſicht gemacht? Als ob ein krankes Geſicht immer mager fein müßte? Unſre obigen ärztlichen
Schlußfolgerungen führten zu dem gerade entgegengeſetzten Reſultat. Wie, wenn es ſich hier
um ein etwas Sdematdjes Geſicht gehandelt hätte, in dem „notgedrungen“ Ausgleichs verſuche
gemacht werden mußten? Es iſt unwahrſcheinlich, daß ein mageres ebenmäßig ſchönes Geſicht
in fo unähnliche Form „verbeſſert“ wurde, dagegen ſteht zu vermuten, das eine unzulängliche
Kunſt nicht imſtande war, verſchwollene Augenlider und Wangen zur Normalität zurückzu-
führen. Ein großer amerikaniſcher Bildhauer „Story“ unterzog das Geſicht der Büfte genauen
Meſſungen. Muskelzerrungen, unzweifelhafte Folgen von Leichenſtarre wurden feſtgeſtellt.
Es fanden ſich aber auch noch andre Unregelmäßigkeiten. Unter dieſen ſcheint mir die eine be-
ſonders erwähnenswert: „The depth from the eye to the ear was extraordinary.“ Eine große
Breite zwiſchen Auge und Ohr legt die Vermutung nahe, daß der Steinmetz, ſtatt die Schwel
lungen unter dem Auge abzutragen, das Auge weiter nach vorn gelegt hat. Einem Meiſter,
der verſchwollene Augen klein gelaffen hat, wären fo falſchgerichtete Harmonie beſtrebungen
wohl zuzutraun.
Mit einem Stein, den auszugraben, Kraftverſchwendung erſchien, füllt die Forſchung bis-
weilen eine ſchmerzhaft empfundene Lücke ihres ſtolzen Gebäudes. Welchen Nutzen könnte die
Unterhaltung über Krankheit und Tod Shakeſpeare bringen? Sie mag verſtändlicher machen,
warum ſolch ein großer Geiſt jahrelang geſchwiegen hat, und fie mag für Entſcheidungen
über Echtheit von Shakeſpearebildern von entſcheidender Bedeutung werden.
3 | Dr. A. Guthmann
Die Sterne, Goethe und wir
iele, die nach dem erſten erhebenden Eindruck, den ihnen vielleicht eine Winterwanderung
unter dem fternbefäten Firmament vom Wunderbau der Welt vermittelt hat, einer
Sternwarte einen Beſuch abſtatten, fühlen ſich durch die Fille von Run ſtaus drücken über;
wältigt, mit denen fie vielleicht dort von den Aſtron omen überjhüttet werden. Dieſer Gefahr,
feine aſtronomiſchen Intereſſen durch wiſſenſchaftlichen Ball aſt in ihrer Schwungkraft felbjt
bis zum Er lahmen beſchwert zu ſehen, entgeht wohl in der erſten Zeit feiner Studien kein
Sternfreund.
And dennoch ſollte er ſich nicht durch dieſes Vielerlei von Dingen, die doch letzten Endes den
Fach aſtron omen angehen, abſchrecken laſſen. Ihn zieht ja wohl in den meiſten Fällen weniger
der eigentlich naturwiſſenſchaftlich eingeſtellte Forſcherdrang zu den Geſtirnen als vielmehr
das gefühlsmäßig betonte Streben, dem Unendlichen näher zu kommen.
Wenn man die Rolle der Aſtronomie berüdfichtigt, die fie im Leben deutſcher Geiſtesgroͤßen
geſpielt hat, beſonders inſoweit ſie literariſch Verwertung gefunden hat, ſo findet man die
anziehendſten Beiſpiele von weitgehendem Intereſſe unzweifelhaft in Goethes allgemein be-
kannten Dichtwerken, im befonderen in feinen Briefen. Vieles haben uns Eckermann und von
Müller auch aus Geſprächen überliefert.
Goethe hat fic über feine Einftellung zur Aftronomie Eckermann gegenüber in folgender Weiſe
die Sterne, Goethe und wie 151
geäußert: „Ich habe mich ... in den Naturwiſſenſchaften ziemlich nach allen Seiten hin verfucht;
jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf ſolche Gegenſtände, die mich irdiſch umgaben,
und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn
auch nie mit Aſtronomie beſchäftigt habe, weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen,
ſondern weil man hier ſchon zu Inſtrumenten, Berechnungen und Mechanik feine Zuflucht
nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.“
Diefe Außerung zeigt das feine Empfinden Goethes für die nüchterne Einſtellung des Forſchers
einerfeits und die genie ßende des Naturfreundes andrerſeits. Als Sternfreund im befonderen
hat Goethe nicht nur ſelbſt viele gimmelserſcheinungen beobachtet fondern auch andere zu
ihrer Verfolgung angeregt. So bittet er ſich beiſpielsweiſe von Profeſſor Schroͤn, dem damaligen
Direktor der Zenaifchen Sternwarte, eine Zuſammenſtellung von Notizen über den Halle y-
iden Rometen aus, der 1855 wiederkehrte, um dieſe Unterlagen dann auch Eckermann weiter
qu geben, „damit er in ſolchen Dingen nicht ganz fremd fein mochte“. Später veranlaßt ihn
einmal die Bedeckung des Hauptſternes des Stieres, Aldebaran, durch den Mond, die
ihn ſehr feierlich ſtimmt (wie uns von Müller berichtet), zu einer ſchönen Bemerkung über den
Wert der Astronomie. Bei einer Zuſammenkunft des Mondes mit der Venus macht er von
Miller beſonders darauf aufmerkſam und ſpricht dann „lange über den hohen Wert der Altro-
nomie“, worüber uns leider nichts erhalten geblieben iſt.
Ei beſonders ſchöͤnes Beiſpiel von dem tiefen Eindruck, den eine auffallende Ronftel-
lation auf Goethes empfanglides Gemüt zu machen imſtande war, gewinnen wir aus einem
Gefprdd, das Eckermann in Dornburg mit Goethe führen durfte. Goethe lobte die prächtige
Lage des Schloſſes und der Gärten, ſowie den herrlichen Blick, den man nach Oſten hin genießen
konnte. Eckermann hatte zugleich das Gefühl: „Es ſei dieſer Stand am Tage der Beobachtung
vorbeiziehender und ſich im weiten verziehender Regenſchauer, ſowie bei Nacht der Betrachtung
des öſtlichen Sternen heeres und der aufgehenden Sonne beſonders günjtig.“
„ch verlebe hier,“ ſagte Goethe, „jo gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich
wach und liege im offenen Fenſter, um mich an der Pracht der jetzt zuſammenſte henden
drei Planeten zu weiden und an dem wachſenden Glanz der Morgenröte zu erquiden.“
Die Planeten, um die es ſich handelt, hat Goethe nicht genannt. Da mich dieſe Frage inter-
effierte, habe ich ſchon als Student die Ronftellationen nachgerechnet und gefunden, daß die
bisherigen Annahmen ſowohl über die Planeten als über die Jahreszeit nicht zutrafen. Erſt von
Freitag, den 8. Auguſt 1828 an darf man von der Sichtbarkeit dreier Planeten am Morgen-
himmel ſprechen, ja fogar der Mond ſtand am genannten Tage oberhalb der Venus und dann
über ihm Merkur und Saturn. Ungefähr eine Woche lang waren die drei Wandelſterne
zwiſchen den Bildern der Zwillinge und des Rrebfes gut zu beobachten, worauf ſich dann der
Merkur aus dem Verein entfernte.
Anregungen zur Bewunderung des Sternhimmels finden wir bei Goethe vielfach in ſeinen
Briefen an Frau von Stein. Jm Fabre 1777 trieb er in dieſem Sinne geradezu einen Mond-
kultus: „Ich ſagte: ich hab einen Wunſch auf den Vollmond! Nun Liebſte, tret ich vor die
Tir hinaus, da liegt der Brocken in hohem, herrlichen Mondſchein über den Fichten vor mir.“
1779: „Heut abend hofft ich bei Ihnen zu fein, der Mond ſcheint recht ſchön und hätte mich
gut bis in Ihre Berge gebracht.“ Weiter aus Seeſenheim: „Sie führte mich in jede Laube, und
da mußt ich ſitzen und fo war's gut. Wir hatten den ſchöͤn ſten Vollmond.“ Und weiter an Frau
von Stein: „Dann aß ich wieder bei Lili und ging in ſchönem Mondſchein weg... Weiter 1780
an dieſelbe: „Oer Mond iſt unendlich ſchön. Zch bin durch die neuen Wege gelaufen, da fieht
die Nacht himmlich drein. Die Elfen fangen .. .“
Daß felbftverftändlih die Venus ſowohl als Morgen- wie als Abendſtern in ihrer unver-
gleichlichen Pracht für den Dichter eine große Rolle ſpielte, bedarf kaum der Begründung. So
peeift er den Morgenſtern in feinen Epigrammen:
152 Die Sterne, Goethe und wir
„In der Dämmrung des Morgens den höchſten Gipfel erklimmend,
Frühe den Boten des Tags grüßend, dich, freundlichen Stern!
Ungeduldig die Blicke der Himmelsfürſtin erwartend,
Wonne des Zünglings, wie oft lockte ſt du nachts mich heraus!“
In einem Brief an den Herzog am Heiligabend 1775 erklärt Goethe ſogar, daß er ſich den
herrlichen Morgenſtern von nun an zum Wappen nähme.
Unter den übrigen Planeten hat Goethe wohl den Jupiter gelegentlich mit feinen vier hellen
Monden im Fernrohr geſehen; wir finden dieſen Sternwartenbeſuch aber nur einmal indirelt
in „Wilhelm Meiſter“ verwertet. Stimmungsmäßig hat ihn der Mars mehr angezogen, über
den er wiederum an Frau von Stein in einem Brief aus Ilmenau 1781 ſchreibt: „Jeden Abend
grüß ich das rötliche Geſtirn des Mars, das über die Fichtenberge vor meinem Fenſter
aufgeht, es muß hier über deinem Garten ſtehen und bald ſeh' ich's mit dir an einem
Fenſter.“
Goethe beſchränkte ſich jedoch durchaus nicht darauf, bei einer oberflächlichen Betrachtung
der Sterne ſtehen zu bleiben, ſondern ſuchte ihr tieferes Weſen und Wirken zu erkennen.
Den ganzen Umfang der Schöpfung wollte er ergründen, der Weltſeele näherkommen. Go
wandert er im Geiſte mit den Rometen durch die Unendlichkeit:
„Schon ſchwebet ihr, in ungemeſſnen Fernen,
Der Sel' gen Göttertraum
Und leuchtet neu, geſellig, unter Sternen
Im lichtbeſäten Raum.
Dann treibt ihr euch, gewaltige Rometen,
Ins Weit’ und Weitr’ hinan.
Das Labyrinth der Sonnen und Planeten
Ourchſchneidet eure Bahn.“
Der Goetheſchen Weltauffaſſung will die Gottes vorſtellung nicht zuſagen, daß eine über-
perfönlihe Macht hier nur von außen ſtieße — „ihm ziemt's, die Welt im Inneren zu bewegen.“
Daher finden wir auch bei Goethe lebhaftes Intereſſe für die Sterneinflüffe auf die menſch-
liche Seele, denen er in ſeinen Orphiſchen Urworten Ausdruck verliehen hat. Wir entſinnen
uns, wie er an die Spitze ſeiner eigenen Lebensbeſchreibung eine eingehende Schilderung der
Planeten konſtellationen bei feiner Geburt ſtellt, bei der man ihm geradezu die hohe Genugtuung
abfühlt, daß er für ſich die königliche Stellung des Tagesgeſtirnes in der Himmelsmitte in An-
ſpruch nehmen darf. Mit lebhaften Intereffe verfolgt er auch das Aſtrologiſche in Schillers
„Wallenſtein“. Gelegentlich eines Beſuches in Jena macht er beſonders auf den Raum aufmerk-
ſam, in dem Schiller dieſen Abſchnitt des Wallenſtein ausgearbeitet haben ſoll: „Sie wiſſen
wohl kaum,“ fagt er zu Eckermann, „an welcher merkwürdigen Stelle Sie ſich befinden“
Ich (Eckermann) ging darauf mit Schrön in die Manſarde und genoß an Schillers Fenſtern die
herrlichſte Ausſicht. Die Richtung war ganz nach Süden ... auch hatte man einen weiten hori-
zont. Der Aufgang und Untergang der Planeten war von hier aus herrlich zu beobachten, und
man mußte ſich fagen, daß dies Lokal durchaus günftig fei, um das n und Atro-
logiſche im Wallenſtein zu dichten.“
Die hier berührte Frage der Sterneinflüſſe wird gerade in der Gegenwart häufig berührt,
und wir müjjen dabei vor allem Goethes Warnung beherzigen, die er in einer paraboliſchen
Außerung jenem Philiſter zuruft, der in Furcht gerät, weil ein drohender Komet ſchein bar
gerade über feinem eigenen Haufe ſteht. Die Parabel liegt darin, ſich jederzeit zu vergegen-
wärtigen, wer denn durch etwaige Sterneinfluͤſſe überhaupt getroffen werden könnte.
Das Problem hat auch manchen anderen Dichter gereizt.
die Steme, Goethe und wie f 153
Conrad Ferdinand Meyer befaßt ſich mit dieſer Frage in dem Gedicht „Huttens letzte Tage“:
„Ihr lieben Sterne, tröftlich allezeit,
Wer dächte, daß ihr arge Zwingherrn ſeid?
Ihr feid’s, als ſich die Erde mir erhellt,
Ward mir ein widrig Horoftop geſtellt.“
Er führt den Gedanken aus, um ſchlie ßlich zu dem Schluß zu gelangen:
„Und deine Sünden auch beginnſt du frei!“
Shakeſpeare kommt dieſer Frage wiederholt näher und läßt im „Lear“ Edmund fagen: „Das
if eine ausbündige Narrheit der Welt: daß wir, wenn unſer Glück unpäßlich iſt — oft durch eine
ſelbſt zugezogene Überladung — die Schuld unferes Unglücks auf Sonne, Mond und Sterne
ſchieben; als wenn wir Schurken wären durch Notwendigkeit, Schalke, Diebe und Verräter
durch die Gewalt der Sphären
zm vierten Akt vertritt dagegen Kent den abweichenden Standpunkt:
„Die Sterne ſind's,
Oie Sterne oben, die das Schickſal lenken;
Sonſt hätt’ ein Gatten paar wohl nie erzeugt
So unterſchiedne Kinder.. —
Bie Schiller darüber denkt, iſt mit wenig Worten im Prolog zum Wallenſtein mit dem Hin-
weis zum Ausdruck gebracht:
„Und wälzt die größre Hälfte feiner Schuld
Den unglüdfeligen Geſtirnen zu.“
Vir können an diefer Stelle nicht die zahlreichen Außerungen hervorragender Oichter Aber
dieſe Frage anführen, etwa die Calderons, in dem Drama „Das Leben ein Traum“ oder
die von Horaz über das Zuſammenſtimmen feiner und des Mäcenas’ Geſtirne .. Goethe hat
aich hier in feiner umfaſſenden Genialität eine Formel gefunden, wie fie knapper und eindrucks ;
voller kaum gedacht werden kann. Jene Orphiſchen Urworte:
„Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne ſtand zum Gruße der Planeten,
Biſt alſobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Geſetz, wonach du angetreten.
So mußt du ſein, dir kannſt du nicht entfliehen!
So ſagten ſchon Sibyllen, ſo Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerftüdelt
Geprägte Form, die lebend ſich entwickelt.“
Goethe ſcheint eine Reihe eigenartiger Beweiſe für die Leiſtungsfähigkeit der Sterndeute-
kunſt erlebt zu haben, daß er ſich in fo unerwartet pofitiver Weiſe zu dieſer in unſeren Tagen
mühſam um Anerkennung ringenden, im beſten Falle werdenden Wiſſenſchaft äußert.
Venn man ſich vergegenwärtigt, wie es dem an derartige Dinge nicht gewohnten Menſchen
zumute fein muß, dem etwa bei Beginn einer ſchweren Krankheit geſagt wird, daß ein Geburts-
gebieter das Todeshaus betritt, und daß die Sonne ſeines Lebens einen ſchweren Angriff durch
emen Unglücks planeten erleidet, dann kann man nur der Auffaſſung beitreten, daß man derartig
hetabſtimmende Eindrücke von einem Patienten möglichft fernhalten ſollte.
Gerade die Aſtronomie iſt wie keine andere Wiſſenſchaft berufen, dieſer Furcht vor den
Sternen ihren Grund zu rauben. Fit fie doch imſtande, über Jahrtauſende hinweg den Lauf
der Geſtirne mit einer Genauigkeit zu berechnen, die uns hohe Bewunderung abnötigen muß.
Auch wer den Mechanismus des Himmels nicht näher kennt, fühlt ſich ſeinen großen Geſetzen
näher, wenn er, auch in gedrüdter Stimmung ins Freie, unter den großen Sternendom tritt.
154 Die Sterne. Goethe und wir
„Unter dem Sternenhimmel nur einen freien Atemzug! — Mein Herz iſt ſo voll“ — läßt
Goethe den Wilhelm in den „Geſchwiſtern“ ausrufen. Den edelften Ausdruck für dieſe erhebende
Stimmung hat Goethe gewiß in dem „Lied an den Mond“ gefunden, das er einige Wochen
nach einem kosmiſch betonten Erlebnis ſchrieb, das ihm die magiſche Gewalt der aus einem
Gewäffer widerſtrahlenden Sterne bei dem Selbſtmord des Fräulein von Laßberg vor die Seele
rüdte. Wir erinnern an jene wundervollen Verſe:
„Zülleft wieder Buſch und Tal
Still mit Nebelglang,
Fülleft endlich auch einmal
Meine Seele ganz.
Wenn wir nicht bei der Anſchauung des Sternhimmels allein ſtehen bleiben, ſondern auch
feine Geſetze näher erforſchen, dann vertieft ſich das Bewußtſein der Überlegenheit des
menſchlichen Geiſtes über die Sterneinflüffe immer mehr. Wenn wir ſchlie ßlich imſtande find,
den Lauf der Planeten für beliebige Zeiten anzugeben, dann erheben wir uns von dem Zeit-
behafteten in das Überzeitliche und kommen der Löfung jener großen Weltratfel näher, die für
unſer Wiſſen in Raum und Zeit als den Grundformen unſeres Erkennens gegeben ſind. So
führt uns die Uberwindung der Zeit in das Reich der Zdeen, die wir in verſchiedenen Formen
im zweiten Teil von Goethes „Fauſt“ kennen lernen. Dieſes Überzeitliche befreit uns auch von der
Furcht vor dem zeitlichen Abſchluß unſeres materiellen Daſeins. Die Sterneinfluͤſſe haben
dann die Form, die ſie prägen konnten, verloren. Das geiſtige Prinzip, von den unweſentlichen
Hüllen befreit, wie wir das auch im zweiten Teil des „Fauſt“ wiederholt im Symbol erfahren,
erhebt ſich in Sphären, die unſeren nüchternen, erdgebundenen Sinnen weltenfern liegen.
Und fo überkommt uns unter dem ſternbeſäten Firmament das Gefühl, daß es etwas Höheres
geben muß als das hier von uns geführte Dafein.
Solche Gedanken finden wir wiederholt auch von Zeitgenoſſen Goethes ausgeſprochen.
So beiſpielsweiſe von Wilhelm von Humboldt in ſeinen „Briefen an eine Freundin“. Er ſchreibt
1825: „Ich habe von meiner Zugend an ſehr viel auf die Sterne und das Beſchauen des ge-
ftirnten Himmels gehalten. Meine Frau teilte ... auch dieſe Neigung mit mir, und fo
habe ich mein ganzes Leben hindurch ... in ſternen hellen Nächten zugebracht.“ Und in einem
anderen Brief: „Ich könnte darum ſtundenlang mich nachts in den geſtirnten Himmel vertiefen,
weil mir dieſe Unendlichkeit fern her flammender Welten wie ein Band zwiſchen dieſem
und dem künftigen Pafein erſcheint. Ich hoffe, dieſe Freudigkeit der Todeserwartung ſoll
mir bleiben.“
Noch großartiger und pathetiſcher bringt Klopſtock dieſe erhabene kosmiſche Stimmung in
ſeiner Ode „An den Tod“ zum Ausdruck:
„O Anblick der Glanznacht, Sternheere, wie erhebt ihr!
Wie entzuͤckſt du, Anſchauung der herrlichen Welt!
Gott Schöpfer ! Wie erhaben biſt du, Gott Schöpfer!
Wie freut ſich des Emporſchauens zum Sternenheer,
Wer empfindet, wie gering er, und wer Gott,
Welch ein Staub er, und wer Gott, ſein Sott iſt!
O ſei dann, Gefühl der Entzuͤckung, wenn auch ich ſterbe, mit mir!“
Wenn die Beſchäftigung mit dem Sternhimmel in dieſem höchitem Sinne imſtande iſt, den
Menſchen von der ſchwerſten Furcht zu befreien, die ihn in feinem ganzen Leben überhaupt be-
fallen kann, fo leiſtet fie damit wohl das Hoͤchſte, was uns in geiſtigem Sinne geboten werden
kann. Es hieße Worte an der falſchen Stelle verſchwenden, wenn wir den Vert der Himmels
kunde im weiteſten Sinne hier noch irgendwie unterſtreichen wollten.
Oresden Weißer Hirfd. Dr. 9. 9. Kritzinger
Oyjene Halle
Die hier veröffentlichten, dem freien Melmmgsaustauſch dienenden Einfendungen
find unabhängig vom Standpuntte bes Herausgebers
Die Frage der Sternendeutung
ternendeutung? Narrheit, Irrtum, Wahn! Längft überwundener Standpunkt aus un-
wiſſender Vorzeit! So ungefähr lauten die Abweiſungen, die man im allgemeinen auch
bei den „gebildeten“ Gegenwartsmenſchen zu hören immer von neuem Gelegenheit hat. Ander;
kits aber ift die Müdigkeit, der Aberdruß, wie der Materialismus fie geſchaffen, fo überfließend
ind heftig, daß man — alles Nationalismus und feiner ſtarren Ketten ledig — wieder auf
die leiſeſten Wunder und Geheimniſſe der unerforſchlichen Natur zu lauſchen bemüht iſt.
& beſteht wohl kein Zweifel über Namen und Bedeutung der Aſtronomie und Aſtrologie.
Vaͤhrend Aſtronomie die Wiſſenſchaft von den ſicheren Geſetzen der Himmelskörper darbietet,
gibt die Aftrologie vielmehr die Weisheit von der Wirkung dieſer Himmelskörper auf die menſch⸗
lichen Schickſale. So wie Theologie lediglich „das Wiſſen um die Geſchichte der Religion“ iſt —
Lagarde hat es immer wieder nachdrücklich betont —, fo iſt dagegen Theoſophie (nicht in dem
ublichen dogmatiſch· okkultiſtiſchen Sinne gemeint!) einfach das Fuͤhlen und Begreifen von der
unmittelbaren Wirkung göttliher Macht und Gnade, ohne Gelehrſamkeit und Studium von
außen. Aftrologie alſo will darlegen, daß es Einflüffe von den Geſtirnen her gibt, die im ge-
wohnlichen Leben unbeachtet bleiben und die zu ergründen uns Pflicht und hohes Ziel bedeutet.
Der Aſtrolog Rarl Vogt in München fagt in dieſer Hinſicht einmal: „Im Univerſum ſteht alles,
vom Geringſten zum Höchiten, im innigſten Zuſammenhang, in ſteter Wechſelwirkung und
Beziehung. Die ganze Natur hängt an einer unſichtbaren Kette aneinander, und ſo wenig dem
forſchenden Geifte der innigſte Zuſammenhang aller Dinge der Erde entgehen kann, fo wenig
ber Einfluß der Sonne, des Mondes und der Sterne auf die Erde geleugnet wird und geleugnet
werden kann, ebenſowenig kann, wenn man tiefer in die Geheimniſſe der Schöpfung eindringt,
der Einfluß der Geſtirne auf die Bewohner der Erde bezweifelt werden.“
Nach dem Warum dieſer Kraft zu fragen, verbietet uns die Gottheit ſelbſt, die uns ewig ein
rdtſelhaftes, großes Geheimnis bleiben wird. Nur das Wie kann ſich uns entſchleiern, fo daß wir es
uns dienſtbar zu machen vermögen. Iſt nicht auch die Elektrizität eine Kraft, die uns wunderbar
bleibt und die wir dennoch unterjochen zu unſerm Nutzen und Beften? Aſtrologie hat an ſich mit
der Seheimwiſſenſchaft der Theo- oder Anthropoſophie, mit dem Okkultismus nichts gemein;
ſie beruht vielmehr einzig und allein auf dem empiriſchen Geſetze der Kauſalität, wonach jede
Wirkung ihre zureichende Urſache haben muß. Und in Archiven werden die Erfahrungen ge-
ſammelt; da gibt es Horoſkope von Blinden, Rrüppeln, Ehegeſchiedenen, Selbſtmoͤrdern, und
diefe werden wiederum in Unterabteilungen gegliedert: ob der Grund Verarmung, Liebes-
gram, geiſtige Umnadtung, Lebensmüdigkeit uſw. geweſen iſt.
Minder bekannt dürfte es wohl fein, daß das Wiſſen um den Zuſammenhang des Makrokosmos
mit dem Mikrokosmos, alſo des Weltalls mit dem Einzelweſen, ſchon vor mehreren Sahrtaufen-
den beſtanden hat. Bereits die Perſer, Babylonier und Chaldder — gewiß hohe Rulturvdlter —
batten hiervon Runde; ja, nach den alten chaldaͤiſchen Berechnungen treffen noch heute die
Sonnen- und Mondfinfterniffe ein, und unfere heutigen Aſtronomen haben an dieſen Formeln
keine Rorrektur anzubringen brauchen. Auch die Prieſter pflegten dieſe Weisheit und machten
fi mit ihren Ratſchläͤgen die Zürften untertan. In Indien, China und Agypten und Süd-
europa ftand die Sternenweis heit in hohem Anſehen. Es iſt uns ein Spruch des griechlſchen
Arztes Hippokrates überliefert, welcher beſagt: „Ein Menſch, der unbekannt mit der Wiſſenſchaft
156 Die Frage ber Sternendeutung
der Aftrologie, verdient eher den Namen eines Toren als den eines Arztes.“ Schon im Sabre
126 n. Chr. ſchrieb Ptolemäus feine vier großen Werke nieder, die auch uns noch ihre Dienſte
leiſten, wenngleich mit der erforderlichen Umſtellung auf unſere Zeit. Bedeutete damals eine
ungünſtige Beſtrahlung, die wir heute für minder ſchwerwiegend erachten, Tod und Untergang,
fo muß man die größere Gefahr jenen unſichereren Zeiten zurechnen, wo Schlachten, Raub-
anfälle aus dem Hinterhalte häufiger eintraten als in unſerer mehr geſicherten Gegenwart.
Dementſprechend deuten wir heute ſolche Aſpekte vielleicht auf Automobilunglüde, Sport;
unfälle, Exploſionen, ſchlagende Wetter uſw.
Berühmte Namen ſtehen unter denen, die ſich der Sternenkunde widmeten und ſich von der
Richtigkeit ihres Einfluſſes auf das Menſchenleben überzeugten: Pythagoras, Plato, Dante,
Bacon, Thomas von Aquino, Giordano Bruno, Kepler, Nopernikus, Parazelſus, Newton,
Galilei, Melanchthon, Weigel, Spinoza, Shakeſpeare, Scott und Goethe, deſſen „Urworte“ viel
zitierte Sternenweisheit ausſagen.
Goethe beginnt feine Lebensbeſchreibung mit einer aſtrologiſchen Darlegung: „Die Ron-
ſtellation war glücklich. Die Sonne ſtand im Zeichen Jungfrau und kulminierte für den Tag;
Jupiter und Venus blickten ſich freundlich an, Merkur nicht widerwärtig. Saturn und Mars
verhielten ſich gleichgültig; nur der Mond, der ſoeben voll ward, übte die Kraft feines Gegen;
ſcheines um ſo mehr, als ſogleich ſeine Planetenſtunde eingetreten war. Er widerſetzte ſich daher
meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis dieſe Stunde vorübergegangen. Dieſe
guten Aſpekte, welche mir die Aſtrologen in der Folgezeit ſehr hoch anzurechnen wußten, mögen
wohl Urſache meiner Erhaltung geweſen fein, denn durch Ungeſchicklichkeit der Hebamme kam ich
für tot auf die Welt.“ Und aus Schillers „Wallenſtein“ weht uns eine geradezu aſtrologiſche Luft
entgegen: wie klar und wiſſend er fein Schickſal überſchaut, als das Horoſkop fortſchreitend ſich nun
ee Slüdfeliger Aſpett! So ſtellt fi endlich
Die große Drei verhängnisvoll zuſammen,
Und beide Segensſterne, Jupiter
Und Venus, nehmen den verderblichen,
Den tidijden Mars in ihre Mitte, zwingen
Den alten Schadenſtifter, mir zu dienen,
Denn lange war er feindlich mir geſinnt uſw.
Die Umſtellung, welche die Aſtronomie ſeit Kopernikus erfahren hat, der bekanntlich erwies,
daß ſich die Sonne nicht — wie Ptolemdͤus meinte — um die Erde drehe, ſondern daß die Erde
und alle mit ihr ſchwingenden Planeten ſich um die Sonne bewegen, findet auf die Aſtrologie
keine Anwendung. Wir bewohnen dieſe Erde; ſie iſt für uns daher der Mittelpunkt, der die
Strahlungen empfängt. Marsbewohner würden eben den Mars als Zentrum annehmen. Sollte
dieſe geozentriſche Einſtellung wirklich einmal durch die heliozentriſche abgelöft werden, fo müßte
dann natürlich ein völlig neuer Aufbau von ſtatiſtiſchem Material geſammelt werden, wobei
man ſchließlich zu dem gleichen Endergebnis gelangen würde, wie ja bekanntlich viele Wege
nach Rom führen. Die Erfahrung muß nur die Richtung aufweiſen.
Die Aufſtellung eines Horoftopes oder Stundenbildes iſt eine rein rechneriſche Arbeit. Aus
den Sterntafeln wird der Stand der Planeten zur Minute der Geburt erſehen und unter Be-
rüdfihtigung der Tierkreiszeichen, in denen ſich die Sterne gerade befinden, und je nach den
günftigen oder ungünftigen Aſpekten oder Strahlen, die fie einander zuſenden, wird das Schickſal
erkannt. Der infolge der Erddrehung im Often beim Augenblicke der Geburt aufſteigende Grad
des Tierkreiszeichens heißt Aszendent; er iſt von beſonderm Einfluß ſelbſt auf das Außere des
Menſchen; von ihm ausgehend werden die zwölf ſogenannten Felder errechnet, welche auf Be;
gebenheiten des menſchlichen Lebens Bezug nehmen; auch fie finden durch die darin ftebenden
Planeten entſprechende Beachtung bei der Ausdeutung.
Ste Frage der Sternendeutung 157
Wie nun läßt ſich der Zweck der Sternendeutung begründen? Zit es nicht wertvoll, Klarheit
über den eigenen Geiſteszuſtand zu erlangen, um gegen die Fehler anzukämpfen, die unſern
Charakter ftören wollen? Oder aber man lernt es, gegen die Gebrechen der Mitmenſchen Nach-
ſicht zu üben, ſich auf ihr Weſen einzuſtellen, vielleicht jedoch auch von ihnen zu gehen, wenn ein
Zuſammenklang als ausſichtslos erkannt iſt. Den Eltern iſt die Möglichkeit gegeben, beizeiten
den Anlagen ihrer Kinder eine günftige Wendung zu geben, niemals Berufe zu erzwingen,
denen der Geborene von Beginn an keine Hilfe zu danken hat. Arzte, Gerichtsperſonen, auch
Geſchäftsleute können ſich mannigfache Erfolge verſprechen, ſobald fie voll innerſter Er-
kenntnis, nicht aus plebejiſcher Neugierde den Rat der Sterne für ſich erbitten. Gibt nicht
der ſeltſame Umſtand zu denken, den wir als „Ouplizität der Fälle“ bezeichnen? Auch hier der
Einfluß der Geſtirne, daß ſich zu gleicher Zeit mehrere Fälle einer lange nicht eingetretenen
krankheit einſtellen, oder daß ſich Brände, Exploſionen, Eiſenbahn- und Grubenunglüde häufen,
wie fie gerade für die Gegenwart fo überaus bezeichnend find. — Auch in Ehefragen läßt die
Ürologie deutlich die Zu- oder Abneigung zweier Menſchen erkennen oder den an einem Zer-
würfnis ſchuldigen Teil herausfinden. Sehr deutlich ſprechen z. B. die Horoftope Goethes und
der Frau von Stein fiber deren Liebe. Sie hatten, wie man es nennt, verſchiedene Planeten
ausgetauſcht; ſo ſteht ſeine Sonne in 5 Grad des Zeichens Zungfrau, wo ihr Mars ſich befindet;
und fein Mars in 3 Grad Steinbock, dem Platz ihrer Sonne. Noch guͤnſtiger verhält es fic mit
Novalis und Sophie von Kühn: er hat die Sonne mit ihrem Mars ausgetauſcht, den Mars mit
ihrer Venus (das ſicherſte Anzeichen für Liebe) und Mond ſteht auf Mond.
Es iſt lar, daß in allen Fällen äußerſte Geſchicklichkeit neben tiefem Eindringen erforderlich
iſt, denn gar manche Aſpekte zwiſchen Eheleuten können bei Niederſtehenden auf Streit hin-
deuten, während der gleiche Sternenſtand bei geiſtigen Menſchen zu regem Gebantenaus-
tauſche, vielleicht unter ſeeliſchen Kämpfen verleitet.
Ein anderer Fall, der zum Nachdenken anregt, iſt jener, daß z. B. das Horoſkop eines durch-
ſchnittlichen Diebes weit weniger ungünjtig geftaltet iſt als jenes eines gebildeten, durch die
Verhältniſſe zum Betruge gelangten Menſchen. Erklärlich iſt es, daß den Gewohnheitsdieb ſchon
geringe ÜUbelſcheine zum Verbrechen treiben können, während eine ſtarke Dofis von Verſuchung
und böſer Kraft erforderlich iſt, um den Geiſteszuſtand eines Gebildeten derart zu umnebeln,
daß er die Grenzen von Recht und Unrecht überſieht. Man hat feſtſtellen können, daß Übel-
titer dem Einfluſſe des Mondes unterſtanden, fo daß fie in einer genauen Nacheinanderfolge
von 23 bis 25 Tagen Brandſtiftungen unternahmen. In gleichem Verhältnis kann ein Prinz,
der Anwartichaft auf den Thron hat, weniger beſtimmte Aſpekte zeigen, als ein Sattlergeſelle,
der zum Reichspräfidenten aufſteigt, um fo ſtärkere Gluͤckſtellungen aufweiſen muß.
Vielfach wird die Frage aufgeworfen: Wie nun bei Zwillingen? Müffen dieſe alſo das gleiche
Schickſal erleben? Es werden eineiige Zwillinge geboren, die zu gleicher Zeit empfangen wurden,
ſich durch innern Vorgang getrennt haben, in einer Umhüllung ruhen und mit nur geringem
Zeitunterſchiede ans Tageslicht kommen; das ſind jene, von denen man zu ſagen pflegt, daß ſie
ſich aufs Haar gleichen. Außerdem aber unterſcheidet man noch zweieiige, welche nach ein;
ander empfangen find und in zwei Hüllen liegen; Stunden konnen zwiſchen ihren Geburten
verſtreichen, und auch ihr Schickſal wird darum ein verſchiedenes fein.
Geburten, die nur am gleichen Tage, nicht aber am ſelben Ort und zur gleichen Stunde er-
folgten, werden natürlich grund verſchiedene Charaktere zeitigen. So bringt Elsbeth Ebertin
in ihrem ſicherlich viele Lefer feſſelnden Buche „Blick in die Zukunft 1925“ (Regulus-Verlag,
Söͤrlitz), wo fie allein ſchon nach dem Sonnenſtande zutreffende Fernblide in geſammelterer
Form gibt, als in ihren anderen, mitunter ſtark auf den Plauderton eingeſtellten Werken, die
gotoſkope der beiden Dichter Friedrich Lienhard und Max Halbe, die beide am 4. Oktober 1865
geboren find, mit 11 Stunden Unterſchied. Aus dieſen Horoſkopen, die manche Zürmerlefer
erfreuen dürften, erkennt man durch das bei Friedrich Lienhard ſtärker hervortretende Bei-
158 Die Frage der Sternendeutung
ſammenſtehen von Neptun und Mond ein zartes Einfühlen in Natur und Innenleben, ferner
die Begabung, den Gemiatsregungen künſtleriſche Formgebung zu ſchenken; desgleichen die
bei fo manchen empfänglichen Charakteren erklärbare Anziehung, wie denn auch ber Jupiter im
Freundeshauſe reiche Anerkennung und Förderung durch mannigfache Verehrer verheißt,
und das Zeichen Schütze an der Spitze dieſes Hauſes eifriges Werben durch anhängliche Freunde
bezeugt. Die ſtarke Beſetzung des 8. Feldes läßt darauf ſchließen, daß ſeine Gedanken viel um
das ewige. Leben kreiſen. Das Horoftop iſt nicht frei von ſchweren Aſpekten, wie man es immer
bei ſtark hervortretenden Perſönlichkeiten findet — im Gegenſatz zu Stundenbildern von All-
tagsmenſchen, denen das Schickſal nur wenig Gelegenheit zur Vertiefung durch Leid und
Gegnerſchaft darbietet.
Geht man nun den Geſchicken ſolcher zur ſelben Stunde Geborenen nach, fo bieten ſich über-
raſchende Tatſachenbeweiſe. Der Engländer Samuel Hennings wurde zur gleichen Stunde,
am gleichen Orte wie Georg III. von England geboren. Die Schickſale dieſer beiden Männer
glichen ſich auffallend, naturlich unter Berüdfihtigung der Ebene, auf der fie lebten. Es fielen
Regierungsantritt und Geſchäftseröffnung zuſammen, Heirat und gleiche Kinderzahl des gleichen
Geſchlechts, und der Tod erfolgte zu derſelben Stunde.
Ein ſehr gutes ſtatiſtiſches Material findet ſich in dem aufſchlußreichen Buche von Dr. med.
F. Schwab „Sternenmächte und Menſch“ (Verlag H. Bermühler, Lichterfelde). Soeben hat
auch Elfe Parker ein wegen feiner anſchaulichen Darſtellung beſonders empfehlenswertes Wert
„Aſtrologie und ihre Verwertung fürs Leben“ veröffentlicht (in dem holländiſchen Verlage
P. Oz. Veen, Amersfoort). Daneben ſelbſtverſtändlich find die übrigen guten Handbücher von
Alan Leo, Libra, Oskar A. H. Schmitz, Grimm, Glahn uſw. zu Rate zu ziehen. In volkstümlicher
Form find die wichtigſten aſtrologiſchen Fragen in dem recht unterhaltſamen und doch be-
lehrenden Buche „Myſterien von Sonne und Seele“ von Dr. H. H. Kritzinger (Nirvana Verlag,
Berlin SW. 48) dargelegt. Die neuen Planetenuhren und Häufertabellen (Verlag OQuphorn,
Bad Oldesloe) ermöglichen es dem Laien, auch ohne logarithmiſche Berechnungen zum Ziele
zu gelangen. Jedenfalls dürfen ſich nur Berufene mit der Oeutung von Stundenbildern be-
ſchäftigen, denn Aſtrologie bleibt letzten Endes eben eine Wiſſenſchaft, d. h. ſie kann nur von
Wiſſenden betrieben werden; es gehören Beſtrebungen auf dem Gebiete der Metaphyſik
hinzu, fernerhin Menſchenkenntnis und in beſonders reichhaltigem Maße Erfahrung. Gerade
infolge mangelnder Herzens - und Seelenbildung mancher Aſtrologen weiſt die Sternen
deutung fo viele Stümper auf, welche dieſe Runft in Mißkredit bringen. Berechnungen allein
genügen eben nicht; Intuition iſt letzten Endes alles.
Für ſo manche Menſchen entſteht ein ſcheinbarer Widerſpruch, der den Aſtrologen häufig
entgegengeworfen wird: „Wenn ich zeitlebens den Einflüffen der Sterne unterſtehen ſoll, wie
kann es dann eine Moͤglichkeit geben, ihnen auszuweichen oder überhaupt Nutzen aus der Altro-
logie zu nehmen?“ Die Entgegnung liegt in dem bekannten Worte: Die Sterne zwingen nicht,
fie machen nur geneigt. Aber fie wirken auf die Niederentwickelten ebenſo wie auf die Hoch-
geiſtigen, — mögen fie ſich bei dieſen auch ſtärker in Harmonie auflöfen. Entgehen kann man den
Sternenmddten niemals, man hätte ja ſonſt den Kern der Aſtrologie nicht begriffen, wenn man
nicht dieſe ſichere Überzeugung hegte. Aber kann man auch einem Schickſalsſchlage nicht entweichen,
einem Sturge oder einer Krankheit, — fo vermag man doch durch Vorſicht ihn abzufhwächen,
fo wie man anderſeits die Zeit des Rrantenlagers durch Vertiefung in nachklingende Bücher fo
ausfüllen mag, daß aus der unfreiwilligen Muße reichſter Segen zu ſprießen imſtande iſt.
Auch dem Tode kann man nicht entrinnen, wenn er deutlich im Horoſkope angezeigt iſt. Aber
ob er immer und notwendig eintreffen muß, wenn man ihn nach den Regeln errechnet, iſt info-
fern zweifelhaft, als der Grad der Aſpektſchwere für die verſchiedenen Menſchen auch ein ver-
ſchiedener iſt. Den einen tötet ein Aſpekt, welcher dem andern nur einen leichten Schlag ver-
ſetzen würde. Iſt eine Zeit der Ruhe und Kräftigung vorangegangen, ſo überwindet man die
die Frage der Sternendeutung 159
Anfechtungen um fo leichter. Fit die Lebensuhr abgelaufen, fo tötet ſchon eine Erkältung, wie
es bei Goethe geſchah, obgleich er in feiner Jugend doch weit heftigere Anfälle überwunden
hatte. Ohne Zweifel kann man nach Eintreffen der Ereigniffe bie feſtgelegte Spur im Horoftop
immer verfolgen und finden, wie ja auch der Arzt häufig erſt nach der Sektion die Todesurſache
einwandfrei feſtzuſtellen in der Lage iſt. Hier müſſen noch zahlloſe Erfahrungen geſammelt
werden, und es iſt ſicher, daß wir manche Wirkungen noch nicht kennen, wie ja jetzt transnep-
tumiſche Planeten entdeckt wurden, die wegen ihrer im Nachthimmel verſchwindenden bläulichen
Farbung nur mit entſprechend lichtempfindlichen Platten aufgenommen werden konnten.
Übrigens fei an dieſer Stelle einmal mit Nachdruck darauf hingewieſen, daß es unmöglich ift,
die Zukunft eindeutig vorauszuſagen, und daß ſomit die auf die beharrliche Dummheit des
Publikums rechnenden Anpreiſungen in ſo manchen Zeitungen zu unrecht beſtehen. Auch in
deutungen wird — wie manche ängſtlichen Gemüter es befürchten — weder Lebensende noch
Unglück vorherverkuͤndet, einzig im Darlegen der Anlagen, deren beſter Verwendung, der Be-
tampfung von Fehlern und dem Helfen zum Emporſtieg im ethiſchen Sinne liegt das Beſtreben
bes gewiſſen haften Seelenarztes, der ſich im Hinblick auf die ewige Sternenwelt wahrhaft ge-
bildet hat. Wie follten bei der Geſtaltungs- und Wandlungsmöglichleit der Charaktere auch
Siele feftgelegt werden, da doch ein jeder fein Schickſal in der eigenen Bruſt trägt! Die Ebene,
auf der wir geboren wurden — das Einzige, was man nicht aus dem Horoſkop errechnen kann —
laßt ja den einen ſchon an höherer Stelle beginnen, während ein anderer viel tiefer unten den
Anfang nehmen muß und infolgedeffen, bei gleichen Fähigkeiten, doch nicht fo weit emporzu⸗
ſteigen vermag. ö
an kommenden Zeitaltern, wenn das ganze Sonnenſypſtem ſich durch das Zeichen Waffer-
mann bewegt, konnen wir noch Wunder über Wunder erwarten, fo wie es Hans Künkel in
ſeinem anregenden Büchlein „Das große Jahr“ (Verlag Diederichs, Zena) ſehr verhelzungs voll
zu erſchließen verſucht hat. Erſtaunten wir nicht einmal, als die Rede darüber ging, wir würden
in Wagen ohne Pferde fahren oder durch die Lüfte fliegen? Nichts erſcheint uns heute felbftver-
Händlicher als dies. Wie raſch haben wir uns an die ſeltſame Erſcheinung des Hdrens durch den
Radio- Apparat gewöhnt, und vielleicht iſt die Zeit nicht ferne, wo wir neben dem Hören der Vor-
gange auch die bildliche Darftellung werden aufnehmen konnen. Es iſt traurige Tatſache, daß
wir uns nur allzuleicht an das große Wunderbare gewöhnen, fo daß es zur blaſſen Gelbitver-
ſtandlichkeit herabgewuͤrdigt wird. Wie fo wenige lauſchen heute auf die geheimen Faden, die in
der Natur ſich verweben ! Wer durchdenkt im Sinne der Aſtrologie das Rätfel der Mondſüchtigen?
Ven erſchauert es bei der Erkenntnis, daß der Mond die Ebbe und Flut auslöſt? Daß er im
Leben des Kindes und des Weibes eine beſondere Bedeutung empfängt?
Somit iſt es wohl einleuchtend, daß die völlig verſchiedenen Menſchen auch verſchleden auf die
Natur der Planeten reagieren. So werden z. B. nur jene, die wirklich von neptuniſchem Geiſte
etwas verſ puren, die Schwingungen dieſes Planeten empfinden, nicht aber die ganz Primitiven,
deren Mangel an Empfänglichkeit uns häufig an der Wahrheit der Aſtrologie verzweifeln laſſen
mochte. Und doch, wenn man das Leben dieſer Einfältigen durchſchaut, fo entdeckt man, daß ein
Kumſtwerk, ein erhebendes Ereignis fie kaum erſchüttern konnte, daß ein Tadel, der einen fein-
nervigen Menſchen zur Verzweiflung treiben könnte, jene nur hohnlachen läßt, und daß ein
Begräbnis ſie nur zum Poſſenreißen verführen kann. Da aber ein Niederſtehender nichts
empfindet beim Hören einer Meſſe von Bach, beim Anblick eines Bildes von Rembrandt, —
foll darum für die Geiſtigen das Edle und Weiſe in der Runft, in der Natur, in den Sternen
nicht vorhanden fein? ?
So mancher Stillvoreingenommene hat gefragt, ob es im Sinne der göttlichen Vorſehung
geſchehe, wenn wir armen Menſchen den Schleier der Zukunft zu lüften verſuchen. Solches iſt
niemals das einzige Streben eines ernſthaften Aſtrologen ! Für die meiſten Menſchen iſt fider-
lich „der Irrtum das Leben und das Wiſſen der Tod“. Wer ſagt es uns, daß Gott ſelber die
160 Oroht neue Exderfchütterung ?
Sternenſchau verbietet? Müßten wir nicht mit dem gleichen Rechte vom Eindringen in den
Erdenſchoß zurückgehalten werden, über den die Gottheit eine harte abſchließende Dede ſchuf?
Ware das Graben nach unterirdiſchen Schätzen dann minder verwerflich als das Schürfen nach
der letzten Wahrheit? Gab uns der Allmächtige nicht ſelber die Sehnſucht, dieſen brennenden
Eifer nach Erkenntnis?
Auch die Furcht vor dem Tode iſt im Grunde nichts als Überlieferung. Vielleicht ift fpäter
einmal dieſes Nichtwiſſenwollen um den Tod nur ein Ammenmärchen. Die Furcht vor dem
Sterbenmiffen, der Verluſt geliebter Menſchen ſollte uns den Sinn vor der Unerbittlichkeit des
Sterneneinfluſſes verſchließen können? Warum ſträuben wir uns gegen das fromme Ergeben
in die Macht des Schickſals? Was verführt uns denn, uns als unvernünftigen Spielball im Welt-
getriebe zu bewerten? Gerade in ſolchem Nichterkennen liegt unfere geiftige Blindheit begründet.
Warum zweifeln wir, daß ein tiefer Sinn in dem liegt, was wir als unſer notwendiges Schick⸗
fal erleben müffen? Und daß ein Daſein, das von ewiger Sternenmadt beſtimmt wurde, ziel-
reicher ſei als eines, das wir ſelber ausſinnen in menſchlicher Unvollkommenheit?
Eben darum iſt der Glaube an die waltende Gottheit keineswegs ausgeſchaltet, ſondern nur
noch tiefer mit dem Bekenntnis an die Aſtrologie verbunden. Die letzten großen Urtatſachen
werden uns ja immer Wunder und Geheimnis bleiben, gemäß Goethes weiſem Worte: „Oas
größte Glück des denkenden Menſchen iſt, das Erforſchliche erforſcht zu haben und das Un-
erforſchliche ruhig zu verehren.“ Tycho de Brahe, jener große Sternenkundige des 15. Jahr-
hunderts, tröſtete ſich an der Erkenntnis: „Die Sterne leiten das Los der Menſchen, Gott aber
leitet die Sterne.“ | Eliſabeth Schellenberg (Elgersburg i. Th.)
Droht neue Erderſchütterung?
ede Mythologie kündigt einſtigen oder künftigen, teilweiſen oder völligen Weltuntergang
9 an. Erdbeben oder Vulkanentladung vernichten Liſſabon, San Francisco, Meſſina, Tokio,
an Pompejis Schickſal erinnern Ischia und Mont Pelé. Von Chile, Hawai (wo der größte
erloſchene Krater ſchlummert) bis Japan und Turkeſtan riß die Erde ſchon Abgründe auf oder
ſchũttete Kraterflammen aus, ſubmarine Vulkane verſchlingen Inſeln im Kraterbau — oder treiben
andere empor wie die rauchenden Eilande von Stromboli. So mag auch das tiefere Erdfeuer
mal feine Bande ſprengen, wie der im Atna gefeſſelte Rieſe Ermelandus. Denn nur 1 Prozent
der Erdkugel beträgt die Rinde, auf der die Menſchheit atmet, ſonſt beſteht der ganze Planet
aus Feuerſtoff. Wie die Schöpfung felber in Feuerwirbeln begann, mag fie darin auch ihr Ende
finden. Heut laufen allerlei Prophezeiungen um, daß in Bälde eine Erdzertrümmerung ftatt-
finde, obwohl kleineren Stils, meiſt auf Europa beſchränkt. Für Auguſt 1922 malte ein Amerikaner
den Teufel an die Wand, von Budapeſt her würden 70 erloſchene Vulkane ſpeien und Europa
umſchmeißen. Dies Gemunkel überſtand man fo wohlbehalten wie einſt Falbs Drohung mit
einem die Erdbahn ſtreifenden Kometen; nicht mal beſonderer Ephemeridenfall trat ein. Falb
war blamiert, der noch in längerem Privatbrief an mich ziemlich deutlich bei ſeinem Glauben
verharrte. Doch Falbs Mondtheorie gilt als bahnbrechend, er war nicht auf den Kopf gefallen,
ſo vorſchnell er die Erde umfallen ließ. Ein anderer deutſcher Gelehrter entwickelte ſeither die
ſeltſame Theorie, der Mond werde einſt auf die Erde fallen. Jener Newporker Prophet mit
ſeinen 70 Vulkanen darf ſich darauf berufen, daß andre Geologen umgekehrt England und
Nordfrankreich ein jähes Ende weisſagen. Das eigene Vaterland verſchont man ſtets dabei,
fo etwas macht unbeliebt, doch ſollten die guten Amerikaner bedenken, daß ihre ganze Weft
kũſte bis Südchile mit erloſchenen Vulkanen fo dicht befat iſt wie die Südfee mit Korallenklippen.
Ein Newyorker Geologe verſicherte jüngſt, dieſe große transatlantiſche Doppelſtadt fet völlig
Droht neue Exderfchütterung ? 161
unterhöhlt und werde eines Tages einftürzen. Bei ſolcher Übertreibung ſollte man freilich glauben,
daß dann jedenfalls bei größerem Erdbeben dies Schickſal ſehr möglich ſcheint, was übrigens
auch für das ähnlich unterhöhlte Paris zutrifft.
An Amerikas Oſtkuͤſte iſt es auch nicht geheuer, denn der Atlantiſche Ozean verfchludte einft
ben großen Kontinent Atlantis, muß alfo noch heut von fubmarinen Vulkanen wimmeln;
übrigens gibt das Seekrautphänomen der Sargaſſoſee zwiſchen den Azoren und Mexiko zu
denken. Noch niemandem fiel auf, daß dies der Angabe Platos entſpricht: es habe ſich nach
Untergang von Atlantis ein großer Schmutzabgrund gebildet, durch den man nicht hindurch
könne. Freilich verſicherte ein deutſcher Gelehrter, er habe jenen Meerteil befahren und nie
ein Sargaſſomeer gefunden! Unzählige Zeugniſſe dafür wären alſo Schwindel? Solche Stepfis
muß man um fo ſkeptiſcher aufnehmen, als ja noch heut manche Gelehrte die Exiſtenz von
Atlantis beſtreiten. Doch man braucht nicht den Überlieferungen zu glauben, trotz der neuen
Auf ſchluüͤſſe durch Frobenius’ weſtafrikaniſche Küftenfunde, um gleichwohl den geologifch-ethno-
logiſchen Beweiſen zu trauen, daß Kontinente und Inſeln den Meerfpiegel von den Azoren
bis Grönland bedeckten. Dieſe Kataſtrophe ſteht ja auch nicht einzig da, denn lange zuvor im
Sekundar zerbricht der Suͤdſeekontinent Lemurien, und es erheitert, wenn Wallace und Haeckel
dies ohne weiteres zugeſtehen, doch ſich gegen den geradeſo beweisbaren Untergang von Atlantis
fräuden. Nach Meinung der Okkultiſten bezieht fic) auch die bibliſche Sintflut darauf; wir
fügen hinzu, daß das alte Sumerer -Epos darüber ein offenbar ſymboliſches Gepräge hat,
denn „Noah“ bedeutet „Weisheitruhe“, die „Arche“ (richtiger „Schiff“) Erkenntnis. Von Über-
ſchwemmung Kleinaſiens „am Ararat“ iſt jedenfalls geologiſch nichts nachweisbar, dagegen
moglich, daß der Name „Sintflut“ ſich vom Indusreich Sind ableitet, wo ein drachenartiger
Komet erfhienen und als „Stern von Sind“ großes Meerbeben verurſacht haben foll, wodurch
ih hernach der Himalajagürtel bildete und das heutige Indien aus dem öden Abgrund ſpäter
auftauchte.
Was nun heutige Unkenrufe über nahende Zerſtörung betrifft, worin ſich neuerdings auch
die Aſtrologie auszeichnet, fo darf man natürlich auf fie fo wenig Häuſer bauen wie auf Be-
ſchwichtigungsproteſte der Wiſſenſchaft, daß Erdveränderungen nur in langen Swifdenrdumen
allmahlich erfolgen. Davon weiß jie erfahrungsgemäß nichts. Von der letzten tertiaren Riefen-
kataſtrophe trennt uns jetzt ſchon ein ungeheurer Zwiſchenraum, und die Plötzlichkeit iſt nicht
ſo zu verſtehen, als ob nicht genug Zeichen vorangingen. So ſchildert es die Bibel, Noah ſieht
fie, doch alle Menſchen lachen ihn aus. Nun, jener Ban keeprophet von 1922 erlebte ſchon die
Senugtuung, daß Anfang 1925 wirklich heftiges Erdbeben in Ungarn losbrach, auch macht das
erſtaunliche Herumziehen der Erdbeben aus der Weſtſchweiz bis ins Seinetal, ja bis Norwegen
und Schottland, wo man nie fo etwas früher erlebte, jeden Unbefangenen ſtutzen. Ebenſogut
könnte in den Tiefebenen der Elbe, Weichſel, Wolga plötzlich die Erde beben. Beſonders be-
denklich find aber die Erſcheinungen in England, wo Weſtminſter Bridge und St. Paul ein-
zuſtürzen drohen und jähe Überſchwemmungen durch Grundwaſſer eintreten, auch Abbrödeln
der franzöfifchen Küͤſte iſt kein günftiges Vorzeichen. An Warnungen fehlt es alſo nicht. Übrigens
[hob auch die Eiszeit ihre Vergletſcherung fo unvermittelt raſch vor, daß der Mammut, davon
gewaltſam überraſcht, nicht mehr entrann wie fein Stiefbruder, der Elefant, der ſich rechtzeitig
fübwärts verzog, wo er noch am Rhein neben den Neandertalmenſchen graſte. Damals trug
die Hyperboraiſche Halbinſel vom Baltikum bis Kamtſchatka Palmen, auf Grönland wuchs
der Brotbaum, in Europas tropiſchem Klima tummelten ſich Nashorn, Flußpferd, Löwen
und als Ableger der hochbeinigen Höhlenkatze der Urtiger mit dem Sichelzahn. Dann verſchob
ſich das Erdfeuer fo raſch zum Aquator, daß dort das Meer zur Saharawüfte austrocknete.
Lange genug erhielt ſich Erkaltung der Erdoberfläche im Norden, heut iſt laut vielen Gelehrten
ein Gegendruck vom Sübpol zu erwarten, wir ſehen dieſen Prozeß ſchon weit fortgefchritten:
abnorm milde Winter im Norden, Kälte in Rom, Schneefall in Nordafrika. Wenn klimatiſche
Der Türmer X XVIII, 2 11
162 Droht neue Erberfgütterung?
Anderung ſich fo plötzlich vollzieht, was könnte Hervorbrechen feuriger Erſchütterung verbieten
oder verlangſamen? So wenig wie die entſetzlichen Erdbeben von Tokio und Meſſina braucht
ſich Losbruch eines Weltbebens durch ſtufenweiſe Vorbereitung deutlich anzukündigen.
Der in tauſend Splitterbrocken zerborſtene Weltteil Lemurien foll nur durch vulkaniſche
Erdbeben ſich aufgelöſt haben, doch ein andrer Stoß traf Atlantis in ganz verſchiedener Art
als Meerbeben. „Die Brunnen der Tiefe taten ſich auf“, „es regnete 40 Tage und Nächte“,
merfwiirdigerweife erzählen indianiſche Urſagen das gleiche wie die Bibel, ihre Urahnen
(die Atlantier) hätten ſich „mächtiger als Blitz und Donner“ genannt und ſeien für ihren natur-
wiſſenſchaftlichen Dünkel beſtraft worden. Dauerregen, unaufhaltſames Grundwaſſer, deutet
dies auf ſideriſchen, vielleicht kometariſchen Einfluß? Wer mag es entſcheiden! Daß Kometen
zuſammenſtoß mit unſrem Planeten wegen Deckung durch die Erdatmoſphäre unmöglidy fei,
iſt bloß Hypothefe. unmöglich? Es bedarf keines Kometen zu Dammbrüchen der ſchwachen
Erdrinde, unterirdiſche Feuerbewegung kann dies ſchon ſelbſt beſorgen. Wo heut der Atlantiſche
Ozean rollt, verſank das Erdreich fo raſch unter fortdauernden ſubmarinen Exploſionen, dak
die laut Plato äußerft feetundigen und gewaltige Flotten unterhaltenden Atlantier fic nur
ausnahmsweiſe (Noah) retten konnten. Die Erdumwandlung erfolgte alſo nicht ruckweiſe,
ſondern durch plötzliche Gewaltſtöße. In unſern Tagen verſchwand Znfel Krakatau mit jchred-
licher Raſchheit; man darf ſich nur an ſolche bekannten Erfahrungen halten; dem Untergang
Tokios und Meſſinas gingen keinerlei Anzeichen vorher. Der Erdbewohner, jede Sekunde mit
ungeheurer Schnelle durch den Weltraum geſchleudert, merkt nichts davon, und wunderbar iſt
nur, daß wir nicht ſtündlich vernichtet werden, was beim geringſten Fehler im Kreuzen ber
Planetenbahnen eintreten muß. Die altägyptiſchen Prieſteraſtronomen von Dendorah ver-
zeichneten ausdrüdlich eine Konſtellation mit Sternbild des Drachen, wobei Polftellung und
Ekliptik der Erdachſe ſich ändern: dann tritt unfehlbar Weltbeben ein. Kann dieſe Konſtellation
nicht wiederkehren?
Zweifellos ſcheinen vulkaniſche Hauptgebiete wie Japan, Nordillerenlande, Oceanien,
Turkeſtan, Süditalien uſw. am nächſten bedroht, doch beim Vorrücken des Erdfeuers nord
warts können auch Länder betroffen werden, die fonft ſtets verſchont blieben: ſchon gab es
neulich Erdbeben in La Rochelle. Ein franzöſiſcher Aſtrologe warnt dunkel, daß 1928 Erber-
ſchutterungen kommen follen, wo man es am wenigſten ahnt. Bedroht find beſonders Kuͤſten
und Inſeln, wo auch alle bedeutenden Vulkane liegen, wie Atna auf Sizilien, Veſuv am Meer,
die Krater auf Island, Nipon, Hawai. Iſt das ein Fingerzeig, daß Vulkanismus mit Mari-
timem innerlich zuſammenhängt? Bei der gräßlichen Heklaentladung vor erſt 900 Jahren
änderte ſich das bisher ſehr freundliche Klima ins Unwirtliche, indem der Golfſtrom plötzlich
aus feiner Bahn geriſſen wurde. Im Stillen Ozean kündigt ſich der grauenvolle Taifun jäh-
lings an durch erdruͤckende Schwule, als ob Hitze aus dem Meer aufſtiege und die Luft ver-
ſengte: hängt das vlelleicht nicht auch mit ſubmarinem Vulkanismus zuſammen? Jedenfalls
kann Weltbeben ſich ebenſowohl durch Meer als Erdbeben vollſtrecken.
Wer je unerträgliche Sommerhitze bei Mori am Gardaſee erlebte, denkt an Römerzeit, wo
bier heiße Quellen für Shermenbdber ſprudelten. Von den Aargäuer Schwefelquellen (Baden)
zieht ſich über Zürich und Konſtanz bis in die Schwaͤbiſche Alp eine Erdbebenzone, die 1911
und 1924 beunruhigte, in Italien zieht ſich ſolche Zone ſchon bis Florenz, doch ſie könnte auch
plötzlich nördlich des Appennin in die Lombardiſche Ebene bis zu den Seen Aberfpringen oder
ſich in Seutſchland nach Bayern und Thüringen verbreiten. Nichts ſchützt davor, nichts läßt
ſich berechnen, Erſchütterung könnte quer durch ganz Europa rollen. Alte geologiſche Berech
nungen, jüngft emphatiſch durch aſtrologiſche Prophezeiungen verftdrtt, verſteifen ſich indeſſen
nur auf Untergang Englands und Nordfrankreichs. Merkwürdigerweiſe ſtimmt dies zu jener
Stelle der Apokalypſe, wo von einem Tag in einem Sturm Babel mit ſeinen Flotten wie
ein Mühlſtein ins Meer verſinkt. Solche wörtliche Auslegung ablehnend, müͤſſen wir doch gu
das Erdbeben im Erlebnis ber Menſchhelt 165
geben, daß die letzte Ausgießung der Schale ein fo groß Erdbeben verkündet, „wie die Welt es
noch niemals fab, und es kam eine neue Erde“. Man mag es ſymboliſch auffaſſen, überhaupt die
Möglichkeit folder Fern-Prophetie ableugnen, jedenfalls iſt die Möglichkeit eines Weltbebens
unbeſtreitbar. Es kommt aber etwas Beſonderes hinzu. Die Tiefe des atlantiſchen Meeresbodens
betrug früher meiſt 2000 m, heut findet das Senkblei mehrfach nur 200. Steigt aber die einſt
verfuntene große Bergkette der Atlantis ruckweiſe wieder an die Oberfläche, jo erzeugt dies
eine rieſige Spannung, fo daß die Wogen teils auf die amerikaniſche, teils die europäiſche Kuͤſte
mit der Gewalt eines Schleuſenwaſſers ſtürzen müßten. Nach der ungefähren Richtung zu
ſchlleßen, wo die Atlantiserde aufſteigen würde, wälzt fic) dies Meerbeben beſtimmt auf Nord-
weſtfrankreich und England, das beiläufig prähiſtoriſch ſchon viermal unterging und früher als
Halbinfel mit der Bretagne zuſammenhing. Natürlich würde der Druck auch die Niederlande
und die deutſche Nordſeeküſte umwerfen, Dänemark entankern, man darf aber hoffen, daß der
Stoß dann verſchäumt und das Meer wieder ruhig verdaut, nachdem es fo große Biſſen ver-
ſchluckte. Ob dies 1927/28 geſchieht oder ob die unzweifelhaft kommenden Erſchuͤtterungen
ſich nur mit einzelnen Teilkataſtrophen begnügen oder ob alles ſich als Illuſion in Wohlge-
fallen auflöft — eine Heine Warnung iſt doch geboten. Karl Bl ibtr.u
Das Erdbeben im Erlebnis der Menſchheit
Oie Urſachen. Wahrſcheinlichkeit neuer Kataſtrophen?
n unheimlicher Weiſe mehren ſich in den letzten Jahren auf unſerer Erdkugel die Erdbeben.
Zweimal innerhalb zweier Jahre wurde das japaniſche Volk heimgeſucht. Und kaum haben
wir von dem Beben in Columbia Kenntnis genommen, als uns ſchon eine neue Schreckens!
nachticht erreicht: die Kataſtrophe von Kalifornien.
Es iſt begreiflich, daß das Denken und Fühlen der Kulturmenſchheit durch dieſe tragifchen
Ereignifje wieder von neuem auf das unheimliche Naturereignis hinlenken wird. Der natur-
wiſſenſchaftlich Intereſſierte wendet ſich etwa an den geologiſchen Fachmann, um die Urſachen
der Erdbeben zu erfahren. Er wird dahin belehrt, daß es dreierlei Beben gibt: 1. die Einfturz-
beben. Sie entſtehen, wenn durch auslaugende Wirkung des Waſſers ſich unterirdiſche Gänge
und Hohlräume bilden, ſo daß ſchließlich die Sewölbe die Laſt nicht mehr zu tragen vermögen,
einſtuͤrzen und fo Erjhütterungen hervorrufen. 2. die vulkaniſchen Beben. Sie haben ihre Ur-
ſache in der Spannung der in Spalten der Erdrinde ſich aufwärts draͤngenden Laven und
Dampfe, aber auch in wirklichen Exploſionen. Im Mittelpunkt des Erſchütterungsgebietes liegt
faft immer ein Vulkan. 3. die tektoniſchen oder Dislokationsbeben. Sie entſtehen durch die Ab-
kühlung und Zuſammenziehung der gel und find die häufigiten, ausgedehnteſten und
ſchrecklichſten Beben.
Angſtliche Gemüter, die auf dieſe Weiſe vom Geologen belehrt wurden, fragen dann wohl
nach der Wahrſcheinlichkeit, daß unſere Gegenden von ſchweren Beben heimgeſucht werden
konnten. Ihnen zum Troſt darf geſagt werden, daß Erdbeben von fold’ kataſtrophaler Wirkung
wie z. B. in Japan, bei uns in Oeutſchland auf wohl viele Jahrhunderte hinaus kaum zu be-
fuͤrchten find. Denn erſtens find Areale mit ungeſtörter Schichtung wie die norddeutſche Tief-
ebene, nur bddft ſelten von Erdbeben heimgeſucht. Und zweitens ftellen ſelbſt die gebirgigen
Gegenden Deutidlands heute weſentlich zur Ruhe gekommene Erdſtuͤcke dar, in denen es zwar
ab und zu noch einmal rollt und grollt, aber kaum ne zu ſolch fürchterlichen Erſchütterungen
kommt wie in Japan oder Kalifornien
164 Das Erdbeben im Erlebnis ber Menfchheit
Magiſcher Zwang zum Wiederaufbau
Aber ſolch geologiſche Belehrungen laſſen unſer durch die Erdbebenkataſtrophen maͤchtig
angeregtes Denken und Fühlen gewiß nicht zur Ruhe kommen. Unſer Forſchen ſucht weiter zu
dringen, und wir fragen uns etwa insbeſondere, woher denn die auffallende Tatſache komme,
daß die Menſchheit an gewiſſen Stellen des Erdballs — denken wir etwa auch an Meſſina —
immer wieder von neuem menſchliche Wohnſtätten errichtet, obſchon fie aus der Geſchichte
weiß, daß dieſe Stätten, bald in längeren, bald in kürzeren Zwiſchenräumen, immer wieder von
neuem durch Erdbeben zerftört worden find. So daß alſo mit größter Wahrſcheinlichkeit voraus-
gefeben werden kann, daß auch dieſe wieder aufgebauten Wohnſtätten nach einigen Gene-
rationen von neuem einer Kataſtrophe zum Opfer fallen werden. Man hat zur Erklärung dieſ er
merkwürdigen Tatſache auf eine gewiſſe „apres moi le déluge“-Stimmung hingewieſen, die
gerade bei den durch Kataſtrophen heimgeſuchten Völkern häufig einzutreten pflege. „Für uns
und unfere Kinder wird's wohl noch halten, und darnach... mag kommen, was kommen mag !“
Es mag in der Tat einige Leichtfertige geben, die fo denken und fühlen, weil fie keinen Sinn
haben für das, was Fichte als die erhabenſte Aufgabe des Menſchen und als ſeine eigentliche
Beſtimmung bezeichnet hat: „Durch vorſorgliches Wirken für die Zukunft unſeres gemeinſamen
Brudergeſchlechts die Unſterblichkeit an ſich zu reißen!“ Mag fein, daß manche Menſchen für
dieſe unendliche Aufgabe des Menſchengeſchlechtes kein Verſtändnis haben: als allgemeiner
und ausreichender Grund für die Erklärung der erwähnten Erſcheinung kann jene Gorg-
loſigkeit für die Zukunft nicht angeſehen werden. Man hat ferner etwa auf die Analogie des
menſchlichen Verhaltens mit dem tieriſchen hingewieſen: fo wie die Ameiſe, deren Bau man fo-
eben mit einem Stock zerſtört hat, ſofort mit allen Kräften und mit friſchem Mut an den Wieder-
aufbau geht und dieſes Spiel immer wieder wlederholt, ſolange wir grauſam genug ſind, unſer
Zerſtörungswerk zu wiederholen, ebenſo handelt auch der Menſch, wenn ein grauſames Geſchick
ihm ſeine Heimſtätte durch die verheerende Naturgewalt des Erdbebens zerſtört hat. Er folgt
dabei einem tief in der Seele alles Lebendigen wurzelnden Inſtinkte.
Auch dieſe Deutung — ſo richtig fie an ſich fein mag — ſcheint mir keine vollſtäͤn dige Er-
klärung der in Frage kommenden Erſcheinung zu bieten. Man muß noch ein weiteres pſycho⸗
logiſches Moment zur Erklärung heranziehen, und zwar ein ſolches, deſſen Tragweite erſt die
moderne Tiefenpſychologie voll erkannt hat: das Prinzip des „Wiederholungszwanges“. Sieg
mund Freud hat jüngſt die Allgewalt dieſer ſeeliſchen · Srundkraft hervorgehoben. Sie beſteht
in der paradoxen Erſcheinung, daß der Menſch Situationen, die für ihn ſchmerzlich, ja tragiſch
waren, mit einer Swangsldufigteit, die ſtärker iſt als fein bewußter Wille, wieder und wieder
herbeizuführen ſich getrieben fühlt. Und zwar wunderlicherweiſe nicht: obſchon jene Citu-
ationen ſchmerzlich waren, ſondern gerade weil fie ſchmerzlich waren! Man ſieht dies Prinzip
ſchon im Kindesleben am Werk: war etwa der Arzt beim Kinde und es hat dabei Peinliches er-
fahren, fo ſpielt es unweigerlich bald nach Fortgang des Arztes „Onkel Ooktor“! Es fühlt ſich mit
eigenartig ſelbſtquäleriſchem ſeeliſchem Zwange dazu gedrängt, die Situation, die ſchmerzlich
war und peinlich — wenigſtens in der Phantaſie — wieder und wieder zu erneuern. So können
wir auch die paradoxe Behauptung wagen, daß der durch Erdbebenkataſtrophen tragiſch heim;
geſuchte Teil der Menſchheit den Wiederaufbau der zerſtörten Gebiete immer wieder von neuem
„arrangiert“, nicht obſchon, ſondern gerade weil er — unbewußt! — eine Wiederholung der
Kataſtro phe vorherahnt .
Hiſtoriſche Trümmerſtätten
Was nun den Anſtoß betrifft, den unſer geſchichtliches Nachſinnen durch die häufigen und
ſchrecklichen Erdbeben erhält, fo fragen wir uns etwa, wie weit die Nachrichten zurüdreichen, die
wir über Erderſchütterungen und dadurch angerichtete Verwüſtungen auf dem bewohnten
Teil der Erde beſitzen. Schon aus dem ſechſten vorchriſtlichen Jahrhundert haben wir Auf-
Das Erdbeben im Erlebnis der Menſchhe it 165
zeichnungen, die berichten, daß damals ein ſchweres Erdbeben in Sparta gewaltige Serftdrungen
anrichtete. Vom Taygetos, dem heutigen Pentedaktylon („Fünffingergebirge“) ſauſten ge-
waltige Felsmaſſen zu Tal. Rund 100 Jahre ſpaͤter — Anno 464 — wurde Sparta durch eine
ahnliche noch ſchwerere Kataſtrophe heimgeſucht, die die Stadt bis auf wenige Häufer in einen
Srümmerhaufen verwandelte. Nach dem Bericht des Ephoros kamen dabei nicht weniger als
20000 Spartaner ums Leben. Wir beſitzen zuverläffige Aufzeichnungen, welche melden, daß im
Jahre 426 vor Chriſto über die Küͤſten des eubdifchen Sundes und des maliſchen Golfes ſchweres
Verderben hereinbrach. Fünfzig Jahre ſpäter klaffte in der Landſchaft Achaia am ſuͤdlichen
Zipfel des Golfes von Korinth ein gewaltiger Erdſpalt auf. Er verſchlang in wenigen Minuten
das ganze Bergſtädtchen Bura und verwandelte die Seeſtadt Helite in einen Trümmerhaufen.
In feiner „italienifchen Landeskunde“ gibt Niffen ein Verzeichnis der Erdbeben auf der Apennin-
halbinſel. Wir ſehen daraus, daß es kaum eine Gegend Staliens gibt, die nicht ſchon im Alter-
tum wiederholt — und manchmal ſchwer — durch Erdbeben erſchuͤttert wurde. Insbeſondere
die Seſchichte Meſſinas iſt ja bekanntlich — wie [chon oben erwähnt wurde — die Geſchichte
einander immer wieder folgender Zerſtörungen und Wiederaufbauungen. Am ſchlimmſten
deimgeſucht war aber im Altertum ohne Zweifel das weſtliche Kleinaſien. Zahlreiche klein;
aſiatiſche Städte und Inſeln find durch die Häufigkeit und Furchtbarkeit ihrer Erdbeben, zumal
im fpäteren Altertum, zu einer traurigen Berühmtheit gelangt. Aeameia in Phrygien wurde
wiederholt zerſtört, und dem Philoſophen Poſidonius von Apameia, der um 135 vor Chriſtus
lebte, verdanken wir die wertvollſten Angaben über Erdbeben im Altertum. Das ſchlimmſte
Unheil aber brach ſpãter als Poſidonius, im Jahre 17 nach Chriſto, herein. Es verwandelte nicht
weniger als 12 kleinaſiatiſche Städte in Trümmerhaufen. Nach Tacitus leitete der Kalſer Tiberius
eine „Hilfsaktion“ zugunſten des am ſchwerſten getroffenen Sardes ein. Er ſtellte dieſer Stadt
Geld zur Verfügung und erließ ihr auf 5 Jahre die Zinszahlungen. Ein Senatskommiſſar
wurde von Rom nach Kleinaſien geſandt mit dem Auftrag, auf Grund perſönlicher Beſichtigung
die geeignetſten Hilfsmaßnahmen zu treffen. Dies war übrigens nicht die erſte, an moderne
Zeiten erinnernde „Hilfsaktion“. Schon früher hatte Kaiſer Auguſtus den Bewohnern von
Städten, die durch Erdbeben geſchädigt worden waren, Hilfe gewährt. Auch Syrien und die
Südkuͤſte Phöniziens wurden im Altertum oft und ſchwer von Erdbeben heimgeſucht. Dabei
erfahren wir aud ſchon von ſogenannten „Meerbeben“, wie fie ja 1925 in Japan, ſowie bei den
Beben in dieſem Jahre eine unheilvolle Rolle geſpielt haben.
Das Schüttergebiet von Saron wird um feiner Erdbeben willen noch heute in den Gebets
riten der Juden erwähnt. Es hat in der Liturgie des „Verſöhnungstages“ ſeine Stelle. Im
Alten Teſtament heißt es beim Propheten Amos (Kapitel I, 1): „Dies iſt's, was Amos, der
unter den Hirten von Thekoa war, geſehen hat, zwei Jahre vor dem Erdbeben.“ Hier haben wir
den einzigen hiſtoriſch ſichern Bericht über ein Erdbeben im Alten Teſtament. Es handelt ſich um
das Erdbeben, das zur Zeit des Königs Uſiah um 760 vor Chriſto ſtattfand. Die übrigen Er-
waͤhnungen von Erdbeben durch die Heilige Schrift geſtatten keine Rückſchlüſſe auf beſtimmte
geſchichtliche Naturereigniſſe.
Sage und Philoſophie
Da die Erdbeben im Schickſal der Menſchheit ſeit Jahrtauſenden eine ſo große Rolle geſpielt
haben, dürfen wir erwarten, daß fie auch die ſagen- und mythenbildende Phantaſie in Be-
wegung geſetzt haben, ſowie auch jenes Staunen, von dem ſchon Ariſtoteles ſagte, daß es den
Urſprung aller Philoſophie bilde. In der Tat ſpielt das Erdbeben in Sage und Philoſophie der
Bolter keine geringe Rolle. Die Legende befchäftigt ſich vor allem mit der Entſtehung der Erd-
beben. So berichtet eine alte ukrainiſche Sage: Als der Erzengel Gabriel von unſerm lieben
Sotte den Auftrag erhielt, ihm neue Engel zuzuführen, da war er in der Wahl nicht ſehr genau
und machte auch ſolche Seelen zu Engeln, die nicht ſanftmütig genug und wenig friedfertig
waren. Die Folge davon war, daß die Engel ſich gar oft entzweiten. Erzürnt daruber befahl Gott
166 Das Exbbeben im Erlebnis der Menſchheit
dem Erzengel Michael, viele der Engel in die Tiefe zu ſtürzen. Da kam ein Teil von ihnen unter
die Erde, ein anderer auf die Erde, ein dritter blieb zwiſchen den Sternen ſchweben. Wenn
aber die Engel, die zwiſchen den Sternen ſchweben, Tränen vergießen, ſo ſehen wir dieſe als
Sternſchnuppen auf die Erde fallen. Wenn die Engel auf der Erde weinen, ſo ſind ihre Tränen
fo heiß, daß anhaltende Dürre entſteht. Und wenn endlich die Engel unter der Erde jammern und
klagen, ſo empfinden wir das als Erdbeben!
Voll Poeſie und geheimnisvoller Symbolik iſt folgende Sage der Buräten (eines in Sibirien
wohnenden Volkes mongoliſchen Stammes): Am Anfang war ein uferloſes Meer, auf deſſen
Boden ſchwarze Erde und Lehm war. Gott befahl dem weißen Taucher, zu tauchen und Lehm
vom Meeresgrund zu holen. Als er untergetaucht war, brachte er im Schnabel rote und ſchwarze
Erde herauf. Er warf es nach allen Seiten, woraus die Erde entſtand. Sie liegt auf der Meeres
fläche und wird geftigt von einem ungeheuren Fiſch. Wenn dieſer ſich wendet, fo entſteht Erd⸗
beben.
Kaum ein Erdbeben beſitzt eine ſo große geſchichtliche Berühmtheit wie dasjenige von Liſſabon
des Jahres 1753, bei dem mehr als 30000 Menſchen umkamen. Pombal ließ den zerſtörten Teil
der Hauptſtadt prächtig wieder aufbauen. Das furchtbare Ereignis regte nun die Phantaſie
und den philoſophiſchen Sinn der Zeitgenoſſen mächtig an. Einen Voltaire führte es zu peffi-
miſtiſchen und ſkeptiſchen Gedanken über die göttliche Borfehung. Von Kant beſitzen wir nicht
weniger als drei naturwiſſenſchaftlich wie philoſophiſch bedeutſame Abhandlungen aus dem
Sabre 1756, die ſich mit den „ſeit einiger Zeit wahrgenommenen Erderſchütterungen“ auf das
eingehendſte beſchäftigen. In weltanſchaulicher Hinſicht gelangt Kant zu folgender Schluß
betrachtung: „Der Anblick ſo vieler Elenden, als die letzte Kataſtrophe unter unſern Mitbürgern
gemacht hat, ſoll die Menſchenliebe rege machen und uns einen Teil des Unglüds empfinden
laſſen, welches fie mit ſolcher Härte betroffen hat. Man verjtößt aber gar ſehr dawider, wenn man
dergleichen Schickſale jederzeit als verhängte Strafgerichte anſieht, die die verheerten Städte
um ihrer Abeltaten willen betreffen und wenn wir diefe Unglüdfeligen als das Ziel der Rache
Gottes betrachten, über die ſeine Gerechtigkeit alle ihre Zornſchalen ausgießt. Dieſe Art des
Urteils iſt ein ſträflicher Vorwitz, der ſich anmaßt, die Abſichten der göttlichen Natſchlüͤſſe einzu-
feben und nach feinen Einſichten auszulegen.“
Prof. Dr. Richard Herbertz (Bern)
Literatur,
Runjt —
Sean Baul
Ein Sedenkblatt zu des Dichters 100. Todestag
(14. November 1925)
tt eure deutſchen Meifter! Dann bannt ihr gute Geiſter“ — So mahnt einer unferer Größ-
ten, Richard Wagner, der zu Bayreuth, in der lieblichen Frankenſtadt, das Ziel feiner Be-
ſtrebungen erlangt hat. Noch ein anderer Genius, an echtem deutſchem Sinn dem fächfifchen eben-
bürtig, lebte und wirkte in der einſtigen fränkiſchen Reſidenz und hat dort, wie Wagner, fein Stand-
bib: Jean Paul, der größte Dichter Frankens, mit Goethe und Schiller um die Palme ringend.
Als im November 1825 die Trauerkunde durch die Welt zog: Jean Paul iſt tot — weckte ſie
ein lautes Echo in der deutſchen Gemuͤtswelt. Damals hielt Börne feine ergreifende Gedenkrede
im Muſeum zu Frankfurt, in der es heißt: „Eine Krone iſt gefallen vom Haupt eines Königs!
En Schwert iſt zerbrochen in der Hand eines Feldherrn! Und ein Hoheprieſter iſt geſtorben!
Der Norden hat feine eiferne Kraft, der Süden feine goldene Sonne, das finſtere Spanien ſeinen
Glauben, die Franzoſen erquickt der blendende Witz und Englands Nebel verklärt die Freiheit.
Wir hatten Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr“... „Er war ein ſittlicher Sänger.
Nie ſchmüͤckte er häßliche Sünde mit den Blumen feiner Worte aus; nie bedeckte er eine unedle
Regung mit dem Gold feiner Reden ... Er ſtritt für Wahrheit, für Recht, für Freiheit und Glau-
ben, und nie deckte bei ihm die Flagge eines mächtigen Namens fündlich heilloſes Gut, um es den
Ungläubigen zuzuführen ... Er war der Jeremias feines gefangenen Volkes.“ |
Und bei der 100. Wiederkehr des Geburtstags Jean Pauls, 21. März 1863, erſtrahlte Bayreuth
im Feſtglanz. Die Schulen wallfahrteten mit ihren Lehrern zu feinem Standbild und brachten
ihm Kranze; Feſtreden wurden allenthalben gehalten, und Hermann Lingg dichtete ein ſchwung⸗
volles Lied zu Ehren des Voigtländer Pfarrerſohns, der „mit knoſpender Blüte, im Amſelſchlag,
mit der jubelnden Lerche“ am erſten Frühlingstag geboren war und als Oichterlerche fo wunder
dolle Töne gefunden hatte, wie kein anderer vorher noch nachher.
Es gibt kein Glüd in der Menſchenbruſt, Ich möchte den Tag nicht ſchau'n, der kalt
Kein noch ſo ſtilles — du haſt es gewußt Von deinem Albano, von Vult und Walt,
In den Rahmen von Perlen zu fafjen. Von deinen Lianen uns ſchiede.
Die Perlen des Meeres der Liebe, du Stets wehe um jenes Kampanertal,
Haft alle gezahlt und die Träume dazu Wo du mir geglänzt als Zdeal,
Und ımbeglängt keine gelaffen... Ein ſtiller und heimlicher Friede!
Das iſt es, was unüberwinblid ſchafft: Kometen gleich wird von Zeit zu Zeit
Der lautere Mut und die geiſtige Kraft Dein Name ſich vor der Unſterblichkeit
Die keiner Enttäufchung erlieget. Erhellen lichter und lichter.
So walleſt du über dem ſchweigenden Grab Zunächſt dem Diosturenpaar
Und rufeſt zu deinen Menſchen hinab: Sieht dich die Nachwelt immerdar,
„Liebt, hoffet und danket und ſieget!“ Den innigſten aller Didter.
Wie wird das nächſte Jahrhundert nach dem Todestag fic geſtalten? Soll ſich das Wort des
vielſchreibenden Engel bewahrheiten: „Heute nur noch ein berühmter Name, nicht mehr ein ge-
leſener Schriftſteller“?
168 Sean Paul
Wer ift ein geleſener Schriftiteller?
Wenn wir die Frage jtellen nicht im Sinn eines Modeſchriftſtellers, der nach kurzer Zeit wieder
in Vergeſſenheit fällt, wenn wir nicht einen Genfationsroman oder ein Augenblidsmeteor wie
„Rembrandt als Erzieher“ oder Spenglers „Untergang des Abendlandes“ meinen, Schöpfungen,
die nur blenden in einem ihrem Erſcheinen beſonders günftigen Moment, wenn wir Autoren und
Werke von gediegenem und bleibendem Wert darunter verſtehen, die nie veralten, dann iſt in
jedem Volk die Anzahl ſolcher nicht groß. Wenn je, dann war vor hundert Jahren eine Glanzzeit
der Dichtung in Deutſchland wie nur ſelten irgendwo; aber was iſt denn von den Geiſtern der
großen Literaturepoche des Klaſſizismus heute noch „lebendig“? Überbliden wir die glänzenden
Namen, welche damals den deutſchen Parnaß zierten und von denen vier der berühmteſten:
Goethe, Schiller, Herder und Wieland, allein im kleinen Weimar lebten, fo find die meiſten ziem-
lich verblaßt. Klopſtock lebt noch in einigen ſeiner Oden — ſeinen Meſſias lieſt ſicher niemand
mehr —, Leſſings Dramen muten ſchon ziemlich altväterlich an, aber er erhält ſich noch durch
feinen meiſterhaften Stil; Herder, einft führend durch den Reichtum feiner Anregungen, wenn
auch nicht ein ſchöpferiſcher Geiſt, ſitzt ziemlich im Hintertreffen, und Wieland, der deutſche Vol⸗
taire, iſt uns ungenießbar geworden. Goethe und Schiller freilich haben ſich behauptet, aber nicht
in allen ihren Schöpfungen. Wer findet Geſchmack an den Wanderjahren, an Schillers Armenier,
an den Aſthetiſchen Briefen? Ich glaube, unter den ſieben großen Genien der Weimarer Periode
iſt Jean Paul der unſerem Empfinden am nächſten Stehende, der Modernſte, der Lebendigſte.
Ex hat nie ein fremdes antikiſierendes Gewand angezogen wie die beiden Didterheroen, zu
deren Verſtändnis man ftets ein mythologiſch erklärendes Lexikon zur Hand haben muß; er hat
aus dem innerften Geiſt der deutſchen Volksſeele geſchaffen; feine Dichtung hat unvergleichliche
Schönheiten, herrliche Geſtalten, dazu einen unverwelklichen Humor und die Weihe edelſter Hu-
manität und religidfer Erhabenheit — nur haften ihm freilich Manieren der Schreibart an, die
feine Lektüre mitunter ſchwierig machen; aud iſt der ſentimentale Gefühlsüberſchwang und die
übermäßige Breite, zumal in den Jugendromanen, ein Hindernis ſeiner Verbreitung. Dem
konnte aber durch eine verſtändige Kürzung abgeholfen werden.
Wer einen raſchen Einblick in Jean Pauls Eigenart und beſonders in feinen gefühlvollen Hu;
mor tun will, leſe „Des Amtsvogts Joſeph Freudel Klaglibell gegen feinen ver-
fluchten Damon“ — er wird nicht aus dem Lachen kommen. Ahnlich iſt des pedantiſchen Rek-
tors „Florian Fälbels und feiner PrimanerReiſe nach dem Fichtelberg“. Wie fein find
bier die päbagogiſchen Fehlgriffe in komiſchen Situationen gezeichnet, und doch weht ein gemüt-
voller Hauch über dem Ganzen.
Oder beſſer noch: Was gleicht dem „Leben des vergnügten Schulmeiſterleins Maria
Wuz in Auenthal“? „Wie war dein Leben und Sterben fo ſanft und meerftille, du vergniigtes
Schulmeiſterlein Wuz!“ beginnt dieſe „Art Idylle“, wie der Dichter das Werkchen betitelt — die
erſte rein harmoniſche Schöpfung des aus ſchweren Leibes - und Seelenkämpfen zum inneren
Frieden erwachten Kandidaten der Theologie.
Aber Jean Paul iſt nicht nur Humoriſt, ihm ſtehen auch erhabene Töne zu Gebote; ja fie bilden
auch im neckiſchen Humor den tieferen Hintergrund. „Die unſichtbare Loge“ und der , Hefpe-
rus“, dieſe feurigen Jugendromane mit ihren noch nicht ausgegorenen ſchwärmeriſchen Gefühls-
ſchwelgereien offenbaren doch einen Flug des Genius bis zu den erhabenſten Höhen und ge-
beimjten Tiefen des Seelenlebens. Jugendfreundſchaft und erſte Liebe — wo iſt fie ſchöner ge-
ſchildert worden als im Seelenbündnis Viktor-Flamins mit feinen feinen Kontraſten und dem
jähen Konflikt, den die gemeinſame Liebe zur Heldin Klotilde mit ſich bringt? Dazwiſchen immer
wieder die komiſchen Intermezzo des Pfarrers Eymann. des Apothekers Zeuſel, des Intriganten
Matthieu.
Der „Quintus Fixlein“ ift eine höhere Auflage des Wuz; der erſte aber ganz von ben fenti-
mentalen Sugendfeblern freie große Roman iſt der „Siebenkäs“. Es iſt erſtaunlich, welche Fort!
Sean Paul 169
chritte der Dichter hier aufweiſt. Die Erfolge des „Heſperus“ in der Wertherzeit befeuerten ihn
gleich Goethe nur zu reineren und edleren Schöpfungen. Die Gefühlsſeligkeit iſt nun gedämpft
zu maßvoller Gemütswärme, ber Freundſchaftsenthuſiasmus zum ruhigen, ernſten Männer-
lieben des Armenabvokaten zu feinem Leibgeber, dieſer wundervollen Figur, einzigartig in der
Literatur, gigantiſch, einſam durch die Welt gehend, weltverachtend, vor niemand ſich beugend,
nur in der Freundſchaft erwarmend. Hier treffen wir auch die erſte ganz gelungene Frauen
geftalt: Lenette, die fleißige, fromme Hausfrau, die freilich die Mängel des engen Haushalts
recht ſchmerzlich empfindet und ſich gar nicht in den leichten Sinn und die wunderlichen
Kaprizen des Ehemanns finden kann. In tauſend feinen Zuͤgen iſt der Gegenſatz der weib-
lichen Pſyche zur männlichen, der Kontraſt einer kleinbürgerlichen, hausbadenen Natur zum
weltbuͤrgerlichen Philoſophen und Humoriſten bis zur trennenden Kataſtrophe mit unerbitt-
licher Konſ equenz ausgemalt. Der Didter hatte dieſen Kontraſt ſelbſt erlebt im Haus der
Pfarrwitwe, als ein Stuck des Hausrats nach dem andern zum Verſatzamt wanderte und er
allen Stoizismus aufbieten mußte, um nicht den Glauben an die Vorſehung zu verlieren. Alle
echten Meiſterwerke find aus dem Herzblut des Genius entſprungen, und ganz beſonders die
unſeres Dichters; hier iſt nichts Gequdltes und Erküͤnſteltes. Der „Wuz“ war die Frucht des
Echwarzenbacher Hofmeifterlebens, wo Jean Paul an fähigen Schülern die Kindesſeele in ihrer
[dinen Entfaltung kennenlernte, und die folgenden Romane ſpiegeln feine SEITEN
Liebeserlebniffe.
Her Gipfelpunkt des Jean Paulſchen Schaffens aber iſt der Titan.
das Problem des Genies ift der Gegenftand desſelben. Es war ja die große Geniezeit über
Deutſchland angebrochen, die Blütezeit der Dichtung und Philoſophie mit ihren Herrlichkeiten
und Ausartungen. Auch hier fußte Jean Paul auf lebendigſter Erfahrung. Er war nach Weimar
gepilgert, hatte hier die großen Männer, deren Werke er kannte, auch perſönlich kennengelernt,
ihre Bedeutung, Größe, aber auch ihre Schwächen erkannt und zum Studium für feine Dichtung
verwertet. Jetzt kann ich den Titan ſchaffen“, ſchreibt er von Weimar aus an feinen Freund Otto.
Auch das Hofleben und die weibliche Ariſtokratie malt er nun mit Meiſterſchaft und Treue, wäh-
tend dieſe Regionen in den bisherigen Romanen Karikaturen geweſen waren. Man erwäge nur
feine Liane, dieſe rührende edle und zarte Mädchenfigur, im Kontraſt dazu Linda, die ehefeind-
liche, ſelbſtgeſetzliche, dann Rabette, das Landmädchen, die dämoniſche Fürftin — welch reiche
Galerie lebenstreuer und doch eigenartig typiſcher Geftalten! Daneben die männlichen Titanen:
Roquairol, der geniale Wüͤſtling, fo recht ein Typus der Genieepoche, Schoppe, der wieder-
geborene Leibgeber, auch ſelbſtherrlich, Ich Philoſoph aus der Schule Fichtes, Gaspard, der ver-
meintliche Vater Albanos, „ein Cherub mit dem Keim des Abfalls“ — fie alle erleben ihren Ti-
tanenſturz, und aus dem Chaos erhebt ſich der reine Fürften-Züngling Albano zur Übernahme
einer geläuterten Regierung.
Aberboten konnte der Titan nicht werden durch Großartigkeit des Themas und Glanz der
durchführung; nur in der Meiſterſchaft des Stils und Liebenswirdigteit der Charaktere weiſen
die „Flegeljahre“ noch einen Fortſchritt auf. Das Zwillingspaar Walt und Bult in feinen Kon-
trajten und feiner Herzensgemeinſchaft ift etwas fo Einziges und echt deutſch Gemütliches, daß
man dieſen Roman den ſchönſten Ausdruck der deutſchen Volksſeele nennen könnte, als welchen
ein Franzoſe Wagners „Meiſterſinger“ bezeichnet hat. Ich glaube, die Flegeljahre kann man ein
dichteriſches Seitenſtück zu Wagners Werk nennen. Hier treffen wir auch vielleicht die lieblichſte
von des Dichters Maͤdchenfiguren: Wina, die Generalstochter, von beiden Brüdern Geliebte,
die Walt ihr Herz ſchenkt.
Mit den „Flegeljahren“ hatte Jean Paul den Gipfel ſeines Könnens erreicht; ein gleich be-
deutendes dichteriſches Werk hat er nicht mehr geſchaffen. Die fpäter folgenden drei komiſchen
Romane: „Dr. Katzenbergers Badereiſe“, „Fibels Leben“ und „Oer Komet“ bewegen
ſich auf niedrigeren Sphaͤren
170 Sean Paul
Nach Vollendung oder vielmehr Abbruch der „Flegeljahre“ — denn der Roman iſt eigentlich
unvollendet — machte Jean Paul eine längere Pauſe im Dichten und wandte ſich theoretiſchen
Studien zu. Vor allem wollte er das dichteriſche Schaffen überhaupt einer eingehenden Analyfe
unterwerfen und ſich über feinen Lebensberuf Rechenſchaft geben. Die Frucht dieſer lang vor-
bereiteten Arbeit ijt die „Vorſchule zur Aſthetik“, ein Werk der feinſten und genialſten Züge,
gleich bedeutend als Lehrbuch und Stilleiſtung. Ihm folgte „Le vana“, eine Theorie der zweiten
von Jean Paul gehandhabten Kunſt, der Erziehung.
Dak Jean Paul als Denker nicht minder groß wie als Dichter war, glaube ich, in meinem Wert
„Jean Paul und ſeine Bedeutung für die Gegenwart“ (2. Aufl. bei Meiner, Leipzig
1923), ſowie in dem Aufſatz „Jean Pauls philoſophiſcher Entwicklungsgang“ im „Ar
div für Geſchichte der Philoſophie“, XIII. Band, bewieſen zu haben. Das „Kampanertal',
die „Selina“ und zahlreiche Exkurſe in feinen Romanen und Einzelartikel bekunden den Fach-
pbilofophen zur Genüge. Am nddften ſteht Jean Paul dem Gefühlsphilofophen Heinrich Jacobi,
der die angeborenen Ideen Gott, Freiheit und Unſterblichkeit als Zeugnis der höheren. Natur
des Geiſtes erfaßt und auf ihnen ein Gebäude der naturlichen Sittlichkeit und Religion ohne ton-
feſſionell- kirchliche Färbung aufbaut.
An der Seite dieſes Führers kämpft Jean Paul ſowohl gegen den Eudämonismus der fran
zöfifchen Enzyklopädie als gegen die idealiſtiſche Schule Kant-Fichte Schelling -Hegel, welche ihm
die Wirklichkeit zu unterhöhlen und den Gottesglauben zu gefährden ſchien. Jetzt, wo die ideal ·
ſtiſche Hochflut ſich verlaufen hat, und der Perſonalismus und gereinigte Theismus den Höhe
punkt der Zeitpöhiloſophie bildet (ich erinnere nur an die Namen Rudolf Eucken, Heinrich Rickert,
Ludwig Buſſe, Eduard Spranger, Henry Bergſon), ijt Jean Paul als Philoſoph ganz be
ſonders zeitgemäß.
Wichtig iſt noch Zean Paul als Politiker. Jean Paul hat zu den Zeitbewegungen wieder
holt literariſch Stellung genommen — und welch einſchneidende politiſche Exeigniſſe erlebte er in
unmittelbarſter Nähe: die Franzöſiſche Revolution, die Auflöſung des alten Römiſchen Reichs
und der geiſtlichen Fürſtentümer, die Neugeſtaltung Europas unter Napoleon und noch deſſen
Sturz! Wie nahm der Oichter zu all dem Stellung? In meinem Hauptwerk habe ich S. 360
bis 391 dieſes Kapitel eingehend und mit den intereſſanten Wandlungen Jean Pauls behandelt.
Hier nur kurz folgendes:
Anfangs war Jean Paul glühender Republikaner à la Rouſſeau, den er tief verehrte. Die ver
ächtliche Stellung, die er den Kleinfüͤrſten in Hohenfließ, Scherau, Flachſenfingen und ihrem Hof
anweiſt, zeigt deutlich die ultrademokratiſche Gefinnung des Dichters. Aber der Verlauf der Fran
zoͤziſchen Revolution und die ſchlimmen Früchte des Jakobinertums in Deutfchland machten ihn
ſtutzig, und er bewundert ſpäter die Weitſichtigkeit Goethes, „der ſchon den Anfang der Fran-
zöſiſchen Revolution verachtet hatte, wie wir alle das Ende derſelben“. Er wird nun ein Bewun-
derer Napoleons, dieſes „Aſtralgeiſts und regierenden Planeten Europas“, hofft ſogar von ihm
die Genefung Oeutſchlands, das ihm unter dem beftändigen Antagonismus Oſterreichs und
Preußens keine ruhige Entwicklung verſprach. Dieſe Stimmung liegt der „Friedenspredigt'
zugrunde, erſchienen 1808. Zwei fo anſehnliche Kulturvölker wie das deutſche und franzöſiſche
ſollten ſich verföhnen, aneinander emporbilden, nicht ſich zerfleiſchen. Gegen Fichte, der gleich
zeitig mit feinen „Reden an die deutſche Nation“ hervortrat, bemerkt er: „Oeutſchland iſt noch nicht
verarmt. Nicht Schlachtenſiege — dieſe Kinder der Stunde, dieſe Seſchöpfe der Berechnung —
ſind Zeichen der Kernhaftigkeit eines Volks, ſondern die Art, wie Niederlagen ertragen und Siege
genoſſen werden ... Fichte, dieſer Polyphem mit einem Auge, jagt ſich Furcht vor möglicher
Barbarei ein. So ift der Menſch: bei großen, fremdartigen Ereigniffen fürchtet er fic immer
vor feinem jüngften Tag .. . Nur durch geiſtige, nicht durch kriegeriſche Überlegenheit könne eine
Kultur eine andere überwinden.“ (Man denke an Spenglers „Untergang des Abendlandes“
Wie notwendig iſt jetzt der Optimismus !) Die dreifache Hydra des Luxus, der Unkeuſchheit, der
Scan Paul 171
Ichſucht fei ein ſchlimmerer innerer Feind als der äußere. (Barmat-Konzern !) Jean Paul ſchlägt
Nationaltrauertage nach Analogie der römiſchen an Jahrestagen wie der Schlacht an der Allia
bei Cannd uſw. vor, ferner Entſagungsgeſellſchaften, und beklagt die „Sonnenwende der Reli-
gion“, hält auch „Politiſche Faſten predigten“.
Die „Jämmerungen“ (1809) follen nach der Vorrede nicht nur eine Frühlingsdämmerung
voll Lerchen und Blüten, ſondern auch eine Götterdämmerung bezeichnen, die ihm nahe bevor-
ſtehend dduchte. Mit Mut tritt er der allzu hohen Bewunderung des Feldherrn und Eroberers
entgegen und hält die Beſonnenheit und den Märtyrerſtolz in Gefahren für weit heldenhafter.
Gin ganzes Kapitel trägt die Überfchrift „Kriegserklärung gegen den Krieg“, dieſe ſchlimmſte
Geißel der Menſchbeit. Bereits konnte er auf Maſchinengewehre hinweiſen und fragt, wie bei
ymehmender Technik künftig Kriege ausfallen werden. (Wir, die unter den Nachwehen des Welt-
triegs leiden und die neuerlichen Erfindungen der Phyſik und Chemie kennen, müjfen ſchaudern,
wenn wir einen zukünftigen Krieg uns nur vorſtellen.)
Mit Friedrich Schlegel arbeitete Jean Paul an der Wiedergeburt Oeutſchlands auf freiheit;
licher Grundlage und ließ im franzoſenfeindlichen „Oeutſchen Muſeum“ zu Wien 1811 feine
„dämmerungsſchmetterlinge“ flattern. Er ſagt da: „Kein Land wird reich oder mächtig
—vielmebr das Gegenteil — durch das, was es von außen hineinbekommt. ſondern nur durch
das, was es aus ſich ſelber gebiert und emportreibt.“ Ruhig an Bildung und Kultur arbeiten und
auf die Vorſehung vertrauen! „Als Rom entſeelt ohne Freiheit und Sittlichkeit dalag und an
dem Riefenfadaver eine ganze darangekettete Welt hätte vermodern muͤſſen ... wer obfiegte der
ungeheuren Gift- Roma? Das Oörfchen Bethlehem. Wollet alſo nicht erraten, ſondern ver;
trauen *
Das, meine ich, ift auch das einzige, was uns bleibt. Innere Kultur, Unabhängigkeit von
Schlagworten, Sammlung in literariſchen Geſellſchaften, Pflege des heiligen Feuers der Gefin-
nungstuͤchtigkeit an dem Geiſt unſerer großen Genies! Wäre nicht Jean Paul ein paſſender Ein-
heitspunkt der deutſchen Kultur? Eine Jean-Paul-Geſellſchaft als Hüterin feines Erbes, Aus-
legerin feiner weitragenden Ideen? Wäre das nicht ein erwünſchter Sammelpunkt über allen
konfeſſionellen und politiſchen Parteiungen? Wie weit wir mit ihnen kommen, beweiſt der zer-
fahrene Parlamentarismus und der Konkordatsſchacher, der mit Konservierung altersſchwacher
Inſtitutionen das Vaterland gerettet glaubt. Eine Geiſtesariſtokratie iſt nötig, nicht eine
auf allgemeinem Stimmrecht beruhende Maſſenherrſchaft; nur jene kann wirklich führen und ret;
ten. Und fie muß religiös eingeſtellt fein; denn „ohne Gott“, jagt Jean Paul, „gibt's für den Men-
ſchen weder Zweck noch Ziel, noch Hoffnung, nur eine zitternde Zukunft, ein ewiges Bangen vor
der Dunkelheit“.
An Werken über den Dichter ift unſere Literaturgeſchichte nicht reich. Richard Otto Spazier
der Neffe Jean Pauls, gab die erſte Biographie heraus, die, längſt vergriffen, in der Schilderung
des Lebens unentbehrlich bleibt, weil aus unmittelbarſter Nähe geſchrieben, aber in der Beleuch-
tung feines Schaffens unzulänglich, was die philoſophiſche, überhaupt wiſſenſchaftliche Seite
des Dichters betrifft, geradezu dürftig iſt. Die bislang maßgebende Biographie Paul Nerrlichs
hinwieder enthält derartige Verſündigungen gegen primitivfte Forderungen der Wiſſenſchaft,
der Schreibweiſe und des Geſchmacks, daß davor gewarnt werden muß. Statt ſich in die tiefe und
teiche Perſönlichkeit des Genius zu verſenken, fein Denken und Fühlen verſtehen zu lernen und
den Leſer in das eigenartige Schaffen des Dichters einzuführen, ſchulmeiſtert Nerrlich denſelben,
übergießt namentlich deſſen religiöfe Ideen mit Spott und Hohn und plädiert in aufdringlicher
Deiſe für feinen Abgott Hegel, der das Welträtſel endgültig gelöft habe, fo daß z. B. von Geiſt und
Körper als zwei verſchiedenen Weſen nicht mehr geredet werden dürfe.
3 habe außer meinem Werk „Jean Paul und feine Bedeutung für die Gegenwart“
2. Auflage bei Felix Meiner, Leipzig) auch eine „Biographie mit Spruchauswahl“ im
Kenien-Verlag, Leipzig (Windmühlenweg 3), verfaßt.
172 Sean Paul
Vor allem aber tut eine Ausgabe feiner Werke not. Die Geſamtausgaben bei Reimer & gem
pel find längſt vergriffen, auch mangelhaft in Text und Ausſtattung. Die Propylãen Ausgabe
von Eduard Berend enthält zwei wichtige Romane nicht („Unſichtbare Loge“ und „Komet“),
bringt im erſten Band „Satiren und Idyllen“ kunterbunt aus der erſten wie letzten Zeit des
Dichters, alſo ohne chronologiſche Folge und ohne Einblick in die Entwicklung des Dichters. Der
Text ijt nicht nach der letzten Geſamtausgabe, die ber Dichter ſelbſt noch vorbereitet hat, ſondern
nach Einzelausgaben hergeſtellt; auch ſonſt find viele methodiſche und ſachliche Verſtöße zu be-
merken; viele der ſchönſten Arbeiten fehlen; die Lebensuͤberſicht am Schluß iſt dürftig und matt.
Es fehlt dem Bearbeiter an wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen, um einem Jean Paul gerecht werden
zu können, am vaterländiſchen und religidfen Sinn und — last not least — an Stil und Ge-
ſchmack. g
Von Meyer -Benfey, Paul Harms u. a. iſt beklagt worden, daß die kleinlich philologiſche Be
handlung unſerer Klaſſiker, wie ſie die Schererſche Schule gezeitigt und zur herrſchenden auf den
Univerſitäten und in der Literarhiftorie gemacht hat, einer tiefer auf den Geiſt des Genius
gehenden zu weichen habe. Meyer Benfey hat es offen ausgeſprochen, daß Scherer und feinen
noch flacheren Schülern der Niedergang der Literaturgeſchichte zu danken ſei, die auch nicht ein
kongeniales Werk über die großen Geiſter der ſchöͤnen Literatur ſeit fünfzig Jahren geſchaffen
habe. Man vergleiche dagegen, was Jakob Grimm, Julian Schmidt, Rudolf Haym, Friedrich
Theodor Viſcher, Kuno Fiſcher, Martin Deutinger, Hermann Lotze, um nur einige zu nennen,
auf dieſem Gebiet geleiſtet haben. Nicht umſonſt iſt auch die beſte deutſche Literaturgeſchichte
von einem Theologen (Vilmar) geſchrieben. Es follte doch einleuchten: Goethe, Schiller, Jean
Paul, Leſſing uſw. gehören den Philoſophen, nicht den Philologen. Textkritik und was dazu ge
hört iſt nur Vorſtufe; wo der Philolog endet, beginnt erſt die eigentliche Arbeit des Literar-
biftoriters. Ich glaube, in Herausgabe und Erklärung einer neuen, ſtreng chronologiſchen, auch
Perlen der erſten Schaffenszeit, die bisher ungedrudt waren, aufweiſenden Ausgabe die Ausgabe
geftaltet zu haben, die den Dichter in dem zeigt, worin er unſterblich iſt, aber alles ausgeſchieden
hat, was veraltet, geſchmacklos, überſentimental und burlesk iſt; denn auch Jean Paul flat
zuweilen wie Homer. Ein vollſtändiger Abdruck alles deſſen, was er geſchrieben, kann ohnehin
nicht geleiftet werden und wäre nur für den Spezialiſten; denn der ungedruckte Nachlaß in der
Berliner Handſchriftenbibliothek allein umfaßt zwölf mächtige Faſzikel mit je 3000 Seiten.
Das iſt aber noch lange nicht alles; auch in Weimar, Münden, Nürnberg und im Privatbeſitz
find noch Reliquien. Berend ſammelt die Briefe, iſt aber erſt beim dritten Band. Dieſer Samm-
lung haftet der Mangel an, daß ſie nicht wie die früheren gedruckten Briefwechſel die Briefe der
Adreſſaten mit enthält, daher vielfach unverſtändlich iſt. Auch iſt die eigenſinnige Orthographie
des Dichters, die keine Doppelkonſonanten, kein j, kein s, tein tonloſes h enthält, beibehalten,
was die Lektüre zu einer Pein macht. Jean Paul ſchreibt z. B.: Razel für Ratfel, ietzt, Herel,
Mädgen, Gebürg, Augſpurg.
Jedenfalls iſt das Nötigſte, daß eine gediegene, moͤglichſt vollſtändig das Unverganglide
gebende Ausgabe herauskommt, damit Jean Pauls Werke endlich Gemeingut des deutſchen
Volks werden!
(Dieſe iſt eben bei Albert Langen München erſchienen. Sie umfaßt vier Bände, à 1000 — 1200
Seiten, und koſtet in elegantem Leinwandband nur 60 Mark. Eine ganz vorzügliche Aus-
gabe! O. T.)
Dr. Joſeph Müller
173
Neue Bücher
nfere Zeit iſt trächtig von Keimen zu einem neuen Werden, zu neuen Formen, zu neuer
Fille. Die ſtaatspolitiſchen und wirtſchaftlichen Umwälzungen, fo viel fie auch zerbrochen
haben an ſcheinbaren und echten Werten, ſind nicht das Letzte des deutſchen Schickſals. Aber daß
der Menſch, und gerade der deutſche Menſch vor dieſen ungeheuren Trümmern ſteht und über
fie hinweg zu neuen Ufern ſtreben muß, daß in der babyloniſchen Sprach verwirrung der Oeutſche
wieder auf die Tiefen quellen, auf die innere deutſche Stimme horchen lernt, die feines Weſens
Vert und Weihe gebildet — daß angeſichts des Nichts und des neuen Beginnens die deutſche
Sehnſucht aufwacht zu tätigem Leben, zu ſchöpferiſcher Lebensgeſtaltung, zur Gottesnähe: dies
ift groß und Wende und Verheißung.
Noch greifen nur wenige Schöpferhände in das geiſtige Chaos der Zeit, es zu formen zu Sinn-
bildern und Erkenntniſſen des Künftigen; noch ijt die Tiefe und Zukunftsweite des deutſchen
Schickſals nicht überall zu ſchöpferiſchem Bewußtſein gelangt. Beſonders bemerkbar iſt dies auf
dem Gebiete der literariſchen Produktion — fo bringt auch die heutige Bücher Schau neue Ro-
mane aus der Zeit, für die Zeit, Fernes und nah Vergangenes — — auch Künftiges?
Ludwig Huna, der meiſterliche öſterreichiſche Erzähler, deffen ſtarken nordiſchen Wieland
Roman wir an dieſer Stelle im Dezember 1924 angezeigt haben, hat eine beſondere Vorliebe
für die Renaiffance. Verſchiedene Renaiffanceromane find dem neueſten Werk: Die Ver-
ſchwörung der Pazzi (Verlag Grethlein & Co., Leipzig-Zürich) vorangegangen. Das Florenz
der Frühren aiſſance iſt der klaſſiſch-ſchöne Schauplatz des Buches, der berühmte Runitfreund
und Staatsmann Lorenzo de Medici und feine prunk ; und luſtvolle Künſtlerrepublik, in der die
Botticelli, Verrochio, Ghirlandajo, Filippo Lippi und der junge Leonardo da Vinci und viele
andere neben den Gelehrten ihr farben- und formenrauſchendes Leben führen, iſt der Haupt;
kreis, daneben die alten Adelsgeſchlechter, voran die Pazzi, denen der Ruhm, die Würde und die
Vollsgunft der Mediceer Antrieb iſt zu einer Verſchwoͤrung, die ein blutig - ſchauerliches und für
die Verſchwöorer vernichtendes Ende nimmt.
Suna übertrifft ſich in dieſem Roman in der glutenden Leidenſchaft, in der unerhörten Farben
jomphonie, in der meiſterhaften Stimmungsfülle der Oarſtellung, die das Werk zu einer feffeln-
den Lektüre machen. Ein Bacchanal an ſinnlichem Schönheitskult, an Formenfreude, an heid-
niſcher Lebensluſt — oft auch eine Auferſtehung jener Boccaccio Abenteuer. Während die zahl-
teichen Geftalten des Buches mehr oder minder plaſtiſch herausgearbeitet find, iſt Lorenzo de
Medici eine ſchoͤne, reife und überzeugende Charakterſtudie — ein großer Mann und ein edler
Kopf.
Es ſei aber einem Kritiker, der über das einzelne Buch und Werk die Gegenwart und ihren
Ruf, die deutſche Sendung und das Weſen der echten Dichtung und Perſönlichkeit nicht vergißt,
vetftattet, aus Anlaß dieſes ſehr gekonnten Werkes und zahlreicher anderer Renaiffance-
Erzählungen und Theaterſtücke zu bemerken: Zeit und Leben der Renaiſſance bergen keine
Kräfte und Säfte, die unfere Zeit, unſere Not, unſer neues Werden aufnehmen könnten. Es war
doch nur mehr eine großartig gelebte Außerlichkeit, nur mehr Sinnenrauſch und Formentult —
ein chriſtlich nur ſchlecht verbraͤmtes Heidentum — dem der höͤchſte und geſtaltende Vert: die
Seele, fehlte. Bei den wenigen Ausnahmen der Genies jener Zeit: das Menſchentum war gering.
Mochte der treffliche Meiſter des Wortes Ludwig Huna ſein leidenſchaftliches Herz doch auch
wieder in unfere Mitte ſtellen!
an eine ganz deutſche Welt des Mittelalters und doch auch in die religiöfe Gedankenwelt unferer
Zeit führt uns Lulu von Strauß und Torney in ihrem neueſten Roman: Lucifer (Verlag
Eugen Diederichs, Jena). Inmitten ausdrucksſtarker Charaktere, Meiſterleiſtungen dichteriſcher
Menſchenſchöͤpfung, die auch fofort die Balladendichterin ahnen laſſen, erleben wir mit dem
jungen Edeling Burkard vom Haus einen furchtbaren und zutiefſt eindringenden Kampf um
174 Neue Bücher
Gott. Härteſte Schickſale zwingen den Züngling zu einer unerwünſchten geiſtlichen Laufbahn,
Leid über Leid formen an dieſer urhaft deutſchen, fauſtiſchen Seele — entfremden ſie dem
Glaubensbeſitz, liefern die Seele dem Meer von Zweifeln und bohrendem Suchen aus. An der
machtvollen und in Rembrandtfarben geheimnisſchwer leuchtenden Geftalt des Schaumburger
Oomherrn will dieſe Seele heimfinden zu der unſichtbaren Kirche Gottes und Chriſti, die mit
der irdiſchen Kirche der Zeit fo wenig gemein hatte — bis neue gewaltige Enttäuſchungen
und Erſchuͤtterungen durch den geliebten Domherrn, durch das böſe Tun der verwirrten und un-
chriſtlichen Diener der Kirche dieſen eiſenharten Menſchen entwurzeln und letztlich zu ungeheuren
Erkenntniſſen über das Weſen des Böſen und die Söͤttlichkeit auch Lucifers, des vierten Teiles
aus Gott, führen. Der Minch Burkard ſtirbt den Ketzertod in Flammen — in Flammen iſt aber
auch dies Werk getaucht, vor dem ich nur bekennen kann, daß es groß, ſtark und erlöfend iſt, daß es
den Menſchen hinnimmt, wie es nur die Kraft des Geiſtes und der Gnade kann, und daß eine
edle Dichterin es ſchrieb, der die Teilnahme aller Deutſchen gebührt.
Max Ore yer, deſſen kraftvolle und fo fehr dem Leben dienende Werke noch lange nicht alle die
erreichten, die fie in beſonderem Maße angehen, ſchrieb mit feinem letzten Roman Das Gym-
nafium von St. Jürgen (Verlag L. Staadinann, Leipzig) ein Werk, für das ihm zunächft alle
Eltern und Zugenderzieher dankbar fein werden. Ganz aus unſerer Zeit, befaßt ſich der Roman
mit dem gewaltigen Problem der „neuen Schule“. Wie für manche alte Einrichtung hat das
Nachkriegsregiment auch für die deutſche, angeblich verkalkte und fterbensreife Schule keinen voll;
wertigen Erſatz, nichts wirklich durchdringend Neues ſchaffen können. Vom jungen ſozialiſtiſchen
Lehrer bis hinauf zum hohen Schulbeamten ein blindwütiges „Reformieren“, mehr Zerſtören,
ein Schwelgen in Schlagworten und dem Veſen der Schule fremden „Erkenntniſſen“ vom
„jungen Menſchen“. Denn die alten Wurzeln geben doch nun mal nur den einen gleichen Saft
ber, der immerhin die deutſche Jugend von 1813, 1870 und 1914 zu kraftvollen Menſchen ftählte,
der immerhin ſo große Leiſtungen auf allen Gebieten des tätigen Lebens ermöglichte.
An zwei prächtig gezeichneten und lebenswahren Typen des kraftvollen, gut deutſchen Sym-
naſialprofeſſors Joachim Braß, der allem Weſentlichen und Guten im Neuen offen ſteht, ohne
den Boden zu verlieren, der ihn bildete und trägt, und des glänzenden Redners und Pofeurs
Miniſterialrat Falkner, eines Vertreters der Phraſe und des Umſturzes aller Werte, veranfdau-
licht Dreyer das alte und neue Syſtem. In dieſem friſch und lebendig geſchriebenen Buch ſteckt
eine Fülle von Anregungen, guter Beobachtung, pſychologiſcher Feinheit. Ein geſunder Lebens-
wille ſtrömt aus ihm, und das Geſetz naturbedingter Entwicklung aus den gegebenen Grundlagen
wird anſchaulich bekräftigt. Eine letzte Löſung kann und will das Buch natürlich nicht geben —
aber als wichtiger lebens voller Beitrag zu der heiß umſtrittenen Frage iſt es zu begrüßen und der
deutſchen Familie zu empfehlen.
Ins volle Leben packt Hans He ye, der feinen erſten Roman gibt: Der Zeitgenoſſe (Verlag
2, Staackmann, Leipzig). Nur was er in der Hand behält, ijt nicht das volle Leben mit feiner
Fülle typiſcher Zeitgenoſſen — denn um das alles zu faffen, gehören gang ſtarke Fäuſte und vor
allem doch eine größere Lebensſicht und Diſtanz zum Objekt dazu. Immerhin: es iſt dem jungen
Autor gelungen, einen gut geſchauten Ausſchnitt jenes morſchen und undeutſchen Lebens
nach 1900 bis zum Kriegsbeginn und bis in die erſte Zeit nach der ſogenannten Revolution
zu geben, und vor allem: vor uns ſteht leibhaftig ein fatyrifher Erzähler von befonders
kräftigem Talent auf dieſem von deutſchbewußten Autoren nur wenig beachteten oder dem
deutſchen Rünftler beſonders ſchwierigen Gebiet. Hans Heyck führt eine glänzende, überaus treff-
ſichere Feder, voll Witz und ſprudelnder Dialektik und verfügt über ein kompoſitoriſches Können,
das dieſen Roman mit künſtleriſcher Spannung fättigt. Der zweite Teil des Buches, Krieg und
Nachkriegszeit, offenbart an zahlreichen Stellen eine dichteriſche Natur von tiefem Gemuͤtsgehalt
durchweg aber die Runft der Charakteriſierung und Fingerſpitzengefühl für die nod fo verborge-
nen ſeeliſchen Krankheiten.
Neue Bücher 175
Manche Unebenheit, Unwahrſcheinlichkeit, jo der Nietzſcheaner und bäuriſche Wandervogel Pie-
ter, ein manchmal überjchäumendes Zuviel an Witz und Satire — mindert den guten Ein druck
dieſes Exftlings nicht. Auf daß ſich dieſes unleugbare Talent aus der Satire und aus dem Anfang
u echtem Humor und zur Weite entwickle, iſt die Anteilnahme des geſchmackvollen Leſepublikums
etwuͤnſcht.
Der erſte Roman des Schwaben Chriſtoph Netzle: Fräulein Mozart (9. Haeffel, Leipzig)
gibt die Entwicklung eines jungen ſchöpferiſch begabten Menſchen, eines Studenten, bis zur Er-
lenntnis vom Sinn des eigenen Lebens, bis zum Sich-beſcheiden. Es find die Jahre vor dem
Kriege, und ein nicht zu unterſchãtzender Vorzug des Buches ijt die liebevolle Zeichnung des Ortes
der Handlung: München. Verfehlt ijt der nach Senſation ſchmeckende Titel, der auch wenig Ve-
jehung zum Ganzen hat. Wenn ſchon der Held, der Student Hans Greder, feine Liebe und
ſpdtere Frau in ihrem Weſen mozartiſch empfindet — der Dichter Netzle bringt in dieſem jungen
ISabcigen Mädchen dieſes „göttlich heitere, harmoniſche“ Weſen für den Lefer nicht überzeugend
heraus. Auch ſonſt iſt Eva Loeper ſehr unwirklich — mit 19 Jahren hat man noch nicht die ſe
Reife und Lebensgewißheit, dieſe Beherrſchung und unbeirrbare Sicherheit, dieſes Weibtum, das
ett des Leben ſchafft. Zumal, wenn es ſich um ein einfaches, liebes Mädel handelt. Zu dieſen
Schwachen kommt noch die mangelnde Rompofition, der die Zucht des Aufbaues, der Verteilung
ind Belihtung fehlt. Dennoch dürfen wir Netzle und fein Werk als die Außerung eines ringenden,
kimpfenden Menſchen begrüßen, als einen Ausdruck jenes deutſchen Strebens, das aus dem
Verhaftetfein an Eros und Diesſeits das in Gott ruhende Sein, die Vergeiſtigung des Lebens
fudt. Zahlreiche allgemein menſchliche Züge machen uns dieſen Studenten Hans Greder ver-
wandt, oft erreicht Netzle jene Höhe und Tiefe des Ausdrucks ſeiner inneren Kräfte, die ſein
dichtertum bezeugen. Und es zieht jener Strom der Menſchlichkeit durch das Buch, der jedes
Empfinden berührt, der Hunger iſt und Ourſt nach Weſentlichkeit. Neben der realiſtiſchen Con
feffio iſt viel Polemik da — in ſich berechtigte, aber zügellos geformte und wieder gefhmads-
injidere Ausfälle gegen die literariſche Kritik, gegen den entſetzlichen Betrieb bei Preſſe und
Verlag, der ſich hinter den Kuliſſen abſpielt, oft ſtark empfundene und leidenſchaftliche Ausein-
anderfehungen mit der religiöfen Frage unferer Zeit neben erotiſchen Leiden und Rämpfen,
die wiederum allzu realiſtiſche und derbe Worte und Szenen bringen: aber zum Schluß der Sieg
des Willens, des Ja zum tätigen, zielgerichteten Leben.
die reife Erzählungskunft der jetzt 72jährigen Zſolde Kurz kommt aud in dem neuen Werk:
der deſpot (Verlag Georg Müller, München) zu ſicherer Geltung. Gibt Netzle das Beiſpiel
einer Lebensentfaltung am Weibe, fo geht bei Zfolbe Kurz ein Schöpfertum zugrunde am Veibe.
der Roman ſpielt in Tübingen unter Studenten, in den Jahren vor 1870. Oer Held, aus
Reupifchem Militäradel ftammend, iſt eine kleiſtiſche Dichternatur, ein Dramatiker, deſſen Haupt-
wert eine Trilogie um Arminius werden ſoll. Der Erfolg eines Bühnenwerkes bringt ihn mit der
Ligctin der Hauptrolle, einer ſchönen und wohlhabenden Schauſpielerin zuſammen — der
Etudent verläßt die hohe Schule, verläßt die Not des inneren Lebens, um als Ehemann der wohl
gimitigen und ihn febr liebenden, aber immerhin rein diesfeitigen und nur äuferlidem Schon;
kitstult ergebenen Frau ungehindert feinem dichteriſchen Schaffen leben zu können. Das
Schopfertum hat den ganzen Menſchen in Beſitz genommen, iſt der Oeſpot, der nur Ganzes gibt,
dem er ein ganzes Leben empfangen, der rubelos und unſtet und einſam macht, aber auch
teich und ſtark und groß. In der ſorgenloſen und überaus „kultivierten“ Umgebung wird der
dichter unficher feines Sternes — er ſchreibt Rollen und Stücke für feine Frau, Stücke, die
wohl bühnenmaͤßig, bühnenwirkſam find, dennoch nicht feine Werke, nicht Muß und nicht
Hohe. Immer tiefer verfinten Menſch und Geiſt in die umgebende Welt — immer mächtiger
wird die Erkenntnis und der Wille zum großen, einzigen Werk als der einzigen Erlöfung.
der Krieg 1870 findet die Eheleute an der Schweizer Grenze, im Schwarzwald, in einem
alleinſtehenden Landhaus, in dem der Gatte fieberhaft und weltvergeſſen am Arminiusdrama
176 Reue Bacher
ſchafft. Die liebende Frau verbirgt die Nachricht der Mobiliſierung und die Order, und als ein
alter Freund den Dichter beſucht, den er zum Abſchied ſich rüftend wähnt kommt die Rataftropke.
Der Dichter, ganz in feinem Werk, mit dem er dem deutſchen Volk eine ganz große Gabe ſchenken
will, zieht nicht ins Feld — wird fahnenflüchtig — und dieſer letzte Verrat an ſich, an ſeinem
Herkommen und Blut, an der ungeheuren deutſchen Lebenswirklichkeit verſagt ihm auch die
erldfende Kraft zur Geſtaltung eines übermächtigen germaniſchen Dramas der Treue, Kraft und
Hingabe ans Vaterland. Wit die ſtärkſte Triebfeder in dieſer Verkettung der Verhältniſſe iſt das
Weib und ihre abgöttiſche, leidenſchaftliche, dennoch kleine Liebe, die nur ſich und den Mann —
nicht die ewigen Geſetze der Natur ſah. Der Zuſammenbruch, der Tod des Veibes an Schwind-
ſucht, der Selbſtmord des Mannes — fern der Heimat in der Schweiz — iſt unerbittliche Ronfe-
quenz und Schickſalhaftigkeit.
Das hochintereſſante Thema fand eine künſtleriſch vollendete Durchführung. Ruhig und ſicher,
ohne Stocken und ohne Pauſen ſchreitet die wundervoll belebte Handlung ihren Weg. Zahlreiche
echt deutſche Geſtalten find meiſterlich geſchaffen, ſchöͤne und bedeutende Gedanken über Didter-
tum und das germaniſche Hermann- Orama prägen ſich ein — über allem die vornehme Rultur
einer ſtarken dichteriſchen Perſönlichkeit.
Welche Höhe in der künſtleriſchen Form, welche Fülle an dichteriſcher Kraft und allgemeiner
Menſchlichkeit in der Heimatkunſt vorhanden fein kann, zeigt uns der Oſterreicher Anton Schott
in feinem Bauernroman Die Hacker vom Freiwald (Verlag Herder & Co., Freiburg). Es ift
im Grunde genommen die alte Geſchichte: Bauern aus alten Geſchlechtern, ſtolz, hart und nur
auf Bewahrung, Mehrung des Familien anſehens und Beſitzes bedacht. Bauern burſchen, baum;
feſt, ungebärdig und dickſchädelig, aber ſo ſehr Kind im tiefſten, Mädchen, frei und friſch,
kraftvoll und geſund in Fühlen und Cun wie die Natur. Nun die leidige Familienpolitik — die
ähnlich der fürſtlichen Hauspolitit die Menſchen zu Sachobjekten herabwürdigt. Die Natur ijt
hier öſterreichiſche Hochebene, ein verlaſſener Winkel in den Bergen, dennoch heimlicher, karger
Schönheit voll, ein rauher, trotziger und armer Boden — alſo Kampf um das Brot, ſchwert
Mühe. Und die Geſchichte der Hackerbauern ein ſturmvolles Kapitel von Schuld und Sühne.
Nun der Dichter — denn hier iſt ſchon begrenztes, aber un verfälſchtes, boden verwurzeltes
Oichtertum: die Sprache brunnenklar und erdfriſch, humorvoll weniger im Wort als in dem gi-
tigen Schein einfacher herzlicher Menſchlichkeit, die Menſchen köftlihe Typen und liebenswert
oft in die Maßen, ſtark in Liebe und Haß, in herber Güte und Feindſchaft, dabei überall die alte,
wunde, weiche Stelle, die nur der Berührung harrt durch das rechte Wort: das Herz. Die Hani-
lung ſtraff komponiert, reich belebt, bei aller epiſchen Haltung dramatiſch zugeſpitzt. Auch Het
ſpielt der Krieg hinein — mehr ein Wetterleuchten, als die volle Entladung. Auch hier kehrt alles
Geſunde heim in die einzige Lebensluft: Weſentlichkeit und Liebe.
Ein erfriſchender, reiner Trunk iſt dies Buch, aus den geſunden und ſtarken Quellen des von
der mechaniſierten Großſtadtkultur noch nicht verdorbenen Volkstums. Ich kann mir nicht denken,
daß ein innerlich geſtimmter Menſch ohne Gewinn und Dank dies Buch aus der Hand legt.
Zum Schluß möchte ich die Türmer⸗Leſer auf ein ungewöhnliches Werk eines Dänen aufmer!-
fam machen, das um fo mehr intereſſieren wird, als auch im Tuͤrmer in letzter Zeit zur religidjen
Frage unferer Zeit Stellung genommen worden iſt. Ich meine J. Anker Larſen und feinen
Roman Oer Stein der Veiſen (Verlag Grethlein & Co., Leipzig- Zürich). der Roman iſt in
der dänifchen Heimat bei einem Verlags-Preisausſchreiben mit dem Preiſe von 70000 Kronen
ausgezeichnet worden, melden die Blätter und Verlagsproſpekte, er iſt auch in viele Sprachen
überfegt und weit über Europa verbreitet — aber feine tiefſte Weisheit, feine große menſchliche
Schönheit werden dennoch, unabhängig von dieſen lauten Tatſachen, nur die Beſten empfangen
können.
Ungewöhnlich und ſonderbar iſt ſchon zunächſt die Technik des Romans. Einfach, knapp und
oft kindlich „ungelenk“ — aber durchleuchtet von den Geheimniſſen des Oaſeins, des inneren
Neue Bücher | 177
Lebens reihen fid die kurzen Kapitel aneinander. Dazu wirken dieſe Kapitel, die keine fort-
laufende Erzählung der Handlungen darſtellen, ſondern jah überfpringen zu den vielen Ge-
ſtalten und Begebniſſen, Orten und Zeiten, wie ein Raleidoftop: aber das ganze Leben iſt in
ihm eingefangen! Wohl ſpielt der Roman in Oänemark und gegenwärtig, aber das ungeheure
Problem und die Macht der dichteriſchen Perſönlichkeit ſchufen ein europdifdes Werk im engeren,
ein allgemein menſchlich gültiges Werk im weiteren Sinn. Das Problem iſt das Urproblem der
Menſchheit: Gott. Aber Larſens große Leiſtung iſt die Beweisführung, daß das religidfe Gefühl
ein Urtrieb und eine Lebensmacht, ein menſchlicher Weſensbeſtandteil iſt. Nicht die Kirchen und
Religions formen find rüditändig, verflacht, eng und ohne ſpendende Kraft, ſondern das reli-
gidfe Gefühl, die Vorausſetzung jeder Religioſität und die Quelle auch des echten Chriftentums
iſt verflacht und erniedrigt, kraftlos und ſiech geworden in der Menſchheit der Gegenwart.
Drei Geftalten inmitten der unendlichen Fülle von Menſchen dieſes Buches find die Träger
der religidfen Ideen und Strömungen. Varnes, der Paſtorenſohn, der Skeptiker und Kritiker
durchwandert das religidfe Leben bis zur Theoſophie, die ihm nichts Beſſeres und Schlechteres
gegeben hat, als heimzufinden aus Suchen und Spintiſieren und Zweifeln zur Wirklichkeit, zum
Virken, zum goethiſchen „Alles um Liebe“ und „Tätiges Leben“. Zens Dahl, der religiös tief
wtanlagte, aber dennoch menſchlich ſchwache Sucher landet über die chriſtlichen Glaubens formen,
über die Myſtiker und Theoſophen zu den Okkultiſten und zerbricht früh an der Unmöglichkeit,
auf dieſer Erde dennoch im Zenſeits zu leben. Oer dritte Rampfer nähert ſich in der Form feiner
Gtenniniffe und in dem Schickſalswege, auf dem er zu ihnen gelangte, ſtark dem ruſſiſchen
teligidfen Gefühl: ein naives Jn-Gott-Gein, ein Erleben der Gottesnähe aus ſchwerer Schuld
und Sühne, das religidfe Gefühl in der reinſten Grundform.
Aber was iſt mit dieſen paar Sätzen vom Weſen und Gehalt des umfangreichen Buches gefagt?
Wenig, ſehr wenig. Es iſt ein Werk von unendlicher Lebens fülle, von unſagbarer Schönheit in
den geringften Dingen und Menſchlichkeiten, es ſind Worte in dieſer Dichtung, die noch nicht
gejagt worden find in der Literatur. Hier war nicht nur Rönnen am Werk, fondern jenes Etwas,
jenes Höchſte, das wir immer felten antreffen werden in Runft und Forſchung: Erleuchtung.
Wehmut ift tiefbewegend da, aufgedeckt iſt das Triebwerk alles Menſchlichen: aber mddtig und
geſtaltend ſchwemmt der Strom des religiöfen Gefühls die Trümmer der zuſammengebrochenen
Myftizismen und pſeudoreligiöſen Lehren fort. Viel Rindliches, Zartes iſt in dem Buch, aber
auch alle Schwere, aller Krampf und aller Schmutz dieſes alltaͤglichen Lebens. So verlangt das
Werk den reifen, weltoffenen Menſchen, um ihn zu beſchenken und zu beſtärken in dem nie
endenden Kampf des Lichtes gegen die weſenloſe Finſternis.
Franz Alfons Gayda
Ser Türmer XXVIII, 2 12 Bu
Türmers Tagebuch
Graf Überall - Die Kriegslüge und die Verbandsſtaaten
Polens troſtloſe Lage - Drohung mit Räterußland - Locarno -
Der Pakt - Der liebenswürdige Briand Was ihn bewog
Die Cordelia des Völkerbundes
isher iſt Frankreich immer Polens beſter Freund und tatkräftiger Förderer
B geweſen. Nicht aus Nächſtenliebe, ſondern aus ruͤckverſichernder Eigenſucht.
Allein ſelbſt ihm fällt je länger, deſto mehr der anſpruchsvolle Schützling auf den
Nerv. Briand klagte über die läſtige Zudringlichkeit des Warſchauer Außenminiſters.
Er möge in irgend einer Stadt Europas irgendein Hotel betreten, immer laure
an der Türſchwelle hinter dem geſchmeidigen Pförtner auch ſchon der nicht minder
geſchmeidige Alexander Skrzynski. Und Chamberlain klagte, ihm gehe es keineswegs
beſſer.
Dieſer Graf Überall iſt (hier noch rühriger als Beneſch, fein tſchechiſches Bruder
herz. Wir tun gut, ihm immer ſcharf auf die Finger zu ſehen. Frankreich iſt gewiß
gefährlich und bleibt es trotz des Sicherheits paktes von Locarno, allein mit Polen
hat ſich der Völkerbund ſelber die Schlange in den Garten geſetzt. Deſſen hirnver-
brannter Größenwahn ärgert ſich über jeden Waſſertropfen, der nicht fein Mũhlrab
treibt. Wo Skrzynski hinkommt, da ſpinnt er auch ſchon Ranke; ſtreichelt und
ſchmeichelt, bittet und bettelt er nach polniſcher Weiſe. Aber nicht minder nach
polniſcher Weiſe trumpft er auch auf und fordert; ganz nach der Lage und Eigenart
ſeines Gegenübers. Mit jenem geölten Geſchick, das nun einmal den deutſchen
Staatsmännern, fei es durch den Zorn oder die Gnade des Himmels gemeinhin
verſagt iſt, ſät er Täuſchungen, ſchafft er Vorurteile, fädelt er Hinderniſſe für uns
und Erfolge für ſich. |
Ein Genfer Geſpräch über Locarno führte er von hohem Schlachtitzenroß:
„Wir Polen können nicht zulaſſen —“, „wir verlangen“, „der Weſtpakt wird nicht
unterzeichnet, bevor unſer Oſtpakt unter Dach gebracht iſt“. „Was Sie nur immer
mit Ihrem Korridor wollen? Ich kenne keinen“. Auf Chamberlains Wort von der
Notwendigkeit einer allſeitigen moraliſchen Abrüſtung verwieſen, barſchte er mit
hoher Naſe: „Ach laſſen Sie doch philoſophiſche Erörterungen aus dem Spiele.“
* %
%
Graf Skrzynski iſt auch Schriftſteller. In London gab er ein Buch heraus, das
„Poland and peace“ betitelt iſt. Hier arbeitet er jedoch ſelber ausſchließlich mit den
philoſophiſchen Erörterungen, denen er dort, wo es ihm nicht paßte, jedes Dafeins-
recht abſprach. Wie ſegensreich nach dieſem Buche für die Welt, daß Polen wieder
hergeſtellt wurde! Denn nirgends gibt es reinere Schwärmer für die heiligen Ziele
des Völkerbundes als an der Weichſel. Nichts anderes erſehnt die ſarmatiſche Hoch
herzigkeit, als Werkführer und Ehrenhort des europäifchen Friedens zu fein. Wenn
ihm dies nur nicht ſo blutſauer gemacht würde durch die Nachbarn; insbeſondere
das lüfterne Deutſchland mit ſeinem Heißhunger auf edelpolniſchen Mutterboden!
Türmets Tagebuch 179
Grell widerſprach demnach die Zunge dem Buch. Aber das Wort war diesmal
triebhafter, alſo ehrlicher als die Schrift. Ein unbeherrſchter Augenblick hat ver-
taten, daß der Pole ſtets Pole bleibt; gerade am meiſten ſogar dann, wenn er es
mit glatter Rede verbergen will.
Machen es freilich die anderen vom Völkerbund viel anders? Auch Chamberlain
hat die moraliſche Abrüftung zwei Wochen, nachdem er fie in Genf geprieſen, mit
ſeiner Antwort auf unſre Verbalnote zur Kriegsſchuldlüͤge gewiſſenskalt verleugnet.
das dürfen wir trotz Locarno nicht vergeſſen.
Von jeher wurde in England die Politik mit dem Hermelinpelz der Moral ver⸗
brämt. Man ſagte Chriſtus und meinte Opium in China, tat als ob man Transvaal
der Kultur öffne und wollte doch nur die Goldminen von Kimberley. Als ein läſtiger
Wettbewerber vom Weltmarkt verdrängt werden ſollte, entrüftete man ſich über
den Bruch heiliger Verträge und machte uns den Krieg. Hätte ſonſt die öffentliche
Meinung bis zu Lloyd Georges beruͤhmtem Knockout die opferreiche Heeresfolge
geleitet? Für ſolche Fälle iſt die Moral geradezu unſchätzbar, und wenn fie nicht da
wäre, dann müßte fie erfunden werden. Der engliſche Staatsmann gebraucht fie,
wie der Jockey die Flaſche Sekt, die er ſeinem Rennpferd vor dem Start in den
Rachen gießt. Das Gleichnis hinkt nur infofern, als auf dem Turf, wenn es heraus-
kommt, der Gauner ausgeſchloſſen wird; während er in der Politik mit den anderen
Auguren augenzwinkernd zur Pflege der Moral einen Völkerbund gründet.
Wäre England, wie es geplant und vereinbart war, im Auguſt 1914 in Belgien
eingerückt, dann war der Neutralitätsbruch ſonnenklares Recht; nur weil wir zu-
*
==
1
— +
vorkamen, wurde es ſchauderhaftes Verbrechen.
Und es ſoll auch Verbrechen bleiben. Trotz alledem, was man über die Vorge-
ſchichte des Krieges weiß und täglich mehr erfährt. Gelaffen lieft England gegen-
wärtig die Lebenserinnerungen Eduard Greys, worin ſich deutlich zeigt, daß deſſen
Flottenabkommen mit Rußland es war, was in Petersburg die letzte Hemmung
des Kriegswillens beſeitigte. Man bewundert den klugen zielbewußten Politiker,
hält aber ſcheinbar deſto zäher feft an der deutſchen Kriegsſchuld. Unſer Einwand,
ſo ließ Chamberlain herb erwidern, vermöge das Urteil über die Vergangenheit
nicht zu ändern. Verſailles hat geſprochen; causa finita.
Das dgte wie rote rauchende Salpeterſäure. Man hätte ſich ärgern können, wenn
Ärger nicht ein Zeichen politiſcher Unreife wäre. Allerdings bei weitem kein fo
großes, wie die Schadenfreude unſrer Linkspreſſe. Denn dieſe jubelte über „die
ſchallende Ohrfeige“, womit unſer Kabinett abgefertigt worden fei für, die politiſche
Laktloſigkeit“, die es „ſich auf Drängen des aufgeregten Stammtifches der penfio-
nierten Offiziere“ geleiſtet habe. Da wurde alſo die Außenpolitik wieder einmal aus
der Perſpektive des innenpolitiſchen Froſchteiches beſchaut. Daß wir uns dies nicht
abgewöhnen können! Für den Verſtand des Verſtändigen liegt die Sache ganz
außerhalb von Arger und Freude. Unſere Regierung gab ſich keinerlei Täuſchungen
bin über die mutmaßliche Aufnahme ihres Schrittes. Aber der Politiker muß Man-
ches tun, deſſen glatten Mißerfolg für den Augenblick er vorausſieht. um der Ehre
willen, zur Wahrung der moraliſchen Ebenbürtigkeit und als Berufungsfall für die
Zukunft. Kann der kluge Vatikan glauben, daß der Kirchenſtaat von heute auf morgen
180 Türme ro Tagebuch
wiedererſtehen werde? Trotzdem erneuert er feine Anfprüche grundſätzlich von Zeit
zu Zeit.
Der kennt weder die Geſchichte noch das diplomatiſche Handwerk, der da glaubt,
wir könnten unſren 42 Gegnern von Verſailles jemals den lauten amtlichen Wider-
ruf des Artikels 231 abzwingen. Die Entwicklung wird anders laufen, und auch hier
gibt uns der Vatikan die Möglichkeit, ein Prophet mit rückwärts gewandtem Ge-
ſicht zu ſein.
Denken wir an Galileo Galilei. Auch ihm wurde ein Geſtändnis erpreßt, das
ſowohl die Wahrheit wie ſein Gewiſſen vergewaltigte. Wie Deutſchland ſein: „Wir
ſind trotz alledem unſchuldig“, ſo ſprach er das berühmte: „Und ſie bewegt ſich doch.“
Seine Werke kamen aber auf den Index und blieben drei Jahrhunderte darauf.
Je ſieghafter jedoch die Forſchung durchdrang, deſto überlegter verſtummte der
fundamentaliſtiſche Widerſpruch der Kirche. Immer emſiger ſchwieg fie jenen Ge⸗
waltakt des heiligen Offiziums tot, und eines Tages waren die verketzerten Werke
von der Liſte der verbotenen Bücher lautlos verſchwunden.
So ähnlich wird es auch mit dem Artikel 231 kommen. Schon gibt der Engländer
verſtohlen zu, er ſei eine echt galliſche Dummheit geweſen, auf die Lloyd George
ſich ſchmählicherweiſe eingelaſſen habe. Das offene Geſtändnis jedoch wird man
jederzeit rund verweigern; es hieße ja Selbſtanklage und Verzicht auf die &-
rungenſchaften des Gewaltfriedens. Daher möchte man, daß gar nicht mehr Darüber
geredet wird und fertigt den Sprecher grob ab mit der Reizbarkeit des böſen Ge
wiſſens.
Sollten wir uns dadurch abſchrecken laſſen? Kluges Wägen fordert das Gegen
teil, und unſre Leute handelten demgemäß. Der zartfühlende „Vorwärts“ wäre
gewiß entſetzt geweſen, hätte er gewußt, daß Streſemann ſelber in Locarno noch
einmal gegen die Kriegsſchuldlüge proteſtieren würde. Viel nachdrücklicher ſogar,
als es in der Verbalnote geſchehen. Es geſchah in einer Vollſitzung und machte
nach dem Bericht einen ſtarken Eindruck. Diesmal aber ſchwiegen die Betroffenen.
Das iſt ſchon ein weiterer Fortſchritt. Freilich dürfen wir uns auch mit ihm noch
keinesfalls begnügen. Auch auf den zweiten Axthieb fällt der Baum noch nicht.
Zäh müfjen wir weiter arbeiten. Nur dann erreichen wir, daß man wenigftens fo
tut, als ob der berüchtigte Artikel überhaupt nicht da wäre. Seine förmliche Zuruck
nahme aber erreichen wir nie. Das ſchadet aber ſo viel nicht. Wenn nur die ganze
Welt weiß, daß er Lug und Verleumdung iſt, dann entehrt er nicht uns, ſondern
die Wichte, die ihn erſannen und ihre Spießgeſellen, die ihn zuließen.
* *
%
Mit Vorbedacht hat Skrzynski fein moraliſch Lied in engliſcher Sprache geſungen.
Es ging um einen großen Pump in Amerika, daher die philoſophiſchen Erörterungen.
Allein der Anſchlag ſchlug diesmal fehl. Auch der Bankee iſt Moralift nur außerhalb
der Geſchäftsſtunden. |
Das hat Caillaux gleichfalls verſpürt. Er kehrt ebenſo enttäuscht aus Amerika
zuruͤck, wie die Amerikaner enttäuſcht von ihm find. Wie an der Feſttafel nur Gelter-
waſſer, fo ſetzte man ihm am Verhandlungstiſche nur Smartneß vor. Sein dürftiges
Angebot wurde abgelehnt und die Gegenforderung mußte er ablehnen, da ſie ihn
Türmers Tagebuch 181
in Paris zu Fall gebracht hätte. So bleibt es bei einer Zwiſchenlöſung; voraus-
geſetzt, daß franzöſiſche Volksvertretung nicht überhaupt jedes Schuldenzahlen,
als unwürdige Verſklavung des Siegerftaates, von ſich weiſt. Der bloc national
bat große Luft dazu. Schlimm ift, daß nunmehr obendrein auch das günftige Ab-
kommen mit Churchill unwirkſam wird. Hin und her über das Armelmeer fliegen
daher die Vorwürfe; ein Verbandsbruder beſchuldigt den anderen, ihn geneppt zu
haben. Das Finanzgenie Caillaux hat demnach weder die Beziehungen zu Amerika,
noch die zu England, noch endlich den Franken geſtützt. Nach dem Londoner Erfolg
hoffnungsfroh geſchnellt, kümmert dieſer jetzt wieder auf dem Tiefſtand von einem
Viertel des Nennwertes. 2 =
4 =
Frankreich muß fid mit Polen tröſten, und das ift bei aller Freundſchaft nur ein
magerer Troſt. Polniſcher Größenwahn hat uns den Zollkrieg erklärt, allein binnen
Vierteljahrsfriſt mit Schimpf und Schande verloren. Num bettelt man um den
gandelsvertrag, den man im Frühjahr düͤnkelhaft ausſchlug. An uns iſt's jetzt, die
Sibylle von Cumä zu ſpielen und für verringerte Zugeſtändniſſe deſto mehr zu
fordern.
Durch dieſen handelspolitiſchen Dummenjungenſtreich hat Polen feine Volks-
wittidaft auch dort verwüftet, wo es noch etwas zu verwuͤſten gab. In dem ge-
taubten Oberſchleſien nämlich. Wie gerne möchte man dort zu uns zurück! Auch
die damals aus eigenſüͤchtigen Gründen gegen uns ſtimmten, ſind jetzt bis in die
tiefften Wurzeln geheilt. Wie eine bleierne Ente verſackt der Sloty in den Ge-
wäſſern der Börſenkurſe. Wo man auch anpocht, da werden Auslandskredite ver-
weigert. Zum minbeſten bedingen ſich die Weltbanken aus, daß zuvor der Staats-
haushalt unter internationale Finanzkontrolle geſtellt werde.
Welche Ausſicht für den windigen Bettlerſtolz! Was nützen da die großen Worte
Skrzynskis und des Präfidenten der Polenbank, fie würden ihr Volk ſchon vor folder
Schmach zu ſchützen wiſſen? Was man Oſterreich ganz und mit dem Oawesplan
zum Teil auch uns antat, das greift nun nach einem unſrer Hauptquäler, und ſelbſt
in Frankreich dämmern ſchon trübe Ahnungen.
Hier öffnen ſich weite Ausblicke. Chamberlain hat für die weiteren Entwicklungs-
gänge die Staffel aufgeſtellt: Durch Pakte Sicherheit, durch Sicherheit Abrüſtung. Wer
ſagt ihm aber, daß wenn das zweite erreicht iſt, das dritte gewollt würde? An feiner
Leiter fehlt der harte Brettnagel des Müffens. Wenn Coolidge ein geriſſener Staats-
mann ift, dann faßt er die Sache vom anderen Ende an. Er verzichtet auf den Ge-
danken einer Abruͤſtungskonferenz, wobei feine gute Abſicht doch nur totgeſchwatzt
wird. Dafür aber läßt er deſto mehr auf Frank und Sloty drücken, was der Wallſtreet
ein Kinderſpiel iſt. Wird dann die Finanzkontrolle unabwendbar, dann kann dieſe
gehörige Erſparniſſe bei der Wehrmacht erzwingen, und die Aufrüſtung der Wirt-
ſchaft wird eingeleitet durch die Abrüſtung der Heere. Es ſcheint, als ob bereits,
wahrend Chamberlain in Locarno vor den Kuliſſen den einen Weg beſchritt, ihm
Amerika hinter ihnen auf dem anderen zu Hilfe geeilt wäre. Ä
Wie herrlich doch die Früchte des Imperialismus reifen! Polen ift die eigenſte
Gründung des Völkerbundes. An ihm konnte er zeigen. wes Geiſtes Kind er fei,
182 Zürmers Tagebuch
Man vergleiche an der Hand der Satzung mit dem, was er aus der Welt zu machen
verſprach, das, was er aus Polen werden ließ und iſt nur noch im Zweifel Darüber,
ob im heutigen Genf die Schwäche größer iſt oder die Heuchelei.
Wie durfte man, wenn man ſich den Weltfrieden zum Ziel ſetzte, dulden, daß der
neue Staat ſich erſt noch ein Schwert ſchmiedete und damit fuchtelt? Wie konnte
man ihm im neutraliſierten Danziger Hafen auf der Halbinſel Weſterplatte ein
Munitionslager mit Gasbomben zugeſtehen?
Wie durfte man hinnehmen, daß er entgegen den Genfer Schiedsfprüchen
Wilna raubte und ſich offenbar auf den Raub Danzigs ſpitzt? Statt ihm zu wehren,
fördert man ſogar noch ſeine Eigenmächtigkeiten, wie es neulich wieder in dem
Briefkaſtenſtreit geſchah.
Wo bleiben ferner die gewährleiſteten Rechte der Minderheiten? Wird nicht alles
Deutſche unterdrückt, die deutſche Schule ausgehungert, der deutſche Siedler ent-
eignet, der Wunſchdeutſche in Nacht und Nebel über die Grenze gejagt? Polen
übernahm 1919 in Poſen und Weſtpreußen fünf Viertelmillionen Bürger deutſcher
Zunge. Heute ſchon ſind vier Viertel davon verſcheucht und nicht lange, dann wird
auch der Reſt abgeſtoßen ſein.
„Korridor? Ich kenne keinen.“ Das Wort war genau ſo wahr, wie polniſche
Diplomatenworte immer ſind. Man kennt den Korridor nur zu gut, will aber, daß
die Welt ihn nicht kenne. Gerade darum der Vernichtungskrieg gegen alles deutſche
Weſen. Wenn unſer Reich die Korridorfrage aufwirft, was demnächſt ſicher der
Fall iſt, dann will man antworten können: „Was wollt ihr denn nur? Das ganze
Gebiet iſt doch rein polniſch.“ Auf gefälligen Antrag wird dann ein Unterfucdungs-
ausſchuß entſandt werden; dieſer aber kann dann nicht anders, als feſtſtellen, daß
Polen wie immer recht habe, die deutſchen Anſprüche daher abzulehnen ſeien.
Wer erwartet mehr vom heutigen Genf?
* *
*
Se mehr man die Rage ſtreichelt, defto höher trägt fie den Schwanz. Natürlich ift
Skrzynski auch in Locarno erſchienen; naturlich mit Beneſch und natürlich ſtiegen
beide im Palaſthotel ab, wo auch Briand wohnte. Er hat es durchgeſetzt, dabei zu
ſein; vermutlich weil er mit Räterußland drohte. Die Warſchauer Zuſammenkunft
mit Tſchitſcherin war zugleich eine ruſſiſche Drohung gegen uns und eine polnifche
gegen die Weſtmächte. Es gab da zu gleicher Zeit drei Schmiede mit je zwei Eifen
in der Eſſe. Tſchitſcherin erkundigte ſich in Berlin, ob wir mit ihm gingen oder er
etwa mit Polen gehen ſolle. „Mit dem Rateftaat oder mit Euch“, frug Skrzynski
nach London und Paris. „Sicherheitspakt mit Euch oder mit Moskau?“ ſo ſtellten
wir in Locarno zur gefälligen Auswahl. Für den Briten war dies alles gleich angft-
voll, denn er wittert in Rußland ſeinen ſchlimmſten Feind. So wurde es Chamberlains
Hauptaufgabe, das Werden eines fo oder fo gearteten Oſtbundes zu verhüten.
Das gab die geheime Triebfeder der Konferenz. Ihr Verlauf wird nur dann durch-
ſichtig, wenn man ſich ſagt, daß wir und Frankreich die Geſchobenen Englands
waren. Es iſt bezeichnend, daß das Ergebnis bei den Franzoſen und uns ſehr cubig,
in England hingegen mit hellem Jubel begrüßt wurde.
Der Furcht eines polniſch-ruſſiſchen Bündniſſes hat man ſich freilich zuerſt ent
Cũtmets Tagebuch 183
ſchlagen. So ſicher Polen geneigt war, wenn es die oberen Götter Genfs nicht er-
weichen könnte, ſich den acherontiſchen Moskaus zu ergeben, fo wenig war dieſen zu-
zutrauen, daß ſie dem alten Erbfeind ernſtlich die Oſtgrenzen gegen ſich ſelbſt und
die Weſtgrenzen gegen uns verbürgten.
Ernſter als Tſchitſcherins Beſuch in Warſchau wurde der in Berlin gewertet.
Er brachte ja auch als Erfolg einen großen Staatsvertrag, den erſten, den Räte-
rußland mit einer europdijden Macht abzuſchließen bisher gelang. Man fürchtete,
daß zu ſeinen zehn aufgezählten Einzelabkommen noch ein geheimes elftes treten
könnte. Dieſe Angſt wurde zu einem Stein in unſrem Brette; ſie iſt der Grund,
weshalb man uns diesmal weiter als auf allen früheren Kongreſſen entgegenkam.
Zehn Tage wurde verhandelt und am elften der ſäuberliche Pakt dem hocher-
freuten Chamberlain auf den Geburtstagstiſch gelegt.
Es war ein merkwürdiges Treiben am Lago Maggiore. Drei Konferenzen liefen
nebeneinander her. Zu der erſten traf man ſich täglich im Pretorio unter den alpha-
betiſch gereihten Fahnen der Teilnehmerſtaaten. Hier wurde das neckiſche Diplo-
matenpoker geſpielt, um auch der kiebitzenden Welt etwas zu bieten. Die zweite
fand meiſt unter vier Augen ſtatt, zu verſchwiegener Stunde am verſchwiegenen
Orte oder auf der Motoryacht „Apfelſinenblüte“ während der Fahrt nach der ent-
zuckenden Herbſtromantik der borromäiſchen Inſeln. Hier war es, wo die Dinge
wirklich geſchoben wurden, denn der erfte von Wilſons vierzehn Punkten, daß „die
Diplomatie fortan immer offen und vor aller Welt getrieben werden ſolle“, wird
genau ebenſo gewiſſenhaft erfüllt wie die übrigen dreizehn.
Drittens gab es noch die Preſſekonferenz. Wenn die Könige bauen, haben die
Kärrner zu tun. Ein gewaltiges Aufgebot von Journaliſten war erſchienen und
machte ſich dienſtbefliſſen zum Konferenzier der Konferenzler. Oder war es nur
deren Beleuchtungsinſpektor? Die meiften jedenfalls ſahen es als ihre Hauptauf-
gabe an, die Vertreter des Siebenſtaatenkongreſſes immerfort zu umſpielen mit den
farbigen Scheinwerfern ihrer Berichterſtattung.
Dies amerikaniſche Treiben iſt für die Alte Welt eine neue, aber ſchlechte Er-
rungenſchaft. Mag es der Triumph journaliſtiſcher Technik fein, er ift zugleich ein
Niedergang des journaliſtiſchen Gewiſſens. Denn die Senſation erdrückt die Ge-
diegenheit, und der Politiker wird zum ſchmiſſigen Plauderer. Wenige Stunden
nachdem ſich Luther und Briand in der Weinlaube von Ascona getroffen, wußte ſchon
die ganze Welt davon. Allerdings nicht das, was dort zur Sprache kam, wohl aber,
daß der Deutiche das Kätzchen geſtreichelt und der Franzoſe die Zeche bezahlt habe.
In einem immerhin denkwürdigen Augenblick der Zeitgeſchichte wurde Stilleben
gemalt, denn — die Kinder, ſie hören es gerne.
Lange Spalten las man tagtäglich aus dem von feinem Dornröschenſchlaf jo
jäh erwachten Badeorte. Aber immer nur das leichte Drum und Oran, das jetzt den
Ernſt des Geſchehens in der Preſſe moosartig überwuchert. Wer auf verbürgte,
tragfähige Nachricht begierig war, ſtatt auf Umwelt, der kam kaum auf feine Red-
nung. Durchforſchte er gar mehrere Zeitungen hintereinander, dann las er ſich
völlig begriffsſtutzig. Denn Schwarzmalerei und Rofigfeben, Wettergewölk und
Silberſtreif wechſelten auch in demſelben Blatte unabläſſig, je nachdem „unſer
184 Zürmers Tagebuch
eigens entſandter Sonderberichterſtatter“ gerade dem einen oder dem anderen
Preſſechef, dem lachenden oder dem weinenden Diplomaten in die Finger geraten.
Es war wie in Raimunds Verſchwenderlied; der eine hieß den andern dumm und
am Ende wußte keiner nichts. 7
Noch riefen daher die Straßenverkäufer die Abendnummern mit der neueften
Nachricht über „die dritte und ſchwerſte Kriſis der Konferenz“ aus, da wurde dies
alles beſchämend überholt durch die allerneuſte Kunde von dem erfolgten Abſchluß.
Wieder wird geſchimpft oder gejubelt; je nach Parteiſtandpunkt. Man täte beſſer,
eine ganz nüchterne Beſtandsaufnahme zu machen, wie weit uns dieſer Schritt ge-
bracht hat und dann zu überlegen, wie weit der nächſte uns bringen muß. Denn
mit vollem Rechte hat Streſemann in feiner Abſchiedsrede betont, daß die Be-
deutung des Vertrages von Locarno davon abhänge, ob er der Anfang einer neuen
Entwicklungsreihe ſei. |
Erreicht iſt, daß es künftig keine franzöſiſchen Sanktionsgefahren mehr gibt.
Alle Streitfragen, auch die aus dem Berfailler Vertrag, werden einem Schieds
gerichte überwieſen und deſſen Schiedsſprüche von England verbürgt. Durchgeſetzt
iſt ferner, daß die franzöſiſche Oſtgarantie nicht in den Weſtpakt hineingearbeitet
wurde. Überhaupt hat trotz Serzynski Befliſſenheit das franzöſiſch-polniſche Bünd-
nis allerlei Kürzungen erlitten. Die Oſtgrenze wurde nicht garantiert; Deutſchlands
Reviſionsrecht bleibt alſo unangetaſtet. Zum erſten Male iſt Polen in eine Gadgaffe
geraten. Selbſt falls die ſchiedsgerichtliche Regelung einer deutſch- polniſchen Streit;
frage nicht erzielt würde, dürfte Frankreich von feiner Bündnispflicht erſt dann Ge-
brauch machen, wenn Deutſchland unzweifelhaft als der Angreifer erſchiene. Das
berüchtigte Durchmarſchrecht wird in Genf derart herabgemildert werden, daß
jedes Bundesmitglied das Maß feiner Mitwirkung an militäriſchen und wirtſchaft⸗
lichen Maßnahmen felber beſtimmen kann. Darüber hinaus find unfere Rapallo-
Pflichten gegen Rußland ausdrücklich anerkannt. Das geſchah, um Rußland von
Gegenzügen abzuhalten.
Hingegen wurden leider nicht alle die Rückwirkungen durchgeſetzt, worauf wir
Wert legten. Hier kamen Beſtimmungen des Verſailler Vertrages in Betracht,
da iſt begreiflich, daß Frankreich auf dieſem Ohre taub blieb. Die Räumung der
Kölner Zone rechnen wir nicht als Zugeſtändnis; fie iſt nur ein bislang vorent-
haltenes gutes Recht. Die Verringerung der Beſatzung im Rheinland, die Rüd-
kehr des deutſchen Rheinkommiſſars, Beſſerung der Saarzuſtände können wir nur
als Abſchlagszahlungen werten. Weniger Bedenken habe ich, daß all' dies gar nicht
im Pakt ſteht, ſondern nur durch perſönliches Verſprechen Briands zugeſichert iſt.
Gemeinhin hält ein ſolches „gentlemans agreement“ beſſer als ein Staatsvertrag.
Hier zumal, wo Briand und Chamberlain, wie es heißt mit ihrem Worte zugleich
ihr Amt verpfändeten. Auch fällt der Pakt, wenn die Zuſagen nicht bis 1. Dezember
ſchon erfüllt ſind, und Englands Intereſſe an dem Abkommen ſteckt daher drängend
dahinter. Warten wir alſo ab.
Manche Punkte find trotz aller Juriſtenſorgfalt doppeldeutig geblieben. Sie be-
dürfen daher einer ſchleunigen Auslegung, die ſie reinlich und zweifelsohne macht.
Auch dies nötigt zu einem vorſichtigen Aufſchub des Endurteils.
Türmers Tagebuch 185
Die Garantie der franzöſiſchen Oſtgrenze war von uns angeboten. Ohne fie gab
es kein Locarno. Aber noch kein ewiger Pakt hat ewig gedauert und der Diplomat
ordnet die Sehnſüchte nach dem Grade ihrer Erfüllbarkeit. Man ſoll daher unſere
Unterhändler nicht ſchmälen; fie haben würdig, klug und zäh geftritten.
Allerdings war auch der Briand von Locarno der Briand nicht mehr, der
im Fruͤhjahr das deutſche Angebot mit höhnifcher Gegenforderung beantwortete,
derſelben, die er jetzt ſo gut wie fallen ließ. Noch weniger aber jener Briand, der
vor ſechs Jahren das linke Rheinufer für Frankreich forderte. Er hat zum erſten
Male dem ewigen Polen Skrzynski aufgetrumpft und war gegen unſre Leute be-
ſonders auf der Straße und vor dem Kodak ſo liebenswürdig, daß die Pariſer Preſſe
ſchilt, er fed uns nachgelaufen und Streſemann meinte, man müſſe ordentlich Furcht
betommen vor dieſem Abermaß von Herzlichkeit.
Mr fühlen es ihm nach. Man verbinde damit, daß unlängſt der Kultusminiſter
de Ronzie in Berlin war, um die geiftigen Beziehungen zwiſchen den beiden Völkern
wieder aufzurichten. Man denke ferner daran, daß gleich danach in Mainz Tirard
eine Rede hielt, die Rheinlandbeſatzung ſolle nicht Reibungen ſchaffen, ſondern
Nittel fein, daß die Völker ſich näher kennen lernten! Iſt das die Schalmei des
Rattenfängers, der argloſe Kinder in die Falle lockt?
Bm glaube es nicht. Die Wandlung geht vermutlich auf die wirtſchaftliche Lage
Frankreichs zurück. Dieſe macht es von England und Amerika abhängig. Beiden iſt
das franzöſiſche Säbelraſſeln zum Ekel geworden und ihr: „Pakt oder —“ mag be-
wirkt haben, daß Briand ſchon mit der Abſicht nach Locarno kam, nachgiebig zu ſein.
Um Frankreichs, nicht um unſretwillen.
Das ſchmerzlichſte an dem Abkommen iſt wohl, daß wir dadurch in den Völker-
bund geraten. Es iſt die Geſellſchaft, die uns Oberſchleſien abſprach und bisher nie
frug: „Was iſt Recht?“, ſondern immer: „Was ſchadet Oeutſchland?“
Er tritt uns auch jetzt noch mit Mißtrauen entgegen und baut unſrem Wirken
ausgeklügelt vor. Er ſetzte nämlich feſt, daß, wenn Klagen von Minderheitsvölkern
vorliegen, im prüfenden Dreierausſchuß der Staat nicht vertreten ſein darf, der
mit ihnen gleichen Stammes ift. Jm Europa des Verſailler Vertrages gibt es aber
faft nur noch deutſche Minderheiten.
Es ift daher ein Opfer, das wir bringen, in dieſen Dunſtkreis einzutreten. Aber
das Opfer kann zu einer Aufgabe werden. Selbſt in dieſem Völkerbunde liegen
Anſaͤtze zu einer geſünderen Entwicklung. Die ſkandinaviſchen Staaten, Holland, die
Schweiz find Mitglieder, aber ihr germaniſches Gewiſſen leidet unter dem ver-
logenen Treiben, wie es in Genf ſofort Platz griff. Sie ſind machtlos dagegen, denn
ihnen fehlt der Mittelpunkt zum Zuſammenſchluß. Deutſchland kann es werden,
freilich nur ein Deutſchland der inneren Beſeelung und des triebkräftigen Fdealis-
mus. Mir kommt der Völkerbund wie ein König Lear vor. Dieſer hat den heuchle-
riſchen Schmeicheleien der Gonerils und Regans geglaubt, die unter der Maske
der liebenden Töchter ihn ſchamlos ausbeuteten. Als er ſich aber feiner Lage be-
wußt wurde, da flüchtete er zu der verſtoßenen dritten Tochter Cordelia. F. 9.
(Abgeſchloſſen am 25. Oktober)
— . ¶ — Z . ——— —
Zur vaterländifchen Bewegung
& ir möchten nicht den Eindruck er⸗
wecken, als ob wir mit dieſer Reihe
von kurzen Betrachtungen, die an den Streit
Jungdo-Stahlhelm (Auguſtheft) anknüpfen,
„Polemik“ treiben wollten. Der „Türmer“ ijt
parteilos deutſch, hat alſo keine Ein-
ſtellung auf eine beſtimmte Gruppe; aber er iſt
deutſch, nicht international, ſteht alſo vater-
ländifhen Beſtrebungen freundlich nahe.
Wieder aber find wir unfrerfeits weſentlich
auf Kultur eingeſtellt, nicht auf Politik; auch
einzelne Verfaſſungsfragen ſind uns vorerſt
belanglos. Deutſchland als Ganzes muß ſich
erſt wieder auf fein Weſ en und auf ſeine be-
ſondre Sendung beſinnen.
Wir gehen heute von einer ſchlichten Feft-
ſtellung aus. Die Tageszeitung der jung-
deutſchen Rieſenorganiſation („Der Jung-
deutſche“), im ganzen lebendig geleitet, aber
in bezug auf Kunſt, Kultur und Oichtung
nicht immer von ſichrem Znſtinkt, hat über
die Harzer Feſtſpiele während der Spielzeit
(ſechs Wochen!) nicht den geringſten Bericht
gebracht. Wohl aber war während der Spiel;
tage im nahen Quedlinburg eine Ballei-
Verſammlung, wobei der Ordensmeiſter
Mahraun ſelber ſprach. Ein Inſerat im „Jung-
deutſchen“ forderte zu maſſenhaftem Er-
ſcheinen auf. Aber die Freilichtbühne in aller;
nächfter Nachbarſchaft fab man nicht. (Erſt
vier Tage nach Schluß der Spiele erſchien
im „Jungdeutſchen“ ein begeiſtert anerkennen;
der Geſamtbericht.)
Hier könnte ja nun ein Derfdumnis des
Arbeitsausſchuſſes vorliegen. Aber jene Spiele
durften nicht überſehen werden. Sie waren
ein außeror dentlich wichtiger Verſuch. Zene
herrliche Bühne könnte eine unvergleid-
liche Gammelftdtte für deutſche Jugend
verſchiedener Gruppen, auch für die Jung-
deutſchen werden. Man könnte dieſe Sammel-
ſtätte in den nächſten Jahren planmäßig
aus bauen. Die Führer könnten Anſprachen
halten und das deutſche Kulturgewiſſen
ftärten unter dem Eindruck der Spiele.
Denn der Gedanke der Freilichtbühne hat ge
fiegt, er läßt ſich vortrefflich in einen partei
los vaterländifchen Sammelbegriff einfügen.
In dieſem Zuſammenhang, doch unab-
hängig von jenem Verſuch, ſchreibt uns ein
rechtsſtehender Schriftſteller ziemlich herb:
„Sehr gut finde ich die Ausführungen zum
Streit Jungdo Stahlhelm im Auguſtheft. Ja,
hinter den Kuliſſen kriſelt es — und das
Fauft- und Maſſenrecht, der plumpe Geiſt der
Zahl, des Hurrapatriotismus find ſtark dabei,
in einer Phraſe zu erſtarren und alles an-
fängliche Feuer und reine Wollen zu erſticken.
Die Führer des Zungdo find in Berlin z. B. nie
zu haben, perſönliche Ausſprache unmoglich,
Ratichläge, Hilfe — nichts anzubringen: es iſt
alles unterwegs zu Tagungen, Weihen,
Reden, Märſchen, Paraden: ein Schau-
ſtück! Oieſe Dinge find reif zur unzwei⸗
deutigen Entſcheidung. Mit der Fauſt iſt
in Oeutſchland auf lange, lange Zeit nichts
zu machen — ſchaffen die Führer ſich nicht
eine Gefolgſchaft aus dem Geiſt e, machen fic
ihre Organiſation nicht lebendig durch den
Geiſt, ſo bricht naturnotwendig die innere
Struktur zuſammen, und was bleibt, ift —
ein Rrieger-Derein.. .“
Scharfe Worte der Beſorgnis, — aus Er-
fahrung geſprochen, nicht aus Gegnerſchaft!
In eindrucksvoller Weiſe hat ſich genau in
derſelben Richtung mehrfach ſchon Thomas
Weſterich geäußert („Deutſche Front“, Ham;
burg). Unmittelbar an Ausführungen dez
„Tuͤrmers“ anknüpfend, fährt er zuftimmend
fort: „Ja, was tut ihr?! So möchten auch wit
fragen. Was tut ihr, um der organiſierten
Vermaſſung zu entgehen und dem herr
lichen Gedanken der Reichsbeſeelung all jene
Kräfte dienſtbar zu machen, die ſorgenvoll den
Tagen der Prüfung entgegenſehen? Als bei-
ſpielsweiſe in Hamburg der Reichsbund für
deutſche Heimatbühnen die vaterländifchen
Kreiſe zum erſten Male um deutſche Schoͤp⸗
fungen, vor allem um Eberhard Königs
Dietrich von Bern fammeln wollte, blieb in
Woe
22 ae
Auf ber Warte
jenen Kreiſen — mit einer Ausnahme! —
alles ftumm. Weder der Stahlhelm nod
auch der Gungdo waren an dieſen Abenden
vertreten, die doch den alleinigen Zweck der
volll. chen „Beſeelung haben, den Zweck, die
geiftig-jüdifchen Ketten zu brechen. Es iſt
ſchon angebracht, nicht im Ton des überheb-
lichen Nörglers, wohl aber in ernfter Veforg-
nis zu fragen: „Ja, was tut ihr?“ — und erſt
recht: „Was unterlaßt ihr! Seit fünf
Monaten und länger führte der ‚Reihebund
für deutſche Heimatbühnen‘, feit zwei Monaten
bie Atbeitsgemeinſchaft ‚Nationale Bühnen-
vereinigung’, Hamburg-Verlin-Gotha-Wien,
ihren Befeelungstampf für den vater laͤndiſchen
Sedanken. Ich will mich nicht darüber aus-
lien, wo ich, in welchen Kreiſen ich bislang
auf taube Ohren ſtieß. Parteien? Mit
Parteien hat das alles nicht das mindeſte zu
tun; darf es auch nicht. Es geht um die
Seele des Volkes.“
Sn einer andren Nummer der „Oeutſchen
Front“ ſetzt ſich derſelbe Vorkämpfer, der
Harte Inſtinkte hat für die Nöte deutſcher
Bühnenkunft, mit dem „Jungdeutſchen“
freundſchaftlich, doch feſt und deutlich aus-
einander. Es iſt in der Tat ein ſtarkes Stück,
wenn die Zeitung des jungdeutſchen Ordens
folgendes ſchreibt:
„Wenn die ,Deutide Front“ einfach feit-
ſtellt, daß das ‚geiftige Deutſchland“ viel zu
wenig führend zu feinem Recht kommt, fo
möchten wir ihr jagen, daß gerade das ‚geiftige
deutſchland“ ſieben Fabre Gelegenheit hatte,
feine Fähigkeiten der nationalen Bewegung
zukommen zu laſſen. Jetzt, nachdem die
nationale Bewegung einſam und verlaſſen ge-
kämpft und ſich durchgerungen hat, dürfte es
natürlich leicht ſein, wenn „prominente
Seiſtige ſich an deren Spitze zu ſetzen
derſuchen (). Jedoch dürfen fie es uns nicht
üdelnehmen, wenn wir fie fragen, was fie
bisher geleiftet haben und wo die große
Sefolgſchaft ihrer Lehre ſteckt (). Wir
können felbjtverftändlih auf das geiftige
Heutſchland nicht verzichten (1), aber
Bücher ſchreiben und kritiſieren erſcheint
uns denn doch etwas zu gering gegen den
Kampf, den unfere Führer jahrelang, unter
187
Einſatz ihres ganzen Seins, verhöhnt oder be-
lächelt von eben dieſen Seiſtigen (2)
geführt haben.“
Diefe Entgleiſung — man kann es nicht
anders nennen — wird von Thomas Weſterich
milde zuruͤckgewieſen, wenn er fagt, dies fei
„ausgeſprochen verbandseinſeitig und beinahe
oberflächlich“. Beinahe?! Es iſt hanebüchen
oberflaͤchlich. Das geiftige Deutſchland hat,
wie dann auch Weſterich mit Recht betont,
„nichtſeitſieben, ſondern ſeit 30 Jahren
und länger gekämpft“ — als dieſe Ver-
bände überhaupt noch nicht geboren waren.
In den obigen Worten kennzeichnet ſich ein
ganz bedenkliches Cpiekertum, das auf die
„Bücherſchreiber“ herabſchaut und verächtlich
fragt, „was ſie bisher geleiſtet haben und wo
die große Gefolgſchaft ihrer Lehre ſteckt“ —!
Die große Gefolgſchaft? Etwa die Maſſen,
mit denen man dort in Parademäͤrſchen
arbeitet, die natürli eines ftillen Buches
Wirkung überdröhnen?!
Freilich haben Nietzſche oder Eucken oder
Chamberlain, um nur drei Warner und Pro-
pheten der Jahrhundertwende zu nennen, „nur
Bücher geſchrieben“, ſtatt an der Spitze von
Maffen-Organifationen zu marſchieren. Aber
es iſt denn doch eine höoͤchſt bedenkliche Ein;
ſtellung, wenn man nicht fühlt, daß dieſes
Wirken auf einer ganz andren Ebene liegt.
In unverhüllter Form offenbart ſich in jener
Außerung der Mangel an Ehrfurcht vor
dem Geiſt und feiner ſtill umgeſtaltenden
Macht. Es iſt eine Form des lauten und
derben Materialismus: es iſt die heute
allbeherrſchende Achtung vor den organi-
ſierten Maſſen.
Da find wir wieder bei unſrem Grund-
bedenken.
Nochmals bitten wir, unfre Worte nicht als
„Angriff“, ſondern als Anregung aufzu-
faſſen. Nämlich: unter Beibehaltung von
Sport und Spiel und Wandern, dieſem un-
erläßlichen Betätigungsdrang der Zugend,
über die ſoldatiſchen Formen hinaus zuwachſen
in Kulturaufgaben. Die Anlagen dazu
ſind vorhanden: ſo glüht z. B. Mahrauns
Rede am Hermannsdentmal von echtem
deutſchem Idealismus, von Sorge um die
188
deutihe Seele. Und in einer kerndeutſchen
Zeitung leſen wir folgende Worte in Fettdruck
gegen Tagungen, die zum Selbſtzweck werden:
„Solche Tagungen find ein KNrebsſchaden an
der nationalen Bewegung geworden, fie täu-
ſchen ſich und die Mitwelt Aber die Leere hin-
weg und vertuſchen die Hohlheit und Haltlofig-
keit der fie veranſtaltenden Verbände. Mit
einer gewiſſen Rauſchſeligkeit wird eine Ge-
dankenloſigkeit erzeugt, die der nationalen Be-
wegung großen Abbruch tut. Was nützen dem
Vaterlande der große Klimbim, die primt-
baften Aufzüge und die ſtrahlenden Fackel
zuͤge.“
Dies iſt genau das, wovor auch wir warnen.
Und wo ſtehen dieſe Worte? Im „Zungdeut-
ſchen“ (Nr. 25), und der Ordens -Hochmeiſter
Mahraun ſelber ſpricht die Warnung aus. Wir
ſtehen an ſeiner Seite und erhoffen grade von
ſeiner Gruppe die große Wende zum Erfaſſen
deutſcher Kult ur aufgaben.
Eine Mahnung an die vaterländiſchen
Verbande
m Grunde meines Herzens widerſtrebt
es mir, in der Offentlichkeit Stellung zu
nehmen „gegen“ Organiſationen, bzw. gegen
Beſtrebungen innerhalb von Organiſationen,
die ich infolge ihrer vaterländiſchen Idee
aufrichtig achte und fddge. Gerade dieſe
Achtung aber iſt es, die mich veranlaßt, einmal
ein offenes Wort zu ſprechen, in der Hoffnung,
daß es vielleicht dazu beiträgt, rechtzeitig ein;
zugreifen, wo es erforderlich iſt.
Es handelt ſich um kerndeutſche Organi-
ſationen wie „Fung deutſcher Orden“ und
„Stahlhelm“ als die mächtigſten Vertreter
des überparteilichen vaterlaͤndiſchen Gedan-
fens. Selber Frontkämpfer während der
ganzen Bauer des Krieges, fühle ich in mir
die gleiche Liebe zum deutſchen Vaterlande
und zum deutſchen Volke, die ich in den
Brüdern des Zungdo und in den Kameraden
vom Stahlhelm fpüre, obwohl ich ihren
Organiſationen nicht angehöre. Als Auslands-
deutſcher und häufiger Bereiſer ehemaligen
Feindeslandes treten mir die Schwächen
meiner Landsleute vielleicht etwas kraſſer und
Auf der Warte
zur Kritik herausfordernd entgegen, fühle ich
aber auch die Verpflichtung in mir, als
Kritiker mitzuarbeiten an der Bekämpfung
folder Schäden.
Bald nad dem Eintreffen in meiner
Heimatftabt fand ich Gelegenheit zu langer
Unterhaltung mit Verwandten, Freunden
und Bekannten, welche entweder der einen
oder der anderen der beiden Organiſationen
angehörten. Was mir ſofort auffiel, war ein
allgemeines Klagen über die zu ſtarke Aber-
handnahme der rein geſelligen An-
ſprüche, die beide örtliche Organiſationen
an ihre Mitglieder ſtellten. Dabei verkannte
man die Notwendigkeit des geſelligen An-
ſchluſſes an ſich durchaus nicht, das möchte ich
ausdrücklich betonen. Zuerſt wären es die
Bannerweihen in den verſchiedenen Nach;
barorten geweſen, welche die Mitwirkung
meiner — ihre Pflichten ernſt nehmender —
Freunde erforderten; nun ſchloſſen ſich aber
in endloſer Fortſetzung die Weihungen
von Tiſchbannern und Veranſtaltungen be-
freundeter Vereine an, die bald von der einen,
bald von der anderen Bruberſchaft oder
Kameradſchaft Einladungen zur Teilnahme
ins Haus brachten. Die Abende und Sonn-
tage, die doch der Familie als der Urzelle
der Vaterlandsliebe heute mehr denn je
gehören ſollten, müßten der Organiſation
in einem Maße geopfert werden, das einem
läſtigen Zwange nicht unähnlich wäre. Wenn
es nun noch bei der kurzen und eindruds-
vollen Weihe bliebe! Es ſchließen ſich aber
häufig recht unerfreuliche Gelage an, deren
unausbleibliche Auswuͤchſe und Folgen von
den Gegnern gründlich ausgeſchlachtet wür-
den. Gn einem Orte hätte man dem „Stahl-
beim“ fchon die Bezeichnung „Saufhelm“
beigelegt. Daß dieſe vielen Veranſtaltungen
mit nicht unerheblichen perſönlichen Koſten
verbunden wären, wurde nebenbei erwähnt.
Wahrend der beiden Pfingſtfeiertage wären
vom Stahlhelm oder Jungdo (ich entſinne
mich nicht mehr genau) eine Übung im Ge
lände angeſetzt, die die Mitglieder des srt-
lichen Verbands für dieſe Tage ihren Familien
entzogen. Beſonders für die verheirateten
Kameraden ein kaum zu ertragender Zwang!
Auf der Warte
So und ähnlich lauteten die Klagen, die
ich hier ſachlich berichte.
Überſchätzen die Führer nicht die Be⸗
geiſterung und Hingabe an den Organifations-
Gedanken unter den Geführten? Stellen fie
dieſe Hingabe nicht auf eine zu harte Probe?
Es iſt ein Unterſchied, ob man Berufsführer
und geiſtig ausfchlieglih auf die Idee der
Organiſation eingeſtellt iſt, oder ob man
die Verpflichtungen eines Bundes neben
den Berufs- und Familienpflichten zu er-
füllen hat. Iſt nicht der Abſtieg in der Werbe-
kaft des ſozlaldemokratiſchen Gedankens
einer verminderten Möglichkeit des be⸗
dingungsloſen Folgens mit zuzuſchreiben?
gat nicht die Schlagkraft unſeres Heeres im
Laufe des Krieges ſtark dadurch gelitten, daß
Sorge um Familie und Beruf die völlige Hin;
gabe an die kriegeriſche Tätigkeit erfchwert?
Keineswegs fei hier gegen ſtraffe Organi-
fation oder energiſche Führung geſprochen.
Beide ſind Vorausſetzung fuͤr das Gedeihen
ſolch großer Bünde, wie beide Verbände es
find. Aber Energie, gepaart mit tiefem Ver-
ſtändnis für die zu Führenden, das gibt ein
Seſpann von Zugkraft.
Von den Herren der Oberleitung beider
Organiſationen habe ich nach all den Scil-
derungen, die man mir von ihnen und ihrer
Tätigkeit gegeben hat, durchaus den Eindruck,
daß fie Führereigenfchaften an und für ſich
befigen, und der Erfolg beftätigt es ja. Große
verantwortung ruht aber bei den Unter-
führern, ganz gleich welchen Namen oder
welche Rangbezeichnung fie tragen. Sie be-
ſtimmen durch ihre Perſönlichkeit und ihr
Birken den Geiſt in der ihnen unterftellten
Gruppe. Unfere Oberſte Heeresleitung hatte
mit der längeren Dauer des Kriegs, der zu-
nehmenden Mannigfaltigkeit des Menfchen-
materials bald erkannt, wo die Stütze für die
Erhaltung der Schlagkraft lag und verlangte
das Sichnãher kommen von Führern und Ge-
führten und das Verſtändnis des Vorgeſetzten
für mehr als rein militäriſche Angelegenheiten
der Untergebenen.
Die Unter führer — da ſteckt das Pro-
blem! Sie müffen nach Lage der Verhältniſſe
am Ort ihrer Tätigkeit wiſſen, was ſie ihrer
189
Gruppe zumuten dürfen. Sie müffen, von
oben beraten, er zieheriſche Kräfte beſitzen,
denn ſie ſind es, von denen die kleinen
Zellenbildungen ausgehen, wo man im
ftillen arbeitet.
Wird übrigens tatſächlich der Klaffen-
unterſchied immer und überall ganz außer
acht gelaſſen? In den Kleinſtädten fpielt ja
das Gefühl der Erhabenheit der einen Berufs-
oder Standesklaſſe über die andere eine oft
mehr als lächerliche Rolle. Mir wurde erzählt,
daß auch beide Organiſationen, welche ja
ſolche Unterſcheidungen grundſätzlich ab-
lehnen, in vielen Einzelfällen ſich durchaus
nicht davon freizumachen vermögen. Ich habe
immer gefunden, daß es ſo furchtbar leicht iſt,
ſie in jedem Kreiſe durch einige geſchickte aber
von Herzen kommende Worte oder Hand-
lungen nicht nur zeitweiſe zu überbrücken,
ſondern zu beſeitigen. Gelingt das einem
Unter führer einer vaterländifchen Organi-
ſation nicht, ſo kann er ſeine übernommenen
Pflichten ſelbſt beim Vorhandenſein energiſcher
Füͤhrereigenſchaften nicht erfüllen. In einer
gut geleiteten Gruppe barf nie und bei keinem
Volksgenoſſen das Gefühl aufkommen, daß
man über ihn hinwegſieht.
Nun hat man neuerdings, ich glaube in
beiden Organiſationen, auch weibliche Ab-
teilungen unter ſehr ſchönem Namen ge-
gründet, Fuͤrchtet man nicht ſtoͤrende Folgen
diefer Ausdehnung? Fft ſchon unter Männern
eine bedingungsloſe Kameradſchaft ein nur
ſchwer zu verwirklichender Gedanke, fo be-
zweifle ich nach meinen in dieſer Hinſicht ge-
machten Erfahrungen und Beobachtungen
einen Erfolg in der Schweſternſchaft. Neid,
Eiferfüchteleien, berechtigtes oder unbered-
tigtes Gefühl von Zuruͤckſetzung find in weib;
lichen Organiſationen eine beſondre Gefahr,
fo daß ich Bedenken hege, ob Jungbo oder
Stahlhelm ſie kraft ihrer Idee den weiblichen
Gruppen fernhalten können. Meine Leſerinnen
bitte ich, mit mir dieſer Meinung wegen nicht
zu ſcharf ins Gericht zu gehen. Ich verſichere
ihnen, daß im übrigen — wenn ſie nicht
„organiſiert“ find — meine Verehrung für die
Frau im allgemeinen und die deutſche Frau
im beſonderen eine grenzenloſe iſt.
190
Gungdo und Stahlhelm ſtehen fo ſcharf
unter Beobachtung ihrer Gegner, daß ſie es
vermeiden follen, unnötige Angriffs flächen zu
ſchaffen.
Git es übrigens notwendig, fo unzählig
viel Bünde zu gründen, welche ſich doch in
ihrer Struktur und ihren Beſtrebungen ſo
ähnlich ſind? Ich habe immer das Gefühl,
daß perſönlicher Ehrgeiz einzelner
meiſtens die Veranlaſſung zur Schaffung
neuer Vereinigungen iſt. Weshalb bas?! Sie
zerſplittern nur, anſtatt dem Nationalismus
die jo dringend erwuͤnſchte Einheit und Tiefe
zu geben. Das auf uns Auslandsdeutſche ſo
befonders traurig wirkende Bild der Serriffen-
heit deutſcher Parlamente und ihrer dadurch
unfruchtbaren Arbeit möge dem wiederauf-
lebenden und aufſtrebenden Nationalismus
eine Abſchreckung ſein! Uns retten weder
Parlaments- noch Vereins-Reden. In dieſer
Anſicht weiß ich mich eins mit unzählig vielen
Deutiden im In- und Auslande.
Hinrichs.
Nachwort. Diefe Bedenken find uns ganz
unabhängig von unfrer Erörterung Jungdo-
Stahlhelm ſchon vor Monaten aus dem
Auslande zugegangen. DO. T.
Aus ſchleſiſchen Bergen
eimatfeſt feiern iſt gewiß ein ſchönes
Ding! Und doch wie oft kommt einem
der Gedanke, daß man mit den Feſten an der
Schale hängen bleibt und den Kern nicht
erreicht oder daß gar die Nuß hohl! Wer mit
Grenzgauarbeit zu tun hat, täglich den Rampf
der Sudetendeutſchen verfolgt, der empfindet
mit tiefem Schmerz, bei wie wenigen der
Grenzgaugedanke als ein deutſcher erfaßt
wird. Trotz aller Bemühungen können wir
z. B. nicht erreichen, daß unſere Riefenge-
birgswanderer die Tſchechenbauden meiden,
die Bauden, deren deutſche Beſitzer entrechtet
wurden, Bauden, die den Kohleninſeln des
Ozeans gleich Stützpunkte unaufhaltſamer
Tſchechiſierung find. Aus Bequemlichkeit und
Neugier meidet der Reichsdeutſche dieſe
Bauden — Elbfallbauden, Woſegger, Martins,
Hofbaude — nicht und hat dann zweierlei
Auf der Warte
fadenſcheinige Entſchuldigungen: der Reiſc⸗
verkehr ift international. Und: Seid um-
ſchlungen, Millionen !
Sit nicht ſolchen Redensarten gegenüber
die Tatſache tief beſchämend, daß als Ertrag
des Verkehrs von ein paar Feſttagen, ein
tſchechiſcher Baudenwirt 3000 Rentenmark
nach Prag auf die Bank bringen konnte! Die
Regierungsleute quittieren lächend und nen-
nen dann die Oeutſchen das national
ſchlappeſte Volk. Die Deutſchböhmen aber
kommen mehr und mehr zu der Überzeugung:
von den heutigen Reichsdeutſchen kann uns
nimmer Hilfe werden. Um wie viel bitterer
wird dadurch ihr Rampf!
Die Wanderer, die wir zu Tauſenden aus
allen deutſchen Gauen grüßen durften,
durcheilen das Bergrevier meiſt in einem
Tempo, als könnte man vom Rilometerfreffen
geiſtig ſatt werden. Wie viele — wie wenige
von dieſen erleben wirklich Heimat! Von
einer Baude zur andern preſchen, ſchwung⸗
volle Anſichtskarten ſchreiben, einige Lieder
und mehrere Schoppen ſchmettern — — fo
leicht iſt Heimat nicht gefunden. Das alles iſt
Schale.
Wer nicht vor der Majeftät der Berge erſt
einmal ganz klein, ſtill und einſam geworden
ijt, für den rauſchen Wälder und Bäche um-
ſonſt, an den dringt nicht das Hohelied der
Berge in ſchönem, innerlich feinem Rhythmus.
Wo Gott nicht ſprechen kann — und Gott
ſpricht nicht im Lärm der Menſchen — iſt
keine Heimat. Das Wandervogelleben war
ſchon richtig oder ſuchte wenigſtens die
Bahnen. Aber die Maſſe — wie immer —
hat dann alles verdorben.
Wie dem ſei: Immer klarer erkenne ich,
daß Heimat-Erleben und ihr dienen wenig
mit Maſſenwandern und wenig mit
Feſten zu tun hat — wenig mit dem, was wir
von außen an ſie herantragen, um ſo mehr
aber mit dem, was aus ihr ſelbſt von innen
und natürlich hervorwächſt. Das ift die Ar-
beit, die in ihr geleiſtet wirb, die boden
ſtändige Arbeit, d. h. die durch Material
und das Gewerk der Menſchen an den
Boden gebunden iſt. Dieſe Arbeit gilt es zu
zeigen als Heimatleiſtung, dieſe Arbeit gilt es
Auf der Warte
zu fordern, fie vom Kitſch zu retten, zum Wert-
gut zu machen. Damit eben dadurch — und
das iſt der Kerngedanke — der werkende
Renſch nicht nur wirtſchaftlich, ſondern
kulturell gehoben werde.
Wir haben im Riefen- und Zſergebirge
Leinen - und Garninduſtrie, Glasinduſtrie, die
kunſtgewerbliche Arbeit der Spitze, am Holz
und Metall. In Schreiberhau und Flinsberg
babe ich Meiſter der Glasgravur kennen ge-
lernt (die Gravur iſt ja die viel wertvollere
Glasbearbeitung als der immer mehr in den
VBotcdergrund tretende Schliff), deren Ar-
deiten in ihrer angreifenden Schlichtheit und
Echtheit klar erkennen laſſen, daß hier alles
die Arbeit ſelbſt ijt: die Arbeit als Lebens-
ſchaffen und Lebensfreude. Das wirtſchaftliche
Moment tritt gegen das kulturelle zurück.
Dasfelbe zeichnet die Arbeit Del Antonios, des
Lehemeiſters der Warmbrunner Schnitzſchule,
aus. Mit der Hirſchberger Füͤrſtlich Pleßſchen
Spitzenſchule ſteht es ähnlich. Möchte ich
helfen können, ihr neue Wege zu ebnen, denn
die geldknappe Zeit hat fie in ſchwere Be-
drangnis gebracht! Sie hat eine Leiterin von
ausgezeichneter künftlerifcher Kraft, die es ver;
ſtanden, ſich die Gehilfinnen für dieſe eben
fo ſchwere wie tinftlerifd wertvolle Arbeit
beranzubilden. Man muß fi einmal die
Riibe geben, jo eine handgenähte Spitze mit
einer Maſchinen arbeit zu vergleichen. Es
lam dasſelbe Muſter fein und doch der Unter;
ſchied kalter, farbloſer Gleichgültigkeit und
ener farblichen und fadenmäßigen Lebendig;
kit, deren Gepräge eben nur die feinfühlige
Teichen hand dem Werk zu geben vermag.
3a haben in Boberſtein bei Rupferberg eine
neue kunſtgewerbliche Werkſtatt, die das
Kupfer aus dem nahen Bergwerk hämmert
d treibt. Es find das zwei verſchiedene kunſt⸗
gewerbliche Arbeitsgänge, mit denen der
Kanſtler wirkt und feine wuchtigen Keſſel,
Schalen, Leuchter, Glocken herſtellt, die wie
Ursäterhausrat anmuten, fo ſchwer, gediegen
und zweckdienlich.
Das ſind einige unſerer Heimatarbeiten.
Bit ihn en dürfen wir in der Welt fagen: das
find wir — das iſt unſere Heimat. Diefe
Arbeit bedeutet nicht nur, ſondern iſt Leben,
191
iſt unſer Leben. Zit aber dieſe Bergesarbeit
Inhalt unſeres Lebens, mit aller Laſt und
aller Luſt, dann braucht auch der Menſch ein
Arbeitskleid, das beidem — ſonderlich der
Luſt — Rechnung trägt. Fit die Arbeit gott-
geſchenkter Segen der Heimat, ſo ſoll der
Menſch nicht in Lappen und Lumpen ſeine
Arbeit verrichten.
Von dieſem Gedanken aus iſt mir die
Schaffung einer neuen Bergtracht ein
Problem und keine Spielerei. Zur Spielerei
wird leider vielfach die Heranziehung der alten
ſchönen Trachten zu den allerlei Feſten, die
ihren Höhepunkt in modernen Tänzen haben.
Vorkämpfer dieſes Trachtengedankens iſt der
völkiſche Schriftſteller Bernhard Wilm Saal-
berg. Auf Gedanke und Formengebung der
neuen Tracht einzugehen, muß ich mir für ein
andermal vorbehalten.
Hermann Bouſſet.
Ein Richard Wagner ⸗Saal in Ba y⸗
reuth
inen Markſtein in der Geſchichte der Feft-
ſpielſtadt Bayreuth — ſo wird man einſt
die Gründung des Richard Wagner-
Saales in Bayreuth nennen. Das Wort
Saal iſt in dieſem Fall zu eng begrenzt; aber
noch iſt die umfaſſende Bezeichnung für das
hier zu Schaffende nicht gefunden.
Mit dem Plan, dem klaſſiſchen Wagner⸗
Biographen C. F. Glaſen app ein Gedenk-
zimmer zu errichten, kam ſeine Pflegetochter
und Freundin Helena Wallem nach Bay-
teuth. Dorthin hatte fie unter den den kbar
größten Schwierigkeiten den Glaſenappſchen
literariſchen Nachlaß aus dem bolſchewiſtiſchen
Riga gerettet. Und nun erwuchs ihr an Ort
und Stelle der weitausſchauende Gedanke,
im Anſchluß an das Glaſenapp- Gedenk-
zimmer ein Unternehmen ins Leben zu
rufen, das den Beſuchern Bayreuths durch
eine großangelegte Sammlung aller be-
deutenden auf den Meifter bezuͤglichen Er-
innerungen den Werdegang und das Wirken
Richard Wagners im Bilde vor Augen führt
und zu Lehr- und Forſchungszwecken lebens;
voll ausgebaut werden ſoll — eine Aufgabe
192
von unuͤberſehbarer Bedeutung, wie fie nur
durch edelſte Begeiſterung und reinſte Opfer-
freudigkeit gelöſt werden kann. Aber Helena
Wallem beſitzt in hohem Maße die Eigen-
ſchaften, die ſolchem Beginnen zum Siege
verhelfen.
Wenig mehr als ein Jahr iſt vergangen, ſeit
die erſte offizielle Runde von dem geplanten
Unternehmen durch Helena Wallems „Mittei-
lung und Aufruf“ in die Offentlichkeit drang,
feit auch an bieſer Stelle (Cirmer, Okt. 1924)
durch Otto Daube darauf hingewieſen ward
— und ſchon zeigt es ſich in beglüdender
Weiſe, wie der Gedanke Wurzel gefaßt hat
und ins Große und Weite wachſen will. Aus
der einen Ecke, die im Sommer 1924 den
Feſtſpielbeſuchern ein erſtes beſcheidenes Bild
von der im Entſtehen begriffenen Schöpfung
vermittelte, hat ſich nun ſchon ein ſtattlicher
Grundſtock entwickelt. Der Schätze ſind ſo
viele geworden, daß bereits tiſchweiſe ge-
ordnet werden konnte, was fpäter — im
Neuen Schloß — faalweife feine Ge-
ſtaltung finden wird. Und wie finn- und ge-
ſchmackvoll hat die Hand der Hüterin ge-
waltet, wie lebendig iſt die Anordnung jeder
einzelnen Abteilung! Zunächſt der bio-
graphiſche Tiſch: Ein beſonders fchönes,
ſeltenes Exemplar der Beethoven -Buͤſte aus
der Werkſtatt von Guſtav Kietz und ein
reizendes Weber-Relief von derſelben Meijter-
hand erinnern an die bedeutſamen Epiſoden
der Dresdener Jahre: die Aufführung der
9. Symphonie und die Trauerfeier für Weber,
die Wagner mit der ganzen Znnigkeit ſeiner
Liebe zum Schöpfer des Zreifhüß und Oberon
und der Euryanthe verbreitet und ins Werk
geſetzt hat. Bilder von Wagners Wohnſtätten,
die erſten Stiche von Tann häuſer und Lohen-
gtin, eine Aufnahme des Weimarer Hof-
theaters aus dem Lohengrin-Jahr 1850, der
Steckbrief Wagners vom Jahr 48 im All-
gemeinen Eberhardtſchen Polizeianzeiger der
„politiſch gefährlichen Individuen“ (1) — um
nur einiges herauszugreifen — führen recht
eigentlich in des Meiſters Leben ein. Die reiche
Schaffenszeit der Züricher Jahre liegt in
wertvollen Erſtausgaben vor uns: Kunſt und
Revolution, Oper und Drama, Mitteilung
Auf der Warte
an meine Freunde und das Kunſtwerk der
Zukunft mit der Widmung an Feuerbach,
die — fo bedeutſam — in fpäteren Ausgaben,
nachdem Schopenhauer in fein Leben gc-
treten war, wegbleibt. Beſonders anſchaulich
iſt die Münchener Triſtan-Zeit feſtge halten:
am eindringlich-rührendſten vielleicht durch
ein unſcheinbares Heft, in das Schnorr von
Carolsfeld feine ganze Triſtan- Partie heraus-
geſchrieben hat. Ein Ehrenplatz ward hier
dem von der Nrongut verwaltung in Münden
geftifteten Bildnis König Ludwigs II. ein-
geräumt, das den königlichen Schirmherrn
in der ganzen ſieghaft fchönen Jdealitdt der
Erſcheinung zeigt zur Zeit feines Regierungs-
antritts, da er den längſt verehrten Meiſter zu
ſich rief.
Den biographiſchen Erinnerungen ange⸗
reiht iſt der Tiſch der Getreuen, wo die uner-
müdlichen Mitlämpfer, die Freunde des
Haufes Wahnfried in Bild und Buch ver-
treten find. Lauter Namen, die dem An-
hänger Bapreuths vertraut find. Ich nenne
hier nur: Hans von Wolzogen, Heinrich von
Stein, C. T. Glaſenapp, Chamberlain, Mal-
wida von Meyſenbug. Eine beſondere Weihe
gibt dieſem Tiſch das in Geſtalt und Haltung
und Ausdruck der Hand ſo ergreifende Bild
von Liſzt am Klavier; auch die großen Schüler,
die dieſer Getreuefte dem Meiſter zugeführt:
Hans von Bülow, Tauſig, Klindworth be
gegnen uns hier im Bilde.
Ein wertvolles Andenken an die erſten
Ring-Aufführungen 1876, das Bildnis Wag-
ners, das er der erſten Bruͤnnhilde, Amalie
Materna, mit der Unterfcrift: „Seiner
Brünnhilde Wagner Wotan“ ſchenkte, leitet
über zu dem Tiſch der Geſchichte der Feſt⸗
ſpiele. Hier wird vor allem durch eine Ori-
ginalzeichnung von Hans Thoma der hohen
Frau gedacht, die nach dem Tode des Meiſters
das verwaiſte Werk in die Hand nahm und es
mit unerhörter Kraft und Genialität ausge
ſtaltete. Darunter das Bild des Sohnes, der
als „ein Rulturträger edelſter Art“ das Erbe
von Bayreuth lebendig welterführt. Und all
den bewährten Helfern am Werk, den erſten
Förderern Groß und Feuſtel, den erſten
Dirigenten Richter, Levi und Mottl, dem
Auf der Warte
„Blumen vater“ Porges, dem Geſangsmeiſter
Hey iſt hier ein Denkmal geſetzt.
Zuletzt der Tiſch, der zur bildenden Kunſt
hinüber weiſt, wie fie von der Anregungskraft,
die Wagner und ſeinem Schaffen innewohnt,
beeinflußt worden iſt. Franz Staſſen mit
ſeinen wundervollen, ganz aus dem Geiſt der
Muſik geborenen Ring-Geftalten ift hier an
erſter Stelle zu nennen. Viel wäre noch zu
jagen von großzügigen Stiftungen, die der
jungen Schöpfung in Ausſicht geſtellt ſind,
von opferbereiter Förderung, die ihr zuge-
ſprochen worden iſt. Hier will ich nur noch das
Eine betonen, daß Helena Wallem auch junge
Kräfte gewonnen hat, die freudig bereit ſind,
ike Arbeit dem Dienft am Werke zu weihen.
Und dieſe Gewinnung der Jugend für den
vayreuther Gedanken iſt von größter Wichtig-
leit, damit die Kette der Getreuen, die ſich
k und je für ihn eingeſetzt haben, ununter-
brochen in die Zukunft hinüberführe; damit
das Wort, das die große Zdealiſtin Malwida
von Menfenbug ſchon 1901 ausgeſprochen hat,
ſeine Geltung behalte: „Bayreuth iſt jetzt wie
der Pol einer elektriſchen Kette, von der eine
heilende Rraft ausgeht — dahin, wo es nottut,
in die Jugend!“ Berta Schleicher
Woldemar von Urkull
er Verfaſſer des Leitaufſatzes in dieſem
Hefte iſt ein in Deutſchland noch wenig
bekannter baltiſcher Edelmann und Schrift-
ſteller, der nun in Tirol lebt. Man hat ihn — ſo
plaudert die Meraner Zeitung — den Oichter
des KRaukaſus genannt, nicht mit Unrecht, denn
durch feine kaukaſiſchen Werke wurde die li-
terariſche Welt zuerſt auf ihn aufmerkſam.
Doch Uxkull hat noch andres geſchaffen. „Ich
würde ihn heute den Dichter der Menfchen-
liebe nennen; denn der Riefe von Geſtalt mit
dem gütigen Herzen eines Kindes war von je-
her der Anwalt der Menſchlichkeit. Aus ſeinen
geſamten Werken tönt der Ruf nach Gerechtig-
keit, Milde, Befreiung; fei es in feinen tau-
kaſiſchen Büchern, fei es in der ‚Lucie Bertier“
oder in feinem letzten Werte ‚Eine Einweihung
im alten Agypten“, überall ruft er die hohen
Menſchheitsgefühle wach.“
Der Türmer X XVIII, 2
193
Wir haben denſelben Eindruck, kennen frei-
lich nur das letztgenannte Werk (München,
Roland -Verlag, Dr. Albert Mundt; geſchildert
nach dem Buche Toth, mit 22 Rekonſtruktions-
Zeichnungen von Leo Sebaſtian Humer). Auf
dieſen 121 Seiten entfaltet ſich, von nachfuͤh⸗
lender Phantaſie geſchaffen, klar und anfdau-
lich, Schritt für Schritt, der Entwicklungsgang
eines Myſten, der an der Hand feiner priefter-
lichen Führer in höhere Erkenntniſſe vordringt.
Uxkull hat ſich mit dieſem Gebiet viel befchäf-
tigt; und fo dürfte auch feine verſuchsweiſe
Nachzeichnung der Eleuſiniſchen Myſterien
anregend ſein.
Ein deutſches Ehrenmal
um 1. Auguſt 1924, als dem Tag der zehn-
jährigen Wiederkehr des Welttriegsbe-
ginns, betonte die Reichsregierung (gleich den
anderen Nationen), die Ehrung der gefallenen
Söhne des deutſchen Volkes ſei eine vornehme
Staatspflicht. Wie und wann dieſe Ehren-
ſchuld einzulöſen fei, darüber hat ſich die Re-
gierung jetzt nach einem weiteren Jahre noch
nicht vernehmen laſſen.
Der Bund der Frontſoldaten (Oer Stahl-
beim) greift nun dem amtlichen Schnecken
gang vor. Er wendet ſich an die Offentlichkeit
mit einem Aufruf, der in der Schaffung eines
heiligen Haines gipfelt. Wenn eine Män-
nerkameradſchaft von der Größe des „Stahl-
helm“ nach offenbar forgfamer Überprüfung
des Objekts ſich für das Zuſtandekommen
einer Gefallenen-Ehrung größten Stiles ein-
ſetzt, dann läßt ſich nicht ſtillſchweigend darüber
hinweggehn, denn den Entſchlüſſen dieſes
rührigen Bundes pflegen Taten zu folgen.
Der Plan des „Stahlhelms“ geht von der
Erwägung aus, daß die Gemeinde- Ehrenmale
für die heldiſchen Toten des Weltkrieges zwar
nötig und [din find, nicht aber ſymboliſch dem
ungeheuren Vorgang der heiligen Volks-
erhebung als Ganzem gerecht werden. Auch
die gemeinnützigen Kriegergedächtnis- Stif-
tungen etwa in Form eines Kriegerheimes
(wie ich an dieſer Stelle 1923 ausführte) ent-
ſprächen nicht dem Sinn des heldiſchen Opfer-
gedankens. Was den Welſchen und Angel-
13
194
ſachſen das Sinnbild des unbekannten Solda-
ten, das ſolle dem tiefen deutſchen Empfinden
der in offenem Sarkophag ſchlafend nach-
gebildete Krieger (in ÜUbermenſchenform)
ſein: weithin ſichtbar ruhend inmitten eines
gewaltigen Naturparks, der Eigentum der
Nation, als ſolches ſakroſankt, geſetzlich ge-
ſchützt und als Stätte der Verehrung und Ein-
kehr nur unter beſtimmten Bedingungen be-
tretbar. Ohne die Möglichkeit, den Raucher-
und Trinkergelüſten zu fronen, darf nur der
Einzelne zu Fuß, ohne Waffen, ohne Hunde
die feierliche Landſchaft betreten. Eine ge-
waltige Mauer umgibt dieſe Freizone der Na-
tion. Nach jeder Himmelsrichtung weiſt eine
mächtige, von zwei Türmen flankierte Pforte.
Kriegsbeſchädigte üben den Wach- und Auf-
ſichtsdienſt aus. Jede Mutter eines toten Krie-
gers ſoll Jahr um Jahr die Möglichkeit haben,
auf Koſten des Staats nach dem heiligen Ge-
biet zu fahren und am Grabe des ſchlafenden
Kriegers ſtill ihres eigenen Sohnes zu gedenken.
Beſondere Reichsgeſetze haben die Strafen bei
Sachbeſchädigungen und Profanierung zu
regeln. Große Opferſtöcke an den Portalen
ſammeln Spenden für edle vaterländiſche
Zwecke: etwa für Kriegsbeſchädigtenfürſorge,
Linderung der Wohnungsnot, Siedelung.
Daneben beſteht nun der Plan des Tan-
nenberg-Ehrenmals. Am 31. Auguſt 1924,
als dem Tag der zehnjährigen Wiederkehr der
Entſcheidungsſchlacht von Tannenberg, weihte
der Sieger im Kampfe, Feldmarſchall von
Hindenburg, den Grundſtein der gewaltig ge-
dachten Anlage, deren äußeres Bild nach ab-
geſchloſſenem Wettbewerb nun feſtliegt. Die
Stätte ijt hier im Gegenſatz zum Stahlhelm-
Projekt unabänderlich. Während der Bund
der Frontſoldaten an ein möglichſt zentral ge-
legenes, landſchaftlich erhabenes Naturgebiet
etwa im Thüringer Wald denkt, wird
das Tannenberg-Mal auf dem biſtoriſchen
Schlachtfeld zu ſtehen kommen. Seine Anlage
ähnelt dem des heiligen Hains: Auch hier
türmen ſich klobige Mauern; auch hier fdir-
men Wachttürme die hohen Eingangspforten,
während im Ehrenhof mächtige Mauerniſchen
den einzelnen Gauen und Stämmen vorbe-
halten ſind. Möglichſt jedes einzelne Land ſoll
Auf der Varte
ſich feinen Wachtturm erwerben, der mit fei-
nen gewaltigen Ausmaßen und einer Höhe
bis zu achtzig Metern als ein Vahrzeichen
trutzig ins Land ragen wird.
Es iſt kaum zu bezweifeln, daß bei der
großen Verehrung für den greiſen Marſchall
und Führer des Reiches das Tannenberg-Mal
durch freiwillige Spenden verwirklicht wird.
Ebenſo iſt auch damit zu rechnen, daß bei der
Diſziplin und den geordneten Mitteln des
„Stablhelms“ der größere Plan des heiligen
Hains nicht beim bloßen Vorhaben bleibt.
Daß große einigende Werte von einem fol-
chen geweihten Ort auf alle Lebensalter und
Geſchlechter ausſtrahlen werden, iſt ſicher;
ebenſo daß damit dem Ausland ein würdiges
und warnendes Beiſpiel von der inneren Ein-
kehr und bewußten Würde des aufſteigenden
deutſchen Volks gegeben würde.
Hans Schoenfeld
Heinrich Vierordt
3" Johann Peter Hebel und Zoſeph Viktor
von Scheffel geſellt ſich aus dem Badener
Land in dem ſiebzigjährigen Heinrich Vier-
ordt ein dritter Vertreter deutſchen Schrift-
tums, der auf dieſem Gebiet zu nicht mehr be-
ſtrittener Geltung durchgedrungen iſt. Sein
Zubeltag geſtaltet ſich für ihn zum Zeugnis
allgemeiner Wertſchätzung ſeiner Verdienſte.
Von dem gefeſtigten Ruhm ſeines Namens
und ſeiner Schöpfungen fällt, wie von Hebels
und Scheffels Wirken, ein Abglanz auch auf
ſeine Heimat und ihre Hauptſtadt, in der er
am 1. Oktober 1855 als Sohn des Ober-
leutnants Heinrich Vierordt geboren wurde.
Manches hat unſer Jubilar mit den genann-
ten beiden Sanges- und Stammesgenoſſen
in ſeinem innerſten Weſen gemein, und es
wäre gewiß tein undankbarer Verſuch, den ver-
bindenden Fäden dieſer natürlichen Artver-
wandtſchaft im einzelnen nachzuſpüren. Aber
neben jenen zweien hat Vierordt, der Menſch
und der Dichter, doch als eigenwüchſige, felb-
ſtändige Perſönlichkeit Anſpruch auf feinen be-
ſonderen Platz.
Edle, kraftgetragene Geſchloſſenheit und un-
gezwungen vornehme Großzügigkeit bilden die
Grundlagen ſeines Charakters und ſeiner in
Auf der Warte
einer anſehnlichen Bücherreihe niedergelegten
Geiftesarbeit. Die ſtraffe Zucht des von dem
guten Offizierston vergangener Zeit erfüllten
Eltern hauſes und der mehrfache Wechſel des
Wohnſitzes, durch den der lerneifrige Knabe
die ſchöͤnſten Städte zwiſchen der Taubermün-
dung und dem Bodenſee, Ronjtanz, Freiburg,
heidelberg und Wertheim, genauer kennen
lernte, waren für das Wachstum und die
Beiterentwidlung feines früh ſchon hervor-
tretenden poetiſchen Talents ein in jeder Hin-
ſicht foͤrdernder und fruchtbringender Gewinn.
Von den Zochſchulen Heidelberg, Leipzig
und Berlin kehrte Vierordt nach der Erwer-
bung des Doftortitels als freier Schriftſteller
nach Karlsruhe zurück. Unausgeſetzte Befchäf-
tigung mit den beſten Werken der Weltliteratur
und ausgedehnte Wanderfahrten durch faſt
alle Staaten Europas gaben ſeinem Wiſſen
und Rönnen den für ihn wünſchenswerten Halt
und die letzte Rrönung. Durch fein verhältnis-
mäßig ſpãt geſchloſſenes Ehebündnis mit Anna
Helbing, einer Tochter des damaligen Prä-
ſidenten der evangeliſchen oberſten Kirchen
behörde Badens, erſchloſſen ſich für ihn eben;
falls bedeutungsreiche Möglichkeiten erweiter-
ter Lebenserfahrung.
Ebenſo zog Vierordt aus dem freundfdaft-
lichen Verkehr mit den bekannteſten Größen
des zeitgen öſſiſchen Schrifttums und mit hoch-
geſtellten Gönnern desſelben, wie dem Groß-
herzog Karl Alexander von Sachſen - Weimar,
für fein künſtleriſches Schaffen manchen nach;
haltigen Nutzen. Seine wertvollen, bei dem
Stuttgarter Verlag von Greiner & Pfeiffer
eben im Oruck erſcheinenden Erinnerungen
(„Das Buch meines Lebens“) geben einen Be-
griff von der Vielſeitigkeit dieſer Beziehungen.
Als fein erſtes umfaſſenderes Proſawerk bezeu-
gen dieſe Aufzeichnungen zugleich die Mujter-
gültigleit der Sprache des bisher nur im Lied
und in der Ballade bewährten Wortmeiſters.
h Der peinlichen Sorgfalt in der Behandlung
von Rang und Form, von Reim und Vers,
haben auch feine Dichtungen ihren ungewöhn-
lichen Glanz und die Weihe vollkommener
Schönheit zu verdanken. Ihr maleriſcher Reiz
übertrifft faſt noch den muſikaliſchen, und es
muß uns wundernehmen, daß ſich nicht auch
195
die Künſtler des Stifts und der Palette, wie
die Komponiſten, ihrer bemächtigt haben.
Stofflich umſpannt Vierordts Poeſie den
ganzen Bereich menſchlicher Erfahrung und
Lebenserkenntnis unter beſonderer Berück-
ſichtigung des geſchichtlich überlieferten Ge-
ſchehens. Aus dem unerſchöpflichen Born der
Sage und Legende fließt ihr gleichfalls will-
kommene Nahrung zu. Die Schwungkraft einer
ſtarkbeflügelten Phantaſie hat ihre Schranken
noch um ein Beträchtliches erweitert. In den
Balladen und in den oft an Heines groß-
geſchaute Nordſeebilder erinnernden kos-
miſchen Alfreskogemälden erreicht fie den
Höhepunkt ihres Geſtaltungs vermögens. Die
Stimmung getragenen Ernſtes herrſcht in ihr
vor. Zu machtvoll geſteigerter Auswirkung er-
hebt fie fic in den genial durchgeführten mehr;
teiligen Geſchichtsdichtungen, die beſonders
tragiſche Schickſale, wie das der Zuilerien-
kinder oder das des Kaiſers Max von Mexiko,
des Schloßherrn von Miramar, vor des Leſers
erſchütterte Seele treten laſſen.
Das äußere Gewand dieſer epiſch-lyriſchen
Darſtellungen ſchimmert und leuchtet in Frei-
ligrathſcher Farbenpracht. Geibelſche Ruhe
und Reinheit zeichnet die zahlreichen Reife-
ſkizzen und Naturſchilderungen aus, vor allem
auch die ſchönen Gedenkſtrophen aus Griechen;
land und Stalien. Und an die Zartheit und
Innigkeit eines Storm und Mörike reichen die
ſeelen vollen, gefühldurchhauchten Verſe heran,
in denen der Dichter das Glück feiner Zugend⸗
tage, fein Vaterhaus, die ftille Fürſorglichkeit
ſeiner Gattin und das harmlos unſchuldige
Spiel ſeines Töchterleins beſingt.
Heimatklänge tönen warm und herzandrin-
gend ſchon aus der älteften Sammlung feiner
Gedichte. Mit einem „Badiſchen Heimatbüch⸗
lein“ will er uns auch jetzt wieder beſchenken.
Karlsruhe und ihre trotz der kurzen Zeit ihres
Beſtehens überaus reichhaltige Chronik haben
dazu manchen köſtlichen Beitrag geliefert.
Wie ſchon in dem bekannten, wiederholt ver-
tonten Lied „Ans Land Baden“ und in vielen
andern Stücken aus dem Erſtlingsband offen
bart ſich auch in dieſer neuen Gabe die rüh-
rende Hingebung und Anhänglichkeit des Ber-
faſſers an den angeſtammten Boden.
1%
Dod fiber den engeren Rreis der gelb-roten
Grenzpfähle hinaus trägt ihn die Begeiſterung
für das zu ſo raſch emporgediehener Macht
oufgewachſene, nach Not und Schmach ſtolz
und ſtark wiedergeeinte Vaterland der licht;
vollen, nun jählings in Nacht und Dunkelheit
binabgefuntenen Aufſtiegfrift nach dem glor-
reichen Rrieg gegen Frankreich, während der
er feine beſten Mannesjahre, ſelbſt in ſtetem
Aufſtieg begriffen, der Ausübung ſeiner den
Ruhm des Reichs mit verherrlichenden Runft
widmen durfte. Gefdnge voll Kraft, in denen
das reine vaterländiſche Denken und Emp-
finden zum Ausdruck kam, beſitzen wir von ihm
aus jenen großen, leider fo ſchnell entſchwun⸗
denen Tagen. Die dem Dichter zuteil gewor-
dene Hofratswürde war der gewiß nicht un-
angebrachte Beweis fürſtlichen Pflichtbewußt-
ſeins dieſem ritterlich deutſchen Sinne gegen
über.
Feintdrnige, jedoch mit Abſicht öfters auch
derb zugreifende Spruchweisheit bot Vierordt
dem mitlebenden und dem nachwachſenden
Geſchlecht bei den immer deutlicher werdenden
Fehlgängen und Abirrungen im Wirtſchafts ;
und Geiſtesleben, in Erziehung und Schul-
betrieb, in Geſellſchaft und Politik, nachdruͤck⸗
lich zu Beſinnung und Umkehr mahnend. Die
„Oeutſchen Hobelſpäne“ find in dieſer Hinſicht
weit weniger zum Ergötzen als zur Ab-
ſchreckung und Aufrüttelung ſchlafender oder
doch gleichgültig gewordener Gemüter der
Offentlichkeit übergeben worden. In dieſen
epigrammatiſch knapp geprägten, höͤchſt ſchlag;
fertigen Gedankengebilden und in den , Deut-
ſchen Ruhmesſchildern und Ehrentafeln“,
welche die geiſtige Struktur der namhafteſten
älteren und neuzeitlichen Berühmtheiten, vor-
nehmlich auf dem Felde der Literatur und
Kunſt, blitzartig überhellen, tritt die ſprach-
ſchöpferiſche Begabung Vierordts am auf-
fälligſten zutage.
Auch nach dem ſchlimmen Ausgang des
Weltkriegs, der für des Dichters bürgerliche
Stellung mancherlei nicht von ihm voraus-
geſehene, heldenhaft durchgefochtene Schwie-
rigkeiten und Nöte mit ſich brachte, blieb er
unverbittert ſeinem nationalen Heroldsberuf
treu. Und treu blieb er auch dem aus allen
Auf der Warte
ſeinen Werken klar erkennbaren Glauben nicht
nur an das richtende, ſondern auch an das ret-
tende Walten einer über allen irdiſchen
Mechfelfällen ihren vorgefaßten Plan und
Rat dennoch ans Ziel führenden göttlichen
Obermacht.
Das koſtbarſte Dankgeſchenk zu dem Ehren-
tag des Gefeierten iſt für ihn die Liebe und
Verehrung unſrer Jugend. Jung an Herz und
Geiſt, ungebrochen auch in ſeiner körperlichen
Erſcheinung, ſchreitet er mit uns der unge-
wiſſen Zukunft entgegen. Mit den Zungen
ſtärken und erwärmen auch wir Alten uns an
dem edlen Feuer ſeiner Dichtungen und ſeiner
ungeſchwächten dichteriſchen Schaffensluſt.
Es iſt nicht mehr als billig, daß den Schulen
die Berüdfichtigung der Werke Vierordts von
angeſehenen Fachleuten immer eindringlicher
empfohlen wird. Auch in den Sammlungen
ausgewählter Proben deutſcher Poeſie ſollte
ſein Name nicht mehr übergangen werden.
In dem gediegenen Auswahlbändchen, das
Ludwig Fulda mit tief eindringendem Ver-
ſtändnis für des Freundes dichteriſche Lei-
ſtungen früher ſchon herausgab, und in der
ſoeben erſchienenen Ausleſe für Zugend und
Volk (Verlag Zickfeldt, Ofterwied) iſt das Beſte
zuſammengeſtellt, was der Oichter bis jetzt ge-
ſchaffen hat. Ehriftian Schmitt
Allerlei aus Polen
— war es der öͤſtliche Teil des unter
polniſcher Oberhoheit ſtehenden Lan-
des, das ich kennen lernen wollte: von Lem-
berg gegen Norden zu, über Sokal, Rowel,
Breit, Bialyſtok — die öſtliche Grenzmark.
Hinter Lemberg ſchon bekommt man das
Polniſche immer weniger zu hören, und die
Sprachen der Minderheiten (man muß dritter
Klaſſe fahren) werden auf weiten Strecken
faft alleinherrſchend, wenn man von Bahn-
perfonal, Polizei und Militär abſieht. Auf
Grund der vom polniſchen ſtatiſtiſchen Amt
verfertigten Volksſtatiſtik vom 30. September
1921 beträgt die Bevölkerungszahl Wolhy-
niens 1433157 Seelen, worunter 207932
Polen; von 876665 Einwohnern Poleſiens
ſind 190 700 polniſcher Nation. Dies nur fo
Auf ber Warte
nebenbei. Im Eiſenbahnwagen läßt ſich nicht
gut Statiftit machen — wenn er aud mehr
lehrt als manches ſtatiſtiſche Handbuch —
wohl aber manches erfahren über das Drum
und Oran des Landes und über das Wohl und
Wehe von deſſen Einwohnern. Es wurde faſt
durchwegs ruſſiſch oder weißruſſiſch gefpro-
chen, und da meine Fahrt in die zweite Auguft-
hälfte fiel, war das Hauptthema des Geſprächs
der Zloty und deſſen Sturz, daneben Polizei
und Reifepdffe, woraus zu erſehen war, daß
die zwei letzteren Themen nicht minder .be-
druckend als der Zloty auf Land und Leuten
luſten.
ie berüchtigte ruſſiſche Ochrana — in Po-
len beißt fie „Defenſywa“ — iſt im neuen
freien Polen verſtärkt auferſtanden und iſt
eine Macht geworden, die von Gtaatsgel-
bern ſich mäſtend den ganzen Staat getne-
belt hält und wie ein Alpdruck auf den Bür-
gern laftet. Charakteriſtiſch find die Zahlen,
wie ſie das Blatt „Reforma“ (vom 3. Mai
1925) angibt. Darnach zählt die Staatspolizei
d. i. die frühere Gendarmerie) 43976 Mann,
wozu noch ein Plus von 9154 Mann Grenz-
ſchutzpolizei hinzukommt, was zuſammen eine
Armee von 53130 Mann ausmacht, eine Zahl,
die ſich bald mit jener der Volks- und Bürger-
ſchullehrer deckt (64839). Ob in dieſer Zahl
auch die ſogenannte politiſche Polizei, die
Trabanten und Provokateurs der „Oefen-
owa“ inbegriffen find, weiß ich nicht. Diefe
letzeren beſonders (ſelbſt in kleineren Städten
find fie in Dutzenden zu finden) find nicht nur
eine Plage, ſondern gradezu eine Schande.
Ihr Syftem ift das der Provozierung, was
nicht nur aus der „Wirkſamkeit“ des Defen-
ſywamitgliedes und bekannten Provokateurs
Ztganowſti hervorgeht, ſondern auch in einem
offenen Briefe zu leſen war, den der demiffio-
nierte Minifter Thugutt an den Innenminiſter
Auteyſti ſeinerzeit (2. Juni 1925) gerichtet
hatte, ſowie aus der vom Abgeordneten Bryl
und Genoſſen eingebrachten Interpellation
(Reforma“, 5. Zuli 1925). Fc laſſe den „Re-
forma“ ſelber ſprechen: „Wir leben unter der
Cuggeftion, das neugeborene Polen fei ein
neuzeitlicher, demokratiſcher Rechtsſtaat von
weſtlicher Kultur .. . Jn Polen iſt kein Zar,
197
aber die zariſchen Büttel leben und wirken in
Polen und bewirken es, daß „Demokratie“
und „Freiheit“ in Polen nur leere Begriffe
ſind. Das Regiment der allmächtigen Maffia
der Ochrana feiert in Polen Triumphe. Wir
ſind noch nicht freigeworden und werden es
nicht werden, ſolange der Staat in den Klauen
zariſcher Prätorianer ſich befindet ... Es
wird der Staat das provokatoriſche Regiment
länger nicht aushalten ... Polen muß zu-
grundegehn und feine Unabhängigkeit ver-
lieren, ſofern es ſich der Feſſeln dieſer fchred-
lichſten und ſchändlichſten Sklaverei nicht ent;
ledigt.“ Zur Ergänzung ſei noch hinzugefügt,
daß trotz der konſolidierten Verhältniſſe und
des feit Jahren ſchon gewonnenen Friedens
in einem großen Landſtrich Polens noch immer
das Standgericht waltet, und zwar blutig
waltet. In einem Zeitraum von kaum zwei
Auguſtwochen habe ich ſelbſt von vier Hin-
richtungen geleſen. Rommuniften follen es ge-
weſen fein (Botwin, Hübner, Kniewſki, Rut-
kowſki). Die zum Tode Verurteilten und hier-
auf Begnadigten und zum Austauſch be-
ſtimmten Baginſki und Wieczorkewicz hat der
Gendarmeriewachtmeiſter Muraſzka auf eigene
Hand niedergeſchoſſen. Er kam nicht vors
Standgericht.
Das Kulturwidrigſte, das vom alten de-
ſpotiſchen Rußland dunkelſter Ara abzulernen
war, hat Polen abgelernt. Neben der Polizei
ſind es die Päſſe. Beide bedeuten nur eine
Vergewaltigung der ſonſt ſehr human klingen
den Konſtitutionsfreiheiten und Bürgerrechte.
Der Reiſepaß feiert hier Orgien und bewirkt
es, daß Polen, welches ſich mit beſonderem
Stolz als „Vormauer der weſtlichen Bivilifa-
tion“ bezeichnet, durch die ſich einander über-
flügelnden Reiſepaßverordnungen in Wahr-
heit eine Mauer vor der weſtlichen Bivilifa-
tion wird, zu einem verrufenen, weltfernen
Winkel für den Weſten. Heutzutage, wo Döl-
ker und Staaten alles dranſetzen, die ſcheiden-
den Schranken aufzuheben oder bereits auf-
gehoben haben, richtet Warſchau ein Gitter
vor der Welt auf, umzäunt den Staat und
will glauben machen, daß dies das alleinzige
Erlöfungs- und Finanzſanierungsmittel fei.
Ich horte vielfach ſolche Stimmen: „Warum
198
greifen nicht zu dieſem Mittel andere Staaten,
um deren finanzielle und ökonomiſche Ver-
hältniſſe es ebenfalls nicht glänzend beſtellt
iſt? Die Not iſt heute allgemein; warum hält
Polen das Reifepaßpatent allein für ſich re-
ſerviert?“ Die Fragen entbehren nicht der
Logik. Ein Reiſepaß koſtete in dieſem Jahr bei
Anfang der Badeſaiſon 250 Zloty, d. b. 50
Dollar. Wie fanierte dieſe Verordnung die
Finanzen? Der Dollar, der bei Erlaß dieſer
Verordnung 5,18 Zloty koſtete, kam mit Ende
der Saiſon auf 7 Zloty und darüber zu ſtehen.
Zetzt koſtet ſchon ein Reiſepaß 500 Zloty und
ſoll — wie die Blätter verheißen —, auf 1000,
ja auf 1500 Zloty (ift inzwiſchen ſchon ein-
getreten) kommen. Dreihundert Dollar
— ein Reiſepaß! Im Zahre 1925 auf
europaiſchem Kontinent — in der Zeit bürger-
licher Freiheiten! Wo iſt in aller Welt ein Glei-
ches zu finden?
Die Zölle! Eine Schutzmaßnahme ohne
Zweifel. Aber auch hierin ſoll mit Vorſicht und
Einſicht gehandelt werden. Statt Parfüms und
Puder und andere zum Leben „unentbehrliche“
Dinge aufs Korn zu nehmen, trifft der hohe
Zollfuß jetzt Tee, Reis und — Heringe. Wer
wird davon betroffen? Der Bedürftigſte.
Vor zwei Jahren noch hat die Lemberger
Handelskammer in einem Gutachten den Fi-
nanzminiſter vor verfrühten Zloty- und nach-
maligen Steuererperimenten gewarnt, indem
ſie fachmänniſch weitblickend vorausſagte,
„eine übermäßige Steuerbelaſtung der Bürger,
die einer Enteignung des Vermögens gleich-
komme, ſei ein zweiſchneidiges Meſſer, das ſich
letzten Endes gegen die Staatsfinanzen ſelber
wenden müſſe“. Dieſe Warnungen wurden
nicht beachtet, und wenn es bei der Über-
nahme der Finanzen durch den jetzigen Fi-
nanzminiſter hieß, der Bürger werde wenig,
der Staat aber viel haben, fo iſt es jetzt klar⸗
geworden, daß alle beide — Bürger und
Staat — ſich keines Überfluffes rühmen tdn-
nen. Aus den Bürgern hat die Steuerpreſſe
ſchon die Seele herausgepreßt. Was kann ein
Staat von finanziell erſchöpften Bürgern ge-
winnen? Es iſt der Humor des „Wo Nichts iſt,
iſt Nichts zu verlieren“. Dieſe Beobachtung
konnte ich überall machen: im Laden, im Gaft-
Auf der Warte
haus, auf dem Marktplatz. Dazu kommt noch
die Kreditſperre, die Handel und Gewerbe wie
eine Schnur an der Gurgel liegt. Das Gut-
achten der genannten Rammer hat die Fi-
nanzlage allſeitig beleuchtet, Mittel der Re-
medur gezeigt und nicht unzweideutig zu ver-
ſtehen gegeben, wo mit Erſparniſſen begonnen
werden könne und ſolle. Zunächſt ſei die Zahl
der vom Staat erhaltenen Perſonen über-
wältigend (jeder Neunte iſt Beamter; auf je
90 Einwohner entfällt ein Soldat; auf je ein
Bahnkilometer kommen zehn Funktionäre.
Nach „Reforma“ vom 31. Mai 1925.) Der
Heeresetat verſchlinge den größten Teil des
Budgets, zirka 60%. Die Zahl der Konſulate
ſei im Vergleich mit anderen Staaten, felbft
Großſtaaten lächerlich groß. So habe Polen
— nach jenem Gutachten — in Dänemark
fünf Konſuln (wo angeſichts des zwiſchen
dieſen zwei Staaten herrſchenden „Verkehrs“
auch einer ſich nicht ſehr überanſtrengen
würde), in Italien ſechs, in Deutſchland zwölf
uſw. (Oer „Kurier ilustrowany“ brachte
ſeinerzeit — ſo verſicherte man mir — die
Nachricht, daß die polniſche Flotte an Marine
dignitären nicht ärmer wäre als die engliſche.
Ich denke aber, das mußte ein Ulk geweſen
fein.) Faſt wäre man zu behaupten geneigt,
es laufe auf ein Großtun hinaus, auf „ein Le-
ben über den Stand“, ohne Riidjidt auf die
wirklichen Möglichkeiten. In der Tat: wenn
man in den Zeitungen der letzten Jahre blät-
tert, findet man, daß keiner von den neu-
errichteten und fdon gar keiner von den
Siegerſtaaten fo viele und fo prunkvolle Emp-
fänge bereitet hat, wie Polen. Könige, Ge-
nerale, Diplomaten, Literaten, Miffionen,
Studentenbeſuche, koſtſpielige Manöver uſw.
mit Bällen, Banketten und Ausſtattungen, die
in einer alten, gut fundierten, zumal in einer
jungen Wirtſchaft eine nicht geringzuſchätzende
Ausgabenrubrik bedeuten! Denn das alles
koſtet viel; Gäſten des Auslands gegenüber
darf man nicht knauſrig tun. Es hat keinen
Sinn, Gäſte zu empfangen und zu füttern, fo-
lang das eigene Hausgeſinde nicht ſatt iſt.
Nach dem Ausweis vom 30. Zuni 1923
(„Naprzod“ vom 23. Januar 1924) ſtellen ſich
die Schulden Polens wie folgt: an Amerika
ay
A
„
Auf der Marte
186529432 Dollar; an Frankreich 779853404
Franken; an England 4503818 Pfund; an
Stalin 75000000 Lire; an Holland 12737520
Gulden; an Norwegen 16526857 Rronen und
1238 engl. Pfund; an Dänemark (wo fünf
Ronfuln waren) 358849 Rronen; an Schwe-
den 1957080 Kronen; an die Schweiz 73600
Franken. Dieſe Schulden rühren von dem
Einlauf von Kriegsmaterialien her (Haller
armee) und von Nahrungsmitteln im Jahr
1919 und 1920. Das zitierte Blatt fügt hinzu,
daß dies keine Endſumme bedeute, da noch
derſchiedene Poſten herumliefen und mancher
lei Verpflichtungen, die Herr Paderewſki auf
eigene Hand eingegangen und die der Staat
dam übernehmen und zahlen mußte. Ob es
ſeit jener Zeit in dieſer Hinſicht beſſer gewor-
den, weiß ich natürlich nicht zu ſagen. Aus dem
„Naptzod“ vom 24. Auguſt 1925 erfahre ich,
daß allein im Laufe des letzten Halbjahres die
Dedungsquote in der „Bank Polſki“ von 230
Millionen auf 70 geſunken iſt. Woran das
alles liegen mag? Hat jener Nauz recht, der
beim Ausſteigen auf einer kleinen Station
noch im Abgehen ſagte: „Es iſt ſeit dem Fabre
- 1918 tein Ariſtides in Polen geftorben — “
Kt gab ſich für einen Lehrer aus, jener Kauz.
die ganze Zeit über ſprach er nichts. Aber fein
Geſicht redete. Armut ſprach daraus und fee-
che Kümmernis.
A. Albin
Berufsſtand und Staat
J. Heinz Brauweilers Buch: Berufs-
ſtand und Staat (Ring verlag, Berlin)
detrden von neukonſervativer Seite Zentral-
probleme deutſcher Staatsgeſinnung aufge-
tollt und zu löfen verſucht. An Staats theorien
berrſcht bei uns zwar kein Mangel; iſt es doch
heute eine beliebte Doktoraufgabe unſerer an-
gehenden Volkswirte, den alleinfeligmachen-
den Staat zu konſtruieren. Dieſes Buch aber
it eine Leiſtung und hat Format.
Mit ſicherem Griff ſtellt Brauweiler den
ſtändiſchen Gedanken im Gegenſatz zum
Aaſſengedanken in den Mittelpunkt feiner Be-
trachtungen. In Übereinftimmung mit Som-
bart kennzeichnet er die Stände als auf
Lebensgemeinſchaft beruhende, in ein Ge-
199
meinweſen organiſch eingegliederte Groß-
verbände; den Zwecken des über dem Stande
ſtehenden Ganzen werden die eigenen unter-
geordnet; die gemeinſame Aufgabe des
Standes iſt: Leiſtung für das Ganze. Im
Gegenſatz dazu ſtehen die Klaſſen als durch
gemeinfame Intereſſen an einem Wirt-
ſchaftsſyſtem äußerlich zuſammengehaltene,
in ein Gemeinweſen mechaniſch eingefügte
individualiſtiſche Großverbände. Ihre Ten-
denz: Forderungen an die Allgemeinheit.
So ſehr die Blütezeit des deutſchen Mittel-
alters durch den deutſchen Ständegedanken
beſtimmt iſt und der damalige Staat, das
„Reich“, ein organiſches Weſen voll blutwarmen
Lebens war, fo ſicher — wenn auch nicht reft-
los — iſt unſere heutige Zeit, iſt unſer heutiges
Staatengebilde durch das Fehlen der Stände
und ihren Erſatz durch Klaſſen gekennzeichnet.
Oer Staat iſt nicht mehr ein organiſches,
ſondern ein mechaniſches, auf konſtruierter
Ordnung beruhendes Gebilde, das faſt mehr
deshalb am Leben bleibt, weil ſich die ftaats-
zerſtörenden Tendenzen der Klaſſen die Wage
halten und nicht auszuwirken vermögen, dann
aus organiſchem opferndem Verbundenſein
der Einzelnen und ihrer Gruppenbildung mit
dem Staat. Wenn auch nicht reſtlos: denn
Anfänge einer andern, organiſchen Schichtung
der Geſellſchaft ſind erkennbar. Sie weiſen
auf eine Umgeftaltung der Berufs klaſſen in
Berufsſtände. Auf dieſe gründet Brau—
weiler die neue Geſellſchaft (Beruf in weite-
ſtem Sinne verſtanden) und damit den neuen
innerlich befriedeten deutſchen Staat.
„Die Berufsſtände können ſich ... be-
teiligen an dem Ringen um die politiſche
Macht, das in dem Kampf um die erfolg-
teichfte Intereſſen vertretung feinen vornehm-
lichen Inhalt hat. Der Erfolg ijt immer un-
ſicher, weil ihm die ſichere Rechtsgrundlage
fehlt und jede Anderung der innerpolitiſchen
Machtverhältniſſe ihn beſtreitet. Der Berufs-
ſtand muß nicht Macht, ſondern Recht er-
ſtreben, fein Recht. Sein Recht aber gewinnt
er niemals durch Intereſſenanmeldung und
Intereſſen vertretung, ſondern nur durch
Leiſtung und Geſamtverantwortung; Pflicht
und Recht ſtehen in unlöslicher Verbindung.
200
Wer gerechtes und dauerhaftes Recht ge-
winnen will, muß es ſich durch Leiſtung und
Pflichterfüllung verdienen.“
In tiefſchürfender Unterſuchung klärt Brau-
weiler den „deutſchen Staatsgedanken“ und
entwickelt aus ihm heraus die deutſche Rechts-
idee. Sie führt ihn zu einem ſtändiſchen Ver-
faſſungsprinzip, das ſich im Weſen vom
Staatsgedanken unſerer größten Staats-
männer nicht unterſcheidet, aber durch Ein-
verleibung des berufsſtändiſchen Gedankens
unſerer Zeit angepaßt iſt. Sein Bekenntnis
zur Notwendigkeit einer Oberſchicht (ſiehe auch
Gleichen Rußwurm und Schotte: Zur Frage
der Oberſchicht, Ringverlag) rundet das Bild
ſeines organiſch gegliederten Staatsweſens.
Bleibt zu bemerken: Das von ihm gezeichnete
Staatsweſen iſt nicht ein im einzelnen durch-
konſtruiertes Syſtem, ſondern ein möglicher
Weg, auf dem der deutſche Staat ſeine Kräfte
zu entfalten und ſich ſelbſt zu bauen vermag.
Das Buch ijt umfaſſend und bei funda-
mentalen Frageſtellungen weitausholend ge-
ſchrieben. So ermöglicht es eine klare Ausein-
anderſetzung beim Leſer — von dem es eine
beträchtliche Reife und Intelligenz verlangt. Es
iſt kein Buch für die breite Maſſe — aber ein Eck
ſtein für die Grundlegung des Neuen Reichs.
E. 3. K.
Weimar und Potsdam
3): Herausgeber des „Türmers“, in feiner
Eigenſchaft als Schriftſteller und Dich-
ter, iſt zum 60. Geburtstag mit einer ſolchen
Fille von Glückwünſchen bedacht worden, daß
er nicht jedem Einzelnen antworten kann. Er
dankt hiemit herzlich auch den Türmerleſern,
die feiner gedachten. Beſonders beglüdend
war die Ernennung zum Ehrenbürger der
Stadt Weimar, der Wartburg und der Uni-
verſität Jena, dieſer drei Kulturſtätten im
Herzen Deutſchlands. Und wörtlich mitge-
teilt ſeien ein Glückwunſch Hindenburgs nebſt
Antwort, die auf Anregung aus dem Büro
des Reichspräfidenten der Offentlichkeit über-
geben wurden. Jenes Telegramm lautete:
Auf det Warte
„Oem großen elſäſſiſchen Dichter ſende ich
zum 60. Geburtstage meine aufrichtigen Glid
wünfhe. Möge Ihnen noch eine lange Zeit
fruchtbaren Schaffens in der neuen Heimat
beſchieden ſein!
von Hindenburg, Keichspräſident.“
Darauf dankte folgender Brief:
„Hochverehrter Herr Reichspräſident!
Ew. Exzellenz haben mich zu meinem
60. Geburtstag durch ein Glüdwunfchtele
gramm ganz beſonders erfreut und geehrt. Es
iſt mir, dem Elſäſſer, der nun im Herzen
Oeutſchlands wohnt, eine freudige Pflicht,
gerade dem Manne meinen tiefgefühlten Dank
auszuſprechen, der Deutſchlands Heer in
muſterhafter Ordnung aus einem großen,
ehrenvoll beſtandenen Kampfe zurückgeführt
hat in die vom Feinde kaum berührte Heimat.
Damals ſchrieb ich ein Gedicht, das durch
viele Blätter ging („An das heimkehrende
Heer“) und mit den Worten begann:
„Ihr zieht mit eurem Feldmarſchall
Erhaben - ſtumm nach Haufe;
Euch grüßt nicht Chor noch Glockenſchall,
Noch Maſſenfeſtgebrauſe“ —
das aber in die zuverſichtlichen Worte ausklang:
‚Helft uns mit eurem Feldmarſchall
Ein würdig Oeutſchland bauen!“
Nun ſtehen Eure Exzellenz, was damals
noch niemand ahnte, an der Spitze des Reiches
und find für In- und Ausland ein Vordild
pflichttreuer, vornehmer Geſinnung und jener
Zucht und Würde, wie wir fie dem ganzen
deutſchen Volke wünjchen.
In folder Geſinnung ſuchen auch wir Ver
treter deutſcher Seelenkultur parteilos
am Herzen unſeres lieben deutſchen Volkes zu
arbeiten. Und fo weiß ich mich mit unferem
hochverehrten Herrn Reichspräfidenten in dem
tiefen Wunſche einig, daß ‚Weimar und
Potsdam“ gemeinfam an einem wür-
digen Deutſchland bauen mögen.
Mit vorzuͤglicher Hochachtung
Euer Exzellenz ergebener
Weimar, den 10. Oktober 1925.
Friedrich Lienhard.“
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Herausgeber: Profeſſor Dr. Frledtich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Rontab Dürre,
Weimar, Rarl-Alerander- Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlich keit nicht übern dernen.
Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie ftaſten“ mitgeteilt, fo daß Rückſendung erſpart Bleibt.
ebendort werden, wenn möglich, Zuſchriften beantwortet. Hen übrigen Einſendungen bitten wir Rückporto beizulegen.
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart.
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Christi Geburt
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— — Dr. h.c. Sriedri
B sSoanriot & — von
ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT
Lieribhard
28. Jahrg. GB Dezember 1925
Doch es iſt ein ew ger Glaube,
Daß der Schwache nicht zum Raube
Jeder frechen Mordgebärde
Werde fallen allezeit:
etwas wie Gerechtigkeit
Webt und wirkt in Mord und Grauen,
Und ein Reich will ſich erbauen,
Das den Frieden ſucht der Erde.
Mählich wird es ſich geſtalten,
Feines heil gen Amtes walten /
Waffen Schmieden ohne Fähre,
Flammenſchwerter für das Recht,
Und ein königlich Geſchlecht
Wird erblühn mit ſtarken Söhnen,
Deffen helle Tuben tönen:
Friede, Friede auf der Erde l
Conrad §erdinand Meyer
Belt 3
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TITTEN TOT
202
Jeſu Evangelium und die deutſche Seele
Von Paul Steinmüller
einer wird beſtreiten, daß das deutſche Volk heute arm in der Welt daſteht.
Wer es nicht täglich der Zeitung entnimmt, der ſpürt es doch an feinem Leib,
ſeinem Tiſch, feiner behinderten Bewegungfreiheit; und die, denen es nicht fühl⸗
bar wird, mögen nur dem Elend einige Aufmerkſamkeit ſchenken, in dem die Alten
und Abgedankten ſtecken. Doch wenn auch alle unſre Armut zugeſtehen wollten —
viele, ja die meiſten unſrer Volksgenoſſen wiſſen nicht und wollen nicht wiſſen,
worin unſer Mangel eigentlich beſteht und warum wir unſre Verarmung in den
dußerlichen Dingen des Lebens nicht mit Stolz tragen können.
Wird dem heutigen Geſchlecht nie die Erkenntnis aufgehen, daß wir vielmehr
unter den Folgen leiden, die der Zuſammenbruch einer materialiſtiſch-rationaliſtiſchen
Kultur ſchuf? Daß die dürre Hoffnungloſigkeit unſrer Leere die Folge einer längſt
vorhandenen, künſtlich bemäntelten und uneingeſtandenen ſeeliſchen Verarmung
iſt? Faſt ſcheint es fo. Denn noch immer iſt der Chor der Stimmen übermädtig im
Brauſen des Tages, die nach verjährtem Muſter wirtſchaftliche, politiſche Heilande
fordern, die uns ein Reichwerden um jeden Preis verſchaffen; noch will man nichts
wiſſen von der Notwendigkeit, daß die Vorbedingung für beſſere Verhältniſſe der
beſſere, innerlich geläuterte Menſch iſt. Noch wird unabläſſig das Behagen
des Leibes gefordert und nicht die Beſeelung. Daß der „geiftige Himmel entwölkt
werde“, wie Lienhard es ausdrückt, das erſcheint wenigen als das Gebot der Stunde.
Die Fieber, die durch den armen, zerſchundenen Körper des Volkes toben, ſind
nicht nur Anzeichen dafür, daß der Körper krank iſt, ſie deuten in weit höherem
Maß darauf hin, daß die Seele des Volkes leidet, daß ſie ohne Kraft und Betãtigung
iſt. Viele fühlen dumpf dieſen furchtbaren Mangel und ſuchen ihn durch verzweifelte
Mittel zu erſetzen. Daher dieſe Flucht zu den fremden Religionen, dieſes Suchen
nach geiſtigen Surrogaten. Indiſche und perſiſche, buddhiſtiſche und mohamme-
daniſche Kulte werden aufgeſucht, um Antwort auf nie zur Ruhe kommende Fragen
zu erhalten. Aber der Honig, den man aus dieſen fremden Blumen ſaugt, wird
uns nie ſchmackhaft werden, weil jede Religion dem Weſen eines Volkes gemäß
fein muß. Oder man drängt an die Schleier, die die Grenzen dieſes Daſeins bil-
den, verſucht fie zu heben und lauſcht auf die Stimmen im FJenſeits. Oder man
forſcht in den Bahnen der Geſtirne, um hier einen Weiſer für unſer Handeln,
einen Troſt für unſre Zukunft zu finden. Der Nothelfer, die man anruft, ſind
unzählige geworden, und doch wurden wir dadurch nicht innerlich reicher, ſondern
empfinden nur um fo drüdender das Bettelhafte unſrer Armut.
Ungeſucht ſteht das Evangelium, das Feſus brachte, in Deutſchland da. Es ſcheint,
als ſei die Frohbotſchaft ohne Geltung, ohne Kraft. Es ſcheint, als ſei der Strom,
der länger als zwölfhundert Jahre die Wurzeln der deutſchen Volksſeele nette, in
unterirdiſche Gründe geſunken, zu denen kein Brunnenſchacht mehr hinabführt.
O ja, man redet von Feſus und feinem Werk, man ſtreitet ſich ſogar um ihn.
Einige ſagen, er habe nie gelebt, verweiſen ihn in das geſtaltloſe Reich menfd-
licher Hirngeſpinſte; andere befehden ihn, indem ſie ihn ſeiner Größe entkleiden;
Ctcinmiller: Zeju Evangelium und dle deutſche Seele 25
wieder andere machen ihn verächtlich und verunglimpfen feine Lehre, wie es ſchon
celſus und Porphyrius im zweiten und dritten Jahrhundert unferer Zeitrechnung
und nach ihnen unzählige getan haben. Hier ſucht ihn eine Richtung für ihre Partei-
und Standesintereſſen als Anwalt und Wortführer zu gewinnen; dort zerrt man
einzelne ſeiner Worte aus ihrem Zuſammenhang, deutet fie in dem gewünfchten
Sinn um, vermenſchlicht ſie und legt die Feder mit dem erhabenen Bewußtſein
aus der Hand, die vollkommene Unbrauchbarkeit des Evangeliums für unſre Zeit
erwieſen zu haben.
da, man ſpricht vom Evangelium, aber man ſpricht zuviel. Das Reden iſt ge-
tadezu zum Geſchwätz geworden, deſſen man überbrüffig iſt. Denn das Evangelium
beſteht nicht in Worten, ſondern in der Kraft, und was Kraft iſt, das wirkt und ſtählt
ind erhebt, doch es verblutet ſich nicht in Worten. Liegt der Grund dafür darin, daß
die Kultur einer eiſenknirſchenden Zeit, die Kultur der lauten übervölkerten Städte
mit ihrer Haft, ihrem Lärm, ihren grell belichteten dürftigen Straßenzeilen taub für
das Göttliche wurde und nur empfänglich für den hyſteriſchen Schrei ift? Ich will die
Antwort auf dieſe Frage zurüditellen. Aber dies ſei vorweg geſagt: Die Geſchlechter
dieſer Zeit haben ſich dem Evangelium nicht entfremdet, weil fie über es hinaus-
gewachſen wären, es überwunden hätten, ſondern weil ihre jaͤmmerliche Seelen
leete vor dieſer alles überragenden Höhe feiner Verkündung erſchrickt und angſtvoll
in Riederungen flüchtet. Alle, deren Anſpruch auf Glück nichts iſt als das Trachten nach
dem Unglüd des Nächſten, werden Jeſu Frohbotſchaft als ein Gerichtswort fliehen.
Aber ſie kommen trotzdem nicht an ihm vorüber. Vor allem die deutſche Seele
kann ſich ihm dauernd nicht entziehen; mag ſie bereitwillig noch ſo viele Gifte der
Zeitſchwären aufgeſogen haben, mag fie noch fo eifrig fremdem Weſen nachgelaufen
ſein — es iſt in ihren urſprünglichen Tiefen etwas Unſagbares, dem Göttlichen
Derwandtes, das fie immer wieder zu ihm zurückkehren läßt, das ihr ſtets wieder
zum Weiſer für die Straße wird, die Jeſus im Geiſt und in der Wahrheit ſchuf.
Gewiß, es führen mancherlei Wege zu Gott. Aber fo gewiß dies iſt, fo gewiß iſt es
auch, daß nicht jede Straße einer jeden Weſensart gemäß iſt, und daß wir, der
einzelne ſowohl wie ein Volk, durch fein Eigengeſetz auf beſtimmte Straßen ver-
wieſen find. Verlaſſen wir dieſe, fo gehen wir irre, und der Bruch unſrer Entwick-
Img führt uns weit ab vom Ziel.
Ber einmal in glüdhafter Stunde in die deutſche Seele hineinlauſchte und ebr-
fürchtig auf die erſten vernehmbaren Laute acht gab, die noch bis zu uns dringen,
der weiß, daß mit der Aneignung des Evangeliums durch die Deutfchen ſich ein
wunderſames Begegnen und Finden zwiſchen Söttlichem und Völkiſchem, zwiſchen
Alfeele und Volksſeele vollzog. In jenen Anfängen, bis zu denen wir die Rund-
werdung der deutſchen Seele verfolgen können, ſtehen zwei Dichtungen, die Denk-
maler der innigen Verſchmelzung von deutſchem Weistum und Evangelium ſind:
das Evangelienbuch des Elſäſſer Venedittiners Otfried und der Heliand, deſſen un-
belannten Verfaſſer, wie die Sage erzählt, ein Engel vom Acker fort zum Werk
berief. Diefe beiden Epen find neben kleineren Stücken hervorragende Zeugniſſe
dafür, daß ſich bald nach der Annahme des Evangeliums durch die Oeutſchen in
der Volksſeele eine Vereinigung verwandter Weſensſtröme vollzogen hat.
204 ©Stelmmüller: gen Evangelium und dle deutſche Seek
Worin dieſes geheimnisvolle Zueinander beruht? Nun, die deutſche Seele iſt
in ihren tiefſten unverfälſchten Gründen fromm. Sie kennt nicht jene Frömmig⸗
keit, die ſich zerfleiſcht und in Außerlichkeiten dienſtet, aber jene, die Ehrfurcht if.
Ihr wird die Wahrheit, die nichts als Wirklichkeit iſt, nie genügen, fie wird fie immer
über ſich als das Zuerſtrebende ſuchen und ſich nie in ihrem geſicherten Beſitz jat:
fühlen mögen. Dieſe empfängliche Ehrfurcht, die Jeſus ſelig preiſt, iſt unſre unter-
ſchiedliche Eigenart. Sie iſt uns im Umgang mit andern Völkern nur zu oft ver-
hängnisvoll geworden, wenn wir fremde Süchte bereitwillig willkommen hießen.
Aber im Untertauchen in die Gründe, wo Denken, Fühlen und Wollen eins wer
den, hat ſie uns ſtets Gott nahe gebracht, der nur dem Empfänglichen begegnet.
Sie iſt bedeutſam in die Erſcheinung getreten in dem Verhältnis der deutſchen
Seele zur Natur und in ihren Bauwerken.
Denn kein Volk hat in der Weiſe ſich der Natur verſchwiſtert gefühlt wie das
deutſche. Der Kelte büdte ſich auch ehrfürchtig im Gewittertoben, und der Inder
ſcheut vor dem Töten eines Tiers zurück, in dem er die Seele feines Ahnen ver
mutet. Aber das Gleichnishafte, Deutungreiche des Naturlebens iſt der deutſchen
Seele vorbehalten. Nebel und Gewölk, Sturm und Sternennacht, Schneerriſtall
und wehende Spinnenſeide, Bäume und Falken, die den langen Frühlingstag hin- |
durch fliegen, — alles ift Sinnbild, alles deutet auf das Geiſtige. Nennt es Wode
oder Baldur, Tor oder Frau Frigga, ſelige Fräulein oder Alraun, Wichtel odet
Schrat — was bedeutet der Name! Jäger, Bauer, Hirt und Wanderburſch, und
wer ſonſt unſer Volkslied ſchuf, hörten nur auf das Echo, das die Dinge in ihnen
weckten. Und fo iſt es bis heute geblieben. Left nur, was W. v. Humboldt über
die Bäume ſagt; merkt, wie der junge Bauer den Tod des Vaters den Tieren im
Stall, den Obſtbäumen im Garten anſagt; beachtet die krampfhafte Sehnſucht des
Induſtriearbeiters nach einem Fleckchen Erde! Alles iſt nichts als das Verlangen,
die Natur als Brücke in das Überfinnliche zu ſuchen. Denn in der Natur findet
die deutſche Seele das Zeitliche verewigt.
Und dann die Baudenkmäler. Wer nie in ſtiller Ergriffenheit vor unſern Homen
geſtanden ift, der hat die deutſche Seele nie verſtanden, denn er kennt ihren flür
miſchen Drang nach Erlöfung vom Erdenleid nicht, der in dem aufgetürmten Se
ſtein ſeinen Ausdruck fand. Es iſt hier etwas durchaus anderes als das, was ſich in
aſiatiſchen oder pharaoniſchen Bauten verkörpert. Der Oeutide übernahm die
römifche Grundform feines Kirchenbaus, wie er in dem zweiten Sachſenkaiſer die
römiſche Form der Allherrſchaft übernahm, doch in feinen Händen wurde fie Aus
druck ſeiner Weſensart und durchaus Eigenes. Der romaniſche Bau ſtellt nach Aus
ſcheidung der fremden Elemente eine wunderbare Frucht des germaniſchen Geiſtes
dar. Und in weit höherem Maß tut dies die gotiſche Formungsart. Ich denke dabei
nicht vorwiegend an die ſüddeutſche Hauſtein-Gotik mit ihren Fialen, Triforien,
Wimpergen und dem krauſen Maßwerk ihrer Felder, ich denke an die Backſtein
Gotik unſerer nordiſchen Städte. In ihrer ſchlichten, gewaltigen Maſſigkeit, die
alles Zierliche und Gezierte abgeſtreift hat, iſt der Ruf nach Erlöſung erſtarrt.
Aus der Erdgebundenheit ihrer mächtigen Turmſockel wächſt ſteil wie ein im Beten
aufgereckter Arm der Turm empor, deſſen zum Empfangen geöffnete Hand als
Gieinmäller: Zefa Evangelhan und die beutfche Seele 205
weithin ſichtbares Wahrzeichen über dem flachen Land ſteht: Gib mir ein Zeichen,
wo du biſt; ergreife mich, daß ich dich fühle! Dies iſt die monumentale Gottes-
ſehnſucht, das ergreifende, ſteingewordene Gottſuchertum.
Sem nach Deutung und Ausdruck ringenden Suchen der deutſchen Seele begeg-
net das Evangelium, indem es feinem Ewigkeitverlangen Inhalt und feiner Sehn
fudt nach Erlöſung Erfüllung gibt, und beides in einer dem deutſchen Weſen ge-
mäßen Weiſe. Jeſus hat die Natur nicht nur mit feinem Verſtändnis erfaßt, er
bat fie als den Garten des himmliſchen Vaters zärtlidy geliebt. In der friedvollen
Enſamkeit der galiläifchen Berge vertiefte er ſich in fie. Er betrachtete die Abend
tote und den flammenden Blitz, das Weizenkorn der Saat und die Arten des Frucht-
bodens, den Sperling und den Raben, die Schlange, den ruheloſen Fuchs und die
Lilie im Feld, die Steine am Weg und den lenzenden Baum. Und in alles, was
er jab, deutete er die Geheimniſſe des Göttlichen, das er in ſich trug, hinein, die
Seheimniffe des Gottesreiches. Denn dieſes war ihm nicht irdiſche Herrſchaft oder
Beſit, ſondern Gott ſelbſt. Keiner hat fo treffend den Sinn des Gottesreichs be-
zeichnet wie Meiſter Eckehart: „Denn Gottes Reich iſt Gott ſelber mit allem feinem
Reichtum.“ Jeſus wählte die Natur, um das Ewige zu verzeitlichen.
Und ſeiner Frohbotſchaft andrer Teil war die tröſtliche Antwort auf die Frage
nach Erlöſung, die Verkündung der Gotteskindſchaft. „Seid getroſt, fürchtet euch
nicht, frohlocket, freuet euch, ihr ſeid Gotteskinder!“ Höchſter Adel der Menſch⸗
beit, der erhebt und verpflichtet zugleich, ward von ihm gelehrt. Keine Weltab-
gewandtheit, keine Flucht in das Wegeloſe, ſondern ein Tragen in dem ſtolzen Be-
wußtſein edelſter geiſtiger Herkunft.
Das ift der lebenskräftige Kern des Evangeliums, nicht eine Religion, nicht das
Ehriftentum, wie man ſchlichthin davon ſpricht, ſondern das Evangelium, wie es
Jeſus verkündigt hat. Und ohne die Wirkſamkeit dieſer Botſchaft wird das Chriſten-
tum immer bleich und kraftlos ſein. Sicher gilt dieſe Botſchaft allen Menſchen und
Völkern, aber der deutſchen Seele eignet fie im Beſonderen, weil fie in derſelben
Sprache antwortet wie jene fragt.
Und nun die Antwort auf die Frage, warum das Evangelium in unſerm Volk
nicht kräftiger als bisher ſich betätigt hat. Die Antwort kann nur annähernd be-
ftiebigen, denn die Gründe dafür find mit rätſelhaften Zuſammenhängen ver-
flochten.
Einmal ijt das Evangelium, das Jeſus verkündete, zurückgedrängt und feiner
Kraft beraubt worden durch die Predigt des Evangeliums über Fefus. Man ſchuf
bald nach Sefu Tod Heilstaten, die allzu ſehr mit Menſchlichem durchſetzt waren
und Forderungen irdiſcher Art enthielten. Wohl ſtand die Verkündung von Gottes
Reich und von der Gotteskindſchaft immer wie eine ſchöne Verheißung im Hinter-
grund, doch ſie wurde nur zu oft von dem verdunkelt, was ſatzunggemäß war
und den freien Sinn beſchwerte. Das Evangelium Jeju war nicht beherrſchende
Macht.
Sodann: Die erſten chriſtlichen Gemeinden ſahen den Stolz der Überlieferung
darin, daß ſie das Alte Teſtament als Zeugnis für den Wahrheitgehalt ihrer Lehre
übernahmen. Paulus und die Gnoſtiker wehrten ſich dagegen: es half nichts. Man
206 Günther: Gott it nat
wollte die Weisfagungen und Verheißungen nicht preisgeben. Man begründete
die Einrichtungen der neuen Kirche, die Sakramente und ſelbſt das Prieſtertum
damit. Auch dann noch, als das Neue Teſtament geſchaffen war, ließ man ſich den
alten Ruhm nicht ſchmälern und ſtellte das Alte Teſtament dem Neuen gleich.
Damit ift ein fremder Weſenszug dem Evangelium aufgeprägt worden. Man be-
müht ſich heute in haltloſen Hypotheſen, Jeſu eine ariſche Abſtammung anzudichten.
Als ob es nicht auf den Geiſt ankomme, der ſich ſeine Form baut, ſondern auf
das Geblüt! Unendlich wichtiger iſt es, das Evangelium rein und ohne den Ballaſt
der Voreingenommenheit darzuſtellen und aufzunehmen.
Endlich verſucht man in neueſter Zeit, die Botſchaft Jeſu dadurch ſchmackhaft zu
machen, indem man fie zerpflüdt, zerredet und mit Zeitlichem durchmengt. Man
bringt ſie dadurch der deutſchen Seele nicht näher. Schickt das Roggenmehl immer
aufs neue durch die Mahlgänge, es wird feiner und weißer werden, aber es wird
auch ſeine Kraft verlieren. Das Göttliche iſt eine Macht, der man ſich nahen muß,
aber die man nicht wie irgendeinen Stoff kneten und formen darf. —
Rubelos irrt die deutſche Seele durch dieſe Tage. Wieder einmal ift fie auf-
geſchreckt aus Sattſein und ſcheinhaftem Glück durch eine nothafte Zeit. Wieder
einmal ift das große Dürjten über fie gekommen, und fie gräbt Brunnen, um ewige
Quellen zu erlangen. Denn die tiefſte Not der deutſchen Seele iſt noch immer die
Sottesferne. Darum helfen ihr auch nicht Verträge oder Völkerbündniſſe oder
wirtſchaftliche Vorteile; auch kein Beten an fremden Altären hilft hier, ſondern
allein die Einkehr zu ihrem Weſen und zu dem Gott, der in ihr wohnt. Erſt wenn
fie ſich wieder bewußt wird, daß fie Trägerin des Gottesreiches und der Gottes;
kindſchaft iſt, wie Jeſu Evangelium es lehrte, erſt dann wird fie den Halt in dieſer
nothaften Zeit finden. Erſt wenn der Geiſt ihrer Söhne, die dieſes Evangeliums
Leuchter waren, wieder in ihr lebendig wird, der Geiſt Meiſter Eckeharts und
Taulers, Oiirers und Luthers, Jakob Böhmes und Johann Sebaſtian Bachs, dann
wird fie ſiegreich dieſe Not überwinden.
Das Evangelium Zefu hat ſich nicht überlebt, feine Forderungen find von ſolchet
Höhe der Gefinnung, daß wir noch FJahrtauſende gebrauchen werden, um zu iht
heranzureifen. Aber dieſes Evangelium muß rein gelehrt und gelebt werden, damit
wir eine reife Frucht im Sinne ſeines Verkünders ſeien, der zugleich der Wille
Gottes iſt.
Gott iſt nah
Von Herbert Günther
Wir wandern in die Weiten,
Die Krone 3 erſtreiten,
Die unſre Sehnſucht ſah,
Wir müffen all die Zeiten
Durch Einſamkeiten ſchreiten —
Und Gott ift doch fo nah
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens
(Fortſetzung)
1647
ie Weihnacht kommt langſam heran. Titus iſt im Herbſt ſechs Jahre alt ge-
worden; am liebſten ſpielt er in dem großen hohen Empfangszimmer, das
nach der Straße zu liegt. Nach dem Hofgarten hin befindet ſich die Schlafſtube des
Vaters; dorthin getraut ſich das Kind nur ſelten. Mutter iſt dort geſtorben, das
weiß es vom Hörenſagen. Meine Mutter! Welch ein Zauber liegt in den Worten.
Titus liebt es, fie ſtundenlang eintönig vor ſich hin zu flüſtern. Einen rechten Be-
griff kann ſich der braune Lockenkopf nicht davon machen. Wohl weiß er, wie ſeine
Mutter ausſah: ihre vielen Bilder reden und raunen im ganzen Haus von ihr und
ihtem heiteren Weſen. Aber entbehren tut er fie nicht. Am liebſten fpielt er ganz
für ſich allein.
Bald iſt Weihnachten! Zu Sankt Nikolas hat er einen Kaſten mit hölzernen
Bauklötzen bekommen. Damit baut er ſich immer wieder und wieder einen Stall,
in den das Chrifttindlein hinein ſoll. Kommt der Vater, muß er jedesmal das Kunſt-
werk wieder zerſtören. Niemand ſoll davon wiſſen, auch Vater nicht. Sonſt findet
das Kindlein ſeinen Weg nicht zu ihm. Das hat er im Gefühl.
Sonſt geht es vielleicht zum Vater, der ja auch das Jeſuskind liebt. Dort auf
den beiden Bildern in goldbraunen und blauen Tönen hat er es in der Krippe ge-
malt, in einer Scheune, die dem Maultier als Stall dient. Warum knien und beten
all die alten häßlichen Männer um das Kind herum! Warum leuchtet es ganz
herrlich in der Dunkelheit des ſchwach belichteten Zimmers? Hat Vater es fo ge-
malt, oder muß es immer von felber überall leuchten, wo man es auch ſieht? Hätte
Vater nicht ein ſchöneres Kind und ſchönere Menſchen malen können? Die ähneln
ja den alten Männern auf der Straße. Der eine ſieht wie der Holzhändler aus,
der ihm ein Schiff geſchnitzt hat. Der andere weint. Warum weint der Mann?
Und wie ſeltſam ift es doch: auf dem anderen Bild find wieder andere Männer.
Das kann der kleine Mann noch nicht begreifen.
Wenn aber das Kindlein nicht zu ihm, ſondern zum Vater will, was dann?
Es iſt immer ſchwer zu wiſſen, was kommen wird.
1648
Dielgeliebte und ehrfürchtig erſehnte Braut!
Nach einer ſehr beſchwerlichen Reife mit der Kutſche des edeln Herrn von Breda
bin ich glücklich in dieſer gewaltigſten Stadt der Welt angelangt, in Ihrem geliebten
Amſterdam, und ich beeile mich dienſtfertig, Ihnen und Ihren hochverehrten Eltern
meine Empfehlungen ſubmiſſeſt zu Füßen zu legen. Natürlich galt mein erſter Be-
ſuch dem berühmten Meiſter des Kupferſtiches, dem Herrn Rembrandt Harmensz
van Ryn, in deſſen Haufe ich als Lehrling in dieſer edelſten aller Künſte unter-
gebracht bin. Leider kann ich nicht verſchweigen, daß es in dieſem Haufe keines-
wegs fo hoch hergeht, wie wir es von meinem Leidener Meiſter vernommen. Über-
haupt ſcheint mir der Ruhm des Meiſters Rembrandt recht winterlich verblaßt zu
208 Martens: Der Oämon des Lichte
fein, kann er ſich doch nicht mehr als zwei Gehilfen leiſten und foll doch früher ein
fo ſplendides Haus geführt haben. Dieſe jungen Leute gefallen mir nicht im min-
deſten. Sie ſind einfacher Leute Kind und führen ſich ſchlecht auf. Der Meiſter iſt
wortkarg, und ihn bekümmert weder unſer Daſein noch der Haushalt. Die Wirt-
ſchafterin Hendrickje Stoffels gefällt mir noch am beiten. Sie iſt tüchtig, friſch,
hübſch, luſtig und rüttelt den in ſich gekehrten Meiſter aus feinen Grillen. Ich finde
ihn für ſeine Zweiundvierzig ſtark gealtert und wenig lebensfreudig. Auch muß er
ſich mit Geldſorgen abrackern. Unabläſſig ſteht ein Notar in langer ſchwarzer Tracht
vor der Tür und präfentiert einen Schuldſchein oder irgendeine Gerichtsaufforde-
rung. Ich muß dieſe ernſten Herren ernſt und verbindlich abfertigen. — Das liegt
mir ja, Gravitat mit Gravitdt zu erwidern. |
Die Frage, die Sie mit aller Genauigkeit beantwortet zu wiffen wünfchen, ob
ich Ausſicht habe, bei einem ſolch unbekümmerten Meiſter in der Kunſt des Grab-
ſtichels gehörig inſtruieret zu werden, kann ich nicht bejahend beantworten. Er hand-
habt nur ſelten den Stichel, ſondern arbeitet auf ſeine ganz eigene Art mit der
Schneidenadel auf einer gewächſten Platte. Natürlich find meine Stecherkunſt⸗
ftiide nach berühmten Zeichen vorlagen ſchroff abgelehnt worden. Das hat mich
gekränkt. Meine ſchönen ſauberen Linien im Stile des Goltzius gelten hier nichts.
Frei ſoll ich nach Vorlagen und Zeichenſkizzen mit der Schneidenadel auf der prä-
parierten Kupferplatte arbeiten. Was dabei herauskommt, werde ich mit Derblüfft-
heit bei vielen Stichen des Meiſters gewahr: ein ſtilloſes Hineinpfuſchen in die er-
pubenen Richtlinien der großen unüͤbertrefflichen Meiſter von Brügge und Siena,
von Florenz und Venedig. Er arbeitet ununterbrochen, kaum Trank und Speiſe zu
ſich nehmend, an einem völlig unſtiliſierten Selbſtbildnis und an einem großen Blatt
vom Heiland, der die Kranken und Breſthaften heilt. Ich begreife nicht, wie ein
ſolch erhabener Stoff ſo durchaus alltäglich vulgär hingeſetzt werden darf: ein
ſchmaler häßlichblonder Judentypus ſoll den Chriſtus darſtellen! Und erſt die Leute
aus dem Volk! Keine orientaliſch blumenhaften Geſtalten, von Sonne und den
Früchten der Wildnis lebend; gefehlt, devoteſt verehrte Braut! Nein, Bettler
volk aus dem finſterſten Amſterdam, von deren Exiſtenz man am liebſten keine
Notiz nimmt. Und immer wieder zerſtört der Meiſter das Geſchaffene und beginnt
von neuem zu ſtechen, ritzen und ätzen, um niemals an ſeinem Werk Gefallen zu
finden.
Amſterdam iſt wahrlich eine prächtige, mit Linden und Ulmen reichlich bepflanzte
Stadt, die immer freundlich an beiden Seiten der Randle ſtehn. Die Keizersgracht
und die Prinzengracht mit ihren neuen Hdufern find noch großartiger, als Sie fie
mir geſchildert. Ihre Lobpreiſungen ſind wirklich nicht übertrieben. Der Meiſter
wohnt in einem ſchönen geräumigen Hauſe in der Anthoniesbreeſtraat. Es iſt
prachtvoll eingerichtet und enthält Kunſtſchätze, wie ſie kein Palaſt in den ſieben
Provinzen beherbergt. Wie ſchade nur, daß der Meiſter ſich dieſe edeln Erzeugniſſe
einer hochentwickelten Kunſtperiode nicht zum Vorbild ſeines Schaffens nehmen
will. Er beſitzt einen Raffael Santi, einen Giorgione, einen Holbein, prächtige
Kupferwerkſammlungen des Lukas van Leyden, des Dürer und Goltzius. Ich glaube
fürwahr, ich bin hundert Jahre zu ſpät auf die Welt gekommen.
Mertens: Der Damon bes Lichte 200
Sh kuͤſſe Ihnen ehrfürchtig die Fingerſpitzen und wünſche Ihnen und den hoch-
verehrten Eltern einen angenehmen Aufenthalt in Scheveningen.
Francis van Hoogepijl
1649
der Meiſter zog fic immer mehr vom Leben zurück. Pinſel und Grabſtichel
wechſelten unermüdlich mit dem Zeichenſtift und der Feder. Eine unerklärliche
Nenſchenſcheu war über ihn gekommen, bie vielleicht aus der immer ſtärker werden;
den Überzeugung herrührte, daß in Holland in den letzten Jahren eine neue Maler-
generation heranwuchs, die eines Tages ſeinen Ruhm verdunkeln würde. Vor
feinen myſtiſchen Bildern mußte allerdings die Mißgunſt der gekränkten Bürger-
Waft verſtummen, hatte er doch an ihnen feine Seele verſchwendet. Auch maleriſch
var er immer weiter gewachſen. Eine gewiſſe Pathetik in den religiöſen und Genre-
bildern der dreißiger Jahre empfand er ſchon heute als feiner Natur widerftrebend.
dom und überfließende Sehnſucht, Demut und Erniedrigung, all die menſchlichen
getzenserregungen mußten vermittelft einer innerlicheren Kunſt zum Ausdruck
kommen als durch erklaͤrende Gebärden. Er war jetzt ein unübertrefflicher Meiſter
geworden, durch einen unfaßbar deutlichen Ausdruck der Augen die geheimſten
Sedanken erraten zu laſſen: unendliche Herzenseinfalt im Kampf mit der Ver-
führung, feſter unerſchütterlicher Glaube an Gott, grenzenloſe Hingabe eines leiden;
ſchaftlichen Weibes, bitterſte Bitte um einen frühen Tod. Und nicht die Heinfte Poſe
war dabei; alles echtes, wahres, blutvolles Leben. Nein, das war noch nie da-
geweſen ſeit Menſchenberichte auf uns gekommen.
Und dies war noch nicht alles. Das ganz Unverſtändliche in der Kunſt dieſer
Bilder war die Erhöhung der Wirklichkeit, die dichteriſche Vollendung des Ir-
biſchen. War diefer unfaßbare Mann dem göttlichen Wirken nahegekommen?
Wie konnte es ſich dann bewahrheiten, das Gerücht, fein Ruhm wäre im Ver-
blaſſen? Waren es böſe neidiſche Zungen, die davon wiſperten? War die Bürger-
ſcaft, die ſtolze, reiche Bürgerfchaft der Stadt, ſtumpfer, gleidgiltiger zu feinem
Bert geworden? War ihr Bedarf überſättigt? Mußte fie nicht jede Gabe von
bieſer ſchöpferiſchen neugeſtaltenden Hand dankbar hinnehmen? Warum riß fie
id nicht um jedes Blatt, das feinen Namenszug trug? Ratfel um Ratfel.
Einer der Jüngeren, Gerard ter Borch aus Zwolle, hatte kaum die Dreißig
iberſchritten und war ſchon an allen großen Höfen Europas geweſen. In Münſter
porträtiert er die Friedensgeſandten, und feine feine weltmänniſche Art ge-
wann ihm die Herzen der Welt. Zu lernen blieb ihm nichts mehr übrig; er
hatte ſein außergewöhnliches maleriſches Talent bis zur Vollkommenheit ſeiner
beſonderen Art auszubilden verſtanden. Sein Lebenswerk wurde das Entzücken
der Welt.
Sewiß, erfreulich war die wunderbare Schlichtheit feiner Darſtellung. Freund-
lich heitere Begebenheiten der holländiſchen Geſellſchaft; die Farbentöne kühl und
harmoniſch ineinander übergehend. Keiner konnte ſolche Atlasſeide malen wie er.
entzückende Refeda- und Lilatöne, und das Grün von Delasquez, bei dem er ftudiert
hatte, und ſein venetianiſches Schwarz und Rot wurden für die kommende Maler-
generation vorbildlich. |
219 Martens: Oer Dämon bes Ligts
Es waren die Bilder des guten geſellſchaftlichen Tones in aller Größe und
Schlichtheit der Auffaſſung.
Kein Helldunkel der Ergriffenheit: kühles holländiſches Alltagslicht. Keine welt-
bewegende Zeugungskraft in den Augen und Zügen der Menſchen: gemeffenes
hollandiſches Selbſtbewußtſein. Keine Spur von Größe, Genie, Gott. Nur Gentileſſe,
die reich geſättigte Stimmung der guten Geſellſchaft. Sie ward das Entzücken der
Welt. ö
Eines Tages ſtand er im Vorraum des zweiten Hauſes von der Brücke aus in
der Anthoniesbreeſtraat und fragte Hendrickje, die Haushälterin, die ihm geöffnet
hatte:
— Sit der Meiſter zu Haufe? —
— Er empfängt niemand. —
— Gag’ ibm, ſchönes Kind, Gerard ter Bord), der Hofmaler, mache es ſich zur
Ehre, bei ſeiner Rückkehr aus der Fremde als erſtem in Amſterdam dem Meiſter
Rembrandt ſeine ergebenſte Aufwartung zu machen. —
— Mynbeer ter Boch, der Meiſter empfängt jelten feine ä faſt nur noch
Bittſteller. —
— So ſag' ihm, ein Bettler warte auf ihn. —
— Es iſt wirklich unmöglich, ihm mit einem ſolchen Scherz zu tommen.
So mußte ter Borch unverrichteter Dinge die Steinftufen wieder hinabgehen.
Dann kam der Tag, an dem ſich die beiden Maler kennen lernten. Jan Lievens
vermittelte die Bekanntſchaft. Jm Grunde konnten fie ſich gar nicht verſtehen; aber
keiner wollte es dem andern merken laſſen.
ter Borch war genau fo zurückhaltend wie Rembrandt. Spürten fie die grund-
ſätzliche Verſchiedenheit ihrer Naturen? Unbeſtechlich war ihr Scharfblick. Jeder fab
in dem anderen ſeinen ſtärkſten Rivalen und bewunderte im ſtillen die ihm ſelbſt
mangelnden Vorzüge, die der andere Teil in fo hohem Grade beſaß. Nur Jan
Lievens hätte die beiden mit dem wahren Maßſtab des Unparteiiſchen meſſen
können.
Oer Zwoller trug ſich weltmänniſch. Seine kunſtvoll gebrannten Locken fielen
in ſchönſter Ordnung auf den kurzen weiten Mantel aus ſchwarzem Tuch herab,
der noch gerade die ſchmalen Knie erblicken ließ. Er trug ſchwarze ſeidene Strümpfe
und ſchwarze Halbſchuhe mit breiten rieſenhaften Schleifen. Sein Geſicht war voll
und groß, die herriſche Naſe im Gleichmaß; die Stimme beeinflußt durch einen
zu kurzen Hals. Das tief bis in die Brauen geſcheitelte Haar ließ keine hohe Stirn
vermuten. An den Augen von brauner Farbe, die groß und wohlgebildet waren,
fiel der völlige Mangel an Tiefe auf. Er mochte einen halben Kopf größer als
Rembrandt ſein.
Als ſie ſich nach dem erſten Beſuch verabſchiedeten, verſprach der ältere Meiſter
dem jüngeren, ihn in feiner Werkſtatt aufzuſuchen. Über ihre Kunſt hatten fie noch
nicht ein einziges Wort gewechſelt. Als er gegangen war, meinte Lievens:
— Der Ariſtokrat unter uns Bauern. Ich habe mich ordentlich zuſammennehmen
miffen, um ihm nicht fortgeſetzt auf die lächerlichen Schleifen zu treten. Der vor-
nehme Holländer verliert doch nie den ſtockſteifen Gang und die aufgeblafene Hal-
Martens: Der Dämon des Lichte 211
tung einer Sans. Wie ſeltſan mag dieſer Mann fic vor feiner Staffelei aus-
nehmen! Wir werden es ja erleben. —
— Jedenfalls turnt er nicht vor ihr herum, wie du es tuft, langbeiniger Affe.
Schäme dich deines loſen Maules, unverbeſſerlicher Querulant! —
3.
Das Gut Koſtverloren liegt auf dem linken Ufer der Amſtel, halbwegs zwiſchen
Ouderkerk und Amſterdam. Es ſieht ganz verwahrloſt und verlaſſen aus und doch
wurde es von einer verarmten adligen Famille bewohnt, den van der Straaten, die
aus der Proving Antwerpen wegen Überſchuldung geflüchtet waren: Vater, Mutter
und fünfzehn Kinder. Barmherzige Verwandte in Amſterdam hatten fie aufgenom-
men. In den Sommermonaten hatte ihnen der Magiſtrat das verfallene Gut zur
Verfügung geſtellt. Nur ganz heruntergekommene Flüchtlinge können hier ihr er-
baͤmliches Leben friften. Wer an dem Gut vorbeiwanderte, ſah niemals die Eltern,
wohl aber hörte er die vielen lärmenden Kinder ſich vergnügen. Auch das nur felten.
Sewöhnlich ſaßen ſie trübſelig fiſchend um den Karpfenteich oder wateten in dem
ſchlammigen Hausgraben umher, um Aale zu fangen. Das war ihre tagtägliche Be-
ſchäftigung. Sie mußten ſonſt hungrig zu Bett gehen. |
Zm Winter fteht das Gut ganz verlaſſen. Nur an dieſen Weihnachtstagen kann
der nächtliche Wanderer einen geheimnisvollen Lichtſchein in den paar Räumen,
die noch notdürftig bewohnbar find, erblicken. Hier find zwei Menſchen ftunden-
lang durch den hohen Schnee von Amſterdam her geſtapft, und man kann an ihren
Fußſpuren deutlich erkennen, wie ſie ſich an dem ſchweren eiſernen Tor zu ſchaffen
machten, ehe ſie es aufzwängen konnten. Nun haben ſie in der Halle ein mächtiges
Holzfeuer bereitet, fo daß der hohe ſchadhafte Kamin zu berſten droht vor Flam-
men und Gepraſſel. Sie kochen ſich ihre Abendmahlzeit: es hungert ſie gewaltig.
Es find unfere beiden fleißigen Wanderer, die jeden Winkel der Amſtel kennen.
Hier können fie all ihrer Sorgen vergeſſen und Gott einen guten Schöpfer fein layfen.
Zuerſt gibt Jan Six feiner Koppel Hunde zu freſſen, prächtige deutſche Schäfer
hunde. Die Tiere find ſehr müde vom Tollen im Schnee und ſchlafen bald am Kamin
ein. Auch ihr Herr ſtreckt ſich an der Feuerſtelle aus. Die kräftige Erbſenſuppe, die
ſchneeige Luft, der mühſame Gang haben ihn ſchläfrig gemacht. Er ſieht nicht mehr
ſo heiter und jugendfriſch aus wie damals, als ſie Freunde wurden; das angeſtrengte
Leben, das er führt, geht ihm in die Knochen. Sein Ausſehen iſt das eines ernſten
Mannes, der ſcharf nach rechts und links ausſchauen muß, will er fein Vermögen
zuſanimenhalten.
Rembrandt hält Wache, während ſein Freund und die Hunde ſchlafen. Eine
Hündin hat ſich dicht an den ſchlafenden Mann gedrängt, und ihre lange ſchön⸗
gezeichnete Schnauze ruht ihm auf dem Oberſchenkel.
Der Schnee fält unaufhörlich in den Kamin hinein; die Flocken glitzern, ehe fie
in der Glut verdampfen. Der Rauchfang iſt ungewöhnlich breit und tief. Es muß
unheimlich ſein, an ihm zu träumen, wenn der Herbſt die letzten Blätter von den
Bäumen reißt. In dieſer Nacht rührt ſich nichts; es iſt eine der ſtillſten Weihnachts-
nächte im Sturm der Zeiten.
212 Martens: Oer Dämon bes Lichte
Der Schnee fällt unabläffig. Rembrandt legt einige Scheite ins Feuer, die noch
feucht ſind; ſie kniſtern und ſprühn Funken. Jan Six merkt davon nichts; die Hunde
blinzeln nur und vergraben ihre warmen Schnauzen noch tiefer zwiſchen Bauch
und Läufe. Zuweilen wimmert es im dichten Kiefernholz, das an das Gut ſtößt:
wohl ein unter der Laſt des Schnees ſich krümmender Baum. Die Amſtel iſt noch
nicht zugefroren; ihr Waſſer fließt ſchwarz und gurgelnd über Land.
Rembrandt hüllt ſich tiefer in den Mantel; ihn fröſtelt. Er gedenkt früherer
Weihnachtsfeſte, die er bei einem ſeiner Freunde, einem Mennonitenpfarrer, ver-
brachte. Der hat ihn diesmal nicht geladen. Niemand kümmert ſich mehr um ihn,
ſeit er ſich immer tiefer in die Einſamkeit vergräbt.
Eine ungeheure Schwermut hat wieder die Oberhand über fein Leben gewon-
nen. Ex muß immer an fein ſchönes Haus denken, das er nun ſeit zehn Jahren
bewohnt und das er nur zum Teil bezahlen konnte. Er hat Mühe, die jährlichen
Zinſen zuſammenzubringen und die alten Beſitzer zu vertröſten: auf beſſere Zeiten,
die immer noch nicht kommen wollen und die wohl auch nicht mehr kommen.
Eine Stimme ruft ihn. Nicht hier in der Halle; draußen, draußen ruft es ihn,
aus dem Walde, aus dem Fluß.
— Ach, ich mag nicht mehr leben in dieſer Wirrnis der Gedanken, die mich ver-
folgen, ein trübes ſchauriges Heer von ſchwarzverhüͤllten Gedanken, die mir um
den Kopf zu ſchwirren ſcheinen. Geſpenſter der tötenden Einſamkeit. Wo ich mich auch
niederlaſſe zum Schlaf, den ich nicht mehr zu finden vermag, flattert die dunkle Schar
um mich her und läßt mir keine Ruhe. Wie ſchön muß es fein, wie friedlich, wenn die
Erlöſung kommt, die letzte Erlöſung, wenn ich mit ſtillen Schritten den Kerkemauern
des Lebens entweiche. Was rufſt du mich, lockende Stimme im Ounkel der ftern-
loſen Nacht? Ich folge dir gern, du weißt es; nichts hält mich mehr an der Kette
des Lebens. In den tiefen ſanften Schnee des Vergeſſens will ich meinen bren-
nenden Menſchen betten, in das weiche weiße Laken unſagbar ſüßer Erlöſung. —
Unabläffig fällt der Schnee. Rembrandt erhebt ſich aus feiner grübleriſchen Stel-
lung. Sein Freund ſchläft mit Falten und Runzeln im Geſicht. Verſteht der ſeinen
inneren Menſchen? Nein, der hat ſeine eigenen Sorgen. Er mag ihn nicht quälen,
den lieben guten offenen Mann. Verſteht ihn Jan Lievens? Nicht ganz, aber
helfen würde er mit der ganzen Macht feiner Perſönlichkeit. Keiner iſt fo treu wie
er. Könnte der auch ſeine Einſamkeit töten? Vielleicht. Seine Schwermut? Nein,
das könnte nur ein liebendes Weib. Und Saskia iſt nicht mehr. Iſt nicht mehr? Sie
ruft ihn doch? Immerzu hört er ihre volle kräftige Stimme, aber fern, fern aus
dem Reich der Unendlichkeit.
In allen Dörfern und Weilern beginnen die Chriſtglocken zu läuten. Aus dem
Reich der Unendlichkeit ſcheinen ſie zu kommen, dieſe hellen jubelnden Glocken,
dieſe tiefen droͤhnenden Stimmen, die ſich im Preiſe Gottes nicht genug tun kön-
nen. Sie übertönen alle anderen rufenden Stimmen der Sehnſucht.
Rembrandt entblößt ergriffen das Haupt und ſinkt in die Knie. Er betet.
Oer Schnee fällt nicht mehr. Ein glitzernder eiſiger Sternenhimmel hat ſich auf-
getan. Der Morgenſtern leuchtet unheimlich groß durch das ſchmale hohe Fenſter
der Halle.
Martens: Der damon des Lichte 213
1650
1.
Renialme, nimm Platz! Rauchſt du kalt? Hier ift Tabak und Feuerzeug. —
Ou weißt ſchon, was es zu bedeuten hat, wenn ich dich rufe. Renialme, von den
Werken muß ich mich trennen, die mir ans Herz gewachſen ſind, und du biſt der
einzige unter den Händlern, in deſſen Hände ich fie legen mag. Denn du haft Sinn
für dieſe Bibelbilder. Deine Vorfahren waren Hugenotten, darum ſteckt dir der
Zug zum Überſinnlichen im Blut.
Sieh, Renialme, ich benötige eine größere Summe Geldes, und da du bekannt
biſt weit über die Grenzen des Landes, der namhafteſte größtzügige Kunſthändler
der Stadt zu ſein, wirſt du nicht lange mit mir handeln. Hier im Zimmer hängt
alles zuſammen: Chriſtus und die Ehebrecherin, die beiden Anbetungen der Hirten,
Ether und Ahasver und die Kreuzabnahme. Wieviel ich brauche? Breitaufend
Gulden. Ich wußte ja, daß du einwilligſt. Lebwohl, Renialme, mein guter Freund;
es erleichtert mir das Herz, daß ich gerade dir meine Schöpfungen verkaufen durfte.
Gott geleite dich! —
Rembrandt, er ging. So weit mußte es mit mir kommen, daß ich mein Hab und
Sut vertue. Rembrandt, was ſoll aus dir noch werden? Mir bangt! So weit mußte
es mit mir kommen, daß ich die Myſterien meines Lebens preisgebe. Wer erſt an;
fängt, die Dinge von ſich zu geben, in denen er ſich Gott genähert, in denen er mit
dem Schöpfer redet in dunkeln Stunden der Not, dem iſt nicht mehr zu helfen.
Und ich vermeinte doch den Weg Gottes zu gehen. Es iſt nur gut, daß ihr längſt
geſtorben ſeid, Mutter, Vater, ihr frommen Seelen, um jetzt nicht zu Tode er-
blaſſen zu müſſen vor der Rache meiner Feinde. Wie Haman werde ich mich ent-
blößten Hauptes vor ihnen demütigen müſſen.
2.
Eine einfache Stube mit einem geöffneten Fenſter, durch welches ſaftig grünes
Laubwerk funkelt und der ferne Turm einer Kirche. Es iſt ein erſter warmer Vor-
friblingstag in Amſterdam. Ein bedddtiges Holzfeuer brennt im tiefen Kamin
aus rotem Backſtein. Ein ganz in ſich verſunkener alter Mann ſitzt daran mit ge-
falteten Händen und ſtarrt in die Ferne ſeiner Gedanken. Der Mann atmet in
feiner gebüdten Haltung das ganze Leid der Welt. Seine Frau ſitzt am Spinn-
rocken und ſpinnt. Sie ſpricht zu dem Greiſe, der blind iſt, vor Kummer blind, von
den Schlägen des Schickſals geblendet, aber zugleich auch leibhaft blind, ohne das
Licht der Augen. Er betet zu ſeinem Gott und hält Zwieſprache mit ihm.
Er kann die wärmende Glut des niedrigen Herdfeuers, auf dem der Waſſer⸗
keſſel ſingt, nicht mehr ſehen, nur noch fühlen und hören. Er kann das warme
Leben um ihn her, den anbrechenden Frühling, feine Frau, die zwitſchernden Vögel
im Käfig nur noch empfinden, nicht mehr mit leibhaftigen Augen ſchauen.
Eine große Ruhe iſt um ihn her, eine große Ruhe iſt in ihm.
Das Leben mit feinen berauſchenden Farben macht ihn nicht mehr febnfudts-
krank. Kein {dines junges Weib macht ihn begierig nach dem Beſitz ihrer Reize.
Langit hat er mit dem Leben abgeſchloſſen, das nur noch gedämpft zu ve une
ihm nicht mehr um den Hals fällt, ihn küßt und ftreichelt.
214 Martens: Oer Damon bes Lichts
Alles dieſes ſteht in dem Bilde des Tobias, des armen alten Tobias, das Rem-
brandt, der ganz in die Welt ſeiner Gedanken verſunken vor der Staffelei ſteht,
ſoeben vollendet hat.
1651
Früher als ſonſt war der Meiſter an die Arbeit gegangen; leiſe hatte er die ſchöne
Schläferin auf den halbgeöffneten Mund geküßt und das ſtille abgeſonderte Schlaf-
gemach hinter ſich gelaſſen. Als Hendrickje erwachte, lag das hohe geräumige Zim-
mer wie verzaubert vor ihren glückstrunkenen Augen: die geröteten Blätter der
Linden und Kaſtanien in dem ſchmalen Hofgarten tanzten im herbſtlichen Wind
und funkelten in der grellen Novemberſonne durch das breite Fenſter mit feinen
vielen grünen und goldigen in Blei gefaßten Scheiben. Ihre ſchwankenden Schat-
ten ſpielten auf den getäfelten Wänden, von denen die im Dämmerlicht ftrablen-
den Bilder von des Meiſters eigener Hand in einem unbegreiflich myſtiſchen Schim-
mer auf die üppige, kaum bekleidete Frau hinabſchauten, die ſich auf dem Baldachin
lager nach Herzensluſt räkelte. Aus dem oberen Fenfterflügel ſtrich es wie friſche
Seebriſe über fie hin, über dieſe berüdende elfenbeinerne Haut, über die herrlich
gemeißelte Bruſt und die ſchwellenden Glieder, die in dem ſchaffenden Meiſter
eine quälende Sehnſucht zurüdließen.
Hendrickjes Gedanken legten einen langen Weg zurück; fie kamen aus dem kleinen
Ransborp im Gelderländiſchen, dem Land ihrer harten Jugend, und verloren ſich
hinein in dieſes Amſterdam, das ſie ſeit Jahren gefangen hielt und ſie ſeit der letzten
Nacht als die heimliche Herrin dieſes Hauſes ſah. Dieſe reinen ſonnigen Gedanken
einer erſchloſſenen Frauenblume füllten den flimmernden Raum und weilten bei
den Umarmungen und dem Geflüfter der entwichenen Nacht. Sie zitterten in einem
Raufd verhaltener Wonnen und hatten nicht mehr acht, daß ſich die Tür zaghaft
öffnete, ein blaſſes trauriges Knabengeſicht erſtaunt ins Zimmer blinzelte und er-
ſchrocken hinter ihr verſchwand, die ſich dann geräuſchlos wieder ſchloß.
1654
1.
— Jan Giz, dein Bildnis iſt fertig, du brauchſt mir nicht mehr zu fißen. Es war
ein hartes Stück Arbeit. —
— Wie kam es, Rembrandt, daß dir diesmal das Malen ſo ſchwer von der Hand
ging? —
— Es war mir, als müßte ich dich ſezieren, um den wahren Ausdruck deiner
Seele zu finden. Sie ſteht dir nicht mehr in den Augen! —
— Sollte ich mich in den letzten Fahren ſo grauſam verändert haben? —
— Du gehbſt mir aus dem Wege, Jan Six. Solang ich noch guten Mutes war,
kamſt du täglich. Es waren ſchöne Jahre. Nun ſchlummert irgendein Schatten in
den Spiegeln des Hauſes, und in die Ecken der Zimmer dringt nicht mehr die Sonne
hinein. Mir iſt oft, als würde die Decke eines Tages Über mich herſtürzen. Wir
haben uns beide ſehr verändert! —
— Rembrandt, du haft jetzt eine liebevoll ſorgende Frau um dich. Das ſtürmiſche
Herz deiner Hendrickje übertönt das meine. Was kann ich dir da noch fein? —
— a - =
Martens: Der Dünton des Lichts 215
— Giz, du biſt ein Mann, und ich brauche einen zuverläſſigen männlichen Freund,
der in den Dingen des gemeinen Lebens erfahren iſt; du könnteſt ein ſolcher mir
ſein, denn du biſt mit großen Gütern geſegnet und du haſt das Anſehen und die
Macht eines großen Handelsherrn. Seit Jan Lievens fort iſt, fteh’ ich ganz allein;
meine Bedrängnis wächſt ins Unermeßliche. Du allein könnteſt mich und mein Werk
vot dem Untergange retten. Doch die Seele ſteht dir nicht mehr in den Augen! —
— Deine Worte find ſchwertſcharf; fie treffen mich hart. Du biſt bitter, du biſt
ungerecht. — War ich es nicht, der dir die vielen Darlehen der letzten Jahre ver-
mittelte? —
— die Bedingungen, unter denen fie zuſtande kamen, werden mich zermalmen.
36 habe deinen Freunden all mein Hab und Gut verpfänden müſſen. Warum bürg-
teſt du nicht für mich? —
— Sieh, Rembrandt, die Tuchfärberei hat ihre beſten Jahre hinter ſich. Die
Farben ſteigen noch immer im Preiſe, die Zeit hat ein kriegeriſches Ausſehen.
Es tiecht ſchon überall nach Pulver. Wer weiß, wir ſtehen vielleicht vor böfen
Kriegen. — — —
— Goll ich dir dein Bildnis zuſtellen laſſen? —
— Vas bin ich dir dafür ſchuldig? —
— Yu könnteſt den Betrag feines wirklichen Wertes doch nicht bezahlen. Ich
(dente es dir. —
— Das geht nicht an. Ou befindeſt dich in der Not. Ich will die Obligation fiber
die zwölfhundert Gulden vermindern laſſen auf... —
— Auf keinen Fall. Ich ſchenke dir das Bild. —
— Wenn du unbedingt darauf beſtehſt. Aber... —
— Willft du dein Bildnis nicht noch ein letztes Mal betrachten? Vielleicht ge-
fällt es dir nicht. —
— Rembrandt, ich verhehle dir nicht, es erregt mein Mißfallen, dies ſeltſam
leblos gemalte Bild. —
— Jan Six, wie er leibt und lebt; das beſte Bild meiner Hand. —
— Nu ſpotteſt; es hat keine Seele. Abſcheulich will mir plötzlich dieſer Mann
nit dem hämiſchen Lächeln erſcheinen. Und wie er abwelfenb den Handſchuh zu-
möpft! Das ſoll ich fein? —
— Jan Six, der ſich aufmacht. —
— Derfprid mir wenigſtens, dieſen häßlichen hämiſchen Zug zu mildern. Oder
it dies alles nur meiner Einbildung entſprungen? —
— San Six ijt nicht mehr zu verändern. — Lebewohl! — Vergiß auch nicht die
gerung meines Lebens. Dort wird es ein Schauſpiel für Kunſtſammler
geben: die Raubvögel des Hafens, des einſtigen Ghettos werden mir die Seele
echaden. Und vielleicht legit du dich dann ins Mittel, — wie immer! — um deinen
Knochen zu ergattern. Ach, mich ekelt! —
~ Sit er fort, Liebſter? — =
en Nikolaus Maes foll ihm fein Bildnis nachtragen. Ich mag es nicht
ſehen |
0
216 Martens: Oer Dämon bes Lids
— Rem, du biſt totenblaß. Er hat dich in deiner Not verlaffen, der Treuloſe ? —
— War’ ich doch blind, um die furchtbaren Wandlungen der Seele nicht ſehen
zu müſſen. Bald wird auch dieſes Haus feine Seele verändern. Nun kommen die
böſen Jahre der Heimſuchung. Ach, wär' ich blind! —
— Rem, der Herr hat uns mit feinem Zorn geſchlagen. Wir haben in Sünde
zuſammengelebt; der Kirchenrat hat mich wegen Hurerei mit dir vorgeladen. Auch
ſoll die kleine Kornelia endlich getauft werden. Rem, wir haben vor Gottes An-
geſicht gefrevelt! -
— Verlaß auch du mich nicht, Hendrickje. Heiraten dürfen wir ja doch nicht, ſonſt
ging uns Saskias Erbſchaft verloren. Verlaß mich nicht! —
— Sd dich verlaffen? Was bin ich ohne dich? Laß die Welt nur wiſſen, daß
ich dein Kebsweib bin. Es kann ihr nicht verborgen bleiben. Aber ſie ſoll auch ſehen,
daß ich dir getreulich nachfolge, in Züchten und Ehren, als wäre ich dein ehelich
angetrautes Weib. Niemals verlaß ich dich, Rem! —
— Hendridje, du meiner Seele tröftendes Licht! Wie ſoll ich es dir vergelten? —
— Behalt mich bei dir, verſtoß mich nicht von deinem Lager. Ich will dir dienen
als deine arme niedere Magd. —
1655
| 1:
Rombout Hamer an Hildegerda in Reykjawik:
Die Wolken meiner Sehnſucht ziehen nordwärts zu dir hin bei dem warmen
Wind. Sie ſollen dich grüßen in den Nebelwänden, die über Island liegen, und
in denen du träumend wie gebannt ſtehſt. Ich las aus deinem langen traurigen
Brief, es müßten die Menſchen dort droben zur Winterszeit immer im Dunkeln
dahinſchreiten, und ihre Geſtalten tauchen auf wie die Schiffe im Nebel. — Sie
haben wohl alle ein graues farbloſes Weſen. O du Ferne, Unerreichbare, ich möchte
dein heißes Herz an meiner Bruſt fühlen, die ſich nach deiner fraulichen Eigenart
ſehnt, nach der nur dir allein eigenen Art, wie du dich auslebſt und in dich hinein
ſinkſt. Ich möchte den Widerhall deiner Schritte belauſchen, den Schall deine
Stimme, das Rauſchen deines Blutes, den Blitz deiner Gedanken, das Unwetter
deiner wechſelnden Stimmungen belauſchen, betrachten. Und wenn dann wedet
Muſit, noch Wein, noch die Erzählungen der Männer dich befriedigen können, wenn
du in kalten Nächten dich in Gedanken an mich ſchmiegſt, und die Süße der Be
gierde dich wie ſchwerer Wein berauſcht, dann fühl’ ich dich durch die Stürme bes
Ozeans hindurch, dann weiß ich, du biſt mein, und das Herz wird mir Har, als
ſäubere ein ſcharfer Nordoſt aus der Wikingerecke das Meer vom Dunſte.
Ich küffe dich, küſſe dich ſtumm und blind, und in deine Augen kommt das Licht,
das die unendlich lange Menſchenkette ſchuf, in der wir nur Bruder und Schweſtet
ſind. |
Und das Meer brauft dazwiſchen feine dunkle Melodie der Vergänglichkeit. —
Unfere „Möwe“ iſt glücklich wieder nach ſchwerer Fahrt in Amſterdam eingelaufen.
Wir waren den halben Dezember lang auf der Reife: nach Liverpool hin und zu-
rüd. Da hab’ ich dir vor meiner plötzlichen Abreiſe nicht mehr ſchreiben können und
hatte doch ein ſeltſames Erlebnis zu berichten. Ich trug in dieſem Herbſt meine
„ r —ͤͤ 6—ꝙ—— ————. — Ä—ä
— — — —
— |
Christus naht der Welt
F. Haß
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Martens: Der Oamon bes Lichts 217
breite übermannshohe Schiffergeſtalt in den hohen dumpfen ſchmutzigen übelriechen-
den Hafengaſſen umher und war faſt immer von kleinen ſchlechtgewachſenen, faſt
verkrüppelten ſchwarzlockigen Männern umgeben, die ihre Waren feilboten und
feilſchend ſich heiſer ſchrien und tobten. Es find Iſraeliten aus Portugal, Spanien
und Polen. Sie ſprechen eine Art Rotwelſch wie die Zigeuner. Doch ich mußte an
ihnen die Beweglichkeit ihrer Gebärden und die ſcharfgeſchnittenen blitzenden Augen
bewundern. Hinter dieſen niedrigen Stirnen funkelt der Geiſt der Schöpfung leben;
diger als uns blauäugigen Rieſen mit unferer roſigen Haut, die aus lauter Butter
und Milch zu beſtehen ſcheint. Du biſt anders, du ſtammſt aus dem herben Nord
männerland, wo deines Vaters Haus hoch auf dem Felſen thront, und der Giſcht
der wilden See in die Stuben hineinfegt. Dort werden harte ſehnige Männer
geſchaffen, aber im Schifferflecken Loosduinen, wo das Grab meiner Mutter
tcãunit, ſchleicht das Leben träge daher; wir leben vom Fiſchfang und ſtellen nur
wenig rüſtige Mannſchaft der jungen Flotte.
An einem lachenden Tage, ein friſcher heller Wind pfiff in dieſen Höllengängen
don Schmutz und Habgier, wollt' ich mich für eine Fahrt nach Island als Steuer-
mann anheuern laſſen. Die hohe Luft machte mich ſehnſuchtskrank nach dem be-
wegten Spiel der Wellen. Ich hocke vor der Schenke auf einem krummbeinigen
Schemel und ſchaukle hin und her, um mir die Zeit zu vertreiben. Der Kapitän
läßt auf ſich warten. Da erſpäh' ich in der Schar der Händler einen gedrungenen
turabeinigen Mann, deſſen mächtiger Schädel mir auffällt. Er ſaß ihm wacker auf
der breitſchultrigen Geſtalt. Dieſer Mann beſaß eine ſeltſam ſelbſtbewußte Art, mit
der er ſich bewegte. Plötzlich läßt er ſich auf eine der hohen ſchmalen Steintreppen
nieder, gerade mir gegenüber. Er holt Stift und Blatt aus dem Mantel hervor
und beginnt mit fieberhaft ſchnellen Strichen das ganze Bild der belebten Straße
zu zeichnen. Ich ſchleiche mich zu ihm hin, an ihm vorüber, einige Stufen höher als
er, und kann nun von oben hinab jeden Strich verfolgen, den er ſtark und ſicher
hinſetzt. In weniger als einer Viertelſtunde iſt das Werk vollendet. Du weißt, das
Zeichnen und Malen hat mir von Jugend auf im Blut geſteckt. Es iſt wohl ein Erb-
teil von meiner Mutter her, Gott hab ſie ſelig!
Folgendes Geſpräch wird dich in Erſtaunen ſetzen, das er ohne umzublicken mit
mir führte, während er jedes kleinſte Plätzchen auf dem Papier kreuz und quer
mit dem Volk der Straße füllte:
— Meiſter, ich möchte Euch wohl die Skizze abhandeln. —
— ch handle nicht, Steuermann, wenn hier auch Markt iſt. —
— Meifter, ich möchte bei Euch das Kunſthandwerk erlernen. —
— Oer Stift ijt kein Steuer. —
— Oer Vater meiner Mutter war Maler. —
— Mutters Vater war Müller. —
— ch heiße Rombout Hamer und führte ſchon manche Brigg im Sturm. —
— Man nennt mich Rembrandt, und doch ſteh' ich erſt vor dem Tor, das ins
Heiligtum der Kunſt führt. — Hamer, du haft einen maſſigen, etwas aufgeſchwemm⸗
ten Körper. Ou trinkſt gern einen Oude Klaaren. Ich ſah dich dort auf dem Schemel.
Hätte dich deine jungenhafte Neugierde nicht getrieben, du ſtändeſt jetzt aach auf
der SAemer XXVI, 3
218 Martens: Der Damron des Lichts
dem Blatt. Hamer, du bift nod ein großer Junge. Das ift das Schöne an dir.
Nur iſt dir das eine Ohr angewachſen, und du trägſt den Kopf ſchief aus ſchlechter
Angewohnheit. Auch iſt dein Schritt ſchlürfend, läſſig, als gingſt du in Pantoffeln.
Du gefällſt mir trotzdem. Wenn du einen Trunk nicht verſchmähſt, komm mit mit
in die Breeſtraat. —
Das tat ich denn auch und ſaß dem Meiſter Modell. Er hat mich nicht etwa ab-
konterfeit, mit nichten! Einen bleichen hohlwangigen Krieger hat er aus mir ge-
macht. Der Kopf iſt wohl der meine, die Naſe, die Züge, aber er hat einen Aus-
druck hineingelegt, als tam’ ich geradewegs aus der Schlacht. Als hing ein blut-
getränkter Mantel mir um die Schultern, in dem ich erſchauerte, als wäre ich dem
Gemetzel einer Schlacht entronnen, in deren Strömen von Blut ich gewatet, und
als hätte ich auf der Flucht um mein erbärmliches Leben gezittert. Die Seelen der
Erſchlagenen ſtanden in meinen Augen und ſchienen laut aufzuſtöhnen. Nie wieder
könnte ein ſolches Geſicht im Glanze der Lebensfreude ſtrahlen!
Hildegerda, da wurde ich ganz klein und mutlos; da bleib ich doch lieber bis an
das Ende meiner Tage ö dein armer Steuermann.
2.
— Meine Tage find keine Schöpfungstage mehr. Unfruchtbar ziehen fie an mir
vorüber. Welch eine drückende Laſt auf meinen Schultern! Wie zwingt mich dieſe
Hilfloſigkeit vor den Dingen des Lebens in den Staub! Ich werde mit ihnen nicht
fertig. Was hab' ich nicht alles verſucht, um mir einen dauernden Erwerb zu ver⸗
ſchaffen, der mich und die Meinigen ernähren könnte. Die Malerei kann es nicht
mehr. Meine Bilder finden keine Liebhaber. Nikolas Maes mußte ich entlaſſen,
meinen letzten Schüler. Alle innerliche Sammlung iſt mir verloren gegangen zu
dem hohen Ziele, das mich ſeit Saskias Tod erfüllte und erhielt: Gottes Verherr⸗
lichung zu dienen. Das Hundertguldenblatt, an dem ich viele Monate lang arbeitete,
brachte nicht den erhofften Verdienſt. So mußte ich erleben, daß auch die Kunſt des
Stichels mir nicht forthalf, auf die ich meine letzte Hoffnung geſetzt, ſeit meine Mal-
kunſt unvolkstümlich geſcholten wurde, weil fie ſich dem bunten Treiben der Menge
fernhielt und der Eitelkeit der Welt entſagte. Nun bin ich dem Anſturm meiner
Gläubiger hilflos preisgegeben. Die kleine bürgerliche Welt iſt der ewige Tummel
platz unternehmungsluſtiger Geſellen, kein Obdach verſunkenen Träumern. Immer
finn’ ich darüber nach, wie ich durch eine finnfälligere Malart, durch eine Kunſt, die
dem Auge ſtärkere Sehfreuden bietet, meine einſtigen Gönner zurückgewinnen kann.
Und doch weiß ich, es iſt längſt zu ſpät. Meine Verſprechungen würden nur noch
mit einem Achſelzucken angehört werden: ich bin ein verlorener Mann.
Leben, wie ſchwer muß ich mich an dir verſündigt haben, daß du mich jetzt aus
dem Dämmer meiner Träume hinauspeitſcheſt in die erbarmungsloſe Menge, die
nur den Bürgermaler in mir begreifen kann! Verſteht mich auch keiner mehr unter
den Freunden, die einſt dieſes Haus füllten und ſich hier heimiſch fühlten? Warum
bleiben ſie in aller ſchamloſen Gelaſſenheit dieſen zuſammenbrechenden Mauern
fern, wo fie dieſe ſtützen müßten? Ich weiß es nur zu gut, keiner gönnt mir mehr
die zauberhafte Sonne, die wunderbar gedämpft hereindringt.
Sonne, einziger Troſtquell meinen getrübten Augen, geh noch nicht hinunter,
Ganda: Gebet 219
verweile noch und befänftige meine Hilflofigtcit, laß mich die Erde und ihre Weſen
in einem ſanfteren Lichte ſchauen. Sonne, verlaß auch du mich nicht, der ich dir
treu und ehrlich gedient.
Und doch, auch ſie ging. Sie vollendet ihre Bahn. Sonnenbeſtimmung. Tu ich
nicht dasſelbe? Muß ich nicht Kreis auf Kreis meiner Beſtimmung vollenden,
mich immer weiter emporwagen über den Geſichtswinkel der ſtaunenden Menge?
Sie nennen dieſes Unterfangen Iriſinn, Selbſtüberhebung. Sie glauben nicht an
die Notwendigkeit, deren Werkzeug ich bin. Ich höre ihr dumpfes Höhnen, den
Ausdruck ihrer Mißgunſt. Mir iſt es, als zittere die Erde unter dem Dröhnen ihres
Anfturms. Sie werden mich ſteinigen. Und dennoch muß ich im Hagel ihrer feigen
Geſchoſſe den letzten Kreis meiner irdiſchen Laufbahn vollenden.
Schäme dich, Rembrandt, du weinſt? —
3.
— Litus, mein Junge, was treibt dich zu mir in die Malkammer? Soll es wieder
ein Konterfei werden? — Was ſagſt du? Ou ſelbſt willſt hier pinfeln? Das magere
hagere Büͤrſchlein will es dem Vater gleichtun? Ich muß dir abraten. Es iſt der
bitterſchwerſte Beruf, wenn man Ehre im Leib hat, kein Pfuſcher ſein will, nicht
der Frau Welt nachläuft! Ich verſteh, ich ſoll dein Lehrmeiſter ſein. Du kannſt
ſchon etwas? Sieh doch an, der Knirps kann ſchon kleckſen, ganz in der neuen Art.
das haft du mir wohl abgeguckt mit deinen großen ſtrahlenden Augen, Herzensbub?
Komm her, Titus! Erkennſt du den Mann dort auf dem Bild? Nein? Ja doch,
ja doch! Das iſt dein Vater, fo ſoll er jetzt dreinſchauen, ſtolz, hochmüͤtig in allem
Jammer der Welt. Wein’ nicht, Junge, dein Vater blickt ja demütig, alt und be-
kümmert drein. Sieh mich an: fo wird man klein in der Seele, wenn das Leben
mit der Peitſche hinter der Tür ſteht. Werde lieber Fleiſcher, Titus! Dann mal'
ich dir Aufhängeſchilder mit einem blutigen ausgeweideten Ochſen. Dieſer Beruf
hat immer ſeinen Mann genährt. Titus, Titus, ich will mir Mühe geben, ſo ſtolz
und hochgereckten Hauptes einherzugehen wie auf meinem Konterfei. Du ſollſt noch
ſtolz werden auf deinen Vater! —
(Fortſetzung folgt)
Gebet
Von Franz Alfons Gayda
Wolleſt, Gott, in Liebe
Meinen frühen Keimen —
Ausgeſtrent in Furchen
Dieſer kalten, dunklen Zeit —
Deine hohen Gnaden ſchenken:
eißes Sonnenlicht und kühlen Himmelstan!
meinen jungen Saaten fpenden
Sel'ges Blühn und ſtilles Reifen,
Allem Sehnen, allem Wollen,
Allem Werden ein VollendDen —
. Rub’n und Sein in Dir!
Weihnachtsſtimmung
Von Friede H. Kraze
it dem erſten Adventſonntag, wenn der grüne Kranz aufgehängt wird, be-
ginnt bereits die ganz echte weihnachtliche Stimmung. Vier große Lichter
trägt der Kranz und ſoviel kleine, wie es in dem betreffenden Jahre Tage gibt
zwiſchen dieſem Sonntag der erſten ſeligen Verheißung und dem heiligen Abend
ſelber.
Wie war es herzbeklemmend [hin und feierlich, wenn man als Kind draußen die
weiche Unſchuld des erſten Schnees erprobt hatte, und nun eiskalt und dennoch vor
Erwartung glühend um die Dämmerſtunde in die geliebte Großmutterſtube trat.
Der Bratapfelgeruch erfüllte fie ganz. Er kam aus der rieſenhaften braunen Ofen-
burg aus der Ecke der Stube wie eine ſüße Tröſtung, denn in allen Ecken kauerten
bedenkliche Schatten, fo daß man die Großmutter kaum erkennen konnte. Und es
ſchien wirklich nicht ganz geheuer. Aber dann, plötzlich, hoch über einem, wie los-
gelöft vom Raum, entdeckte man das kleine brennende Licht. Wie ein Stern ſchwebte
es auf ſeinem Kranz aus Tannen und rotbeeriger Stechpalme. Ganz allein und
preisgegeben ſtand man darunter — denn ich hatte keine Geſchwiſter — und ſang
über gefalteten Händen mit einer ſehr dünnen, zitternden Kleinkinderſtimme, die
aber immer runder und zuverſichtlicher wurde, je länger man in das geheimnisvolle
Acht Pineinjang: nacht hoch die Tür, die Tore weit!“
Denn mit dieſem winzigen, ergreifenden Lichtſchein hingen doch alle Ver⸗
heißungen zuſammen, von ihm fiel der erſte Strahl einer unermeßlichen Freuden
botſchaft in die dunkle Winterwelt. Das Röslein, das zu der halben Nacht erblühen
ſollte, regte heut zum erſten Male die zarten Wurzelfüßchen in dem Geheimnis
ſeiner Wintergruft. Jeden Tag von nun ab würde ein Licht mehr in die Welt, die
für mich noch die Großmutterſtube bedeutete, hineinſtrahlen. Bis fie zuletzt alle
funkelten, wenn die Zeit erfüllet war. Einmal mußte ja doch der heilige Abend
kommen, wenn unter dem Chriſtbaum das Kripplein ſtand: Maria und Joſeph,
Eslein und Ochs, die Hirten im Vlies, muſizierende Engel und die drei Könige aus
Morgenland mit den ganz friſch vergoldeten Heiligenſcheinen. O Gott, würde man
auch nicht vorher ſterben vor lauter Glück?
Es war gut, daß es nun einen ſeltenen Feſttag um den anderen gab, an dem man
ſich gewiſſermaßen wie an einem Geländer oder an lauter guten Händen die goldene
Weihnachtstreppe hinauftaſten konnte, daß einen nicht der Schwindel überkam.
Sankt Barbara war die erſte hilfreiche Hand am fünften Dezember. Wie wunder
bar war es, wenn man unter einem rot und goldenen Frühabendhimmel — die
Großmutter ſagte, der Himmel wäre ſo rot und golden um dieſe Zeit von dem
Feuer der himmliſchen Backöfen, vor denen es jetzt hoch herging mit Baden von
Lebkuchen und Marzipan — wenn man unter einem ſolchen Himmel hinaus in den
Garten trat, und zu den Kirſchbäumen ging — die ſauren wurden bevorzugt —
Dort machte man dem Baum eine kleine Verbeugung und bat ihn um Verzeihung,
daß man ihm mit dem ſcharfen Meſſer ein paar Zweige raubte. Es war wohl hart,
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Rraye: Weihnachteftimmung 221
den Baum zu verwunden, aber eigentlich hätte doch jeder Zweig hoch aufjubeln
muͤſſen über das Glid, das ihm bevorſtand; denn würde er nicht, in der ſchlanken
blau-weißen Vaſe auf der Servante ſtehend, ſogleich ein wunderbares Leben in ſich
keifen fpiiren? Das himmliſche Kind hatte ihn berührt, und an dem hochheiligen
Geburtstag würde er in voller Blütenſchöne wie ein weißer Engel ſtehen und felig
anbeten.
Der nächſte Heilige, der ſchon am folgenden Tage ſich meldete, war weniger zart
und hold. Dem Kalender nach hieß er St. Nikolas, und es war wunderbar genug,
daß manche Kinder ihn auch den Knecht Ruprecht nannten oder St. Joſeph oder
gar den Weihnachtsmann oder Pelzmärtel. Wie auch fein ehrwürdiger Name ge-
weſen ſein mag, manche ſind ſogar der Meinung, daß ſein Stammbaum bis ins
graue Heidentum hinunterreicht, und er eigentlich Gott Wotan ſelber iſt, oder der
wilde Zäger, der ſchon lange vor den „Zwölfen“ über die winterliche Welt ſtürmt.
Wie geſagt, wer er auch war, rauh, ſtürmiſch, mit Kettengeraſſel, im umgekehrten
Pelz trat er auf. Aber wenn man nicht wirklich ſehr ſündhaft geweſen war, ſo
wurde die Rute nur vielſagend geſchwenkt, die grauſam tiefe Stimme fragte:
Könnt ihr beten?“ und kaum war es vollbracht, ſo praſſelten alle Ecken der Stube
von Apfeln und Nüffen und den andern geheimnisvollen Herrlichkeiten feines un-
etgründlichen Sackes.
Jeden Tag wurde man etwas gewiſſer über Weihnachten. Jemand ging mit
einem goldnen Finger umher, als ſei er am Throne der heiligen Dreifaltigkeit ab-
gefärbt; ein anderer erkundigte ſich, wie es mit dem Weihnachtshahn ſtehe, der,
ſchneeweiß, aus Hirſehäufchen den jungen Mädchen ihren Liebſten wahrfagen
ſollte. Die Tür zur beſten Stube durfte bei Todesſtrafe nicht mehr aufgemacht
werden; in der Schule wurden die Wunſchbogen, herrlich mit Gold und gepreßten
Bildern verziert, bebend vor Verantwortlichkeit und mit einem ſich immer ſchwärzer
färbenden Zeigefinger mit dem Weihnachtsgedicht beſchrieben, und eines Morgens,
o Glad, lag in dem kleinen roten Schuh unter dem Bett eine ſüße himmliſche Gabe.
Es war immer eine Tier- oder Menſchengeſtalt aus einem wunderbaren, weißen
Zucker, der vollkommen wie Schnee oder Eis ausſah, um ſehr viele hilfreiche Holz-
ſtäbchen herumgeformt, mit einem zähen, roten, lackartigen Guß, der Augen,
Schnäbel, Knöpfe oder Zügel zu bezeichnen hatte. Nie wieder im Leben habe ich
dieſe wunderbaren, eisartigen Gebilde geſehen, geſchweige denn gegeſſen. Wie
himmliſches Manna zerſchmolzen fie im Munde. Überhaupt alles, was man in
jenen Wochen an beſcheidenen oder mehr koſtbaren Leckereien verehrt erhielt, hatte
Tier- oder Menſchengeſtalt. Damit hatte der heilige Chriſt einſtmals, um es feinen
neuen Anhängern, den Germanen, nicht allzuſchwer zu machen, einen Brauch ihrer
Väter aus der Julzeit, als fie den goldborſtigen Eber aus ſüßem Teige buken, lieb-
reich geſegnet, und in feine eigene Feier hinübergenommen. Dies alles wußte ich
freilich damals nicht. Und ich ahnte nicht, wie manches Tröpflein Heidenblut auch
in mir noch warm und lebendig war. |
Dann kam der ehrenvolle Tag, an dem man eingeladen wurde, beim Lefen der
Rofinen und Auspellen der Mandeln zu helfen, und das Mohnſtampfen in dem
alten rieſenhaften Meſſingmörſer mußte auch vor ſich gehen. Denn die Chriſtſtollen
222 Kraze: Weihnachts ſtimmung
waren in Sicht — wir nannten ſie Striezel — und noch bedeutungsvoller und
eigentümlicher waren die Mohnklöße. Zwieback in ſehr ſüßem Roſenwaſſer ge-
weicht, gehörten dazu, und ſie mußten ſamt Mohn vorher einmal gefroren ſein,
ehe man ſie eſſen durfte, dann lagen ſie wie ein Haufen eiskalter Steine im Magen,
ganz anders wie die Pielbeeren (Vogelbeeren), die auch erſt Froſt bekommen müſſen,
um einen Schnaps zu ergeben, der roſenrot und heiß iſt wie das Leben ſelber.
Aber wie es auch damit war, ein Weihnachten ohne Mohnklöße und Karpfen
wäre eine völlige Undenkbarkeit geweſen. Eigentlich machte mir die polniſche Sauce,
aus Pfefferkuchen und Bier bereitet, neben dem Fiſchgeruch, jedesmal etwas übel
im Magen, ſo daß ich, um am heiligen Abend nicht direkt Märtyrer ſein zu müſſen,
immer ein Paar Bratwürſtchen extra erhielt. Aber gerade dieſen beklemmenden
Geruch hätte ich nicht miſſen mögen zu Weihnachten, um nichts in der Welt. Und
auch hieran war das Tröpfchen Heidenblut ſchuld, obwohl man die ganze Zeit von
himmliſchem Glück wie vergoldet umherging, und alle Inbrunſt auf das Kripplein
wartete. Aber hatten nicht unſere Vorfahren zu jedem Julfeſt Klöße gegeſſen und
Fiſch! Eigentlich gehörten ſogar neun Gerichte zu dem Feſte der Winterjul, wenn
man nicht im folgenden Fahr eitel Unglück und Armut erleben wollte. Auf den herr
lichen Goldborſtigen hatten wir ja längſt verzichtet, auf den Grünkohl, die Linſen,
die Grütze, den Hirſebrei; nicht einmal Buttermilch wurde getrunken und damit
allen Kopfſchmerzen für das Jahr Abſage gegeben. Aber die Klöße und der Karpfen
waren doch wohl beizubehalten. Und unendlich armſelig kamen mir die Leute vor,
die Heringsſalat am heiligen Abend aßen, bis ich viel ſpäter begriff, daß auch fie mit
dem Fiſch dem alten Gulbraud Treue erwieſen.
Ich will heut gar nichts erzählen vom Gang durch die ſternüberfunkelte Nacht
zu der kleinen Kirche weit draußen im Schnee, mit den vielen brennenden
Wachsſtocklichtlein der uralten Mütterchen, neben die ebenſo uralten Gebetbüͤcher
geklebt, und vor dem Altar das Wunder der heiligen Geburt. Oder von dem Augen-
blick, wenn daheim die Glocke klang, und die Tür tat ſich auf vor dem brennenden
Chriſtbaum: dieſes find Augenblicke, in denen ein Kinderherz faſt zerbricht von
einem Glück, das verhüllt und namenlos hinter allem Sichtbaren ſteht, und nicht
von dieſer Welt iſt. All das erſchöpft ſich nicht in ein paar Worten. Aber davon
möchte ich noch erzählen, wenn das ſchneeweiße, feſtliche Tiſchtuch ſorglich an den
vier Zipfeln hochgehoben wurde, um etwa vertrümeltes Brot oder Feingebäck in
den Garten hinauszutragen und den Bäumen hinzujhütten, daß auch fie Ehrift-
nacht feiern möchten und den Menſchen mit Frucht lohnen für ihr liebreiches Ge-
denken. Noch unendlich viel gab es, was dieſe Nacht ſo heilig und feierlich machte,
daß es auch heut wieder blühende Wirklichkeit wird, obwohl die Großſtadt, der
Krieg und viele Lebensjahre und Wanderungen und Wandlungen dazwiſchenſtehen.
Wie angſtvoll z. B. wurde auf Treu, den Hund, aufgepaßt, daß er in der Chriſt-
nacht nicht hinauslief, denn ſonſt ſtarb doch einer aus dem Hauſe im Lauf des Jahres.
Alle Waſchzuber mußten randvoll in der Küche ſtehen; eine Schüffel mit Grütze
mußte auf den Tiſch geſtellt werden, und von Abend bis Morgen durfte das Feuer
im Ofen nicht verlöſchen, damit die Toten, die auf Wanderſchaft in der Chriſtnacht
dieſes Haus als Gäſte ehrten, Speiſe und Trank fanden und ſich wärmen konnten.
Wisled-Fhle: Bechnachtslegende 225
Rie bin ich darüber hinweggekommen, daß ich kein richtiges Sonntagskind war,
wiewohl herrlich genug geboren in der letzten Nacht der geheimnisvollen „Zwölfe“,
mit dem ganzen Myſterium und allem Zauberſpuk getränkt aus Urväter Zeiten her,
und dennoch geradenwegs in den heiligen Dreikönigstag hinübertretend. Aber wie
gut hatten es doch die ganz richtigen Sonntagskinder! Wurde nicht flüfternd erzählt,
daß zwiſchen elf und zwölf das Vieh im Stall das heilige Kind anbetete und weis-
ſagend ſich unterredete! Aber wenn jemand zuhörte, der an einem gewöhnlichen
Vochentage geboren war, fo mußte er ſterben. — Nun, dies konnte einem zuletzt
doch kein Schickſal rauben, ob Sonntagskind oder nicht, ich weiß es gewiß: das
Vaſſer, das wir aus dem Orachenbrünnlein ſchöpften um ee, es u
wie der Wein auf der Hochzeit zu Kana.
Weihnachtslegende
Von M. Witzleb⸗Ihle
In pay er Zeit, da früh der Abend dunkelt
ndet eine alte Weihnachtsmär —,
Entfendet Gott der Herr fein Engelsheer
Zum Stern, der über Bethlehem gefuntelt.
Und jeder Engel trägt mit frommer Hand
Ein Licht, das er am Sternenglanz entzündet,
Dann wendet er den fanften Flug und findet
Auf dunklem Weg hinab zum Erdenland.
Dort wandeln durch die Menſchen, ungeſehn,
Die Himmliſchen mit ihren Strahlenkerzen,
Dod wem fie nah' n, dem iſt ein Licht im Herzen
So jäh entbrannt, als fei ein Glid geſchehn.
Vielleicht wird dir der Engel heut begegnen
Vielleicht durchſtrahlt dich heut fein lichter Sein AAN
O laß des Herzens Türe offen fein,
Sonſt geht er weiter, ohne dich zu fegnen!
Das Traumgeſicht
Von Margarete Huch
einer rauhen Dezembernacht, gegen Weihnachten, ward in der Hütte eines
armen Mannes ein Kind geboren. Es war ein Mädchen.
Oer Vater hielt einſame Krankenwacht. Die hilfsbereiten Nachbarinnen waren
ſchon wieder fortgegangen und die weiſe Frau in ein anderes Dorf geeilt, wo man
ihrer Hilfe bedurfte.
Oer Vater freute ſich nicht. Er ſaß gebückt in der Stube und wie zufammen-
geſunken vor Kummer. Das Kind war ein Spätling. Diele Kinder waren ihm ſchon
vorangegangen und die größere Hälfte noch im erſten Lebensjahre geſtorben.
Das jüngfte lebende Kind vor dieſem Spätling war ein Knabe und war ſchon zehn
Jahre alt.
„Vielleicht ſtirbt es auch,“ ſagte der Mann vor ſich hin, „und gut wäre es ihm,
wenn es ſtürbe.“
Da war es, als hätte die Mutter die Worte gehört. Sie tat einen tiefen Seufzer,
fo tief und ſchwer, daß ihn der Mann in feinem ſpäteren Leben nicht mehr ver-
gaß. Es war, als käme er aus den letzten Kammern des Herzens, wo die Mütter
allen Vorrat ihrer Liebe aufbewahrt haben, die ſie den Kindern einſt ſchenken
wollen. Und mit dieſem Seufzer hauchte ſie ihre Seele aus, ſtreckte ſich lang und
verſchied.
Der Mann hatte wohl den Seufzer gehört. Er ging ihm bis tief in feine eigene
Seele hinein und durchfuhr ihn, als ſpuͤrte er ihn im Körper, vom Kopf bis zur Zehe.
Aber er hatte nicht geſehen, wie ſeine Frau ſich verwandelt hatte und daß ſie mit
dieſem Seufzer geſtorben war; denn es war dunkel in der Stube und nur ein mattes
Lämpchen beleuchtete einen kleinen Kreis. Als der Mann nun den ſchweren Seufzer
gehört hatte, wagte er ſich erſt recht nicht zu rühren, denn er machte ſich Vorwürfe,
als habe er mit ſeinem unbedachten Worte die Seele ſeiner Frau aufgeſtört, die er
im Schlafe wähnte.
Darum ſaß er noch ſtiller und zuſammengeſunkener auf ſeinem Stuhle. Und
ſchließlich ſchlief er vor ubergroßem Kummer und tiefer Betrübnis ein.
Als der Mann aber eingeſchlafen war, öffnete ſich ſeine Seele im Traume, und
er ſah umher. Da ſah er dieſelbe Stube, in der er eingeſchlafen war, und das Bett
der Frau und daneben in einem Wäſchekörbchen, mit Kiſſen umdeckt und geſchützt,
das neugeborene Kind.
Aber mit einem Male ſah er alles viel heller, als er es im Wachen in der dunklen
Stube geſehen hatte. Es war gar nicht, als wäre die Stube drückend und arm. Er
ſah auch die Frau im Bett liegen. Und es war gar nicht, als läge da die Frau eines
armen Tagelöhners. Sie hatte keine Runzeln oder Falten im Geſicht. Nichts war
an ihr, das bedrückt ausgeſehen hätte oder vom Leben geſchlagen oder arm. Still
und feierlich lag ſie da, die weiße Binde um ihre Stirn, die man in dieſer Gegend
den Wöchnerinnen gab — voll ſtiller Würde und ſchön.
Der Mann fragte ſich, warum er nicht immer ſein Weib ſo ſchön geſehen habe,
denn es hatte ſich doch nichts verändert. Hatte er denn nur das abgetragene Kleid
Huch: Das Zrammgeficht 295
geſehen und die rauhe und übermäßige Arbeit und das dunkle Wolltuch, das fie
dabei um den Kopf trug? Hatte er denn noch niemals richtig ſein Weib geſehen?
Und wie der arme Mann ſo ſein Weib im Traume ſah, erfaßte ihn eine heiße und
überſtrömende Liebe zu ihr. Er wollte zu ihr hineilen und niederknien am Bett und
die Hand ergreifen, die ſchlaff Über den Bettrand hinüberhing, und er wollte die
Hand mit Küſſen und Tränen bedecken, was er doch nie getan hatte in feinem Leben.
Denn Worte hätte er nicht zu finden gewußt für feine überſtrömende Liebe.
Aber als er hinübereilen wollte zum Bette der Frau, da konnte er nicht. Irgend
ein Band hielt ihn mit amet gefeſſelt auf feinem Stuhle nahe dem Ofen in
der entfernteſten Ecke.
Mit einem Male tat ſich die Türe des Zimmers wie von ſelbſt auf, und ein Accht⸗
ftom floß herein und floß auf das Bett der Frau und verklärte fie. Und in dem
Achtſtrom ſchritt ein Engel auf die Frau zu. Der Engel blieb vor der Frau ſtehen
und ruͤhrte ſich nicht und ſchaute ihr unverwandt ins Geſicht. Es war, als könne er
ſich nicht ſattſehen an ihren Zügen. Dann aber verneigte ſich der Engel dreimal nef
bis zur Erde, und die Geraphsfliigel bedeckten das Bett der Frau.
„Vas iſt dieſes?“ fragte ſich der Mann im Traume. „Der Engel tann ſich nicht
ſattſehen an dem i meiner Frau, und dreimal verneigt er fic vor ihr bis zur
eErxde. .
Und wie er ſo zu ſich ſprach, erfüllte ein großes Entzücken ſeine Seele, daß ſeine
Frau fo geehrt werde von dem Engel. Zugleich aber fühlte er, daß er nicht hinüber-
firme in das Licht, daß er noch unbeſchienen und dunkel fei und viel zu ſchwer, um
ſich dieſem zu nahen. Und obgleich ihn nur wenige Schritte von dem Lichte trennten
und von dem Bett ſeiner Frau, ſo war es doch, als teen diefe wenigen Schritte ein
Abgrund oder eine Welt.
Da ließ er ſich im Traume von dem Stuble fallen, denn weiter tonnte er ſich
nicht erheben, und kniete nieder auf die Erde und ſtreckte voll Sehnſucht die Arme
nach dem Lichte aus, und die Tränen rannen ihm wortlos über die Wangen.
Als der Mann fo in feinem Schmerze und feiner Sehnſucht derfloß, wandte ſich
der Engel zu ihm und ſprach: |
„Was begehrſt du?“ |
Da der Mann aber gewahrte, daß der Engel ſich zu ihm gewandt hatte, ja, daß
der Engel es nicht verſchmähte, ihn anzublicken und drei Worte an ihn zu richten,
da warf er ſich im überquellenden Gefühle ſeiner Dunkelheit und Unzulänglichkeit
mit dem Angeſicht auf den Boden und ſein Weinen ging über in ein Schluchzen.
Nichts begehre ich, Herr, nichts!“ rief er zwiſchen ſeinem Schluchzen und wieder⸗
holte es immer wieder, als wollte er mit dieſen Worten ſagen: „Was bin ich, daß ich
begehren kann!“ Und er erhob fein Angeſicht nicht von der Erde, denn er glaubte,
nicht würdig zu fein, das Angeſicht eines Engels zu ſchauen, das weißer fein müſſe
als die Sonne und das ihn töten würde in ſeinem Glanze.
Da ſprach der. Engel zu ihm: „Blicke auf!“ Und der Mann gehorchte willenlos, ete
bob fein Geficht von der Erde und blickte empor.
„Begehre,“ ſprach der Engel, „denn ich habe dein ſtummes Bitten vernommen.“
Als der Mann dieſe Worte hörte, wollte er reden, aber nur ein Lallen kam über
226 Huch: Das Traumgeſich
ſeine Zunge. Da ſtreckte er in großer Sehnſuchtsgebärde ſeine Arme aus nach dem
Bette feiner Frau, das der Engel mit feinen Flügeln vor feinem Angeſichte ver-
deckte. Und auf einmal erhellte ſich ſein Geiſt, und er wußte, was er bitten ſollte,
und da war feine Zunge gelöft.
„Herr, — ihr alles!“ rief er — „nichts mir!“
Und nach dieſen Worten warf er ſein Angeſicht dreimal zur Erde nieder.
Dieſes aber war es, was er ſagen wollte und doch nicht Über feine ſchwere Zunge
brachte, denn abermals war ſie ihm wie gelähmt: „Immer meinte ich, ich ſei der
Armſte unter den Armen. Aber habe ich ſie nicht nur angeſehen als meine Magd,
die mir diente? Zwölf Kinder hat fie mir geboren und ich habe ihr nie gedankt,
daß ſie mir die Kinder geboren hat. Ehe ich aufſtand vom Lager und zur Arbeit
ging, war fie ſchon an der Arbeit und diente mir, und wenn ich zurückkehrte und
Feierabend hielt, diente ſie noch allen bis in die Nacht. Ohne Raſt hat ſie gearbeitet
und ohne Dank. Ich aber habe ſie noch geſchmäht, wenn ſie mir nicht eilig genug
diente. Ich habe fie geſchmäht, daß fie nicht noch mehr Hände hätte, noch mehr Arme,
noch mehr Augen, die doch ſchon Übermenſchliches tat, Herr, Herr — — fie, die
du mit deinen Flügeln verdeckſt und die erhaben und unnahbar dort ruht! Wer
bin ich, daß ich ſo tat — und wer iſt ſie??!“
Und der Engel vernahm, wie tief der Mann ſich demütigte vor feinem Weib und
daß er fein Weib erhaben fühlte über feine Enge, feine Schwere und feine Ounkel
heit. Und daß er ihr endlich danken und wohltun wollte für ihr ſchweres Leben.
Da ſprach der Engel: „Nichts braucht dein Weib mehr! Alles iſt ihr gewährt.“
Als der Mann dieſe Worte hörte, war er froh und glücklich, obgleich er ihren Sinn
nicht verſtand.
Oer Engel aber ſprach noch einmal: „Begehre *
Da beugte ſich der Mann noch einmal zur Erde und berührte fie mit ne Stirne
und rief:
„Nichts mir — Sere — alles ihrem Kinde!“
Da ſprach der Engel: „Blicke auf!“ Und der Mann gehorchte willenlos und blickte
empor. Und er ſah, wie der Engel feinen Arm emporhob in der Bahn des Lichtes.
Und jemand, den er nicht ſah, reichte ihm ein brennendes Herz.
„Was halte ich in meiner Hand?“ fragte der Engel zu dem Manne.
„Herr,“ erwiderte der Mann, „ein brennendes Herz.“
„Sieh,“ ſprach der Engel, „wie es nun klein wird in meiner Hand!“
Und der Mann ſah, wie das Herz kleiner wurde in ſeiner Hand und wie die
Flammen, die daraus hervorbrachen, in dem Herzen verſänken, daß nur noch ein
Lichtlein über ihm blieb wie ein kleiner Stern.
„Ich will das Herz in das Herz deines Kindes ſenken“, ſagte der Engel. „Hüte es,
daß die Flamme nicht erliſcht!“
Und der Mann ſah, wie der Engel die Bruſt des Kindes öffnete und das Herz
darein verſenkte. Und als der Engel die Bruſt des Kindes wieder verſchloß, fab er
den Stern am Herzen noch hindurchleuchten wie einen kleinen Diamanten.
Da füllte das ganze Zimmer ein Raufchen, der Engel verſchwand, und der Mann
erwachte.
Hud: Das Traunmmgeficht 22
Als der Mann aber erwacht war und umherblickte, bemerkte er, daß das Zimmer
dunkel geworden war. Das kleine Petroleumlämpchen, das auf dem Tiſche ge-
ſtanden hatte, war erloſchen. Von der einen Ecke des Zimmers her aber flimmerte
noch ein rotes Licht.
Der Mann mußte ſich beſinnen, wo das rote Licht her ſcheine und was es ſei.
Da kam ihm die Erinnerung, daß die Hebamme, als die Frau in den Wehen lag,
ein Ollichtlein angezündet hatte nach einem frommen Brauche — ein Olkerzchen,
das in einem roten Glaſe ſchwamm, und daß fie dieſes auf das Altärchen geftellt
hatte, das von den Leuten in einer Zimmerecke aufgebaut war.
Dort brannte das Lichtlein vor dem Kreuzbilde und einer Figur der Madonna
mit dem Kinde. Zwei Engelsfiguren mit Flügeln aber knieten rechts und links vor
dem Bilde der Muttergottes.
Dem Manne kam in den Sinn, daß auch zwei geweihte Kerzen in Leuchtern dort
fanden. Und er erhob ſich von feinem Stuble, noch ganz vom Banne feines Traum;
geſichtes umfangen, und ſchritt auf das rote Lichtlein zu. Da taſtete er nach den
Leuchtern rechts und links und ergriff die Leuchter und zündete die geweihten
Kerzen an dem roten Lichtlein an, das für die Weheſtunden feiner Frau entzündet
worden war.
Mit den beiden brennenden Leuchtern aber ſchritt er leiſe und behutſam zum
Bette ſeiner Frau, und es war ihm, als hörte ſein Herz dabei auf zu ſchlagen.
Er hielt die Leuchter über den Kopf ſeiner Frau und ſah, daß ſie bleich dalag und
ruhig und ſchön — wie er ſie im Traume geſehen hatte — — aber er erkannte, daß
ſie tot war.
Und er leuchtete mit den Kerzen nach dem Kinde, das im Wäſchekörbchen lag, und er
ſah, wie es ſeine Händchen feſt an die Ohren drückte und rot war und ruhig atmete.
Da ſtellte der Mann die beiden Kerzen auf das Tiſchlein, das am Kopfende des
Bettes ſeiner Frau ſtand. Sich ſelbſt aber warf er auf die Erde nieder zwiſchen dem
Bett ſeiner Frau und dem Körbchen ſeines Kindes und warf ſein Angeſicht zur
Erde und betete, bis die Nacht zu Ende war.
Am Morgen kamen die hilfsbereiten Nachbarinnen und wollten nach der Wod-
nerin ſchauen und nach dem Kinde und dem Manne. Aber als ſie die beiden Lichter
noch brennen ſahen, wurde ihnen beklommen ums Herz.
Die erſte trat ans Bett und ſchaute fie ftill an und fühlte ihre herabhängende
gand und ſagte: „Sie iſt ſchon kalt.“
Da begannen die Frauen zu weinen aus Mitleid mit der Frau, dem Kinde und
dem Manne.
Als ſie ſich aber dem Manne zuwandten und ihm die Hand drücken und einige
Troſtworte ſagen wollten, da gewahrten ſie, daß der Mann ein Leuchten in den
Augen hatte und daß er wie verklärt war in ſeinem Schmerz.
Da ſagte die eine: „Gott tröſte dich“ und die andere ſagte: , Gott iſt mit dir,
was. kann noch unſer Troſt verfangen“. Und fie drüdten ihm faſt mit Ehrfurcht und
Scheu die Hände.
Und der Mann ſprach, und es war, als wäre es die Stimme eines heiligen Greiſes:
„Er iſt mit ihr und Er iſt mit mir und Er wird auch unſer Kind nicht verlaſſen!“
Wunder im Budladen
| Von Max Jungnickel
n einer Straße der Weltſtadt iſt eine Buchhandlung. Hinter der Fenſterſcheibe
ſteht, zwiſchen ſchönen Bücherbergen, eine Madonna mit dem Kinde, von
den drei Weiſen aus dem Morgenlande umkniet. Der Bildhauer gab ihr einen
großen Heiligenſchein. Er ſah dieſe Madonna in den Abendwolken ſchweben, da⸗
mals, als er auf der Landſtraße wanderte und eine Frühlingsblume zwiſchen ſeinen
Zähnen wippen ließ. Daheim, in feiner dunklen, hungrigen Stube, hat er fie ge
zaubert.
Nun ſteht ſie im Ladenfenſter, dort wo die große Stadt braut und brüllt, kocht
und brodelt. Die Bücher um ſie herum lehren und ſingen, erzählen und lachen,
predigen und weisſagen und verkündigen, mit großen Worten, ein neues Heil.
Maria aber ſitzt da wie aus einem Himmelstraum entſtiegen. Und wie ſie mit
zartgeſenktem Kopf auf ihr Kind blickt, da iſt's, als ob der weiſe Weihnachtsgott
ſeine ewigen Lieder in ihre Seele ſinken läßt.
Oer Froſt klirrt. Vor der Scheibe drängen ſich die Menſchen, Männer und Frauen.
Arm und reich, frierend und ſatt, Proteſtanten und Katholiken, Germanen und
Juden, Oeutſchnationale und Kommuniſten. Alle ſtaunen fie die Madonna an.
Das Lächeln der Mutter Gottes bindet ihre entzweiten Herzen wieder zuſammen.
Auf ein paar Minuten umarmen ſich ihre Seelen unter dem Lächeln der Madonna
im Buchladen. Wie verzaubert ſtehen ſie da. Sie ſind ja alle wieder Brüder und
Schweſtern geworden — — auf ein paar Minuten ... Über die Straße kommt
eilig, mit ſchleifenden Sohlen, ein Blinder. Es iſt, als ob ſeine toten Augen vom
Wunder im Buchladen angeſtrahlt würden |
Die Flucht nach Agypten
| Von Ernft Ludwig Schellenberg
Sie flohen, flohen in die Nacht der Fremde
— Hoch ſchlug des Kindermordens geller Brand —,
Der Eſel aber zauderte und ſtemmte
Die Hufe ſtur und ſtutzig in den Sand.
Ach, die begriffen s wohl; denn Grauen hemmte
Sehnſucht nach ſeines Stalls geweihter Wand;
And ſelbſt das Kind bezeigte ſich und kãmmte
Die ſanfte Kruppe mit getrofter Hand.
dann, als der Tau und Schlaf die Müden ſtreifte,
Umreigte fie der Englein flinker Kranz.
Und eins umfing des Grauen Kopf, der ſteif °
Und hungernd lag, und fpcifte ihn vom Glan
Des Wunderſterns, der wie ein Fruchtkern rei
Am Heimathimmel aufbrach und ſich ſchweifte.
Daheim
Ein Stimmungsbild aus der Adventszeit
Ef duftet nach Weihnachten hier im Zimmer, denn über dem runden Tiſch, an dem ich ſitze,
hängt der ſelbſt gebundene Adventskranz mit vier dicken Tannenzapfen, vier roten Apfeln
und vier Lichten. Auf allen Tiſchen und Tiſchchen des Zimmers ſtehen Vaſen mit Cannengrin,
und der weihnachtliche Duft dringt mir tief ins Herz hinein und weckt heimatliche Erinne-
tungen
Daheim! Als Kind war ich in meinem Elternhauſe wahrhaft daheim, und es iſt mir unver-
geßlich, wie oft mein Vater ſagte: „Das Wort ‚Daheim‘ oder ‚Heimat‘ iſt kerndeutſch. Man
findet es fo in keiner andern Sprache und kann es deshalb nie ganz genau überſetzen.“ Diefer
ausſpruch meines Vaters hat mir ſchon als Kind einen tiefen Eindruck gemacht; und vielleicht
derdanke ich es ihm, daß ich nicht nur das Wort, ſondern auch den Begriff „daheim“ fo tief emp-
funden habe, und zwar als etwas ganz beſonders kennzeichnend Oeutſches.
Jetzt bin ich nicht mehr im Elternhauſe, bin Frau und Mutter und habe ein eigenes „Daheim“.
Und ich mochte in meinem Töchterchen ein ebenfo ſtarkes und deutſches Heimatgefühl wecken
und pflegen, wie ich es aus meinem Elternhauſe mit ins Leben hinaus genommen habe. Das
iſt heutzutage viel ſchwerer als vor dreißig Jahren. Damals hatten die Menſchen ſo viel mehr
innere und äußere Rube, und „Nerven“ kannte man kaum. Heutzutage iſt das Leben eines
jeden einzelnen Menſchen ſo randvoll mit Arbeit ausgefüllt, daß kaum Zeit für irgend etwas
anderes bleibt. Aber ein wenig Zeit muß man übrig haben, um Atem zu ſchöͤpfen, um friſche
Kräfte zu ſammeln, um ſich zu freuen! Dazu nehme ich die Sonntage, und ganz bewußt geſtalte
ich ſie zu beſonderen Tagen, auf die ſich mein Töchterchen die ganze Woche hindurch freut. Und
im Winter dienen mir die Sonntage dazu, dem Kind den deutſchen Begriff des Wortes
daheim“ tief ins Herz zu prägen.
Aber auch manchen Arbeitstag der Woche kann man zu einem heimatlich- ſtimmungsvollen
Freudentage für das Kind geſtalten.
Wie wunderbar heimelig iſt doch die Vorweihnachts- Stimmung! Das Felt der Liebe
naht! Die Luft hängt voll Aberraſchungen, die von liebenden Herzen vorbereitet werden; gar
emſig wird allerhand gebaſtelt und geneſtelt, das man zu Weihnachten verſchenken will. Das
Herz iſt fo voll Freude! Überall daheim ift’s warm, hell und gemütlich. Selbſt in der Küche
empfindet man fo einen eigenen Zauber, wenn die Mutter den Teig für die Pfeffernüſſe an-
rührt, wobei das Töchterchen helfen darf, die Zutaten in die Schüſſel zu ſchütten. Ja, und dann
probiert man den rohen Teig, der fo viel beſſer ſchmeckt als die fertigen Pfeffernüſſe, fo dak
man gar nicht begreift, warum ſich die Erwachſenen immer noch die Mühe des Backens machen!
Doch — halt! Jetzt kommt Auguſte, das alte Faktotum des Hauſes, und tut ſehr grimmig,
weil Nlein-Roſe Sophie fo viel rohen Teig gegeſſen hat. Auguſte nimmt ſehr energiſch die
Schuͤſſel und bringt fie in Sicherheit; aber wie oft noch in den nächſten Tagen, wenn Auguſte
gerade nicht da iſt, ſchleicht ſich mein Töchterlein, unter meinem Schutze, zur Schüffel, und
heimlich, ganz heimlich, naſchen wir beide von dem verbotenen Teig, denn ich habe natürlich
ebenſo große Angſt vor Auguſte wie Klein- Roſe Sophie!
Dann kommt der große Tag, an dem der Teig ausgerollt wird. Mein kleines Mädel darf die
Figuren ausſtechen: Sterne, Herzen, Männer, Frauen und allerhand Tiere! Oh, das ift köſtlich!
Und dann wird alles gebacken. Die Ride iſt beſonders warm, und die Bäckchen meiner Rleinen
jind fo rot wie Weihnachts äpfel, teils durch die Nähe des Herdes, teils vor lauter Eifer und
230 Daheim
Freude. Wenn die Pfeffernüffe vom Blech heruntergenommen werden, gehen fie manchmal
entzwei. Die zerbrochenen Stücke wandern in den Mund des Kindes und bewirken jedesmal
ein dankbares Aufleuchten der großen Blauaugen.
Sa, und dann die Sonntage! Roſe-Sophie hat eine ganze Reihe von Freundinnen. Die
darf fie ſich zu den Winter -Sonntag-Nachmittagen einladen, denn fie hat keine Geſchwiſter, und
man mochte doch fo gern auch andern von der eigenen Freude etwas abgeben. Schon bald nach
dem Mittageffen kommen fie, denn der ſchöne Nachmittag muß voll ausge koſtet werden. Dann
bringe ich die Schokolade herein, und alles ſetzt ſich um den großen, runden, urgemütlichen Tiſch.
„Rinder,“ ſage ich, während ich die Taſſen voll ſchenke, „ich habe diesmal das Tiſchtuch von
der vorigen Woche behalten, denn am letzten Sonntag habt ihr mir lauter Schokoladenflecke auf
das reine Tuch geſpritzt.“ Welch froͤhliches Lachen antwortet rings um den Tiſch, denn noch
wahrend meiner Worte hat ſich ein Strahl Schokolade aus meiner Kanne auf das Tiſchtuch
ergoffen. „Daran hat naturlich Dorden ſchuld“, ſage ich, denn Oorchen, mit den Schelmen augen,
ſitzt am weiteſten von mir entfernt, und wieder tönt das fröhliche Lachen um den Tiſch. So find
wir gleich in der richtigen Stimmung: des Lachens, das aus der Herzensfröhlichkeit emporblitzt!
Nach der Veſper werden die Lichter am Adventskranz angezündet und auch all die andern
Kerzen im Zimmer: auf den Leuchtern an der Wand, an dem Klavier, in jeder Dafe voll Tannen
grün ſteckt eine Kerze. Das gibt ein Leuchten, fo weihnachtlich- froh! Das ſpiegelt ſich in hellen
Kinderaugen und ſtrahlt mir tief ins Herz. Ich hole meine Gitarre, und nun ſingen wir all
unfere fchönen, alten, deutſchen Weihnachtslieder.
Habt ihr ſchon einmal beobachtet, wie ſich das Geſicht eines Menſchen verändert, wenn er
fingt? Alles Häßliche, Unharmoniſche verſchwindet, Sorgenfalten glätten fid, und die Züge find
ganz verklärt und fo verſchöͤnt, daß man ſich kaum fatt dran feben kann. Ach, und nun erft all die
ſingenden Rindergefidter! Zch ſchaue von einem zum andern, und das Herz wird mir warm.
Gar {din klingt der Chor, denn es find einige recht muſikaliſche Mädels darunter, und ein
jedes Lied wird zwei- oder dreiſtimmig geſungen. Das macht mich fo froh, denn ich meine, die
Muſik gehört zum Oeutſchtum, fie gehört zur deutſchen Weihnachtszeit, und fie gehört zum
„Daheim“, wo ſich das deutſche Herz freut.
Zetzt find die Lichter am Adventskranz faſt herunter gebrannt. Yc zünde die Lampe über dem
runden Tiſch an, und die Kinder Dürfen alle Kerzen ausblaſen. Zuerſt aber halten fie noch einige
Tannenzweige darüber. Das kniſtert fo geheimnisvoll, und dann duftet die ganze Stube nach
Weihnachten. Nun holen ſie alle ihre Weihnachtshandarbeiten, und emſig wird geſtickt, gehäkelt
oder geftridt. Dazu leſe ich ihnen etwas vor: Johanna Spyri „Vom Thies, der doch etwas
wird“ oder „Was Sami mit den Vögeln ſingt“, und wie fie alle heißen, dieſe liebe und gemüt-
vollen Erzählungen, an denen ich wohl ebenſo viel Freude und Genuß habe wie die Rinder.
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Plötzlich iſt es / 7 Ahr. „Wann müßt ihr nach Haufe?“ frage
ich. „Um 7 Uhr!“ tönt’s im Kreiſe. „Oh!“ ruft mein lebhaftes Töchterchen, „dann iſt noch eine
Diertelftunde Zeit! Mutti, bitte, bitte, erzähl uns noch einen Schwank aus deinem Leben!“
ad unterdrüde ein Lachen über die originelle Ausdrucksweiſe meiner Kleinen. „Ach ja, bitte,
bitte!“ echot es in der Runde, und fo erzähle ich denn noch einige kleine Exrlebniffe aus der eigenen
Kindheit. Nur ſchwer trennt man ſich um 7 Uhr, und ich freue mich noch beim Abſchied über
das Nachleuchten der Freude in den Kinderaugen.
Unſere Sonntage find aber nicht alle gleichförmig. Meine kleine Roſe Sophie mit ihren
vielerlei Einfällen ſorgt auch mit für Abwechſlung. Neulich hat fie ein „Orama“ geſchrieben: Die
verzauberte Prinzeſſin Roſalinde. Das muß natürlich an einem Sonntag aufgeführt werden.
Zwei der Kinder und ich bilden das Publikum, die übrigen find die Mitſpieler. Eine große Reife-
decke, zwiſchen zwei Stühle gefpannt, iſt die Bühne. Dahinter hocken die mitſpielenden Kinder,
die auf ihren Fingern die nach Rafperle-Art ſelbſt gefertigten Figuren halten. Sämtliche Röpfe
find aus Kartoffeln geſchnitten, aus denen entzüdend bunte Stednabellnopf-Augen hervor
Deutfhe Beihnachten an Bord elnes Kriegefchiifce 231
leuchten. Der alte Graf Albrecht von Greifenſtein und Ritter Kuno tragen Samtbaretts mit
Rebhuhn -Federn, Prinzeſſin Rofalinde iſt ganz in weißen Tüll auf roſa Untergrund gehüllt.
che das Stuck beginnt, höre ich Hertha im Zlüfterton raunen: „Ach, du liebe Güte, nun iſt es
ſchon wieder weg!" — „Was denn?“ fragt Roſe Sophie. „Ach, Ritter Kuno verliert immer fein
eines Auge“ — „Bier iſt es!“ tönt ein Freudenſchrei — und nun beginnt die Vorſtellung.
Mit Feuereifer find die Rinder dabei. Sie haben alle das „Drama“, das Roſe Sophie gewiffen-
haft aufgeſchrieben hat, wortlich auswendig gelernt und ſprechen mit viel Schwung, wo es ihnen
am Platze ſcheint. Fd ſelbſt aber habe meine ganz beſondere Freude ſowohl an dem Stück ſelbſt,
dem erſten „Orama“ meiner Tochter, als auch an den Kindern.
Ein andermal wird der Sonntag durch Weihnachtsengel verſchoͤnt. Exika bringt drei Paar
Saͤnſeflugel mit. Roſe Sophie, Leni und Exika ziehen lange, weiße Gewänder an, darüber
werden die Flügel befeſtigt. Das Haar wird aufgeldjt und ein goldenes Stirnband umgebunden.
gn den Händen halten fie Tannenzweige. So kommen fie ins Zimmer und fingen ein Advents
las: Leife riefelt der Schnee,
Still und ſtarr liegt der See.
Weihnachtlich glänzet der Wald;
Freue dich! Chrifttind kommt bald!
Go find unfere Sonntage daheim. Ach, dieſes traute, herzerwärmende Daheim! Zch ſelbſt
empfinde dieſe Weihnachts Vorfreude als etwas fo Wunderfchönes, daß ich fie um keinen Preis
der Erde miſſen möchte. Aber auch die Kinder haben fie gern, und mein eigenes *
freut ſich von einem Mal zum andern und fagt dann abends mit tiefem Seufzer: „Ach, Mutti
wie war das heute wieder ſchon !*
das macht mich tief glidlid; und ich möchte wüͤnſchen, wenn fpäter einmal meine kleine
Rose Sophie erwachſen iſt, und das Leben läßt fie nicht mehr immer nur lachen und fi freuen,
ſondern ſtreut auch hie und da Dornen auf ihren Weg und wirft Schatten vor die Sonne, dann —
ja dann möge fie an unfere Sonntage daheim zurüddenten, und diefes „Daheim“ mit all feiner
Stimmung möge ſelbſt noch in der Erinnerung, ja, vielleicht gerade in der Erinnerung, mit
warmen Strahlen nachleuchten und Freude auslöfen ! Ilſe Weſthoff
Deutſche Weihnachten an Bord eines
Kriegsſchiffes
rüdend niedrig hängt der graue ODezemberhimmel über den trüben Fluten der Jade.
Leiſe und weich ſchuͤttelt Frau Holle ſeit Stunden die weiße Schneelaſt auf die Nordjee-
küſte nieder. Gurgeind, eintönig plätſchernd ſingt der ſtark laufende Flutſtrom fein uraltes ein-
ſchlaferndes Lied.
Lmienſchiff „Braumſchweig“ liegt wie eine gebändigte Dogge vor ſeiner Ankerkette, ſich mit
weichem, wohligem Schlingern und Stampfen in der unruhigen Dünung wiegend, die hinter
dem letzten ſchweren Nordweftiturm herläuft. Der wachhabende Unteroffizier hat durch einen
jubenden Triller feiner Bootsmannsmaatenpfeife den tiefen Winterfrieden jäh unterbrochen,
ſendet Lodrufe in die unteren Oecks des Schiffes und ruft dann den Befehl zur Morgenmuſterung
aus. Achtern auf der Schanz erſcheinen einzelne Vorgeſetzte, um das Antreten der Diviſionen
m überwachen. Die blanken Seemannsaugen der jungen Offiziere ſtrahlen freudig in den
kalten Wintermorgen. Sie wiſſen ſchon, daß der Erſte Offizier als Dienft für den 22., B. und
A. Dezember Vorbereitungen für den Heiligen Abend angeſetzt hat, und freuen ſich, ihren
232 Deutide Weihnachten an Bord eines Rriegakpifies
Mannſchaften dieſes Weihnachtsgeſchenk des Geſtrengen bekannt geben zu können, Aber der
Burſche des Erſten Offiziers hat mal wieder nicht dicht gehalten, und fo wurde die „Über-
raſchung“ ſchon in der Nacht von Weihnachtsengeln durch alle Räume des Schiffes gewiſpert
und geflüjtert.
Froh plaudernd treten die Leute an; einige Schneebälle fliegen hin und her, bis Kommando⸗
worte die Reihen erſtarren laſſen. Die Kehrtwendung beim Wegtreten fällt allgemein etwas
ſchneidiger aus als ſonſt. Freudeſtrahlend in jagendem Durcheinander drängen alle durch die
Luten die Niedergänge zu den Wohndecks hinab. Die Tiſche und Bänke werden ſchnell auf-
geſtellt, überall in den nüchternen, kahlen Geſchützkaſematten beginnt eine emſige Tatigkeit.
Die feit Tagen vom Kommandanten beſtimmte Weihnachtskommiſſion hat beim Cbriſt
kindchen ſchon tüchtig eingekauft: Einige Zentner buntes Papier für Guirlanden und Blumen,
reichlich hundert Weihnachtsbäume, Kiſten voll Silberlametta, Engelshaar, Glaskugeln, Lichter,
Halter und Schneewatte werden an alle Tiſche verteilt. Nun entpuppen fich die Künftler unter
den Mannſchaften, die mit einfachſten Mitteln wunderſame Papierblumen und herrliche Tam
werftrdnge, rührend jchöne Ställe zu Bethlehem mit Krippen und allem Zubehör, dem Jefır
kindlein, Maria und Joſeph, Hirten und Engeln erbauen. Andere malen die alte, ſchöne Weih-
nachtsgeſchichte in mehreren Bildfolgen an die kahlen Wände; Küſtenlandſchaften, fturm-
gepeitſchte Seeftiide entſtehen, ſinkende Schiffe und kenternde Boote angeſichts der rettenden
Kuͤſte. Die weniger Geſchickten decken liebevoll mit bunten Flaggen die Geſchüͤtze und Munitions
aufzüge zu, ſtellen Tiſche und Rijten auf, die, mit buntem Papier behangen, den Stahlkaſematten
allmahlich eine mollige Einrichtung geben. Und dazu fingen fie alle mit ſchoͤnen, weichen Stim
men Stunden um Stunden viele ſchwermuͤtig klagende Seemannslieder vom Abſchiednehmen
und heißem Sehnſuchtsſchmerz, von gebrochener Treue und tiefem Wellengrab. Das Meer
rauscht feine jahrtauſendalte Begleitung dazu.
Die Offiziere baſteln derweil in ihren Kammern Weihnachtspaketchen für die Unteroffiziere
und Mannſchaften. Damit einem jeden etwas Zweckentſprechendes, wonach fein Herz ſ ch fet
Wochen ſehnte, geichenkt werden kann, durften fie alle v wie die Kinder daheim Wunſchzettel
ſchreiben.
So iſt langſam die fünfte Nachmittagsſtunde des 24. Dezember herangekommen. Eine fet
frohe Stimmung hält die Herzen der Beſatzung gefangen. Die große Barkaß legt immer wiede
den kurzen Weg zum Lande zurück, um die Frauen und Kinder der Verheirateten an Bord w
bringen. Mit feligen, erwartungsvollen Augen drängen ſich die Kleinen an ihre Väter. Ken
Fragen gibts wie ſonſt nach all den Geſchützen, Booten und Laternen. Nach und nach oer
ſammelt ſich die ganze große Gemeinde in der Vorbatterie, die von geſchickten Händen mit
Flaggen und Tannenbäumen für den Feſtgottesdienſt hergerichtet worden iſt. Ein einfache
Altar, mit der alten geliebten Kriegsflagge bedeckt und mit Tannenzweigen geſchmüͤckt, nimm
die Mitte des Raumes ein. Zu beiden Seiten erſtrahlen zwei große Weihnachtsbäume, mit
Silberlametta, Schneewatte und bereiften Tannenzapfen geſchmückt, im Glanze der brenner
den Weihnachtskerzen. Leiſe ſpielt die Kapelle die große Weihnachtsſymphonie, und andächtig
verſinken alle in den immer wieder unvergleichlichen Weihnachtszauber. Es iſt rührend zu be
obachten, wie die vom Pfarrer ſchlicht vorgetragene bibliſche Weihnachtserzählung auch dit
rauheſten unter den Seeleuten, die alle Meere befahren haben, in vielen Stürmen und 6
fahren dem Tode trotzend hart geworden find, tief bewegt. Erinnerungen aus längft ver
gangener Kindheit werden wach, der Weihnachtsengel ſchwebt durch den Raum und eine
gläubige Schar betet inbrünſtig mit dem Pfarrer zum gütigen Weihnachtsgott für alle die
Kameraden, die jetzt da draußen in ftürmifcher kalter Winternacht auf hoher See ihren ſchweren
Beruf erfüllen und vielleicht in diefer Nacht des Friedens in ſinkenden Booten mit dem Tobe
ringen. Mit unſerem ſchönſten Weihnachtsliede: „Stille Nacht, heilige Nacht .“ klingt die lc
liche Feier aus.
—
Maria mit dem Kind
W. Jüttner
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Ohne Märchen —? 233
Nur zögernd, wie feftgebalten von dem unſagbaren Zauber, den die Weihnachtsfeier an Bord
wie immer auf alle legte, begeben ſich die Mannſchaften in ihre Räume.
Hier hat inzwiſchen Knecht Ruprecht viel tauſend Kerzen angezündet und die aufgeſtellten
Teller mit Kuchen, Apfeln, Nüſſen, Apfelſinen, Feigen, Schokolade und andren Herrlichkeiten
gefüllt, die er in ſeinem Sack hatte. Zigarren und Zigaretten hat er für ſeine großen Kinder
nicht vergeſſen. Und jeder findet auf feinem Platz liebevoll eingepackt und verſchnürt die Er-
füllung einer ſeiner Bitten, die er dem Wunſchzettel anvertraut hatte. Langſam löſt ſich der
Bann. Die Kleinen werden lebhafter und hungrig, und bald ift alles in fröhlichſter Weihnachts-
ſtimmung mit der Vertilgung der Süßigkeiten beſchäftigt. Kleine Kapellen intonieren ftim-
mungsvolle Stückchen und Lieder. Der Kommandant geht mit feinen Offizieren durch alle
Räume, bewundert gebührend die Kunſtwerke ſeiner blauen Jungens und findet für alle ein paar
freundliche Scherzworte. Die jüngeren Offiziere ſetzen ſich zu ihren Mannnſchaften und der aus-
gegebene Punſch zu dem reichlichen Abendbrot loft gar bald die Zungen zu gegenfeitiger Aus-
ſprache. Die Verheirateten ſind längſt mit ihren Angehörigen an Land gefahren, um daheim
im trauten Familienkreiſe den Weihnachtsabend zum zweiten Male zu begehen und ihre Kinder
zu beſcheren. Froheſte Laune hält die übrige Beſatzung noch viele Stunden beifammen. ..
Still ruht die Nacht. Ein ſternklarer Winterhimmel umſpannt die dunkle, ſchlafende Erde.
Linienſchiff „Braunſchweig“ liegt ſtill vor ſeiner Ankerkette, von dem murmelnden Meer in
Schlaf gewiegt. Ein ſeliger Friede iſt in alle Herzen eingezogen, und kinderglüͤcklich find die
tauhen harten Männer ins Weihnachtstraumland hinübergeſchlummert.
Topp, Oberleutnant zur See
Ohne Märchen —?
age ich zuviel, wenn ich eine Kindheit ohne Märchen eine halbe nenne? Denn ſie iſt um
Unerſetzbares beraubt.
Unſere Kinder werden groß in einer wirklichkeitsſtarken, hellhörigen und helläugigen Zeit, in
einer Zeit, durchſchwirrt vom ſurrenden Webton der Maſchinen, vom hämmernden Stahltakt
der Technik, die immer wieder aufs neue ſtaunen läßt über die Fülle deſſen, was Menſchengeiſt
erſann. Sie hat den kühnen Traum des Fliegens zu überraſchender Wirklichkeit gemacht, und
ſie iſt darum wahrlich nicht arm an Wundern. Aber es ſind nur Wunder der Vernunft, dieſe
„Nächen“ des modernen Lebens, deren Geheimnis zuguterletzt in einem nüchternen Rechen-
exempel aufgeht. Zwar nicht weniger groß, nicht weniger bewunderungswürdig deshalb, zumal
wenn man den langen, den Opfer heiſchenden Weg überſchaut, der bis zu ihrer Verwirklichung
führte. Aber der rätſelvoll anheimelnden Atmoſphäre wirklicher Märchen ift dies alles doch
weſensfremd, wie kühle Tageshelle dem lockenden Dämmerungsſchatten.
Der raſtloſe harte Gang einer Zeit, die auch an die praktiſchen Kräfte der Erwachſenen er-
höhte Anforderungen ſtellt, die feſt zugreift und den langſam Beſinnlichen fortzuſchwemmen
droht, läßt die Kinder beizeiten auf feſten Füßen ſtehen. An unſerer Hand durchſchreiten fie,
namentlich um die Weihnachtszeit, die — Warenhäuſer, die in ihrer Lichtfülle, in der Anhäufung
alles deſſen, was Kinderſinn begehrt, wie leibhaftige Märchenpaläſte locken. Und in deren wohl-
geordnetem Innern doch das frohe Wunder des Schenkens aller lieblichen Verkleidungen be-
taubt wird! In denen man wählt und feilſcht und dem Kinde, das womöglich dabei ſteht, wie
ein gewichtiges Altmännlein, allzu koſtſpielige Wünſche ausredet. Fordert dieſe Überhelle nicht
geradezu gebieteriſch ein Gegengewicht?
Seit die erſte Großmutter das „Es war einmal“, dieſen ſingenden Auftakt aller Märchen, zu
dem lauſchenden Enkel ſprach, wandelten ſich Seele und Gemüt des Kindes nur wenig oder gar
Der Türmet XXVIII, 3 16
234 Ohne Märchen —?
nicht. Auch im Zeitalter des Kindes hungert es noch nach dem Überfluß bunter Bilder und
greift mit lebhaften Händen nach allem, was dieſen Hunger ſättigen kann. Sollten wir ihm da
nicht jene Welt finnvoller Abenteuer und heimlichen Glücks erſchließen, welche uns die Marden
unſerer Kindheit bedeuteten? Die uns, wenn wir fie heute wieder leſen, da wir doch lebens und
leidgebdrtet ſind, eine Ahnung jenes erſten Erſchauerns aufdämmern laſſen, mit dem wir fie in
jenen fernen Tagen hörten! Welche Luſt iſt es nicht, Hand in Hand mit dem eigenen Kinde die
grasbewachſenen Wege jenes zauberiſchen Jugendlandes noch einmal betreten zu dürfen!
Es ijt das Land, in dem die Tiere reden, Bäume, Blumen und Quell reicher und wunder
ſamer blühen, beredſamer rauſchen, wo uns die Sterne vom Himmel in den Schoß fallen, wenn
wir fie nur beizeiten aufhalten, kurz, jedes holde Wunder moglich und denkbar iſt. Traumhaft
belebt von den ergöͤtzlichſten Seltſamkeiten, winden ſich da die Wege. Und doch ordnen ſich auch
in dieſem paradieſiſchen Reiche die Geſchehniſſe nach den lauteren Geſetzen uralten Sitten
gefühls, kurzweiliger vielleicht, verſöhnlicher als zuweilen im Leben, wo die gute Fee, welche
die Ranke ihrer böfen Schweſtern zuſchanden zu machen hat, nicht immer fo erfreulich ſchnell
bei der Hand iſt, um die Gabe des Glücks dem Kinde in die Wiege zu legen, und die Böſewichte
und Tunichtgute oft lange genug herumlaufen, ehe das weisheitsvolle Zauberſtäbchen fie ent-
larvt und beſchämt. Eine Welt im Kleinen, einen winzigen Ausſchnitt des Gut und Böſe, dieſer
beiden Wagſchalen alles Irdiſchen, bietet die Welt des Märchens darum doch, und ſchon deshalb
mangelt es ihm nicht an bedeutſamem erzieheriſchem Wert, der verſtohlener zwar als in der
trockenen Fabel, die von Kindern meiſt weniger geliebt wird, doch den Zweck erfüllt, die ein-
fachſten Grundlinien alles Seins dem empfänglichen Kinderſinn einzuprägen.
Da ſind die alten, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, innig verwoben mit
Sagen und Mythologieſtoffen und oft prachtvoll bodenſtändig, voll ſchalkhafter Moral, wie das
Landvolk, in dem ſie geſammelt wurden. Da iſt Muſäus, Bechſtein, Hauff, und dann vor allem,
da iſt der große Märchenerzähler: der Däne Anderſen! Er, bei dem Einfachheit und höchſte
Verfeinerung untrennbar in eines verſchmelzen, der die Sprache des Kindes ſpricht, wie ſo leicht
kein zweiter: „Und da ging er in fein Königreich und ſchlug ihr die Türe vor der Naſe zu“
Der Eingemachtes und Pfeffernüffe bei Hofe ſervieren läßt, weil er den Geſchmack feiner kleinen
Säſte kennt. „Aber der alte König war betrübt und konnte keine eſſen. Sie waren ihm auch zu
hart!“ Und der dann wieder Töne findet, wie nur ein großer Oichter.
All dieſe Märchen, aus deren Reichtum auch nur einen Strauß herauszugreifen zu viel wäre,
müffen erzählt, dürfen beileibe nicht vorgeleſen werden, um die Geſtalten all der Rumpel
ſtiljchen und Erbprinzeſſinnen, der Zwerg Naſe und wie fie alle heißen mögen, recht lebendig
erſtehen zu laſſen. Ganz heimlich denkt das Kind dabei: „Vielleicht hat ſie es doch ſelbſt erlebt“,
eine Jllufion, die es noch glühender, noch hingebungsvoller dem bunten Leben ſeiner Helden
folgen läßt, als das nüchterne Schwarz-Weiß des Geleſenen es je vermochte.
Man muß nicht Hans der Träumer fein, wenn man noch nicht allen Wunder- und Märchen
glauben reſtlos Aber Bord warf. Über das Sinnend-Sinnige, das deutſche Gemüt, iſt viel
und billig gejpöttelt worden. Heute, wo der Sturm, der über uns hinwegbrauſt, uns eindringlich
mahnt, daß wir ganz ſchlicht und ſtolz wir ſelbſt fein müſſen, um nicht zu entwurzeln, wo alle
Weſensfaſern ſich feſter an die Heimat klammern, bewegter nach dem Erbe der Väter greifen,
heute ſchämen wir uns auch unſeres deutſchen Gemüts nicht. Laßt es uns nähren
und pflegen in unfern Kindern als eine Sonnenſeite unſerer Art, die wir nicht miſſen mögen!
Deutſche Mütter, erzählt euren Kindern Märchen!
Walter Hammer ⸗Webs
NB. Im „Türmer“ (März 1924) hat ſchon einmal der ſchwäbiſche Erzieher Karl Wigenmann
auf die Wichtigkeit und das Weſen der Märchen in feiner ſinnigen und tiefen Art hingewiefen.
Wir geben gern auch obigen Anregungen Raum. O. T.
Weihnachtskult und Kultſtil
De glühende Franzoſe Victor Hugo ſchrieb ſelbſt im Jahre 1870: „Der deutſche Geiſt iſt
wie eine unermeßliche Geiſtwolke, durch welche Sterne glänzen. Der hddfte Ausdruck
heutſchlands aber kann vielleicht nur durch die Muſik gegeben werden.“ Oamit weift er un-
willkürlich allerdings auf ein Kulturgebiet, das nicht fo ſehr durch Seiſteskraft als durch die
in ihm gepflegten Semütswerte ein ſpezifiſch deutſches Gebiet ijt,
Er hätte, wie er in dieſem Zuſammenhange vorher gerade die Taten des deutſchen Genius
in unſerer Sprache und unferem Schrifttum würdigte, auch auf die eigenartige Macht deutſcher
Dorte hinweiſen können, die einen Klangreiz beſitzen, den nur der deutſche Geiſt ſchuf und
lein anderes außer dem deutſchen Gemüt fo voll empfindet. So das einzige Wort „Weihnacht“.
Und wenn wir nach einem Typus deutſchen Kulturſtiles ſuchen, können wir ihn vielleicht
mit noch groͤßerem Rechte, als man ihn heute in dem einen Namen Richard Wagner weithin be-
faßt ſieht, mit der deutſchen Weihnachtsfeier kennzeichnen. Sie birgt in ſich als beſten Kern
eben einen nur uns eigenen Kultſtil. Dabei dürfen wir zunächſt mit gleichem Rechte die
häusliche und die kirchliche Feier nebeneinanderſtellen. Nicht ohne weiteres wird man dagegen
zugeben, daß hier zugleich die enge Verwandtſchaft des deutſchen Weſens mit der evangeliſchen
Auspraͤgung des Chriſtentums ſich offenbart, wie es doch tieferem Nachdenken ſich darftellt.
Zum Gegenbeweis wird man vor allem auf die gemütvolle Geſtalt ſchon der kirchlichen Weih-
nachtsfeier vom tiefen Mittelalter her ſich berufen.
Zu weit geht man zwar in dem heute beliebten Streben, Germanentum und Chriſtentum
beinahe zu identifizieren oder auch zu vertauſchen, wenn man das Weihnachtsfeſt ſchlechthin
aus der Nachahmung des Julfeſtes erklären und einen reinen germaniſchen Urſprung darin
finden will; denn die römiſche Kirche, die das Feſt einführte, kannte damals vielmehr nur das
Beumalfeſt des heidniſchen Rom. Und ſchon ein Auguſtin und ein Leo der Große polemi-
ſierten gegen die heidniſche Deutung des Feſtes. Nur die Abſicht iſt nicht zu beſtreiten, daß
das von der Kirche etwa unter Papſt Julius I. (337—352) eingerichtete Feſt gerade das heid-
niſche Naturfeft durch die Feier der chriſtlichen Heilstatſache verdrängen, an die Stelle der
Naturreligion die Geiſtesreligion, an die Stelle des Schattens die Wahrheit ſetzen ſollte. 354
wird das Feſt erſtmalig im römifchen Feſtverzeichnis erwähnt. In der deutſchen Kirche aber
des Mittelalters ward es frühe ſchon Sitte, die Kirche zu dieſer Feier feſtlich zu erleuchten,
und bald auch in der Kirche oder einer Seitenkapelle die Weihnachtsgeſchichte ſelbſt bildlich
darzuſtellen durch eine Krippe mit den Bildern der heiligen Jungfrau und des Chriſtkindes,
daneben Joſeph, dahinter der aus Jeſaia I, 2 und der falſchen griechiſchen Überſetzung von
gabakuk III, 2 entlehnte Ochs und Eſel, darüber der Engel mit der Glorie, im Hintergrund
Hirten und Herden, ſeitwärts der Prophet Micha mit einer Schriftrolle. Solche Aufſtellung
einer Krippe findet ſich ſchon im 5. Jahrhundert. Im Mittelalter ſelbſt wird der Brauch all-
gemein, beſonbers wie es ſcheint, durch den Einfluß des Franziskus von Aſſiſi und des volks-
timliden Ordens feines Namens. An die Krippe ſchloſſen ſich dann teilweiſe muſikaliſch thea-
traliſche Darftellungen an, in denen ein Prieſter oder Sänger die Geſchichte aus dem Lutas-
Evangelium rezitierte, ein anderer die Worte des Engels, ein Chor das Gloria in excelsis an-
ſtimmte. So geftaltete ſich allmählich aus der Krippe auch das förmliche Weihnachts- oder
Krippenſpiel, im 10. Jahrhundert etwa zuerſt in Wechſelgeſängen von Geiſtlichen in ent-
ſprechender Koſtümierung, die am 1. Feſttage die Anbetung der Hirten, am 4. den beth-
lehemitiſchen Rindermord, am „Oreikönigstag“ die Anbetung der Weiſen darſtellten. Und be-
ſondere Vollstümlichkeit gewannen fie, als ſchon frühzeitig auch allerlei oft derbe Scherze und
kindlich naive Beluſtigung, wie beim Kindelwiegen und den dazu üblichen Liedern, ſich damit
verbanden.
256 Weihnodtstult und Fultftil
Aus dieſen wiſſenſchaftlich geſicherten Tatſachen erhellt einmal die Selbſtändigkeit des
chriſtlichen Weihnachtskultes und zum andern die eigenwüchſige deutſche Art, die
erſt fpäter europäifche Verbreitung fand. Das hindert nicht, daß wir ihren Kultſtil ſpäter
beſonders im evangeliſchen Volke entwickelt finden, und die proteſtantiſche Eigenheit ſich
beſonders innig damit verbinden ſehen. Zunächſt hat bereits Luther auch hier ſeinen alles
andere als „revolutionären“ Sinn bewieſen, indem er die aus römiſcher Überlieferung ftam-
mende, aber beſonders im Schoß germanifcher Völker mit ihrem Leben innig verwachſene
Feier feſthielt. Aber die geſunde Nüchternheit feiner Kirche — nicht zu verwechſeln mit Boefie
armut — löſte bald all das Heilige Störende, wie das Kindelwiegen und andere „Spektakula“
ab, bejeitigte vorſichtig alles Unevangeliſche, wie die unbibliſche Marienvergötterung, und be-
reicherte zunächſt die kirchliche Feier durch eine Fülle alter und neuer Kirchenlieder mit um fo
tieferer Erbauung. Und diefe Belebung der Zunge der Gläubigen ward vollends die Brücke
zu einem häuslichen Weihnachtskult, wie ihn fo innig und reich doch wohl nur die evange-
liſchen Häuſer kennen. Die damit belebte Hausfeier war wiederum zugleich vermittelt durch
die mit dem Weihnachtsliede allein erklärliche kunſt- und poeſievolle Geſtaltung der Chrift-
veſpern und Metten, deren ganze Größe und Anziehungskraft man in den Gebirgen, zu-
mal der ſächſiſchen Grenzlande (Vogtland, Erzgebirge, Lauſitz) oder im Harz und Fichtel-
gebirge, erleben muß, um dieſe echt volkstümliche Stilkunſt ganz würdigen zu können;
wie man andererſeits auch hier nur die gemütvolle Volkskunſt kennen lernt, die in ihren
Krippen, Bethlehemsbergen und -bergwerten ſowie Weihnachtspyramiden oder -fternen
und Lichtkronen mit eigener Hand dem Chriſtkinde Wohnungen einbaut und Wege be
reitet. Von den übrigen Zutaten der Weihnachtsbräuche zu ſchweigen, die nirgends fo wie
in germaniſchen und proteſtantiſchen Völkern ebenfalls Volkstüͤmliches und Chriſtliches ſinnig
vermiſchen.
Und der Chriſtbaum zumal mag immerhin ſchon in franzöfiihen Dichtungen des 12. und
13. Jahrhunderts (NB. auch im Grunde germaniſcher Kultur zugehörend) Erwähnung finden,
und erſt von Straßburg her, wo er im 17. Jahrhundert feſtgeſtellt iſt, ſeit wenig über 100 Jahren
in Oeutſchland ſich eingebürgert haben, — nirgends fo wie hier iſt er feſt eingewurzelt und
nirgends fo verſtändnisvoll geliebt wie in unſern evangeliſchen Kreiſen. Und das ijt das Be
ſondere an der religiöſen Stilkunſt, die unſere Weihnacht aufweiſt, und die doch ohne irgend-
einen bewußt ſtiliſierenden Einfluß, rein aus dem Drange des Volksgemuͤtes heraus, erwadfen
iſt: fie tut den tiefen Einſchlag der Religion in unſerer Kultur dar, und beider Verbin-
dung erſcheint unleugbar damit als ein Lebensbedürfnis unſeres Volkes auch in der
Gegenwart. Im milden Kerzenſchein des Feſtes aber glänzt ein Edelmetall im deutſchen Ge-
müt auf, das vom Fluche des Rheingoldes zu erlöſen vermag: die beglüdende Kraft der
Liebe.
Denn hier fühlt fie fic ſelbſt aus der höchſten Liebe quellen, in der uns Gott naht, aber in
der ſchlichteſten Offenbarung eines Kindes; denn er will durch die Einfalt und Gottinnigteit
dieſes Weſens es uns fo leicht als moglich machen, die Kluft zu überwinden zwiſchen ihm und
uns und — zwiſchen den Menſchen und ihren Brüdern. So kann denn auch der Weihnachts
kult den mit Recht um unſere Zukunft, um den Untergang unſerer Kultur bangenden Geiſtern
eins der im übrigen ſich gottlob ſtark mehrenden Anzeichen fein, daß die furchtbare Schreckens
geſtalt des Egoismus doch nicht die Alleinherrſchaft behaupten wird.
H. Roſenkrauz
257
Juden und Alexandriner in dem neugefundenen
Brief des Kaiſers Claudius
m Zayum ift in den Ruinen des antiken Dorfes Philadelphia ein Papyrus gefunden worden,
befien Veröffentlichung durch H. Idris Bell (Jews and Christians in Egypt. 1924) das
größte Aufſehen in der Gelehrtenwelt erregt und ſchon jetzt eine ganze Reihe von Abhandlungen
hervorgerufen hat. Der Dorfſchreiber von Philadelphia hat eine zwiſchen Finanzakten frei-
gebliebene Stelle in einer Papyrusrolle benutzt, um dort die Abſchrift des Briefes unterzu-
bringen, den Naiſer Claudius im Jahre 41 n. Chr. an die Gemeinde der Alexandriner gerichtet
hat. Beigefügt ift die Abſchrift eines Begleitſchreibens des Vizekönigs von Agypten, des Prä-
fetten Lucius Aemilius Rectus, der für die Verbreitung bes kaiſerlichen Handſchreibens geforgt
hat. Unſer Dorfſchreiber hat zwar eine recht flüffige Handſchrift gehabt, aber mit der Recht
ſchreibung auf Kriegsfuß geſtanden, ſo daß ſeine Abſchrift von Fehlern wimmelt, die zum Teil
aid wohl durch Verhören beim Diktat entſtanden find und keineswegs ber kaiſerlichen Kanzlei
auf Rechnung geſetzt werden dürfen.
Der Brief iſt dadurch veranlaßt, daß die Alexandriner dem Kaiſer bald nach feiner Thron
beſteigung eine Geſandtſchaft geſchickt haben, um ihre Ergebenheit auszudrüden, die Erlaubnis
zu allerlei Ehrungen für den Raifer einzuholen und, was des Pudels Kern war, eine Reihe von
Bitten vorzutragen. Claudius erkennt die gute Geſinnung dankbar an, läßt ſich trotz feiner be-
tonten Beſcheidenheit die Ehrungen größtenteils gefallen, beſtätigt gern die von Auguſtus der
Stadt verliehenen Privilegien, bewilligt auch die minder wichtigen Bitten, aber in den Haupt-
ſachen bereitet er den Alexandrinern doch eine Enttäuſchung. Einmal macht er die erbetene Ein ·
fegung des heißbegehrten Stadtrats, die eine weſentliche Steigerung der Selbſtändigkeit der
Gemeinde bedeutet haben würde, abhängig von einer durch Aemilius Rectus zu veranſtaltenden
Prufung der ganzen Sachlage, die ſchwerlich im Sinne der Alexandriner ausfallen konnte, und
zweitens hält er ihnen eine energiſch klingende Standrede über ihr Verhalten gegen die in der
Stadt lebenden Zuden. Deren Zahl war bekanntlich Legion, fie waren ſchon unter den erſten
Ptolemdern in Maſſe dort eingewandert, bewohnten zwei von den fünf Stadtquartieren und
bildeten einen privilegierten Teil der buntgemiſchten Großſtadtbe völkerung. Sie hatten ihre
eigene Organiſation auf politiſchem Gebiet, die ihnen eine ziemlich große Selbſtändigkeit ge-
währte, und fie erfreuten ſich von alters her voller religidfer Duldung, die von den Ptolemäern
gewährt und von Auguſtus und Tiberius gewiſſenhaft beobachtet worden war. Das aleran-
briniſche Vollbuͤrgerrecht haben die Zuden als ſolche allerdings nicht beſeſſen, wenn auch Einzelne
von ihnen, ſei es durch Perſonalprivileg, ſei es durch Erſchleichung, dazu gelangt waren.
Die Zuden bildeten in Alexandria wie in andern Griechenftädten eine Art Staat im Staate,
ſie hielten unter ſich feſt zuſammen und ſtanden zu ihren heidniſchen Mitbewohnern hier wie
überall im ganzen Bereich des römiſchen Reiches in einem dauernden Gegenſatz, der durch ihre
Religion, ihre Raffe und, wenn auch anſcheinend in geringerem Grade, durch ihr gefchäftliches
Sebaren bedingt war und bald hier, bald dort gelegentlich zu mehr oder weniger heftigen An-
feindungen führte. Hätten die Zuden nicht durch die enge, ſchon in Cäſars Zeit begründete
Freundſchaft zwiſchen dem Haufe des Herodes und dem Kaiſerhauſe eine Stütze an der roͤmiſchen
Regierung gehabt, fo wäre es ihnen oft genug übel ergangen. Dieſe Stütze zerbrach nun unter
der Regierung des Unbolds Caligula. Damals war es in Alexandria teils aus den üblichen
Grinden, zum Teil aber auch durch das protzige Auftreten des eben ernannten Judentinigs
Agrippa I. zu einem blutigen Krawall gekommen, und die Alerandriner hatten, um den nach
göttlicher Verehrung lüfternen Raifer gegen die Juden einzunehmen, verſucht, feine Statuen
nicht nur in alle Tempel, ſondern auch in die Synagogen hineinzubringen, wogegen ſich die
Zuden verzweifelt aber vergebens zu wehren bemüht waren. Sie unterlagen, und da gleich;
238 Zuben und Alexandriner in dem neugefundenen Brief des Ralfers Claus
zeitig in Paläſtina in der Stadt JZamnia Zuden einen von Heiden für den Raifer errichteten
Altar zerſtört hatten, fo ergrimmte Caligula gegen fie aufs beftigfte und befahl, zur Strafe
feine Statue im Tempel von Zeruſalem aufzuſtellen. Darüber wäre es ohne Zweifel zum Ver-
nichtungskampf gegen das ganze Volk gekommen, wenn nicht der Raifer im Anfang des Jahres
41 n. Chr. ermordet worden wäre.
Damals weilte fein perſönlicher Freund Agrippa I. gerade wieder einmal in Rom und er
hat bei der Thronerhebung des wunderlichen, gelehrten Prinzen Claudius eine wichtige Ver-
mittlerrolle geſpielt, die er bald genug geſchickt auszunutzen verſtand. Während die Zuden
Ale xandrias eben noch hart mißhandelt worden waren, faßten fie nun wieder Mut, verſtärkten
ſich durch Zuzug aus Paläftina wie aus Agypten und fielen nun ihrerſeits über die Gegner het,
fo daß die römiſche Regierung Mühe hatte, dem Kampfe Einhalt zu gebieten. Auf dieſe Dinge
beziehen ſich nun die Worte des Kaiſers, die folgendermaßen lauten: „Was aber den Krawall
und den Streit oder, richtiger gefagt, den Krieg mit den Juden angeht, fo will ich nicht genauer
unterſuchen, welche von beiden Parteien daran ſchuldig ift, wenn auch eure Geſandten und be⸗
ſonders Dion yſios Theons Sohn bei der Gegenüberſtellung ſich eifrigſt darum bemüht haben.
Ich behalte mir aber einen unnachſichtlichen Zorn gegen diejenigen vor, die abermals mit dem
Streit beginnen werden. Und ich ſage euch ganz offen, daß, wenn ihr nicht von dieſem verderb⸗
lichen und grauſamen Haß gegeneinander ablaßt, ich mich gezwungen ſehen werde, zu zeigen,
was es zu bedeuten hat, wenn ein menſchenfreundlicher Fürſt in gerechten Zorn verſetzt wird.
Oeswegen erſuche ich auch jetzt noch euch Alexandriner, milde und freundlich mit den Zuden zu
verkehren, die ſeit alten Zeiten dieſelbe Stadt mit euch bewohnen, und ihnen keine Schwierig
keiten in der Ausübung ihrer herkömmlichen Gottes verehrung zu bereiten, ſondern ihnen zu er-
lauben, daß fie ihre Gebräuche beobachten, wie zur Zeit des unter die Götter erhobenen Auguſtus,
welche Gebräuche auch ich nach Anhörung beider Parteien beſtätigt habe. Den Zuden anderer
ſeits befehle ich, fic nicht mehr Rechte anzumaßen, als fie bisher gehabt haben, und in Zukunſt
nicht noch einmal, wie wenn fie in zwei verſchiedenen Städten lebten, zwei verſchiedene Gefandt-
ſchaften zu ſchicken, was früher nie vorgekommen iſt, noch ſich in die von den Gymnaſiarchen und
Kosmeten veranſtalteten Kampfſpiele einzuſchleichen, während ſie doch das ihrige genießen und
dabei zugleich in einer fremden Stadt an dem Überfluß an allen guten Bingen teilhaben. Auch
verbiete ich ihnen, aus Syrien oder Agypten (nach Alexandria) hinabfahrende Juden herbeigu
rufen oder bei ſich aufzunehmen, was mich dazu zwingen würde, einen ſchweren Verdacht gegen
fie zu faſſen. Wenn fie nicht demgemäß handeln, fo werde ich auf jede Weife gegen fie ein
ſchreiten wie gegen Leute, die eine den ganzen Erdkreis in Mitleidenſchaft ziehende Peſtſeuche
erregen. Wenn ihr beide Parteien von dieſen Dingen ablaßt und euch bemüht, mit Milde und
Freundlichkeit gegeneinander zu leben, fo werde auch ich eurer Stadt meine alte Zürforg
widmen, wie ſie euch von meinen Vorfahren zuteil geworden iſt.“
Hier bedürfen noch einige Punkte der Aufklärung. Der genannte Dionnfios ift ein uns ſchon
aus andern Quellen bekannter Führer der Zudenfeinde geweſen; wir haben nämlich außer det
döchſt eingehenden Schilderung der Judenhetze unter Caligula durch den bekannten jüͤdiſchen
Philoſophen Philo, der ſelber als Geſandter zum Raifer gekommen war, und neben dem kürzeren
Bericht des Joſephus noch umfaͤngliche Reſte von Papyri, die ſich auf allerlei ZJudenkrawalle
dieſer und fpäterer Zeit beziehen und durch den neuen Kaiſerbrief eine höͤchſt erwünſchte Er
gänzung erfahren. Zofephus hat uns auch noch zwei andere Erlaffe des Claudius erhalten, deren
einer die Rechte der alexandriniſchen Juden wahrt, während der zweite im Anſchluß daran die
jüdiſche Diafpora im ganzen Reihe [hüten ſoll. In dieſem ſieht fi der Kaiſer veranlaßt, auch
die Juden zu ermahnen, daß fie die religiöfen Gefühle anderer Menſchen refpettieren ſollen.
Im übrigen ſpricht er offen aus, daß er durch feine lieben Freunde, Konig Agrippa und deſſen
Bruder Herodes von Chalkis zu feinem Erlaß beſtimmt worden fei. Wenn Claudius den aleran-
driniſchen Juden verbietet, ſich Rechte anzumaßen, die ihnen nicht zuſtänden, ſo meint er damit
Juden und Meranbdriner in dem neugefundenen Brief des Raifers Claud ius 239
den ſchon unter Caligula erhobenen Anſpruch auf das alerandrinifche Vollbürgerrecht. Als Vor-
bedingung für dieſes Bürgerrecht galt es, daß man die höhere Jugendbildung in Alexandria ge-
noſſen hatte. Sn allen helleniſtiſchen Städten gab es Gymnaſien, in denen die Söhne der Voll-
burger körperlich und geiſtig geſchult wurden. Beſonders da, wo Griechen mit Barbaren zu-
ſammen wohnten, bildeten „die vom Gymnaſium“ eine auf ihre Vorzugsſtellung ſehr ſtolze
Oberſchicht, deren Mitglieder auch im reifen Mannesalter ihrer alten Schule mit fo viel Liebe
gedachten wie heute der Student feiner alma mater. Die Gymnaſiarchen gehörten zu den
höchften Beamten der Städte, in Alexandria trugen fie ſtolz ein Purpurgewand. Sie leiteten
mit den Rosmeten (Ordnern) die Wettkämpfe, und wenn Claudius den Juden verbietet, ſich
unrechtmäßig in dieſe Spiele einzudrängen, fo ſehen wir, daß die jüdifchen Jünglinge eben auf
dieſem Wege verſucht hatten, ſich das Bürgerrecht zu erſchleichen, denn wer die Gymnafial-
bildung erwieſen hatte, wurde in die Bürgerliſten eingetragen. Die Makkabäͤerbüͤcher zeigen uns,
daß ſich um 170 v. Chr. in Zerufalem ganz ähnliche Zuſtände entwickelt hatten. Der gottloſe
Hohe prieſter Zafon ließ ſich vom Könige Antiochos Epiphanes die Erlaubnis erteilen, eine
griechiſche Gemeinde in Zerufalem zu begründen und das unbedingt dazu gehörige Gymnaſium
zu bauen, in das dann zum Entſetzen der Frommen die elegante jüdiſche Jugend ſtrömte, eifrigſt
bemüht, ihre Zugehörigkeit zum auserwählten Volke zu verſchleiern. Genau fo entruͤſtet waren
die ſtrenggläubigen Juden auch in Claudius’ Zeit über die Sportliebe der Jugend und das
Streben nach dem Bürgerrecht der heidniſchen Stadt, deſſen Ausübung nun einmal mit dem
moſaiſchen Geſetz nicht wohl vereinbar war. Darauf bezieht ſich die Ermahnung des Kaiſers an
die Zuden, nicht noch einmal zwei Geſandtſchaften an ihn zu ſchicken, was nie vorgekommen ſei.
Merkwürdigerweiſe faſſen, foviel ich ſehe, ſämtliche Gelehrte dieſe Stelle fo auf, als tadle es der
Raifer, daß die Zuden eine beſondere Geſandtſchaft neben der alexandriniſchen geſchickt hätten.
Das wird erſtens ſchon durch den Wortlaut ausgeſchloſſen, zweitens hätte der Kaiſer nie ver-
langen können, daß das jüdiſche Gemeinwefen in Alexandria feine Sache durch alexandriniſche
Dollbürger, alſo Feinde, vertreten ließe, drittens hätten die Juden, ſelbſt wenn fie gewollt
batten, keine Gelegenheit gehabt, etwa Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde der Geſandtſchaft
der Gegner beizugeben, und endlich hätte Claudius unter der von den modernen Gelehrten ge-
machten Vorausſetzung auch nicht behaupten können, das Vorgehen der Juden fei ganz unerhört,
da er ebenſo gut wie jedes ſonſtige Mitglied der Regierung wiſſen mußte, daß ja erſt kurzlich
unter Caligula eine Geſandtſchaft der Alexandriner mit einer ſolchen der Juden vor dem Kaiſer
geſtritten hatte. Daß die Juden zwei Geſandtſchaften geſchickt haben, erklärt ſich eben daraus,
daß in ihrer Gemeinde innere Streitigkeiten herrſchten, da eine Partei ſich für die Teilnahme
am Spmnafialunterridt und die Erlangung des Bürgerrechts einſetzte, während die andere der-
gleichen als un verträglich mit ihrer Religion verwarf und vom Kaiſer nur den Schutz ihrer alten
Privilegien erbat. Einig gegen die Alexandriner, war die Judenſchaft im übrigen geſpalten, und
der Raifer iſt ungehalten geweſen, daß fie ihn mit ihren internen Angelegenheiten behelligte.
Eine ganz ähnliche Lage zeigt uns die Apoſtelgeſchichte; da ſchleppen die Juden in Korinth den
Paulus vor den Statthalter Gallion, als dieſer aber hört, daß es ſich nicht um ein Verbrechen
handelt, ſondern um jüdifche Religions angelegenheiten, jagt er fie von feinem Richtſtuhl fort.
Von dieſem Geſichtspunkt aus werden uns aud einige Stellen des ſogenannten III. Makka-
baerbuches verſtändlich, das in dieſer ſelben Zeit geſchrieben iſt und zu erbaulichen Zwecken die
Rettung des von Caligula bedrohten Judentums ſchildert, allerdings in der Form, daß nach dem
Beiſpiel des Buches Daniel und anderer jüdiſcher Schriften die Ereigniſſe der Gegenwart in
eine frühere Zeit, hier die des Ptolemaios IV., verlegt werden. In dieſem ebenſo elenden wie
ſtrengglaͤubigen Buche iſt mehrfach von Juden die Rede, welche die Sache ihrer glaubenstreuen
Brüder verraten, um ſich dafür das alexandriniſche Bürgerrecht geben zu laſſen. Sie werden
am Schluß, als Jahwe ſeine Getreuen gerettet hat, von dieſen zur Strafe großenteils um-
gebracht. ö
249 Zuben und Ale xandriner in dem neuge fundenen Brief des Kaiſers Claud hes
Wir ſehen, mit welchen Empfindungen die Altgläubigen die Reformjuden damals betrachteten,
und begreifen nun um fo beſſer die giftige Feindſchaft, die zur Zeit der Zerſtörung Jeruſalems
in Alexandria wie in Ryrene zwiſchen den jüdiſchen Fanatikern und ihren wohlhabenden, mit
griechiſcher Bildung vertrauten Stammesgenoſſen zutage getreten iſt. Diefe inneren Zwiftig-
keiten im Judentum der Diafpora find ein noch nicht genügend erforſchtes Rapitel. Die jũdiſche
literariſche Überlieferung ſchweigt Regereien gern tot, da müſſen wir recht dankbar fein, wenn
uns die Papyri weiterhelfen, was hier nicht zum erſtenmal geſchehen iſt. So ſchroff ſich der
gutmuͤtige Kaiſer in Worten gegen die Juden wendet, fo hat er ihnen tatſächlich doch große
Geduld gezeigt, denn daß ſie nach Caligulas Tode den Streit begonnen hatten, gibt ſelbſt
Joſephus zu. Auch in Rom haben die dort zu Tauſenden lebenden Juden gleich im Anfang feiner
Regierung durch ihre Zänkereien fein Mißfallen erregt, und am liebſten hätte er die ganze Gefell-
ſchaft aus der Stadt gewieſen, wenn das nur nicht bei ihrer großen Zahl mit zuviel Schwierig-
keiten verbunden geweſen wäre. So begnügte er ſich hier wie in Alexandria mit Androhungen
gegen die Friedensſtörer. Sie haben in beiden Fällen nicht nachhaltig gewirkt, denn wir ſehen
aus einem der oben erwähnten PBappri, daß Claudius ſpäter Führer der Judenfeinde in Ale-
xandria zum Tode verurteilt hat, und aus der Apoſtelgeſchichte iſt es ja allgemein bekannt, daß
er im Jahre 51 n. Chr. tatſächlich ſämtliche Juden aus Rom vertrieben hat. Damals ſcheint es
ſich dort um Streitigkeiten zwiſchen Juden und den zunächſt noch zu ihnen gerechneten Chriſten
gehandelt zu haben. Das hat den Pariſer Akademiker Salomon Reinach verleitet, auch in un-
ſerem neuen Kaiſerbrief einen Hinweis auf das Chriſtentum finden zu wollen. Unter der von
Claudius erwähnten, die ganze Menſchheit bedrohenden Peſtſeuche ſei das Chriſtentum, die
meſſlaniſche Agitation, zu verſtehen, die fo gefährlich erſcheine, weil fie dem Kaiſerkultus feindlich
gegenüberftebe, der ein wichtiges Band der Reichseinheit geweſen iſt. Tatſächlich kann aber keine
Rede daopn fein, daß der Kaiſer an dergleichen gedacht hat, ſondern jene allerdings wenig
ſchmeichelhafte Vergleichung iſt durch die in jener Zeit an den verſchiedenſten Orten hervor-
tretende Neigung der Juden zur Selbſtüberhebung und Unruhenſtiftung hervorgerufen worden.
Prof. Dr. Hugo Willrich
+
OFFene Hall .
Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden Einfenbungen
ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers
Die Aſtrologie als Natur⸗ und Geiſtes⸗
wiſſenſchaft
u dem bereits im „Türmer“ berührten Problem ve Sternen-@inflüffe feien nod einige
Ausführungen erlaubt.
Was denjenigen Teil der Aſtrologie betrifft, der ſich im engeren Sinn auf den Menſchen
bezieht, gibt es zwei Grundſätze, die ſich ſcheinbar widerſprechen. Der eine heißt: der Menſch
wird nur, was er iſt; der andere: der Menſch iſt ſeinem Schickſal überlegen (der Weiſe regiert
die Sterne).
Beides iſt wahr, aber wahr von verſchiedenen Geſichtspunkten aus. Der eine Geſichtspunkt
liegt im „Diesſeits“, der andere im „Jenſeits“.
Im Oiesſeits kann der Menſch auch bei höchſter Anſpannung aller ſeiner Kräfte durchaus
nichts erreichen, was nicht bereits bei ſeiner Geburt anlageartig vorhanden war. Aller Fort-
ſchritt innerhalb eines Menſchenlebens iſt nichts anderes, als Entfaltung des gegebenen
Schickſals. Je reiner und inbrünſtiger der Menſch nach vorwärts, nach aufwärts ſtrebt, — nach
Erfolg im Guten, nach Segen für feine Arbeit, nach Fruchtbarkeit, — um fo mehr wird er
erreichen: nicht das Erſtrebte, ſondern das Beſtimmte. Ein dunkles, ein belaſtetes Schickſal
zieht ſich dunkel und ſchwer zuſammen; und je tiefer und ſehnender die Seele nach Licht lechzt,
je ſtärker fie lebt in dieſem reinen Orange, deſto ſchwerer ſenkt ſich die Finſternis und die Laſt
auf ſie herab. Und ein geſegnetes Schickſal entfaltet ſich unter denſelben Bedingungen immer
teicher und fruchtbarer und ſtrahlender.
Die Freiheit alſo innerhalb der irdiſchen Möglichkeit liegt nur darin, zu werden oder nicht
zu werden, was man iſt. Freiheit iſt nicht tun können, was man will, ſondern tun wollen, was
man muß. Freiheit iſt die ſeltene Fähigkeit, ſein Schickſal zu erfüllen.
gm allgemeinen widerſtreben wir unſrem Schickſal, halten dadurch unſer Leben auf und
verwickeln es. Was bei unſerem Eintritt ins Leben ſchon in der Anlage aus früheren verborge-
nen Urſachen her verwickelt genug iſt, das verwirren wir noch mehr aus Mangel an dieſem
teligidfen Willen, der uns in die Freiheit führen würde. Wir find betäubt von der Tragik
unſeres Daſeins, und wir leiden alle an Lebensohnmacht. Wir bleiben daher paſſiv gegenüber
unfrem Schickſal, wir erleiden es, anſtatt es zu erleben, und wir erliegen ihm, anſtatt es zu
überwinden.
Unfrei alfo find wir, ſolange wir fo das Leben verneinen, ſolang uns die Unluſt zu tragen
und zu dienen beherrſcht, ſolang wir einen irgendwie gearteten Genuß für uns wollen. Frei
werden wir, wenn wir unſer Schickſal bejahen können unter allen Umſtänden, wie immer es fei.
Zwiſchen dieſen beiden Extremen liegt eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Dafeins-
möglichkeiten, die alle ein und denſelben aſtrologiſchen Ausdruck haben, die alle aſtrologiſch
nicht unterſcheidbar find. Wie kommt das? Das kommt daher, weil hier dieſe Kraft im Men-
[den auftritt, die im Jenſeits verankert iſt und mit der er den phyſiſchen Geſetzen nicht unter-
worfen iſt. Da haben wir die Unabhängigkeit gegenüber dem durch das Horoſkop ausgedruckten
Sdhidjal. Sie iſt fo groß, daß es durch fie dem Aſtrologen unmöglich wird zu ſehen, welche
Stufe in dem Spielraum der durch ein und denſelben Aſpekt bezeichneten Möglichkeiten, in
bieſem Spielraum zwiſchen Keim und vollendeter Frucht, dieſer Welt von Verwandlungen,
242 Die Aſtrologle als Natur- und Geiſteswiſfenſchaft
der Menſch einnimmt. Oer Aſtrologe muß zum Seher werden, um da einigen Aufſchluß zu
erhalten.
Oieſes Geſetz der vielfältigen Verwandlung innerhalb einer Ordnung iſt ein Naturgeſetz,
und man kann es z. B. an den perennierenden Pflanzen erkennen. Mir fiel es auf, als ich in
meinem Garten die Blumen wachſen ſah: ein Same wird in die Erde gelegt, es wadft eine
Pflanze, ſie erreicht eine gewiſſe Höhe und ſtirbt ab, wenn der Winter kommt, verſchwindet
vollſtändig von der Erdoberfläche, aber im Frühjahr wächſt fie wieder aus der Wurzel, die in
der Erde war, fie wächſt höher und fie blüht; im nächſten Jahr wächſt und blüht fie noch höher
und reicher, fie trägt Frucht uff. Es gibt auch Pflanzen, die viele Jahre vergebliche Anſtrengungen
zur Sonne hin machen, bevor ſie einmal blühen können. Alle dieſe Daſeinsſtufen kamen aus ein
und demſelben Keim. Das für die Oberfläche des Lebens der Pflanze unſichtbare Element, in
welchem fie wurzelt, ohne ſichtbar zu ſein, ift die Erde. Das Element, in dem die Menſchenſeele
unſichtbar wurzelt, iſt die Ewigkeit. Der Menſch wie die Pflanze, fie ſterben für die Sicht;
barkeit, für das Diesſeits ab, ohne ihre Beſtimmung zu erfüllen. Das gilt nicht nur für die Uni-
verſalität des Menſchen und fein Univerſalſchickſal, ſondern ebenſo für jedes kleine, zeitlich be-
ſtimmte, verfließende Einzeldafein im Strom des Werdens. Es kann vergehen, oftmals ver-
ſchwinden von der irdiſchen Oberfläche, ohne fein Schickſal zu erfüllen, immer nur einen Teil
desſelben erfüllend. Der Reinfarnationsgedante liegt hier nahe, er wäre die Schlußfolgerung
aus dieſer Tatſache, die für jeden Forſcher zu erleben iſt, aus dieſer Tatſache des relativen Wer-
dens, dieſes Wachstums ohne Vollendung, dieſer Stufenfolge vom Nichtwerden zum Werden,
für welche ſich ſicher zahlloſe Korreſpondenzen finden laſſen in der Natur. Ferner können wir
dieſes Lebensgeſetz in der Geſchichte erkennen, im Wachstum der Raſſen und Kulturen. die
entſtehen, blühen und abfterben, um wiederzuerwachen in andrer Form, zu blühen und abzu-
ſterben. Aber jedesmal erfüllt ſich nur ein kleiner Teil aus der Fülle des Möglichen, „Aus un-
zähligen Verwandlungen geht es in immer reiferen Geſtalten erneut wieder hervor“, ſagt
z. B. Novalis vom Werden in der Geſchichte der Menſchheit.
Im Geſamtſchickſal wie im Einzeldaſein bezeichnen die aſtrologiſchen Symbole nur die großen
ideellen Typen, Formen höherer ungeſchaffener Wirklichkeit, innerhalb derer der freie
Menſchengeiſt zu Werke gerufen iſt und die er ſchafft. Es liegt hier dasſelbe Geheimnis zu-
grunde, wie bei der Erſchaffung der Welt von Gott und ihrer Wiedergeburt durch den Men-
ſchen. Alles iſt gegeben, vorgeſetzt, exiſtierend jenſeits der ſinnlichen Greifbarkeit, aber der Menſch
muß es aus eigener Kraft zum Leben bringen. In ihrer Ungeborenbeit find die Kräfte, die hinter
dieſen großen aſtrologiſckh en Symbolen liegen, jenfeits von Gut und Böſe, und erſt der Menſch
drückt ihnen den Stempel feines guten oder böſen Willens auf in vollkommener Freiheit.
In der Aſtrologie als Wiſſenſchaft haben wir diejenige, die den Zuſammenhang zwiſchen
Naturkraft und Seelenkraft bloßlegt. Die Aſtronomie und die ſphäriſche Mathematik erforſcht
die Exiſtenz der jphärifchen Körper und ihre Vewegungsgeſetze im Kosmos; die Aſtrologie
zeigt, daß dieſe kosmiſchen Geſetze nichts anderes find, als der ſichtbare und erkennbare finn-
liche Ausdruck jener überſinnlichen, vorgeſetzten Dafeinsbedingungen, die das Leben des Men;
ſchen umgrenzen.
Diefe Tatſache allein, in ihrer ganzen Tragweite erfaßt, ift der ungeheuerlichſte naturwiſſen⸗
ſchaftliche Beweis für die Tranſzendenz alles menſchlichen Lebens, der ſich denken läßt. Des-
halb iſt die Aſtrologie die einzige Wiſſenſchaft, welche das Gebiet des Seeliſchen mit Recht
zum Inhalt hat, denn fie fügt nicht durch ſpekulatives Denken die Zuſammenhänge zwiſchen
Körperlichem und Seeliſchem aneinander, fie ſchließt auch nicht von einem auf das andere,
ſondern ſie erforſcht den lebendigen Zuſammenklang beider Reiche. Ihre Methode iſt weder
die geiſtabgewandte der Naturwiſſenſchaft, noch die naturfremde vieler Geiſteswiſſenſchaften,
ſondern fie ift die Vereinigung des naturwiſſenſchaftlichen und des geiftes-
wiſſenſchaftlichen Forſchungsweges.
die Aftrologte als Natur- und Ge iſteswiſſenſchaft 243
Aus dem Grund dieſer vereinigenden Rolle ſcheint mir die Aſtrologle von fo ganz befonderer
Bedeutung gerade in unferer Zeit, in welcher das materielle Denken foviel Unheil geboren
hat und das ideale Denken in feiner ideologiſchen Entartung unter dem Orud des Materialis-
mus alle Lebenskraft verloren zu haben ſcheint.
Die Kenntnis der Aſtrologie iſt deshalb gleichzeitig die allerweſenhafteſte und die allerbelang-
loſeſte Möglichkeit für menſchliches Wiſſen. Denn ſie bringt uns ganz nahe an das Geheimnis
des Lebens, fie zieht den Schleier von verborgenſten Zuſammenhängen des Seins und Wer-
dens — aber im nächſten Augenblick ſehen wir, wie unweſentlich dieſe Entdeckungen find bei
aller furchtbaren Gewalt und Unausweichlichkeit gegenüber dem in uns, was nicht von
dieſer Welt ift. —
Es handelt ſich alſo bei einer richtigen Anwendung der aſtrologiſchen Kenntniſſe nicht um die
immer größere Vertiefung aller der Ausdeutungsmoͤglichkeiten für den Charakter und das Schid-
ſal, weil man damit in einem Gebiet bleibt, welches nicht über ſie hinaus führt. Erſt dann,
wenn man über die Aſtrologie hinauskommt, iſt es möglich, fie richtig zu verwerten. Man er-
fährt, daß es im Leben auf die Gewinnung einer inneren Haltung ankommt, aus der heraus
jedes Schidjal und jedes Einzelereignis einzig und allein gelöft wird, und daß das aſtrologiſche
Seſetz ungeheuer viel und kompliziert von dieſem Schickſal oder Ereignis verrät, aber gar nichts
davon, ob der Menſch jene innere Haltung gewinnt. Oenn mit dieſer ſteht er eben
in dem dritten Reich, in welchem die Freiheit herrſcht und es kein Geſetz gibt. Man erfährt
die Belangloſigkeit des Geſetzes und zugleich feine eiferne Notwendigkeit und Unumſtößlichkeit,
mit der es dem Menſchen Grenzen auferlegt, die er niemals überjteigen kann; und nur wenn
man dieſe beiden Reiche verbinden kann, lebt man in Wahrheit.
A. v. Morawitz - Cadio
Literatur,
Bücher für Weihnachten
nter den allgemeinen und wirtſchaftlichen Nöten in Oeutſchland leidet das wertvolle und
ſchöpferiſche Buch beſonders empfindlich: das Buch, dieſer ſtärkſte Schöpfer und Mittler
geiſtiger Kultur, in dieſen Zeiten auch der Freude, des Troſtes, der zielweiſenden Aufrichtung.
Viele unferer beſten Dichter und Schriftſteller leiden ſchweigend erbarmlide Not, mancher Ver-
lag kämpft um ſein Daſein.
Auch der Glanz deutſcher Weihnacht wird oft karger, die Freude ſchwerer fein — dennoch wird
das weſentliche Buch Licht und Segen, Freude und Kraft ſpenden können, darf im weihnacht⸗
lichen Geben und Nehmen, gerade in dieſer Zeit, beſondere Beachtung fordern. Die nachſtehende
Auswahl will in dieſem Sinne der deutſchen Familie, den verſchiedenen Bildungsſtufen und Be-
duͤrfniſſen Anregung bieten. Die Ausſtattung der Bücher ijt faſt durchweg gut, jedenfalls all;
gemein befriedigend, während manche Werke beſondere Liebe und Sorgfalt ihrer Verleger er-
fahren haben.
Proſa-Werke.
Friedrich Lienhard, am 4. Oktober ſechzig Jahre alt geworden, beſchließt mit ſeinem neuen
Werk „Unter dem Roſenkreuz“ mit dem Untertitel „Ein Hausbuch aus dem Herzen Oeutſch⸗
lands“ (Türmer Verlag, Stuttgart, M 6.—) die beiden vorangegangenen Wander- und Plauder
bücher, die frühlinghaften „Wasgaufahrten“ und das ſommerliche „Thüringer Tagebuch“. Vom
herbſtlichen Hügel des Lebens ſchaut der Dichter über das Suchen und Kämpfen, aus Enge und
ſchaffender Tat mündet die Lebensmelodie in den Frieden der Weisheit, ins Licht der Lebens;
verfldrung. Ein Buch vom Engen zum Ewigen. Ein Lebensweg, der in jene geiſtige Heimat ge-
führt hat, darin Weimar, der Montſalvat, das Roſenkreuz, Wartburg und Golgatha die Sym-
bole hohen Menſchtums ſind. Das Werk iſt erleſen ausgeſtattet.
Eberhard König gibt uns in der „Geſchichte von den hundert Goldgulden“ (Türmer-
Verlag, M 2.80) eine neue meiſterliche Variation feines großen dichteriſchen Themas: Läuterung
aus unbewußtem rein ſtofflichem Oaſein zur Erkenntnis, zur Weſenhaftigkeit, zu ſeeliſcher Reife
und Verklärung, zu erlittenem und errungenem Menſchentum. Die Geſchichte einer großen Liebe
und einer großen Wandlung, zart bei aller Urwüchſigkeit, ganz deutſch in der Gedankenfüͤlle und
Bewegtheit des Herzens, in der mannhaft kraftvollen Sprache. Ein hohes Lied auf die erkämpfte
Ehekamerabſchaft.
Ludwig Mathar iſt mit feiner traurig-luſtigen Geſchichte „s Zunggejellen und 1 Kind“
(Verlag Herder & Co., Freiburg, M 3.—) fo etwas wie der Anfang zu einem rheiniſchen Wilhelm
Raabe. Der Humor des Herzens und der wiſſenden Güte umgibt die fünf drolligen Junggeſellen
aus einer kleinen Mofelftabt mit einem leiſen Glanz. Das traurige Schickſal einer verratenen
jungen Ehefrau, die ſich mit ihrem Kinde aus der Fremde in dieſe ihre Heimatſtadt flüchtet, er-
fährt durch das prächtige fuͤnfblätterige und in der Tat glüdbringende Kleeblatt eine wahrhaft
fröhliche und herzlich- erheiternde Löſung.
Das erſte Proſawerk „Novellen“ von Guſtav Renner (Verlag Vong & Co., Stuttgart) iſt
hervorragend geeignet, dieſem noch viel zu wenig bekannten Dramatiker und Lyriker die Beach-
tung und Verehrung breiter Kreiſe zu ſichern. Einzelſchickſale geſtaltet der Dichter zu ſchmerzlichen
Symbolen des Lebens, die Verhängniſſe ehelicher Wirrungen, ſeeliſche Konflikte und Kataſtro⸗
. © * 8
— — — — — *
Sucher für Weihnachten 245
phen im Schoße der Familie. Eine novelliſtiſche Meiſterleiſtung gleich die erſte Novelle „Auf
Vorpoſten“ — während dem ganzen Werk eine große Menſchlichkeit und ein ſtarkes, reifes Künft-
lertum unvergeßliche Erlebniskraft geben.
Werner Janfen, der Meifter des hiſtoriſchen Romans, gibt mit feinem neuen Werk „Hein-
rich der Löwe“ (Verlag Georg Weſtermann, M 6.—) einen dichteriſch wertvollen Beitrag zu
dem vielgedeuteten Konflikt Heinrichs des Löwen mit Friedrich II. Das Herz des Dichters ſchlaͤgt
für die dunkle Hagengeſtalt des Löwen, indes das Licht der Siegfriedgeſtalt des Hohenſtaufen
manche Trübung erfährt. Glanz und Größe und die mächtige Geſchichte des deutſchen Hohen;
ftaufer-Raifertums hat Janſen bannen können in einem ſtarken und echt deutſchen Kunſtwerk.
Die Wucht und das Leuchten der Sprache, wie die Charakterſchöpfung der beiden deutſchen Hel-
den, machen dieſen Roman zu dem bisher bedeutenditen dieſes Dichters.
Adolf Koelſch gibt mit ſeiner neuen Erzählung „Longin und Dore“ (Grethlein & Co.,
Leipzig Züri, M 5.—) die Geſchichte einer unfeligen Liebe, inmitten ſchwerer und ungewöhn-
licher Schickſalsverkettung. Das tragiſche Motiv eines von der Mutter des Geldes wegen ver-
kauften Kindes. Tiefe Seelenkunde und eine zarte Hand zeichnen den Derfaffer aus; den hidften
Kunſtwert in dieſer reifen Erzählung hat die erleſene Sprachformung, die die entfernteſten Ge-
fühls quellen der erkrankten und irrenden Seelen erſchließt. Das Buch iſt vorzüglich gedruckt und
gebunden.
Will Veſper, der ausgezeichnete Novelliſt und Lyriker, beweiſt mit ſeinem Novellenband
„Porzellan“ (Verlag 9. Haeſſel, Leipzig, M 3.—) erneut, daß der Deutſche jeder Formmeifter-
ſchaft fähig iſt und Franzoſen und Südländer leicht und glänzend erreicht und übertrifft. In der
Tat wie feinſte Porzellanfiguren erſcheinen die graziöfen oder gewaltigen Liebeshelden und -hel-
dinnen des Rokoko und der Renaiſſance, die durch dieſe Novellen in heißer Leidenſchaft, in leich;
tem Spiel huſchen, leben oder heroiſch untergehen. Köſtlicher Humor und überlegene Ironie find
die beſonderen und wertvollen Merkmale dieſer Veſperſchen Kunſt.
Mit hoher Spannung lieſt ſich der Hecht Roman „Schnock“ von Spend Fleuron (Verlag
Eugen Oiederichs, M 4.—). Fleuron iſt mir der Meiſter des Tier Romans; keine abſtrakte Erfin-
dung — ſondern durch unermüdliche, ſcharfſinnig⸗geſchulte Beobachtung gewonnene Natur-
erkenntnis, geformt in einer ſchönen dichteriſchen Sprache. Neben der Erzählung vom Leben des
gechtes, reich an Abenteuern und Kämpfen, find die prachtvoll anſchaulichen Schilderungen all
des Lebens in See und Sümpfen ein wichtiger Teil dieſes gut überſetzten däniſchen Romans.
Karl Hans Strobl hat mit dem neuen Werk „Das Geheimnis der blauen Schwerter“
(Verlag L. Staackmann, Leipzig, M 5.—) einen feiner beften Romane gegeben. Es iſt die Darftel-
lung der Erfindung des deutſchen (Meißener) Porzellans durch Joh. Friedr. Böttger, der an-
fänglich Apotheker in Berlin, Goldmacher und endlich der Entdecker des nun weltberühmten
Meißner Porzellans geworden iſt. Alle Geiſterei der Alchemie ſpukt in dieſem hervorragend inter-
eſſanten und höchſt lebendig geſchriebenen Roman um 1700. Eine kulturgeſchichtliche Studie von
hohem Wert und feiner Pinchologie.
Paul Steinmüller: „In Allmutters Garten“ (Türmer-Verlag, M 2.50). Als Herr auf
Holthof geht der Dichter durch die Jahreszeiten der Natur — offenen Herzens, beſeelten Auges
fängt er die Stimmen und Gefidte auf, die alles Leben in Wald und Feld erfüllt. Ergriffen tan-
det er die Schönheit, Gewalt und ſtille Tiefe der Dinge fernab der ſteinernen Stadt. Natur; und
BWanderfreunden ift das kleine Buch zunächſt zugedacht, allen anderen mag es die Augen putzen,
das Herz bewegen und Sehnſucht erwecken nach Allmutters Garten.
„Hölderlins Einkehr“ von Wilhelm Schäfer (Verlag Georg Müller, München). Oieſe
Novelle von Hölderlins irrender Wanderſchaft in Frankreich iſt eine Dichtung von außerordent-
lich gepflegter Sprachkunſt. Hölderlins Erdenferne und Götternähe, fein griechiſcher Schönheits ;
traum, der Hauch feiner Rhythmen — das alles webt in dieſer Novelle von vollendeter innerer
Form, in Worten, Bildern und Gleichniſſen, deren Glanz kaum noch überboten werden kann.
246 Bucher für Weihnachten
Der ſoeben bei J. F. Steinkopf, Stuttgart, erſchienene neue und große Roman von Wilhelm
Kotzde „Die Burg im Oſten“ — das Schickſal einer Ritterſchaft — (Preis M 10.—) kann hier
nur kurz angezeigt werden. Auf 650 Seiten entwickelt Wilhelm Kotzde in machtvoller Erzählung
das Schickſal der deutſchen Ordensritter im Often des Reiches, geftaltet deren Kampf und Unter-
gang zu einem bedeutenden heldiſchen Epos. Kotzdes Meiſterſchaft der kulturgeſchichtlichen Ver-
lebendigung bewährt ſich insbeſondere in dieſem Hauptwerk feines Lebens, das zugleich ein echtes
deutſches Volksbuch iſt. |
Lyrik
Es iſt ſchwer, über bedeutende lyriſche Werke auf kleinem Raum Weſentliches auszufagen, da
die beſte Anſchauung durch das zitierte Gedicht gegeben wird. Immerhin bietet das Schaffen der
Oichter, die hier genannt ſind, einen ungefähren Maßſtab für Weſen und Wert.
Die „Gedichte“ von Ricarda Huch (Verlag H. Haeſſel, Leipzig) tragen den Stempel der
Perſönlichkeit dieſer großen epiſchen Dichterin, find ſtarke Erlebniſſe Geiſtes und der Seele.
Lebensglut und Verklärung, zarteſte weibliche Naturhaftigkeit und philoſophiſche Gedanklichkeit
werden durch die klare, kühn geſchwungene innere Linie ihres Weſens verbunden.
Oer noch viel zu wenig bekannte bedeutende Erzähler Zulius Havemann gibt im Antäus-
Verlag, Lübeck, feine geſammelten „Gedichte“ heraus, mit der Widmung „Meiner Heimat“.
Eine ausgeprägte, ſtarke Perſönlichkeit ſchuf dieſe durchgeiſtigten, meiſt von leiſer Schwermut
durchtönten Gedichte von vielfältiger Form. Die ewigen und großen Gegenſtände der lyriſchen
Dichtung haben hier oft jene küͤnſtleriſche und eigenartige Geſtaltung gefunden, die zahlreiche
Gedichte unſerem Herzen unvergeßlich machen. |
Herbert Eulenbergs genialiih-romantifhes Dichtertum erglänzt in einer vollkommenen
Reinheit und Schönheit, wie fie ſeine Dramen und epiſchen Werke ſelten aufzuweiſen haben, in
den „Oeutſchen Sonetten“ (Verlag J. Engelhorn Nachf., Stuttgart). Hier iſt hohe Kunſt,
abſichtslos aus dem unfaßbaren Geheimnis der Schönheit ſtrömend, leuchtend und beglüdend.
Die Sonettform hat ihre akademiſche Haltung vor dieſen urſprünglichen Fluten des dichteriſchen
Genius aufgeben müſſen — Form und Inhalt find eins geworden.
Recht in unſere Zeit gehört „Der Fahnenträger“, unter welchem Titel Bruno Golz In der
Hanſeatiſchen Derlagsanftalt, Hamburg (Preis MK 6.—) eine Auswahl von Liedern und Balladen
des Grafen Moritz Strachwitz herausgibt. Wie aus Romantiter- und Ritterzeiten, wie
Schwertſchall, Gläſerklang und Harfenſchlagen wirken dieſe brauſenden Lieder, die großen Bar
laden vom heldiſchen Leben, von Todestreue, von Manneswürde, von Weibes Wonne. Oer
Weſenshauch dieſes Dichters des „Herzens von Douglas“ muß unſerer Jugend erhalten bleiben;
in ihm wogt das Leben, das nicht nach der Zahl, nach dem Genuß, nach dem Vorteil fragt, das
eherne Geſetze in der Bruſt trug und nach unſichtbaren Kraͤnzen rang. Das herrlich gebundene
Buch, auf Kunſtdruckpapier gedruckt, bildet eine befondere Überraſchung durch die Wiedergabe
zahlreicher Bilder von Alfred Rethel. Bild und Wort vereinigen ſich in gleicher Gefinnung zu
einem machtvollen Zuſammenklang.
Oer deutſche Gedanke
Die Gewißheit auf Deutſchlands Wiederaufſtieg aus den Nöten Leibes und der Seele zu neuer
Würde und neuem Wert gibt uns die Überall aufteimende Beſinnung. Aber dieſe eherne Zeit
will das Bewußtſein um den deutſchen Gedanken, da mit dem Gefühl allein lebendiges,
tätiges und ſchaffendes Weſen nicht geftaltet werden kann. Ausdrucks möglichkeiten, auf dieſem
Gebiete zu wirken, gibt es zahlreich, entſprechend der Vielfalt von Formen und Weſenheiten
des Oeutſchen.
Hugo von Hofmannsthal leitet die von ihm unter dem Titel „Oeutſches Lefebud*
(Verlag der Bremer Preffe, München, 2 Bände M 12.—) herausgegebene Auswahl deutſcher
Profaftüde aus dem „Jahrhundert deutſchen Geiſtes“, 1750—1850, mit den Worten ein: Es IR
Bacher für Weihnachten 247
nichts Geringes, ob eine Nation ein waches, literariſches Gewiſſen beſitze oder nicht, und gar die
unfere; denn wir haben nicht die Geſchichte, die uns zuſammenhalte — bis ins ſechzehnte Jahr
hundert haben wir keine Gemeinſamkeit aller Volksteile in Taten und Leiden, und auch das
Geiſtige iſt nicht gemeinſam. „Nur in der Literatur finden wir unſere Phyſiognomie, da blickt
hinter jedem einzelnen Geſicht, das uns bedeutend und aufrichtig anſieht, noch aus dunklem
Spiegelgrund das rätfelhafte Nationalgeſicht hervor.“ „Stil iſt ungerteilte Einheit des höheren
Menſchen“ — unter dieſem Geſichtspunkt wählt der Herausgeber Proſaſchriften aus jenem leuch-
tenden Jahrhundert höchſter Entfaltung deutſchen Geiftes. So ift ein Buch entſtanden, das eine
Quelle geiſtiger Bildung ift. Ein Schriften verzeichnis der hier vertretenen ſlebzig Geiſter wird
viele weiterhin anregen. Druck und Ausſtattung ſind jedes Lobes würdig. (NB. Wir urteilen
über dieſes Buch etwas zurückhaltender: man {pict bei der Auswahl den Aſtheten. H. T.)
Karl Weidel vereinigt in feinem Werk „Oeutſche Weltanſchauung“ (Hanfeatiihe Ver-
lagsanſtalt, Hamburg, M 8.—) Stimmen der großen Oeutſchen zu dem gewaltigen Thema, das
der Titel nennt. Bedeutend in geiſtigem Gehalt und in der Sprachformung, die einfach und warm
iſt, in der Beherrſchung des unũberſehbaren Materials iſt des Herausgebers Einleitung: hier kann
der bildungsfähige, einfache Deutſche aus dem Volke Stufen der Erkenntnis beſchreiten, die ihn
zum Gipfel führen, zur Schau der Welt aus deutſchem Geiſt und Herzen, aus ungetrübtem Auge.
Gn Buch aus heißer Liebe zum Volk geboren, rein und ſtark, wird es Führer fein konnen durch
die Wirrnis weltanſchaulicher und religiöfer Fragen und Wandlungen, auch durch die Irrtümer,
denen ſich noch fo viele Volksgenoſſen heute hingeben, indem fie Schlagwörtern und Cinfeitig-
keiten, der Enge und dem unklaren Gefühl ſich hingeben. Das ſchön ausgeftattete Werk enthält
zahlreiche gute Kunſtbeilagen.
Hermann Meyer, Rechtsanwalt in Leipzig, hat das längſt notwendige Buch geſchrieben,
das den geiſtigen und ſeeliſchen Weſensgehalt der voͤlkiſchen Erneuerungsbewegung welt-
anſchaulich beſtimmt und wiſſenſchaftlich begründet. Die völkiſche Bewegung wird nur ſein
und ſich entwickeln, wenn fie aus den Niederungen heutiger Parteipolitik als geiſtige Idee ihre
Menſchen ergreift und bildet. Das bedeutende und umfangreiche Werk, das unter dem Titel
Der deutſche Menſch“, Völkiſche Weltanſchauung und Deutſche Volksgemeinſchaft (im Ver-
lage J. F. Lehmann, München, M 9.—) erſchienen iſt, teilt fic in die beiden Abteilungen, die der
Untertitel angibt, und iſt auf den neueſten Erkenntniſſen aufgebaut. Allgemeinverſtändlich ge-
khrieben, weiſt dieſes erſte Buch geiſtiger Begründung des vöͤlkiſchen Gedankens in der Vielfalt
des Stoffes und ſeiner Behandlung eine Bedeutung auf, die im Rahmen dieſes Aufſatzes nicht
näher behandelt werden kann.
Dieweil die bedenklichen Friedensglocken von Locarno ein Zeitalter des Händlergeiſtes ein-
lauten wollen, regt ſich der Geift des heldiſchen Gedankens immer wieder ans Licht. Hans F. K.
Sdnther, der Verfaſſer der raſch weit bekannt gewordenen „Raffentunde des deutſchen Volkes“,
gibt in feinem Werk „Ritter, Tod und Teufel“ (Verlag J. F. Lehmann, & 4.50) eine Wefens-
beftimmung des heldiſchen Gedankens im Leben, in der Sittlichkeit, in der Staatskunſt, in Glau-
ben, Liebe und Runft. Das Feuer eigener Überzeugung und Leidenſchaft gibt dem Buch einen
hinreißenden Schwung, Wahrheit und Vorbildlichkeit, wie denn das Heldiſche tief und einfach
erfaßt wird als eine Kraft, die innerſt in der Seele daheim iſt. Insbeſondere ein Buch für die
denkende Jugend.
Den Helden felbft erleben wir an Oskar Fritſch' Oarftellung „Friedrich der Große“
(Verlag 3. F. Lehmann, München, & 5.—). Unter den vielen Fritzen Büchern hat das vorlie-
gende den Vorzug, daß es nicht ſo ſehr den Verfaſſer und allerhand Geiſtreichigkeiten zur Geltung
beingen will, ſondern nur dem „Helden und Führer“ dient, daß es keine Intimitäten und Akten,
keine langen Staatsaktionen vorbringt: Friedrich als der ſittliche Held, als der deutſche
Mannescharakter lebt hier und ſpricht zu uns in Worten und Taten, die immer wieder die
Herzen erfchüttern. Was Friedrich war und wie er ward — knapp und anſchaullch, unterftügt von
248 Bacher für Weihnachten
vielen Menzelſchen Zeichnungen und vor allem von 31 wundervoll ausgeführten Tiefdruckbildern
auf Tafeln, erzählt der Verfaſſer der deutſchen Jugend, der deutſchen Familie die Heldenmäre,
die einſt Leben war: und gewiß Leben bleibt in deutſchen Herzen.
Der Verlag Eugen Diederichs, Jena, hat ein neues und großzügiges Unternehmen begonnen,
eine illuſtrierte billige Reihe in farbigen Pappbänden: „Deutſche Volkheit.“ Es iſt eine Quel-
lengeſchichte deutſchen Volkstums, die hier geboten wird; Mythos, Glaube, Dichtung, Brauch
und Geſchichte find die Kulturprovinzen, aus denen dieſe Sammlung das Abbild der deutſchen
Volkheit geben will. Ein neues Mittel, Deutſchtum als Bewußtſein, als Beſitz von Blut und
Phantaſie zu geſtalten, Volkheit als Verbindung vieler Teile und Strömungen darzuſtellen.
Namhafte Herausgeber zeichnen für dieſe bedeutungsvolle Buchorganiſation; Druck, Papier und
Bildermaterial find ausgezeichnet und der Preis von 2 & für jeden Band ſehr billig. Es liegen
vor: Das Volksbuch von Barbaroſſa, Altgermaniſches Frauenleben, Marienlegenden, Alte
Bauernſchwänke, Landsknechtſchwänke, Pflanzen im Volksleben, Vlämiſche Sagen, Wendiſche
Sagen, Oäniſche Heldenſagen, Nordiſche Heldenſagen. Wir werden die Entwicklung des Unter-
nehmens weiter beachten.
Zur Literatur
Albert Soergel, der Verfaſſer der volkstümlichen Literaturgeſchichte „Dichtung und Oichter
der Zeit“ gibt ſoeben eine „Neue Folge“ unter dem gleichen Titel heraus, eine Schilderung
der deutſchen Literatur der letzten Jahrzehnte, mit dem Untertitel: „Im Banne des Erpref-
fionismus“ (R. Voigtländers Verlag, Leipzig, Gangl. K 24. ). Die Vorzüge des erſten Goergel-
ſchen Werkes weift auch die neue Folge auf: Objektivität, gute Stoffanordnung, klare und viel-
ſeitig abgehandelte Begriffsbeſtimmung des viel und oft falſch gedeuteten Expreſſionismus.
Soergel urteilt nicht ſchnell ab, ſondern erklärt das Weſen der Dichtung aus ihrer Zeit heraus,
geht dem Wollen dieſer Dichtung nach, aber auch den Urſachen und geiſtigen Wandlungen, die
dieſe Richtung möglich gemacht haben. In rund 900 Seiten entwickelt der Verfaſſer ein monu-
mentales Bild der deutſchen Literatur zwiſchen 1900 und 1920 — und gibt dem Zeitgenoſſen
fomit die Möglichkeit, aus dem verzerrten Antlitz der expreſſioniſtiſchen Kunſt die bedeutenden
und ſchickſalsmäßigen Züge zu erkennen, die weltanſchaulichen, ethiſchen, künſtleriſchen und poli-
tiſchen Tendenzen auseinanderzuhalten und zu verſtehen. Als Einführung, nicht als letztliche
Beurteilung, ift das Buch gedacht. Eine beſondere Bewertung verdient der überaus reiche bild;
neriſche Teil von 342 Abbildungen, zumeiſt von Kunſtwerken der Zeit, ferner Handſchriftproben,
Karikaturen ufw. Angeſichts des würdig und ſolide ausgeſtatteten, ſichtlich aus jahrelanger Mühe
und liebendem Mitgehn gewordenen Werkes, angeſichts der vielen kleinen und nur typiſch be;
merkenswerten Geiſter, die hier Darſtellung finden, angeſichts auch der ewigen ſtillen Tragödie
vom Verſchweigen und Beiſeitelaſſen deſſen, was nicht laut im allgemeinen Chore tönt, möchten
wir wünfchen, in der neuen Ausgabe des erſten Teiles alle diejenigen dargeſtellt zu finden, die
im deutſchen Geiſte ſeit 1900 Bedeutendes ſchufen. Das ift uns Soergel nach dieſem Doku-
ment der Objektivität doppelt ſchuldig! [Wir unterſtreichen dieſen Wunſch auf das ſtärkſte; es geht
doch nicht an, in einem breiten Buche über die Zeit von 1900 bis 1920 Namen wie Bonſels, Löns,
Lienhard, Lilienfein, Schaffner, König, Geude, Renner uſw. überhaupt nicht zu nennen! O. L.]
In die nicht leicht verſtändliche, aber ewiger Schönheit volle dichteriſche Welt Hölderlins führt
den literariſch nicht beſonders Vorgebildeten Beate Berwin mit ihrem Buch „Friedrich
Hölderlin“ (Union, Stuttgart, 4 4.—) trefflich ein. Ganz durchſichtig klar und in knappem
Rahmen erſchöpfend gibt Beate Berwin nach einer Darſtellung des Lebens eine Einführung in
die Gedanken- und Formwelt dieſes edlen und echt deutſchen Schönheitsſuchers und Griechen
teäumers. Die Reinheit und Harmonie dieſes Dichtertums kommt in dem ſchlicht geſchriebenen,
befeelten Buch zur Geltung, wie das eigentümliche Weſen Hölderlinſcher Sehnſucht. Zahlreiche
Zitate unterftügen die Anſchaulichkeit der Darſtellung; Abbildungen und Handſchriftprobe er-
ganzen fie.
5: “a *
—— —
Biicher für Weihnachten = 249
Es gibt doch immer wieder etwas, was nod nicht dageweſen ijt: Aus dem unüberfehbaren
Schatz deutſcher Briefliteratur hat Dr. Hans Zimmer einen über 400 Seiten ſtarken Band
„Hichterweisheit in Briefen“ (Türmer-Verlag, K 9.—) zuſammengeſtellt und damit ein
notwendiges und echtes deutſches Hausbuch geſchaffen, von großer kultureller, insbeſondere päd-
agogiſcher Bedeutung. Aber auch für den praktiſchen Gebrauch im Berufe, für die Schriftſteller,
Lehrer, Geiſtliche und Redner iſt das Buch ein neuer und reicher Behelf, durch ein wohlgewähltes .
Zitat zu zünden und zu bilden. Das Buch iſt bereits im „Zürmer“ beſprochen; es genüge dieſer
Hinweis.
Geſamtausgaben
Friedrich Lienhards „Geſammelte Werke“, deren erſte Reihe, die erzaͤhlenden Werke,
in 4 Bänden Weihnachten voriges Jahr erſchienen find, kommen ſoeben mit zwei Reihen, Lyrik
und Dramatik 5 Bände, Gedankliche Werke 6 Bände, zum Abſchluß. Damit liegt das Schaffen
von drei Jahrzehnten vereinigt in würdiger Ausſtattung, weißem Leinenband mit feiner Gold-
derjierung, vor. Zwiſchen der Vernuͤchterung und flachen Aufklärung des 19. Jahrhunderts und
den beiden periodiſchen Literaturepochen des Naturalismus und Expreſſionismus ward von
wenigen ein Weg zum deutſchen Idealismus freigehalten, den heute die deutſche Erneuerungs-
bewegung beſchreitet. Zu dieſen wenigen Wegbereitern und Platzhaltern gehört Friedrich Lien-
bards Werk — und darum immer ins Haus und Herz der Deutſchen.
Conrad Ferdinand Meyer, deſſen 100. Geburtstag am 10. Oktober gefeiert worden iſt,
gehört ohne Zweifel zu den großen deutſchen Künſtlern monumentaler epiſcher Dichtung und
formedelſter Lyrik. Glanz und Größe der Stoffe, die zumeiſt hiſtoriſch find, fanden überwälti⸗
genden ſprachlichen Ausdruck. Die Landſchaftsſchilderung, beſonders der ſchweizeriſchen Heimat
der Alpen und blühenden Täler, zeugt für ein zartes Gemüt, wie die Wucht und der Ernſt der
Schickſale für die ethiſche Tiefe des Charakters. Die Lyrik vereinigt die einfachſte Naturempfin-
dung mit dem großen Zug gedanklicher Dichtungen und der dramatiſchen Kraft der Ballade.
Unerreicht ſind viele Gedichte in der vollendeten Form. So wird der Dichter immer ein bleibender
und bedeutender Stern am Himmel deutſcher Oichtkunſt fein. Der Verleger Conrad Ferdinand
Meyers, H. Haeſſel in Leipzig, hat jetzt eine vierbändige Dünndrudausgabe der Werke heraus“
gebracht (& 40.—), die durch eine ausgezeichnete und kenntnisreiche Studie von Robert Faeſ
über Leben und Schaffen eingeleitet wird. Auch dieſe ſchöne Ausgabe iſt ein beſonders feſtliches
Geſchenk für den Weihnachtstiſch.
Lebensbeſchreibungen
Oer 70jährige Dichter Ernſt von Wolzogen, der feine Humoriſt, ſchreibt unter dem Titel
„Wie ich mich ums Leben brachte“ (Verlag Georg Weſtermann) feine Erinnerungen und Er⸗
fahrungen. Das Buch ijt meiſterlich geſchrieben, voll Witz, Scherz, Zronie und tieferer Bedeutung,
führt eine Fülle von Geſtalten aus dem literariſchen und künſtleriſchen Leben vor, insbeſondere
um die Jahre 1890 bis zur Jahrhundertwende, und endet mit einem Aufruf und Bekenntnis zu
den deutſchen Idealen und zum deutſchen Menſchen. Ein überaus vergnüglich zu leſendes Werk.
Der 60 jährige Bodenreformer Adolf Damaſchke erzählt fein Leben in dem kultur; und zeit;
geſchichtlich überaus bedeutſamen Erinnerungsbuch „Aus meinem Leben“ (Verlag Greth-
lein & Co., Leipzig). Der Aufſtieg vom Kind der einfachen Handwerkerfamilie aus den Miets-
kaſernen Berlins zum Führer einer der zukunftsträchtigſten ſozialen Bewegung, zum Dottor der
Rechte ehrenhalber, zum vielgeleſenen Schriftſteller und Redner, führte über die deutſche Volks-
ſchule, und durch die Zielſtrebigkeit eines ſtarken Charakters zur Entwicklung einer bedeutenden
Perſönlichkeit.
General Eduard von Liebert, der 70jährige, berichtet ein Stück politiſcher und militärifcher
Geſchichte in feinem Erinnerungswerk „Aus einem bewegten Leben“ (Verlag 5 a: Leh-
der Tirmer X XVI, 3
250 Bucher Me Weihnachten
mann, München, M 7.—). Das Leben eines Patrioten, eines Streiters für deutſche Macht und
Größe, entwickelt ſich hier in manchmal dramatiſchen Bildern. Bei der Truppe, im Kriegsmini-
ſterium, im großen Generalſtab, als Gouverneur von Deutſch-Oſtafrika, als Politiker, wiederum
als Heerführer im Weltkriege, begleiten wir den Verfaſſer in ſeinem Wirken, das vorbildlich iſt
für die Erziehung der deutſchen Jugend zu Mannhaftigkeit, Ehrenhaftigkeit und Baterlandsliede.
Für die Jugend
In die edelſte deutſche Sagenwelt führt die deutſche Jugend Leopold Weber mit den erzäh-
lenden Werken „Dietrich von Bern“, „Die Hegelingen“, „Asgard“ und „Midgard“.
Neben den Götterfagen erhebt ſich die germaniſche Heldenſage durch die Kraft und Unbedingtheit
ihres Ethos zur un vergänglichen Geltung. In dieſem Reich der Gage find die Wurzeln oder zu-
mindeſt früheſte Ausdruckskrafte nordiſch-deutſcher Sittlichkeit, die heldiſch ift und klares Ja und
Nein. Leopold Weber hat dieſe Sagen neu geſtaltet und ſprachlich für unſere Zeit verlebendigt
in einer Form, die die Erzählung fließend entwickelt und durch die Kraft der Anſchaulichkeit zur
ſpannenden Lektüre macht. Die ſchönen Einbände und die Orucktypen find dem Inhalt angenähert
und ergeben eine einheitliche Wirkung.
Im gleichen Verlag (K. Thienemann, Stuttgart) liegen in neuer Auflage und in neuen,
Schönen Einbänden Eberhard Königs ſtarke Zugenderzählungen vor: „Der Dombaumeifter
von Prag“ und „Ums Heilige Grab“. Die erſte Erzählung behandelt das Lebensſchickſal des
Sombaumeiſters Peter Parler, die andere den Kreuzritterkampf ums Heilige Grab. Die kernige,
mannhafte Sprache, der hiſtoriſch überaus lebendige Hintergrund, die bedeutende Charakter-
zeichnung der führenden Geſtalten — dieſe Elemente ſchufen echt jugendtümliche Bilder von
ſtarker Eindrucks kraft.
Ebenfalls bei Thienemann, Stuttgart, erſcheint feit Jahren das „Oeutſche Knaben buch“
und das „Deutſche Mädchenbuch“: beide Bücher kann man Jahr um Jahr heranwachſender
Jugend auf den Weihnachtstiſch legen. Oasfelbe gilt von den entſprechenden Veröffentlichungen
des Verlages Herder & Co. in Freiburg i. Br., z. B. „Die Frühlingsreiſe“, ein Buch für
junge Mädchen, herausgegeben von Charlotte Herder und „Der ährmann“, ein Buch für
werdende Männer.
Naturwiſſenſchaft und Märchenwelt, Fabel und Tatfachen vereinigt in famoſer friſcher Sprache
das Werk „Max Butziwackel, der Ameiſenkaiſer“, von Luigi Bertelli, deutſch von Luiſe von
Koch, mit zahlreichen Zeichnungen von Karl Elleder. Ein Buch von köſtlicher Erfindung und fin-
niger Naturbetrachtung, das nicht nur die Jugend, ſondern auch die „Alten“ anregen und be-
ſtimmen wird. Der Verlag Herder & Co. hat dieſem ergdgliden Ameiſenkaiſer (ein unartiges,
müßiges Buͤrſchchen, das in eine Ameiſe verwandelt wird und nach genügend Erfahrungen und
Lehren als ein brauchbares Kerlchen zurüdverwandelt ~~ ein fürftlides Gewand (zum bil-
ligen Preife von 4.50) gegeben.
Unter dem Titel „Der deutſche Spielmann“, 8 Dr. Exnſt Weber, erſcheint bei
Georg O. W. Callwey, Münden, ein eigenartiges und bedeutendes Unternehmen. In Bändchen
von etwa 80 Seiten werden Auswahlen aus dem Schatze deutſcher Dichtung geboten, geordnet in
ſinnvoller Form, alle originell von lebenden Künſtlern farbig und ſchwarzweiß illuſtriert, auf
gutem Papier vorzüglich gedruckt. Aus Erzählung und Verstunft iſt das Beſte gefhöpft, was der
Jugend und dem Volk dargeboten werden kann zur Freude und Belehrung, zur Beſinnung und
Führung. Heiter und licht iſt die ganze Sammlung, tiefjinnig und vielfältig und ganz beutfd.
Es hält ſchwer, die Stoffgebiete zu kennzeichnen: es iſt halt alles da, Geſchichte, Landſchaft, Sage,
Jahreszeiten, Fabelreich, Gejpeniter ... und alles volkstümlich, einladend, gehalt: und wertvoll.
In dieſer Art und Billigkeit eine einzigartige Leiſtung von bunter Auswahl, da bereits 40 Bänb-
chen vorliegen. (Preis 4 1.20.)
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Bader über biidenbe Runt 251
Für die Jüngſten
Über Kinderbücher dürften nur Leute ſchreiben, die ſelbſt Kinder haben und die Wirkung der
Bücher an ihnen erprobt haben. Das ift hier der Fall! Der Bilderbücher Verlag Zoſ. Scholz,
Maing, iſt der alljährliche Lieferant all der bunten, feligen Kinderfreude, da ijt diesmal ein
„Nein -Kinder - Buch“ mit Verſen von Frida Schanz und den immer wieder prächtigen Bildern
von Lia Doering, von jener Kinderanſchaulichkeit, die den kleinen Leutchen die Augen blank,
die Baden rot macht und ihre Händchen in Bewegung fest. Far die bißchen größeren Kinder
haben beide Kuͤnſtlerinnen ein frdhlides Werkchen „Kinder und Blumen“ geſchaffen, darin viel
buntes Blumenleben, ein prächtiger Hochzeitszug und echte Kinderverſe. Wiederum für mehr-
jährige Kinder iſt das Bilderbuch: „Für Buben und Mädels“ beſtimmt, wahrend das köſtliche
Auswahlbuch „Goldene Ernte“ mit Liedern und Gedichten deutſcher Dichter und den voll-
endet märchenhaften und entzückenden Bildern von Hans Schroedter ſchon für die Abefhüßen
in Betracht kommt. Einen reizvollen Anſchauungsunterricht über Leben und Verkehr, über die
Großſtadt bieten zwei andere dauerhaft gebundene Kinderbücher, die insbeſondere in der Klein-
ſtadt und auf dem Lande begrüßt werden: „Ein Spaziergang durch die Großſtadt“ mit Bildern
von Rob. Fuchs, Verſen von Rich. Klement, und „Leben und Verkehr“ mit Bildern von Fof.
Danilowatz und Verſen von Rich. Klement. Wieviel haben die Augen zu feben, wieviel Anlaß zu
Fragen und Lachen und Freude, wie heiter und leicht die Verſe!
Franz Alfons Gayda
NB. Wir bitten die Lefer, in Ergänzung zu dieſem Überblick auch den „Büͤchertiſch“ noch zu
berüdfichtigen. Es iſt unmöglich, die ganze Fille der (oft zu ſpaͤten) Eingänge zu berüdfichtigen.
Bücher über bildende Kunſt
Alle Kmſtgeſchichten, mögen fie nun Malerei, Muſik oder Dichtung behandeln, find — fo-
fern fie nur von einem Verfaſſer herrühren — notwendigerweiſe beſchränkt und ein-
kitig. Es ift bei der Ausdehnung der Gebiete nicht denkbar, daß ein einziger Kopf den Stoff
volfländig beherrſche und kenne; gewiſſe Unebenheiten werden darum unvermeidbar fein.
Anders freilich, wenn verſchiedene Mitarbeiter tätig find und jeder nur innerhalb der Grenzen
heimiſch bleibt, die ihm Studium und Liebhaberei angewieſen. So finden wir es auch bei der
allbekannten und mit Recht geſchätzten Kunſtgeſchichte von Springer, deren erſter Band
ms vorliegt (Kröner, Leipzig) und durchaus würdig, äußerlich wie innerlich, auf den Plan
kitt, Diefe zwölfte Auflage, umfaffend die Kunſt des Altertums, wurde von Paul Wolters
bearbeitet. Vortrefflich vor allem die zahlreichen Abbildungen, die ja erſt die wahre Anſchauung
befördern; aber auch der Umfang iſt beträchtlich gewachſen. Diefer erſte Teil umfaßt den Orient,
Siedhenland und Stalien. Neueſte Forſchungsergebniſſe wurden verwendet, der Text iſt flüffig
und ohne unnötige fachwiſſenſchaftliche Auswüchſe. Auffallend gering iſt dagegen die ur-
germaniſche Kultur beriidjidtigt; oder wurde fie dem zweiten Bande vorbehalten? Es würde
zu weit führen, Einzelheiten zu betrachten; unſeren Leſern genüge der Hinweis, daß hier ein
zuderlaſſiger, gründlicher Führer geboten iſt, dem man ſich wohl anvertrauen darf. Mögen die
folgenden Teile ebenſo günftig und wirkſam fein! — Ein Sondergebiet behandelt Otto Höver
in feiner „Vergleichenden Architekturgeſchichte“ (Allgemein. Verlagsanſtalt, München),
einem Werte, das trotz mancher anregenden und fleißigen Durchführung dennoch unbefriedigt
läßt. Es iſt nicht der durchaus katholiſche Standpunkt, der verſtimmt; aber die einfeitige Ver
hertlichung des „deutſchen“ Barocks mutet fonderbar und fragwürdig an. Barock iſt eben un-
deutsch, iſt Fremdgut; es mag wohl kirchlich; atholiſchem Empfinden nahe fein, niemals aber
germaniſchem. Und darum hat dieſe Arbeit, die übrigens auch mit guten Abbildungen gezlert
252 Bücher über Bildende ung
ijt, keinen überzeugenden Eindruck erwecken können. — „Orbis Piotus“ heißt eine neue,
ſchmucke Sammlung (Exrnſt Wasmuth, Berlin), die in einzelnen ſchmalen Bänden gewiſſe
Einzelgeblete der Kunſt behandelt; die Einleitungen ſind zumeiſt knapp und kurz; die Bildet,
gut in der Wiedergabe, ſollen Anregungen vermitteln. Es liegen folgende Bände vor: Indiſche
Baukunſt; Alteſte deutſche Malerei; Altruſſiſche Kunſt; Fflamifdhe Baukunſt; Mittelalterliche
Elfenbeinarbeiten. Man kann ſich der einzelnen Studien erfreuen, wenn auch für den Laien
mitunter eine nähere Auskunft erwuͤnſcht wäre, damit er fic beſſer und ſicherer zurechtfinde.
Als Beigabe zu jeder KNunſtgeſchichte aber werden dieſe Abhandlungen ſicherlich ihren Zweck
erreichen. — Wie alles, was Hans Much geſchrieben, fo ift auch fein neueſtes Buch „Rings
um Zeruſalem“ (Einhorn -Verlag, Dachau b. München) voll wichtiger und guter Aufſchlüͤſſe.
Dieſe Briefe, geſchrieben auf zwei Tuberkuloſe-Forſchungsreiſen durch Paläſtina, befaffen ſich
befonders mit kuͤnſtleriſchen Fragen. Much hat helle Augen, klaren Blick; was er ſagt, über-
zeugt und regt zu weiteren Studien an. Ein Kapitel wie dasjenige über Heimatkunſt ſollte
namentlich in der Gegenwart immer wieder beachtet werden. Dem fdin gedruckten Werle
ſind einige treffliche Bildtafeln beigegeben. — Nun ein Blick in die Kultur unſerer Vorfahren,
die man bisher fo jpärlich beachtet und viel zu gering gewertet hat. Georg Wilke unterſucht
„Die Religion der Indogermanen in archäologiſcher Betrachtung“ Curt Kabitzſch,
Leipzig); man ift noch viel zu wenig den Quellen unſerer Geſittung und Geſinnung nach
gegangen, hat ſich zumeiſt mit Vermutungen oder Ablehnung ſogenannter barbariſcher Zeiten
begnügt; wer genauer zuſieht, wird ſehr bald finden, daß diefe als roh verſchrienen Völker
einen wertvollen Beſitz ſelbſterrungener Güter ihr eigen nennen durften. Der Verfaſſer bietet
eine Fille feſſelnden und überzeugenden Materials, nebſt nützlicher Textabbildungen. Auch
das kleine, aber ſehr unterrichtete Büchlein „Aus Oeutſchlands Urgeſchichte“ von
G. Schwantes (Quelle & Meyer, Leipzig) kann warm empfohlen werden und follte be-
fonders von Lehrern fleißig benutzt werden. Wer nach Lektüre dieſes an ſich jo knappen Bänd-
chens nicht erkennt, daß unſere Altvordern keineswegs die „Barbaren“ und „Hunnen“ waren,
als die man fie heute noch ablehnen mochte, an dem iſt jeder Bekehrungsverſuch umſonſt.
Ins Mittelalter führt uns „Der Cicerone“ von Jacob Burckhardt, der jetzt wieder in
feiner Urgeſtalt erſchienen iſt (Alfr. Kröner, Leipzig); das an fic ſehr wertvolle Buch hat feine
Wirkung geübt, freilich — wie nicht zu überſehen iſt — in einer durchaus undeutſchen Art,
indem der Renaiffance und ihrer individualiſtiſchen Rultur eine viel zu nachdrückliche Be
deutung für unſer Geiſtesleben überlaſſen wurde. Burckhardt, der einem Rembrandt gegen;
über von ſchmachvollſter Unkenntnis war, hat ſchließlich nur noch der römiſchen Welt ein Da-
ſeinsrecht zugegeben. Und nun blicke man etwa nach Marburg und ftudiere einmal aufmerk
ſam die umfangreiche, emſige Arbeit über „Die Eliſabethkirche zu Marburg und ihre
künſtleriſche Nachfolge“ (Kunſtgeſchichtl. Seminar zu Marburg), die Rich ard Ham ann
und Kurt Wilhelm Käſtner beſorgt haben. Dieſer erſte Teil beſchränkt ſich nur auf die
Architektur, und ſchon hier iſt eine erſtaunliche Menge überraſchender, aufſchlußreicher Tat-
ſachen ausgebreitet. Nach Limburg, Wetzlar, Haina, Wetter, Friedberg werden die deutlichen
Spuren verfolgt, und fo gewinnt man einen überaus gründlichen Einblick in die Baugeſchichte
dieſer altberühmten, ehrwürdigen Kirche. Nach Erſcheinen des zweiten Bandes wollen wir
ausführlicher das Werk betrachten. Hier mag auch gleich die hübſche, bildergeſchmuͤckte Schrift
von Joſeph Boymann, „Marburg als Runftitadt“ Erwähnung finden (derſ. Verlag),
die ſehr unterhaltſam und aufklärend alles Wiſſenswerte beibringt und darum allen Beſuchern
Marburgs willkommen fein wird. — Köſtliches und wahrhaft Germaniſches bietet das prad-
tige Werk „Oeutſche Bildhauer des 13. Jahrhunderts“ von Hans Zantzen (Infel-
verlag, Leipzig). Die Dome von Straßburg, Bamberg, Naumburg und Magdeburg werden
mit einer Gründlichkeit und ſachlichen Wärme behandelt, daß man empfindet, welch un ver
gänglich große, ragende Kunſtwerke hier zu einer armen und getnedteten Gegenwart reden,
Bucher Ader bildende Runft 253
mahnenb, warnend, aufridtend. Ja, es ift etwas Wundervolles um fold bobenftdndige Runft,
um fold fromme Aufrichtung! Oer Verfaſſer verfteht es, fein Thema feffelnd zu entwickeln;
die Bilder find ausgezeichnet und beſonders wirkſam. — Zn der tüchtigen, von Hans Much
herausgegebenen Reihe der Norddeutſchen Heimatbücher hat Oskar Beyer einen Bei-
trag zur „Norddeutſchen gotiſchen Malerei“ geliefert (Weſtermann, Braunſchweig). Es
find ja beſonders Meifter Bertram und Meiſter Francke, die in Betracht kommen; wer einmal
in der Hamburger Runfthalle vor ihren Bildern geftanden, der wird wiſſen, welche Schätze hier
faſt unbeachtet waren. Beyer ſuchte vor allem den geiſtigen Hintergrund jener gotiſchen Ge-
ſinnung und Auswirkung zu geben; er hat vornehmen und ſicheren Tones ſich ſeiner Aufgabe
entledigt, indem er vor allem auch das bisher geltende Bild der Gotik ſehr richtig nach der nord-
deutſchen Geſtaltung diefer urgermaniſchen Kunſtrichtung korrigiert und klarſtellt. — Willy
Paſtor, dem wir fo manches aufſchlußvolle Buch über deutſche Art verdanken, hat nun auch
fiber Rembrandt geſchrieben (9. Haeſſel, Leipzig), und wie innerlich, wie ergriffen und er-
greifend! Er behandelt dieſen Difiondr zugleich als den Geufen, den Eingeſeſſenen, Boden
ſtandigen. Das gar nicht umfangreiche Buch bringt mehr Erlebtes als mancher gelehrte Walzer,
weil es aus perſönlichſter Teilnahme erwachſen iſt.— Oer Neuzeit nähern wir uns mit dem
entzüdenden Büchlein über „Schwediſche und Norwegiſche Kunſt feit der Re-
naiſſance“ von Albert Dresdener (Ferd. Hirt, Breslau); ijt doch eine fo verwandte Kunſt
bier gegenwartig, die ſich zwar auch nicht den Einflüffen von außen verſchlie ßen konnte — nicht
immer zum Vorteil —, aber doch, wie die Bilder beweiſen, die beigefügt find, bis heute Kraft
und Friſche bewahrt hat. Das gleiche gilt von der „Modernen Malerei der deutſchen
Schweiz“, die Wilhelm Schäfer zu deuten unternimmt (9. Haeſſel, Leipzig); wer könnte
Namen wie Hodler, Welti, Böcklin oder Buri überſehen! Auch hier eine aufrechte, ehrlich ge-
willte Runft, trotz mancher Übertreibungen und „Modernitäten“, die nun einmal nicht zu ver-
meiden find, wo man nach neuen Tönen ringt. Übrigens iſt Schäfers Text ſehr klar und takt⸗
voll gehalten. Einer dieſer Schweizer Maler, Ernſt Würtenberger, hat auch über den kuͤrz⸗
lich verſtor benen Altmeiſter Hans Thoma ein recht unterhaltſames, aus perſönlicher Kenntnis
geſchrie ben es Büchlein veröffentlicht (Rotapfelverlag, Erlenbach - Zurich), das mancherlei kleine
Züge dieſes einſt fo bitter verkannten Schwarzwäldlers nahebringt, u. a. einige Ausfpride,
bie fo recht das un verdorbene Weſen Thomas offenbaren, etwa das Scherzwort: „Das Wort
Kunſt kommt von Können; wenn es von Wollen käme, fo müßte es Wulſt heißen.“ — Einem
andern deutſchen Rinftler, Ludwig Fahrenkrog, gilt eine ſehr anſprechende Monographie
von Kurt Engelbrecht (Verlag der Schönheit, Dresden), die aber vor allem Wert empfängt
durch die zahlreichen, zumeiſt vorzuͤglichen Bildbeigaben, aus denen man dieſen eigenwilligen,
jo durchaus germaniſch beſtimmten Maler lieb gewinnen muß, auch wo ſich Idee und Aus-
führung nicht immer vollkommen einen, wo der Gedanke in ber Form nicht reſtlos aufgegangen
it. Zmmer aber fühlt man den hohen Willen, die unbeugſame Rraft, die Sehnſucht nach innerer
Schönheit, die zum Lichte ringen.
Zum Schluß ein paar Mappen. Da iſt zunächſt das „Oeutſch-Römiſche Skizzen buch“
(O. C. Recht, Minden), eine Gabe für alle Freunde der Romantik, denn hier find in vor-
trefflicher Wiedergabe Handzeichnungen namhafter Künſtler aus dem Beginn des vorigen
Jahrhunderts vereinigt: Koch, Fohr, Horny, Schnorr, Rohden, Richter, Preller u. a. Wieviel
Liebe und Sorgfalt redet aus dieſen Blättern, un verwüſtliche Treue und Freude am Schaffen!
Eine köſtliche, herzlich zu begrüßende Gabe, der man nur eine Fortſetzung bzw. Erweiterung
winfden möchte. — Ein anderer glidlider Gedanke war es, die vergeſſenen Stahlſtiche Lud;
wig Richters aus dem Harze neu herauszugeben (Schwanecke, Quedlinburg); bisher ſind
zwei Reihen erſchienen, die uns die Berechtigung dieſer wertvollen Ausgrabung vollkommen
erkennen laſſen. Wir wünfchen dem ſchönen Unternehmen weiteres Gedeihen und einen reichen
Erfolg. Vielleicht findet ſich auch einmal ein Verleger, der Richters Stahlſtiche aus Franken
254 Unfere Runfidellogen
neu veröffentlicht. — Nachdem Philipp Otto Runge Auferſtehung gefeiert, findet man überall
Nachbildungen ſeiner Werke; ſelten aber wird man ſo große, klare, fehlerloſe ſehen, als die drei
Mappen, die Ludwig Benninghoff unter dem Titel „Runge und die Myftil", „Runge
und der Menſch“ und „Runge und die Natur“ zuſammengeſtellt hat (Hanfeatifhe Ver⸗
lagsanſtalt, Hamburg). Es gehört ſicherlich zu den ftärkiten Eindrüden, wenn man in der Ham-
burger Kunſthalle vor Runges Gemälden ſtehen darf und erkennen kann, daß dieſer Fruͤhver⸗
blichene keineswegs nur ein ſtarker Theoretiker, ſondern auch ein ſehr unmittelbarer Ranfiler
geweſen iſt, der ſehr wohl zu malen verſtand (was man den Nomantikern ſo gern abgeſtritten
hat). Fehlen auch hier die Farben, fo wird doch die fchöne Wiedergabe zu entſchaͤdigen wiſſen;
der begleitende Text iſt voll Wärme und Verſtändnis, wie denn dieſe drei Mappen eins der
wertvollſten Geſchenke bedeutet, die uns letzthin beſchert worden find. — In das ftille Weimar
führen uns ſodann zwei ſehr anmutige Sammelbücher, die der raſtloſe Wilhelm Bode zu-
ſammengeſtellt hat: „Das Leben in Alt Weimar“ und „Damals in Weimar“
(Y. Haeſſel). Wer die ehrwürdige Klaſſikerſtadt kennt, wird an den beiden reizenden Büchern
beſondere Freude erleben; aber auch jeder Außenſtehende muß alsbald erkennen, daß hier ein
Stück Rultur gerettet iſt, das beinahe wehmütig in unſere verworrenen Tage hinüberklingt, —
eine Vergangenheit, in die man ſich ſo gern und dankbar verliert. Manche bisher unbekannte
Bilder find hier vereinigt, fo daß auch der Kunſtkenner gewiß auf feine Roften kommen wird. —
Karl Thylmann, der früh Verſtorbene, iſt mit einer anmutigen „Märzſerie“ vertreten
(Verlag Der Kommende Lag, Stuttgart), die uns den Verluſt des verheißungs vollen Rünftlers
von neuem ſchmerzlich fühlen läßt; eine kleine Mappe „Burgen und Schlöſſer aus dem
mittleren Saalegau' wird allen Thüringern lieb fein; die ſauberen, mitunter etwas flachen,
aber ſehr eindringlichen Zeichnungen Max Schambergers werden begleitet von ſachkundigen
Ausführungen Otto Engelhardts (Hohe Schwarm -⸗Verlag, Saalfeld i. Thür.). — Ben Be-
ſchluß aber möge ein Rünftler bilden, deſſen hier ſchon (Dezember 1924) ausfuhrlich vom Heraus
geber gedacht wurde, der es aber verdient, daß man nochmals auf ihn hinweiſe: F. Haß.
Seine Mappe erſchien bei Otto Wilhelm Barth, München ; eingeleitet von Mid. Georg Conrad.
Nun erſcheint mir dies das Beſtimmende: daß die „okkulten“ Erlebniffe und Bilder fo reſtlos
kuͤnſtleriſch geſtaltet find; daß hier trotz perſönlichſter Exfahrniſſe dennoch eine gewiſſe Objettivi-
tät erreicht wurde. Dieſe ſieben Bilder gehören zu den ſtaärkſten Eindrüden, die ich in den letzten
Jahren gewonnen babe, weil hier ein Rünftler am Werke iſt, der ſich nicht im Abſtrakten ver-
liert (alle Ideen malerei bleibt letzten Endes befangen und nur für den Schaffenden ſelbſt über!
zeugend), ſondern das, was er zu künden hat, in einer Form gibt, die zwar das Letzte verſchweigt
oder nur andeutet — wie alle große Kunſt —, dennoch aber ihre ernſte Einſamkeit nicht eifer-
füchtig verſchließt, ſondern für alle Teilnehmenden ausſtrömen läßt zu Gewinn und Gegen.
Ernſt Ludwig Schellenberg
Unſere Kunſtbeilagen
an muß die drei Bilder unſeres Weihnachtsheftes eigentlich in folgender Reihenfolge be-
trachten: 1. Chriſtus naht der Welt, 2. Chriſti Geburt, 3. Maria mit dem Kinde. Aber
den myſtiſch geſtimmten Künſtler Fritz Hab haben wir uns ſchon früher im Tuͤrm er ausführ-
lich und anerkennend geäußert. Sein Chriſtus naht aus geheimnisvollen Tiefen unſrem liebeloſen
Stern, der zu erſtarren droht; er kommt als Licht und Liebe, als kosmiſche Sonne und ſtrahlt
die verhärtete Menſchheit erwärmend an. Oieſes kosmiſche Ereignis hat ſich in dem zweiten
Bilde (Chriſti Geburt) noch ſtärker herausgeſtaltet; die Lichtgeſtalt ift dem großartig überleuchteten
Planeten Erde nun ganz nahe. Und im dritten Bilde des Malers W. Zuttner ſehen wir die
Geburt vollzogen: Chriſtus liegt in Kin desgeſtalt auf dem Schoße der nährenden Mutter. Oer
im. m -
NONE anf Gepeent 1025 255
Sdnee rund herum („mitten im kalten Winter“: auch der Herzen ) iſt angeleuchtet von der
monumental aufgefaßten Gottesmutter, dieſem Gefäß der Gottheit. Die Geftalt der Madonna
wirkt wie ein Kirchenfenſterbild in eigenartig eindrucksvollen Farben.
Pie drei Bilder in ihrer Zuſammenfaſſung haben meditativen Wert. Sie tönnen jeden be-
ſinnlichen Beſchauer zu vertlefter Auffaſſung des Chriftus-Ereigniffes anregen.
Über den München er Runſtmaler Fritz Haß haben wir, wie gefagt, bereits im „Türmer“ be-
tichtet (Oez. 1924, S. 24 ff.). Willy Züttner lebt (ſeit 1911) gleichfalls in München. Er iſt
1886 zu Leubus in Schleſien geboren, hat die Runftatademie in Breslau beſucht und ſich durch
Studienreiſen nach Holland und Paris vervollkommnet. Er hat einen ausgeſprochen en Sinn für
das Dekorative, fo zwar, daß er durch feine überraſchend klingenden Farben und durch höhere
konſtruktive Werte gerade hierin echte Nuͤnſtlerſchaft zeigt.
Rückblick auf Bayreuth 1925
aß die Spiele im vorigen Jahr überhaupt wiederaufgenommen werden konnten, war eine
Groftat. An geweihter Stätte fanden ſich viele altgetreuen Bayreuther, die ein Wieber-
ſehen kaum mehr zu hoffen gewagt, mit neuem Lebensmut zuſammen. Von feindlicher Seite
war mancher Einwurf und Vorwurf zu erwarten, vornehmlich die Behauptung der Rüdftändig-
keit gegenüber den andern Theatern, wenn Bayreuth sunddft ein fach an die Überlieferung von
1914 wieder antnüpfte. Um die Kräfte zu prüfen, war doch nur dieſer Weg gangbar und, wie
ſich alsbald zeigte, mit ſchoͤnſtem Erfolg.
der Wiederaufnahme von 1924 folgte 1925 ein gewaltiger Fortſchritt, der ſich auf allen
Gebieten bemerkbar machte. Dem Feſtſpielgaſt fiel zuerſt die Erweiterung des Hauſes ins
Auge. Urſprünglich (1876) waren nur die beiden Hauptteile, das hochragende Bühnen haus und
der niedrigere halbrunde Zuſchauerraum errichtet worden. Bereits 1882 kam der Vorbau als
Aufgang zur Rönigslaube hinzu; bald folgte ein Anbau rüdwärts an der Bühne zur Aufbewah-
tung der Ausſtattungsgegenſtände. Oieſer Anbau iſt jetzt beträchtlich vergrößert worden, in
feinem untern Teil eine ausgedehnte, für die Inſzenierung bisher noch nicht verwertete Hinter;
bühne, im oberen Stockwerk ein geräumiger Probefaal. Das Haus gliedert ſich alſo außer dem
Vorbau in drei Hauptteile, die ſich ſchon duferlid gegeneinander abſetzen. Das Dach des Zu-
ſchauerraums iſt mit einem patinadhnlichen grünen Anſtrich verſehen worden, der mit der matt;
toten Farbe des Mauerwerks vortrefflich zuſammenſtimmt. Der ſchlichte Fachwerkbau, der
naͤchſtens 50 Jahre alt wird, hebt ſich aus dem Grün der hochgewachſenen Bäume in leuchtender
Schönheit heraus: wir ſchreiten durch den Hain zum Heiligtum empor, worin das deutſche
Meifterdrama ſich lebens voll geſtalten foll.
Das Bühnenbild verlangt heute andere Mittel als vor 30 oder 40 Zahren. Nach wie vor
bleibt die einzige Aufgabe, das vom Oichter geſchaute Bild fo deutlich und eindrucksvoll als
moglich zu erftellen. Die grundſãtzliche Wendung zur Stilbühne iſt für Wagners Werke durchaus
verwerflich. Aber die bemalte Leinwandfläche iſt veraltet. Wir wünfchen den faltenloſen Rund-
horlzont und körperliche Verſatzſtuͤcke, die auf naturliche Weiſe beleuchtet werden können und
den Darftellern zwangloſe Bewegung verſtatten, jo daß ein der Wirklichkeit entſprechendes
Seſamtbild ſich ergibt. Diefe Forderung ift bereits großenteils erfüllt worden, namentlich in den
Felslandſchaften des Rings. Eine vollſtändige Erneuerung war in dieſem Fahre noch nicht
möglich, ſo daß zuweilen Altes und Neues unvermittelt nebeneinander ſtand. Der Parſifal z. B.
wurde mit Ausnahme von Klingsors Zauberturm, der auffällig moderniſiert ſich darbot, in der
alten Form belaſſen. Zm Zaubergarten behalf man ſich mit Lichtwirkungen, die Gewänder der
SBlumenmadden waren erneuert. Die meiften Bühnen find in ähnlichem Übergang der Aus-
256 RAAdlia auf Bapreuth 1925
ftattung begriffen wie Bayreuth. Die nddjten Feſtſpiele werden ficherlich eine durchgreifende
Neugeftaltung des Bühnenbildes bringen.
Einige wichtige Rollen waren neu beſetzt. Überrafhend groß war der Wotan Friedrich
Schorrs. Wort, Ton und Gebärde deckten ſich vollkommen, ſo daß alle Vorzüge der früheren
Oarſteller ſich zu einer Geſamtleiſtung von bezwingender Gewalt zu vereinigen ſchienen. Von
einer ſo überragenden Perſönlichkeit getragen, ward der Ring wirklich zum Wotansdrama. Fritz
Wolff, der in Bayreuth zum erſten Male die Bühne betrat, erwies ſich mit feiner hellen Stimme
und feinem züͤngelnden Spiel als ein vielverſprechender Loge, deſſen Geſtalt bei verdunkelter
Bühne mit feurigen Linien umriſſen war, deſſen neues Gewand dem unheimlichen Feuergeiſt
aber weniger angemeſſen erſchien als das frühere, in deſſen Rot und Gelb die Flamme fichtbar
ward. In den Meiſterſingern erfreute Claire Borns jugendlich anmutige Eva, deren Stimme
befonders in der hohen Lage aufleuchtete. Die übrige Beſetzung entſprach meiſt der vorjährigen,
aber mit merklicher Vertiefung und Steigerung der Einzelleiſtungen. Der erſte Aufzug der
Walkuͤre (Sieglinde Emmy Krüger, Siegmund Melchior) war urwidfig und urgewaltig, aus
innerſtem Miterleben geſtaltet. Die Rundry von Frau Barbara Remp iſt als eine Wiedergabe
von unheimlich dämoniſcher Größe zu rühmen, namentlich in den Wandlungen des zweiten
Aufzugs, die eindrucksvoll herausgearbeitet waren. Auch hier war Melchior ein ebenbürtiger
Parſifal, deſſen Stimme jede ſeeliſche Regung austönte. Die ſtimmgewaltige Brünn hild von
Frau Bloms iſt in großem Stil gehalten, vornehmlich aufs dramatiſch Wuchtige angelegt und
daher in der Sötterdämmerung am bedeutendſten. Jede Geſtalt hat in Bayreuth ihren eigen-
artigen, ſorgſam ausgewählten Vertreter, der in der ihm zugewieſenen Aufgabe völlig aufgeht.
Das gilt namentlich auch von den kleineren Rollen, die mit derſelben Wichtigkeit wie die großen
behandelt werden.
In die Leitung des ganz einzigen, unübertrefflichen Orcheſters teilten ſich diesmal Muck,
Balling und Naehler. Jn Mucks Parſifal lebt die erhabene alte Bayreuther Überlieferung weiter,
in der trotzdem ſeine ſtark ausgeprägte Perſönlichkeit ſich geltend macht. Seine Meiſterſinger
unterſchieden ſich ſchon im Vorſpiel durch ein faſt jugendliches Feuer von dem behäbigen wurde;
vollen Glanze der Auffaſſung Hans Richters. Über dem Ring unter Balling ſchwebte ein un-
beſchreiblicher Zauber überirdiſcher Verklärung z. B. in den nur für Bayreuth möglichen breiten
Zeitmaßen der Todkündung und der Eroica auf Siegfrieds Tod.
Die Götterdämmerung vom 17. Auguſt war Ballings letzte Tat im Dienſt Bayreuths. Als
ein Todgeweihter verließ er nach übermenſchlicher Anſtrengung das Feſtſpielhaus. In der Nacht
vom 1./2. September ſtarb er in Oarmſtadt. Am 4. September, am 101. Geburtstag Anton
Bruckners, wurde er beſtattet. Der Geiſtliche wählte ſchöne und treffende Bibelworte: „Ich habe
einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.“ —
„Der Meifter iſt da und rufet dich!“
Die von Rüdel eingeübten Chöre waren muſterhaft. Die nirgends ſonſt auch nur annähernd
erzielte muſikaliſche Sicherheit ermöglicht z. B. allen Chorſängern handgreifliche Mitwirkung
an der Prügelei, die anderwärts von der Statiſterie beſorgt wird. Neben dem Wach auf Chor
war der Mannenchor der Götterdämmerung eine bisher unerhörte muſikaliſch dramatiſche Ge-
ſamtleiſtung.
Der künſtleriſche Erfolg des Bayreuther Feſtſpiels beruht auf der ſorgfältigen Vorberei-
tung. Jeder Mitwirkende wird zum Stil erzogen. Die ſich vertiefende Erkenntnis der hohen
Aufgabe erweckt Luft und Liebe zur Arbeit, zum Dienſt am Kunſtwerk. Allein ſchon der Um-
ftand, daß die Sänger und Muſiker eine Zeitlang dem ermüdenden und zerſtreuenden Alltags-
betrieb entrückt find, um fic auf ein einheitliches Ziel zu ſammeln, ſteigert die Leiſtungsfähigkeit
des Einzelnen. Die Führer und Leiter gehen mit dem guten Beiſpiel raſtloſer Tätigkeit voran
und finden durchweg willige Nachfolge. So formt und bildet ſich das Kunſtwerk langſam aus
ſeinen innerſten Geſetzen heraus, als wäre es eine völlige Neuſchöpfung. Abgeſehen von allem
[2
— —
Emil Mattiefen 257
andern ift die Bayreuther Stilbildungsſchule für die nach hohen Zielen ſtrebenden deutſchen Büp-
nen unentbehrlich. Die Rückwirkung der Feſtſpiele auf die ſtändigen Theater ijt von größter Wich-
tigkeit. Zm Laufe der Zahre von 1876 bis 1914 hat das Bayreuther Vorbild auf den meiſten
Theatern die Vorſtellungen überhaupt weſentlich gehoben. Die Kunſt iſt ein Dienft am Gral,
ber in Bayreuth in reinſtem Lichte erſtrahlt, anderswo aber doch im Abglanz und Nachhall zu
erkennen iſt. Der einzigartige Vorzug und die Berechtigung der Bayreuther Runft und Rultur
it darin begründet, daß fie, dank der treuen Hut des Hauſes Wahnfried, noch unter uns lebt,
obwohl der Meifter vor 42 Jahren aus dem Leben ſchied.
Allem Außeren abhold, verzichtet Bayreuth auf die Feier der 50. Wiederkehr des erſten Feſt⸗
jpieljahres 1876. Im nächſten Jahre bleibt das Haus geſchloſſen. Um fo gruͤndlicher werden die
Vorarbeiten für 1927 betrieben, wo ſtatt den Meiſterſingern neben dem eiſernen Beſtand des
Rings und Parſifal, die alljährlich wiederkehren, ein anderes Werk — man ſpricht vom Fann-
bdujer — zur Aufführung gelangen ſoll. Von 1876 bis 1925 welche Entwicklung! Niemals ein
Stillſtand, jedes Jahr brachte Neues, freilich nicht im Sinne einer aufſehenerregenden Mode,
die um jeden Preis ändern will, ſondern in ruhiger, wohlbedachter Geſtaltung des Didter-
willens, der in der Partitur mit ihren geſchriebenen und noch mehr ungeſchriebenen Weiſungen
ſich kundgibt. Das Drama kommt zur Erſcheinung ganz und gar aus dem Geiſte der Muſik, der
es entſtammt. |
Auch in dieſem Jahre hatte ſich eine begeiſterte Zuhörerſchar aus Deutſchland in Bayreuth
eingefunden. Am Schluſſe des Parfifal tiefe ſchweigende Ergriffenheit, am Schluſſe der Meifter-
ſinger heller Zubel! Die Wagner feindliche Preſſe hatte im Vorjahr die Spiele ins politiſche
Getriebe herabgezogen aus Anlaß einer gut gemeinten, aber nicht ſehr geſchmackvollen gefang-
lichen Kundgebung der Zuhörer am Schluſſe der erſten Aufführung der Meiſterſinger. Das Zeit-
ſpiel von 1925 ſtand jenſeits jeglicher politiſcher Außerung im guten oder böſen Sinn. Oes
Meiſters Runft iſt grunddeutſch, aber überzeitlich, fie wirkt einzig und allein durch ſich ſelbſt.
Endlich darf an dieſer Stelle auch der Bayreuther Stadtverwaltung und ihrer in jeder
Hinfidt muſterhaften Vorkehrungen mit dankbarer Anerkennung gedacht werden. Die heutigen
Leiter des Gemeinwefens walten ihres verantwortlichen und ſchwierigen Amtes durchaus im
Seiſte der Männer, die einſt mit rechtem Gefühls verſtändnis und entſchloſſener Tatkraft Richard
Bagner zur Seite ſtanden. Prof. Dr. W. Golther
Emil Mattieſen
in deutſcher Gelehrter und Muſiker iſt in dieſem Fahre fünfzig Jahre alt geworden, und
nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Freunden und Verehrern feiner Runft hat des
Mannes gedacht, der wie wenig andere der ſchaffenden Künſtler unſerer Gegenwart einer von
den Etillen iſt, die nicht um die Gunſt der breiten Maſſe buhlen, ſondern einer, der unbekümmert
um allen nichtigen Scheinglanz feinen Weg geht, dem inneren Geſetze feiner Runft folgend.
Emil Mattiefen iſt Balte von Geburt. Dorpat iſt feine Vaterſtadt, wo er am 24. Januar 1875
als Sohn des Bürgermeifters und Chefredakteurs Mattieſen geboren wurde. Hier beſuchte er das
Symnafium und für kurze Zeit auch die Univerfität. In Leipzig, wo er zu Gelehrtenkreiſen enge
detwandtſchaftliche Beziehungen hatte — der Philoſoph Strümpell war ſein Großvater und
der jüngft dort hochbetagt verſtorbene bedeutende Kliniker Adolf Strümpell fein Oheim — hat
er ſeine muſikaliſchen und philoſophiſchen Studien zum Abſchluß gebracht. Hier wurde er im
Jahre 1896 auf Grund einer Abhandlung über das Thema „Über philoſophiſche Kritik bei Lode
und Berkeley“ zum Ooktor promoviert. Auf weiten, jahrelangen Forſchungsreiſen, die ihn
nach Nordamerika, Mexiko und Oftafien führten, wurde er in die Lage verſetzt, eindringende
258 Emil Mattiefen
ethnologiſche und religionswiſſenſchaftliche Stublen zu treiben. Der Vertiefung und Grwei-
terung feiner wiſſenſchaftlichen Arbeit diente dann ein vlerjaͤhriger Aufenthalt in Cambridge und
London.
So legte er in umfaſſenden Vorarbeiten den Grund zu feinem philoſophiſchen Lebenswerk,
bas unter dem Titel „Der Jenfeitige Menſch“ bei de Gruyter in Berlin erſchlenen iſt (1925).
Diefes „Monumentalwerk“, wie es einer der beſten Renner diefes Stoffgebietes bezeichnet hat,
zeigt uns den Gelehrten Mattieſen von ſeiner beſten Seite; denn er hat mit dieſer Einführung
in die Metapſychologie der myſtiſchen Erfahrung“ der deutſchen VWiſſenſchaft eine Arbeit ge-
ſchenkt, gründlich und breit angelegt“ — das Werk umfaßt mehr als 800 Seiten — „und dabei
tief in allen ihren Teilen“, die in ihrer Eigenart und wiſſenſchaftlichen Genauigkeit wohl ihres;
glelchen ſuchen dürfte. So bedeutet dieſes Buch mit allem, was es enthält und was noch aus
ihm hervorwachſen kann, fürwahr ein monumentales Lebenswerk, deſſen Abfaſſung ſchon ein
Menſchenleben wert iſt. Die gütige Natur aber hat dieſen Mann noch reicher beſchenkt, indem
fie ihm die höͤchſte Gabe, das ſchaffende und geſtaltende Rünftlertum verliehen hat, und gerade
als deutſcher Mufiter hat Emil Mattieſen unſerm Volke beſonders viel zu fagen.
Vor zwölf Jahren erſchienen in dem Muſikverlage von Peters, ber das große Verdienſt
bat, Mattieſens Erſtlingswerk aufgenommen zu haben, obwohl es keinen Gelderfolg verſptach,
und der auch alle fpäteren Werke Mattieſens verlegt hat, die „Balladen vom Tode“ als
Opus 1. Das war ein eigenartiges, urwüchſiges Werk, das von der erſtaunlichen Geftaltungs-
kraft feines Schöpfers Zeugnis ablegte und das dei Fachleuten allergrößte Aufmerkſamkeit er;
regte: „ein ſeltſames Opus 1, ſeltſam in Stoff, Form und Farbe; ſeltſam auch in der Gelbft-
verleugnung, mit der ſich fein Schöpfer von den Wahrſcheinlichkeiten und Möglichkeiten des
modernen Konzertſaals entfernt, von der Gunſt der breiten Offentlichkeit, von der Gewohnheit
der Sänger und Hörer.“ Es erſchien ,diefes kühne, gewaltige Balladenwerk“ als eine Offen;
barung wie einſt zu Schuberts und Loewes Zeit die Vertonung des Erlkönigs. Man rühmte in
dieſen Balladen die ſichere Beherrſchung der „modernen Harmoniſierungskunſt“, den „Melodiker
von überraſchender Erfindungsgabe und Vielſeitigkeit, dem der Ausdruck nie verſagt“, den
„Kontrapunktiker, für den es keine Klippen gibt“. Und was Mattiefen als Schöpfer in dieſem
erften Werke verſprochen, hat er in feinen fpäteren Tondichtungen gehalten. Er iſt ſtets der
innerlich vornehme Muſiker geblieben, der es verſchmaͤhte, der Maſſe des Publikums irgend;
welche billigen Sugeftdndniffe zu machen um der Beliebtheit willen, der ſich auch niemals ver-
ſtiegen hat zu der manierierten Eigenwilligkeit der ganz Modernen, um womöglich dadurch von
ſich reden zu machen. Immer wahrt er in all ſeinen Werken die große muſikaliſche Linie, immer
bleibt er ein echter Muſiker, weiterbauend auf dem Grunde unſerer größten Meiſter und doch
dabei ein ganz Eigener.
Mattieſen iſt Liederkomponiſt, und ſeine Schöpfungen bisher bewegen ſich ganz auf dieſem
Gebiet. Seine Stärke liegt in der Ballade oder, beffer geſagt, auf dem Gebiete folder Did-
tungen, die den Untergrund für ein muſikaliſches Gemälde zulaſſen. Und inſofern berührt er
ſich in ſeiner Eigenart in mancher Hinſicht mit Hugo Wolf, „mit dem er auch die Empfindlichkeit
für dichteriſch wertvolle Texte teilt“, wobei allerdings Mattieſen auch für moderne Dichtungen
wie von Schaukal, Münchhauſen, Ricarda Hud, Liliencron, Morgenſtern und anderen ein
feines Ohr beſitzt, während Hugo Wolf „Modernes nun einmal nicht komponieren“ konnte.
Auch hat Mattieſen als Norddeutſcher eine ganz andere Wefensart als der unglücklich veranlagte
Oſterreicher.
Seit 1913, wo die „Balladen vom Tode“ als Opus 1 erſchienen, ijt eine ganze Reihe wert;
voller Schöpfungen entſtanden, und gerade in den letzten Jahren iſt der muſikaliſche Quell bei
Mattiefen beſonders ſtark gefloſſen. Zunächſt noch ein kurzes Wort über jenes bereits erwähnte
Erſtlingswerk. Schon der Titel beſagt, daß alle Balladen von ein und derſelben Geſtalt, dem
Tode, beſeelt ſind, und es mag gleich hier geſagt ſein, daß Mattieſens Lieder und Balladen faſt
Emil Mattiefen 259
alle nach inneren Gefidtspuntten (3. B. „Künſtlerandachten“, „heitere Lieder“, „Liebeslicher
des Hafis“, „Balladen von der Liebe“, „Stille Lieder“, „Bwiegefänge zur Nacht“) zuſammen⸗
gefaßt find. Man hat bei Schuberts „Vinterreiſe“ bewundert, daß er in immer neuen, durchaus
eigenartigen Tönen jener großen Symphonie des Schmerzes hat Ausdruck verleihen können.
Bei Mattieſen könnte man von einem muſikallſchen Totentanz großen Stiles ſprechen; denn
eine ganze Anzahl feiner Schöpfungen find Gefänge vom Tode. Wie abwechſelungsreich und
vielfarbig ſchon die erſten fünf Tongemälde: die meiſterhafte „Lenore“, „ein Roloffalgemälde,
das an die mittelalterlichen Darftellungen vom Tode gemahnt“, das in feiner Muſik an, Schrecken
und Qual, an Schauer Erregendem“ zum Ausdruck bringt, wie es einft im „Triumph des Todes“
in den „Fresken des Piſaer Friedhofes feſtgehalten iſt“; dann weiter der „Glockenguß von
Breslau“, ein Gedicht in Tönen, ein wahres Meifterftüd von echt deutſchem Gehalt, aus innerer
Liebe zur deutſchen Weſensart geboren. Dann jener geniale „Pidder Lüng“, das hohe Lied
von deutſcher Freiheit, der rührende Sang der Treue in der Ballade „Oer Bettler und fein
Hund“ und zuletzt die Worttondidtung des fluchbeladenen, ruheloſen Romfahrers „Lord
Athol“ mit dem wundervollen, Erlöſung verheißenden Ausklang. Alles ſchwere, wuchtig einher⸗
ſchreitende Tondichtungen, „intuitiv geſchaute dramatiſche Szenen von wundervollem Stim-
mungs zauber“ und einer erſtaunlichen ſuggeſtiven Kraft“.
Dod noch in anderer Geſtalt läßt uns Mattieſen den Tod in feinem Reigen ſchauen, fo zu-
nddft als „Feind“ in jenem grandios angelegten Hymnus „Einen kenne ich“ (op. 2 „Zwölf Ge-
dichte). Man kann ſich kaum etwas Erſchuͤtternderes vorſtellen als dieſes gewaltige Lied. Das
Staufen vor dem Tode aber überwältigt uns in der Ballade „Der Freier“ (op. 10 „Balladen
von der Liebe). Hier erkennt man deutlich, wo der Dichtung die Grenzen geſetzt find und was
andrerſeits die Muſik auszudrucken vermag: das unheimliche Vorwärtstappen des bleichen Ge-
ſellen, der ſich mit grauenhafter Gier auf das junge, blühende Maͤdchenleben ſtuͤrzt, bis es in
einem Aufſchrei des Entſetzens verröchelnd erſtickt — das läßt ſich mit Worten nicht malen, ſolche
Stimmung ſchreit nach Muſik. Das gilt nicht minder, wenn auch in andrer Weiſe, vom „Tod
in Ahren“ (op. 2), einem muſikaliſchen Stimmungsgemälde von äußerſter Feinnervigkeit,
welches das bekannte Liliencronſche Gedicht in völlig neuem Lichte erſcheinen läßt.
Schon aus dem bisher Geſagten iſt es deutlich geworden, daß Mattieſen beſonders Gedichte
ernſten und ſchweren Inhalts bevorzugt hat, und ſie nehmen tatſächlich den breiteſten Raum
unter feinen Schöpfungen ein. Auch die neueſten feiner Balladen, die „Balladen von der
Liebe“ (op. 10), ſchließen fi in dieſer Beziehung der erſten Balladenreihe (op. 1) aufs engſte
an. Dort waren es allerdings ältere Meiſter, denen der Romponift den Stoff entnahm, hier
treten uns in der Mehrzahl die Namen moderner Balladendichter, wie der eines Münchhauſen,
Falke und Morgenſtern entgegen. Wieder wie in Opus 1 find es fünf Balladen in dieſem Werte,
auch hier wieder Meiſterwerke der muſikaliſchen Erfindung, Charakteriſierungskunſt und in-
ſtrumentalen Bearbeitung. Das letzte Werk in dieſer Sammlung „Oer Gott und die Baja-
dere“ ſtellt wohl das Reichſte und Vielgeſtaltigſte dar, was Mattieſen bisher als Balladen
komponiſt geleiſtet hat.
Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen dieſen Balladen und den Liedern im eigentlichen, engeren Sinne
des Wortes nimmt eine Reibe von Rompofitionen ein, die Mattieſen mit dem Ausdruck „Ge-
ſänge“ bezeichnet hat. Es handelt ſich hier um muſikaliſche Stimmungsgemälde, wie es z. B.
die bereits angedeutete Rompofition „Tod in Ahren“ iſt. Beſonders charakteriſtiſch für dieſe
Gattung iſt „Venedig“ (op. 3 „Lieder und Gejänge“), ein Tongemälde von überwältigendem
Stimmungszauber. Auch die Ricarda Huch-Kompoſitionen (op. 8 „Sieben Gefänge“) gehören
hierher, wenngleich hier bei einigen Geſängen ſchon die Grenze des Liebmäßigen geſtreift wird.
In dieſem Zyklus erſcheint uns neben der „Erinnerung“, deſſen zartinnige Begleitung wie
Spharenmuſik erklingt, das dramatiſch bewegte „Heimatlos“, „vom Zauber blühendſter
Harmonik durchtränkt“, als ganz beſonders wertvoll. Auch hier wieder ein wundervoller Schluß,
260 Emil Mattiefen
im muſikaliſchen Grundgedanten jenem in „Lord Athol“ vergleichbar, da beide den Erlöfunge-
gedanken, jeder in ſeiner Art, in ergreifender Weiſe zum Ausdruck bringen.
Es iſt nicht möglich, die Schönheiten und Eigenart aller dieſer Gefänge in kurzen Worten
zu charakteriſieren. Im letzten Grunde iſt auch mit einer Umſchreibung dieſer Tondichtungen
nicht viel getan. Nirgendwo empfindet man die Ohnmacht des Wortes fo ſehr als bei der Wieder
gabe muſikaliſcher Eindrüde. Daher können ſolche Ausführungen auch nur Hinweiſe zum Werke
ſelber fein, Anregungen, ſich mit dem Künſtler und feinen Schöpfungen zu befchäftigen. Freilich
iſt der Weg, der zu Mattieſen führt, anfangs ſteil und ſchwierig, wenigſtens für den nicht aus-
übenden Muſiker. Aber dafür iſt der Blick von der Höhe um fo ſchoͤner und lohnender. Mattieſen
hat allen mufikaliſch Gebildeten und wahrhaft Empfänglichen etwas zu ſagen. Wer ſich aber in
ſein Werk verſenken will, der nehme zunächſt die „Stillen Lieder“ (op. 11 und 12) zur Hand.
Sie ſprechen eine ſchlichte, edle Sprache und laſſen kaum ahnen, daß ihr Schöpfer und der der
„Lenore“ ein und derſelbe iſt; denn hier liegen die größten Gegenfäße: dort der Dramatiker,
deſſen Weg zum muſikaliſchen Drama zu weiſen ſcheint, hier der zarte Lyriker, der Finder neuer
Weiſen von faſt volksliedmäßiger Schlichtheit. Hier haben wir Hausmuſik in des Wortes edelſter
Bedeutung, und Lieder wie das wohlig-verfonnene „Mit meinem Liebchen Hand in Hand“,
der faft überzarte „Abſchied“, die „Weißen Wolken“, die wie ein Hauch in klarſtem Himmels-
blau dahinſchweben, oder die tiefſte Seelenruhe bringende „Entſchlummerung“ müßten in
jedem deutſchen Haufe, wo man noch auf die Pflege edler Muſik hält, geſungen werden. Auch
Opus 3 enthält ſolche intimen Lieder, wie das verklärte „Wenn du einſt alt fein wirft“
und das beſonders eigenartige „Schließe mir die Augen beide“, das wie kaum ein anderes
zeigt, wie ſehr der Komponiſt den inneren Gehalt der Dichtung erfaßt und muſikaliſch vertieft
bat und wie wenig er geneigt iſt, dem billigen Geſchmack eines verbildeten Publikums Zu-
geſtändniſſe zu machen. Von den eigentlichen Liedern Mattieſens aber ſind die größten und
hehrſten die glutvollen „Liebeslieder des Hafis“ (op. 9). Mit verſchwenderiſchem Reichtum
der Erfindung ausgeſtattet und einer muſikaliſchen Behandlung ohnegleichen ſtellen ſie wohl
die Rrone der Liederfhöpfungen Mattiefens dar.
Eines aber iſt in den bisher beſprochenen Tondichtungen Mattieſens noch nicht berührt worden,
ſeine Lyrik des Humors. Wie alle großen Künſtler hat auch er der heiteren Seite des Lebens
küͤnſtleriſchen Ausdruck verliehen, und feine humorvollen Lieder ſtehen nicht hinter den übrigen
zurück. Zwar find ihrer bisher nicht allzu viele, aber ſchon die wenigen laſſen darauf ſchlie ßen,
daß auch dieſe Weſensſeite Mattieſens ſtark entwickelt iſt, und es iſt wohl kaum zu verwundern,
daß gerade dieſe Lieder die Pioniere ſeines Werkes geworden ſind und ihn beſonders bekannt
gemacht haben. „Wahre humoriſtiſche Kabinettſtücke hat er in dem entzückenden Liede „Von
Katzen“ und in Kellers „Berliner Pfingften’ geſchaffen.“ Von den „Heiteren Liedern“
(op. 7) wirken „Oer fröhliche Muſikus“, ein köſtlicher Fugenſcherz in altdeutſchem Gewande,
und das reizende, ſtimmungzaubernde „Ständchen“, das als Zugabe wohl in keinem Mattiefen-
konzert mehr fehlt, beſonders ſtark.
Eine ganze Reihe namhafter Künſtler hat in letzter Zeit Mattieſens Namen und feine Ton-
dichtungen bekannter gemacht, und der Kreis der Verehrer und Freunde ſeiner Kunſt iſt ſtändig
im Wachſen. Freilich iſt er keiner von denen, die es lieben, viel von ſich reden zu machen. Er
hält es mit dem Worte Hugo Wolfs: „Fit es nicht viel beſſer und ſchöner, von einigen Menſchen
geliebt und verſtanden zu werden, als von Tauſenden gehört und geſchmäht zu ſein?“
Dr. Alfred Huhnhäuſer
Ein Gleichnis Vom Doldftoß - Die Abrüſtung als deutfche
Waffe Muſſolini, der neue Cäſar - Chamberlains Liebesbecher
Franzöſiſche Not Romantiſche Politik. Üble Folgen nach
Außen und Innen Die Kriſe und Hindenburg
enken wir uns einmal einen Schiffskapitän. Oer ſalzflutgegerbte Seebär hat
jahrzehntelang einen Dampfer gefahren. Das war ein ſchmucker Burfche,
in dem der volle Herzſchlag einer tüchtigen Maſchine pulſte, der daher feinen acht-
baren Knoten lief und wikingskeck gegen Wetter, Wind und Wellen anging.
Im Kriege aber wurde er Feindespriſe, und der Kapitän hat jetzt nur noch einen
beſcheidenen Gaffelſchoner. Es wird ihn weidlich wurmen, daß er nicht mehr ſo
dreiſt in die See ſtechen kann wie einſt, unbekümmert um Dünung und Schlagfeite.
Als gewitzter Menſch verſucht er's auch lieber gar nicht mehr, ſondern ſtellt ſich von
Dampf und Schraube auf Tau und Takelung um. Das iſt fogar eine Rüͤckkehr zu
der echten, feinen, alten Seemannskunſt. Wer nur Topp- und Gaffelſegel richtig
zu ſetzen weiß, der liegt immer hart am Winde und kommt ſo, langſam aufkreuzend,
dennoch ans Ziel. |
Vom deutſchen Volke erzähle ich dieſes Gleichnis. Heißer Zorn brennt denen, die
aus ſpartakiſtiſcher Büberei oder rotem Hammelherdentum unſeren Reichswagen in
den Elendsſumpf kippten. An jenem trüben Novembertag wurden wir der letzte, aber
beſte Verbündete unſerer Feinde. Wohl war alles ausgemergelt, aber ſelbſt Marſchall
Foch gab zu, bis zum Rhein hätte es noch fünf Großkampfmonate gekoſtet. Das hielt
auch der Gegner nicht mehr aus. Wenn wir ihm daher zuriefen, wie die hungernden
Geufen den Spaniern: „Wir wollen unſeren linken Arm eſſen, aber mit dem rechten
widerſtehen wir Euch!“ dann hätte kurze Endnot uns Not ohne Ende erſpart.
In München erklärte ein Sachverſtändiger, die Revolution ſei eine Folge der
Niederlage, nicht aber die Niederlage eine Folge der Revolution. Räumen wir's ein.
Wie ſteht es jedoch mit dem Schmachfrieden? Rechtfertigte ihn etwa ein Sieg des
Feindes, der uns rettungslos aufs Haupt ſchlug? Oder kam er bloß, weil unſer
heimgeſchicktes Heer ſich in revolutionierter Etappe unter der ftilvollen Mißwirtſchaft
der Soldatenräte verkrümelte und daher dem Feinde Wortbruch kein Riſiko mehr
war? Die freiwillige Revolution zwang uns zum unfreiwilligen Frieden. Das iſt's,
was vom Dolchſtoß ſtets bleiben wird.
Mit Wirklichkeiten muß man aber rechnen; weder Klage noch Anklage können ſie
wenden. Weit wichtiger als der Streit: „Wie gerieten wir ins Unheil?“ iſt daher
das Wägen: „Wie kommen wir wieder heraus?“ Sollen wir tun, als ob unſer
Gaffelſchoner ein Dampfer wäre, oder iſt's ratſamer, ihn nach feiner Art, aber nach
beſten Kräften auszunützen? Die Antwort gibt ſich ſelber. Unbildlih geſprochen
heißt dies, daß unſere Politik der Macht beraubt, mit den Winden, den Weltftim-
mungen arbeiten muß.
282 Birmers Tagebuch
L
Wir Oeutſche find ein waffenfrohes, aber keineswegs kampflüſternes Volk. Wir
haben den Krieg immer nur bereitet, weil wir den Frieden wollten; Schwerter nur
geſchmiedet, weil man ſolche gegen uns ſchmiedete. Sie wurden uns abgeſprochen,
aber die Gegner tragen ſie noch. Frankreich hat jetzt 9000 Offiziere mehr als wir
im Frieden hatten. Dadurch ſind wir Kleinmacht gegen Großmächte, nicht mehr
Gleicher unter Gleichen. Aber wir haben den Trieb, es wieder zu werden. Indem
wir uns bewaffnen? Dann würde die Welt über uns herfallen. Bleibt alſo nur der
andere Weg, zu erreichen, daß die anderen ſich entwaffnen.
Abrüftung iſt heute das Weltſchlagwort. Der Völkerbund hat es auf feinem Pro-
gramm, was an ſich freilich noch nicht viel ſagen will. Aber die Hauptmilitärftaaten
Europas ſind bis auf die Haare des Kopfes verſchuldet, und der amerikaniſche
Gläubiger fordert rückſichtslos: „Weniger rüſten, mehr zahlen.“
Unſerem Gaffelſchoner ſitzt alſo endlich ein günſtiger Wind im Nacken, und wir
wären Toren, wollten wir nicht alle Segel ſpannen.
Wir treten für Entwaffnung ein. Das hat mit hindumäßiger Entſagung nichts
zu tun; iſt überhaupt, ganz wie Freihandel oder Schutzzoll, gar keine Frage des
Grundſatzes, ſondern der nüchternen Nützlichkeit. Wir hatten vorm Kriege mit
unferer Rüftung friedliche Abſichten, die Feinde hingegen betrieben kriegeriſche mit
Abruͤſtungsvorſchlaͤgen. Weshalb ſoll uns jetzt der Genfer Artikel 8 nicht Mittel wer-
den zum Wiedergewinn unſerer Weltgeltung?
Bisher hat Frankreich immer pazifiſtiſch getan, aber ſtramm militariſtiſch gehan-
delt. Es könne nicht anders, ſo entſchuldigte es ſich, ſein aufrichtiges Wollen ſcheitere
an dem ewigen deutſchen Vergeltungsgelüft. Es galt alſo, ihm dieſen Vorwand zu
nehmen, und dies geſchah in Locarno.
Unfern Nachbarn in Weft und Oft gaben wir die Gewähr, daß wir Zwiſte nicht
vor die Klinge, ſondern vor den Kadi bringen wollten. England verbürgt ſich den
Franzoſen, daß wir ſie nicht überfallen; uns, daß wir nicht überfallen werden.
Das macht Frankreichs Furcht, alſo Frankreichs Einwand nichtig. Ferner iſt dann
die Beſetzung des linken Rheinufers ſinnlos geworden.
Nicht alles auf einmal erwarten wir. Es gibt Rückwirkungen, die wir jetzt voraus
ſetzen dürfen, und wir haben Vorausſetzungen geſchaffen, die ſich in Zukunft auszu-
wirken haben. Der Vertrag iſt uns noch lange kein Ziel, ſondern bloß ein erſter
Schritt darauf zu. Gar mancher muß noch folgen, ehe wir wieder das ſind, was wir
fein wollen und zum Beſten Europas fein muͤſſen. Der „Türmer“-Leſer weiß, mit
welchem Mißtrauen wir dem Gang der Dinge folgten. Sie ſtanden monatelang auf
Biegen oder Brechen. Ein gerechter Urteiler muß jedoch zugeben, daß in Locarno
nicht Luther umfiel, ſondern üͤberraſchenderweiſe Briand. Aus Gründen, die zum
einen Teile den innerpolitiſchen Verhältniſſen Frankreichs entſpringen, zum andern
wohl durch geheime Einflüffe der beiden Angelſachſenſtaaten bedingt find. Natürlich
arbeiteten dieſe nicht für uns, ſondern für ſich, aber es ſprang dabei wider Erwarten
für unſere Abfichten allerlei heraus. Es war günftiger Wind, und wir ſetzten die Segel.
Auch heute noch mißfällt mir vieles an dem Vertrag. Aber wer nehmen will, der
muß auch zu geben wiſſen. Wir ſchlucken feine Nachteile mit dem Gefühl, daß nun
ſofort die Aufgabe erſteht, ſie wieder wett zu machen.
— — —— — — eee — „
Turnen Togedud) 205
Heiße Kämpfe erwarten uns im Völkerbundsrat. Natürlich denken wir nicht
daran, der Karpfen im Hechteteich zu fein. Welche ſpaßig-ernſte Katzbalgerei wird
{hon über das uns zugeſicherte Kolonialmandat entbrennen ! Denn Frankreich und
England ſind zwar einig, daß wir eins bekommen ſollen; jeder meint aber, daß juſt
der andere es abzutreten habe.
Auch öffnet ſich uns ſogleich unſer künftiges Hauptarbeitsfeld. Am 3. Dezember
ſollen in Genf Vorſitzungen zu einer Abrüſtungskonferenz beginnen. Frankreich
zeigt jetzt ſchon einen verdächtigen Eifer; mutmaßlich, um uns den Rang abzu-
laufen. Bereits hat es eine Oenkſchrift fertig, die den Gedanken auf neue Grund-
lagen ſtellen ſoll. Auf ſolche nämlich, durch die der franzöſiſche Militarismus im Ver-
hältnis nichts verliert. Denn nie wird er ſich grundſätzlich einſchränken, höchſtens
auf Zeit und umſtände, weil das Geld nicht mehr zu erſchwingen iſt. Vorläufig hat
er zur Einleitung der Abrüſtungskonferenz Damaskus in Trümmer geſchoſſen und
dadurch ganz Syrien zum Aufſtand gebracht. Geſetzt, wir hätten die berühmte
Noſchee der Omaijaden derart gefährdet: als was für Barbaren hätte uns die Welt
derſchrien! | |
Offenbergiger ift Muſſolini. Sein märchenhafter Aufſtieg vom Proletarierkind
zum Ouce hat ihn berauſcht. Durch die Fauſt iſt er emporgekommen, und die Gewalt
nennt er feine Göttin. Er war zwar auf der Konferenz, allein des Geiſtes von
Locarno hat er keinen Hauch gefpürt. Kaum zurück, drohte er offen und erklärte,
dtalien brauche ſtarkes Heer, tüchtige Flotte und wagefrohe Luftgeſchwader. Gein
Farinacci ſtellte feſt, der Brenner fei keineswegs Italiens Grenze, ſondern das
Ausfallstor nach Nordtirol. Bei dem gewalttätigen Charakter des Faſzismus können
wir uns daher dort unten auf Grenzzwiſchenfälle gefaßt machen; ähnlich den
griechiſch-bulgariſchen bei Petrich. Sollten gar die bayriſchen Königsmacher, wie
die Links preſſe behauptet, an eine Donaumonarchie denken, dann würde auf diefen
willkommenen Vorwand hin Muffolini alſobald Innsbruck beſetzen.
Ob dann wohl der Völkerbund ebenſo handeln würde, wie bei den Kleinen am
Doiranſee ? Terrier und Seidenpinſcher treibt man kühn auseinander, wenn es ſich
aber um einen Bullenbeißer handelt, dann ſchrecken die gefletſchten Zähne. Alle
elt ſieht ja, wie ſtiernackig Muffolini feine Ziele verfolgt. Wie er die italieniſche
Preſſe ihrer Freiheit, die Gemeinden ihrer Selbſtverwaltung, die Oppoſition ihrer
bürgerlichen Rechte beraubt und wenn der Vorwand fehlt, ihn im Handumdrehen
zu ſchaffen weiß. Ein 75jähriger General ſoll ein Attentat mit anſchließendem Auf-
ſtand vorbereitet haben. Ganz Stalien ift aufgewühlt durch die Windwirbel des
Abſcheus und der Begeiſterung. Die nationalliberale Partei beſchloß auf die Kunde,
ſich der faſziſtiſchen zu verſchmelzen. Das Liktorenbündel iſt ja das einzige Zeichen
geworden, das zu Mandaten und Ämtern verhilft. Der abergläubige Italiener ver-
traut auf Muſſolinis Cäſarenglück und fett daher auf ihn wie auf eine Terne des
Lottos. Aber auch er ſelber glaubt an fic und beutet feine Lage mit gewalttätiger
Kühnheit aus. „Wer ſich mir widerſetzt, den zerſchmettere ich.“ Zn Oeutſchland
wurde einft das Wort geſprochen; in Rom wird es getan. Da der verhaftete General
Freimaurer ift, erſtand ein vortrefflicher Anlaß, die Logen zu ſperren. Die geſamte
Ankspreſſe wurde unterdrückt, da fie andeutete, mit dem Anſchlag fei es nicht recht
264 Tirmets Tagebuch
juft; an der ſchwarzen Mache erkenne man deutlich den weißen Nähfaden eines
frechen Faſziſtenſchwindels.
Ein Teufelskerl iſt dieſer jetzt in ganz Italien tofend bepalmte und bepfalmte Duce
ja ohne Zweifel; der einzige Staatsmann großen Kalibers, der im heutigen Europa
emporkam. Aber ſchon macht es den Eindruck, als ob ſein Vertrauen auf ſich ſelbſt
und den „superiore intelletto latino“ fich bereits übernehme. Fit er erſt Jtaliens un-
umſchränkter Herr, dann wird es zu Zerwürfniffen mit Europa kommen. Er iſt Manns
genug, den ganzen Völkerbund in Scherben zu ſchlagen, wie Mephiſto die Töpfe
und Tiegel der Hexenküche: „Entzwei, entzwei! da liegt das Glas; der Takt, du Aas,
zu deiner Melodei!“ Das weiß man im vorſichtigen Genf und hütet ſich, mit ihm zu
brechen.
Es wird daher ſaure Arbeit fein, aus dem jetzigen widrigen Konventikel auf Gegen-
ſeitigkeit etwas zu formen, was feinen eigenen Satzungen nur halbwegs nahe-
kommt. Aber der Verſuch muß gemacht werden, nachdem, wie ſo manches andere
Mitglied zuvor, auch wir wider Willen und Luſt in den Bund hineingezerrt wurden.
Unfer Wiederaufkommen fordert's.
Das iſt nun einmal die Art, praktiſche Politik zu treiben. Voll Hohn ſahen Poincaré
und Clemenceau in Verſailles, wie Wilſon ihnen ſein Steckenpferd vorritt. Aber vor
den Kopf durfte man den Empfindlichen nicht ſtoßen, das hätte alle Erfolge in Frage
geſtellt. So tat man für den Völkerbund begeiſtert und legte eifrig an den Ausbau
Hand; freilich nur, um das Gegenteil deſſen herauszumodeln, was im Denkbilde
gelegen. Das gelang denn auch in ſolchem Maße, daß die Amerikaner hinterher
ſelber ſich weigerten, dieſen Wechſelbalg als Kind anzuerkennen. Die franzöſiſche Ab-
ſicht war tückiſch, aber die Methode klug. Was die Franzoſen zu unſerem Nachteil
taten, ſollen wir's nicht zu unſerem Beften tun?
In der Politik iſt jedes dogmatiſche Denken von Übel. Bismarck fagte, das hieße
Feſtungsmauern mit Flaumfedern beſchießen. Napoleon riet, niemals „niemals“
zu ſagen, und das japaniſche Sprichwort findet es ganz natürlich, wenn der Teufel
von geſtern heute als Staatsgaſt mit fürſtlichem Gepränge empfangen wird.
Auch der Engländer handelt danach. Chamberlain hat auf dem Guildhallbankett
dem deutſchen Votſchafter den Liebesbecher zugetrunken. Nur der Tod der Königin
Mutter verhindert das Feſteſſen im Buckinghampalaſt, wobei zu Ehren Locarnos auch
Luther und Streſemann von dem berühmten goldenen Tafelgeſchirr der Auserwählten
ſpeiſen ſollten: als die erſten Deutſchen nach dem Kriege. Der „Hunne“ wird damit
amtlich für tot erklärt. Neulich ſchon hat der General Charteres geſtanden, daß die
Mär, wir Oeutſche verarbeiteten Leichen zu Fett, zum Zwecke der Kriegsverleum-
dung von ihm perſönlich erſonnen und ausgeſtreut worden ſei. Gewiſſensbiſſe hatte
er nicht und Abbitte wird er auch nicht tun; er erzählte es einfach bei einem amerika-
niſchen Bankett als einen blendenden Streich, worauf er heute noch ſtolz iſt.
Der „Hunne“ ift tot. Mit dem „Boche“ wird es länger dauern. Schon deshalb, weil
er keineswegs alles zahlen wird. Vielmehr fällt auch jetzt, ganz wie nach 1871, die
Hauptlaſt wieder auf den Steuerträger zurück. Der ſtillvergnügte Zinspicker bildet
einen vieltöpfigen Stand in Frankreich. Dieſer ijt durch die Entwicklung der Dinge
derartig enttäuſcht, daß er im ſtillen — freilich nur ganz im ſtillen — lieber Elſaß⸗
Zimmers Tagebuch 265
Lothringen wieder in deutſcher Hand, als feine Rente beſteuert fähe. Noch mehr wie
anderswo hört gerade bei ihm in Geldſachen die Gemütlichkeit auf. Die „Sieges
anleihe“ — nun das klang hübſch, erſchien patriotiſch und zinſte brav; aber Kapitals!
abgabe und Notopfer nach einem ſolchen Erfolge können einem Krieg und Kriegs-
geſchrei fuͤr immer verleiden.
Die Deutfdnationalen wollen die alte deutſche Größe. Im Ziele mit ihnen daher
eins, freue ich mich oft ihres tapferen vaterländiſchen Wollens.
Aber ihr Verfahren iſt verkehrt. Sie träumen davon, daß das Verſailles von 1919
durch ein Gegenverſailles beſeitigt werde, ganz wie jenes das von 1871 zerbrach.
Das iſt romantiſche Politik, der andächtig ſchwärmen mehr zuſagt, als kluges Han-
deln. Sie haben die Feſtigkeit des Ziels, und das iſt gut, aber ihnen fehlt die Ge-
ſchmeidigkeit der Mittel, und das ſetzt ihre ganze Tatkraft leider in fruchtloſe Ver-
neinung um. Blindläufige Geſinnung iſt ebenſo verderblich, wie geſinnungsloſe
Rugheit. Auch in der Politik rächt ſich das Bitterwerden. Sie iſt ein Syſtem von
Aushilfen; um fo unbedingter, je übler die Lage und je größer die Schwäche. Und
darum ift es ſchlimm, wenn das Anpaſſungsvermöoͤgen erſtarrt.
Noch ein zweites Gleichnis. Zwei Gefangene liegen unſchuldig im Verließ. Wer
wird eher frei fein: der eine, der in monatelanger Emſigkeit die Gitter zerſaͤgt
und einen Maulwurfsweg unter der Ringmauer hindurch ins Freie wühlt, oder
der andere, der darauf beharrt, den Kerker nur dann zu verlaſſen, wenn der
Gewaltherr felber vor ihm erſcheine, ihm eigenhändig die Schellen löfe und ſich
entſchuldige?
Es iſt kinderleicht, Finten und Fallen herauszuleſen aus dem Locarnovertrag.
Wer kann es uns freilich verdenken, wenn wir nach all den Rechtsbrüchen und Ge-
walttaten mißtrauiſch geworden ſind wie ein Unterſuchungsrichter gegen einen oft
ſchon überführten Häftling? Was ſich gegen Locarno fagen läßt, wurde ſchon gegen
das Oawes-Abkommen gefagt. Auch dieſes brachte uns drückende Auflagen, allein
es hat die Ruhr befreit, und das iſt mehr. Den Achaiern vor Troja hat offenbar
Odyſſeus beſſer genützt als der zürnende Pelide, und des biegſamen Streſemanns:
Durch Opfer zur Freiheit“ erreicht immerhin manches, wo es, wenn wir dem Oran-
gen der „Alles- oder Nichts“ Starrheit folgten, unfehlbar bei dem Nichts fein Be-
wenden hätte. .
Der deutſchnationale Austritt aus dem Kabinett ift kein Meifterftüd politiſcher
Kugheit gewefen. Er war ohne Weitſicht und zum mindeſten voreilig. Hätte man
doch wenigſtens gewartet, bis der erſte Dezember heran war, unter ſcharfer Beto-
nung des Standpunktes: Ohne Rückwirkungen kein Fa! Dann ging man einig mit
dem Kabinett und allen übrigen Parteien. Die Piſtole, die man denen draußen ſo
auf die Bruſt ſetzen konnte, iſt aber in die Luft abgeſchoſſen worden. Flugs regte ſich
der franzöfifhe Nationalblock. Was denn der Locarnovertrag überhaupt für einen
Zweck habe, wenn die ſtärkſte deutſche Partei ihn verwerfe? Man merkte ſofortige
Verſteifung in den rheiniſchen Fragen. Marſchall Foch, der Vater aller Hinderniſſe,
kam wieder auf; ebenſo Tirard, der das beſetzte Gebiet auch weiter wie eine Neger-
kolonie behandeln möchte. Neue Schwierigkeiten wegen des Generals von Seeckt
und der Schupo wurden ausgekramt; Chamberlain mußte vermitteln. Aber auch er
Der Tüurmer XXVIII, 3 18
266 Zürmers Tagedud
erreichte bloß, daß die Räumung der Kölner Zone mit dem erſten Dezember be-
ginnt, an dem ſie nach dem Geiſt von Locarno eigentlich beendet ſein mußte.
Mit großer Mühe gelang es vor neun Monaten, die Deutfchnationalen ins Reichs
kabinett zu bringen. Ein Kurs, würdig nach außen, zuverläſſig gegen radikale Quad-
ſalberei im Innern ſchien dadurch geſichert. Damit hat es nun ein Ende. Das
Kabinett Luther iſt nur noch ein Stuhl mit drei Beinen. Das rechte Zentrum, von
deſſen Kräftigung viel abhing, wendet ſich verärgert ab und erklärt, es werde mit fo
unficheren Kantoniſten nie wieder arbeiten. Das linke aber freut ſich und hält Joſeph
Wirth als nächſten Kanzler in der Hinterhand.
Dieſer unentwegte Erfüllungsmann iſt mit geſchwellten Hoffnungen aus Amerika
zurückgekehrt. Auf dem Kaſſeler Parteitag bekannte er ſich als unbeugſamer
Republikaner. Er tat es „mit leuchtenden Augen und ehrlicher Begeiſterung“.
Ein deutſchnationaler Entſchluß, der ſolche Folgen zeitigt, ob dies nicht ein Fehl
ſchritt war?
Mit einem ganz bedenklichen Streiche drohen die Sozialdemokraten. Die Rechte
dürfe nicht aus der Verantwortung herausgelaſſen werden. Wenn ſie gegen
Locarno ſtimme, würde man es auch tun, alſo den Vertrag damit zu Fall bringen.
Hier entblößt der Parlamentarismus ſeine übelſte Seite. Um den innerpolitiſchen
Gegner durch ein kaudiniſches Joch zu zwingen, bereitet man dem eigenen beſſeren
Wollen eine außenpolitiſche Niederlage, ohne Anſehen der Tragweite für Volk und
Reich. Auch ein Volksentſcheid wird gefordert. Höchſt demokratiſch, aber auch höͤchſt
ſinnlos. Bei ſolchen Scherbengerichten entſcheidet nicht der Sachverſtand, ſondern
die Maſſe, will ſagen der Schreier. Wenn nur ſtimmen dürfte, wer das feinmaſchige
Gewebe des Abkommens in ſeinen rechtlichen, politiſchen und ſeeliſchen Bedingt
beiten ſelber geprüft und erfaßt hat: wie viele unſerer 40 Millionen Urwähler ge
langten da überhaupt an die Wahlurne?
Seltſam ift, daß auch die Deutſchnationalen, der Demokratie ſpinnefeind, in det
eigenen Partei ganz demokratiſch handeln. Der alte tonfervative Wahlſpruch:
„Autorität, nicht Majorität“ wurde ſtill beifeite gelegt. Führende Männer des Land-
bundes, des Handels und der Induſtrie haben die Fraktion beſchworen, unſere Wirt-
ſchaftskriſe zu bedenken, die nur bewältigt werden könne durch langfriſtigen Aus
landskredit bei tragbarem Zins. Amerika aber leiht bloß, wenn der Locarno Vertrag
die Befriedung Europas bringt.
Allein man wog die Stimmen nicht, ſondern zählte fie. So wichen die drei deutſch⸗
nationalen Miniſter dem Oruck der Fraktion, wie dieſe zuvor dem Maſſendruck der
vaterländiſchen Verbände gewichen war.
Im Novemberheft hat eine andere Feder beſorgte Kritik geübt an den Entwid-
lungsgängen dieſer fo wacker gedachten und unſerer Zeit fo notwendigen Bünde.
Es iſt zuviel Fahnenſchwenken darin, zu viel Fanfarengeſchmetter, zu viel Präfen-
tier- und Parademarſch mit dem hoͤrbaren Augendruck und dem forſchen Schmiß der
Beine. Man ſieht in der Geſte ſchon die Tat; der Schein wird Selbſtzweck, und aus
ſteten Raufhändeln mit dem Reichsbanner erwächſt das Vorurteil, daß das wirt-
ſamſte Werkzeug der Politik nicht der Kopf ſei, ſondern die Fauſt. Schnell fertig iſt
daher die Jugend mit dem Urteil und berauſcht ſich an Blücherworten von dem
Türmers Tagebuch 267
verfludten Kroppzeug der Diplomaten, das mit Feder und Zunge verdirbt, was
immer nur in der Schwerthand bleiben müſſe.
Unter ihrem Drängen wurde der Schritt getan, von dem einer der rechteſten
Fuhrer der Partei, Schlange Schöningen nämlich, zuvor gefagt, feine Folgen wür-
den alle Anfänge des Wiederaufbaus zerſtören. Blinder Eifer hat das Ende nicht
bedacht. Er hat äußeren Schaden wie innere Kriſen hervorgerufen und ſich ſelber
obendrein jeden Rückweg verbaut. Denn kann man ſich jenen geſellen, die man als
Kaulquappen und Schaukelpferde verhöhnte, Miniſtern zuſtimmen, von denen man
ſagte, ein Franzoſe, der ſolche Ergebniſſe aus Locarno mitbrächte, wäre wie ein
gund erſchlagen worden? Mit Eifer verlegt ihnen auch die Linke jede Möglichkeit,
den Anſchluß wieder zu finden. Das iſt der ſchlagende Beweis, daß man in ein
parteipolitiſches Sedan geraten iſt.
Die Volkspartei hat bisher ſtets Anſchluß rechts geſucht. Sie wird nunmehr ge-
nötigt fein, nach links Fühlung zu nehmen, um ein Kabinett Wirth zu verhindern.
die große Koalition taucht wieder auf, weil ſie immer noch beſſer als die kleine,
die Weimarer iſt, die ſonſt käme. Aber bedauerlich bleibt es doch; bedauerlich um
des Vaterlandes, um unſerer Entwicklung, um Hindenburgs willen. Waren es nicht
bie Deutichnationalen, die den widerſtrebenden Greis am Portepee faßten und auf
den Präſidentenſtuhl zogen? Er übernahm das ſchwere Amt, um die parteipoliti-
iden Gegenſätze durch das Gewicht feiner Perſon zum Ausgleich zu bringen. Seine
abgeklärte Klugheit hat auch bereits viele Gegner feiner Wahl bekehrt. Selbſt das
Ausland, das ihn zuerſt als Militariſten beargwöhnte, iſt längſt anderen Sinnes.
on Amerika wird „old Hindi“ bereits populär, und Engländern wie Franzoſen
gilt ein Vertrag, dem er zuſtimmt, dreimal ſo viel als einer, der Marxens Segen
hätte. |
on allen kernig kurzen Gruß- und Dankreden auf feiner ſüddeutſchen Befucs-
teife hat der Reihspräfident immer wieder mehr Geſchloſſenheit in den großen
lebenswichtigen Entſcheidungen und mehr gegenſeitiges Vertrauen gefordert. Es
betrübt ihn, daß feine Mahnung gerade bei denen unfruchtbar blieb, die fic fo
gerne ſeine Partei nannten. Es kann eine Reichstagsauflöſung kommen und bei den
Vahlen ſtünden ſie dann gegen ihn. Sicher zu ihrem eigenen Schaden, denn viele
Setreue würden ſagen: „Tut, was ihr wollt, ich gehe zum Hindenburg.“
F. H.
Abgeſchloſſen am 21. November
Für die vaterländifhe Bewegung
it laffen heute gleich drei Stimmen aus
dem ,gungdeutiden Orden“ hinter-
einander das Vort; dazwiſchen auch einem
Vertreter des „Stahlhelms“. Alle drei gehen
von der Empfindung oder Vorausſetzung aus,
daß es ſich bei unfrem Mahnwort um einen
„Angriff“ handelte — was ganzlich abwegig
iſt. Alſo:
Lieber Türmer!
Vielleicht hat man Sie unter den Zuſchriften
auf Ihren erſten Vorſtoß gegen (7 O. T.) den
Orden nicht darauf hingewieſen, daß wir, das
heißt die Führer im Orden über die Ver-
dußerlichung der nationalen Bewegung
gen au fo denken wie Sie, daß unſer Hoch;
meiſter, {don ehe Ihr Auguſtheft den Artikel
brachte, genau dasſelbe geſagt und gedruckt hat.
Ich ſetze es noch einmal hierher. (Wir haben es
bereits, von uns aus, der jungdeutſchen Zei-
tung entnommen. Vgl. Novemberheft ! O. C.)
Es dürfte Ihnen auch klar fein, daß hier und
da Veranſtaltungen wie die in Leipzig und
Detmold nötig find, daß man aber von ihnen
aus nicht die ganze Bewegung beurteilen
kann. Es iſt darum bedauerlich, daß Sie von
ſolchen Veranſtaltungen aus ſchließen, daß der
Orden auf „Stille Vertiefung nicht eingeſtellt“
fei. (Nein, wir gehen nicht von Einzelnem aus,
ſondern ſprechen von der Geſamtaufgabe.
O. T.)
Wenn Sie einmal die Tageszeitung „Der
Jungdeutſche“ vielleicht einen Monat lang
durch feine Beilagen verfolgen und mit ande;
ten nationalen Blättern vergleichen, müͤſſen
Sie zugeben, daß Sie kaum irgendwo ſoviel
Hindrängen auf Vertiefung und Beſeelung
finden wie dort. Beilagen wie der „Arm-
leuchte“ im „Stahlhelm“ finden Sie im
„Jungdeutſchen“ nicht. (Wir leſen den „Jung-
deutſchen“ ſchon lang und achten jene Be-
ftrebungen. D. T.)
gn der Sonntagsnummer vom 4. Oktober
1925 find Friedrich Lienhard, dem Heraus-
geber des „Türmers“ vier ganze Seiten ge-
er
widmet, in welcher Zeitung haben Sie das in
aͤhnlichem Ausmaße gefunden? Daraus nur
das Vorwort über die „Oeutſchen Meifter, die
die geiſtigen Vorkämpfer für unſere gegen-
wärtige vaterländiſche Bewegung find“: „Aus
der Reihe dieſer Meiſter begrüßen wir heute
Fr. Lienhard als beſonders volkstümlichen,
geiſtigen Führer, in deſſen Schaffen und Ideen
wir oft Leitſätze des Zungdeutſchen Orden
vorgeftaltet wiederfinden. Die deutſche Not
iſt vielgeftaltig und groß — möchte die vater;
landifhe Bewegung ſich der feelenbildenden
und Vorwärtswillen ſpendenden Krafte im
Werke dieſes deutſchen Dichters bedienen,
dieſen und andere Meiſter einbeziehen in den
Bau des neuen Deutidlands, das nur fein
wird, wenn es vom Geiſte erfüllt wird.“
Genügt Ihnen das nicht zur Rennzeichnung
unferes Strebens nach „ftiller Vertiefung“,
wenn das nicht nur in unſerer Zeitung ge-
ſchrieben, ſondern auch in unſern Bruder-
abenden behandelt wird? Gerade der Zung-
deutſche Orden iſt ehrlich bemüht, mehr Ber-
innerlichung zu treiben als andere Ver-
b an de, wenn er auch bel manchen äußerlichen
Aufzügen mitwirkt und vor die Öffentlichkeit
tritt. Paſtor Kirchhoff
NB. Oer Verfaſſer meint in einem Schluß;
fag, daß wir durch unfren „verlegenden Ton
der guten nationalen Bewegung geſchadet
haben. Ahnlich wird uns von einem perſoͤnlich
uns befreundeten Stahlhelm-Manne ge
ſchrieben: „Als Stahlhelm - Mann war ich
ſchmerzlich berührt von dem Artikel (Oktober)
über die Deräußerlichung des vaterländiſchen
Gedankens. So ſehr es auch mir notwendig
erſcheint, daß wir uns auf „ſeeliſches Gebiet“
befinnen, fo beſtreite ich entſchieden, daß weder
Sungdeutide noch Stahlhelm auf ftille Ber-
tiefung eingeftellt ſeien. Dem Zungdeutſchen
Orden wird damit beſonders unrecht getan.
Der Stahlhelm hat allerdings viel Arbeit
draußen auf der Straße zu tun. Man ſollte ihm
das aber nicht zur Laſt legen, vielmehr dem
Stahlhelmkameraden dankbar ſein, daß ſie
manche ſtille Stunde im Heim opfern, um
! oS a ee,
Auf der Warte
nationale Leute im roten Induſtrie zentrum
aufzurütteln. Nur dem Stahlhelm iſt es zu
verdanken, daß Mitteldeutſchland nicht mehr
die gochburg der Rommuniften iſt. Allerdings
hat mancher Stahlhelmer fein Leben für die
gute Sache hergeben miiffen. Geſtern war der
große Tag in Leipzig! Wie dankbar grüßten
uns unzählige alte und junge Leute! Das rote
Leipzig ſah mal wieder Hunderttauſende jun;
ger und alter Krieger auf einem Platze zu-
ſammen. Das Verlaſſenheitsgefühl fo manches
Einzelnen mag geſchwunden fein, er mag wie;
der Hoffnung und Mut zu „itiller Vertie fung“
ins Heim mitgenommen haben. Wie tot lag
das Juden Frankfurt am 10. Mai d. J. da, als
wir damals morgens früh dort einrüdten, und
welch Zujubeln der wie erlöften nationalen
Bevölkerung am Abend beim Abriiden! Heute
ift der Stahlhelm Frankfurts bis Offen bach,
eines der ſchlimmſten roten Neſter, vorge-
dringen! Er darf fic wieder zeigen, fo und
ſo viel Schlafmützen ſind aufgewacht! Da
ſollte der Farmer, den ich ſonſt fo gerne leſe,
nicht fold harte Worte ausſprechen !*
Haben wir denn eigentlich von dem hier Ge-
ſagten etwas beſtritten? Wenn wir mahnten,
die organiſierten Maſſen nicht einſeitig zu
üderſchãtzen, fo wird dies als „harte Worte“ be-
klagt; auch eine dritte Zuſchrift „verbittet ſich
energiſch“ jeden „Angriff“! Gleichzeitig wird
aber von derſelben Seite zugegeben, daß die
Führer über die Veraͤußerlichung des natio-
nalen Gedankens „genau ſo denken wie der
Türmer“ ! Ja wie iſt es denn nun eigentlich?!
DO. T.
Ein Wort für den Jungdeutſchen
Orden
an ſchreibt uns weiter zu der neulich
angeſchnittenen Frage „Veräußer⸗
lichung des nationalen Gedankens“ Folgendes,
das mit derſelben Feſtſtellung beginnt:
„Wir Zungdeutſche ſind uns vollkommen
dewußt, daß die gegenwärtige vaterländiſche
Bewegung der Verflachung anheim ge-
fallen iſt. Wir ſahen die Gefahr in unſerer
Organiſation heraufdämmern und ſetzten fe-
fort mit dem erſten Gegenſtoß ein: Cinfdran-
kung ſämtlicher Rundgebungen und Ver-
269
anftaltungen. Zu gleicher Zeit wurden die
erſten Meiſterſchulen zur Heranbildung tüdy-
tiger, geeigneter Fuhrer ins Leben gerufen,
eine innere, vertiefende Ausgeſtaltung der
Bruderabende durchgeführt. Unterſtuͤtzt wird
dieſer Kampf gegen die Verflachung in
muftergültiger Weiſe durch unſere Ordens
zeitung, der, Zungdeutſche“. Die täglichen Bei-
lagen und Sonderbeilagen (Eberhard König,
Friedrich Lienhard, die Deutfche Nordmark
uſw. ) find die Werkzeuge, die dauernd an dem
großen Verke der Vertiefung arbeiten.
Wenn der ‚Zürmer‘ zum Schluß feiner Aus-
führungen kurzerhand das vernichtende (7 9.
T.) Werturteil über uns fällt, fo beweiſt er da-
mit, daß ihm die großen Hinderniſſe für eine
ſittliche Wiedergeburt Deutſchlands nicht ge-
nügend bekannt find (1 O. T.). Jeder, dem es
um die geiſtige Erneuerung Ernſt iſt, muß ein-
mal den Mut aufbringen, die Gerhdltniffe
heute ſo zu ſehen, wie ſie ſind und nicht wie
man ſie ſich vorſtellt. Und die gegenwärtige
Lage ergibt, daß Egoismus und kraſſe Genuß;
ſucht weit tiefer ins Volk eingedrungen ſind,
als man gemeinhin annimmt. Seien wir doch
ehrlich: Wer kauft ſich heute ein gutes
Buch und wer lieſt es? Ooch nur ein klei-
ner, beſchraͤnkter Kreis von ideell eingeſtellten
Menſchen. Soll es aber bei dieſen wenigen
Idealiſten bleiben? Nein, denn ſonſt wäre ja
die anerſtrebte ſittliche Erneuerung Oeutſch⸗
lands nur eine fhön klingende Phraſe. Die
breiten Maſſen des geſamten Volkes müffen
doch erfaßt und allmahlich umgewandelt und
veredelt werden. Bücher und Zeitſchriften
kommen — ohne etwa ihren außerordentlichen
Erziehungswert beeinträchtigen zu wollen —
bierfür nur im beſchränkten Maße in
Frage, da ſie eben nur von einer beſtimmten
Menſchengruppe geleſen werden. Wollen. wir
nun unſer Ziel wirklich erreichen, fo müffen wir
dem Beiſpiele geſu folgen: Hinein in das
Volk, durch Vorbild und Hintanſetzung der
eigenen Perſon unermüblid arbeiten, ſich
durch nichts beirren und verbittern zu laſſen.
Das hat der Jungdeutſche Orden getan und tut
es tagtäglich. Aber erſt der, der mitten im
Volke ſteht und in ihm arbeitet, ſieht ſich mit
einem Male Schwierigkeiten und Hinderniſſen
270
entgegengeftellt, die er vorher nicht geabnt
hat, ſieht, welch ungemein ſchweres Aderfeld
das heutige Deutſchland für ideale Ziele ge-
worden iſt. Vom grünen Tiſch aus laſſen ſich
leicht Programme für eine ſittliche Umgeftal-
tung aufſtellen, läßt ſich leicht Kritik an der
Arbeit der vaterländiſchen Verbande üben,
aber in der rauhen Wirklichkeit iſt die Durch;
führung all dieſer ſchöͤnen Gedanken oft mit
Scheitern und zähen, harten Widerſtänden
verknuͤpft.
Und eben weil die Schwierigkeiten ſo groß
ſind, dürfen wir die Erwartungen nicht allzu
hoch ſtecken und muͤſſen uns mit kleinen, be;
ſcheidenen Erfolgen für den Anfang zufrieden
geben. Von heute auf morgen läßt ſich kein
Umſchwung herbeiführen. Zit es nicht ſchon
ein Schritt vorwärts auf dem Wege zu unſerem
großen Ziele, wenn im Zungdeutſchen Orden
Menfchen zufammengeführt werden, die bisher
fremd und achtlos aneinander vorübergingen,
ſich gegenſeitig die Bruderhand drücken, ſich
an einen gemeinſamen Tiſch ſetzen und für
einander einſtehen? Zit es dem ‚Zürmer‘
nicht bekannt, daß an dem großen jungdeute
ſchen Tage in Leipzig alte Generäle mit dem
Pour le mérite neben ungedienten jungen Ar-
beitern Glied in Glied im gleichen Wind-
jackenrock an ihrem gemeinſamen Führer,
einem jungen Hauptmann, vorbeimarfcier-
ten? Will er diefer Tatſache nicht Rechnung
tragen und der bier ſichtbar zum Ausdruck ge-
kommenen Einigung deutſcher Männer, der
Vorbedingung für den Aufbau unſeres Vater;
landes, die Augen verſchließen? Wenn ſie
nicht alle von der gleichen Idee tief erfaßt
wären, würden fie nicht die vorher muͤhſam
erſparten Koſten für Bahnfahrt, Feſtbeitrag
uſw. ausgegeben haben und ſich nicht Reihe
in Reihe mit fremden Menſchen ftellen. Zch
würde dem, Tuͤrmer! raten, ſich einmal andere
nationale Verbände nach dieſem letzten Ge;
ſichtspunkt anzuſehen, wo heute ſchon wieder
eine kaſtenartige Gliederung gewiſſer Gruppen
unſchwer zu erkennen iſt.
Das gemeinſame ‚An-einen-Tifch-fegen‘ er-
fordert von jedem einzelnen Zungdeutſchen
Opfer, die nicht zu niedrig anzuſchlagen ſind.
Die perſönlichen Bedürfniffe, das eigne Ich
Auf der Bart
muß zugunſten der anderen Brüder zurüd-
geſtellt, von gewiſſen äußeren Lebensformen
Abſtand genommen werden. Wie viele, die
ihr Vaterland mit heißem Herzen lieben, bon ⸗
nen ſich dazu aufſchwingen, das Wort in die
Tat umzuſetzen, wenn es gilt, neben Menſchen
der verſchiedenſten Berufsſchichten Platz zu
nehmen, fie als Gleichberechtigte anzuſehen,
Anteil an ihren Lebensverhältniſſen zu ner
men und ihnen, wenn fie im ſchlichten Verl
tagsgewande auf der Straße erſcheinen, aus
ehrlichem Herzen, ohne ſich zu ſchämen, einen
fröhlichen Gruß zurufen. Ach, es iſt nur ein
beſcheidener Teil! |
Die Zugehörigkeit zum Orden iſt auch ſonſt
noch mit mannigfachen Opfern an Zeit und
Geld, an Schuhwerk und Kleidung verbunden.
Ob Sonn- oder Verktags: jede freie Zeit
ftellen wir dem Ordensdienft zur Der
fügung. (Eine beſcheidene Zwiſchenfrage: wo
bleibt die Familie? O. T.) Keine Entfer-
nungen find zu groß, keine Unbilden der Witte
rung können uns abhalten, unſere Ordens
pflicht zu erfüllen. Und wir, die wir mit
Luft und Liebe dem Jungdeutſchen Orden an-
‚gehören, tun es gern, weil uns eine tiefe Adee
befeelt. Um diefer Idee willen find wir in den
Orden eingetreten und haben freiwillig Laſten
und Opfer auf unſere Schultern genommen.
Betrachtet der ‚Türmer‘ einmal die Geſamt
zahl der Deutiden mit der Zahl der Deut
ſchen in den nationalen Verbänden, fo muß
er feſtſtellen, daß ſich nur ein ganz geringer
Prozentſatz (1) in dieſen dem Vaterlande zur
Verfügung geſtellt hat, aus Idealismus her-
aus. Bei der allgemein tiefftebenden me
terialiſtiſchen Lebensauffaſſung im heutigen
Oeutſchland ift dieſe Tatſache nicht zu niedrig
zu werten; denn das Zeitalter der Freiheits ·
kriege iſt vorbei, wo Dienſt fürs Vaterland
ſelbſtverſtändliche Pflicht eines jeden Deut
ſchen war. Heute lautet die Antwort, die man
bei der Werbearbeit ſtets zu hören bekommt:
Es ſollte mir wohl einfallen, fürs Vaterland
noch etwas zu tun, mögen es doch die machen,
die den Wagen in den Ored gefahren haben.
Oder: „Ich möchte ſchon gerne in den Orden
eintreten, aber dann habe ich zu viele Ger-
pflichtungen, dann muß ich dauernd meine
—
— — œ — . — h —
wa ME —w K
2 — — —
Auf bee Barte
freie Zeit opfern und Geld bezahlen, dann
babe ich nichts von meiner Jugend und das
Geld kann ich beſſer verwerten. Nein, dann
kann ich nicht eintreten‘ ufo. Wenn es uns
dann trotzdem gelingt, nach zäher Arbeit einen
ſolchen Menſchen davon zu überzeugen, daß
er in heutiger Notzeit nicht das Recht als
echter Deutſcher hat, nur an ſich zu denken
und auch für feine Mitmenfhen Opfer zu
bringen hat, dann dürfte der Orden wohl wie;
der einen Schritt weiter auf ſeinem großen
Vege getan haben, wie auch der ‚Zürmer‘ zu;
geben muß.
3h mochte, ohne den Orden etwa pharifäer-
haft zu rühmen, nur kurz einige Tatſachen
anführen: Lebensmittel und Gachwertfamm-
lungen für bedürftige Volksgenoſſen wurden
veranſtaltet, Geufentiden eingerichtet, eine
Tageszeitung aus eigenen Mitteln ohne einen
Pfennig fremden Geldes, die ſich die Zurüd-
führung Deutſchlands zum deutſchen Weſen
als Ziel geſetzt hat, ins Leben gerufen. Jung;
deutſche wurden wegen ihrer Zugehörigkeit
zum Orden beim Einbruch der Franzoſen ins
unbeſetzte Gebiet 1923 verhaftet, ins Gefäng-
nis geworfen; in vielen tommuniftifd-fogia-
liſtiſch verſeuchten Gegenden find die Ordens;
brüder wüften Mißhandlungen (f. ‚Der Zung-
deutfche"), die auch in mehreren Fällen zum
Tode führten (3. B. Jungbruder Spiecker⸗
mann), ausgeſetzt. Bei der Reichspraͤſidenten ·
wahl in dieſem Sabre trat der Orden im zwei;
ten Wahlgange fofort für Exzellenz von Hin;
denburg ein, hatte einen heftigen Rampf mit
dem Loebell⸗Ausſchuß zu beſtehen. Zur Finan-
zierung des Wahlkampfes erließ dann unſer
Hodmeifter das bekannte Verbot, Rauchen
und Trinken für eine Woche einzuſtellen und
das hierdurch erſparte Geld der Hindenburg;
wahl zur Verfugung zu ſtellen.
Es ſoll dem , farmer’ unbenommen bleiben,
Kritik an der vaterländiſchen Bewegung, auch
an uns, zu üben. Aber wenn er von einem
objektiven Urteil redet, ſo kann man doch
zweifellos erwarten, daß er auch in derſelben
Veiſe den, Stahlhelm“ einer näheren Prüfung
unterzieht. Aus welchem Grunde der ‚Zür-
mer nicht zu den ,fittlid vertiefenden Arm ·
leuchter· Beilagen der Stahlhelmzeitung und
271
manchen darin angebotenen Büchern (‚Eine
Ladung Frontwitze) Stellung genommen
hat, bleibt mir ein Rätfel. Sollten fie dem
„Türmer“ unbekannt fein, fo rate ich ihm, fie
zu leſen; fie find wirklich ſehr erhebend.“
Karl Go ßmann
Ein weiteres Wort von ſungdeutſcher
Seite
ſoll hier neben den andren Platz finden:
Auf Ihren Artikel im Oktoberheft über Ver;
äußerlihung des vaterländiſchen Gedankens
geſtatten Sie mir eine Entgegnung, wie Sie
eine ſolche vor einigen Jahren auch einem
_ Geiftigen aus den Reihen Adolf Hitlers ge-
ſtattet haben (Taube). Hitlers Bewegung iſt
inzwiſchen infolge der Putſchbeſtrebungen au-
ſammengebrochen; der Orden, durch ſeinen
Hochmeiſter vor gleichen Fehlern bewahrt (und
deshalb als unvoͤlkiſch beſchimpft), blüht heute
mehr denn je zuvor. Als Ausweis und Be;
rechtigung diene für mich, daß ich Vater meh;
terer Rinder bin, einen mich voll in Anſpruch
nehmenden Beruf ausübe, 41 Monate in der
Front geſtanden habe und feit vier Jahren der
jungdeutſchen Bewegung angehörte.
1) Gegen die Veraußerlichung der vater
ländiſchen Bewegung durch Paraden und
„deutſche Tage“ tdmpft wohl kein Menſch fo
intenſiv wie unſer Hochmeifter, weswegen der
Orden ſchon oft genug als nicht national von
allerhand Gprubeltöpfen geſchmäht wurde.
Mahraun hat immer wieder in Wort und
Schrift darauf hingewieſen, daß die vielen
Feſte zu einer Verflachung unſeres Hoch-
gedankens führen müßten. Nun iſt die Teil-
nahme an den gar nicht fo häufigen Tagungen
aber notwendig, weil die jungdeutſchen Brü-
ber wenigſtens einmal im Jahre ihren Hoch ·
meiſter ſehen wollen. Dann iſt aber auch ein
ſolches Zeit jedesmal, und zwar nach Mah-
rauns Willen, ein ſchweres Exerzitium im
Aus halten von Anſtrengungen und Entbeh-
rungen jeder Art, wie ich es in gleicher Schwere
ſelbſt beim Militär kaum je erlebt habe. Dazu
gehört eine ganze Portion jungdeutſchen
Idealismus. Der im „Türmer“ beanftandete
Bericht des „Jungdeutſchen“ mußte fo aus-
272
fuͤhrlich fein, weil faft alle nationalen Blätter
eine einfeitig entſtellende, verkleinernde Dar-
ſtellung brachten. Bel dieſer Gelegenheit
möchte ich auch auf einen Irrtum des „Tür⸗
mers“ hinweiſen, namlich als ob wir eine
Zugend bewegung wären: Der Orden baut ſich
auf dem Fronterlebnis auf und iſt in ſeinem
Kern immer eine Vereinigung von Front-
tämpfern geblieben. Doch zurück zum „Zung-
deutſchen“ und ihren Berichten! Hat denn
eine Zeitſchrift, die die Gedanken einer Per-
ſoͤnlichkeit vertritt, nicht das Recht und die
Pflicht, den Mund gehörig voll zu nehmen,
befonders, wenn dieſe Gedanken überall fonft
totgeſchwiegen werden?
2) Der „Türmer“ ſchreibt: Uns hilft jetzt nur
Beſinnung auf unſer ſeeliſches Gebiet, wo das
Geheimnis der Kräfte aud für die vater
ländiſche Bewegung zu ſuchen iſt. Es fehlen
der vaterländiſchen Bewegung die meta-
phyſiſchen Hintergründe... Was die meta-
phyſiſchen Hintergründe betrifft, fo erſetzen
wir dieſe durch treues Feſthalten am Chriften-
tum und Oeutſchtum, und ich meine, das iſt
kein ſchlechter Erfah. Bezüglich der ſeeliſchen
Vertiefung jedoch rate ich dem „Türmer“
dringend, einmal unſeren „Zungdeutſchen“
recht aufmerkſam durchzuleſen, ebenfalls die
Abende einer gutagleiteten Bruderſchaft zu
beſuchen und ihr Getriebe kennen zu lernen.
3m glaube, er wird beſchämt von bannen
gehen oder noch beffer, er wird fid zur Auf-
nahme melden. Grade dieſe ſeeliſche Ver-
tiefung ſuchen wir ja zu erreichen in unſeren
Einheiten, wobei wir allerdings unter fee-
liſcher Vertiefung nicht irgendwelches ver-
blaſenes Aſthetentum (1 Als ob der „Türmer“
fo etwas wiinfdte! Wir bedauern dieſen gan-
zen Ton. D. T.) verftehen, ſondern die gegen;
ſeitige Erziehung zu den verlorengegangenen
ſeeliſchen Werten der Treue, des Gehorſams
und der Brüderlichkeit, des Vertrauens und
des Glaubens. Außerdem aber iſt jeder Meiſter
beſtrebt, in wiſſenſchaftlichen und künſt⸗
lerifchen, ſowie ſozialen Fragen feine Einheit
dauernd durch Zuhilfenahme ſchaffender Brü-
der zu unterrichten. Und hat der „Türmer“
einmal etwas gehört von dem Liebeswerk des
Ordens, dem Einſatz ſeiner Kräfte für not;
Auf der Wette
wendige Zwecke der Geſamtheit, wie z. B. die
Seuſenküchen? Ich glaube, ich könnte un;
ſchwer nachweiſen, daß beſonders im Zahte
1923 ein Großteil der Gefamt-Liebestätigteit
vom jungdeutſchen Orden getragen worden
ijt. Zch kann wohl an viele Krit. ker ur.feres
Wollens die Frage nach ihrer Liebestätigkeit
in jener ſchweren Zeit richten und bekomme
keine oder nur verlegene Antwort. (Wir haben
gegen ſolche Tätigkeit nicht nur nichts einzu-
wenden, ſondern freuen uns darüber und
fordern fie auch im „Zürmer“ ; überhaupt geht
auch dieſe Entgegnung immer von der törid-
ten Vorausſetzung eines „Angriffs“ aus und
vergreift ſich mehrfach im Ton. Wir ſpra⸗
chen im „Türmer“ von der „ vaterländiſchen
Bewegung“ insgeſamt und von ihren Ge-
fahren, als Mahnung, nicht als Kritik oder
Spott! D. CT.)
3) „. . Thomas Weſterich, der unter den
vaterländiſchen Führern vielleicht mit am
beſten weiß, worauf es ankommt —“ Zch ſtehe
feit Nriegsſchluß in der vaterländiſchen Be
wegung und glaube die Fuhrer derſelben zu
kennen, aber dieſer Name iſt mir gänzlich
unbekannt, und das will bei einem alten
jungdeutſchen Rämpen ſchon etwas beißen,
der noch die Kampfe mit der Orgeſch mit
gemacht und durchgekämpft hat. Wir ver
ſtehen unter einem Führer nicht nur einen
Mann mit klugen Gedanken (ſolche gibts viel
zuviele in Oeutſchland), ſondern einen ſolchen,
der es verſtanden hat und verſteht, eine
größere Anzahl von Menſchen jeden Alters
und Berufs für feine Gedanken erſt zu er
wärmen und dann zu ſammeln, um dann,
geſtützt auf dieſe Gefolgsmannen, mit
feinen Gedanken in der Öffentlichkeit zu wir
ten. Nach dieſer Begriffsbeſtimmung wird det
„Türmer“, wenn er ernſt genommen zu wer
den wünſcht (1 O. T.), nicht mehr fo ſchnell
mit dem Ehrentitel „Führer“ bei der Hand
fein. Solcher Fuͤhrerſchaft haben ſich bislang
erſt wenige würdig und mächtig gezeigt, und
der im, Tuͤrmer“ genannte Herr gehört m. B.
nicht dazu. (Diefes Geſtaͤndnis, deſſen Ton wit
bedauern, beſtätigt ſchlagend unſre Beſorg
niſſe: Thomas Weſterich, Herausgeber det
„Deutſchen Front“ in Hamburg, bat eine Reihe
Auf der Warte
don tlefernſten bramatiſchen Myſterien (3. B.
„Der weiße Herzog“) geſchrieben, die von
Hildebrant wirkſam vorgetragen zu werden
pflegen, und bemüht ſich beſonders um eine
nationale Bühne. Und der nationale Nachbar
Dr. guchzerme her hat noch nicht einmal feinen
Ramen gehört! Vermutlich kennt er auch
nicht den Charaktertopf Wilhelm Stapel,
Herausgeber des „Oeutſchen Volkstums“ in
gamburg. O. T.)
gn der bekannten Evangelien - Aberſetzung
deutet Goethe den „Logos“ nacheinander als
Bort, als Sinn, als Kraft und als Tat. Das
ſind für uns vier Typen der nationalen Be-
wegung. Mit den Anhängern des Wortes,
den Schlagwortdurſtigen und Phrafen-
ſchluckern, mit der ganzen Rauſchſeligkeit des
vier haus patriotismus (Als ob das „Wort“
nur in ſolcher Verzerrung zu werten wäre!
9. T.) wollen wir nichts zu tun haben. Unfere
jungdeutſche Treue iſt nicht etwas, was in
tedenerzeugter auflodernder Begeiſterung un;
bedacht geſchworen wird, ſondern was in har;
ten Kämpfen mit dem eigenen ſelbſtſuͤchtigen
3 und mit widrigen Einflüffen der Außen
welt gehalten wird.
Ver heute begeiſtert Treue ſchwört
Und hat's morgen abgeſchworen,
Oer zeigt, daß er zum Pöbel gehört,
Der hat ſeinen Adel verloren.“
Aber auch der Sinn kann uns nicht helfen,
nicht die feelifche Vertiefung (1 vgl. oben:
grade dleſe ſeeliſche Vertiefung fuchen wir — !
O. T.), wie der „Zürmer“ fagt, fo ſehr wir
beſinnliche Menſchen auch in unſere Reihen
wünſchen. „Wo viel Weisheit iſt, da iſt viel
Srämens“, fagt die Schrift, und zu gräm-
lichen Raffeehaus-Literaten (1 O. T. Als ob
der „Lürmer“ ſolche Leute empföhle, nachdem
beffen Herausgeber lebenslang dieſe Sorte
bekampft hat! Verehrteſter, hier werden Sie
platt! D. T.) haben wir alten Frontkämpfer
jo gar keine Eignung: da paßt für uns ſchon
beſſer das dritte: „Im Anfang war die Kraft“.
Und doch, Oank ſei unſerem Hochmeiſter, daß
et uns vor der richtungsloſen Rraftentfaltung
Hitlerſcher Richtung, dem Putſchismus faſt
gegen unſeren Willen bewahrt hat, wo ſogar
275
der fo kritiſche „Türmer“ dieſem wilden
taumelnden Aktivismus durch Frhr. von
Taube einen Dithyrambus anſtimmte. (Zn
der Abteilung „Offene Halle“, bitte, und als
Entgegnung! O. T.)
Unfer iſt das vierte: Zm Anfang war die Tat!
Tatgemeinſchaften wollen wir ſein im
jungdeutſchen Orden, und wir vertrauen unfe-
rem Hochmeiſter, der uns nie falſch geführt hat,
daß er uns weiter zur jungdeutſchen Tat
führen wird.
Dr. Huchzermeyer, tgl. Oberarzt d. R. a. O.,
jungdeutſcher Ordensbruder.
Nachwort. Wir freuen uns Ihrer Treue,
Herr Doktor, aber Sie betonen hier Dinge, die
wir nie und nimmer beanſtandet, und Sie
be kämpfen anderes, was wir nie gejagt haben.
Dazu verzerren Sie manches, z. B. wenn Sie
ſagen, „auch der Sinn kann uns nicht helfen,
nicht die ſeeliſche Vertiefung“ — ja, zum
Kuckuck, was denn nun eigentlich?! Im
übrigen iſt dieſer Artikel durch unſre feit-
herigen Ausführungen im Novemberheft zum
Teil überholt. Und jeder Unbefangene wird
mit uns den Eindruck haben, daß die ſe Art
der Erörterung unfruchtbar iſt. Wir hatten die
vater ländiſchen Verbände aufgefcrdet, ſich
planmäßig großen Kulturaufgaben zu
widmen. Die deutſche Bühne z. B. iſt unpeil-
voll verloddert, deutſche Dichter wie Eb. König
hungern, deutſche Maler und Bildhauer leiden
bitterſte Not uſw. Alſo das, was wir meinen,
iſt überhaupt nicht N worden. Wir
brechen ab. D. T.
Theaterelend
Kein lebender deutſcher Dichter auf
Berliner Bühnen! Dreizehn Berliner
Theater ſpielen allabendlich auslän-
diſche Autoren! 2
ie Unverſchämtheit diefer Bühnenleiter
kann kaum noch überboten werden. Im
gut geleiteten Feuilleton des „Mannheimer
Tageblattes“ finden wir unter obigen Aber-
ſchriften die folgende Betrachtung. Wann wird
denn endlich die einmütige Empörung des
deutſchen Volkes dieſer Mißwirtſchaft ein Ende
machen?
274
Die Berliner Spielpläne bringen alſo in
dieſen Wochen (Anfang November) nicht ein
einziges Stuck von einem lebenden deutſchen
Dichter. Einzig der Name Klabund fdr nte ge-
nannt werden, aber unter Einſchrän kungen;
denn der „Kreidekreis“, den das Oeutſche
Theater ſeit einigen Tagen ſpielt, iſt nur eine
Nachdichtung nach dem altchineſiſchen Stück,
kein Originalwerk des Dichters. Dreizehn
Bühnen fpielen allabendlich aus län diſche
Autoren. Ganze drei Theater widmen
ſich deutſchen Oichtern: freilich nicht
lebenden deutſchen Didtern, ſondern er-
probten Klaſſikern und Längſtverſtorbenen
— Schiller, Goethe, Leſſing und Grabbe. Es
find dies die zwei Berliner Gemeinfchafts-
theater: das Staatsſchauſpielhaus (mit ſeiner
Filiale, dem Schiller Theater) und die Volks-
bühne, ferner das Theater in der Röniggräßer
Straße (in dem Barnowfli an mehreren
Abenden der Woche Grabbes „Don Zuan und
Fauſt“ aufführt).
Zehn Berliner Schauſpielbühnen
haben in dieſer Saiſon überhaupt noch
keinen deutſchen Oichter, nicht einmal
einen verſtorbenen, geſpielt. Das gilt
eigentümlicherweife in erſter Linie von den
drei Reinhardt⸗Bühnen. Max Reinhardt
brachte ſeit Spielbeginn folgende Stüde zur
Aufführung: in der Komödie am Rurfürften-
damm „Madame Bonivard“ von Biſſon,
„Herz iſt Trumpf“ von Gandéra, „Gefell-
ſchaft“ von Galsworthy; in den Rammeripie-
len „Sechs Perſonen ſuchen einen Autor“ von
Pirandello, „Wolluſt der Anſtändigkeit“ von
Pirandello, „Mann, Tier, Tugend“ von
Pirandello, „Parable will nicht heiraten“ von
Jerome K. Jerome; im Oeutſchen Theater
„Wan kann nie wiſſen“ von Shaw, „Dr. Knock
von Zules Romains, „Die heilige Johanna“
von Shaw. Hierzu kämen allen falls der
deutſch- chineſiſche „Kreidekreis? und der
„Strom“, der zum 60. Geburtstag Max Halbes
zwar einſtudiert, aber alsbald wieder vom
Spielplan abgeſetzt wurde. (Von dem gleich
falls 60 jährigen Lienhard nahm keine einzige
Bühne Notiz.)
Dem Beiſpiel Max Reinhardts folgten die
meiſten anderen Berliner Theaterdirektoren
Auf der Bari
ohne Bedenken. Das Renaiſſance- Theater
ſpielte Strindbergs Stücke „Totentanz“ und
„Scheiterhaufen“, Arzybaſchews „Rampf der
Geſchlechter“ und bereitet jetzt Pirandellos
„Das Leben, das ich dir gab“ vor. Im Theater
am Kurfuͤrſtendamm: „Der gläferne Pan-
toffel“ von Molnar, „Wenn ich wollte“ von
Geraldy. Im Kleinen Theater: „Beſſer als
früher“ von Pirandello, „Hochzeitstage“ von
Geraldy. In der Tribüne: „Zurück zu Methu-
ſalem“ von Shaw. Im Luſtſpielhaus: „Ritter
Blaubarts achte Frau“ von Savoir. Im
Theater am Schiffbauerdamm: „Lady Fanny
und die Dienftbotenfrage* von Zerome K. Je
rome. Im Theater in der Rlofterftraße: Frau
Warrens Gewerbe“ von Shaw.
Abgeſehen von den drei Theatern, die heute
als die einzigen in Berlin deutſche Stücke [pie
len, brachten vier andere Bühnen nach Saifon-
eröffnung zunädjft zwar deutſche Autoren her
aus, erſetzten ſie dann aber ohne Ausnahme
alsbald durch ausländiſche Namen. Fm W-
mödienhaus folgte auf Georg Kaiſers „Mar-
garine“ — „Kopf oder Adler“ von Berneuil,
im KLeſſing- Theater auf Goethes „Sötz“ —
„Gier unter Ulmen“ von O'Neill, im Reſidenz⸗
Theater auf Fuldas „Zugend freunde“
„Arces Heirat“ von Picard, im Trianos -
Theater auf „Epſteins Witwe“ (Schwank det
Brüder E. u. A. Gols) — „Zm Bamencoupt’
von Sennequin und Nitſchell. Einzig de
Staatstheater widmete ſich Goethe, Schilke,
Leſſing, Grabbe, Halbe (neben Shaw, Bde
how, Ibſen und den Oſterreichern Anzen ·
gruber und Schnitzler) und die Volksbühnt
ſpielte Schiller und Gerhart Hauptmann
(neben zwei Shakeſpeare Stücken). Sieht man
von den Schwankdichtern E. u. A. Golz und
von einem Volksſtückautor (der in einem
Filialtheater der Volksbühne geſpielt wird}
ab, fo find feit Beginn der Saiſon in Berl n
summa summarum folgende lebende deutſch
Dichter aufgeführt worden: Hauptmann,
Halbe, Fulda, Georg Kaiſer. Hauptmann,
Halbe und Fulda als Repräfentanten des
Dramas von 1890. Georg Raifer als der ein ·
zige Vertreter der jüngeren Generation. Sein
Stück iſt inzwiſchen bereits vom Gpielplas
verſchwunden
Auf ber Warte
Es wurden in Berlin feit Anfang der Saifon
geſpielt: fünf Stücke von Pirandello, ſechs
Stücke von Shaw, vier Stücke von anderen
Engländern, neun Stücke von Franzoſen, vier
Stücke ruſſiſcher, ungariſcher und amerika
niſcher Herkunft (abgeſehen von fünf Shake;
ſpeare-, Ibſen · und Strindberg⸗ Dramen). Die
Mehrzahl der Stüde hat, kuͤnſtleriſch gewertet,
eine Aufführung überhaupt nicht oder kaum
verdient. Andrerſeits kann man ohne weiteres
zwanzig junge deutſche Dichter aufzählen, die
zum mindeften ebenſo wertvolle, in vie-
len Fällen bei weitem wertvollere Stücke
ſchrieben
Soweit das „Mannheimer Tageblatt“. Eine
Zwiſchenbemerkung desſelben Blattes, bei
wirklicher NRunſt dürften nationale Gefidts-
punkte „überhaupt nicht mitſprechen“, lehnen
wir in dieſer Allgemeinheit rundum ab. Das
verſklarte Deutſchland, das feine Dichter hun ·
gern läßt und mittelmäßige Ausländer bezahlt,
demnach ebenſo wie ſchon der Film maffen-
daft deutſches Vermögen ins Ausland
ver ſchwendet — das iſt ein himmelſchreiender
Skandal!
Wilhelm II. und wir
ie Worte ber Überfchrift bilden den Titel
des Kaiſerbuches von Berthold Otto,
das ſoeben erſcheint. Wenn hier die Raifer-
Artikel des „Oeutſchen Volksgeiſtes“, der Zeit-
ſchtift Ottos, geſammelt vorgelegt werden, wie
ſie geſchrieben ſind, ſo ſchadet die Entſte hung
der einzelnen Aufſätze zu verſchiedenen Zeiten
(von 1919 bis 1925) dem Werke weniger, als
fie vielmehr, ihm den Charakter einer niemals
wanlenden monarchiſtiſchen Uruͤberzeugung
verleihend, günftig ift.
Denn das will ſchon etwas heißen, wenn
ein Mann von Geift und umfaſſendſter Kennt-
nis, wie er im November 1918 und ſtets zuvor
tat, ſo auch heute mit ſolcher Unbedingtheit
für Wilhelm II. eintritt. Dieſe Soloſtimme
bat Gewicht, weit mehr als die unzähligen
billigen Chorſtimmen der Anklage.
Ich möchte das Buch nicht eine Berteidi-
gungoſchrift nennen, weil es viel eher als An ·
griff auf die Feinde des Raijers anzuſehen iſt;
215
aber feinem Wefen nad fpringt es natur-
gemäß dann doch in die Breſche für das Hohen;
zollerntum und für Wilhelm II. Am fchärfiten
geht es gegen die unechten Monarchiſten vor,
die zwar behaupten, für das Raifertum zu
fein, aber in ihrer Kritik des vorigen Kaiſers
jedes Maß vermiſſen laſſen.
Berthold Ottos ruhige Art iſt bekannt. Er
wirkt nicht mit Gefühlen, nicht mit Redens-
arten, ſondern durch volksſeelenkundlich ver-
tiefte Darſtellung deſſen, was geweſen iſt,
deſſen, was hätte ſein und nicht ſein ſollen,
deffen, was moglich und unmoglich war. Da;
durch entlaſtet er Wilhelm II., indem gezeigt
wird, wie nach und nach eine Gruppe nach
der andern vom Raifer abfiel, eine nach der
andern vergiftet wurde von undeutſcher hand;
leriſcher Gefinnung, wobei trotzdem gerade
Berthold Otto den unerhörten Leiſtungen des
deutſchen Heeres gerecht wird wie nur
einer.
Es iſt ein Wagnis, für den Raifer einzuz
treten, weil in der Tat jeder, auch der gerigſt;
Oeutſche ſich anmaßt, genau zu wiſſen, was
Wilhelm II. hätte tun und laſſen ſollen, und
weil es keinen Fehler und kein Verbrechen
gibt, deſſen den Raifer nicht irgend jemand
ſchuldig fände. Es gibt ſchwerlich in der ganzen
Weltgeſchichte einen Menſchen, der fo ver-
leumdet und mit Eſelsfußtritten behandelt
worden ift. Die Feinde Deutſchlands freuen
ſich, daß wir dabei mittun, aber uns iſt's eine
Schande.
Darum gerade muß man diefes Buch aufs
wärmfte empfehlen, aber freilich zu gründ-
lichem Studium. Denn es handelt ſich hier um
einen vollftändigen Geſinnungswechſel, der
dem Leſer zugemutet wird. Haben wir uns
doch faſt alle gewöhnt, die Phraſen der Raifer-
hetze gedankenlos nachzubeten.
Ottos Satz, daß nicht der Kaiſer uns ver-
raten habe, vielmehr wir ihm die Treue
gebrochen hätten, wird ungeſtümem Wider
ſpruch begegnen, aber ich bitte doch auch die
Gegner Wilhelms II., ſoweit fie im nationalen
Lager ſtehen, die Dinge unter dem Gefidte-
winkel zu prüfen, wie weit zuruck etwa die
Wurzeln des von Otto behaupteten Treu-
bruches reichen! Langſam ſeit Jahrzehnten
276
ift die monarchiſche Geſinnung auch in denen
unterwühlt worden, die ſich noch für Monar-
chiſten hielten, als ſie ſchon mit Wilſon und
dem Mammonismus liebäugelten.
Berthold Otto lehnt den Ausdruck: „wil-
helminiſches Zeitalter“ ab und ſchlägt vor, die
Jahrzehnte ſeit 1870 etwa das ,mammo-
niſtiſche Zeitalter“ zu nennen. Inwiefern
dieſes begründet war und heute noch iſt, weiſt
er ausführlich nach. Wie hätte ein einzelner
Mann das wenden follen! Pas Urteil nach
dem Erfolg allein, in dieſem Fall alſo Miß
erfolg, iſt ungerecht. Man denke an Friedrich
den Großen unter der Vorausſetzung, Elifa-
beth von Rußland wäre nicht in der Zeit ge-
fährlichſter Zuſpitzung der preußiſchen Dinge
geſtorben!
Man findet bei Otto eine vollkommene und
erſchütternde Schilderung des jüngſten deut;
ſchen Trauerſpiels, mit vielen Einzelzügen, die
ganz zu unrecht beiſeite geſchoben worden ſind.
Wenn Überzeugung je überzeugen kann, ſo
muß ſie es hier tun. ö |
| Rudolf Paulſen
NB. Der Verfaſſer ſchreibt uns in feinem
Begleitbrief: „Ich wende mich voll Vertrauen
an die Tirmerlefer. Das deutſche Volk handelt
wur delos an ſich ſelbſt, wenn es dauernd den
befudelt und beſudeln läßt, den es 30 Jahre
bewundert und ertragen hat. Die Geredtig-
keit und einfachſter menſchlicher Anſtand ge-
bieten mir, mit Berthold Otto für den Kaiſer
einzutreten, zu deſſen Anbetern ich nie ge-
bört habe. Aber feine, des Kaiſers Sache,
wurde am 1. Auguſt 1914 von jedem Deut-
ſchen gewollt; und es iſt nicht vornehm, die
unterlegene Sache zu verleugnen. Doch unſer
Volk läßt ſich die Hetze gegen Wilhelm II. ge-
fallen, weil er den Mißerfolg hatte. ‚Wilhel-
miniſche Ara! — 2 Gehörte etwa Rarl Gott-
lieb Schulze nicht zu jenem Zeitalter? Zch
habe andererſeits jenes Zeitalter nie bewun-
dert, aber aus Gerechtigkeitsdrang muß ich
verteidigen, was ich früher aus ganz andren
tiefen Gründen bekämpft habe. Schulze war
nicht beſſer als Wilhelm II. Leider hatte Wil-
helm II. in der Hauptſache lauter Schulzes
um ſich ... Diefe Geſichtspunkte erſchöpfen
zwar das Problem nicht, aber ſie ſind an ſich
x
Auf ber Werk
richtig, und wir gaben Paulſen darum gem
das Wort in dieſer Zeit, wo Emil Ludwigs
Bud unliebſame Senſation macht. O. T.
Zwei niederdeutſche Dichter
er Hanfeate Wilhelm Scharrelmann
und der Weſtfale Wilhelm Lenne-
mann begingen im September ihren 50. Ge-
burtstag, der erſte am 3., der zweite am
24. September. Beide beſitzen die kernige
Kraft niederdeutſchen Volkstums und zugleich
feine ſeeliſche Keuſchheit, die Klarheit und die
Helle und den inneren Reichtum charakter
voller, reiner und reinigender Geſinnung, die
Lichtgedanken gütiger Herzen. In ihnen ift
nichts von haltloſer und zerrüttender Ent ⸗
artung, auch nichts von weichſeliger Rührfam-
keit, nichts vom Strohfeuer ſchwülſtiger Hohl
heit. Sie ſtelzen nicht mit der löcherigen Würde
literariſcher Stöͤckelſchuhträger ſelbſtbewußt
und großſprecheriſch einher. Von Befrudten-
dem, Samen Streuendem, für ein mannbaftes
Leben Ausrüſtendem find ihre allem Aufputz
abholden Bücher erfüllt. Es iſt mehr von
ſozialem Empfinden, von Menſchenſeelen Auf-
bauendem und Ausgleichendem darin als in
ſo wackeren wie langatmigen Tendenzſchriften,
ohne daß es den Dichtern um ſolche ethiſchen
Wirkungen groß zu tun wäre. Oenn nichts if
bei ihnen auf Effekte eingeſtellt, nichts Made
riſches iſt in ihnen und an ihnen, wie nidts
Artiſtelndes. Da iſt alles einfach und innig,
echt und ehrlich, wahr und warm empfunden.
Und beiden eignet ein ungeſuchter, behaglicher
Humor zuzeiten, der Humor aufrichtender
Menſchenliebe. Lennemann ſteht als Lyriker
am höͤchſten („Saat und Sonne“, Shine
mann in Bremen). Da fließt es quellfriſch aus
den Tiefen feiner ſuchenden Seele, die zwi
ſchen Sternenſehnſucht und Schollengluͤck hin
und her wandert, ein wenig ſchwerſinnig, ver
träumt, wehſüß; aber doch immer wieder hebt
ſich über alle Erdenſchwere fein freier Geiſt.
Seine Erzählungen („Auge um Auge, Zaln
um Zahn“, „Das Geheimnis der alten Bibel“,
Flemming & Wiskott in Berlin, ufw.) in ihrer
gediegenen und gefunden Treuſinnigkeit ge
hören in alle Volksbibllotheken. Scharrer
'
{
Auf der Warte
manns Profa iſt um vieles feiner als die
Zennemanns. Es find die ganz zarten Schwin-
gungen der Seele, denen er nachgeht. Seine
erſten Erzählungen ſchon (genannt ſeien nur
Piddl Hundertmark“, „Rund um St. An-
nen“, „Täler der Jugend“) haben eine eigene
leife Melodie, einen duftigen Schmelz, Spitz
wegiſch · Altertümliches, Romantifches, Trau-
lich Verſchliſſenes, Dämmerig-Dunſtiges bei
aller nie beſchönigenden geradſinnigen Herb-
beit. Und er ſtieg auf zum großen Ernſt
der Bändigung, zu beherrſchter Prieſterherr
lichkeit, zu apolliniſcher Abgellärtheit in feinen
letzten edelſchönen Werken „Sejus der Züng-
ling“ und „Die erſte Gemeinde“ (alles bei
Quelle & Meyer in Leipzig). Wie der junge
geſus die heimliche Krone auf dem Haupte
trägt, das iſt von göttlicher Reinheit und Lieb-
lichteit, das iſt durchhaucht von dem holden
duft einfachſter Worte, wie der Duft un-
ſcheinbarer Blüten in Gottes Garten. Pie
Tabea - Epiſode in „Zeſus der Jüngling“ iſt ein
ſttahlendes Kleinod deutſcher Poeſie. Von
beiden Dichtern dürfen wir Schönes, wahr-
ſcheinlich das Beſte noch erwarten.
Paul Wittko
Alexander von Gleichen⸗Rußwurm
chillers Urenkel iſt am 6. November 60
geworden. Man darf dieſem kultivierten
und beleſenen Manne herzlich Glück wünfchen
zu einem neuen Lebensjahrzehnt. Dem hub;
ſchen Buch, das ſein Verlag Julius Hoffmann
in Stuttgart bei dieſem Anlaß herausgibt,
ſteht ein Leitwort von O. A. H. Schmitz
voran: „Alexander von Gleichen Rußwurm
iſt einer der ſehr Wenigen, in denen das
Deutide ins Europalſche gewachſen iſt, ohne
ſeine Wurzeln zu verlieren.“ Und in einigen
Vidmungen und Zuſchriften, die das Buch
beſchlle zen, ſchreibt Franz Rarl Ginzkey ein
lobendes Wort, wie ſchöͤn es iſt, in gigantiſchem
Schatten ein Eigener zu fein“. Ebendort be ·
zeichnet ihn Raoul H. Francé als „eine
Becke, auf der zwei Welten und Kultur-
epochen ſich begegnen“.
Gleichen Rußwurm iſt in gutem Sinne ein
äfthetifcher Menſch, ohne Aſthet zu fein. Er hat
277
ſich im Sinne Schillers gebildet ohne deſſen
ſchöͤpferiſches Pathos, das ſich dort dramatiſch
entlädt; aber er iſt immerhin nicht ohne
dichteriſchen Einſchlag. Seine Art iſt freilich
mehr kulturgeſchichtliche Beſchaulichkeit, Le-
bens weisheit, Verſtändnis für den Wert der
Perſönlichkeit als Kunſtwerk. Und da find
Männer mit ſolcher Einſtellung in unſrem
entſeelten und mechaniſierten Zeitalter von
beſondrem Wert.
Die ſchlanke hohe Geſtalt hat im Profil
Ahnlichkeit mit dem großen Oichter. Er iſt, ſo
viel uns bekannt iſt, Schillers letzter Urenkel.
Mit einer leiſen Wehmut ſpricht man das aus;
doch es iſt ein wuͤrdiger Ausklang.
Emil Peters
uch dieſen kerndeutſchen Mann, der auf
der Sonnen hohe feines Lebens allgufrih
dabinging, darf man zu den gulunftweifen-
den Zdealiften zählen, zu den Fackelträgern
des neuen Geiſtes, der allein imſtande iſt,
Deutfchland wieder groß und frei zu machen.
Unterbrochen durch eine trübe Epoche ma-
terialiſtiſchen Denkens, fett die Weltanfchau-
ung der „Goethezeit“ ihren Siegeszug fort.
Männer wie Eucken und Lienhard dürfen
wieber von den metaphyſiſchen Hintergründen
des Lebens ſprechen, von der Macht der Seele,
von den geheimnisvollen Kräften des Ge-
mits. In echter Jüngerſchaft folder Neu-
idealiſten, und doch eigengeartet, hauptſächlich
durch die Rede wirkend, ſpricht Emil Peters
von den Strahlenden Kräften, von den
ſeeliſchen Mächten als den Quellen der Wieder;
geburt des Menſchen, von den , Glidstrdften
der Liebe“. Zu einem Kulturphiloſophen be-
ſonderer Prägung wird Peters durch ſeine
biologiſch-phpſiognomiſche Einſtellung. Wie
er in feiner Perſönlichkeit den Oichter, den
Ethiker, den Lebens- und Menſchenerkenner
vereinigt, ſo erſcheint er uns als ein Typ des
neuen Menſchen. Im Gegenſatz zu den meiſten
geiſtigen Fuͤhrern iſt er eine total gebildete
Perſönlichkelt geweſen, einer von den wenigen
Oeutſchen, die geiſteswiſſenſchaftllch und
lebenswiſſenſchaftlich gleich gruͤndlich geſchult
waren. So konnte er auch ein Vorkämpfer
278
für die Aufartung unſeres Volkes werden,
weil er nicht nur den ethiſchen, ſondern
auch den biologiſchen Wert der Ehe und
der Familie erkannte. Dieſer mutige Kampf
für Volkskraft, fuͤr „Schaffen und Leben“,
kann in der Zeit eines faſt hoffnungsloſen
Niedergangs der deutſchen Familie gar nicht
hoch genug bewertet werden. Peters, der bei
all feinen hohen Geiſtesgaben auch über eine
hinreißende Beredſamkeit verfügte, hätte —
wäre er am Leben geblieben — auf dieſem
Gebiete eine geradezu reformatoriſche Arbeit
leiften können. Vom wiſſenſchaftlichen Stand;
punkt aus wird Peters als Phyſiognomiker
hochgeſchätzt. Sein Werk: Menſchengeſtalt und
Charakter, das auf genauen Meſſungen von
Tauſenden von Schädel und Geſichtsformen
beruht, gibt uns einen wertvollen Schlüuͤſſel
zur Erkenntnis der menſchlichen Pſyche, den
freilich meiſterhaft nur Peters ſelbſt kraft
feiner Intuition handhaben konnte. — Peters
Werke („Vom mutigen Leben“, „Strahlende
Kräfte“, „Menſchen in der Ehe“, „Frauen-
leben — Frauenliebe“, „Glückskräfte der
Liebe“) find im Volks kraft-VBerlag, Ronftanz,
erſchienen. Die Tuͤrmerleſer werden in dieſen
gedankenreichen und mit plaſtiſcher Bildkraft
geſchriebenen Büchern eine ihnen feelen-
verwandte Natur finden.
Dr. Oürre
Eliſabeth Kulmann
Zur Erinnerung an ihren Todestag
vor 100 Jahren
A: einem rauhen Zrühwintertage des Jah;
res 1825 bewegte ſich ein ärmlicher Lei-
chenzug in Petersburg nach dem Smolenſki⸗
ſchen Gottes acker. Man begrub die ſterblichen
Aberreſte eines noch nicht 18jährigen Mäd-
chens. Beweint von den Ihrigen, trauerten
um dieſe liebliche Rnofpe vor allem die Gro;
Ben im Reiche der Geiſter. Trotz ihrer Jugend
hatte ſie ſchon deren Anerkennung erworben
gehabt. Dichterin war ſie in 3 Sprachen und
beherrſchte, wie ihr Grabdenkmal mitteilt,
11 Sprachen. Ein Meteor ihrer Zeit!
Clifabeth Kulmann (geb. 17. Juli 1808,
geft. 1. Dezember 1825) entſtammte einer
Auf ber Warte
ruſſiſchen Militärfamilie und war in Peters;
burg geboren.
Ihr von Speyer gebürtiger Vorfahr war
unter Zar Alexei Michailowitſch, dem Vater
Peter des Großen, um die Mitte des 17. Jahr;
hunderts in ruſſiſche Militärdienſte getreten.
Die Eltern waren Boris Feodorowitſch RNul-
mann und Maria, geb. Rofenberg.
Früh vate rlos wuchs fie wohl unter febr
armlichen äußeren Verhältniſſen auf; die
Menſchen aber, die um fie waren, bildeten
einen Kreis „johanniſcher Geſtalten“, die ſich
an Liebe und Güte gegenſeitig verfdwen-
deten.
Mit ſtiller Wehmut können wir, im Zeit-
alter des ödeſten Materialismus, jenes har;
moniſchen haͤuslichen Bundes gedenken, wo
unter der Herrſchaft des ſelbſtherrlichen Zaren
Deutide und Ruffen, Orthodoxe, Katholiken
und Lutheraner mit Liebe, Achtung und Der-
ſtändnis für die gegenſeitigen Schwachen in
Eliſabeths Hütte ein und aus gingen. Und mit
welcher Ergebenheit trug ihre Mutter ihr har;
tes Schickſal! Hatte fie doch nicht allein den
Ernährer verloren, ſondern auch noch von
7 Söhnen vier, welche das Leben für ihr
Vaterland hingegeben hatten.
Einen eigentlichen Schulunterricht hatte
Eliſabeth nie genoffen, aber fie hatte prächtige
Lehrer. Da waren vor allen ihr ſpaͤterer Heraus;
geber, der rechtsrheiniſche Pfälzer Karl Fried;
rich von Groß heinrich, ein Zurift, Karl von
Kretty, ihr Zeichenlehrer und ihr Haus vater,
ein würdiger alter Prieſter, Iwan Zegoritfch.
Ihre Werke umfaffen: I. Die Gemälde
ſammlung in 60 Sälen. II. Anakreons Dber-
ſetzungen in 8 Sprachen. III. Die Aberſe tzung
von Oferovs Trauerſpielen ins Peutfche.
IV. Die Überfegung zweier Trauerſpiele Al-
fieris ins Oeutſche und deffen Saul ins Ruf-
ſiſche. V. Ihre poetiſchen Verſuche in deut-
ſcher, italieniſcher und ruſſiſcher Sprache.
VI. Überfegungen von Griates Fabeln aus
dem Spaniſchen. Bruchſtücke von Camoens
Lufiade und Miltons Verlorenem Paradieſe.
VII. Die ausländiſchen Märchen in ruffi-
ſcher Sprache, davon Dobrüna Nilititſch und
Aladins Wunderlampe deutſch. VIII. Ihr
Schwanengeſang, den fie unter den heftigſten
u |
* N ae OE Tes
za es - *
Auf der Warte
Huftenanfallen niederſchrieb, war die Aber;
ſetzung neugriechiſcher Volkslieder.
Sie hatte zweifelsohne ein durch Homer,
die Raffiter des Altertums und durch die
Bylinen ſtark beeinflußtes epiſches Talent.
Sei ihren Gedichten in ungebundener Rede,
die ſich durch tiefe Wahrheit und Anſchaulich⸗
keit auszeichnen, hat man oft, wie Joh. Hein-
tid Voß ſich einmal äußerte, das Gefühl, daß
man die Aberſetzung eines unbekannten ttaf-
ſiſchen Werkes vor ſich habe.
Trotzdem fle den Reim nicht liebte, be-
herrſchte fie ihn doch, und z. B. die Schilde
tung des Urwaldes in einer der, Afrikaniſchen
Szenen“ ift ſicher ein Rabinettitid erften
Ranges. Ihre Volkstümlichkeit in deutſchen,
vor allem füddeutfchen Landen, verdankte fie
aber ſicherlich der Bearbeitung unſerer Sagen.
Der Freiſchuͤtz hatte feinerzeit auf das
l5jabtige Mädel großen Eindruck gemacht; fie
wollte etwas Ähnliches ſchaffen und nahm ſich
den Rodenfteiner zum Vorwurf, leider kam
dieſe Arbeit nicht zum Abſchluß; obenerwähn-
ter Zeichenlehrer hatte ſchon dazu Roftüme
und Kuliſſen ausgearbeitet.
Venn man die ſtattliche Anzahl ihrer Werke
überblidtt, beſchleicht einen aber das Gefühl,
daß hier ein ungeheurer Raubbau am Leben
und an der Geſundheit eines Rindes getrieben
wurde. Man legt ſich rein menſchlich die Frage
vor: war denn da niemand, der dies zarte Ge;
khöpf an der Überarbeit hätte hindern kön-
nen? Sie hätte vielleicht noch einige Jahre
gewinnen und die Welt mit reiferen Werken,
mit Werken, geboren aus der Tiefe eigenſten
tiefften Exlebens und Füuͤhlens befdenten
konnen.
Das Lob und die Würdigung ſo hoher
Seiſter wie Goethe, Jean Paul und Karamſim
ſtachelten zu ſehr ihren Ehrgeiz an, mehr als
iheer Seſund heit zuträglich war.
Ihre Heimat Rußland erkannte fie als große
Didterin an, und die Akademie der Wiſſen⸗
ſchaften gab in zwei Auflagen ihre ruſſiſche
und in zwei Auflagen ihre deutſchen und ita-
lleniſchen und in einer Auflage ihre fämtlichen
Werte heraus. (Ob ſich wohl dieſe Akademie
und das Bergeorps, wo die Oichterin und
ihre Mutter eine Zeitlang die Wohnung Joan
279
Zegoritſchs teilen durften, bei ihren jüngften
Zubelfeiern ihrer erinnerten 7)
Die deutſchen Werke erlebten in Deutfd-
land eine ſehr große Zahl von Auflagen.
„Biedermeiers“ Töchter vor allem ſchwaͤrm⸗
ten für die Gedichte und Sagen dieſes armen,
früh verſtorbenen Maͤdchens. Großheinrichs
Ausgabe mit den entzückenden Lithographien
des Heidelberger Romantikers Philipp Schmitt
(Vater von Guido Schmitt) nach Zeichnungen
von Rretty, war ſehr beliebt. Aber raſch ver-
blaßte auch ihr Ruhm.
Der große Meyer vom Jahre 1854 brachte
einen langen Artikel über fie mit einem prdd-
tigen Stahlſtich nach einem Bilde von Catozzi,
der ſie in einem reichen römiſchen Gewande
darſtellte. Welch ein Hohn auf die Wirklichkeit,
auf Eliſabeths brüdendfte bitterſte Armut!
In der Geſchichte der deutſchen National-
literatur von Kurz 1857 iſt fie noch behandelt,
während die Literaturgeſchichten der Ger
Jahre ihren Namen ſchon nicht mehr führen.
Dr. G 9.
Der Walzerkoͤnig Johann Strauß
im Roman und in der Novelle
U? du biſt Johann Strauß! Pu bift
ewig! Oeine Geige ſingt weiter, dein
Taktſtock weckt Lebensfreude und ſchwingt
über der Welt. Ou biſt der lachende Geiſt, der
klanggeformte Dafeinsjubel. Du Freuden
bringer in Not und Jammer, du Bezwinger
der ringenden Zeit, du jauchzende Valzerluſt,
du lebſt! Zn dir iſt Wien, Wien biſt du; du
biſt Welt, weil du die klingende, ſingende
Freude biſt, der Lenz der Tone, der in allen
Herzen blüht!“ — ſo beſingt Fritz Lange
am Schluſſe feines ſoeben erſchienenen Strauß;
Romans (Verlag Rid. Bong, Berlin) den
walzerſeligen Meiſter aus der muſikfrohen
Stadt am Donauftrande. Wie von dem Ver-
faſſer einer trefflichen Johann Strauß; und
Lanner- Biographie (Fritz Lange: Fofef Lan-
ner und Johann Strauß. Ihre Zeit, ihr Leben
und ihre Werke. 2. Aufl. Leipzig, Greit-
kopf & Hartel) zu erwarten war, ijt dieſer in
allen Teilen feſſelnde Roman mit einer ftau-
nenswerten Beherrſchung der einichlägigen
280
Literatur und aus dem inbrünftigen Gefühl
einer ſchwärmeriſchen Verehrung für den Hel-
den und das Wienertum überhaupt gefchrie-
ben worden. Wir erleben die Glanzzeit des
Vaters Strauß; wir dürfen den Meifter im
Kreiſe ſeiner Muſikanten belauſchen und Zeuge
von nicht immer erquicklichen Familienſzenen
im Hirſchenhauſe fein, wir hören, wie dieſer
muſikaliſche Freudebringer umbrandet iſt von
den Begeiſterungswogen ſeines Publikums in
den Wiener Nonzert alen und gärten. Wie
fein Vater ſich vom kümmerlichen Wirts haus-
muſikanten zum gefeierten Walzerkönig Wiens
emporarbeiten mußte, ſo blieben auch dem
jungen Zohann Strauß Irrungen und Wir-
rungen in feinem von Sturm und Orang er-
füllten Rünftlerdafein nicht erſpart. „Wellen
und Wogen“ tauft er deshalb ſinn voll einen
feiner ſchonſten Walzer. Aus Enge und Zwang
eines widerwillig ergriffenen Studiums an
der Hochſchule befreit ihn ein kuhn verübter
Streich, und in der Nachfolge feines ruhm-
reichen Vaters ſieht er ſich bald auf den Son;
nengefilden beglidenden Rünftlertume. . .
Ole mit friſchem Temperament und er-
leſener Stilkunſt geſchrlebene Novelle „Der
Frühlingswalzer“ des öſterreichiſchen Oichters
Robert Hohlbaum (Verlag Gebrüder Stie-
pel, Reichenberg i. Böhmen) ſtellt Vater und
Sohn Strauß als ſich gunddft ſcharf betamp-
fende Gegenſätze in die Wirren der auch bei
Lange geſchilderten Wiener Revolution von
1848. Die tollen Ereigniffe find aber mit köͤſt ;
lichem Humor aus aller dumpfen Schwere
befreit.
Mit neckiſchem Humor und beflügelter
Phantaſie plaudert Walter Möller in fei-
nem muſikaliſchen Novellen ⸗ und Skizzen;
bande „Von Bach bis Strauß“ (Verlag von
Wilh. Möller, Oranienburg bei Berlin) von
Erlebniſſen des Walzerkönigs beim Einlaß
Auf ber Baue
begehren in den Himmelsraum. Eft dent
der Füͤrſprache feines Freundes Johannes
Brahms, der die Himmelsſeligen mit einer
gar herzrührenden Geſchichte von der walzer
feligen Kunſt des Meiſters von ihrer Weige-
rung des Einlaſſes abzubringen weiß, darf
Sobann Strauß die breiten, goldenen Stufen
der Himmelstreppe emporſchrelten.
Dr. Paul Bülow
Weltrekord
urch die Berliner Preſſe ging kürzlich
die Nachricht, Deutſchland hätte einen
neuen „Weltrekord“ in Gold- und Wert:
paplerſendungen auf dem Luftwege auf
geſtellt. Und zwar war dieſer Weltretordfiug
die Aberſendung unſerer fälligen Reparations-
zahlungen von 9660000 Pfund in Oawes⸗
Anleiheftüden durch Flugzeug von Berlin
nach London.
— Auch ein Weltrekord, dieſer Goldflug!
Es werden ja heutzutage ſoviel Rekorde auf-
geſtellt, warum foll man das fliegende God
nicht einmal meſſen? Doch haben wir wahr
lich keinen Grund, hierauf ſtolz zu fein ober
davon Weſens zu machen. Kann man dem
dabel vergeſfen, daß dieſes Gold Mühe und
Arbeit unſeres Volkes bedeutet, kann men
vergeſſen, daß unſer verftlavtes Deutidland
einen Weltrekord im Schulden zahlen au
geſtellt hat?
Seber einzelne von uns hat es bitter fühlen
müffen, daß wir ein befiegtes, der Wilde
fremder Machtſtaaten ausgeſetztes Volk ſind.
Und nun liefern wir unſer Gold, die Arbeit
von Tauſenden deutſcher Männer und Frauen,
im „Weltrekord“ mit Eilflug nach England...
Sollte uns nicht endlich dieſes Poſſenſpiel
zum Bewußtſein kommen 7! Weltrekord, ja
wir ſtehen in der Tat an der Spitze: in der
Verſklavung! Hans-Heinz Albrecht
Herausgeber: Profeſſor Dr. Friedrich Lienharb in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Kontab Olee,
We imat, Racl-Aleranber-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen
Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie ftaſten“ mitgeteilt, fo bak Rüdfenbung erfpart bleibt.
Ebenbort werden, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſendungen bitten wir Rückpocto beizuieget:
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart.
Wo der Wald sich lichtet Prinz Eugen von Schweden
Penn für ec und Geist
ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT
1 — von Prof. Dr. h.c. Friedrich Lierrhard
28. Jabra.
Januar 1926
Immer ſtärker empfinden wir die Notwendigkeit
einer neuen Syntheſe des Lebens, die Notwendig
keit einer zuſammenfaſſenden und befeſtigenden
Gedantenwelt. Eine ſolche kann aber unmöglich
aus der Jerſtreuung des unmittelbaren Dafeins
hervorgehen, fie fordert eine Umkehrung deffen:
fie verlangt eine Wendung zur Metaphyſik.
die Wahrheit des Hegelſchen Wortes, daß ein
gebildetes Volk ohne Metaphyſik einem ſonſt
mannigfaltig ausgeſchmückten Tempel ohne Aller.
heiligſtes gleiche, läßt ſich immer weniger leugnen.
Wir beginnen der bloßen Gelehrſamkeit ebenfo
ſatt zu werden wie der Verflachung und Ver⸗
neinung ; denn wir ſehen unſer geiftiges Selbſt
und mit ihm die Möglichkeit aller und jeder
Wahrheit bedroht.
Rudolf €uden
Der themes XXVIII, 4
egränder: Seannot Emil Sreiherr vor Grotthup
Heft 4
282
Das Einheitsſtreben in der neueren Philoſophie
Von Rudolf Eucken
Der greife Geheimrat Prof. Dr. Eucken ſtellt uns freund-
liche rwe iſe in un verminderter Friſche dieſe Gedanken zur
Verfügung. Mir beglückwünſchen den Alimeiſter deutſch⸗
idealiſtiſcher Philofophie herzlich zu ſeinem achtzigſten Ge-
burtstag. ®. T.
er Beginn der Neuzeit brachte einen ſchroffen Bruch zwiſchen Menſch und
All, wie er wiſſenſchaftlich namentlich in der Gedankenwelt von Descartes
zum Ausdruck kam. Die Aufklärung ſuchte den Spalt durch eine Verſtändigung
von Menſch und Welt zu überwinden; fie hat hervorragenden Scharfſinn an dicfe
Aufgabe gewandt. Aber dem geſchärften Denken Kants entging nicht der Wider-
ſpruch des Unternehmens, zugleich zu ſcheiden und zuſammenzubringen; ſo hat er
eine neue Bahn eingeſchlagen, indem er innerhalb des menſchlichen Bereiches ein
ſchaffendes Leben aufdeckte, den Menſchen von dem Druck einer außer ihm befind-
lichen Welt befreite und aus ſeiner Selbſttätigkeit eine Welt hervorgehen ließ,
die keiner Derbürgung ihrer Wahrheit von draußen bedurfte. Hegels Gedanken-
arbeit entfernte ſich in ihrer näheren Faſſung weit von Kant, aber gemeinſam iſt
beiden Denkern das Streben, im Menſchen ein geiſtiges Schaffen anzuerkennen,
das die Enge des bloßen Menſchen überſchreitet, ſich als einen völligen Gelbft-
zweck gibt, ein Geſamtreich der Tätigkeit, eine Tatwelt, bildet. Das bedeutet eine
völlige Umkehrung des ſinnlichen Anblicks der Dinge; dieſer führt nur zu einer
Erſcheinungswelt, den Philoſophen aber macht eine ſolche Wendung zum Ent-
decker und Weiterbildner einer echten Wirklichkeit.
Aber innerhalb des verwandten Strebens bilden Kant und Hegel einen ſchroffen
Gegenſatz, die moraliſche und die intellektuelle Löſung des Problems treiben nach
entgegengeſetzter Richtung. Kant gewinnt den entſcheidenden Punkt erſt durch eine
gründliche Scheidung und Verneinung, theoretiſche und praktiſche Vernunft treten
ihm deutlich auseinander; erſt indem feine einbohrende Arbeit die ſinnliche Welt
herabſetzt, gelangt er zu einem ſicheren Reich der Wahrheit. Es geſchieht das aber
nach feiner Überzeugung in der Welt der Moral; dieſe bildet hier nicht ein bloßes
Stück eines weiteren Lebens, ſondern ſie erweiſt ſich als den Kern alles geiſtigen
Lebens. Hier vermag unter der Leitung der praktiſchen Vernunft die Tätigkeit eine
volle Wirklichkeit zu erzeugen, welche über der Beſonderheit und der Begrenztheit
des bloßen Menſchen liegt und als die Tiefe aller Wirklichkeit gelten darf. Damit
wird die Kluft, welche ſonſt zwiſchen dem Menſchen und dem All lag, von innen
her überbrückt; es eröffnet ſich eine in der moraliſchen Freiheit begründete Welt,
als Teilhaber an dieſer Welt erlangt der Menſch eine unvergleichliche Größe und
Würde. Von dem Grundgedanken dieſer Überzeugung aus klären und vertiefen
ſich hier alle einzelnen ethiſchen Grundbegriffe, wie Pflicht, Perſönlichkeit, Cha-
rakter uſw., ſonſt nur vereinzelte Stücke, greifen ſie jetzt eng ineinander, erhalten
jie eine feſte Grundlage und eine ſchärfere Faſſung, ſteigern fie weſentlich ihr Ber-
mögen.
Auch Hegel verficht ein ſelbſtändiges Wirken weltſchaffender Art, auch er erſtrebt
Euden: Das Einheitsſtreben in ber neueren Phlloſophle 285
ein inneres Verhältnis des Menſchen zur Wirklichkeit. Aber er ſieht ein ſolches
Wirken im Denken, in einem autonomen Denken, das ſowohl die menſchlichen
Vorſtellungen als die menſchlichen Zwecke überſteigt, in ſich ſelbſt ein Geſetz und
eine Kraft fortſchreitender Bewegung trägt und alle Umgebung in dieſe Bewegung
hineinzieht. Das ſo verſtandene Denken ſteht nicht neben den Dingen, ſondern es
wird zu einem Erzeugen der Dinge: in ihm finden dieſe ihr eignes Weſen und ihre
volle Wahrheit. Wie bei Kant, ſo bildet auch bei Hegel die Freiheit den höchſten
Vert und das letzte Ziel; aber fie verlegt ſich hier aus dem Moraliſchen ins Intel-
lettuelle, aus der Geſinnung der Perſönlichkeit in das geiſtige und intellektuelle
Virken. Es fehlt hier keineswegs eine Moral, aber fie erhält die höchſte Aufgabe
darin, den Menſchen ganz und gar in das objektive und univerſale Denken zu ver-
legen und allen Eigenſinn des Individuums zu brechen; die in fic ſelbſt vertiefte
Sejinnung weicht hier der Hingebung an den überlegenen Geiſtesprozeß. Das
denken wird damit über die einzelnen Lebenskreiſe hinausgehoben, es wird zu-
gleich als eine im Menſchen wirkende und ihn bezwingendg Macht anerkannt.
Was immer an Hegels Leiſtung angreifbar ſein mag, ſein Unternehmen iſt der
letzte Verſuch, das Problem einer innern Verbindung des Menſchen mit dem All
durch eine heroiſche Umkehrung zu löſen. Seitdem hat die Philoſophie ein ſolches
tibnes Schaffen als ein gefährliches Wagnis aufgegeben und auf alle ſelbſtändige
Metaphyſik verzichtet. Aber mit der Gefahr hat fie zugleich auf eine innere Größe
und auf eine weſenhafte Bedeutung für das Ganze der Menſchheit verzichtet.
Von beiden Löſungen des Weltproblems ſind eingreifende Wirkungen auf das
geſchichtliche Leben ausgegangen; fie haben nicht bloße Theorien entworfen, fon-
dern ſie haben das gemeinſame Daſein umgeftaltet. Kants Steigerung der mora-
liſchen Gedankenwelt ift ein Hauptſtück einer inneren Kräftigung unferes deutſchen
Dolkes geworden. Mit Recht hat Goethe ihm ein „unſterbliches Verdienſt“ zu-
erkannt, „uns von jener Weichlichkeit, in die wir verſunken waren, zurückgebracht
zu haben“. Die moderne Kulturidee aber hat keine bedeutendere Faſſung erlangt,
als Hegel ſie ihr gegeben hat. Durchgängig war er beſtrebt, die Gedankenmaſſen
auf einen zuſammenhaltenden Begriff zu bringen und ſie mit einer aufhellenden
dee zu durchwirken; namentlich Geſchichte und Geſellſchaft haben dadurch viel ge-
wonnen, ohne Hegel iſt der geiſtige Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht zu verſtehen.
Aber wie hoch wir dieſe beiden Lebensbewegungen ſchätzen, und jo unentbehr-
lich ihr Wirken iſt, ſie laſſen ſich unmöglich unmittelbar zuſammenfügen; ſie geraten
leicht in einen Zwieſpalt, ihre Ziele und ihre Werke gehen vielfach auseinander.
Dieſer Zwieſpalt führt letzthin auf den prinzipiellen Unterſchied von Moral und
Kultur. Die moraliſche Geſtaltung des Lebens neigt dazu, die intellektuelle Leiſtung
als eine Nebenſache zu behandeln, umgekehrt geſchieht es, wenn die intellektuelle
Geſtaltung ſich dem moraliſchen Verhalten überlegen dünkt. Das Vermögen und
das Selbſtvertrauen der Kultur erſcheint der Moral oft als eine ungebührliche Über-
ſpannung menſchlicher Kraft; die von der Moral hochgehaltene Geſinnung der
Aufopferung, der Ehrfurcht und Demut aber dünkt oft der Kulturarbeit als matt
und ſchwächlich. Auch unſere Zeit leidet an einem Zwieſpalt dieſer Strömungen
und Stimmungen.
284 Freptag-Loringhoven: Wei
Unmögli kann jedoch dieſer Zwieſpalt das letzte Wort bedeuten. Die Menschheit
bedarf zur Erreichung ihrer Höhe unbedingt ſowohl einer Unterordnung unter eine
geiſtige Macht, als auch der mutigen Aufbietung des eigenen Vermögens; wir ver
fallen einem gefährlichen Dualismus, wenn wir die beiden Bewegungen vor
einander trennen. Dieſer Dualismus muß konſequent durchgeführt die Gedanken-
welt zerreißen, jede der beiden Mächte bedarf zur Aneignung des ganzen Mer
ſchen einer Begründung in einem ſchaffenden weltüberlegenen Leben. Aber wie
ſoll beides zuſammenkommen, wenn die beiden Anſprüche fi durchkreuzen, ja
ſich gegenſeitig ausſchließen? Dieſe Erwägungen drängen dahin, dem Streben
eine breitere Grundlage zu geben, welche den Gegenſatz von Moral und Kultur
umfaßt und jeder Seite ihr Recht innerhalb des Ganzen zuerkennt. Eine ſolche
Grundlage kann aber unmöglich durch eine Zuſammenſetzung auf dem Boden det
Erfahrung gelingen; fie fordert eine Umwälzung des gegebenen Dafeins, fie for
dert ein Wirken einer ſchaffenden Geiſtigkeit, ſie fordert damit ein eigentümliches
Geſamtbild des menſchlichen Lebens und feiner Stellung im All. Ein ſolches Biel
muß auch dem heutigen Streben vorſchweben, wenn wir der immer wachſenden
Zerſplitterung einen Damm entgegenſetzen wollen. Die Richtung zum Welt⸗
problem haben uns jene beiden großen Denker gewieſen, aber es gilt für uns
was in ihnen an Gegenſätzlichem liegt, zu überſchreiten und im engen Zuſammen⸗
hang mit dem Weltproblem eine überlegene Einigung anzubahnen.
Meine eigne Lebensarbeit diente an erſter Stelle dieſem Problem. Ich habe
ſchon in meiner erſten Schrift zur prinzipiellen Philoſophie, in der „Einheit des
Geiſteslebens“ (erſte Auflage 1888, zweite unveränderte Auflage 1925), jene Frage
als die entſcheidende behandelt und ſie immer von neuem hervorgehoben. Man
möchte meinen, daß bei dem heutigen Zerfall des geiſtigen Lebens dieſes Der
langen nach innerer Einheit und zugleich nach einer engeren Verbindung
des Menſchen mit dem All immer dringender wird.
Adel
Von Gunda von Freytag⸗Loringhoven
Trag die ſieben Zinken deiner Krone
Und den alten Namen des Geſchlechts!
Ob mit Hohn und Spott die Welt es lohne —
Trag fie frei und ſchau' nicht links noch rechts!
Aber wehe, wenn die ſtolzen Zeichen
Viel zu groß für deine kleine Tat!
Wachſen mußt du, um hinanzureichen
An dein reichsfreiherrlich Baronat.
Start in Demut! Hodgemut und linde!
Ritterlid, und wärſt du auch ein Knecht,
Wärſt du auch dein eigenes Gefinde:
Bleibe adlig! Bleibe es — erſt recht!
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt-Roman von Herbert Martens
(Gortfegung)
1656
m einen reichgedeckten Tiſch ſitzen drei würdevolle Männer, ehrenwerte Amiter-
bamer Bürger. Sie figen im Ornat ihrer amtlichen Würde und beſprechen mit
harten ſtarren Lippen und verſchloſſenen Mienen, was aus Rembrandt, dem Maler,
werden ſoll, der ihnen viele tauſend Gulden ſchuldet. Sie wiſſen, er kann ſeine
Gläubiger nicht bezahlen. Sein Pinſel könnte es, wenn die Stadt ihm einige be-
deutende Aufträge geben würde. Das neue Rathaus ſoll mit großen Vildern der
Landesgeſchichte ausgeſchmückt werden. Aber ſie kennen den Starrſinn dieſes
Mannes, der nicht zu beugen iſt. Ihm geht der einſame Weg ſeiner eigenen Natur
über alles. Sie wagen nicht, ihm perſönlich den erlöſenden Auftrag zu bringen.
Nach beſtimmten Wünſchen der Stadtverwaltung würde er feine Malweiſe doch
nicht einrichten. Die Kunſt ſei keine Dirne. So würde er ihnen antworten. |
Das alles befpreden fie ernſt und mühſam. Keiner will dem berühmten Mann
zu nahe treten, keiner will ihm ein Leid antun. Aber auf ihr Geld wollen fie auch
nicht verzichten. Sie blicken ſich nicht in die Augen. Frage und Antwort geht ihnen
ſo ſchwer von der Zunge wie dem Könige Ahasver beim Gaſtmahl der Eſther.
Ihre Gedanken weilen bei Rembrandt. Sie wiſſen, fein Haus ijt mit Kunſt⸗
ſchätzen angefüllt, die einen hohen Wert beſitzen. In der Konkursmaſſe ließen ſich
dieſe billig erſtehen. Zum zehnten Teil ihres wirklichen Wertes. Man würde reichlich
auf ſeine Koſten kommen. So denkt ein jeder, aber keiner wagt es auszuſprechen.
So find die Menſchen, ſelbſt bie wüͤrdevollſten.
Armer Mann, du bift verloren, weil du ein Haus beſitzeſt, das mit Kunſtſchäͤtzen
angefüllt iſt. Nur aus dieſem Grunde biſt du dem Untergange geweiht.
Die drei ernſten ſchweigſamen würdevollen Männer im Ornat n ganz
im Stillen ihrer Seele deinen Konkurs.
Das Buch der Heimſuchung
1658
Wieder tauchſt du vor mir auf wie damals in der ſtürmiſchen Nacht am Meere:
gebückt und grau, nicht vom Alter ergraut, ach nein, von der ewigen Angſt, dem
Zorn und der Rade deiner Verfolger überantwortet zu werden. Wo malſt du
deine ſpärlichen Bilder? Niemand weiß es. In irgend einem verborgenen Keller,
in den der Schimmer des Tages geheimnisvoll hereindringt? In der Dachkammer
eines beiner früheren Schüler, der in alter Treue die Staffelei mit dir teilt?
| Gin Heim haft du nicht. Ein Verfolgter hat kein Heim. Wenn das Dunkel der
gũtigen Nacht feinen Mantel über die Geächteten breitet, ſchleichſt du zu Hendrickje
und Titus und zu deiner kleinen Kornelia, die kein Püppchen hat, an das ſie die
Zärtlichkeit ihres Kinderherzens verſchwenden kann. Deine Lieben ſind heimatlos
wie du ſelber; ſie ſind faſt mittellos und ziehen von Herberge zu Herberge.
/
fad
-
a
f
286 Martens: Der Dämon bes Lichts
Im Hintergrunde lauern die Gläubiger auf die Wunder deines Pinſels, die fie
bereits im Geifte in Gold und Silber ummünzen. Wiſſen fie nicht, daß du ſchon
lange kein Anſehn mehr haft in den Paläjten der Reichen? Sollte ihren fpürfinnigen
Augen verborgen geblieben ſein, daß ein Künſtler, den die Prinzengracht, die
Keyzersgracht geächtet haben, vogelfrei ijt? Sein Genius zählt nicht mehr, und
könnte fein Flug um das funkelnde Weltall mit all feinen Rätſeln und Wundern
kreiſen; ſeine Seele iſt ihnen ein verwehendes welkes Blatt, eine Woge im Weltmeer.
Und du warſt doch ein großer Herr, ehe dein reichbeladenes Kauffahrteiſchiff an
der Küſte der Mißgunſt zerſchellte! Nun trieb das Leben einen Schiffbrüchigen auf
den Wellen.
Einen Schiffbrüchigen und einen Verſtoßenen. Za, hdtteh du noch zu rechter
Zeit ehrfürchtig vor dem Geſchmack der Reichen deinen Hut gezogen, wie es ſich
doch für einen überſchuldeten Künſtler geziemt hätte, dir wäre noch zu helfen ge-
weſen. So aber erlitteſt du Schiffbruch, du ſtolzer eigenſinniger Mann, bis eine
gnädige Woge dich an die Küfte des Elends warf.
Da ſchleppteſt du dich weiter, treuer Diener des Lichts, mit zerſchlagenen Händen
auf den ſteilen Wegen, die zu den ewigen Höhen der Hoffnung führen, die in
unvergänglicher Schönheit das Tal des Lebens überſtrahlen.
O, ihr glühenden Höhen der Sehnſucht, ihr unerreichbaren Berge des Lichts! —
Gebüdt und grau gehſt du deinen harten Weg. Voller grauſamer Begebenheiten
und Demütigungen waren die beiden letzten Jahre. Schau nicht mehr zurück! Das
alles muß dich nicht mehr quälen. Es harren deiner noch große Taten, deren Wert
nur du zu ahnen vermagſt. Die Menſchen find ein kleines grauſames erbärmliches
Zwergengeſchlecht, das hätteſt du in deine Lebensrechnung einftellen müſſen. Es
geht aber auch ohne Reichtümer, wenn ein hilfreicher Freund ſich aufmacht in der
Ferne. Kein Freund wie Jan Six, der reiche Tuchfärber, wenn er auch {pater einmal
in feiner Vaterſtadt Schöffe, ja am Ende ſogar, in dreiunddreißig Jahren, Bürger-
meiſter von Amſterdam wird. Du brauchſt einen Kerl wie Jan Lievens, der weiß,
welch eine majeſtätiſche Seele du haſt.
Lebſt du noch, Jan Lievens? Hielten dich Ruheloſen die Wälle von Amſterdam
umſchloſſen, es wäre nicht jo weit gekommen mit deinem Jugendfreund. Und ſollte
dich eines Tages die Sehnſucht heranführen, wiirbeft du ihn auch finden können
in den Hafenſpelunken, in denen er ſich, ein wertloſer Wurm, verkrochen? Gelänge
es dir doch, Prachtkerl, ihn von der Branntweinflaſche fortzulocken und in das
blendende Tageslicht hineinzuſtellen, der du noch im Anſehn der Welt ſtehſt!
1659
1.
— Spiegel, bier fiß ich wieder wie in beſſeren Tagen. Sie haben dich mir gelaffen,
wie ſie mir mein Werkzeug ließen. Du einziges Prunkſtück in dieſen kahlen feuchten
Wänden, ſeltſam nimmſt du dich aus! Ich ſtreichle dich wie eine Haarlocke Saskias.
Ach, Saskia! Aber arbeiten kann ich nicht, ich bin wie gelähmt. Es dämmert. Schon
ſteigt das Sonnenlicht wieder hinauf zur Decke. Der milde Lenztag macht mich
ganz krank. Lichter, warum bleibt ihr ſtehn auf meinen Händen, auf meinem Haar?
Martens: Der Dämon des Lichte 287
Welch ein zartes Licht umwebt mir das Haupt! Narrſt du mich, Spiegel? Niemals
ſah ich mich mit dieſen wehen Augen, die nach innen zu blicken ſcheinen. — Spiegel,
Spiegel, das iſt nicht mehr der harte ſtolze einſame Mann, der mich angeiſtert;
nimmer der um Unabhängigkeit kämpfende todwunde Ritter, der niemals vor der
Dirne Welt Haupt und Knie beugte. Rembrandt, wende dich ab von dieſem hohl-
wangigen Geſpenſt. Was hab' ich dir getan, trübſinniger Geiſt im Spiegel? Nie-
mals fab ich ein gottähnlicheres Licht, einen tieferen inneren Glanz in ein Paar
Menſchenaugen! Ob ich fie jemals vergeſſen kann? Ich müßte fie denn malen. Ge-
wiß, ich habe nicht immer wie ein guter Chriſt gelebt: ich habe Saskia vergeſſen
und gurerei getrieben. Ich betrinke mich jetzt oft bis zur Beſinnungsloſigkeit, tage-
lang, nächtelang. Vis in den Straßenkot habe ich meine Seele entwürdigt. — Ver-
zeih mir, Chriſtus, Heiland! Oder... nein, nein... follte dies dort im Spiegel
meine arme gekreuzigte Seele jein?
2
— Mann, wer biſt du und woher kommſt du? —
— Mas ſchert es dich, Wirt, du dickes Schnapsfaß! —
— Will ich doch wiſſen, wer diejenigen meiner Gäjte find, die auf Borg aus find. —
— Hier verkehren nur ſolche, die ihren Namen längſt vergeſſen haben. —
Nimm's nicht krumm. Ich drüd’ ja gern ein Auge gu. —
— Schon recht. Da brauchſt du nicht lange zu drücken, bei deinen Schweinsäug-
lein. —
— Aber, Mann, eine Frage tu mir beantworten. Wer iſt der Schweigſame, der
ſchon manchen hier gegen Entgelt zeichnete? —
— Vielleicht ein Verfolgter, ein Geächteter, jedenfalls keiner von den Unfrigen. —
— Woran ſiehſt du das? —
— Er läftert nicht und ſpeit nicht aus. Aber der Teufel ſoll mir in bie Hofe fahren,
wenn ich mehr weiß als dies. Doch will ich dir's auskundſchaften, wenn du ein Fläſch-
lein Beſſeren ausgibſt. —
— Mad)’ deine Sache gut. Dort kommt er! —
— Guten Frühmorgen, Bruder! Noch krähten die Hähne nicht zum erſtenmal. —
— Die Stunde der Häſcher und Verräter! —
— Ou ängftigft mid! Iſt Gefahr im Anzug? —
— Sh gedachte des Heilands. —
— Wirt, Schnapsfaß, einen Korn für den Bruder und mir einen Höllenbrand! —
— Dante, ich trinke heute nicht. —
— Da foll der Himmel einfallen, und die Engel ſich zu uns an den Tiſch ſetzen.
Su trinkſt nicht? — \
— Sch feiere im ftillen den Tag meiner Geburt. —
— Nie hab’ ich den meinigen in Erfahrung bringen können. Meine Eltern konnten
ſich nicht drauf beſinnen. —
An die Mutter muß ich denken; ſie war eine herzensbrave niidterne Frau. —
Bruder, du tuft recht daran. Meine Mutter ſelig hab' ich tief in dies verlotterte
Herz geſchloſſen, lehrte fie mich doch das Trinken. Sie wurde fo ſchwermütig, daß fie
288 Martens: Oer Dämon bes Lichts
ohne ihre Buſenfreundin, die Flaſche, den Jammer des Lebens nicht ertragen konnte
bin ich doch ſogar im Rauſch in dieſe Welt der Schrecken gekommen. —
— An die Schweſter muß ich denken, die gut war und rein. —
— Die meine trieb ein trübfinnig-luftiges Handwerk. —
— An den Jugendfreund muß ich denken. —
— Darauf ſtieß' ich mit dir an, wenn du heute nicht von abſonderlichen Mucken
beſeſſen wäreſt. Nicht zwiſchen baumhohen Pfoſten, die der Staat vortrefflich zu er-
richten verſteht, bleicht der meine an luftiger Stelle, der Beneidenswerte. Er war
ein fröhlicher Burſche, trieb es mit jedem Mädel, das er den Bauern im Geelän-
diſchen entführen konnte, in natürlichſter Weiſe, bis er zur Oeportation verurteilt
wurde. Da wiegelte er während der Überfahrt feine Sträflingskumpane zu einer
Verſchwörung auf, Kapitän und Mannſchaft verſchwanden nach entſetzlichen Fol-
terungen in den Wellen, und die Seeräuberbrigg kreuzte mit der blutroten Fahne
lauernd auf allen Meeren, bis ſie ein Engländer in den Grund bohrte. Meinen
Freund wollte dies Lumpenvolk an der erſten beſten Palme an der afrikaniſchen
Küfte dem Himmel weihn, doch er entwich. — Aber, Meiſter Namenlos, wie kommt
es, daß du den Stift ſo wacker zu führen verſtehſt? —
— Das bißchen Zeichnen hab' ich mir ſelber beigebracht. —
— Beim Schwanzende des Satans, im Lügen biſt du kein Meiſter! —
— Warum lächelſt du ſo verſchmitzt? —
— Nicht unwirſch werden. Du trägſt zu dick auf wie die ſchlechten Maler. —
— Nun muß ich aber ſelber lächeln. —
— Spotteſt du meiner? Mein Meſſer ſoll dir die Zunge vierteilen, Hundsfott! —
— Nimm's gemütlich. Du haſt eine große Schulweisheit zum beften gegeben. —
— Eine Schulweisheit? Was meinſt du damit? —
— Bin nämlich der Meinung, daß auch gute Meiſter dick auftragen ſollen. —
— Aha! Du biſt Maler? —
— Wer ſagt das? —
— Wirt, haft du gehört? Meiſter Namenlos ift Kunſtmaler. Er ſoll uns alle a>
konterfeien wie Meiſter Frans Hals. —
— Meifter Namenlos, wenn du der Meiſter Rembrandt fein ſollteſt, fo wandte
weiter. Man fahndet nach dir. In der Nacht kam ein vornehmer Mann hier vor-
über mit einem flämiſchen Bart. Vielleicht ein Verkappter. — Der fragte nach dem
Maler Rembrandt. —
| 3:
— Zum gebegten tollwütigen Hunde ward ich, der ſich umſtellt weiß und mit dem
Schädel an die Mauern der Sackgaſſe anrennt. O Herr der ewigen Natur, wie kam
ich in deinen furchtbaren Zorn, daß jeder Stein, auf den mein Fuß tritt, zum
glühenden Eiſen wird?
Schweigend hab' ich gelitten all die letzten Fabre, dieſe unendlichen Jahre, ohne
Murren geſchaut, wie mein Werk und mein Werkzeug von gierigen Kunſthyaͤnen
zerſtreut und zerſtört wurden. Die Tauſende von Blättern meiner Hand, die dem
Leben abgeſchaut und dir, Schöpfer des ewigen Lichts, dienen ſollten zum Preise
als geringe Gabe des geringſten deiner Knechte, find ihres heiligen Zweckes beraubt.
Martens: Oer Dämon des Lichte 289
Dies alles erduldete ich ftill und ergeben, denn du haſt es fo befohlen. Aber der
Stachel, die Peitſche meiner Verfolger quält mich ohn’ Ende, finde ich doch nicht mehr
die Ruhe zum Arbeiten, um deiner Verherrlichung zu leben. Meine Tage eben
nutzlos, und mein Hirn zerglüht zu Wide.
Warum gabſt du dem Skorpion den Stachel. ſich ſelbſt zu töten, und ine kein
Recht, das gleiche zu tun? Ich aber ſchaudere davor zuruck, Hand an mein Leben zu
legen, bin ich doch ein Menſch, ein wiſſender Menſch, der das Licht der Sonne und
der Vernunft als Strahlen deiner Güte empfindet und die Farben des Regenbogens
als glühende Zeugen deiner Allmacht. O Herr, nimm mir die Bürde des Lebens,
ſende die Peſt in dieſe Laſterhöhle, in der ich hauſe, daß ſie mich bette au meinen Dä-
ten! —
4.
— Nicht mehr zu zeichnen wage ich das verlorene Völkchen dieſer verlorenen
Welt, um nicht die Diener des Gerichts auf meine Spuren zu locken. Hier kann mich
ſelbſt der Teufel nicht mehr finden. Es iſt die verborgenſte Höhle der Stadt, über die
der Fluß hinrauſcht. Es muß einſtmals ein geheimer Gang geweſen fein. Jetzt ver-
deckt altes roſtiges Schiffsgerümpel den Eingang. Hier gebietet kein Verräter von
einem Wirt. Die ſeltenen Stammgäſte teilen ſich in ein geſtohlenes Faß bitteren
Fuſels.
Ich höre deutlich Schritte. Wer kommt die ſteinerne Wendeltreppe herunter?
Das ſeh' ich? Ein großer Mann mit einem flämiſchen Bart, den mächtigen Hut tief
ins Geſicht gedruckt. Halte dich ruhig, Rembrandt, unmöglich kann er dich in der Dun-
kelheit entdecken. Es wird der Mann ſein, der mich ſucht; doch welch eine Geſtalt
begleitet ihn? — Rembrandt, die Fuſeldünſte des Kellers ſcheinen deine Gedanken
mit einem Nebel zu umgeben, denn du haſt doch heute noch keinen einzigen Tropfen
getrunken! — Einen ſtrahlenden Jüngling ſeh' ich, von einer unſagbaren Schönheit.
Seine Haltung drückt göttliche Erhabenheit aus. — Schön und ähnlich dem Titus
iſt ſein zartes reines Antlitz, nur noch viel viel ſonnenhafter! — Er iſt am Fuß der
Treppe angelangt und wendet ſich. Ich kann es nicht faſſen: er hat große leuchtende
Flügel. Ach, ein Engel, Rembrandt, ein wirklicher Engel! Ich bin wie geblendet.
Mit der Rechten deutet er nach mir hin.
Nun iſt alles wieder dunkel. Er entſchwand.
Aber der Bärtige taſtet nach mir hin in der Dunkelheit. Jetzt nimmt er den Hut
ab und ſchwenkt ihn mir entgegen. Ich erkenne ihn, er iſt's, Jan Lievens, mein alter
Jan, mein lieber guter alter Freund! —
Ach, Rem! —
— Halt an did, Jan, Zunge! —
— Rem, wie war es nur moglich? —
— Die Schande, der Schuldturm! Da löſchte ich mich ſelber aus wie einen gar-
ftigen Flecken. —
— Lange ſuchte ich dich vergebens. Mich trieb es wieder her zu dir, in dieſe Stadt
der Fiſchbäuche, die ich mit der Spitze meines Degens kitzeln möchte. Du biſt alt ge-
worden, Rem! —
— Und du jung und immer noch berühmt geblieben, Jan Lievens! —
RSIY OF MICHIGAN LIBRARIES
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1 l 4
W
290 Martens: Der Dämon des Lichte
— Was ſprichſt du mir von Ruhm! Did, den Größeren, hat die Welt bereits
wieder vergeffen! —
— Nur meine Gläubiger nicht. Darum ſitz' ich hier in dieſer Kloake und ver-
komme! —
— Nie wird dir dieſe Todſünde verziehen werden! —
— $c kann nicht anders, ich kann nicht anders! .
— Wein’ nicht jo herzbrechend! —
— Ich konnte mein Schickſal nicht vergeſſen. Und ich will, ich muß vergeſſen! Hier
öffnet ſich mir der Himmel der Viſionen. Hier kennt mich niemand, hier ſtört mich
niemand. Hier fühl’ ich mich Chriſtus, hier fühl’ ich mich Gott! —
Armer Rem, an der Staffelei wärft du einer. Hier narrt dich der Geiſt in der feu-
rigen Flaſche. Immer biſt du dem Weg des Lichts gefolgt. Warum haſt du den Glanz
in dir erftidt? Kehr“ wieder heim! Ach, Rem, ich habe immer an dich geglaubt, wie
ich an Gott glaube. Laß mich dir zu Füßen um eine einzige Gunſt betteln, um eine
einzige: trinke nicht mehr, Rembrandt, ſei wieder Menſch, fei wieder unſer. Kehr
heim! —
— Qu guter Jan, du mein einziger Freund, ich will dir folgen. Alle andern haben
mich verlaſſen. Hilf mir! —
— Die Welt ſoll dich wieder haben, ihren vergeſſenen Sohn! —
1660
1.
Nun hält er dich feſt, nun läßt er dich nicht mehr los, der prächtige Menſch. Er
bringt dich zu Hendrickje und Titus und beſpricht mit ihnen die Lage der Dinge. Sie
kommen zu einer Verſtändigung. Ihre Geſichter glänzen.
Hendrickje nimmt die Ausführung des Plans energiſch in die Hand. Jan Lievens
hilft ihr. Ein beſcheidener Kunſtladen wird mit dem geretteten Vermögen des Titus
aus dem Nachlaß feiner Mutter errichtet. Der Vormund des jungen Mannes, der
Notar Louis Crayers, gibt ſeine Einwilligung. Du, Rembrandt, wirſt Angeſtellter
der Gemeinſchaft, die ſich verpflichtet, dich Zeit deines Lebens zu beköſtigen. Ihr
gehört von jetzt an dein Malwerk und, geſchützt vor der Meute der Gläubiger, ge-
winnſt du die alte Ruhe und Sicherheit zurück.
Sie können dich nicht mehr bedrüden! Du haft die Ellbogen frei bekommen, um
mit den Gefährlichſten von ihnen zu verhandeln. Und es geht.
2.
O der demiitigenden erniedrigenden Zeit des langſamen Verfalls, die vor den
Selbſtbildniſſen dieſer Jahre uns bitter werden läßt. Sie reden von der Zerſtörung
durch Trunkſucht; die Züge ſind vergröbert, die Trinkernaſe ſchlägt alle Zweifel zu
Boden. Und doch wieder welche Größe des Künftler- und Menſchentums: da gibt es
tein Verbergen, kein Verſchönern. Wir müſſen vor dieſen Zeugen einer unfaßbaren
Größe ergriffen die Seele beugen.
Als der Meiſter aus dem Dunkel der Vergeſſenheit in das grelle Licht des Amfter-
damer Lebens wieder auftauchte und er Jan Lievens auf langen Spaziergängen
Martens: Der Dämon des Lichts 291
durch die Stadt begleitete, erkannte ihn kaum noch einer. So hatte er ſich verändert.
Aber ſein Genius ſuchte die Wolken.
Er war auch ſeeliſch ein anderer geworden; jeder Schiffbruüchige wird ein anderer.
Und ſeine Kunſt hatte ihr Angeſicht völlig gewandelt.
Der Meiſter der zauberhaften Myſtik war nicht mehr, der auf beſchränkter Fläche
das phantaſtiſche Reich der menſchlichen Seele nach den Vorgängen der Bibel malte,
leuchtend im Schmelz der Farben, herzinnig in der Tiefe der Empfindung, zauber-
voll-rätfelhaft in dem Helldunkel der Viſion. Der Höhepunkt der nordiſchen Malerei
war überſchritten: ihrer Myſtik war die Seele ihres größten Darſtellers verloren
gegangen, eine Seele, die in den windſtillen Tagen ihres Lebens ſich ihr hingegeben
hatte wie eine liebende Frau.
Rembrandt war kein Myſtiker mehr. Der Zauber ſeines Lebens war gebrochen,
das innere Licht war ihm verjchüttet.
Seine Seele wuchs ſich aus ins Gigantiſche. Kein Haarpinſel, keine Schneidenadel
konnte dem Fluge ſeiner Einbildung mehr folgen.
Nicht mehr feſt auf der Erde ſtanden ſeine Geſtalten, nicht mehr mit feſten ſicheren
Strichen hingeſtellt. Ein Flimmern und Flirren war in ſeine Kunſt gekommen: die
Erde kreiſte, nichts hatte mehr Beſtand; Liebe, Freundſchaft, Reichtum, Ruhm, alles
kreiſte. Und ein Strömen von oben nach unten, wie unter dem Oruck der Atmoſphäre,
ſchien von jetzt ab durch ſeine Bilder zu gehen.
Die Gebilde ſeiner Phantaſie hatten die Verbindung mit dem Volk der lebendigen
Straße verloren. Stille, in ſich verſunkene Weſen, krankhaft-leidenſchaftliche Seelen
bedeckten die Leinwand, eine ganze Welt von Trauer und Verſunkenheit. Und er
malte ſie, zitternd vor Leidenſchaft, mit dem großen gewaltſamen Strich ſeines
Borſtenpinſels. Dick war der Farbenauftrag und gewaltig die Malfläche.
Und wie fein Leben hart und eintönig in ſteter Arbeit dahinging, jo hart und ein-
tönig wurden in dem erſten Jahr feiner Auferſtehung feine Farbentöne. Raftlos ar-
beitete er an der Malart, die ſein verdunkeltes Weſen zum Ausdruck brächte, ſeine
verdunkelte Welt der verhüllten Leidenſchaften.
So glich ſeine Seele dem gefeſſelten Prometheus. Sie hatte den Menſchen Licht
und Wärme gebracht und verfiel der Rache der dunkeln Gewalten. An ihr fraßen die
Seier der Erinnerungen. Ihr geblendeter Dämon rang in der Finſternis.
1661
1.
Aert von der Neer, wie eng iſt dein Reich geworden! Einſt Maler und Poet,
jetzo Wirt im Grafen von Holland! Er hat mich rufen laſſen, und mich Menfden-
ſcheuen verbirgt die dunkelſte Ecke.
Nein, Jan, ich trinke nicht. Biſt du auch Maler? — Ein zarter Junge! Zart wie
Titus, aber keiner hat ſeine Geſtalt und ſein verdunkeltes Weſen eines verarmten
Königsſohns.
Ich weiß nicht, was Aert von mir will. Ob meine Lieben ſich um mich ängſtigen,
weil ich ihnen davongeſchlichen bin? Schiefmäulige rotznaſige Kinder haben mich
mit Steinen beworfen, mit dem Unflat ihrer Mäuler, mich, der niemals einem Kind
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292 Martens: Der Dämon des Lichts
ein Leid angetan. So ift der Lauf der Welt! Wie arm und notdiirftig wir nod immer
find! Doc ich darf nicht klagen. Wenn Jan Lievens nicht wäre, ja, dann ... Ich
wage nicht daran zu denken. Einen prächtigen Auftrag hatte er mir verſchafft: das
Mahl des Claudius Zivilis. Über dreißig Ellen im Geviert. Wie oft tauchte ich da
meinen Borſtenpinſel in die Farbentöpfe und ſtrich das Ganze in dreimal dreißig
Tagen herunter wie ein Anſtreicher.
Die Staalmeeſters waren geſtern bei mir. Ich ſoll ſie in meiner alten Manier, klar
und ſonnenbeſchienen, malen. Zwölfhundert Gulden haben ſie mir geboten; aber
dieſe feine Arbeit kann ich nicht mehr allein bewältigen. Hätt' ich nur einen einzigen
Schüler!
An dem großen Fenſtertiſch geht es luſtig her! Es ſcheinen große Herren zu ſein;
ihre Federhüte fegen bei jeder neuen Begrüßung den Boden. Welche dröhnenden
Ovationen ſie den Neueintretenden bereiten! Aber ihre Degen ſcheinen noch kein
Blut gerochen zu haben. Dieſe Herren werden Hollands Ruhm nicht über den Ozean
tragen. Ihr Geſchnatter wird keine Kanone übertönen, ihr Maulgeplänkel keine Gee-
ſchlacht ſchlagen.
Wer mag der Prahlhans in ihrer Mitte ſein? Dieſe Stimme kennſt du doch!
Natürlich: Bol, Ferdinandus Bol. Wie vornehm er geworden iſt, einer meiner ärm-
ſten Schüler! Was ſchreit er? Rembrandt ſei eine überlebte Größe? Auch van der
Helft pflichtet ihm bei, er, der Abgott von ganz Amſterdam, der geborene Schützen-
königmaler! Nun ja, die glatte italieniſche Manier des großen Rubens, ſein helles
Licht begeiſtert ſie alle, dieſe Modemaler, und die Welt gibt ihnen recht. Ich wollte
eine bodengewachſene holländiſche Malkunſt ſchaffen. Mein Helldunkel ſei aber eine
deutſche Gemitstrantheit aus vergangenen Jahrhunderten, ſagten die großen Mode
papageien, und jetzt pfeift es jeder Straßenlümniel nach.
Da kommt van der Neer! — Laß das Verbeugen, Aert! Einſt galt ich etwas, jetzt
ſteht ein alter gebrochener Mann vor dir. Bleib hier. Laß dich nicht von den großen
Herren Malermeiſtern dort am Tiſch kujonieren! Sogar unter Preis ſollſt du ihnen
den Burgunder verſchänken? Laß fie alle zum Teufel gehn. Undankbares Volk! —
Du, laß das! Küß mir nicht den alten ſchäbigen Rockſaum! Aert, du biſt ja viel
größer als all dieſe Herren dort!
Wen bringſt du da? Arent de Gelder aus Dordrecht, ſechzehn Jahr alt, emp-
fohlen von ſeinem Meiſter Salomon van Hoogſtraaten, fleißig und geſchickt in der
Zubereitung und der Miſchung der Farben, das ſteht hier alles auf dem Papier.
Wie, ſagſt du, er will mein Schüler werden? Unmöglich, Aert, es geht nicht, beim
beiten Willen nicht. Bei mir iſt auch kein Platz für einen Schüler, und ich bin zu arm,
um ihn zu ſpeiſen. Er ſoll ſich doch ein Beiſpiel an denen dort nehmen! Keiner von
ihnen iſt an meiner Kunſt glücklich geworden, weil ſie alle lahme Seelen haben. Er
ſoll zu den Italienern gehen, dort hinüber an den Tiſch. Er will nicht? Er will feinem
Meifter Hoogſtraten keine Ehre machen? Was ſagſt du, Arent? Ou willſt zu keinem
andern als zu mir? Du wäreſt der Sohn wohlhabender Eltern, du könnteſt dich
ſelbſt beköſtigen? Welch ein unternehmender Burſche! Ich ſegne dich, mein Sohn!
Komm zum alten Rembrandt!
Aert, laß gut ſein, ich finde ſelbſt hinaus. Halt dich wacker, du feiner Poet! Aber
Martens: Oer Dämon des Lichte 295
wo ſind ſie geblieben, die großen Herren? Hat ſie meine Stimme verſcheucht? Und
du haſt das Nachſehen davon, Aert! —
Sollte es wirklich wahr ſein? Noch bin ich nicht tot für die junge Generation?
Noch verläßt einer Heim und Vaterſtadt, um mir zu dienen? Rembrandt, jetzt kannſt
du die Staalmeeſters malen!
2.
— Arent, du hilfſt mir getreulich. Die Staalmeeſters find der Vollendung nahe.
Morgen kann das ſauber gemalte Bild gefirnißt werden; das Bleiweiß ſcheint bis
auf den Malgrund eingetrocknet zu ſein. Endlich wieder ein alter Rembrandt, werden
die Leute ſagen; doch ich kann nicht beteuern, meine ganze Seele hinge an dieſem
Werk. Immer bleibt es nur ein beſtelltes Bild, kein großer Wurf.
Mit dem auferſtandenen Heiland ift es ein anderes. Niemals werde ich es voll-
enden können, dieſes große ſchöne erhabene edelgeſchnittene Angeſicht eines Juden,
das mir lieb geworden iſt. Immer wieder muß ich mich in dieſe Züge vertiefen, in
dieſe rätſelhaften Augen, fo daß mir oft ſchwindelt und ich Luft verfpüre, dies alte
elende Leben von mir abzuſchuͤtteln, das mich immer fo breitbeinig, fo unumgänglich
umfteht. Wie würde ich mich gluͤcklich fühlen, wenn ich nur ein einziges Mal fold ein
Werk vollenden könnte nach meinem Sinn; aber es kommt ein anderes dazwiſchen,
das mich quält und berauſcht, mich erniedrigt und erhöht. Eine ewig lange Reihe von
Schattenweſen ſteht im Untergrund meiner Seele, die alle lebendig werden möchten.
Und dann kommt mir immer bei jedem neuen Wurf die bange Frage an das
Schickſal: Werde ich je wieder fold einen Flammenbogen der Phantaſie in mir auf-
glühen fũhlen, je wieder ſolch geheimnisvoll dunkles Urland betreten, das noch
keiner erfchaute?
Dod immer weiter muß ich wandern, immer weiter durch nie geforſteten Forſt,
auf nie gepflügter Erde, ich Wanderer zum Licht. —
1663
— Die aufrühreriihe Sturmluft hindert mich heute am Schaffen. An dieſen war-
men Sturmtagen erſcheint mir das Leben faſt noch rdtfelbafter als ſonſt. Ja, uner-
gründlich rätjelhaft iſt mir der Sinn des Lebens geblieben. Ich habe nie etwas von
feinem Walten begriffen. Was allen andern klar erſcheint, iſt mir ganz unverſtändlich.
Sie gehen ſo ſicher durchs Leben, dieſe Menſchen. Fühlen ſie denn nicht die blinden
Sewalten der Natur über ihrem Haupt, fpüren fie ſich nicht eins mit dem Gang der
Sterne, die ich oft von Sonnenuntergang bis -aufgang ſehnſuͤchtig betrachten muß?
Wiſſen ſie nicht, daß all ihr Wiſſen, all das, was ſie mit dem Geiſt und den Sinnen
wahrnehmen, nur die Oberfläche der Dinge iſt, daß ihr ganzes Leben nur ein Schein
leben ift, kein wirkliches? Dieſes beginnt erſt mit der Erkenntnis, daß unſer Unter-
bewußtſein, unſer Inſtinkt das feinſte Organ iſt, mit dem die Natur uns ins Dunkel
dieſes geheimnisvollen Lebens hineinſtellt. Inſtinktloſe Menſchen ſind mir immer
unerträglich geweſen. Sollte dies der Grund ſein, weshalb ich die Kultur der Athener
nicht als den tiefſten Ausdruck der Seele empfinden kann? Sie reizt an mir den
Künftler der Sinne und der geiſtvollen Betrachtungen; aber meinen tiefſten Men-
iden, deſſen Wurzeln bis in den Mittelpunkt der Erde hinabreichen, und deſſen Fabl-
294 Martens: Der Dämon des Lich
hörner die Sterne berühren, läßt dieſe Kultur nicht warm werden. Sie befähigt den
Menſchen, ein Leben frohen und harmoniſchen Wirkens zu führen. Das mag ihr
Verdienſt fein. Aber ich will im Menſchen neben feinen Kulturzügen auch fein zweites
Geſicht ſehen, ſeine geheimnisvolle wirkliche Natur, ſeinen Gott und ſeinen Dämon.
all das Unausſprechliche, das ſich nur erfühlen läßt.
Blindlings in den Tag hineinzuleben, mich dem Walten der Natur in köftlicher
Ruhe hinzugeben, was mein Auge, mein äußeres und mein inneres, um mich he
erſchaute, ins Maleriſche umzubilden und naturwahr zu geſtalten, das alles iſt det
Inbegriff meines Weſens.
Nichts hat mich fo beſchäftigt, über nichts habe ich fo nachgeſonnen und gegrübelt,
wie über die Darftellung unſeres wirklichen Menſchen, den die klaſſiſche Kultur tot-
ſchwieg. Was weiß fie vom ewigen Licht, das nur dem inneren Auge erſchloſſen wird!
Vielleicht war ich auserwählt, die Darſtellung unſerer über- und unterirdiſchen
Kräfte in der Welt der äußeren Erſcheinungen zu verwirklichen.
Was frommt es auch, darüber nachzuſinnen! Ich war nicht geſchaffen, in Handel
und Wandel mich glücklich zu betätigen; ich mußte meine Seele und meinen Reich
tum der ewigen Sehnſucht opfern, den Menſchen und die Natur in ihrer geheimnis
vollen verſchleierten Wirklichkeit darſtellen zu können. Nur ſo konnte ich Gott und
der Menſchheit dienen!
Wie fern glühſt du in meine Einſamkeit hinein, du Berg der ewigen Sehnſucht!
Der Weg iſt noch weit, und je weiter ich wandre, um ſo ferner ſcheinſt du mir zu
entrüden, o du Berg der ewigen unerfüllbaren Sehnſucht! —
1664
he
— Hendrickje, du haft deinen ſchönen Tag. —
Ach, du lieber Schäker, und du deinen glücklichen. —
— Za, mein Prachtmädchen, am Eingang des neuen Jahres find alle guten Geifter
in mir wach. Komm, Kätzchen, auf meinen Schoß. —
— Du alter grauer Rater, was ſchnurrſt du des Nachts auf dem Söller umher? —
— Der Kater ſucht das Licht der Sterne. Ich muß den Odem des funkelnden Welt-
alls einatmen, um an meinen Werken arbeiten zu können. Und dann die Einſamkeit
— Rembrandt, mir wird oft angſt vor deiner Flucht in die Stille der Nacht. —
— Wieder eiferſüchtig? —
— Doch nicht! Einſt war ich es; deine Kunſt machte mich neidiſch. Jetzt bin ich
tiefglücklich in dem Glauben an deine Größe. —
— Hendrickje, glaubſt du wirklich an meine Kraft? —
— Rembrandt, es iſt keiner gleich dir. Du bift immer ein König unter den Großen
geweſen. Eines Tages wird ganz Holland, vielleicht die ganze Erde zu deinem Grabe
pilgern! —
— gch bewundere dich, Weib meines Herzens. Warſt du immer glidlid, immet
gewiß, dich keinem Minderwertigen geſchenkt zu haben? —
— War doch ein einfaches Mädchen! Da erhobſt du mich zu deiner Geliebten.
Es gibt keinen ehrenvolleren Tag in meinem Leben! —
Martens: Der Dämon des Lichts 295
— Lieb, auch damals, als ich mich vergaß und trank, pochte da nicht die Reue hã⸗
miſch an dein Herz? —
— Selbſt damals nicht, da ich zu den blutigen Fleiſchbänken der Hafenſtadt hin-
ſchlich, in der Frühe des Morgens, um im einfachen Kopftuch mir den Abfall zu er-
betteln, und betrunkene Matroſen mich beläftigten. Seit ich dich kenne, konnt' ich
jede Stunde meines Frauenlebens in Ehren halten, da ich nur deinem Willen
gelebt. —
— O du Gute und Treubeſorgte, niemals zweifelteſt du an meiner Liebe? —
— Seit ich die Bildniſſe erlebte, die du von mir in tiefer Erfaſſung meines um
dich leidenden Weſens ſchufeſt, verſtummte = Zweifel. Ich wurde gewahr, wie
tief ein Künſtler verehren kann. —
— Und wenn ich dir jetzt ſage, daß ich nur eine Frau verehrt habe, nur eine ein-
zige, und daß dieſe Frau nicht Hendrickje hieß, was ſagſt du dann? —
— Du alter grauer Kater, Hendrickje hat feine Ohren. Sie hört dein ſtilles ge-
beimes Lachen in den Worten. Du mich nicht lieben? Die Welt zerbräche cher in
Trümmer als deine Liebe. Ich muß dich küſſen, alter Schäker; zu neuen Taten will
ich dich entflammen. —
— Du bleibſt doch mein unverbeſſerliches Prachtmäͤdel. O Herr über den Sternen,
bewahre ſie mir und ihren Glauben. —
2. N
— Vater, komm hinaus in den hellen Tag! Er iſt ſanft wie Kornelias Schweiter-
küſſe.—
— Titus, Junge, du ſiehſt, ich bin beſchäftigt. —
— Das ſagſt du jeden Morgen. Und arbeiteſt doch nicht. —
— Laß mich zufrieden! —
— Immer vor den Bildniffen der ſeligen Hendrickje zu ſitzen und ſich mit ihnen zu
unterhalten, Vater, dazu iſt deine Zeit zu koſtbar.
— Vitus, laß mir meinen Willen, wenn es mich glücklich macht. Mein Glück
ſchrumpft immer mehr! —
— Leb wohl, Vater; einige Gänge eilen. War nicht Jan Lievens hier? — Da
kommt einer die Treppe herauf. Er wird es ſein; Kornelia wird ihm geöffnet haben.
Leb wohl! —
— Rem, guten frohen Morgen! Was macht mein alter Freund? —
— Du ſiehſt, Jan, ich lebe der Vergangenheit! —
— Rem, das liegt mir nicht. —
— Jan, ſie war doch ein Prachtmädchen, meine Hendrickje, und ſauber treu und
herzensgut, ein richtiges Prachtmädchen. —
— Hort geht Titus über die Straße! Du, das iſt doch der zaubervollſte junge Mann,
den ich je geſehen habe. Zart und geſchmeidig. Ein junger Held im Königsmantel.
Und wie ſchön muß ſeine Mutter geweſen ſein! —
— Saskia? Meinſt du Saskia? —
— Ja, Saskia! —
— Komm, Jan, wir wollen ins Freie! — (Fortſetzung folgt)
AN UNS
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A
an
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296
Malwida v. Meyſenbug an Heinrich v. Stein
Un veroffentlichte Briefe, mitgeteilt von Dr. Gotz von Selle
Nachfolgende Briefe Malwidas an Heinrich von Stein galten bislang als verſchollen. (Vgl.
Briefe von und an M. v. M., herausgegeben von Berta Schleicher, S. 188.) Der Zufall ließ ſie
im Nachlaß Heinrich von Steins (im Beſitz der Freifrau von Stein, Schwägerin Heinrichs) wieder
auftauchen; neunzehn von ihnen ſollen hier, mit einigen Streichungen, der Öffentlichkeit über-
geben werden, da fie uns von manchem zntereſſantes zu berichten wiſſen. So erfahren wir, wie
Malwida Heinrich von Stein in den Bannkreis Wagners brachte, wir ſehen die Wirkung dieſer
überragenden Perſönlichkeit auf Heinrich von Stein ſich in den Antwortbriefen Malwidas an
Stein widerſpiegeln, dies um fo bedeutungs voller, da uns direkte Zeugniſſe über Wagners Ver⸗
hältnis zu Stein fo gut wie ganz fehlen. Wir erleben die Trauer der nächſten Freunde bei Wagners
Tod in dieſen geiſtvollen und doch ſo menſchlich warmen Briefen, die uns in eine uns Heutigen
noch nicht als Ganzheit begreifliche Periode deutſchen Geiſteslebens einen Blick werfen laffen.
Neben Wagner und feinem Werk intereſſiert Malwida naturgemäß in erſter Linie Stein felbft
und feine Arbeit. Manch kluges Wort findet fie zu der Tätigkeit Steins, für die Beurteilung diefer
liebenswürdigen Perſönlichkeit uns heute von Wert. Daneben hören wir von Nietzſche, von den
unglaublichen Spannungen, in denen ſich ſein Geiſtesleben bewegte, von ſeiner Begegnung mit
Heinrich von Stein. Ferner treffen wir B. Foerſter, den ſpäteren Gatten Clifabeth Nietzſches,
mit feinen Rolonifationsideen. Paul Ries, des Freundes der Lou Galomé, ſtart erſchütterte Ge-
ſundheit erweckt mehr als einmal das Mitleid unſerer Briefſchreiberin. Auch Lenbach beginnt
bereits in den Geſichts kreis Malwidas zu treten.
Rein äußerlich fei zu dieſen Briefen bemerkt, daß fie im großen und ganzen vollſtändig wie
dergegeben find, an einzelnen Stellen waren Streichungen unvermeidlich. Wo es zur Orientie-
rung wünfchenswert erfchien, find in Anmerkung einige Notizen gegeben. Einige Schwierigkeiten
bot die Datierung, da die Briefe zum größten Teil ohne Jahresangabe ſind. Von ſpäterer Hand,
anſcheinend vom Bruder Heinrich von Steins, ſind in den Originalen Jahreszahlen vermerkt,
die aber z. T. irrig geſetzt find. Abkürzungen im Text find (in eckigen Klammern) zum Wort ver-
vollſtändigt.
Herr cand. phil. Wahnes macht mich dankenswert auf die von Berta Schleicher im Bapreuther
Feſtſpielführer 1924 veröffentlichten Briefe Heinrich von Steins an Malwida aufmerkſam. Die
Publikation iſt mir leider nicht zugänglich, und beſchränke ich mich auf die Mitteilung des Herrn
W., nach der die Briefe vom 30. 9. 81 zum Brief X, vom 24. 5. 83 zu den Briefen XIV und XV,
vom 11. 1. 85 und 19. 3. 85 zum Brief XVII in Beziehung ſtehen.
* *
*
Bayreuth, 11. September [1878]
Lieber Herr von Stein
urch Roe erfahre ich endlich Ihre Adreſſe und will nicht einen Augenblick zögern,
Ihnen einen Gruß aus nächſter Nähe zu ſenden. Ich verließ Rom ſo eilig, um
nach Paris zu Olga, welche krank war, zu gehen, daß ich nicht mehr Zeit fand, Sie
zu benachrichtigen, um ſo mehr, da ich eigentlich glauben mußte, Sie hätten Italien
bereits verlaſſen, ohne Rom noch einmal zu berühren. Nun weiß ich, daß Sie auch
wieder im grauen, nebeligen Vaterland weilen, und ich vermute, daß Ihre Gedanken
noch öfter in die lichterfüllten Gegenden zurückwandern, in denen auch Ihnen wohl
erſt die Wirklichkeitsphiloſophie [Dührings] ihren wahren Inhalt erſchloſſen hat.
Selle: Malwiba von Mepfendug an Heinrich von Stein 297
Gern und dankbar gedenke ich der Stunden, wo Sie fic fo freundlich meiner Ein-
ſamkeit anſchloſſen und mein altes Gehirn mit Ihrem jungen Wiſſen erfriſchten.
Stein hielt Vortrage über dle Wir klichteltopdiloſophle vor Malwida und Olga Monod.]
Auf meiner Ridreije von Paris hierher verlebte ich am Rhein ein paar ſchöne
Tage mit Ree, der zu dem Zweck von der Oſtſee hergekommen war. Trotzdem zwi-
ſchen unſeren Anſichten ſtets eine bedeutende Differenz beſteht, ſo habe ich mich doch
innig gefreut, den lieben Freund wiederzuſehen, der mir als Charakter ſo ſympathiſch
iſt und deſſen Intellekt, gerade durch die Kontroverſe, mich immer zu Gedanken an-
regt. Was haben Sie zu Nietzſches letztem Buch gejagt? Imenſchuches, Allzumenſchliches.
Alle ſeine nächſten Freunde ſind empört darüber, und mir mißfällt es auch durch
den leichtfertigen Ton, mit dem es ſich auf einem Gebiet bewegt, auf welchem N.
nie einheimiſch war und wo er daher inkompetent und oberflächlich iſt.
Dak wir fo ziemlich das Gleiche empfinden bei den Vorgängen in Deut. Iſchland], bin
ich überzeugt. IMordanſchlage auf Ratfer Wilhelm 1.) Ich dachte nicht, daß ich noch einmal fo
etwas erleben müßte, und das Schmerzlichſte dabei iſt, daß die Pflanze, die wir
lieben, nun in das Exzeſſive aufſchießen wird, anſtatt ruhig, naturgemäß zu wachſen
und zu gedeihen. Aber der alte Streit iſt noch nicht ausgekämpft in der Geſchichte,
und wer weiß, ob er es je wird!
Meine Arbeit I, etimmungebilder“, darin tt das Kapitel „Wirtlichteltsphlloſophle des Todes“ enthalten,
bas ben oben erwähnten Dortroͤgen Steins feine Entſtehung verdankt] iſt fertig, bedarf nur noch des
Durchſehens und dann des Verlegers. Wegen letzterem bin ich noch nicht entſchieden.
Was machen Sie, was find Ihre Pläne, welches Ihre Beſchäftigungen? Ich
hätte vielleicht eine, Wünſchen von Ihnen entſprechende, für Sie in Ausſicht.
Auf Nachricht von Ihnen hoffend, grüßt Sie herzlich
Ihre M. v. Meyſenbug
*
*.
II. .
Bayreuth, 17. September [1878]
Lieber Herr von Stein
Seſtern erhielt ich Ihren Brief und heute ſchreibe ich ſchon wieder, nur um
Ihnen Näheres über den angedeuteten Plan zu einer Beſchäftigung, die Ihnen zu-
ſagen dürfte, zu ſagen, da es ſich darum handelt, Ihre Anſicht hierüber zu kennen.
Ich ſprach nämlich hier von Ihnen und erwähnte Ihres einmal ausgeſprochenen
Wunſches, die Erziehung eines hochbegabten Kindes unter beſonderen, Ihnen zu-
ſagenden Verhältniſſen, machen zu können. Wagner war ſehr ergriffen von dieſer
Mitteilung und ſagte, das treffe mit ſeinem höchſten Wunſch für ſeinen herrlichen
Heinen Siegfried zuſammen. Er will ihn weder in eine Schule ſchicken, noch für den
Staatsdienſt uſw. erziehen, ſondern einen freien Menſchen aus ihm machen, und er
verſicherte mir wiederholt, daß ihm kein Opfer zu groß fein würde, wenn er den
geeigneten Freund und Führer für den Knaben fände. Alles, was ich von Ibnen
ſagte, war W.’s ſympathiſch und fie beauftragten mich, bei Ihnen anzufragen, ob
Ihnen eine derartige Aufgabe lockend fein könnte. Ich kann Ihnen nur folgendes
ſagen: das Kind iſt herrlich angelegt, eine liebenswürdige Natur, eine klare heitere
Der Tünner XXVIII, 4 20
298 Selle: Malwiba von Mepfenbug an Heinrich von Sten
Intelligenz. Er iſt 9 Jahr, alfo gerade im Alter, wo die Erziehung von Wichtigkeit
wird. Mit ihm würden Sie es leicht haben. Daß Sie als Freund im Hauſe ſein
würden, verſteht ſich von ſelbſt. Was Ihnen der Umgang mit W. und feiner berr-
lichen Frau ſein würde, brauche ich Ihnen kaum zu ſagen. Das Leben hier iſt ein
Zaubereiland, wie es in unſerer armſeligen Zeit kein zweites gibt, ja wie es wohl
kaum je ein ähnliches gegeben hat. Ihre Tendenzen würden hier faſt in allem An-
klang finden. [Diefe deiden Sätze hat Stein in fein Tage tuch einge tragen, aus dem Fr. Lienbarb fie in
einem Aufſatz über H. v. Stein in den „Wegen nach Weimar“ (I, 236) mitgeteilt hat. Bgl. auch B. Schlelcher,
Briefe von und an M. v. N., S. 186]. Ich brauche Ihnen nur zu jagen, daß Dühring eben
aufgefordert worden iſt, für die Bayreuther Blätter zu ſchreiben und es zugeſagt hat.
Wann geht Ihr Dienſtjahr zu Ende? Die Form Ihrer Familie gegenüber würde
ſich wohl finden laſſen. Ich gehe heute auf nichts anderes in Fhrem Briefe ein, da
ich keine Zeit habe und dies Wichtigſte erſt erledigen wollte. Alſo bitte ſehr baldige
Antwort. Herzlichſten Gruß von Ihrer
| M. Meyſenbug
III.
| Bayreuth, 26. September [1878]
Ein Beſuch, welcher mehrere Tage hier war und alle meine Zeit in Anſpruch
nahm, hat mich verhindert, Ihnen, lieber Freund, früher eine Antwort zu geben.
Nein, gewiß verlaſſe ich Sie nicht, da mir ſelbſt zuviel daran liegt, Sie zu jo ſchö⸗
nem Werke gelangen zu ſehen und, durch Sie, für das liebe Kind zu ſorgen, deſſen
Zukunft auch mir am Herzen liegt. Wagners nehmen alſo den Aufſchub an und
rechnen auf Sie nach Verlauf desſelben. Es ſind bereits proviſoriſche Einrichtungen
getroffen. Machen Sie alſo Ihre diſziplinariſche Schule durch und lernen Sie
darin auch nicht bloß für Sie ſelbſt, ſondern auch für dieſes Ziel, welches am Ende
derſelben Ihrer harrt. Halten Sie, wie Ihren Geiſt, fo auch Ihr Herz frei von
jeder Zerſplitterung bis dahin. Ich möchte Sie frei, mit offenen Augen und offenen
Sinnen in dieſe einzig ſchöne Welt hier treten ſehen, wo der Genius, wo die höchſte
Frauenſchöne, wo jugendliche Anmut und kindliche Heiterkeit ein Ganzes bilden,
wie es auf der Welt kein zweites gibt. Wenn nicht ein Dämon fein Spiel dagwifden-
treibt, jo kann vielleicht Ihre ganze Zukunft in edelſter Weiſe aus dieſem Anfang
ſich entwickeln. Ich würde glücklich ſein, die Vermittlerin dazu geweſen zu ſein.
Wenn Sie im Verlauf des Jahres einmal herkommen können, um die perfön-
liche VBekanntſchaft zu ermöglichen, fo wird es W.s lieb fein. Sie brauchen dann
nur ein paar Worte an M. oder feine Frau zu ſchreiben, um Ihren Veſuch anzu-
kundigen. Mit herzlichem Gruß Ihre
| M. Meyſenbug
[Stein genügte feiner Militärpflicht in Torgau beim 3.-R. 72, im Batalllon feines Bruders Auguft. Ste in
ſchrelbt in feinem Tagebuch, 27. Sept. 1886: „Ich wäre ein guter Offizier gewo. den. trotz der Abſurd itãten ber
militäriſchen Zwecke, fo ſta. k iſt dieſe Form.“ Sein Bruder mag über die milltät iſche Befähigung anders gedacht
haben, denn er neckte ihn gern.
Selle: Malwida von Mepfenbug an Heinrich von Stein 299
IV. 3 via della Pol veriera
Rom, 6. Februar [1879]
Lieber Herr von Stein
Ich dachte immer, Sie würden mir einmal ein Lebenszeichen ſenden, aber ver-
gebens. Nur einmal kam es, in Form eines Freundes, des Ocltors Poske Iveritarb 1925
ais Seh. Reg. Nat in Berlin, bekannt als Herausgeber der Steinſchen Schriften), welcher aber leider nur
mit einem Beſuche erſchien und auch nichts Näheres wußte.
Nun will ich direkt anfragen, wie es Ihnen geht und noch einiges andere. Zu-
nddjt möchte ich wiſſen, ob Sie Ihren Befuch in Bayreuth noch nicht haben aus-
führen können? Ich glaube, man wäre dort recht froh geweſen, Sie für ein paar
Tage zu ſehen und kennen zu lernen, was Sie ja ſelbſt als gegenſeitige unerläßliche
Bedingung einer etwa zu treffenden Vereinigung anerkannten. Sollten Sie noch
denfelben Wunſch hegen wie vorigen Herbſt, fo würde ich Ihnen raten, fic in
B. [ayreuth] bei Frau W. agner] anzumelden, damit die Zeit, allen Teilen genehm,
beftimmt würde.
Ferner möchte ich Sie fragen, ob ich Ihnen mein, nun fertiges, M. S. zur Durch-
ſicht ſchicken dürfte? Hätten Sie Zeit, es zu leſen und mir Ihre Anſicht zu ſagen?
Ich weiß, daß es nur unter Geſinnungsgenoſſen Anklang finden wird und daß
jetzt in Oeut. Iſchland] kaum jemand den Mut haben wird, es zu drucken. Von weib-
licher Seite habe ich ſchon mehrfache enthuſiaſtiſche Zuſtimmung gehabt. Ich möchte
aber wiſſen, wie es auf einen jungen Mann wirkt und ob Sie glauben, daß es des
Verſuches wert iſt, es Ihren Verlegern in Köln zu ſchicken? Wenn Sie das denken,
würde ich Sie bitten, es zu tun. Wenn nicht, ſagen Sie es mir aufrichtig und ich
ſage Ihnen dann, was ferner damit zu tun. Bitte, ſchreiben Sie mir umgehend,
ob meine Bitte Sie beläſtigt oder in irgendwelcher Weiſe ſtört, oder ob ich das
M. S. ſchicken darf. Daß ich mir die volle Wahrheit der Kritik erbitte, verſteht ſich
von ſelbſt.
Vor allem aber ſagen Sie mir, wie es Ihnen geht und ob die Aufgabe, die Sie
jetzt durchmachen, Sie mutig und freudig läßt, was Sie ſchaffen, und ob Ihnen der
Herbftplan noch ſympathiſch iſt.
Jetzt blühen die Mandelbäume und der Lenz beginnt, aber es war ein ſchlechter
Winter, trüb und feucht, indes es iſt immer Rom!
Mit herzlichem Gruß und unveränderter Geſinnung Ihre
M. Meyſenbug
* *
&
V 3 via Polveriera
Rom, 17. Februar [1879]
Lieber Herr von Stein
Ich denke, es wird alles in Ordnung ſein, Ihrem ebenſo klaren als verſtändigen
Programm entſprechend, welches ich unverweilt Wagners übermittelte. loieſer wichtige
Sele Steins hat ſich bislang nicht auffinden laffen. Er wird vermutlich im Gapreuther Archiv fein.) Die An-
frage wegen Ihres Beſuches entſtand wohl nur daher, weil Sie ſelbſt fold eine
Abſicht andeuteten in Ihrem Briefe an mich nach Bayreuth, wenigſtens hatte
300 Selle: Malwiba von Mepfendug an Heinrich von Stein
ich verftanden, daß Sie den Beſuch nod dieſen Herbſt machen wollten. Es bedarf
nun, glaube ich, keiner weiteren Verhandlung. W.s werden walten, und ich würde
mich um ſo mehr freuen, wenn der Herbſt die Erfüllung unſeres Planes brächte,
weil W.s die Abſicht haben, den nächſten Winter in völlig eingerichteter Häuslich-
keit am Golf von Neapel zu verbringen, wo auch wir uns dann natürlich wieder;
ſehen würden.
Das M. S. wird in dieſen Tagen wohl in Ihre Hände gelangen. Inzwiſchen
hatte Frl. Ginsberg, welche ich durch Ihren Freund Poske kennen lernte, die Freund-
lichkeit gehabt, an Ihren andern Freund Simon Mathematiter, auch detannt durch Meine
Novellen uſw.; endete ſpäter durch Selbſtmord. Einige Nachlaßſtücke dat W. v. Vaſiclewskl.; in Bonn über
die Sache zu ſchreiben, und ihm würde ich Sie dann bitten, das M. S. zuzu-
ſenden, wenn Sie es zunächſt für würdig halten, gedruckt zu werden, zweitens
wenn Sie glauben, daß es jetzt in Deut. Jſchland] gedruckt werden kann ohne augen-
blicklich auf den Index zu kommen und über meinem Haupte eine Donnerwolke
zuſammenzuziehen. Nicht daß ich mich fürchte, Sie wiſſen, daß ich, gleich Gieg-
fried, das Fürchten nicht kenne. Aber es würde mich ein öffentlicher Sturm jetzt
vielleicht aus mancher ftillen, perſönlichen Wirkſamkeit heraustreiben, die auch
ihren Wert hat. Dennoch, wenn es nützen kann, ein paar kräftige Worte in die Welt
hinauszurufen, fo iſt auch vielleicht der Moment wieder günftig, um manch zweifeln
des Gemüt zum Ausharren zu ermutigen. Jedenfalls freue ich mich der Bundes-
genoſſenſchaft mit ſoviel trefflicher Jugend, von der mir Frl. Ginsberg auch noch
vieles erzählt hat. Darum den jungen Wirklichkeitsphiloſophen Gruß und Heil
M. Meyſenbug
* *
*
VI. 3 via Polveriera
Rom, 1. März [1879]
Lieber Freund, ich danke herzlich für Ihren Brief, der mir große Freude ge-
bracht hat, da ich mit Recht von Ihnen vorausſetzen darf, daß Sie die reine Wahr-
heit ſagen. Daß die Schrift ein beredtes Zeugnis unſerer Geſinnungen ſei, iſt das
einzige Lob, welches ich erſtrebe, und obgleich ich im voraus weiß, daß ſie viel
ſchärferen Tadel erfahren wird als die Memoiren einer Idaaliſtin] jo tut mir das
gar nichts, denn ich habe mich nie darüber getäuſcht, daß dort der Erfolg zum Teil
den Schilderungen anziehender Perſönlichkeiten und Erlebniſſe zu danken war,
während vor der ſcharf ausgeſprochenen Geſinnung (die man mit dem Alter viel-
leicht ſogar ſchon geſchwächt, „weiſe gemildert“, glaubte) viele mit Grauen ſich
wegwenden werden. Das iſt gleichgültig; wird es gedruckt, ſo weckt es vielleicht
auch wieder manchen verwandten Klang, und daran iſt mir einzig gelegen: die
Gemeinde zu mehren, die ſich gleicher Ziele bewußt iſt und ſich gleichem Tun ge
lobt. Ich verſammle dazu auch heute abend wieder einen kleinen Kreis tüchtiger
Frauen, welche die Sympathie mir zugeführt hat, nur um durch das Bewußtiein
der Gemeinſamkeit ſich zu ſtärken und zu edler Propaganda Mittel und Wege zu
beraten... Ihre
M. Meyſenbug
Selle: Malwiba von Mepſenbug an Heinrich von Stein 301
VII.
Paris, 3. November [1879]
Mit herzlicher Freude begrüßte ich Ihre Zeilen, junger Freund. Ich wußte
nichts von Ihrem Eintritt in Wahnfried, da ich lange keinen Brief gehabt hatte
und mir daher auch Wagners Telegramm gar nicht deuten konnte. 10g. Siaſenapp,
das Leben R. Wagners, vı, 270.) Möge es von beiden Seiten fo bleiben, wie es begonnen
hat. An die Neckereien W.s müſſen Sie ſich gewöhnen, das iſt ſeine Art und keiner
entgeht dem, auch ich nicht. Aber das iſt ja auch nur die heitere Arabeske zu dem
unendlich Großen, Anregenden, Fruchtbringenden, was man täglich von ihm
empfängt. Ja, wohl freut es mich, daß Sie, mit Ihrer gefunden, empfänglichen
Seele, an dieſen gewaltigen Menſchen herangetreten ſind. Sie werden an ſeiner
Größe reifen, nicht daran zerbrechen, und ein ſchönes Mittelglied zwiſchen Vater
und Sohn bilden. Daß Ihnen daneben in Frau W. das ſchönſte Bild edelſter Weib-
lichkeit vor Augen iſt, iſt ein Gewinn jenes Aufenthalts, für deſſen Wert es gar
keinen Ausdruck gibt, und ich rate Ihnen, auch ſich ihr mit Kindesoffenheit zuzu-
wenden und überall Rat und Wink von ihr zu empfangen.
Wiſſen Sie etwas über Nietzſche? Indirekt ging mir die Nachricht zu, er ſei tot,
doch habe ich noch keine direkte Beſtätigung. Ich kann es nur wünſchen, denn feine
Zukunft wäre nur Qual geweſen.
Dak aber Ihr Lehrer, Dühring, geſtorben, wird Ihnen ein großer Schmerz ge-
wefen fein. 10. ſtarb erſt 1920.) Ein unerſchrockener Kämpfer weniger! — Roe iſt auch
immer leidend.
Leben Sie einftweilen, froh der gegenwärtigen Aufgabe, wohl, bis auf hoffent-
lich heiteres Wiederſehen am ſchönen Golf. Herzlich grüßt
M. Meyſenbug
* *
*
VIII. 3 via d. Polv.
Rom, 26. Dezember 80
Lieber Freund
Leider komme ich erſt heute dazu, Ihren mir ſo lieben Brief zu beantworten.
Dielleicht indes waren Sie noch in Bayreuth, als mein Brief an Coſima, der ſich
mit dem Ihren gekreuzt hatte, dort anlangte, und hatten Sie wenigſtens fo in-
direkt Nachricht von mir.
Daß mir Ihr Scheiden von dort beinah ebenſo nahe ging wie Ihnen, können Sie
denken. dem Wunſche feines Vaters folgend hatte Stein feine Stellung im Haufe Wagners aufgehen müffen.]
BH empfand es ganz, wie wohltätig die äſthetiſche und ſittliche Freiheit der Atmo-
ſphäre für Ihre Entwicklung fein mußte und wie wichtig wiederum Ihr Einfluß
auf Siegfried war. Doch verſtehe ich auch, daß Sie es tun mußten und daß in einem
ſolchen Opfer zugleich eine ſo hohe Kraft der Entſagung ſich bewährt, daß man
danach ſich beinah als geſtählt gegen alles Schickſal anſehen kann. Daß deſſen un-
geachtet die Bande, die Sie mit B. [ayreuth] verknüpfen, ſich feſt erhalten werden,
bin ich überzeugt. Wenn das Geſchick nicht wieder, wie es pflegt, dämoniſch ver-
fährt, fo finden wir uns im Jahr 82 dort wieder alle zuſammen und feiern wieder
302 Selle: Malwiba von Menyfendug an Heinrich von Stem
eins von jenen Feſten, wie fie von Zeit zu Zeit den Sterblichen beſchieden fein
müßten, um ihnen zu zeigen, daß das Leben doch etwas anderes ift, als „I'infinite
vanita del tutto“. Mögen nur vor allem dem Meiſter dafür die Kräfte friſch bleiben,
doch er iſt ja ein Titan, welcher die Schickſalsmächte beſiegt. Hoffen wir alſo! Be
gierig bin ich, zu erfahren, wie ſich nunmehr Ihr Leben geſtalten und welches die
Beſchäftigung fein wird, die Sie zunächſt erwählen. Faſt möchte ich es gut heißen,
daß Sie in einem kleinen, gleihgültigen Ort find, fo zieht Sie nichts von der Haupt-
richtung Ihrer Gedanken und Ihrer Intereſſen ab und Sie können denſelben beſſer
ohne äußere Anfechtungen freu bleiben. Was ſagen Sie zu der Agitation Förſters,
lipater Gatte von Niegfhes Echweſterl, den Sie ja doch auch kannten? Mir iſt dieſe ganze
Judenhetze ſehr widerwärtig. So ſehr ich den Einfluß und die Macht des jüdischen
Elements beklage, ſo ſcheint mir dies Mittel ganz unwürdig und ein klägliches
Armutszeugnis für die chriſtliche Geſellſchaft. Nachdem fie erſt die Fuden als Sklaven
behandelt und fie zu allen Mitteln, mit denen Sklaven ſich an ihren Unterdrückern
rächen, gezwungen, dann fie emanzipiert haben, um ſich ihres Geldes bedienen zu
können, erſchrecken ſie nun vor der Gefahr, ihre eigne nationale Individualität zu
verlieren und wollen die Sache mit der Gewalt korrigieren. Wenn ſie kein anderes
Mittel haben, den deutſchen Geiſt vor dem Semitiſchwerden zu beſchützen, dann
ijt es gut, wenn Deutſchl. [and] zum neuen Paläſtina wird, vielleicht erſteht dann
auch einmal wieder ein neuer Meſſias in ihm.
Ich lebe äußerſt ſtill in den Zhnen bekannten Räumen bis jetzt noch, doch wird
mich die Bauwut wohl zwingen, auszuwandern. Es iſt göttliches Wetter bis jetzt,
der wahre römiſche Winter, und das bält ſchadlos für vieles.
Herzliche Wünſche zum neuen Jahr. Möge es Ihnen des wahren Guten viel
bringen. Schreiben Sie mir von Zeit zu Zeit. Ihre
M. Meyſenbug
Wenn Ihr G. Bruno fogt. „Aer die Bedeutung des bichteriſchen Elemente in der Ppilofophie bes
Giordano Bruno jezt in „Zur Kultur der Seele“, her. von F. Poste, G. 231) nicht gedruckt wird, wollen
Sie mir dann die Freude machen, mir die Sonette abzuſchreiben?
* *
*
IX. 3 via Pol veriera
Roma, 7. Juni 11881]
Lieber Freund
Ihre wertvolle Gabe, begleitet von ſo innigen Worten, habe ich mit dankbarem
Herzen empfangen. O ihr lieben jungen Menſchen, Jünglinge und Jungfrauen,
ihr Träger der Zukunft, bewahrt mir ein liebevolles Andenken, wenn ihr das
heilige Feuer des Ideals hitet, fei es auch im Verborgenen bis auf die Zeit, wo
es wieder frei aufflammen darf am lichten Tag. Meine Zeit iſt bald um, aber es
gibt mir keine ſchönere, tröſtendere Hoffnung als die: fortzuleben in den Herzen
der Jugend, welche weiter baut an dem Tempel, in dem der Altar ſteht, dem un
bekannten Gott geweiht. Sie gaben mir dafür wieder ein warmes Zeugnis und
ich danke es Ihnen warm. Mit der Gewißheit, welche Sie über ſich ſelbſt im Herzen
Seile: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein 303
haben, wird Ihnen vielleicht auch die gezwungene Wirkſamkeit nicht allzu ſchwer
werden und finden Sie vielleicht durch anregende Wirkung auf ein oder das andere
Gemüt wirkliche Befriedigung. Ich habe Ihren Bruno wieder mit großem Intereſſe
geleſen, und wenn er manches Wertvolle hat einbüßen müſſen, ſo tritt doch, wie
Sie ganz richtig ſagen, die Hauptſache auf das klarſte hervor. [ie gen. Schrift diente
Stein als Habilitationsſchrift in Halle, er mußte fie mehrfach umarbeiten, ehe fle der Fakultät genehm war.]
Ich gedenke jetzt oft der ſchönen Tage im vorigen Jahr um dieſe Zeit; fie leuchten
mir noch herüber in die ziemlich große Einſamkeit, die mich augenblicklich umgibt,
die überhaupt freundlich mit Geiſtern belebt iſt, als „hätt' ich alles, was ich je ge-
noſſen“. — Sie wiffen vielleicht durch Wagners, daß ich diesmal meine Winter-
ruhe unterbrochen habe, um zwei Monate mit Olga in Cannes zuzubringen, wohin
dieſe, wegen ihrer und der Kinder Geſundheit geſchickt war. Es war eine ſtille,
aber, abgeſehen von der Geſundheit, liebe Zeit. Seit Anfang Mai bin ich wieder
hier und gedenke den Sommer einmal wieder in Italien, wenn auch natürlich nicht
in Rom, zu verbringen, da die weiten Reifen mich zu ſehr ermüden und für dies-
mal, nach der Frühjahrsreiſe, auch ſonſt unmöglich ſind. Zum Wiederſehn richtet
ih das Hoffen auf nächſtes Jahr, beim Parſifal. Von Vayreuth hatte ich lange,
lange keine Nachricht, trotz mehrmaligen Schreibens meinerſeits. Hoffentlich iſt
es Glück, welches fie ſtumm macht, ſollte aber etwas vorgefallen fein, fo bitte ich
um ein paar Worte der Benachrichtigung. Daß Nee, nach dem Tod des Vaters,
eine Gehirnentzündung hatte, wiſſen Sie wohl? Ich bitte auch von dort vergebens
Nachricht.
Möge es Ihnen gut gehn. In herzlicher Freundſchaft denkt Ihrer
Ihre M. Meyſenbug
* *
*
X.
Vicenza, 26. September [$1]
Lieber Freund, erſt heute komme ich dazu, Fhnen für Ihren Brief loom 28. August
1881; vg. Brie ſe von und an M. v. Menfenbu; ed. B. Schleicher, S. 130 f. und für den wunderſchönen
Artikel über W. Meiſter zu danken. 1, Ader Goethes Wanderjahre jetzt in Zur Rultur der Seele“,
6. 20 f..] Der letztere hat mich ganz entzückt und mich viel in Gedanken beſchäftigt
und tut dies noch. Er hat mich beſonders veranlaßt, über zwei Probleme viel nach;
zudenken; das der Möglichkeit einer neuen reineren Kulturmitte durch Auswande-
tung in Klimate, wo die Bedingungen normaler Exiſtenz gegeben find und zwei-
tens: warum und inwieweit die Renaiſſanceepoche nicht fruchtbringend geweſen ſei;
beides Themen Ihrer letzten Artikel. I. ehateſpeare als Richter ber Renalſſance“, vgl. a. a. O. G. 1 fl.
Sie erinnern ſich vielleicht, daß bei unſerem erſten Zuſammenſein in Rom wir
uns auf den gleichen Gedanken über ein Kultur- Nomadenleben fanden. Es iſt dies
ſeit über 30 Jahren ein Lieblingsgedankenkind von mir geweſen. Ich war auch
ſchon mehr als einmal der Ausführung nah, damals mit einem Teil der freien
Gemeinde in Hamburg, wo das Ganze wirklich jenem Goetheſchen Bild ſehr ähn-
lich war; damals brachte ich der Mutter das Opfer, und es war gut, denn das
Idealbild war drüben zur traurigſten Wirklichkeit geworden. Nachher noch einmal
304 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein
und zuletzt in Sorrent, wo die Ausführung einzig an Nietzſches und Rees Schwanken
ſcheiterte. fügt. Hierzu u. a. R. Meyer, Metzſche G. 158; a. a. O. B. Schleicher, N. v. Mepfenbug, ein Lebens
bild. Aber, lieber Freund, es find eben arge Bedenken dabei; wie oft ift’s ſchon ver-
ſucht und nicht ohne ein neues, ſittliches Ideal, wie Baboeuf, wie Robert Owen,
von denen beſonders der letztere ein vortrefflich entwickeltes Erziehungsſyſtem
hatte, durch welches eine neue Menſchheit hätte herangebildet werden müſſen. Ja,
ihm fehlte auch die künſtleriſche Seite nicht. Und dennoch ſcheiterte das alles,
und ich glaube, wir müſſen da auf ganz andere Gründe, metaphyſiſche (Sie wiſſen,
was ich darunter verftche) und hiſtoriſche, zurückgehen, um dieſe Unmöglichkeiten
zu erklären. Sehen Sie Nordamerika an; alle Bedingungen der freieſten Entwick-
lung vorhanden und ein großes Prinzip verwirllicht: daß der Fluch von der Arbeit
genommen iſt und daß ſie ehrt, anſtatt zu erniedrigen. Nun: die zwei edelſten
Präſidenten, die ſie gehabt haben, Lincoln und Garfield, ermordet und das Spiel
der böſen Leidenſchaften ebenſo mächtig wie in der alten Welt. Wollten wir aber
mit Nibel. ungen] und Parſifal jetzt hinüberziehen in eine jener paradieſiſchen Oaſen
Südamerikas, fo wären wir es (geſetzt, man könnte das überhaupt verwirklichen),
die es dort genießen und begreifen würden wie hier, aber keine andern. Und unſer
Meiſter — wodurch iſt er der große Held und Überwinder geworden, der er iſt,
als durch die Gegenſätze, die er vorfand und an denen fein Gedanke zu feiner jetzigen
Größe reifte. Ach. es iſt eine jo lange Geſchichte, dies alles zu beſprechen, und nun
erſt das Thema der Renaif.[jancc], da empfindet man es immer ſchmerzlich, daß
man nicht zuſammen iſt und mündlich verhandeln kann. —
Ich gönne Ihnen von Herzen die wonnevolle Zeit in Bayreuth und beneide
Sie zugleich um den Vorgeſchmack künftiger Seligkeit in Anhörung der Proben
zum Parſ. [val]. Ja, davon geht eine Wirkung aus, die nicht zu berechnen iſt, wie
es auch kommen mag; es wird ein Licht fein, welches durch die Wolken der Reaktion
bricht, die ſich über Deutſ. [chland] zuſammenziehn. |
Geſtern bin ich äußerlich an das Vayr.[euther] Theater erinnert worden, indem
ich hier in dem ſchönen Paladio-Theater der Prüfung eines Volkskindergartens
beiwohnte, die darin gehalten wurde. Das Theater faßt 2000 Menſchen und war
gedrängt voll, fo daß der Anblick an B. erinnerte. Es war überhaupt ſehr hũübſch,
aber lieber hätte ich noch Salvini als Odypus hier gehört, was einmal vorgekommen
ijt. — Ich lege Ihnen eins der Spaziergangsgedichte aus Pieve bei, nur damit
Sie meine Stimmung dort ſehen. Tauſend Grüße allen Wahnbefriedeten und
Ihnen M. M.
* *
*
Du eilft zu Tal, du muntres Alpenſöhnlein,
Mutwillig ſpringſt du über Stock und Stein,
In kindlich frohem Übermute ſcherzend;
Denn dir erneuert ſich die Jugend ewig
Aus friſchen Quellen ſchneebedeckter Höhn.
Mir ſchwand ſie längſt, die holdeſte der Gaben,
Die uns Natur verleiht und wieder nimmt,
Geile: Malwida oon Mepfenbug an Heinrich von Stein 308
Und einſam wandle ich die ſteilen Pfade
Des Alters, fort bis zu der letzten Höh'.
[wei Zeilen des Manuſtripts find zerftört.]
Da fließen ewig jung der Liebe Quellen,
Des heil'gen Mitleids milde Harmonien,
Und durch die Seele ziehen Geiſterſcharen
Erhabener Gedanken, ſel' ge Chöre
In Hymnen deutend einen neuen Tag.
Du muntrer Bergſtrom, eile ſcherzend weiter;
Nicht neide ich dir deiner Jugend Glück!
** Pr *
XI.
Rom, 16. November [1881]
Lieber Freund, ich wende mich an Ihre Güte, um Roe das einliegende Brief-
chen zukommen zu laſſen. Er hat mir von Leipzig aus geſchrieben, aber ohne eine
Adreſſe anzugeben. Es freut mich, daß Sie ſich wiedergeſehen haben und daß Rée
wieder etwas aufzuleben ſcheint. Sie werden die Verödung von Bayreuth ſchwer
empfinden, und ich kann mir denken, daß, wie Daniela es mir ſagte, es für die
am Theater Beteiligten ein großer Schreck geweſen iſt, den Meiſter ziehn zu ſehn.
Hoffen wir, daß alles gut geht und daß die Wunder des Südens wieder ihren
heilſamen Einfluß üben. Hätte ich eine Ahnung gehabt, daß W.s wieder kämen,
fo hätte ich mich nicht hier für den Winter eingerichtet und wäre auch nach Siz. lilien]
gegangen, um dieſes Zaubereiland auch noch einmal und in dieſer Geſellſchaft!
zu ſehen. So wird es nicht möglich fein, um fo weniger als das viele Hin- und Her-
teilen im Sommer mich ſchon ſehr ermüdet hatte und ich mich nicht ſehr wohl
fühle. Dan. febe ich leider nicht fo oft, wie id wünſchte, fie iſt zu ſehr von der über-
nommenen Pflicht und von den durch Liſzt unvermeidlichen neuen Bekanntſchaften
in Anſpruch genommen. Doch freue ich mich bei jedem Zuſammenſein ſehr an ihr.
Über den letzten Artikel von W.[agner] in den B. Bl. hätte ich gern mit Ihnen münd-
lich ſprechen mögen, der Anfang iſt herrlich, dann aber kommt Bedenkliches. [aus-
füpeungen zu „Religion und Runft . Heldentum und Christentum. Bapreutder Blatter, Sept. 188 1. Wenn
Zeit und Augen es erlauben, ſchreibe ich einmal länger darüber.
gerzlichſte Grüße von Ihrer M. M.
(Schluß folgt)
Am dammernden Abend
Von Baul Bülow
m dämmernden Abend lege ich die Feder aus der Hand, die tagsüber Bogen
auf Bogen gefüllt bat.
Von draußen raufcht ein unfreundlicher Regenſturm an die Scheiben meiner be
haglichen Arbeitsklauſe.
In mir aber iſt wohlige Ruhe, die ſich allem Toſen der Außenwelt zum Trotz feſt
behauptet.
Dieſe Ruhe entſtrömt vollendeter Pflicht.
Pflicht iſt Lebensrhythmus.
Ohne ſolchen Rhythmus zerflattert unſere beſte Kraft in Nichtigkeit und Schlaff⸗
heit.
Auch der kleinſte und dürftigſte Lebensinhalt bedarf eines ſolchen Rhythmus,
wenn er dem Ganzen fördernd zu dienen befliſſen iſt.
Wohl dir, wenn am dämmernden Abend der Rhythmus deiner Tagespflicht aus
klingt in zielgekrönter Erfüllung !
Aber ſolchem Leben blühen unzählige Roſen; und die herbe Pflicht iſt im Glanze
edler Schönheit von innen heraus verklärt.
Nächtlicher Wind
Von Rudolf Paulſen
O Nauſchen lind,
Du wunderdunkle Halle
Der nahen Nacht, erfüllt vom Atemwind!
Wie wir doch alle
So tiefbeglüdte junge Kinder find!
O ſpottet nicht des lieblichen Entzüdens,
Das von den Sternen felig niedertropft,
Es will die Seele labend auferquiden,
Wenn unfer Herz im großen Einklang klopft.
Köſtliche Nacht, berauſchendes Getränke,
Das ringsum wie ein Tau aus Blauem träuft,
Derzaubert find wir, wenn das All Geſchenke
Don Märchenpracht auf unfre Erde häuft.
Da weinen viele Augen trunkne Tränen,
Und zieht ein Duften wie von Blüten zart:
So hebt ein edelfrommes tiefes Sehnen
Uns hoch in das Bewußtſein anfrer Art.
Vom Himmel find wir, und die ſchönen u
Sind uns verwandt, verwandt wie unfer Blut,
An uns und allem wächſt die lichte Schwinge,
Wir ſchweben mit, wie Nachtigallen gut.
Das Lied der Nacht ertönt aus allen Sphären,
Das leiſeſte und traumhaft reinſte Lied
Raufcht in den Herzenswogen, rauſcht aus allen Meeren:
Die hohe Nacht ſteht glückhaft im Zenit.
Die Kunſt der Reklame
Von Alexander Freiherrn von Gleſchen⸗Rußwurm
eklame, gewaltiges Zauberwort, das „Seſam öffne dich!“ des Erfolges im
N geſchäftlichen Leben — ein Kind ser Neuzeit in der Erſcheinungsform und
doch uralt wie Handel und Verkehr, ſeit Waren ausgetauſcht werden unter Völkern
und Ländern, ein Kind der Neuzeit, bunt und laut, aufdringlich und unabwend-
bar, manchmal feinerzogen mit allen Anſätzen der Kultur, dann wieder in den
Flegeljahren unleidlich und roh .. ihr Wertmeſſer und dennoch allzu oft ſelbſt
der Kultur entbehrend ... die Vermittlerin zwiſchen Erzeugung und Ger brauch.
Zum Vermitteln gehört in allen Lebensäußerungen, mag es ſich um Piplo-
matie oder Geſchäft, Staats- oder Familienangelegenheiten handeln, als erſtes Er-
fordernis Geſchmack, der ſich in taktvollem, entgegenkommendem Benehmen zeigt.
Alſo bedarf auch die Reklame, jede Reklame Geſchmack und Takt. Ihre Kultur
beſteht darin, daß ſie dieſe Vorbedingung erfüllt, weit hinaus erzieheriſch wirkend
nach ethiſcher und äſthetiſcher Seite.
Sind aber Geſchmack und Reklame vereinbar, waren ſie es je, können ſie es je
werden?
Oringt man tiefer in den Geiſt dieſer Fragen ein, darf man nicht nur die größten
und wichtigſten Arten der Publizität betrachten, man muß jede Art von Einwir-
kung auf die Offentlichkeit berückſichtigen, denn die Reklame bedient ſich der ver-
ſchiedenſten, oft geheimnisvollſten Wege. Seit fie im Konkurrenzkampf der Waren
und Menſchen emporgekommen und eine der größten Weltmächte geworden iſt,
zeigt ſie ſich allzu oft plump und protzig, geradezu vernichtend für den Geſchmack.
Dies ſcheint jedoch in führenden Kreiſen zum Bewußtſein zu kommen, und wo
von Propaganda die Rede ift, ſehnt man ſich, der Anpreiſung Kultur, dem Erfolg
ethiſche Begründung zu geben. In Amerika, wo die Reklame ausgeſprochenſte
Triumphe feierte, wo ſie im modernen Sinn ſo recht eigentlich erſt erfunden wurde,
erfuhr fie zuerſt Kritik, die immer ſchärfer auftritt, und die „Advertising clubs of
the world“ gehen daran, in jährlichen Kongreſſen die Auswüchſe zu beſchneiden
und dem Geſchäftsleben — ich möchte ſagen: in feinem Miniſterium des Außeren —
einen einwandfreien Charakter zu geben.
Der Wunſch aufzufallen, um zu gefallen, um Aufmerkſamkeit, um Kaufluſt zu
erregen, der Orang, möglichſt bunt und laut zu wirken, iſt fo alt wie die Welt.
Auf jedem Jahrmarkt ging es in dieſem Sinn marktſchreieriſch zu. — Seitdem der
Jahrmarkt aber nicht mehr zeitlich und örtlich gebunden, ſeitdem die ganze Welt
ein Jahrmarkt geworden iſt, geht es eben auf der ganzen Welt marktſchreieriſch zu.
Einſt lockten einzelne Buden auf dem dazu berufenen Platz mit Wort und Bild,
in den Städten hatten einzelne Geſchäftsviertel in ihren dieſem oder jenem Handel
gewidmeten Gaſſen wetteifernd entſprechende Schilder aushängen, heute kreiſchen
Wort und Bild vernehmlich allüberall, verſchonen keinen Platz, keine Straße, keine
Landſchaft, und die Reklame artete vielfach zu koloſſaliſchem Unfug aus. Zum
etſtenmal äußert ſich das Bedenken: Fit dies wirklich unerläßlich für modernes
Leben, für modernen Handel und Wandel?
308 Gleichen · Rußzwurm: Die Runſt der Nelamı
Die „Advertising clubs“ erklären aus der allgemeinen Pfuſcherei eine Kunſt zu
machen, ſie ſuchen die Publizität wiſſenſchaftlich zu betrachten. Es handelt ſich hier
um eine Difgiplin des menſchlichen Geiftes, die nicht mehr dem Zufall überlaſſen
werden darf, der Willkür und ſkrupelloſen Gier, der beſchämenden Geſchmaclloſig-
keit. Dieſe im neuzeitlichen Leben fo außerordentlich wichtige geiſtige Angelegen⸗
heit beſchäftigt in Amerika die Univerſitäten, wo ſich eigene Inſtitute bilden, die
Geſetze der Reklame zu erforſchen. Die Bewegung begann zu Ende des 19. Jahr-
hunderts mit einer Abwehr des Charlatanismus, als John A. Wanemaker, ein
bekannter Geſchäftsmann, ſeinem Kollegen Powers die Frage ſtellte: „Alles iſt
ſchon verſucht und abgetan auf dem Weg der Reklame, wiſſen Sie etwas Neues,
um unfere Waren anzupreiſen?“ und Powers ihm die Antwort gab: „Verſuchen
wir es einmal, ganz ehrlich zu ſein. Das wäre das Neueſte, das hat noch niemand
probiert.“ Um dieſe Zeit begann im „Ladies House Journal“ ein Feldzug gegen
marktſchreieriſche und ſchwindelhafte Annoncen unter dem Titel „Wahrheit, Auf-
richtigkeit!“ Dieſer Anregung danken die „Advertising clubs“ ihr Entſteben, und
es bildete ſich zunächſt in den Geſchäftskreiſen ſelbſt eine ſtrenge Kontrolle aller
Ankündigungen und Prüfung des wahren Sachverhalts bei Anpreiſung von Waren,
eine Art freiwilliger Handelspolizei. Die Käufer fanden ſich beſchützt und verteidigt,
Abſchlüſſe durch Brief und Telephon mehrten ſich infolge wachſenden Vertrauens.
Die Kultur der Reklame hängt feſt zuſammen mit dem Vertrauen, das fie einzu
flößen imſtande iſt.
Gleichzeitig mit dieſem ethiſchen Gebot machten ſich die äſthetiſchen Forderungen
bemerkbar. Die Geſchäftswelt ſah ein, daß mit fortſchreitender Ziviliſation jede
häßliche, unkünſtleriſche Reklame ſich überlebt hatte. Man rief die Kunſt, man ruft
die Literatur, die man auf dieſem Gebiet lange entbehren zu können glaubte.
Künſtlerplakate winken von Mauern und Säulen, in anmutig belehrenden Dar
ſtellungen wirkt der Schriftſteller für dieſes oder jenes Induſtrieerzeugnis oder
kleidet die Annonce, die bisher lediglich Straßenanzug getragen, in Frack und
weiße Krawatte. Eine aufdringliche, geſchmackloſe und unwahre Reklame wird bald
überhaupt nicht mehr lohnend fein, denn jede mit Hilfe von Häßlichkeiten ar
geprieſene Ware wird bei einem kultivierten Publikum nur Widerwillen erregen.
So hoffen wenigſtens die Vorkämpfer der veredelten Reklame.
Durch berechtigtes Wohlgefallen ſoll die Aufmerkſamkeit zu den angeprieſenen
Dingen gelenkt und nachher durch unentwegte Zuverläſſigkeit und Tüchtigkeit die
Kundſchaft erhalten werden. Dann genügt es, wenn die Reklame leiſe mahnt und
immer wieder künſtleriſche Befriedigung erweckt. Die praktiſche Erfüllung dieſes
Ideals, das erſtrebt werden ſoll, wenn es auch nicht immer erreichbar iſt, bringt
Kultur in die Reklame und verſöhnt oder vermählt ſie vielmehr endgültig mit dem
Geſchmack.
Ein Witzbold hat einmal auf die Frage, wann die erſte Geſchmackloſigkeit ent-
ſtanden ſei, geantwortet: „Ich fürchte, mit der erſten Reklame.“ Und als ihn die
Anweſenden, die alle in Reklame arbeiteten, bedrängten, hinzugefügt, daß wit
aus dem griechiſchen Altertum nur von politiſcher Propaganda Nachricht hätten,
dieſe ſei aber durchaus geſchmacklos geweſen (und iſt es bis heute geblieben). Es
leichen · Nußwurm: Die Runft ber Reklame 309
wird immer noch nicht viel anders gemacht, als wie es Alkibiades in Athen getan,
als er ſeinem Hund den Schwanz abhieb, damit die Leute von ihm ſprechen. Der
Theaterdirektor, der einem jungen Autor riet, ſich von einem Auto überfahren zu
laſſen, damit ſein Stück aufgeführt werden könne, ſteht ganz auf derſelben Stufe.
Von eigentlichen Geſchäftsempfehlungen der Antike haben wir kaum Nachricht,
doch hat in helleniſtiſcher Zeit wie in den Jahrhunderten des kaiſerlichen Rom der
hochentwickelte Welthandel jedenfalls ſtarke Propaganda getrieben, wahrſcheinlich
durch Geſchäftsreiſende, die ſich als echte Griechen durch ungeheure Geſchwätzigkeit
auszeichneten und ihre mitgebrachten Waren mit wohlgeſetzter Rede anprieſen,
wohl auch einflußreiche Perſonen durch Geſchenke gewannen.
Sn Rom wurde maleriſch zur Schau geſtellt, was es an Luxusgegenſtänden gab,
im Porticus, wo die reiche und vornehme Welt auf und ab wandelte, und die Ver-
käufer machten laut darauf aufmerkſam, hier fei das Neueſte aus dem Morgenland.
Sa mag Ovid unter anderen eleganten Jünglingen ſich bemüßigt gefühlt haben,
dies und jenes für die vielgeprieſenen Schönen zu kaufen. Ahnlich war es in den
andern reichen Städten. An den Läden machten die Geſchäftsinhaber auf ihre
Waren aufmerkſam durch anmutige oder humorvolle Fresken, wie manches Beiſpiel
in Pompeji zeigt.
Schilder als Geſchäftszeichen beginnen im Mittelalter die Gaſſen zu beleben,
eigenartig, bunt und doch vorzüglich eingepaßt in das engbewegte Städtebild. Mit
ſeltſamen Wahrzeichen, Wandmalereien und Marktgeſchrei mußte ſich die Reklame
begnügen, folange das Publikum noch zum großen Teil des Leſens unkundig war
oder nur mühfam und nicht gerne las; aber fie hatte die Kultur ihrer Zeit und ſtand
in Harmonie mit den übrigen Außerungen des öffentlichen Lebens. Der Medizin-
mann, der Charlatan, der mit Geheimmitteln im Lande herumzog, gab die groteske —
manchmal vielleicht tragikomiſche Note; im Handel und ehrſamen Handwerk hielten
Innung und Zunft auf ſtrenge Zucht und Ordnung auch in bezug von Anpreiſung
der Waren. Charlatan iſt übrigens ein bezeichnendes Wort für den damaligen Aus-
wuchs der Reklame, es ſtammt aus dem Ztalieniſchen, von „ciarlare“, ſchwätzen,
und iſt die klaſſiſche Bezeichnung für den Marktſchreier geblieben.
Kultur und Art der Reklame änderten ſich, als der Buchſtabe überhandnahm und
die gedruckte Welt das ganze Leben überdeckte. Man glaubte in jeder Beziehung
dem Buchſtaben, und die Anzeige bekam abſolut ſuggeſtive Wirkung. Vilder wur-
den zwar noch zu Hilfe genommen, aber die Hauptſache lag in den Worten, in den
möglichſt geſchwollenen, ruhmredigen Worten, die der Druck verbreitete, in der
Aufſchrift, die klang und lockte. Sprang ſie ins Auge, verfolgte ſie hartnäckig den,
der fie einmal geleſen, war die Sache gewonnen, das Geſchäft gemacht.
Tatſächlich wurde mit den beiden Mitteln, die aus dieſer Entwicklung hervor-
gingen, dem Plakat und der Annonce, viel erreicht, und ein erfolgreicher Geſchäfts⸗
gang ohne deren Wirkung ſcheint faſt unmöglich. Die Technik der Anzeige kommt
pſychologiſch dem Vuchſtabenglauben entgegen, drückt ins Gehirn, was eingeprägt
werden ſoll, reizt die Neugier und hält, geſchickt gemacht, die Aufmerkſamkeit wach.
Aber ſie ſcheint heute zu Tode geritten, ſie hat längſt ihre Ethik eingebüßt und ſpielt
mit der Aſthetik allzu oft ein frivoles Spiel. Sie wirkt nicht mehr, weil ſie, ungeheuer
310 Gleichen Rußwurm: Ole Kunſt der Reklame
übertrieben, ſtatt zu feſſeln und anzulocken, ſchließlich nur Widerwillen erregt oder
in ihrer Maſſe dem Auge ſo gleichgültig und gewohnt erſcheint, daß wir ſie in ihren
Einzetheiten gar nicht mehr merken.
Gelegentlich des diesjährigen Reklamekongreſſes in London bemerkte ein eng-
liſches Blatt mit Humor, es wäre am beiten, wenn es ein Abrüſtungskongreß
würde, wenn ſich die leidenſchaftliche Reklame, die allmählich die ganze Welt ver-
unziert, zur Abrüſtung gezwungen fähe, denn ihr brutales Vorgehen fei unleid-
lich, ihr Uberſchreien und Übertölpelnwollen verſchlinge die Stimme des einzelnen,
und die Luſt, den Konkurrenten zu erdroſſeln, ſpreche zu deutlich, grobe Reklame
ſei ohne Kultur und eine Beleidigung für den ziviliſierten Menſchen.
Erbittert über die zu ſeiner Zeit einſetzende Welle der Geſchmackloſigkeit hat
Ruskin das Wort geprägt, eine einzige Banauſenvilla könne eine ganze Dynaſtie
königlicher Berge entthronen. Dasſelbe gilt heute für das Plakat in der Land-
ſchaft. Seine gewöhnliche Aufdringlichkeit zerreißt die Harmonie der Gegend, wirft
eine falſche Note in die Stimmung. Und ſolches iſt nicht gleichgültig. Denn der
Menſch ijt fo beſchaffen, daß er das unbefleckt Erhabene braucht, um ſich aufzu-
richten, die königliche Stille einer großen Natur nicht entbehren kann. Vornehmes
und Anmutiges iſt notwendig, ihn zu erquicken. Wenn Bierplakate einen blauen
Gee entweihen, wenn der Wald nur dient als Hintergrund für eine Pneu- oder
Schokoladenreklame, wenn das Bauernhaus den Titel eines ſogenannt „ver-
breitetſten“ Provinzblättchens hinausſchreit, iſt die ungeheure Sehnſucht betrogen,
die den Städter ins Grüne lockt, und er fühlt ſich wie in böſem Traum von den
Plakaten verfolgt. Jedes Stück Natur, nach dem die Seele des Wandernden mit
Verlangen greift, ſieht er von den Dingen geſchändet, denen er draußen entfliehen
möchte.
Die als mißverſtandene und mißverſtändlich ausgeübte Reklame follte ſich endlich
als wahrhaft überlebt erweiſen, nicht nur weil ſie ſchädigend, alſo in gewiſſem
Sinne unſittlich ijt durch ihre Rückſichtsloſigkeit, ſondern auch weil fie ſich mehr und
mehr als unpraktiſch erweiſt, denn ſie überrennt das eigene Ziel. Banauſen, die
äſthetiſch nicht beleidigt werden, find überhaupt jo abgeſtumpft, daß fie derartige
Reklamen nicht mehr ſehen, wie ſich das Ohr an ein dauerndes Geräuſch gewöhnt,
jo daß man es gar nicht mehr hört. Empfindliche, denen die Geſchmackloſigkeit auf-
fällt, werden verſtimmt und gegen die angeprieſenen Dinge eingenommen, ſtatt
für ſie gewonnen. Dieſe Reklame ohne Kultur läßt alſo kalt oder erweckt Antipathie.
Der Zweck wohlverſtandener Propaganda iſt aber Intereſſe, möglichſt bleibendes,
nachhaltiges und ſympathiſches Intereſſe in kaufkräftigen Kreiſen zu erregen. Ein
ſolches entſteht durch Wohlgefallen, durch angenehm geſpannte Neugier und wird
erhalten durch Vertrauen, durch gute Erfahrung, die man macht. Die Zahl der
Dummen, die auf Marktgeſchrei hereinfallen, iſt zwar beträchtlich, letzten Endes
triumphiert aber doch das wirklich Gute und Brauchbare und mit ihm die ſchon
erwähnte innere Kultur der Reklame.
Wirkſame Propaganda, wie jeder andere Erfolg, läßt ſich im heutigen Maffen-
daſein vom einzelnen ſelten und ſchwer erreichen, meiſtens bedarf er einigen Zu-
ſammenarbeitens. Das Ideal einer zeitgenöſſiſchen Reklamekultur wäre ein ge
Glekgen Rukwurm: Die Runft der Reklame 311
meinfames Wirken verſchiedenſter Kräfte. Das rechte Taylorſyſtem auch in der Ar-
beit kultivierter Propaganda liegt darin, daß kein unnötiger Kraftaufwand erfolgt,
keine Zeit und keine Luſt vergeudet wird, alſo keine unnötigen Koſten entſtehen.
Der Reklamechef eines großen Betriebs muß ein beſonders fein gebildeter, allſeitig
unterrichteter Menſch fein, taktvoll und diplomatiſch im beiten Sinn, niemals von
der Anſicht beſeſſen, ein Recht auf roh verletzendes Vorgehen mit Farben, Formen
und Worten zu haben.
Brutalität erzeugt auf die Dauer immer Mißbehagen, Widerwillen, im großen
angewendet ſogar nationalen Haß. Wie in der Medizin haben in der Reklame,
wenn man ihre Wirkſamkeit hiſtoriſch überfiebt und einſchätzt, die ſtetig wirkenden,
milden Mittel den beſſeren Erfolg davongetragen. Gefälligkeit, Zuvorkommen, ja
Witz und Humor find den Reklamechefs zu empfehlen, wenn fie Kulturträger fein
wollen, Intrigen und neidiſche Schädigungen rächen ſich unabwendbar. Mand-
mal tut aber ein guter Einfall Wunder. In einer großen ausländiſchen Schokoladen-
fabrik zeigte es ſich, daß die rieſigen Vorräte einen weißlichen Schimmer bekamen,
und von allen Seiten beſchwerten ſich die Abnehmer darüber, dem Haus drohte
Ruin, da kam dem Reklamechef in feiner Todesangſt ein Gedanke, der Telegraph
ſpielte nach allen Richtungen und die führenden Zeitungen brachten das Inſerat:
„Die Schokolade X iſt die einzige auf der Welt, die weiß wird im Liegen.“ Und
das Geſchäft war gemacht.
Meiſter in der Reklame find — man kann ſagen ſeit Jahrhunderten — die führen-
den Modehäufer. Die Herren und Herrinnen der „haute couture“ (man ſpricht fo
von ihnen, wie man von der „haute finance“ ſpricht) wiſſen ſich ſo vortrefflich
in Szene zu fegen, daß ihr Preſtige internationale Geltung hat. Sie empfangen in
wahrhaft fürſtlicher Weiſe und wiſſen wetteifernd jeder Modeſchau den Charakter
des geſellſchaftlichen Ereigniffes zu geben. Es handelt ſich nicht mehr um Schneiderei,
fondern der Eindruck ſoll geweckt fein, daß den Damen Kunſtwerke vorgeführt wer-
den, würdig die eigene Schönheit zu ſchmücken, Kunſtwerke, wie fie der Modemaler
im Atelier zeigt — womöglich mit Muſik und Tee. Dieſe bis zu geſellſchaftlicher An-
mut geſteigerte Werbungsform geht auf vornehme Tradition zurück. Schon die
Modehäufer des 18. Jahrhunderts waren ein Stelldichein der eleganten Welt und
zeigten geſchmackvolle Aufmachung, die namentlich in Paris und Wien den Frem-
den unvergeßlich blieb. Mit der Revolution verſank dieſe Herrlichkeit, um nur zur
Zeit des Wiener Kongreſſes kurz aufzuleben, dann legte ſich das 19. Jahrhundert
mit bleierner Schwere auf die Eleganz, machte den Laden reizlos und nahm dem
Seſchäft den äſthetiſch mondänen Beigeſchmack, auch die Schaufenſter dienten nur
mehr zu beliebiger Aufſtapelung von Waren.
Es iſt noch nicht allzu lange her, daß hierin Wandel eintrat und namentlich die
Schaufenſter zu einem wirklichen Ausdruck fortgeſchrittener Reklamekultur wurden.
In den Großſtädten entwickelte ſich eine eigene Kunſt, der Schaufenſterdekorateur
gab dem Straßenbild eine neue, erfriſchende Note, die Waren wirkten durch ſich
ſelbſt mit Farbe und Form, eine die andere ergänzend und hervorhebend. Wie der
Plakatmaler braucht der Schaufenſterdekorateur feinſtes Empfinden für die Werte
der einzelnen Farben, Phantaſie und Geſchmack. Selbſt in einförmig grauer Haujer-
312 Slelchen· Nutzwurm: Die Kunſt ber Neklame
reihe läßt ſich durch die Schaufenſter Schönes und Erfreuliches erreichen. Indem
ſie die Ware ſelbſt zeigen, locken ſie ohne den Umweg über Plakat und Annonce
und üben dadurch namentlich auf das leichter beeinflußbare weibliche Geſchlecht,
pſychologiſch ſicher begründet, ihren Einfluß. Sie find auch in den meiſten Fällen
wahr und aufrichtig, denn die Sache ſelbſt lügt weniger leicht als ihr Bild.
Neuerdings wird verſucht, Plakat und Annonce durch Ankündigung im Radio
zu erſetzen oder vielmehr zu ergänzen, alſo das Ohr ſtatt dem Auge zu beeinfluſſen.
Damit ſtellt ſich der mündliche Vortrag der künſtleriſchen und literariſchen Reklame
zur Seite, die Überredung ohne das perſönliche Fluidum, das ſonſt vom Redner
zum Hörer ſtrömt und das eigentliche Weſen der Lockung bildet.
Mag nun die Reklame durch den Radio an das Ohr, durch das Plakat an das
Auge oder durch das gedruckte Wort an den Verſtand ſich wenden, jedenfalls erwächſt
für Kunſt und Literatur ein ungeheueres Arbeitsfeld, wenn es ihren Vermittlern
vergönnt wird, äußerlich und innerlich das Weſen der Reklame zu veredeln. So-
genannte Künſtlerplakate und gereimte Annoncen genügen durchaus nicht, der
Propaganda kulturellen Anſtrich zu geben. Das Plakat muß nicht nur wirkſam, nicht
nur künſtleriſch gut und geſchmackvoll gemalt fein, es muß an richtiger Stelle an-
gebracht werden. Die Innenräume von Geſchäftslokalen, Warteſäle beſonders in
öffentlichen Gebäuden brauchen durchaus nicht troſtlos öde oder barbariſch protzig
zu fein, ſondern geeignete Reklame kann fie beleben. Überall, wo man wartet, wo
man warten muß, hilft ſolche Dekorierung über die Zeit, man merkt ſich etwas
davon, man behält den Eindruck — fo iſt die Zeit weniger verloren und die Propa-
ganda geglückt.
Ihre feinere, ja feinſte Form — die wohl auch beim Aufenthalt in irgendeinem
Wartezimmer am leichteſten wirkt — iſt die in jüngften Jahren aufgetauchte lite
rariſche Reklame, die in Erzählungsform, in Vers und Witz, in belehrender Dar-
ſtellung über irgendeine Technik die Aufmerkſamkeit auf gewiſſe Waren lenkt. Der
Schriftſteller tritt dadurch mit dem praftifden Leben in engere Berührung und
hat (anfangs wohl notgedrungen) die Scheu aufgegeben, ſeine Arbeit in den Dienſt
der Induſtrie zu Stellen. Man braucht freilich mit dieſer Propaganda nicht ſoweit zu
gehen wie ein engliſcher Dichter vom Ende des 18. Jahrhunderts, der ſich in einer
Werbeſchrift für die Impfung zum Vers verſtieg:
„Steig, Pockenimpfung, Himmelsmaid herab!“
Bei manchem Erfolg wirkt die Reklame ſehr geſchickt zuerſt im Geheimen. Plöß-
lich iſt irgendein Artikel Modeartikel, irgendein Buch Modebuch. Niemand weiß,
wieſo und warum. Eine hübſche literaturgeſchichtliche Anekdote macht klar, wie
Unbedeutendes zu plötzlichem Ruhm gelangt. Frau von Krüdener, die mritiide
Freundin des Zaren Alexander I., wußte ihre Perſönlichkeit durch allerlei Reklame
gut in Szene zu ſetzen. Als ſie ihren Roman „Valerie“ herausgegeben, fuhr ſie in
Paris von einem Modegeſchäft zum andern und verlangte Bänder und Hüte & la
Valérie. Herablaſſend lächelte fie, als man damit noch nicht dienen konnte. In den
Salons erzählte fie aber, ihr Roman fei bereits fo beliebt, daß die neueſten Mode
ſchöpfungen à la Valérie hießen. Die Damen verlangten nun ihrerſeits dieſe Dinge,
und bald gab es in Paris kein Modegeſchäft, das nicht Putzwaren & la Valérie führte.
Stockholmer Schloss Prinz Eugen von Schweden
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Wotzegen: Dos letzte Licht 313
Ahnlich wird auch noch heute die große Glocke geſchwungen und der Snobismus
adoptiert pſeudowiſſenſchaftliche oder pſeudoliterariſche Bücher, Afterkunſt und an-
geptiefene Häßlichkeit, indeſſen Dinge von höchſtem Wert unbemerkt von der Mit-
welt vorübergehen. Wie denn Schwindel und Betrug auf dem Gebiet der Re-
tame — wie auf jedem anderen — zwar Tageserfolge feiern, aber endlich doch
immer wieder ans Licht kommen.
Auf die Dauer iſt Tüchtigkeit, iſt Weſensechtheit das beſte Geſchäft, und die ebr-
liche, die von Kultur getragene Reklame gewinnt. Traurig bleibt, daß nur wenige,
die Tuͤchtiges leiſten, verſtehen, ſich bekanntzumachen. Sie find oft ſonderlich, zu
ſtolz oder zu ſchüchtern und fallen in die Hände von Ausbeutern. Man hat aus-
gerechnet, daß in der Regel bei irgendeiner Erfindung der eigentliche Erfinder nichts
verdient, der zweite, der die Sache begeiſtert, aber ohne Kenntnis von Menſchen
und Bingen in die Hand nimmt, den Einſatz verliert und erſt der dritte oder vierte
den Nutzen zieht. Künſtler, Erfinder, Enthuſiaſten, Pfadfinder aller Art find Träu-
mer und große Kinder. Ihr Gehirnapparat kann nicht dem Traum dienen, das
Verk ſchöͤpferiſch geſtalten und gleichzeitig deſſen praktiſche Verwertung durchſetzen.
Nichts wäre fo wünſchenswert als eine großzügige Vermittlung, ein ideales
Reklamebureau, das Wertvolles auf verſchiedenen Gebieten bekanntmacht und
vertreibt.
Auf die Öffentlichkeit geſchickt und nachhaltig zu wirken, ift eine eigene Kunſt,
wohl auch ein eigenes Talent, ein angeborener Inſtin't. Die Zuſammenarbeit dieſes
Talentes mit anderen Talenten gehört für die heutige Welt zu den Notwendigkeiten,
um den ſchöpferiſchen Geiſt aus Vereinſamung, Hoffnungsloſigkeit und oft aus
tragiſcher Not zu befreien. Der Mann aber, der auf die Öffentlichkeit wirkt, muß
dadurch emporgehoben werden, daß er den Schöpferiſchen nicht mehr als Aus-
beutungsobjett betrachtet, ſondern ihm feine praktiſche Überlegenheit in der Technik
des Bekanntmachens zur Verfügung ſtellt, um gemeinſam mit ihm der Sache zu
dienen.
dies iſt der Weg, auf dem die Propaganda ethiſch und äſthetiſch ſowie praktiſch
zu einer ernſt zu nehmenden Kultur gelangt — vom ſchwindelhaften Marktgeſchrei
zu vornehm überzeugender, weithinreichender Empfehlung.
Das letzte Licht
Von Hans von Wolzogen
Und wenn das letzte Licht vergangen,
Das auf der Berge Haupt erglüht,
Die Wolke hat's noch aufgefangen,
Die zart am Himmel aufgeblüht.
Der Erde den le Herrlichkeiten
Derbämmern in die frühe Nacht —
Sieh, wie der Ruhm vergangner Zeiten
In Dichters Himmelslicht erwacht!
der Tümner X XVII, 4 21
314
Empfängnis
Von Gertrud Burdett⸗Burchard
I: es Abend wurde, legte der Dichter das Buch, in dem er geleſen hatte,
beiſeite und ſchaute hinaus.
Verſchwiegen und geheimnisvoll breitete ſich das Land in der Dämmerung.
Wolken zogen von Norden nach Süden wie ſilbergraue Vögel, aber hinter ihnen
ruhte eine dunkelblaue Klarheit.
Traumhaft ſtill war es, und doch ging ein Weben zwiſchen Himmel und Erde,
und eine Trunkenheit durchwogte die Luft.
Plötzlich fühlte der Dichter, daß er nicht mehr allein war, daß etwas zu ihm
gekommen war und ihn anblickte.
„Wer biſt du?“ fragte er.
„Ein Hauch, ein Gedanke, ein zudendes Fünkchen, — — vielleicht ein Nichts,
vielleicht ein Alles!“
„Und woher kommſt du?“
Da ſchwieg der kleine Gaſt und lächelte rätſelhaft und unirdiſch.
Draußen ſtieg über fernen Baumwipfeln eine ganz ſchmale Mondſichel empor;
irgendein verlorener Vogelſchrei durchbrach die Stille.
Der Dichter ſaß reglos, und war doch von einem tiefſten Autatmen durchſtrömt.
„Was willſt du von mir?“ fragte er bewegt.
„Du ſollſt mir Leben ſchenken! Ein Leben voll Kraft und Schönheit. Ou ſollſt
mir Blut und Herzſchlag geben! — — “
„Kann ich es denn?“ fragte der Dichter in ſcheuem Wunder.
„Du kannſt es“, fagte das Ratfelwefen bittend und zugleich dringlich.
Ein Schweigen fant nieder. Aber das Schweigen war voller Sehnſucht: Sehn⸗
ſucht des Ungeborenen nach Daſein, Sehnſucht des Schöpfers nach Geſtaltung.
Und in dieſer unbeſchreiblich heiligen Stunde ſchien es dem Dichter einen Atem
zug lang, als öffne ſich ihm brauſend der Himmel, als höre er das Herz der Erde
pochen, als fühle er ſich ſelber tönend im Zuſammenklang aller Dinge.
„Du biſt zu mir gekommen,“ ſagte er endlich mit zitternder Inbrunſt; „ieh het!
Meine Seele ift offen; tritt ein! Ich will dich hüten und tragen, bis du zur Frucht
gereift biſt, bis du unter ſeligen Schmerzen dich von mir löſeſt — —“
So, in der filbernen Dämmerſtunde, während die Wolken zogen, und das Land
wie ein Garten ruhevoll lag, bot der Dichter dem Gaſt aus einer andern Belt
ſeine ſehnſüchtige Seele dar, und ein Glücksſchauer ging über ihn hin, wie er det
nun empfangenen Koſtbarkeit ſich bewußt ward.
— —
315
Herdglück
Von Hans Gäfgen
in ſchönes Wort voll Innigkeit und Stille! | u
E Ein Wort, in dem deutſches Weſen leuchtet, warm, wie Wälder im Abend-
ſonnenſchein.
Ein wenig Spießertum, aber viel, viel Freude und Glidjcligtcit iſt lebendig in
dem Worte Herdglück.
Ich las es neulich irgendwo, in einem Buche oder einer Zeitſchrift.
9a war mir, als läutete eine Oorfglocke, und Herden zogen heim im fanft ver-
daͤmmernden Tage.
Ich ſah Menſchen in ſtiller Stube bei ſtillen Büchern und andächtigen Bildern
figen, Hand in Hand in ſchweigendem Glide.
Mufit war in der Kammer, aus traumweiter Ferne niederſtrömend und fanft
im Abend verklingend.
Kerzen brannten in Leuchtern aus Urgroßvaters Tagen, und ihr Schein legte
ſich wie Sonnengold auf das Antlitz der Menſchen.
gerdglück! Wenigen iſt es heute noch beſchieden. Die Gegenwart und ihre Haft
hat die Ruhe und den Frieden aus den Herzen der Menſchen geriſſen; im Strudel
des Tages, in ſinn- und berzloſen Vergnügungen ſuchen ſie ihre Erholung.
Herdglüd!
Stillmenſchen empfinden den Zauber, der in dem Worte ſchwingt. Ihre Augen
werden heller, wenn das Wort, wie eine ſanfte Taube, niederſchwebt in den leiſe
verllingenden = und ihn leuchten läßt innig und mild, wie eine ſtille, ſchöne
Sommerblume .
Der Dichter
Von Heinrich Leis
Als hätte ich Geſchlechter ſchon erlebt
Und trüge, wie fie wuchfen und vergingen,
Geheimes Wiffen und im Ohr ein Klingen N
Uralter Weiſe, die den Naum durchwebt:
So bin ich mit Geſichten angefüllt,
Und Weſen, die ich mir aus Träumen ſchuf,
Umſchweben mich, gehorſam meinem Ruf.
Schickſal-verkettet fügt ſich Bild zu Bild.
In meinem Blutbann bin ich nicht allein.
Es tönt aus mir die Stimme all der Dielen,
Die gleichen Bluts, der Phantaſie Geſpielen.
Und deren Wünſche, Sorgen, Glück und Leiden,
Wie Licht und Schatten wechſelnd, mich umbreiten.
Das in mir ſchlägt, das Herz der Welt iſt mein.
Die Staatengründungen der Nordmänner
as es bedeutet, einen Staat zu ſchaffen, in einem Staate zu leben, feine Kultur durch
einen Staat beſchützt zu wiſſen, das hat bisher immer nur eine kleine Minderheit im deut
ſchen Volke wirklich begriffen. Seit 1918 fängt es auch die Mehrheit zu lernen an, und die
zwanzig Millionen Oeutſchen, die in fremden Staaten leben müjjen, werden es uns allmahlich
immer beſſer lehren. Damit werden wir auch einen richtigen Maßſtab für unſere Vorfahren
bekommen: für jene „nordiſchen Barbaren“, die in der Völkerwanderung nicht das römifche
Reich zertrümmerten, ſondern an Stelle des in voller Selbſtzerſetzung begriffenen Reiches neue
Staaten gründeten — und ebenſo für die zweite Welle des germaniſchen Vorſtoßes nach dem
Süden, die der Wikinger.
Auch fie haben als Staatengründer, wenn ſie ſonſt nichts geleiftet hätten, ihre ſchöpferiſche
Fähigkeit bezeugt. Das Herzogtum der Normandie war ihre erſte Staatengründung auf roma-
niſchem Boden, von der bekanntlich der moderne engliſche Staat durch Wilhelm den Eroberer
feinen Ausgang nahm. Kurz vor Wilhelms Zug war von der Normandie aus ein anderer Wi-
kingerſtaat begründet worden, ber als „Königreich beider Sizilien“ auf dieſer Inſel und in Unter-
italien bis 1860 beſtanden hat. Die heutigen italieniſchen Schulkinder lernen als größtes welt;
geſchichtliches Wunder den „Zug der — angeblich — Tauſend“, mit denen Garibaldi 1860 die
Inſel überrumpelte. Die Normannen haben 1061, hundert und einige Ritter ſtark, vom italieni-
ſchen Feſtlande aus der Herrſchaft der kriegeriſchen Sarazenen über Sizilien ein Ende bereitet.
Herzog Robert Guiscard, der gewaltigſte Rriegsfürft, der Heinrich von Kleiſt zu feinem herrlichen
Oramenfragment begeiſterte, ſtand zugleich unter den Förderern mittelalterlicher Wiſſenſchaft
in erſter Reihe. Seine Gründung iſt die Univerfität Salerno, deren mediziniſche Fakultat jahr;
bunbertelang führend blieb. Der Ruhm Friedrichs II., des großen Staufers, als des Urhebers
moderner Verwaltungseinrichtungen, beruht, wie wir jetzt wiſſen, zum großen Teil auf der
Politit feiner Vorfahren mütterlicherſeits, der Normannentdnige, die er fortſetzte.
In der Normandie müffen die Wikinger noch verhältnismäßig zahlreich geweſen fein; Zeugnis
dafür legt die Häufigkeit der hochgewachſenen hellen Geſtalten unter ihren Bauern und Gee-
leuten ab. In Unteritalien und Sizilien dagegen iſt der nordiſche Typus ſelbſt unter dem Adel,
auf den er von vornherein beſchränkt war, verſchwunden.
Die erſtaunlichſte nordgermaniſche Staatengründung, heute noch nicht in ihrer ganzen Bedeu⸗
tung gewürdigt, iſt die des oſteuropäiſchen Großreichs. „Swithiod hin mikla“: Groß Schweden,
fo haben es die ftammverwandten Isländer genannt. Seine ſchwediſchen Gründer werden zu-
erſt von ihren finniſchen, dann auch den ſlawiſchen Nachbarn „ruotsi“, „rusj“, Ruſſen, genannt;
und ſo iſt das Reich als Rußland in die Weltgeſchichte eingetreten: auch dieſer Name bedeutet
„Land der Schweden“.
Die Ausgrabungen haben den Beweis erbracht, daß die Ausbreitung der Nordgermanen von
Schweden nad Oſten viel weiter zurüdreicht, als man früher wußte. Funde aus der jüngeren
Steinzeit an der Weſtküͤſte Finnlands geben Kunde davon, daß dort rund 2000 Jahre vor
Chriſti Geburt bereits eine germaniſche Bevölkerung mit verhältnismäßig hoher Kultur an-
ſaͤſſig war. Vor die eigentliche Wikingerzeit fällt der noch halb legendäre, in der Bnglingafaga
berichtete Zug des Königs Anund gegen Eſtland. Ein in der Ansgarlegende überlieferter Krieg
der ſchwediſchen Wikinger am Ende des achten oder Anfang des neunten Jahrhunderts führte
zur vorübergehenden Eroberung Kurlands. Im heutigen Rußland war zu Anfang des neunten
Jahrhunderts am Ladogaſee eine Wikingerherrſchaft begründet worden, deren Mittelpunkt
die Staatengründungen der Norbmänner 317
die heutige Stadt Ladoga bildete, die damals mit finniſchem Stamm und germaniſche Endung
Aldeigfuborg“ hieß.
Damit wurden die Schweden Nachbarn der oſtſlawiſchen Stämme, der Kriwitſchen, Weſen,
Meren, Boljänen, Orewljdnen und Radimitſchen. Wie wenig dieſe ſelbſt ſtaatenbildende Kraft
beſaßen, druckt naiv der Bericht des älteften ruſſiſchen Chroniſten, Neſtor, Aber die Landnahme
der Norbmänner aus. Unter den Landeseinwohnern, berichtet Neſtor, habe Zwletracht und
Uneinigkeit geherrſcht; da hätten fie Gefandte zu den Rufj geſchickt mit der Botſchaft: „Unfer
Land iſt groß und fruchtbar, aber Ordnung herrſcht nicht darin, kommt alſo und regiert über uns.“
Darauf ſeien die Ruſj gekommen unter Führung dreier Brüder; Rjurik (Rörid) ließ ſich in Now⸗
gorod nieder, Sinjeus (Signjut) am See Bjelofero und Truwar (Thorward) in Isborſk. Neſtor
ſetzt die Landnahme ins Jahr 862. Zwei Jahre darauf ſeien die Brüder Sinjeus und Truwar
geftorben und Rjurik habe ihr Gebiet unter feine Mannen verteilt. Die Ausbreitung der Nord-
männer über die weiten Ebenen Oſteuropas mit Hilfe der ſchiffbaren Ströme dürfen wir uns
ſehr raſch denken. Oer glüdlihfte Vorſtoß war der zweier Leute Rjuriks, Askold und Oir in
Neſtoro Bezeichnung — Haskuld und Opri find häufige nordiſche Namen. Sie bemädtigten ſich
der ſüdruſſiſchen Hauptſtadt Kiew im Gebiete der Poljänen. Die Herrſcherfamilie wollte aber
ſolche Sonderbildungen nicht dulden. 882 entriß Rjuriks Nachfolger Oljeg (Helgi) den beiden
Wikingern Kiew und ließ fie töten. Nowgorod oder Holmgard im Norden und Kiew oder Rönu-
gard im Süden — die damalige flawifche Form ift entſprechend Kijangorod — waren nun die
beiden gutgewählten Mittelpunkte des neuen großen Wikingerreiches.
Für den vorwärtsftürmenden Sinn der Nordmänner iſt es bezeichnend, daß fie, noch ehe ſie
in Rußland feſten Fuß gefaßt hatten, bereits ihre Blicke weiterſchweifen ließen: nach der glän-
zenden Welthauptſtadt an der Grenze Europas und Aliens, der Kaiſerſtadt Konſtantinopel.
Miklagard, die große Burg, nannten ſie es. Vereits 865 hatten Askold und Dir einen Angriff
auf die Stadt mit 200 Schiffen gewagt; aber ein Sturm hatte den größten Teil der Flotte zer;
kümmert. Im Jahre 907 rüftete Oljeg einen neuen Zug. Mit angeblich 2000 Schiffen zog er aus,
plünderte die Ufer des Schwarzen Meeres und die Vorſtädte Konſtantinopels. Die Byzantiner
hatten das Goldene Horn abgeſperrt, um der Flotte das Eindringen zu wehren. Da ließ Oljeg
die Schiffe an Land ziehen und auf Räder ſetzen. Der Wind war guͤnſtig und mit vollen Segeln
rollte die Flotte auf die Hauptſtadt zu. Die entſetzten Byzantiner erboten ſich zur Zahlung von
Sſegeld und zum Abſchluß eines Friedens- und Handelsvertrages.
Dieſer Vertrag von 907 ift eines der packendſten Ereigniſſe der Geſchichte, die erſte Berüh-
rung zweier tief verſchiedener Welten. Den „ruſſiſchen Kaufleuten“ wird Frieden, Sicherheit,
das Recht halbjährigen Aufenthalts in Konſtantinopel, Zollfreiheit für ihre Waren, ſowie das
Recht zugeſichert, ſich mit Proviant und Ausrüftung für die Heimreiſe zu verſehen. Von bygan-
tmifher Seite beſchworen den Vertrag die Kaiſer Leo und Alexander; fie ſchwören als Chriſten
bei dem heiligen Kreuz. Auf normanniſcher Seite ſchwören Oljeg und ſeine Fürſten. Ihr Schwur
iſt ein doppelter: bei ihren Waffen, nach echtem Wikingerbrauch, und bei zwei flawiſchen Göt-
tern: dem Donnergott Perun und bei Wolos, dem Gott der Herden. Es iſt bezeichnend, wie un-
gefeftigt die Religion der Germanen war; fie haftete an der Heimaterde, wenn die Germanen
das Land wechſelten, wechſelten ſie leicht die Götter; daher der müheloſe Sieg des Chriſtentums
bei den Stämmen der Völkerwanderung, und der ſchwere Kampf gegen das Heidentum der
Sachſen, die auf Heimatboden geblieben waren.
Nach der Überlieferung hat Oljeg ſeinen Schild als Siegeszeichen an die Stadtmauer von
Bpzanz geheftet. Die „Ruſſen“ follen mit ſeidenen Segeln, die ſlawiſchen Mannſchaften mit
Segeln aus Neſſeltuch die Rückfahrt angetreten haben; die letzteren aber hätte der Sturm zer
tiſſen, fo daß fie wieder zu ihren groben Leinſegeln griffen. „Denn es iſt den Slawen nicht ge-
geben, mit feinen Segeln zu fahren“: ein bezeichnender Satz, der wohl beweiſt, daß die bei Perun
und Wolos ſchwoͤrenden Ruſſenfuͤrſten keine Slawen waren!
318 Die Staatengründungen der Rotdmannet
Der Handelsvertrag wurde fo eifrig benutzt, daß ſich ſchon nach vier Jahren eine genaue Feft-
ſetzung feiner Beſtimmungen nötig zeigte; Oljeg ſchickte daher eine Geſandtſchaft von vierzehn
Mannern nach Konſtantinopel. Der neue Vertrag wurde von den drei Kaiſern und den vierzehn
Geſandten unterzeichnet. Von dieſen hatten fünf ſchon den erſten Vertrag unterſchrieben: Karl,
Farulfr, Vermundr, Hröleifr und Steinvidr. Dazu kamen noch Ingjeldr, Gudi, Hrovaldr, Kerni,
Fridleifr, Hroarr, Angantyr, Thröandr und Vefaſtr. Die Staaten, zwiſchen denen das Ab-
kommen von 911 getroffen wird, find als „Chriſtenland“ und „Rußland“ bezeichnet.
Ungefähr ein Jahrzehnt nach Abſchluß dieſes Ergangungsvertrags hielt ſich ein Geſandter des
Kalifen von Bagdad namens Ibn Fahdlan bei dem Volke der Wolga Bulgaren auf. Ibn Fahdlan
lernte dort Männer aus dem ſeinen Landsleuten bisher unbekannten Volke der „Rus“ kennen.
Er fab fie die Wolga von Norden herabfahren und an ihren Ufern Lager aufſchlagen. Die Schil⸗
derung, die er von ihrem Ausſehen gibt, lieſt ſich wie die antiker Schriftſteller beim erſten Anblick
der Germanen:
„Niemals habe ich fo hochgewachſene Männer geſehen. Sie find fo hoch wie Palmbäume, rot-
backig und rothaarig. Sie tragen weder Rock noch Kaftan, ſondern die Männer tragen nur einen
groben Mantel, den fie über die Schulter hängen, fo daß eine Hand freibleibt. Jeder Mann trägt
eine Axt, ein Meſſer und ein Schwert bei ſich, ohne dieſe Waffen ſieht man ſie niemals. Oie
Frauen tragen auf der Bruſt eine Kapſel aus Eiſen, Silber, Kupfer oder Gold, je nach dem Ver-
mögensgrade ihres Mannes. An der Kapſel iſt ein Ring, und an dieſem iſt, ebenfalls auf der
Bruſt, ein Meſſer befeſtigt. Um den Hals tragen die Frauen goldene und ſilberne Ketten.“
Auf den gewaltigen Oljeg oder Helgi folgte als Großfürſt Igor, wie er ſlawiſch heißt; „König
Inger“ nennt ihn der langobardiſche Biſchof Liutprand von Cremona mit feinem germaniſchen
Namen, indem er ſein Volk, die Ruſſen, ausdrücklich als , Nordmannen“ bezeichnet. Deſſen Sohn
und Nachfolger Swjatoslaw iſt der erſte Herrſcher mit rein flawifhem Namen. Doch war der
Zuſammenhang mit der nordiſchen Heimat noch nicht zerriſſen. Noch in der übernächften Genera-
tion ſtoßen wir auf einen nach germaniſchem Füͤrſtenbrauch auf Heirat beruhenden Oreibund
der nordgermaniſchen Mächte: von den beiden Töchtern König Olafs von Schweden iſt die eine,
Aſtrid, mit König Olaf dem Heiligen von Norwegen, die andere, Ingigerd, mit dem Großfürften
von Rußland, Jaroslaw, dem Enkel Swjätos laws, vermählt geweſen.
Dann aber riß der Zuſammenhang ab. Den entſcheidenden Schritt dazu hatte bereits Faros-
laws Vater, der Großfürſt Wladimir oder Waldemar getan. Er nahm das Chriſtentum an und
führte es in feinem Reiche ein. Aber es war nicht das Chriſtentum des heiligen Ansgar, des hei-
ligen Olaf, ſondern das griechiſch-katholiſche Chriſtentum, die Religion der Weltſtadt Byzanz.
Wladimir fühlte ſich geehrt, die Kaiſertochter Anna zur Gemahlin zu erhalten, und byzantiniſche
Mönche predigten den Ruſſen den Chriſtenglauben. Damit war die Scheidung Rußlands vom
ſtammverwandten Abendland und ſeiner Kultur vollzogen.
Eine Möglichkeit hätte es noch gegeben, der ſkandinaviſchen Herrenſchicht des ruſſiſchen Reiches
friſches Blut zuzuführen. Noch immer zogen abenteuerluſtige Nordlandsjöhne nach Südoſten.
Aber mehr als die Fürſtenhöfe Holmgard und Könugard lockte fie die gleißende Kaiſerſtadt am
Goldenen Horn. Statt Gefolgsleute der ruſſiſchen Fürſten zu werden, nahmen ſie lieber Sold
in der kaiſerlichen Leibgarde zu Konſtantinopel. Die „axttragenden Barbaren aus Thule“, die
nordiſche Leibgarde, das war die feſte Mauer, die die geheiligte Majeſtät des Autokrator ſchuͤtzen
mußte gegen Meutereien ſeiner Soldaten und Aufſtände ſeines Volkes. Wie zahlreich dieſe
Garde war, beweiſt die Tatſache, daß 1195 Kaiſer Alexius III. Boten nach den drei nordiſchen
Ländern ſchickte, um in jedem tauſend Mann anzuwerben. Die Truppe beſaß eigenes Recht und
eigene Gerichtsbarkeit, wie ja nach germaniſcher Vorſtellung jeder fein angeborenes Recht mit;
nimmt. Wir kennen die Laufbahn eines Führers dieſer erwählten Schar. Der norwegiſche Wir
ting Harald Sigurdſohn ging nach Rußland und gewann Ehre und Reichtum in der Grenzwacht
Großfürſt Jaroslaws; aber das genügte ihm nicht; mit fünfhundert anderen Wikingern zog er
es ieee — ——ä — —— —
Scheilpfel kultur 319
1034 nach Byzanz, in den Dienſt der Kaiſerin Zoe. Als Hauptmann der Leibgarde Haraltes
führte er ihre Kriege gegen die Sarazenen, die Normannen in Unteritalien und die Bulgaren.
Als der von Zoe zum Kaiſer erhobene Neffe ihres verſtorbenen Semahls, Michael V., ihr die
Herrſchaft entriß, blieb Harald der Herrin treu, nahm an der erfolgreichen Gegenrevolution teil
und blendete Michael mit eigener Hand. Auf die Nachricht, ſein Stiefneffe Magnus ſei König
don Norwegen geworden, kehrte er in die Heimat zuruck. Als Harald Jardrade hat er nach des
Reffen Tod ſelbſt den norwegiſchen Thron beſtiegen und im Kampf gegen England den Schlach-
tentod des echten Wiking gefunden. Im byzantiniſchen Dienſt hatte er es, wie berichtet wird, bis
zur 10. Rangflaffe unter 18 Klaſſen gebracht — ein erſtrebenswertes Ziel für einen Nordmannen
aus Koͤnigsgeſchlecht!
Was hätte es bedeutet, wenn dieſer Harald und tauſend andere ſeiner Art immer wieder ihre
Fahrt nach dem großen Oſtreich der Nordgermanen gelenkt und damit ſeinen nordiſchen Ein-
ſchlag ftändig erneuert hätten! So aber iſt die größte Staatengründung der Nordmänner ein
uns völlig fremdartiges Gebilde geworden: eine ſlawiſche Macht im morgenländiſch- byzanti-
niſchen Religions- und Kulturbereich. Dr. W. Herfe
Schnipſelkultur
ielleicht iſt „Schnipſel“ nicht recht ſchriftgemäß; der Philologe mag ſagen, daß es Schnitzel
beißt. Aber das immerhin weit verbreitete Wort meint nicht nur Abfälle, die beim
Schnitzen entſtehen, einer vielleicht zwecklichen Tätigkeit, ſondern es geht wortmalend auf das
Kappern einer Schere zurück, die ins Gelade hinein ein Stück Zeug oder Papier in „Schnipfel“
verwandelt. Das Wort hat daher etwas Verächtlicheres, und das ſoll es eben. Ich will das, worauf
wir anſcheinend unrettbar zuſteuern, beim moͤglichſt zutreffenden Namen nennen: es iſt Schnipfel-
kultur!
Bel keiner irgendwie vernünftigen Tätigkeit find unſere Wertpapiere zu „Schnipſeln“ ge
worden; unſere Geldſcheine mit den ſektionsweiſe aufmarſchierenden Nullen waren Schnipſel.
Und ſinnlos aneinandergelegte Schnipſel tuſchen unſere tiefgründigen modernſten Genie-
Embryos zu futuriſtiſchen Gemälden, häufen in grellen Farben zeitverſtehende Publikumfänger
auf Rieſenplakate. Das iſt die offene Signatur der Zeit. Könnte man aber die Gedanken aus
den Köpfen der Menſchen jchütteln, fo würden ſich auch dieſe in erſtaunlich vielen Fällen als
Schnipſel erweiſen: Abfälle von tauſend mehr oder minder papierenen Dingen, die wie in einer
Lottotrommel beieinander lagen. Und wie viele meinen, es ſei ein Hauptgewinn darunter,
ein Auto, ein Pelzmantel, ein „feſches Mädel“, ein Totaliſatorgewinn, ein Geſchäftstipp und
was weiß ich! —
Lieber Himmel, das Leben, beſonders in der Großſtadt, iſt ſo „unendlich reich“ und mannig-
faltig und verſchiedenartig geworden, daß man es ſchon frikaſſieren muß, um wenigſtens einige
Schnipfel davon in den immer überreizten geiſtigen Magen zu bringen! Freilich, man munkelt,
daß in einem Frikaſſee meiſt nicht juſt die beſten Stücke verarbeitet find, ja, daß manche Schnipjel
von den früheren Gäſten auf dem Teller liegengelajjen wurden. Nun, was dann in geiſtigen
Magen ſich unverdaut häuft, iſt oft nicht einmal zweiter Hand, ſondern fünfter und ſechſter.
Es iſt in den großen Zerreißmaſchinen, den Zeitungen, für möglichſt viele Bezieher vorgeriffen.
Schon Goethes Theaterdirektor war auf Publikumfang eingeſtellt; und daß deſſen Leitſpruch
Ver vieles bringt, wird jedem etwas bringen“, vom Dichter ironiſch genug gemeint war, haben
die Verleger und notgedrungen auch deren Vorſchneider bei geiſtiger Maſſenabfuͤtterung längft
hinter der Reklamefahne „Bildungsverbreitung“ verſteckt.
Das iſt kläglich, aber es iſt entſchuldbar, da es unabänderliche Notwendigkeit iſt. Ein „ſchäd⸗
320 Sonipfethuttur
licher Zirkel“: Die breiten, tauben Maſſen müſſen Bezieher werden; nur dann läßt fid die
Zeitung durchhalten und — was doch der Normalkreis des Verlegers iſt — zur reichlich melken;
den Kuh machen; die Maſſen find töricht; fie wollen vielerlei Schnipſel, um überall „mitreden“
zu können, — fragt mich nur nicht, wie?! Folglich muß vieles gebracht werden, folglich, aus
Raumrüdjichten, in Schnipfeln; an ihnen aber ver, tapert“ die Menge noch mehr, als fle’s von
Haus aus war.
Hieran ijt nicht zu rütteln, nichts zu beſſern. Man ſieht es an dem faſt alle Quartal auf-
tauchenden Reformblättchen irgendeines feelenguten weltfremden Klüͤngels, das ſchon nach
Nr. 2 in der Furcht des Herrn Abonnenten lebt und Quengelbriefe erhält, weil nicht einmal
im Klüngel Übereinftimmung über das notwendigſt und ausfuhrlich zu Sagende beſteht. Oer
Zeitpunkt des tödlichen Ausgangs hängt dann einzig davon ab, wie viel Kapital an die fo „edle
und unaufſchiebbare Sache zu verplempern“ war!
Erwägen wir hierzu, daß von der Schulbildung ins Leben hinaus aud meiſt nur Schnipfel
getragen werden, da Gedddhtnisdberfiitterung noch immer trotz aller Schulreformen bei den
Herren Scholarchen Trumpf iſt, ſchon damit ſie bei den Prüfungen genug zu fragen haben;
und weil das Hirn in Selbſthilfe den Ballaſt dann wahllos wieder ausſpeit, erwägen wir, daß
von da ab meiſt nur noch die Zeitung das einzige Bildungsmittel iſt, fo wird der geiſtige Sammer
zuſtand der Menge, die doch wieder eine furchtbare geiſtige Macht — nur eine negative — ift,
erklͤrlich. |
Beſtand aber dieſer ſchädliche Zirkel ſchon zur Zelt der ſogenannten Blüte des Reiches, die
doch eben nur eine ädußerliche der Wirtſchaft und Macht war, fo muß er ſich unter den jetzigen
Verhältniſſen geradezu zu einer Schlinge zuſammenziehen, die alle wahre Kultur erwürgt.
Die elenden Wirtſchaftsverhältniſſe zwangen alle Zeitungen, ihren Umfang erheblich einzu-
ſchränken; daß die Parlamentsberichte dabei gefallen ſind, iſt vielleicht das einzige Gute, denn
fie gaben jedem Philiſter nur, was er hören wollte und unterſchlugen grundſätzlich, was er vom
Andersdenkenden hören müßte. Aber wo kann man noch reingeiſtige Themen ausführlich er-
örtert finden? Was von ſich reden macht, wird „feuilletoniſtiſch“ in höchſtens zwei Spalten
als Schnipſel gebracht. Die Kunſtberichte, namentlich über Muſik, werden mehr und mehr bloße
Zenſuren des allein zenſurfreien Kritikers. Denn Kunſt-, Geſchmack- oder gar Oenkprobleme
zu erörtern, würde ja obenein Seine Majeſtät den Abonnenten langweilen; fein Schnipfel-
verlangen geht auf Artikelchen, die nur als Beiguß um Kliſchees herumgarniert find. „Bilder-
beſehen“ geht eben noch ſchneller als Leſen; man iſt befriedigt von unzufammenhängenden
Nervenirradiationen; die daraufhin gebannten plakatierten neueſten Wochen- und Monats-
ſchriften in den Zeitungsſtänden finden ihr würdiges Publikum!
Aber nun find doch weite Kreiſe, beſonders abſeits der Großſtädte, voll Sehnens nach ge⸗
diegener Geiſtesnahrung. Auch verſpürt man doch wohl ein fortſchreitendes Aufraffen zum
Kampf gegen die Schnipſelkultur —? Gewiß! Es ijt rührend, mit welcher Illuſionsfähigkeit
die Mitglieder von Theatervereinigungen gediegene Stücke auf duͤrftigſten Bühnen mit dritten
Kräften in ſich aufnehmen, wie Vereinszeitungen mit ehrlichſter Begeiſterung um ihr Dafein
ringen. Aber es fehlt eben überall die wirtſchaftliche Unterlage; die Bildungskreiſe ſind arm.
Das aber iſt noch nicht das Schlimmſte; auch hier würden viele Wenige ein Viel ausmachen.
Verhängnisvoller iſt's, daß dieſe Kreiſe nicht einheitlich gerichtet ſind; ſo wird alle Kraft
zerſplittert. Jeder vierte deutſche Denker iſt ein Eigenbrödler, und auf deren hundert
kommt ein entſchloſſener Weltverbeſſerer, der einen — Verein gründet! Auf die Wonne der
Satzungsberatung folgt das Weh des Kaſſenwartes. Aber ein Vereinsorgan muß ſein, um der
Schreibſeligkeit der Mitglieder das Oruckpapier bereitzuhalten ! — Ach, man möchte ja fo vielen
wirklich etwas Sagenkönnenden vermehrte Abſatzmoͤglichkeiten wünjchen, da fie nun doch einmal
den dornigen Wüjtenweg des Literaten eingeſchlagen haben! Aber viel über gefinnungs-
tüchtigen Dilettantismus kommen jene Blättchen doch nicht hinaus; die honorarfreien Beiträge
Schniplettuttur 321
der guten Freunde müffen ihnen lieber fein als zu bezahlende — und doch jedenfalls erbärmlich
bezahlte — Aufſätze von geiſtigen Ubermittelgroßen. So wird denn von mittelmäßigen Ham-
meln immer nur das Parteidogma ausgeſchmiedet, ausgebalgt oft genug zu engſtirniger Über-
peblidteit, Unbelehrbarkeit und Unduldſamkeit, ja, Haß gegen jeden Heterodoxen, zum wahren
Wohle einzig dem nicht pumpenden Papierhändler, Zur unfreiwilligen Verengung des Gelichts-
kreiſes durch die Not kommt die freiwillige durch die zu früh und zu billig fertiggewordene Partei-
überzeugung.
Auch hier ift kaum von Schuld zu ſprechen. Angeborene deutſche Eigenſchaften und die Zer-
ſpliſſenheit unſerer Oaſeinsverhältniſſe laſſen kein anderes Ergebnis zu. Wir müßten die Groß-
ſtädte ſchleifen, die Induſtrie nach Patagonien oder ſonſt wohin verbannen, den „geſchloſſenen
Handels ſtaat“ durchführen und ein auf dreißig Millionen verringertes Volk von Kleinſiedlern
werden, um uns ein es Sinnes zu machen, „Stil“ in unſeren Volkscharaktet zu bringen.
Aber auch dann noch ijt zu fürchten, daß grimmigſte Geiſtesfehden ausbrechen, ob der freie
Schollendeutſche langes oder kurzes Haar, Schuhe, Sandalen oder gar kein Fußwerk tragen ſoll.
Im Ernſt: es iſt keine — oder doch, um alle Möglichkeiten zukünftiger Schicksale en
noch keine Ausficht, von unferer kleinlichen Schnipſelkultur loszukommen!
Yum iſt es die Eigenſchaft des geordneten deutſchen Bürgers, nach Feſtſtellung eines mißlichen
Zuſtandes zu glauben, daß eben dieſe Feſtſtellung ſchon der Übergang zu deſſen Veſeitigung fei.
Man habe nun nur noch zu beſchließ en. Ein verſtändiger Entſchluß hat ihn ja im Leben immer
vorwärts gebracht. Und ſchlimmſtenfalls: wo nichts zu ändern ift, muß man ſich eben ins Un-
dermeidliche ſchicken, ohne noch groß davon zu reden. Mein mit hartem Griffel gezeichnetes Bild
iſt alſo überflüffig, wenn ich kein Mittel angeben kann, das Unheil zu wenden. — Hm! — Daß
ein einzelner Weltverbeſſerer oder deſſen obligater Verein das Ungeheure einer Kultur ſoll
modeln können, iſt eine Annahme, die eben nur — Schnipſelkultur „denkeln“ kann. Nur Welten-
ſchickſal kann jie ändern, das nicht vorauszudenken iſt. Weshalb aber auch nicht der Untergang
der Kultur des Abendlandes mit Sicherheit vorausgeſagt werden kann. Wer will ſagen, welche
Keime vielleicht gerade in der Fäulnis unferer platt materialiſtiſchen Geiſtesrichtung, die viel-
leicht ſchließlich am Ekel vor ſich ſelbſt zugrundegeht, noch einſt emporgedeihen wie die Blumen
im Kompoſthaufen! Darum heißt es trotz alledem: „Verzage nicht, du Häuflein klein!“ Es gilt
einerſeits, den Kopf nicht in den Sand zu ſtecken, ſondern die ganze Größe des Unheils klar zu
erkennen, auf daß ſich entſchloſſen jeder für ſich ſelbſt abwende von aller gleißenden Induſtrie
der Schnipſelkultur. Und andererſeits, daß man jene Keime ſorglichſt hate und pflege.
Alſo doch das Rezept all jener kleinen idealen Klüngelblättchen? — Eben das nicht! Wie
darf eine ſo kleine Minderheit ihre Kräfte auch noch verzetteln? Welches Anſehen können die
in Sonderbeſtrebungen und oft ſpieleriſche Sektierereien zerſpliſſenen „Idealiſten“ bei den
Oraußenſtehenden gewinnen? Und welches eigentlich vor ſich ſelber, wenn fie ſich jeder anderen
Meinung verſchließen und nur ihre eigene immer wieder hören wollen und dadurch beweiſen,
daß ſie eben auch nur in Schnipſeln denken?
Wir brauchen wenige wirklich führende Organe, geleitet von welterfahrenen, weitblickenden,
charaktervollen und weithin anerkannten Männern, Organe für Tage, Wochen und Monate,
ohne Bilderchenblendwerk, ohne andere Parteinahme als die für das Gediegene, Unaufgeregte,
Seſunde. Meinethalben geſchieden nach den zwei Hauptcharakteren der Oeutſchen, den ethiſch
und den äfthetifch gerichteten. Denn es iſt einmal unſere vielleicht zu beklagende Art, daß der
eine alles nach der Geſinnung, der andere nach der Form bemißt. Erſtere iſt uns zweifellos
nötiger; wir brauchen vor allem Charaktergeſundung. Aber Kunſt iſt und bleibt doch Gipfe-
bung menſchlichen Schaffens und auch noch in ihren minder gewaltigen Außerungen ein Quell
reiner Freuden]
Daf auch eine Minderheit ſolche Zeitſchriften fordern, erlangen und aufrechterhalten könnte,
wäre trotz allem in dem Augenblick möglich, wo alle Sonderintereſſen zuruͤckgeſtellt werden und
322 Die deutſchen Geenglade
eine gewiſſe Entſagung geübt wird. Wirtſchaftlich, inſofern man an feine geiftige Nahrung etwa
ſo viel ſetzt wie der Sozialdemokrat an ſeine Parteikaſſe; geiſtig, inſofern nicht jeder ſich gedruckt
ſehen und einzig feine Meinung hören will. Wer auf letzteres nicht verzichten kann, möge zum
Wohle der Verleger und der Literaten ſein Bundesblättlein weiter halten, aber doch auf weiter
ausſchauende Nahrung nicht verzichten. Für Liebhabereien findet ſich immer Geld; geiſtige
Fortentwicklung aber müßte ſich jeder etwas koſten laſſen.
Das Ergebnis ſolcher Fortentwicklung aber, der freiere, weiterblickende, vielverſtehende,
freundliche und darum glücklichere Menſch, er, der den anderen ein Beiſpiel wird, daß jen-
ſeits der Schnipſelkultur erſt ein Leben innerer Befriedigung und frohen Wachstums möglich iſt:
er allein kann all das Seine, alles überhaupt nur mögliche, zur Bekämpfung unſerer verderb-
lichen Zeitrichtung tun. Der Glückliche gibt ein Beiſpiel, und ein Beiſpiel iſt eindringlicher
als hundert Lehren.
Glaubet darum noch nicht an einen ſchnellen Sieg; eine Welt ſteht gegen euch, aber doch nur
eine ſchwach und verzagt gewordene Welt. Werdet der Sauerteig, wie es einſt Chriſti Lehre
war! Ein „Häuflein klein“ hat doch zuletzt der faulgewordenen antiken Kultur den Garaus ge
macht. Und fraget nicht, was die Zeit an Abwegigem aus Chriſti Lehre gemacht hat. Der Ruhm
der erſten Künder bleibt unbefleckt, und ihr Beiſpiel wirkt noch heut in den Reſten ehemaliger
Kultur. Hans Schliepmann
Die deutſchen Grenzlande
ax Hildebert Boehm ſchenkt uns nach knapp einem Jahr ein neues Buch, das ſich wieder
mit den Problemen des Grenzdeutſchtums befaßt. Nach „Europa irredenta“ folgen
„Die deutſchen Grenzlande“. In ſeinem Vorwort kennzeichnet der Verfaſſer die Verſchiedenheit
zwiſchen den beiden Büchern folgendermaßen: „Wandte ſich jenes Buch an die immerhin
begrenzte Zahl derer, die im In- und Auslande für geſamteuropäiſche Schickſalsfragen Anteil
nahme und Verſtändnis haben, ſo ſteht mir hier die breite Führerſchicht des deutſchen Volkes
vor Augen, der es an einem brauchbaren Wegweiſer durch die Lebensfragen Grenz- Deutſchlande
noch immer fehlt.“ „Europa irredenta“ behandelte die europäijche Grenz- und Doltsnot. Das
deutſche Leid ſtand zwar auch hier den Tatſachen entſprechend im Mittelpunkt. Immerhin ergaben
ſich eine Fülle Verflochtenheiten und Beziehungen zu anderen Völkern und dadurch ganz von
ſelbſt die Notwendigkeit, Einzelheiten fortzulaſſen.
Das vorliegende Buch iſt allein den deutſchen Grenzlanden gewidmet. In dem Vorwort
ſchreibt der Verfaſſer, daß er die wiederholt ſchmerzlich empfundene Lüde einer Gejamtdar-
ſtellung der deutſchen Grenzgebiete habe ausfüllen wollen, um denjenigen, die von der hohen
Aufgabe des neuen deutſchen Menſchen erfüllt feien, „eine zuſammenfaſſende und grundlegende
Geſichtspunkte herausarbeitende nationalpolitiſche Darſtellung“ zu bieten. Als Einleitung bringt
Boehm eine inſtruktive Betrachtung über Grenzland und Grenzvolk. Es folgen die einzelnen
Grenzgebiete im Weſten, Norden, Südoſten und Nordoſten. Den Schluß bilden zwei Kapitel,
die gerade dem ſchon einigermaßen Unterrichteten beſonders willkommen ſein dürften. Sie find
überſchrieben „Das mitteleuropäiſche Vorfeld“ und „Grenzdeutſch und Großdeutſch“.
Boehm müßte kein deutſcher Gelehrter ſein, wenn er nicht zu Beginn ſeines Buches eine
ſehr eingehende Analyſe der Begriffe Grengvol und Grenzland vornähme. Ich gebe gerne zu,
daß er damit recht getan hat, weil die von ihm gegebenen Formulierungen für die praktiſche
Arbeit notwendig find. Nachdem er konfeſſionelle, ſprachliche und ſtaatliche Hemmniſſe grenz-
deutſcher Erkenntnis an Beiſpielen aus der Wirklichkeit vorgeführt hat, ſagt er mit Recht: „Fort
deshalb mit allen dugerliden und gedankenloſen Bezeichnungen! Grenzland iſt kein Begriff,
ar 17 GT
Die deuiſchen Grenzlande 323
für den die Juriſten eine ſtaatsrechtliche Schablone finden können, kein Begriff auch, für den
Sprachforſcher, Statiſtiker, Hiſtoriker, Geographen für ſich zuſtändig wären. Grenzland iſt ein
nationalpolitiſcher Begriff. Er umfaßt rein deutſche oder gemiſchte, abgetretene oder nur be
drohte, beſetzte, neutraliſierte oder zwangsweiſe verſelbſtändigte Gebiete. Grenzland iſt überall
da, wo deutſche Menſchen Grenzſchickſal leibhaft erfahren, wo ſie um den Zuſammenhang mit
der nationalen Gemeinſchaft ringen. Grenzland begreift eine Forderung in ſich.“
Eine allgemeine hiſtoriſche Betrachtung leitet den Weſten ein. Luxemburg, Elſaß, Lothringen,
das Saargebiet, Eupen, Malmedy, Rhein und Ruhr werden anſchließend einzeln behandelt.
Es kann auffallen, daß trotz der Erwähnung Luxemburgs der Flamen nicht beſonders gedacht
wird. Boehm erwähnt ſie nur auf Seite 49 im Zuſammenhang mit regionalen Strömungen
in Frankreich. Ich hätte es gerne geſehen, daß gerade bei der Betonung der Geſchichtsloſigkeit
des belgiſchen Staates den Flamen ein beſonderer Abſatz gewidmet worden wäre. Um jo mehr
freue ich mich über die Luxemburg gewidmeten Ausführungen, weil gerade dieſes Gebiet auf
das Eindringlichſte zeigt, wie ſchnell ein Land dem angeſtammten Mutterlande verloren gehen
kann. Wer erinnert ſich heute noch der Tatſache, daß fünf luxemburgiſche und limburgiſche Ab;
geordnete der Paulskirche angehört haben? Und weiß man heute noch, daß der Führer der
Sozialdemokratiſchen Partei Bebel im Norddeutſchen Reichstag gegen die Ausſtoßung Luxem-
burgs aus dem deutſchen Geſamtverband Einſpruch erhoben hat? Wer hat denn in Oeutſchland
nach 1871 die Pflicht empfunden, die fortbeſtehenden wirtſchaftlichen Beziehungen geiſtig und
national-tulturell zu vertiefen? Die traurige Antwort muß lauten: Nahezu niemand. Gerade
die Ahnlichkeit der Luxemburger Verwelſchung mit der elſaß-lothringiſchen, belgiſchen und zum
Teil auch der ſchweizeriſchen erhöht die Bedeutung des Vorganges. Es iſt deshalb beſonders
zu begrüßen, daß Boehm zwei Männer erwähnt, die dieſe Zuſammenhänge in hervorragendem
Make beleuchtet haben: Friedrich König und Paul Wentzke. Es handelt ſich um den überall
im Weſten erkennbaren Vorgang, daß das Franzoſentum als liberaler Geiſt in die Bourgeoifie
und damit in das parlamentariſche Leben und die Verwaltung eindrang, während das in der
breiten bäuerlichen Maſſe und der geiſtlichen Führung erhaltene Deutſchtum an Einfluß ein-
büßte. „So konnte fid das Unerhörte begeben, daß ein rein deutſches Land wie Luxemburg
die franzöſiſche Amts- und Parlamentsſprache annahm und eine rein franzöſiſche Regierung
duldet.“
In dieſem Zuſammenhang gewinnen die Vetrachtungen, die der Verfaſſer an den Anfang
des Kapitels Aber Rhein und Ruhr ftellt, beſondere Bedeutung. Wir ſehen, wie vor 130 Jahren
beim Anſturm des revolutionären Frankreich der ganze Puppenſtaat zwergdeutſcher Herrſchaft
zuſammenbricht. Die 200 Staatsgebilde am Rhein waren zu jedem ernſtlichen Widerſtand
unfähig. Das Verſagen der herrſchenden Geſchlechter und des Großbürgertums war offen-
kundig. Handwerksburſchen war die Vertreibung der Franzoſen aus Frankfurt zu verdanken,
der ehrenwerte Rat lehnte die Verantwortung für ſolch turbulente Szenen ab. Auch die Ent-
wicklung des Rheinlandes im 19. Jahrhundert war nicht dazu angetan, die Erkenntnis grenz-
deutſcher Aufgaben zu erwecken. Das gilt, wie Voehm ſehr fein nachweiſt, ebenſoſehr für das
preußiſche Gebiet wie für Heſſen und die Rheinpfalz. Der Verfaſſer jagt, daß er an die geſchicht⸗
lichen Vorgänge nur erinnere, um die Erklärung zu geben, „warum der verwöhnte Liebling
des deutſchen Volkes bis zu November 1918 feine Grenzaufgabe nicht erfaßt hat. Die Rhein-
lande, das Quellgebiet alter deutſcher Reichsherrlichkeit, find ſelber bis an die Schwelle unſerer
Tage ihrem ſeeliſchen Zuſtand nach Binnenland geblieben. Und dieſes Binnenland mit ſeiner
geiftigen Stärke und politiſchen Schwäche wurde über Nacht Grenzland“.
Es iſt notwendig, bei dieſer bedeutenden Feſtlegung einen Augenblick zu verweilen, weil
gerade anläßlich der Jahrtauſendfeiern wieder Ausſprüche erklangen, die bewieſen, daß man
den Begriff „Grenzland und Grenzgeiſt“ noch nicht richtig erfaßt hat. Man hörte die Worte
dom kerndeutſchen Rheinland, das kein Grenzland fei. Zweifelsohne follte damit gejagt fein,
324 Die deutſchen Stenglonde
Grenzland iſt ein Land, das zum mindeſten in ſeinen Anſchauungen nicht einheitlich deutſch iſt.
Wenn das in gemiſchtvoͤlkiſchen Gebieten zum Teil aud der Fall ijt, fo iſt doch die Feſtſtellung
der Gegenſãtzlichkeit Kerndeutſch und Grenzdeutſch ebenſo einſeitig wie unglücklich. Gerade die
Notwendigkeit des täglichen Selbſtbehauptungskampfes ſchafft in den Grenzgebieten einen
Geift ſelbſtloſer VBaterlandsliebe und Volksbegeiſterung, den wir im fatten Binnen-
land ſelten finden. Das Rheinland hat in den letzten Jahren erkennen müfjen, wie notwendig
dieſer Grenzgeiſt iſt. Es hat ihn in der Stunde der Not aus ſich ſelbſt entwickelt. Es hat alle
Veranlaſſung darauf ſtolz zu fein, und ſich laut zum bedrohten Grenzgebiet Oeutſchlands zu
bekennen. Boehm formuliert an anderer Stelle, das was wir hier einfügen, in ähnlicher Weiſe.
Der Verfaſſer wendet ſich zu Anfang mit Recht gegen eine zu ſchaffende „reichsdeutſche
Irredenta“. Wohl mit um feine Auffaſſung zu belegen, behandelt er die geſchichtliche Entwicklung
des Suͤdoſtens eingehend. Ich begrüße das und hoffe, daß vor allem die reichsdeutſche Jugend
dieſes Kapitel beſonders aufmerkſam durchlieſt. Die völkiſchen Leiſtungen des bayrifchen, die
politiſchen des fränkiſchen Stammes in früheren Jahrhunderten werden aufgezeigt. An unſeren
geiſtigen Auge ziehen die Namen der Awaren, Magyaren, Mongolen und Türken vorbei. Wer
von uns muß nicht bekennen, daß ihm in der Schulzeit der enge Zuſammenhang mit der dort
für das Deutſchtum geleljteten Arbeit nicht ganz aufgegangen ift? Und wenn wir an das 19. Jahr
hundert und den dort aufkommenden Allflawismus zurüddenten? Nimmt fic nicht heute das
Vorſpiel zum Weltkriege in Serajewo ganz anders aus, da wir ſehend geworden find? Allzu-
lange haben wir die Deutſchen jenſeits der Reichsgrenzen als Ausländer betrachtet. Allzulange
haben wir für deren Leiden und Sorgen kein Intereſſe gehabt. Es wird Zeit, daß wir volks⸗
deutſch denken lernen und das Burgenland ebenſo zu uns rechnen wie den bedrohten Rhein
oder die Inſel Oſtpreußen.
Bei der Betrachtung über den neuen Staat Polen erwähnt der Verfaſſer Vorgänge, die in
Oeutſchland noch zu wenig beachtet ſind. Sie ſtehen unter dem Motto: „Wer andern eine Grube
gräbt, fällt ſelbſt hinein“. Auf unſeren Fall übertragen, ergibt ſich die erfreuliche Tatſache,
daß ein Teil des Streudeutſchtums in Kongreßpolen, Südſlavien ebenſo wie in Rumänien
und der Slowakei durch die Neuordnung der Verhältniſſe einen ſtarken Auftrieb erhalten hat.
Anlaß war in erſter Linie geſchloſſenes Deutſchtum, das durch die Gebote der Pariſer Vor-
ſtädte Reichsdeutſchland entriſſen und zu den Fremdͤſtaaten geſchlagen wurde. Feine Ironie
des Schickſals bedeutet dieſe Erſcheinung, die glüdlicherweife uns Gutes bringt und die wir
deshalb ſehr begrüßen können.
„Die Würdigung des grenzdeutſchen Schickſals zeigt mit erſchütternder Eindringlichkeit, daß
wir in einem Zeitalter der Grenzrevolutionen leben. Alte landſchaftliche und ſtaatliche Einheiten
ſind zerſtört und neue aufgebaut worden, deren Beſtandfeſtigkeit und Lebensdauer fragwürdig
ijt.“ So deginnt Boehm fein Kapitel Aber das mitteleuropäiſche Vorfeld. Er führt uns darauf
in großangelegter Dolte um Deutſchlands Grenzen, zeigt an Hand hiſtoriſcher Vergleiche die
grundſtürzende Veränderung der Verhältniſſe, deutet den geheimnisvollen Ooppelſinn des
Begriffes Grenzdeutſchtum an, der unter anderem in der Überwindung der bloßen fprad-
geographiſchen Vetrachtungsweiſe liegt, zeigt an den Bevölkerungszahlen des frangdjifden und
deutſchen Volkes (36 zu 80 Millionen) im mitteleuropäifhen Raum den ganzen Irrſinn und
Frevel der Verſailler und anderer Diktate, weiß die dadurch erneut eingetretene Bedrohung
Hollands, Belgiens, Luxemburgs und der Schweiz nach und zeigt letzten Endes, wie im Oſten
bei den neugeſchaffenen Staaten Wahlgeometrie und Verwaltungsautokratie trotz tatfadlid
vorhandenen zahlenmäßiger Unterlegenheit das Deutſchtum zu unterdrücken, ja auszurotten
verſuchen.
Im Schlußkapitel ftellt Boehm nochmals den Gefamtgebietsverluft zuſammen. Er unter-
ſcheidet zwiſchen 1. bedingungslos abgetretenem, 2. durch Abſtimmung verloren gegangenem
bzw. gefährdeten, 3. beſetztem, 4. zwangsweiſe verſelbſtändigtem, 5. neutralifiertem und dauer
a1 1 — —
Die deuiſche Bauernhochſchulbewegung 325
bedroptem Gebiet. Die knappen Angaben wirken beſonders erfchütternd, Wir erkennen, daß
heute eigentlich jedes deutſche Land Grenzgebiet und damit bedroht iſt. Pommern im Oſten,
Sachſen und Bayern nach Südoften, Baden, Oldenburg, Heſſen, Weſtfalen im Weiten. Mit
Recht ſagt Boehm, daß die Bedrohung nach der Verſtümmelung viel größer iſt als früher. Er
weiſt in dieſem Zuſammenhange auf Beſtrebungen holländijcher Kreiſe hin, die Oſtfriesland
für fig beanſpruchen, auf die während der Inflationszeit aus der Schweiz kommenden Verſuch
Vorarlberg und einige Kreiſe Suͤdbadens für die Schweiz zu gewinnen. Gerade dieſe heute
kaum mehr glaubhaften Erſcheinungen follten auch dem Letzten die Augen öffnen über die
Bedrohung, dem das Oeutſchtum jetzt ausgeſetzt iſt. Viel gefährlicher ſind natürlich die immer
wiederkehrenden Verſuche der Franzoſen, Polen, Tſchechen, Suͤdſlaven und Italiener, deutſches
Land zu verwelſchen. In dieſen Zuſammenhang gehören die franzöſiſchen Kulturbeſtrebungen
im Rheinlande, ſowie die tſchechiſche Propaganda in der Lauſitz und in Niederöſterreich. Die
für die Abwehr geſtellten Aufgaben find jo zahlreich und groß, daß man kaum weiß, wo be-
gonnen werden ſoll. Boehm ruft daher Hilfskraͤfte aus allen Richtungen auf; er erwähnt befonders
die Wiſſenſchaft, die Kunſt und die Wirtſchaft und hofft auf deren eindringlichſte Unterjtüßung.
dch möchte hinzufügen, daß in Erwägung des ungeheuren Ernſtes der Lage überhaupt kein
Hilfsmittel, und fel es auch noch fo beſcheiden, entbehrt werden kann. Wir ſtehen wirklich vor
einer entſcheidenden Wende.
Ich habe mich im weſentlichen darauf beſchränkt, in großen Zügen eine Inhaltsangabe von
Boehme Buch zu geben. Nur an ganz beſonders augenfälligen Stellen ſchob ich Kritik, An-
regung, Beurteilung ein. Zum Schluß muß ich doch wohl ein paar Worte mehr in dieſer Richtung
jagen. Boehm wollte mit feinem neuen Buch eine Lüde füllen. Das hat er zweifellos getan.
Trotzdem muß ich ausſprechen, daß ich auch jetzt noch eine Lücke empfinde. Vielleicht liegt es
daran, daß Boehm zuviel wollte und deshalb zuviel angefangen hat. Die Folge muß ſein, daß
man an manchen Stellen etwas vermißt, was erwartet werden mußte. Boehm ſagt, er habe
Einzelangaben moͤglichſt vermieden und nur allgemeine Linien gezogen. Er iſt aber nicht tonfe
quent geblieben. Bei Oberſchleſien finden ſich ſehr viele mir willkommene Zahlen, andere
Gebiete find dagegen in biefer Hinſicht zu dürftig abgeſpeiſt. Vielleicht läßt ſich bei der zweiten
Auflage eine Ergänzung ermöglichen. Dann wird das Buch in noch erhöhten Maße ein nicht
zu entbehrendes Hilfsmittel fuͤr jeden Deutſchen werden. Schon jetzt aber gebührt dem Verfaſſer
Dank für feine Arbeit, die zum erſtenmal alle deutſchen Grenzlande zuſammenfaſſend behandelt
und eine Fülle neuer Anregungen bietet. Otto Kaiſer
Die deutſche Bauernhochſchulbewegung
at eigentlich Fichte, unfer großer Nationalerzieher, feine berühmten „Reden an die deutſche
Nation“ vergeblich gehalten? Oder nur für die Zeit der damaligen Freiheitskriege? Wohl
darf oder muß man fo fragen; denn von dem heldenhaften Geiſte dieſer Reden ſpürt man in
mifern meiſten Schulen wenig oder nichts.
Was war wohl der tiefſte Kern des Fichteſchen Erziehungsplan es? Nicht die Anhäufung eines
ungeheuren Wiſſenſtoffes, ſondern Charakterbildung und Vaterlandsliebe; glühende, lodernde
Bede zum Vatetlande und deutſchen Volke! Das deutſche Volk ſollte nach Fichtes Plan feine ihm
angeborenen un vergleichlichen Geiſtes - und Gemütsgaben im gelduterten, durchgeiſtigten Sinne
zur höchſten Höhe entfalten und ſteigern, aber nicht Schaden nehmen an feiner Seele, an feiner
innerften adligen Art. Es ſollte Ehrfurcht vor Gott empfinden und das Unerforſchliche ſchweigend
derehren. Es ſollte das Erforſchliche mit allen Mitteln ſachlich und ehrlich erforſchen. Es ſollte
den Leib als einen Gralstempel alles Hohen und Edlen betrachten und ſtählen. Es ſollte gerecht
gegen die anderen Baller fein — fie aber niemals über ſich Herr werden laſſen. |
326 Die deutſche Bauernhochſchuldewegung
Sein großer Zeit-, Bluts- und Geiſtesgenoſſe Ludwig Zahn faßte alles, was Fichte in dieſem
Sinne verlangte, zuſammen in die beiden Worte: „Volkstum und völkiſch.“ Wir ſollten unſer
deutſches Volkstum zur adligſten Ausgeſtaltung entwickeln, in ihm nächſt Gott das Hddfte auf
dieſer Erde ſehn, von freudigem Stolze darauf erfüllt fein, Blut und Leben entſchloſſen und
furchtlos dafür hingeben: wir follten „völkiſch“ fein. Dieſes Erziehungsideal iſt erhaben. Wollten
wir im Geiſte Flügel der Morgenröte nehmen und vom Aufgang zum Niedergang allen Lichts
alle alexandriniſchen Büchereien Aber Erziehungsfragen durchſtoͤbern, wir fänden nichts Herr-
licheres, aber auch nichts Ein facheres, nichts, was mehr zum Herzen, aber auch zum Geiſte fprdde.
Glaubt irgend jemand im Ernſte, unſer Siegfriedsſchwert des Weltkrieges wäre durch die
Kurtiſanenliſt unſerer inneren und äußeren Feinde, durch irgendein Verſailles zerbrochen
worden, wenn Fichte und Jahn in den Herzen unſerer Lehrer — von der Univerfität bis zur
Volksſchule —, in den Herzen unferer Fürſten und Staatsmänner, unſerer Prieſter und Schrift-
ſteller, unferer deutſchen Männer und Frauen lebendige Wegweiſer geweſen wären? Sie hätten
die leuchtenden Dioskurenſterne auf dem Meere des deutſchen Geiſteslebens fein muͤſſen. Sie
waren es nicht, fie wurden verdrängt und ausgelöſcht durch fremde, feindliche, lebensgefährliche
Gewalten, Lehren, Menſchen.
Wir büßen es nun. Der Nibelungen Not, mit der unſere Nationalliteratur tiefſinnig anbebdt,
laftet heut in furchtbarſter Weiſe auf unſerm unglücklichen Volke. Alle Rettung hängt davon ab,
ob wir zu Fichte und Jahn zurückkehren.
Vor allem, weil dieſe beiden großen Erzieher zur ganzen Nation ſprechen, keinen Un terſchied
machen zwiſchen Klaſſen, Ständen und Bildungsſchichten, weil ihnen unabänderlid der Gedanke
an das unteilbare, untrennbare gemeinſame deutſche Blut und Volkstum vorſchwebt. Weil ſie
die unterſte Schicht, die älteſte. wichtigſte, das Bauern tum nicht nur nicht ausnehmen, ſondern
bewußt und unbewußt als Grundlage der ganzen Nation, als unerſchöpfliche Erneuerungs⸗
quelle betrachten.
Es iſt bezeichnend und beſchämend für unſer Volk, daß auch hier andere uns ausgenützt haben.
Oer Däne Grundtwig und feine Schüler haben Fichtes und Jahns Erziehungsſyſtem in den
däniſchen Bauern hochſchulen tiefgründig und umfaſſend zur Anwendung gebracht. Als
Dan emark unter den Schwertſtreichen der preußiſchen und öſterreichiſchen Heere widerſtandslos
zuſammenbrach und rettungslos verloren ſchien, da haben die im Geiſte Fichtes und Jahns ge
leiteten Grun dtwigſchen däniſchen Bauern hochſchulen den däniſchen Bauern fo geſchult, daß er
die Lenkung des dänischen Staates übernehmen und Dänemark retten konnte.
Warum iſt denn hier der Bauer ſo nachhaltig und wuchtig betont? — Nun, weil das übrige
Volk aus dem Vauerntum hervorgegangen iſt, geht und gehen wird. Wir wiſſen ſeit geraumer
Zeit, daß die Großſtädte die Gräber der Menſchheit find, daß die Städter in wenigen Genera-
tionen rettungslos ausſterben. Die ausgezeichnet geführten Polizeiakten von Paris lehren uns,
daß von den vielen Hunderttauſend Pariſern der ſogenannten „Großen franzöſiſchen Revo
lution“ heut nur noch wenige Tauſende direkter Nachkommen in Paris leben, nicht etwa, weil
die Nachkommen jener Pariſer inzwiſchen von Paris aufs Land gezogen, ſondern weil ſie bis
auf winzige Reſte ausgeſtorben find. Gerade in neueſter Zeit lehrt uns Raoul H. Francs in den
vielen Büchern feiner objektiven Philoſophie die Gefahren der Großſtädte und ihres ımor-
ganiſchen, lebensfeindlichen „Lebens“. In tiefgründigen Schriften weiſt er darauf hin, daß wir
eigentlich ein Waldvolk find und nur ſolange Ausſicht auf Leben, Kraft, Geſundheit und Kultur
haben, jo lange wir die Lebensgeſetze des Waldes, der uns organischen Kultur, folgerichtig an-
wenden.
Noch heut ijt der Bauer verhältnismäßig geſund und unverdorben. Aber eben nur „der
bältnismäßig“ ; denn in tauſend Kanälen fließen die lebensfeindlichen Gifte der Großftadt aufs
Land, in die Adern des Bauerntums. Der Landſchullehrer bezieht letzten Endes ſeine Bildung
und Erziehung nicht nur von den Hochſchullehrern der Großſtadt, ſondern auch durch andere
Die deutſche Bauernhochſchulbewegung 327
Erziehungsquellen: Zeitungen, Zeitſchriften, Theater, Filme, Warenhäuſer, Parlamente,
Volksverſammlungen. Wenn nun auch die ewige, große Natur des Landes, der Wald und Acker,
jene ſchaͤdlichen Einflüffe der Großſtadt ſehr weſentlich beſchränken und ausbalanzieren, fo ge-
ſchieht dies doch in immer geringerem Maße. Man denke nur daran, daß durch eine an ſich wert-
volle Einrichtung des Staates vor der Revolution jeder wehrfähige junge Bauer für zwei oder
drei Jahre in die Stadt, ins Heer ziehn mußte und hier einer ganzen Pan dorabüͤchſe von Ent-
artungserſcheinungen ausgeſetzt war, in der aufnahmefähigſten Zeit ſeines Lebens, und dieſe
Gindriide mit nach Haus brachte!
Die verderblichen Wirkungen dieſer Eindrücke find uns wohlbekannt: Landflucht, Gering-
ſchätzung der heiligen Scholle, Abnahme der natürlichen Fruchtbarkeit, Zweikinderſyſtem, Rentner
pſychologie, Verachtung der väterlichen Sitten, Hochſchätzung des ſtädtiſchen Flitters, Inftintt-
unſicherheit, Neigung zum Marxismus, zur internationalen Preſſe, Verluſt von Nationalge-
ſinnung und Raſſenſtolz. Wenn nun aber die Wurzel unferes Volkstums, der Bauernſtand, fo
verderblicy entartet, was iſt dann von den Städtern zu erwarten? Jedes Handbuch der Bevöl-
kerungsfrage lehrt uns die ſchauerliche Tatſache, daß wir aus einem Bauernvolke zu einem
Zn duſtrievolke geworden find. Ein ungebrochen es Bauern volk hätte ſich das Schwert nach
ein em fo unvergleichlich ruhmvollen Kriege von fremdblütigen Agenten unſerer Todfeinde nicht
aus der Hand winden laſſen. Es hätte dieſe Agenten zu Paaren getrieben oder ſofort vernichtet,
es hätte keine „Deſerteurräte“ geduldet, es hätte zu ſeinen angeſtammten Führern gehalten
und bis zum Siege durchgehalten. Es hätte gelacht ob der Lehre von der Gleichheit der Menſchen,
don der Liebe unſerer Feinde zu uns. Es hätte kein Parlament geduldet, das mit den heiligſten
Gütern der Nation Schindluder treibt und uns die Verachtung der Welt eingebracht hat. Ein
Oswald Spengler hätte unmöglich fein Buch vom „Untergang des Abendlandes“ ſchreiben
können, wenn die Mehrheit der Nation noch ungebrochenen vöͤlkiſchen Willen im Leibe gehabt
hätte, wie es bei einem reinen Bauernvolk der Fall iſt.
Während nun Preſſe, Parlament und Volksverſammlungen die Rettung unſeres Volkes mit
patlamen tariſchen Mitteln, das heißt: die Quadratur des Kreiſes, erörtern, find andre tatkräftig
ans Werk gegangen: kerndeutſche, vaterlandsbegeiſterte, kluge und nachdenkliche Männer und
Frauen, an ihrer Spitze der Oberlauſitzer Bauer Bruno Tan zmann! Er iſt aus der gleichen
Segend wie Fichte, Leſſing, Böhme, Gregor, Mendel und viele andere Führer unſeres Volkes.
Er hat nach Grundtwigs Beiſpiel — aber in völlig deutſchem Sinn und Geiſte — die deutſche
Bauern hochſchulbewegung ins Leben gerufen, eine Bewegung, an der man nicht vorüber
gehn und ſehn darf, wenn man die rettenden Kräfte und Ideen ſucht. Sie geht „aufs Ganze“.
Sie packt Leib und Seele des deutſchen Menſchen, vor allem des Bauern an. Sie zeigt ihm, wie
tief der deutſche Menſch, der deutſche Bauer, geſunken iſt und wie hoch er ſtehn, wie gewaltig er
wirken und ſchaffen müßte. Vor allem, daß er Herr im Hauſe ſein und die Lenkung im Staate
haben müßte Sie zeigt dem jungen Menſchen ſeine Verantwortung vor der Zukunft ſeines un-
glücklichen, aber großen Volkes. Sie feuert ihn an, ſich nicht vor jedem hergelaufenen fremd-
blütigen Schwager und Agenten ins Mauſeloch zu verkriechen, ſondern in Preſſe und Parlament
(wie der alte Feldwebelſohn Auguſt Bebel einmal großzügig ſagte) „Fraktur zu reden mit der
Raſſelban de“, daß ihr Hören und Sehen vergeht. Sie lehrt den Zungbauern und jeden aus Stadt
und Land, der ſich innerlich mit Leib und Seele zur Scholle, zum Land, zum Vaterland bekennt:
ein Stũck Bauerntum hat noch, Gott fel Dank, die ungeheure Mehrheit der Nation im Blut,
meiſt unbewußt freilich!
Es gilt nun, dies Stück Bauerntum zu retten, zu ſchirmen, zu ſtärken, lebendig zu machen,
damit es ſich auswirke zu rettender Tat! Denn eher kann es unter keinen Umjtänden beſſer werden,
ehe nicht der Bauer in dieſem Sinne wieder das Regiment im Staate übernimmt und das ganze
Volk mit eiferner Bauern fauſt und ungebrochenem Bauerngeift im Sinne von Fichte und Jahn
lenkt und leitet. Dann freilich dürfen wir Hohes erwarten. Nicht Zulaſſung zum Völkerbunde,
328 Die beutſche Sauernbohfhuibewegung
Anerkennung als demokratiſches, modernes Volk und wie der Schwindel fonft heißt, fondem
Freiheit, Ehre, Vaterland; dann dürfen wir eine heilige Burſchenſchaft, ein eiſernes Korps,
eine farbenbunte Landsmannſchaft, ein ſtolzes, kraftvolles, zukunftgewiſſ es Herrenvolk von echter,
hoher, ariſcher Kultur ſein und bleiben.
Nun ijt das Programm der deutſchen Bauernhochſchule derart, daß es dem einfachſten Bauern;
jungen, dem einfachſten, aus Bauernblut ſtammenden Arbeiterkinde klar ein leuchtet. Denn
zunächſt eignet ſich die Lehrſtätte ausgezeichnet Für dieſe Lehre: Irgend wo ba draußen auf dem
Lande, auf einem alten Schloß, in einer Parklandſchaft, auf einer Burg, in einem großen deut
ſchen Bauern hauſe, im Gebirge, in der Flachlandſchaft, am Ufer der donnernden Salzflut finden
Lehrgänge ſtatt; das heißt, in unmittelbarer Nähe der deutſchen Lan dnatut. In aller Stille
und Reinheit! In friſcher Luft und vor weiten Horigonten! Dort nun kommen Lehrer und
Hörer aus rein beutſchem Blut und Geiſt freundſchaftlich, brüderlich in der Form der Lebens;
gemeinſchaft zuſammen. Man iſt den ganzen Tag miteinander vereint, bei ernſter Arbeit und
frohem Spiel. Alle Saue und Stämme der deutſchen Nation ſind hier vertreten: Schwaben,
Franken, Alemannen, Sachſen, Weſtfalen, Rheinländer, ſchwerwuchtige Pommern und Oft-
preußen, fröhliche Böhmen, nachdenkliche Siebenbürger, ſelbſtbewußte Bayern, gewandte Ge
birgler aus Tirol und Steiermark — ſoweit die deutſche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder
ſingt.
Wie geht es da zu, in einer ſolchen Bauernhochſchule? Früh morgens weckt ein Hornſignal
oder ein Landsknechtslied die Schar der Schläfer; er geht hinaus zu einem Oauerlauf, einem
Stafetten lauf; die Glieder werden gehörig bewegt. Es wird beim Überbringen des Stabes hin ·
gewieſen auf die uns von der Entente geraubte allgemeine Wehrpflicht, die herrliche ariftotratijd-
demokratiſche Schöpfung des hann overſchen Bauernſohn es Scharnhorſt, ohne bie wir nicht wieder
aufſteigen koͤnnen aus Schande und Nacht zu Ehre, Freiheit und Macht. Je nach der Jahreszeit
und Ortlidtelt wird ein Schwimmbad genommen oder ein Kampfſpiel im Schnee und Eis auf
geführt. Dann in ſchnellem Lauf, daß der Schweiß von der Stirn rinnt, nach Haus! Hier wird ein
einfaches, kräftiges Mahl eingenommen, meiſt eine Roggenmehlſuppe und ein Stück Roggenbrot.
Dann geht es nach einem vom Hochſchulmeiſter geſprochenen ſchöͤnen, tiefen Spruch an die Ar-
beit, meiſt zunächſt an ein Stück Kulturgeſchichte des Bauern. Es wird gezeigt, daß alle
wahrhaft großen deutſchen Männer von echtem Bauerngeiſt befeelt geweſen find: Hermann der
Befreier, Wittekind, Luther, Frundsberg, der Alte Fritz, Arndt, Jahn, Stein, Blücher, Gnei⸗
ſenau, Scharnhorſt, Fichte, Bismarck, Treitſchke, Richard Wagner, Schopenhauer und fo fort.
— Daß inſonderheit alle Staatsmänner großen Stils echte Bauern waren. Denn der Staat if
doch auch einmal erbaut worden. Und vom Bauen hat der Bauer ja feinen anſchaulichen Namen.
Alſo wird der Bauer auch den Staat wieder aufbauen können, freilich nur, wenn er richtig ge
ſchult und erzogen iſt. Dann wird eine halbe oder ganze Stunde draußen geturnt, damit das
Blut in ſchnellen Umlauf gerät und das Hirn tüchtig und friſch durchblutet. Hernach wird bes
Mittagsmahl eingenommen, einfach aber kräftig, wie es ſich für einen Bauern gehört. Später
werden die wichtigſten Gedanken aus dem am Vormittag Gehörten niedergefdrieben, von den
Lehrern durchgeſehn und miteinander beſprochen. Dabei herrſcht echt deutſche Kameradſchaft.
Nachmittags werden Gegenſtände aus der Staaten kunde, Volkswirtſchaft, Verfaſſung, Kunſt,
Naturwiſſenſchaft erörtert. Etwa ſolche Fragen: Wie iſt das Deutſche Voll raſſiſch zuſammengeſezzt,
wie erhält es ſich raſſiſch rein und geſund? Welche Zuſtän de herrſchen an den Schulen und Hoch
ſchulen, in den Akademien und Parlamenten, vor allem in der Preſſe? Es wird gezeigt, warum
unſer unglüdliches Volk fo wenig über feine Sklaverei unterrichtet iſt, weil die ungeheure Mehr
beit der Preſſe undeutſch iſt. Der Wert einer eigenen, freien, unabhängigen, echtdeutſchen Peeſſe
wird erörtert. Die wichtigſten deutſchen und undeutſchen Blätter werden ſorgſam beſprochen.
Die Lehre von Darwin und ihre Überwindung durch Gregor Mendel, Inzucht, Gattenwahl,
Heiratspolitik, Ehe, Erziehung bilden den Gegenſtand der eingehendſten Betrachtung. dam
Die deutihe Bauernhochſchulbewegung 329
und wann wird ein Muſtergut befucht, oder auf einem Ausflug wird wohl mit dem Geologen-
hammer ein Stück Humus auf feine Feſtigkeit hin geprüft. Da wird gelegentlich geſagt: Seht,
wenn dieſer Humus nicht feſt auf feinem Grunde haftet und ihn der Gewitterregen hinwegſpült,
dann ſtirbt mit ihm die grüne Saat, der grüne Wald, die reifende Ernte; aber wenn ihr Bauern
jungen vom Lande in die Stadt als Schollenflüchtlinge zieht, in die Warenhäuſer, Filmhöhlen,
Bordelle, dann ſtirbt mit euch die Nation, denn ihr ſeid der Humus des Volkes. Oder am Abend,
wenn der Himmel ſternklar iſt, wird auf die funkelnden Sternbilder hingewieſen und geſagt,
daß die meiſten Sternbilder wie der große und kleine Wagen, das Füllen, die Taube, der Orion,
die Zungfrau mit der Ahre echt agrariſche Bilder und Schöpfungen agrariſch, nicht nomadiſch
eingeſtellter Menſchen find. Daß lange vor den ſemitiſchen Babyloniern und Aſſprern, lange vor
den Agyptern indogermaniſch redende Menſchen wie die Sumerer dieſe Sternbilder umriſſen
und bezeichnet haben. Und am Abend werden alte Volkslieder geſungen unter Begleitung der
Geige oder Laute. Unbeſchreiblich feierlich klingt es, wenn ſchließlich unſer prächtiger Lieder
meiſter Fritz Hugo Hoffmann aus Deutſchböhmen zur Laute das Nachtwächterlied ſingt: „Hört,
Ihr Herrn, und laßt Euch fagen, unſre Glock hat zwölf geſchlagen; zwölf das iſt die Zahl der Zeit,
Menſch, gedenk' der Ewigkeit!“ — Wie oft jah ich Tränen in den Augen der unverbrauchten
jungen Menfchen !
Schön und grok ift die ſeeliſche Wirkung des Ganzen. Wer die deutſche Bauernhochſchule be
ſucht hat, der iſt für immer gefeit gegen die Anfechtungen der Internationale und des Marxis-
mus. Kern feſt erwächſt hier eine den Stürmen des kommenden Lebens trotzende nationale
Seſinn ung; Ehrfurcht vor Gott und großen Menſchen, Stolz gegenüber den fremd-
blütigen Agenten des Auslandes und Mammons, Verſtändnis für das Weſen der
deutſchen Volks gemeinſchaft, in die wir alle verhaftet ſind, ob Fürft, Ritter, Bürger,
Bauer, Arbeiter. Der großdeutſche, alldeutſche, völkiſche, volksariſtokratiſche Sedanke faßt in
dieſen jungen Seelen Wurzel. Sie haben ja nicht nur die Anſichten ihrer Lehrer gehört, fie haben
die Namen der deutſchen Denker und Dichter in ihre Herzen geſchrieben. Sie haben mit Lienhard
„Wege nach Weimar“ gewandert, haben Fichtes „Reden an die Deutſche Nation“, Jahns „Deut-
ſches Volkstum“, Goethes „Fauſt“, Schillers „Tell“, Bismarcks „Taten und Reden“ gehört.
Sie gehn nun hinaus als Jünger und Apoſtel eines veredelten Deutſchtums. Sie predigen es dort
draußen in der deutſchen Landſchaft oder Stadt, in der Irredenta, in Böhmen, Mähren, Schleſien,
Oſterreich, Poſen, Weſtpreußen uff. Der alte eiferne Arndt würde feine Freude haben, wenn
er in mancher mondbeglänzten Zaubernacht auf den Alten Zoll hinaustreten und über den zur
Zeit unfreien Strom hin fein herrliches Eifenlied aus deutſchem ZJungbauernmunde hören würde.
Wirkt fic die deutſche Bauern hochſchule kraftvoll aus, dann kommt die Zeit, wo nicht zweihun-
dert Marxiſten im Reichstag ſitzen und etwa zwanzig Bauern, ſondern zweihundert Bauern und
keine Marxiſten. Denn die deutſche Menſchheit kann wohl Jahrtauſende beſtehen ohne marxiſtiſch
verſeuchte Reichstagswähler — aber keine Woche ohne die Arbeit deutſcher Bauern.
Die deutſche Bauernhochſchule, die im Auslande, beſonders in Amerika mit größter Aufmerk-
ſamleit beachtet wird, iſt zurzeit von der marxiſtiſchen Preſſe in Deutſchland noch totgeſchwiegen.
Unter der Leitung von Bruno Tanzmann erſcheint in Hellerau bei Dresden das Organ ber
Deutiden Bauern hochſchule völkiſcher Richtung: „Die Deutſche Bauernhochſchule“. An
der Spitze der Bewegung ſteht die „Schirmherrſchaft der deutſchen Bauern hochſchule“. Ihr ge- .
hören Namen von edelſtem Klange an. Alle ſchaffenden, aufbauenden Stände und Schichten
der Nation, Rünftler, Schriftſteller, Beamte, Unternehmer, Arbeiter, Kaufleute, tun gut daran,
wenn fie dieſe Bewegung unterjtüßen, Sie wirken damit für die Nation.
dieſe Bewegung arbeitet kraftvoll ohne Regierungsunterſtuͤtzung für die jo wichtige Siedlungs-
frage und Landarbeiterfrage. Hier hat fie das „Artamann entum“ geſchaffen, durch welches etwa
fünfhun derttauſend polniſche Landarbeiter aus deutſchen Landen verdrängt werden follen.
Es iſt nicht auszuſagen, welcher Segen damit eintreten wird. Denn wie ſollen wir „Gen Oft-
Der Curmer XXVI, 4 22
330 Die deutſche Bauernhochſchulbewegung
land reiten“ und ſiedeln, falls einmal Deutfchland wieder zur Macht und Freiheit gelangt, wenn
wir nicht einmal dieſe Schädlinge in Geſtalt der halben Million fremder Landarbeiter verdrängen
können! Das Artamannentum ſtellt — nach Willibald Hentſchels Vorſchlag — eine organiſche
Form der deutſchen freiwilligen Arbeitsdienſtpflicht dar. Wie viel wird darüber nicht ge
redet! Bruno Tanzmann hat ſcharf zugegriffen und dieſe Arbeitsaufgabe der deutſchen Bauern-
hochſchulbewegung angegliedert, fo daß fie ein organiſches Stück von ihr iſt.
Es wäre noch zu bemerken, daß dieſe Bewegung nicht etwa — auch nur von ferne — einen
Gegenſatz zum Reichslandbund darſtellt oder zu den fachwiſſenſchaftlichen Landwirtſchafts⸗
ſchulen. Vielmehr in engſter Zuſammenarbeit mit dieſen genannten Faktoren, in Ergänzung und
Unterſtreichung ihrer Richtlinien betätigt ſich die Hellerauer Bauernhochſchulbewegung. Das
ſieht man unter anderm auf dem Gebiete der Religion. Hier bewegt ſich die deutſche Bauern;
hochſchule durchaus im Sinne der Richtlinien des Reichslandbundes. Sie iſt nicht konfeſſionell
gefärbt, aber durch und durch religiös abgeſtimmt: „Durch das Bekenntnis zum Chriſten tum ſoll
das Bekenntnis zu einer deutſchen Frömmigkeit nicht ausgeſchloſſen ſein!“ Viele ausgezeichnete,
weithin bekannte chriſtliche Pfarrer gehören der Schirmherrſchaft und der ſonſtigen Vertretung
der deutſchen Bauernhochſchule an. Damit wird ſicherlich allen denen Genüge geleiſtet, die mit
Recht in der Religion des Herzens das Wichtigſte für unſer Erdenwallen ſehn.
Zurzeit befinden ſich ſolche Bauernhochſchulen auf nationaler Grundlage und in Form der
Lebensgemeinſchaft in Henkenhagen in Pommern, Wiligrad in Mecklenburg, Aurich in Oftfries-
land, Bruchſal in Baden, Lorch in Württemberg, Herrnhut und Neukirchen in Sachſen, Geltid-
bad in Böhmen, Tanzenberg in Kärnten, Hermannſtadt in Siebenbürgen. Neben Tanzmann
ſeien hier als führende organiſatoriſche Perſön lichkeiten genannt: Dr. Prieſter in Mecklenburg,
David Egger in Kärnten, Franz Heller, Mitbegründer und Abgeordneter des Bundes der Land
wirte in Böhmen, Prof. Meyer von der Landwirtſchaftlichen Hochſchule Hohenheim, Kammer
berr von Arnim, Schloß Kriebſtein, Großbauer Kurt Andrä, Rittergutspächter Obendorfer in
Sachſen, Dr. Roſikat, Prinz Schönburg-Waldenburg in Schleſien, Pfarrer Schmidt⸗Wodder,
Abgeordneter der Deutſchen im Däniſchen Folkething, Dr. M. Maurenbrecher, Graf zu Revent-
low, Kapitän von Müller ⸗Berneck, Wilhelm Kozde, Bundesvater der Adler und Falken. Die
paͤdagogiſchen Führer find in der Hauptſache Georg Stammler und Tonſcheidt, die aus dem
Lietzſchen Landerziehungsheim hervorgegangen ſind und dann durch die Hellerauer Lehrgänge
das neue Erziehungsfeld geſichtet und geklärt haben.
Die älteften ländlichen Volkshochſchulen find durch den geiſtigen, bzw. politiſchen Wettbewerb
mit den däniſchen Volkshochſchulen entſtanden; Mohrkirch-Oſterholz unter Leitung von Heinrich
Harms ift wohl die älteſte. Dann iſt u. a. zu nennen Tiegloff-Rendsburg. Dieſe Anſtalten tragen
mehr heimatkundlichen Charakter und find mehr auf praktiſchen Schulunterricht mit Fortbil-
dungsſchulfächern zugeſchnitten. Führende Männer find hier Rektor Henningſen und Wilhelm
Stapel.
Die nächſtſtärkſte Gruppe hat ſich im Verband der chriſtlichen Volkshochſchulen zuſammenge⸗
ſchloſſen. Ihr Mittelpunkt iſt die alte Miſſionsanſtalt Hermannsburg in Hannover unter Führung
von Dr. Addickes. Zu ihr gehört die Schule Neudietendorf in Thüringen; Pfarrer Weigelt leitet
ſie unter ſtrenger Betonung der kirchlichen Form und liegt daher mit der Hellerauer Richtung in
Fehde.
In Bad Ullersdorf in Mähren iſt unter Leitung des Diplomlandwirts Bürger, getragen von
der Mähriſchen Landwirteorganiſation, eine kräftige Volkshochſchule. Leider will ſie nicht auf
die Zuſchüſſe des tſchechiſchen Staates verzichten und lehnt daher bedauerlicherweiſe die Ver⸗
bindung mit den Schulen im Reich ab. — Die ländliche Volkshochſchule in Burgſchwalbach am
Rhein ſteht unter den Geſetzen des beſetzten Gebietes und muß ſich daher neutral verhalten.
Zuletzt wäre noch die Bauernhochſchule Neu-Ruppin zu nennen. Der Wehrgedanke iſt ihr
Merkmal.
Die deulſche Bauernhochſchuldewegung 331
Bis auf die Auslandſchulen haben ſich alle einzelnen Gruppen auf Grund einer Einladung des
Reichs lan dbundes zu einer Arbeitsgemeinſchaft zuſammengeſchloſſen. Die Führer dieſer Ar-
beitsgemeinſchaft find: Rittergutsbeſitzer von Wilamowig-Möllendorff, Major Kriegsheim und
Geheimrat Gerſten hauer. Beſonders Geheimrat Gerſten hauer, der geiſtige Führer des Deutſch⸗
bundes, erweiſt ſich hier als ein ftets wachſamer, ſtaatsmänniſch beſonnener, felbftlofer, vater-
landsbegeiſterter Eckart des deutſchen Gedankens, der in allen wichtigen deutſchen Doltsbelangen
von hoher Warte herab darauf achtet, daß die getrennt Marſchierenden auf dem Wege zum ge-
meinſamen Ziele vereinigt ſchlagen.
Bemerkenswert find auch die Mädchen lehrgänge für Spinnen und Handweben, welche von
der Schirmherrſchaft der deutſchen Bauernhochſchule veranſtaltet werden. Zn dieſen Monaten
fanden ſolche Lehrgänge auf Rittergut Limbach in Sachſen ſtatt. Man denke hierbei nicht an die
abgeſtorben e Handweberei, ſondern an die Wiedererweckung einftmaliger deutſcher Volkskunſt,
die wir heut ja nur noch in Muſeen vorfinden. Auf der Leipziger Meſſe, auf landwirtſchaftlichen
Ausſtellungen, auf der Oresden er Textilſchau nahmen die künftlerifchen Erzeugniſſe deutſchen
Frauen fleißes eine hervorragende Stellung ein. Man wolle dieſe Betätigungen nicht unter-
ſchätzen! Auch Gandhi, der indiſche Freiheitskämpfer, hat das Handweben als Mittel gegen die
Untultur der Fabrikware auf feine Fahne geſchrieben. Denn es iſt wohl geeignet, das nationale
Selbſtbewußtſein und die nationale Wirtſchaft zu ſtärken.
Dr. Alfred Seeliger
© F one alle
Die hier „ dem TR Meingsanstauf dienenden ae
ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers
Zur Alkoholfrage
Vorbemerkung. Es gibt einige Gebiete, denen der beſonnene Menſch in der öffentlichen
Erörterung auszuweichen pflegt, weil eine ſachliche Erörterung ſchlechthin unmöglich ſcheint.
Dazu gehören z. B. der Spiritismus nebſt Theoſophie und Anthropoſophie, der Antiſemitismus
und — last not least — die Alkoholfrag e. Wir haben dieſe letztere Frage gelegentlich im „Zür-
mer“ nur geſtreift; aber eine Bemerkung von Frau Toni Harten-Hoende im Septemberheft
(über „Amerika Unfug“, wobei das Alkoholverbot berührt wurde) hat einige Männer auf den
Plan gerufen, die auf dieſem Gebiete kampfgeüͤbt find. Wir geben ihnen im folgenden das Wort.
O. T.
L
Iſerlohn in Weſtf., 11. 10. 1925.
3 Lieber Tuüͤrmer!
m Septemberheft bringſt Du in der Abteilung „Auf der Warte“ S. 567 einen Artikel von
Toni Harten-Hoencke „Amerika-Unfug“.
Ich bin ſeit Jahren Leſer des Türmers, auch ſchon vor dem Kriege. Mit dieſem Artikel begibt
ſich, ſoweit ich das überſchaue, der TZürmer zum erſtenmal auf den Kampfplatz der fog. „Alkohol-
frage“. Der Kampf der Tatſachen wie der Meinungen wogt aber noch auf und nieder. Ich, der
ich feit 20 Jahren in dieſem Kampfe mit offenem Blick für beide Seiten ſtehe, auch die Kampf-
methoden kenne, legte die bisherige Schweigſamkeit des „Türmers“ ihm als kluge Zurückhaltung
aus. [Gang richtig! O. T.] Und das wäre wohl gut, ja ein haltbarer und verſtändlicher Zuſtand
geweſen, wenn man weiß, wie ſchwer es für vielbeſchäftigte Schriftleiter iſt, ſich ein objektives
Bild in dieſer Frage zu verſchaffen.
Nun iſt aber beſagter September - Artikel einſeitig gefärbt. Wäre es da nicht eine Forderung
der Billigkeit, wenn jetzt auch die andere Seite im „Türmer“ zu Worte käme?! Sollten jedoch
dazu Bedenken beſtehen, dann bringe der „Türmer“ wenigſtens Hinweiſe auf ſachliche Schriften,
wovon ich ihm zwei Stücke beilege und ſeiner Bücherei ſchenke: Dr. Hans Boguſat, Das Alkohol-
verbot in den Vereinigten Staaten, Berlin 1924, C. A. Schwetſchke & Sohn: Prof. Dr. Kraepelin,
Alkohol und Tagespreſſe, Berlin 1923, Verlag Jul. Springer.
Der Türmer frage doch bei ſeinem Herausgeber an, wie vergleichsweiſe auf dem Kampf-
platz „Elſäſſiſche Frage“ vor dem Kriege Kämpen erſchienen, die mit unlauteren Mitteln kämpften,
die wiſſentlich oder ſelbſt irregeführt die Luft vergifteten und ſo dazu beitrugen, daß die Frage
eher verwirrt als geklärt wurde. Ich ſelbſt bin dreißig Jahre im Elſaß geweſen, din aus dem
ſchönen mir zur Heimat gewordenen Lande vertrieben und bin unterrichtet.
In ähnlicher Weiſe kämpft ſeit jeher das Alkoholkapital. (Vgl. anl. Schrift von Univ.-Prof.
Kraepelin „Alkohol und Tagespreſſe“, S. 12. Vgl. auch die auf Tatſachen beruhende prächtige
Schilderung der Sitzung der Brauer und Brenner in Poperts „Helmut Harringa“, Verlag Ale-
xander Köhler-Leipzig, herausg. vom Dürerbund!)
Dak in U.-G.-Amerita leider gerade Deutſche wie deutſche Abkömmlinge neben anderen Aus-
ländern und ſonſtigen Geſetzesübertretern das Verbotsgeſetz bekämpfen, ijt für uns beſchämend.
Das Latfadhen- und Stimmenmaterial der Verfaſſerin kann ich nicht nachprüfen, aber vergleiche,
lieber „Türmer“, dazu das anliegende auf amtlichem Material fußende Schriftchen von Ober-
regierungsrat Dr. 9. Boguſat vom Keichsgeſundheitsamt (bitte S. 3 ſehr beachten . Es heißt
Gur Alkehotfrage 333
da: Die Frage nach den Wirkungen des Verbots wird noch heute in der (amerilaniſchen) Cages-
preſſe ſehr oft, zumeiſt in einfeitiger, vielfach leibenſchaftlicher Parteinahme für oder gegen die
Prohibition erörtert.
Die übrige ſo reichhaltige Literatur der alkoholgegneriſch eingeſtellten Forſcher und Führer in
der deutſchen Enthaltſamkeitsarbeit kannſt Ou ftets erfahren von der Reichs hauptſtelle gegen den
Alkoholismus, Prof. Dr. h. c. Gonfer, Berlin-Dahlem, Werderſtr. 16.
| G. Wolff.
II.
Iſt das amerikaniſche Alkoholverbot wirklich ein Unfug?
Dr. R. Hercob, Direktor des Internationalen Büros zur Bekämpfung des Alkoholismus in
Lauſ anne, bittet uns um Aufnahme der folgenden Entgegnung:
Frau Toni Harten-Hoende veröffentlicht in Ihrer Zeitſchrift eine ſehr ſtrenge Verurteilung
des amerikaniſchen Alkoholverbotes. Es fei mir erlaubt, darauf einige Morte zu erwidern, wobei
ich betone, daß ich keineswegs ein Anhänger des Verbotes um jeden Preis bin, ſondern mich
ehrlich bemühe, mir mit Hilfe guverlafjiger Statiſtiken und der in mehreren Reijen in den Verei-
nigten Staaten geſammelten Beobachtungen ein unparteiiſches Urteil zu bilden.
Frau T. H.-H. ſtößt ſich an einem in einer Tageszeitung veröffentlichten Satz, „der kluge
Amerikaner habe in etwa hundertjähriger Erziehungsarbeit fein Volk zu dieſer moraliſchen
Selbſtüberwindung herangezogen“.
Wenn damit gemeint wird, die Amerikaner ſeien ein engelbaftes Volk, wie Frau T. H.-H.
ironiſch bemerkt, grenzt naturlich eine ſolche Beurteilung an das Lächerliche. Tatſache aber iſt,
daß der Kampf gegen den Alkohol feit mehr als hundert Jahren in den Vereinigten Staaten
planmäßig geführt wird, daß zuerſt Tauſende von Ortſchaften den Alkoholverkauf verboten
haben, dann eine Reihe von Staaten, und zwar in den meiſten Fällen infolge einer Voltsabftim-
mung, und endlich kam das vom Kongreß in Waſhington angenommene, von den geſetzgebenden
Körperſchaften in 46 Staaten beftätigte Landesverbot. Dies zeugt zweifelsohne dafür, daß die
Amerikaner ſich der Gefahren der Trunkſucht bewußt und bereit find, zu den radikalſten Mit-
teln zu greifen, um das Übel zu befeitigen.
Nach Frau T. H.-H. war vor dem Verbot das amerikaniſche Volk auf dem beften Wege dazu,
die goldene Mäßigkeit zu erreichen. Ich hatte die Gelegenheit, während einer Studienreiſe in
Amerika im Jahre 1914 bie damaligen Trinkſitten in mehreren Großſtädten, Neupork, Chicago,
Philadelphia, Baltimore zu beobachten, und es iſt mir im Gegenteil aufgefallen, daß das Trinken
in den „Saloons“ der Arbeiterbevölkerung, ſowie in den Bars der großen Gaſthöfe die wider-
lichſten Formen annahm. Oer Durchſchnitts amerikaner iſt nicht der Menſch des goldenen Mittels,
er liebt die Extreme; entweder betrinkt er ſich oder verzichtet ganz auf die alkoholiſchen Getränke.
Was lehrt uns nun die amtliche Statiftik, die doch zuperläſſiger iſt als die Außerungen
einiger vielleicht parteiiſchen Perſönlichkeiten, über die Folgen des Verbotes?
Das Verhältnis der Todesfälle infolge von Alkoholismus war für die letzten Jahre dies:
Alkoholismus Todesfälle auf je 100 000 Einwohner:
1914: 4,9 1916: 5,8 1918: 2,7 1920: 1,0 1922: 2,6
1915: 4,4 1917: 5,2 1919: 1,6 1921: 1,8 1923: 3,6
Lehrreich ift die Statiftit der Todesfälle infolge Leberzirrhoſe (= Schrumpfung), einer
ſpezifiſch alloholiſchen Krankheit:
Todesfälle infolge Zirrhoſe für je 100 000 Einwohner:
1914: 13,0 1916: 12,3 1918: 9,3 1920: 7,1 1922: 7,5
1915: 12,6 1917: 11,4 1919: 7,9 1921: 7,4 1923: 7,2
Die Kurve der Erſtaufnahmen wegen Alkoholismus in den Srrenanftalten des
Staates Neupork gibt folgendes Bild: In den Jahren 1909— 1913 bleibt die Kurve faſt auf
354 Zur Alto hol frage
gleicher Höhe (ungefähr 10% der Aufnahmen), dann kleine Abnahme der Fälle für 1914—1916,
dann wieder eine Zunahme im Jahre 1917, und ſchließlich ſeit der Einführung des Verbotes
eine deutliche Abnahme, fo daß im Jahre 1924 der Prozentſatz der Alkoholiker unter den Erft-
aufgenommenen nur noch 5,4 beträgt. Es muß hier bemerkt werden, daß die Ergebniſſe der zwei
letzten Jahre nicht fo günitig find, wie in den erſten Verbotsjahren.
Sehen wir uns einmal die Verbrechenſtatiſtik, und zwar für den Staat Neunort an (der
Kürze wegen vergleiche ich nur die zwei Jahre 1914 und 1925, das letzte Jahr, für das amtliche
Statiftiten vorliegen):
Geſamtaufnahmen wegen Betrunkenheit
Männer Frauen Männer Frauen
1914: 155 981 22 697 28 189 5945|
1923: 82642 8 870 10 249 ; 912
Dabei darf man nicht vergeſſen, daß die Bevölkerung in dieſem Zeitraum um 10 Prozent
zugenommen hat.
Es ließen ſich aus anderen Staaten der Union ähnliche Zahlen mitteilen: fie zeigen deutlich,
daß das Verbot günftige Folgen auf mehreren Gebieten des ſozialen Lebens hatte, obgleich nicht
fo günjtige, wie viele fie erwartet hatten. Man kann auch daraus ſehen, daß wohl infolge des
beſſer organiſierten Schmuggels und der Geheimherſtellung von Alkohol die Ergebnijfe in den
zwei letzten Jahren ſchlechter ſind als während der erſten Verbotzeit.
Was die „Korruption“ anbetrifft, die jetzt das ganze amerikaniſche Leben beherrſchen ſoll, ſo
leugnet niemand, daß viele ſolche Fälle tatſächlich vorgekommen find; es ſcheint übrigens, daß
wir auch in Europa ſolche Beſtechungsfälle uff. zur Genüge kennen. Es iſt aber unzuläſſig, zu
verallgemeinern und zu vergeſſen, daß in Amerika wie bei uns die Mehrheit der Beamten un-
beſtechlich find, daß namentlich die Bundesverwaltung mit einem alle Achtung verdienenden
Eifer gegen die Mißbräuche kämpft. Es ift auch Eprenpflicht, zu geſtehen, daß fie ſchon bedeutende
Siege gewinnen konnte, namentlich in ihrem Kampfe gegen den Schmuggel: die berühmte Rum
flotte, die vor Neuyork und Boſton kreuzte, iſt faſt ganz verſchwunden, und die profitgierigen
Großſchmuggler aus Europa die gehofft hatten, ſehr bald Millionäre zu werden, ſind nun bankrott.
Nach meiner Meinung iſt es noch zu früh, um ſich endgültig über das Verbot zu äußern: ein
ſolches Experiment kann erſt nach 15 oder 20 Jahren vollſtändig gewürdigt werden.
Dr. R. Hercod
III.
Blan, Poft Paternion in Oberkärnten,
an Martin Luthers Geburtstag 1925.
Vorgeſtern, am 8. November, fand hier in unſerem Bergdorf auf 800 m Höhe die Gründung
einer Ortsgruppe der Deutſchen Gemeinſchaft für alkoholfreie Kultur ſtatt. Dabei teilte ich den
verſammelten Einheimiſchen und Auswärtigen mit, daß der „Türmer“ in feiner September
nummer 1925 „Auf der Warte“ einen Beitrag von Toni Harten-Hoende „Amerika-Unfug“ ge-
bracht hat, in dem offenſichtlich tendenziöfe und vom Alkoholkapital merkbar beeinflußte (2 O. C.)
Nachrichten über die ungünſtigen Wirkungen des amerikaniſchen Alkoholverbots sufammen-
geſtellt werden, deren Weitergabe im „Türmer“ jedenfalls den Zweck haben ſoll, die Prohibition
nach Moglichkeit herabzuſetzen und, wie am Schluß durchſchimmert, einem Alkoholverbot in
deutſchen Landen entgegenzuwirken (? O. T.). Da anzunehmen iſt, daß durch die Abftinenz-
bewegung jeder Gebildete wenigſtens einigermaßen über die verheerenden Wirkungen des
Alkohols in unſerem Volksleben aufgeklärt iſt, iſt jedes weitere Wort über dieſes Vorgehen Toni
Harten-Hoentes überflüffig. Der ganze Gau Kärnten der Deutſchen Gemeinſchaft für alkohol
freie Kultur hat mich aber durch feinen Obmann erſucht, dem „Türmer“ darüber zu ſchreiben,
und ſo ſchreibe ich denn:
Hur Altoholfeoge 335
1. Es iſt unbegreiflich, wie der „Türmer“ in ſeiner Septembernummer nicht etwa in der
„Offenen Halle“, fondern in einem Teil, den er ſelbſt verantwortet, dem „Amerika-Anfug“
Raum geben kann, in der Oktobernummer aber unter derſelben Rubrik einen fo trefflichen Bei-
trag gegen den Alkohol bringt „Das kleine Glas“. Darin liegt ein Widerſpruch, den ſich der
„Tuͤrmer“ in einer der lebenswichtigſten Fragen des deutſchen Volkes nicht zuſchulden kommen
laſſen ſollte. (Nein, darin ſehen Sie unſere Unbefangenheit und Undogmatik! Denn über die
Schädigungen des Alkohol⸗Mißbrauches find wir alle einig, nicht jedoch über das Mittel, die
„Prohibition“. Gegen dieſe wandte ſich Frau Harten-Hoencke. D. T.)
2. Wir bitten den „Türmer“, wenn er wirklich für die innere Erneuerung Oeutſchlands ein;
treten will, keinen Beiträgen, die ſich gegen die Bekämpfung des Alkohols richten, mehr Raum
zu geben in feinen Spalten. Unter den zahlreichen Gluͤckwunſchſchreiben, die wir zur Gründung
unſerer Ortsgruppe bekommen haben, waren zwei Spruchkarten mit Verſen Friedrich Lien-
hards aus der Reihe „Oeutſche Innerlichkeit“. Wir glaubten annehmen zu dürfen, daß Sie auf
unſerer Seite ſtehen und N in dieſem Glauben nicht durch die Haltung Ihrer Zeitſchrift
enttauſcht werden.
Mit deutid-evangelifhem Gruß
Hans Kirchmayr, Pfarrer
(NB. Berehrter Herr Pfarrer, laſſen Sie ſich folgendes erwidern: Wir achten jede Überzeugung,
die auf Grund von Renntniffen und eigenen Beobachtungen gewonnen iſt. Frau Harten-Hoende,
die Gattin des Profeſſors Dr. Schönemann, war eine ganze Reihe von Jahren in Amerika
und hat die dortigen Dinge perſönlich beobachtet. Sie iſt ſeit Jahren unſre Mitarbeiterin;
wir glauben ihre Überzeugung ebenſo achten zu müſſen wie die Zhrige. Genau genommen
hätten wir ja als Schriftleitung eine einſchränkende Bemerkung beifügen können; aber das
, wollten wir nicht; denn unfre Lefer find hoffentlich reif genug, ſelbſtändig zu den einzelnen Bei-
traͤgen Stellung zu nehmen. Die geſetzmäßige „Prohibition“ iſt in der Tat ein noch umſtrittenes
Mittel, auf ein Volk einzuwirken. Im übrigen erſehen Sie aus dieſem Sprechſaal der „Offenen
Halle“, daß wir reichlich auch die andre Seite zu Worte kommen laſſen. D. T.)
IV.
„Hinein in das Reſtaurant“ —?
Geſtatten Sie, lieber „Türmer“, auch mir ein Wort zur Alkoholfrage!
Mit dem obigen Wed- und Hilferuf ſoll das deutſche Volk von den deutſchen Gaſtwirten und
am Weinbau intereſſierten Rreijen in einem umfaſſenden, großzügig gedachten Verbefeldzug
aus der Gleichgültigkeit geriſſen werden, mit der es bisher am — Wirts haus vorüber ging!
So lautete eine Mitteilung und Ankündigung, die auf dem neulich in Harz tagenden Harzer
Hotelinduſtriellen Verbande“ von dem Redakteur der Zeitſchrift des Reichs verbandes gemacht
wurde. Jeder Gaſtwirt wurde aufgefordert, dieſe Werbung nachdrüͤcklichſt durch Verteilung von
Poſtkarten, Werbeblättern uſw. zu unterſtützen.
Uns ſcheint, als ob die Nachkriegszeit, die ja allerhand ſeltſame Ausgeburten der Phantaſie
gezeitigt und die der Entwicklung des Bar-, Café- und Dielen betriebes recht günſtig war, hier
etwas ſehr Abwegiges zuſtande gebracht hat. Unfer verarmtes, wirtſchaftlich geſchwächtes Volk,
deſſen Familienſinn erſt langſam wieder zu erwachen beginnt — der zu früh verſtorbene
„Türmer“ Schriftleiter Rarl Storck hat ein fo prächtiges Buch „Die deutſche Familie“ ge-
ſchrieben, das ich bei dieſer Gelegenheit nachdrücklichſt in Erinnerung rufe —, deſſen Jugend
allmählich wieder zurüdfindet zum Elternhaus: unſer Volk ſoll nun mit allen Mitteln der Re-
klametrommel auf die Segnungen des Gaſthofes und die Vorzüge des deutſchen Weins hin;
geſtoßen werden! Wir wiſſen ein gutes Glas Wein zu ſchätzen, mag er nun vom Rhein, von der
Mofel, aus der Pfalz, aus dem ſchönen Maintal ſtammen; wir verſtehen auch, wenn der deutſche
336 Zur Altobholfeace
Weinbauer und der deutſche Weinhandel die Aufmerkſamkeit auf die Vorzüge und die Werte
des deutſchen Erzeugniſſes lenkt: aber eine derartige Werbung unter dem Motto: „Hinein in
die Reſtaurants“ zu veranſtalten, ift nicht nur reichlich ungeſchickt, ſondern für unfer ſchwer be-
drängtes Volk geradezu unge hörig und un würdig in höchſtem Maße. Wer eine Gaftſtätte
braucht, wird fie zu finden wiſſen, die beſonderen Vorzüge des einen oder anderen Gaſthofes
oder Rurortes hervorzuheben, mag der jeweiligen Propaganda vorbehalten bleiben. Eine
Sammelwerbung aber in obigem Sinne iſt entſchleden zu verurteilen, iſt geſchmacklos und
unmoraliſch. Vielleicht genügt dieſer Hinweis, um den Übereifer eines allzu rührigen Werbe-
fachmannes zu dämpfen oder in beſſere Formen zu lenken. F. O.
V.
Alkoholverbot in Amerika und in der Türkei
Das „fünfjährige Jubiläum“ der Trockenlegung Nordamerikas iſt in den deutſchen Zeitungen
und Zeitſchriften gebührend beachtet worden. Gar mancher Bericht von ſolchen, die was davon
wiſſen muͤſſen“, nämlich von Berichterſtattern aus den Vereinigten Staaten war zu finden.
Wer aufmerkſam und kritiſch zu leſen verſteht, wird bei den faſt durchgehend ablehnenden, dem
Enthaltſamkeitsgeſetz feindlich geſinnten Aufſätzen einen inneren Widerſpruch gefunden haben.
Man mußte den Eindruck gewinnen, als fei eigentlich der weit überwiegende Teil des ameri-
kaniſchen Volkes Gegner des Alkoholverbotes, und als fei diefer durch die kleine Minderheit
vergewaltigt worden. Wie ſtimmt denn das zu der fo ũberlaut geprieſenen vorbildlichen Oemo⸗
kratie Amerikas, wo das „freie Volk“ ſich ſelbſt regiert? Wurde man erſt einmal ſtutzig beim
Leſen dieſer Berichte über den Wert und die Wirkung des umſtrittenen Geſetzes, ſo konnte man
vor allem zwei wichtige Ertenntnifje zwiſchen den Zeilen entnehmen:
Zum erſten, daß der Widerſtand gegen die Trockenlegung aus den Großſtädten kommt; und
daß die Bewohner des flachen Landes die eigentlichen Enthaltſamen ſind. Auffällig war mir,
daß auf die Landbevölkerung in Amerita von den Großſtädtern ſcheinbar noch verächtlichet
herabgeſehen wird als bei uns, und daß die großſtädtiſche Preſſe ihren Vert ftark zu überſchätzen
ſcheint.
Zum andern iſt bemerkenswert, daß dieſe Berichte für unſere deutſchen Zeitungen alle von
deutſchſtämmigen Amerikanern kommen. Die Oeutſchen find diejenigen, die am ftärkften dem
Alko holgenuß anhängen. Eine Tatſache, die ich im Ausland oft beobachtet habe.
Was aber beſonders hervorgehoben und entſchieden abgelehnt werden muß, das ift die Tat-
fade, daß alle dieſe Jubiläumsartikel dazu dienen fellten, auf Grund der fünfjährigen G-
fahrungen kritiſche Urteile über die Wirkung nach der guten oder ſchlechten Seite des Raufd-
geträntverbots zu fällen. Gegen ſolche Oberflächlichkeit ſollte man ſich entſchieden wehren. Es
iſt doch ganz klar, daß die Generation, zu deren Lebensgewohnheiten der Alkoholgenuß gehöoͤtt,
ſich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zur Wehr ſetzen wird gegen einen ſtaatlichen
Zwang, den fie nicht nur als überflüffig und ſchädlich, ſondern auch als einen dem Staat nicht
zuſtehenden Eingriff in ihre perſönlichen Rechte empfindet. Erſt das nachfolgende Geſchlecht,
das auf alle Fälle zu überwiegendem Teile nicht mehr gewohnheitsmäßig Rauſchgetränke zu
ſich nehmen wird, kann eine neue alkoholfreie Lebensform ſchaffen; und erſt an der Abernadften
Generation wird man die erſten Wirkungen feſtſtellen können.
Will man wirklich aus den Erfahrungen anderer Völker lernen, dann verſtehe ich nicht, warum
man nicht das tuͤrkiſche Volk als Muſter nimmt, bei dem eine jahrhundertelange Enthaltſamkeit
ſich im Volksleben und Volkscharakter voll und ganz hat auswirken können.
Nach meinen langjährigen ernſten Beobachtungen des türkiſchen Volkes habe ich die Uber
zeugung gewonnen, daß die wundervolle feine Kultur des Alttürkentums, die ſich nicht nut
in der Sachkultur darſtellt, ſondern auch in manchen Zügen der Menſchen, wie z. B. in det
gur Altcholfrage 3357
überrafhend hohen Würde auch der einfachen Menſchen, unbedingt der Enthaltſamkeit von
Rauſchgetranken zuzuſchreiben iſt.
Es lag naturlich für mich nahe, die Türkei und Amerika nebeneinanderzuſtellen, und zu ver-
ſuchen, aus den Verſchiedenheiten der Wirkung des gleichen Verbotes dem ganzen Alkoholſtreit
tiefer auf den Grund zu kommen. Und ich glaube, auf dieſem Wege wirklich den tieferen Sinn
der Streitfrage erkannt zu haben.
Für den Türken bedeutet das Gläschen Schnaps, das er trinkt, eine Sünde; denn feine
Religion, der Iſlam, verbietet es ihm. Das iſt etwas im Wefen anderes, als wenn der Ameri-
toner ein Gläschen Schnaps trinkt; denn er übertritt dabei nur eine ſtaatliche Verordnung, die
er zudem innerlich nicht anerkennt, ſondern fie als eine „Vergewaltigung feiner Rechte“ emp-
findet. Für den Türken hat das Verbot: Ou ſollſt kein Raufchgetränt an deine Lippen führen!
göttliche Autorität. Die Autorität für das amerikaniſche Geſetz iſt ein — Parlament, das der
Betroffene ſelbſt gewählt hat, und das er im Prinzip wieder abſetzen kann, wenn deſſen Geſetze
ihm nicht paſſen. Mit andern Worten: dieſem Geſetze fehlt überhaupt die Autorität. Und darum
bat das Geſetz eines demokratiſchen Staates keine ſittlich bindende Rraft, wie wir in der Tat
ſehen. In der Türkei iſt die ganze weltliche (ſtaatliche) Ordnung auf religiöfem Grund erbaut
und braucht darum nicht einmal die dußere Stütze der Autokratie, die ihr bislang auch noch zur
Verfügung ſtand. (Dak die verblendeten modernen „Reformer“ der Türkei im vorigen Zahre
durch die unglüdfelige Abſchaffung des Kalifats ihrer Rultur den Boden unter den Füßen weg-
gezogen haben, mag nur nebenbei mit Bedauern erwähnt werden.)
Nach dieſem Vergleich der verſchiedenen Verhältniſſe in der Türkei und in Amerika ergibt ſich
der ernſte Schluß: daß die Enthaltſamkeitsbewegung trotz ihrer Fortſchritte und ſcheinbaren Er-
folge nie ſiegen wird, ſolange fie nicht religiös fo verankert iſt, daß ihre Forderung als ſittlich
verpflichtendes Gebot in jedein Einzelmenſchen befeſtigt iſt.
Bedeutet das dann die Unmöglichkeit des endlichen Sieges überhaupt, da unſere Religion
doch das Verbot der Raufchgetränte nicht kennt?
Goethe wußte das beſſer. Er konnte auch ſolche Forderung religiös begründen aus dem
Ehriftentum. In „Wilhelm Meiſters Wanderjahren“, jenem Buch voll Goetheſcher Lebens-
weisheit, das unſerm Volk ein Buch mit ſieben Siegeln zu fein ſcheint, wird uns eine vorbild-
liche Neuſiedlung gezeigt. Ein deutſcher Volksteil wandert aus nach Amerika. Nicht planlos und
einzeln wie heute noch zu großem Teil, ſondern geſchloſſen und gründlich vorbereitet. Damit
fie drüben gleich einen Muſterſtaat bilden können, iſt von den Führern auch die zukünftige Ver-
faſſung des neuen Staates bedacht und eingehend feſtgelegt. (An anderer Stelle halte ich unſern
Verfaſſunggebern ven 1918 vor, daß fie ſich nicht einmal die Mühe gemacht haben, Goethes
Verfaſſungsentwurf zu ſtudieren, obgleich fie doch den „Geiſt von Weimar“ in unſerer neuen
Verfaſſung lebendig machen wollten !) In dem Goetheſchen Verfaſſungsentwurf ſteht der Satz:
Branntweinſchenken werden bei uns nicht geduldet! Woher nehmen die Führer die
Autorität, fo zu ſprechen? Werden die Mitglieder des neuen Staates darin auch nur menſch-
lichen Willen oder Eigenfinn ihrer Führer fehen wie die heutigen Amerikaner in dem befehdeten
Geſetz? O nein, die Führer, die jene Verfaſſung in den „Wanderjahren“ aufſtellten, waren ſich
darüber klar, daß jede ſtaatliche Ordnung gegründet fein müffe auf: „Religion und Sitte“.
Dies ſind die beiden Grundpfeiler ihrer Verfaſſung.
Und ihr Gedankengang geht weiter: von allen Religionen kommt nur die chriſtliche als die
bidfte in Frage.
giernach muß ſich alſo nach Goethes Meinung aus der chriſtlichen Religion das Verbot der
Branntweinſchenken herleiten laſſen? Wer die „Wanderjahre“ auch nur oberflechlich kennt,
der weiß, daß Goethe gerade hier über Religion mehr ausſagt als an einer andern Stelle ſeines
Sefamtwerts. Ex bekennt ſich zur Religion der drei Chrfurdten: der Ehrfurcht vor dem, was
über ums iſt, vor dem, was unter uns ift, und zur Ehrfurcht vor uns ſelbſt. Und dieſe Ehrfurcht
338 Zur Altoholftage
vor uns felbft ſchließt doch in fich das Gebot der Ehrfurcht vor unſerm Rörper, den wir gefund
und rein zu halten und über den wir uns ſtets die Herrſchaft zu erhalten haben, um unſete
Menſchenwüͤͤrde zu wahren.
Darin löſt ſich auch der endloſe Streit um die Frage: Mäßigkeit oder volle Enthaltſamkeit?
Aus göttlihem Gebot der Ehrfurcht vor mir ſelbſt, wie ich es mit Goethe aus der chriſtlichen
Religion herleite, bekenne ich für mich verpflichtend das Gebot: Du ſollſt Ehrfurcht haben vor
deinem Korper!
Das zwingt mich zwar nicht, wie den Mohammedaner ſeine Religion, zu voller Enthaltſamkeit,
ſondern läßt mir durchaus die Freiheit, mäßig im Genuß von Raufchgetränten zu bleiben. Und
dieſe Freiheit kann ich, wenn ich will, benutzen zugunſten einer ganz alkoholfreien Lebensform,
deren ſegensreiche ſittliche Wirkungen auf die Volkskultur ich bei den Türken beobachtet habe.
So bleibt mir als Chriften hier wie immer die Freiheit des Handelns innerhalb der göttlichen
Geſetze.
Und das iſt für mich eine reſtloſe Loͤſung der „Alkoholfrage“.
Georg Kleibömer
LTitoratur,
2
Der Dichter Erwin Guido Kolbenheyer |
ieh um bid, mein Bafil, und du wirft finden: wenig fein, fo im eignen Odem leben,
fo mit eignen Sinnen die Welt umfahen, fo ein Herz in der Bruſt tragen, ſtark und voll
Eigentum. Sie ſchielen alle fürjichtig zur Seit, ſcharen ſich, fluſtern einer dem andern ein lauſigs
Wohlgefallen zu, auf daß der ander ihnen mit gleichem Bettel das Gewiſſen krauele. Da tritt
einer unter ſie, kunnſt nit ſagen, was an ihm ſeie, daß er andre Schritt, andre Blick, andre Wort
mit ſich führe — trägt dieſelben Lederſoblen an den Füßen, hat auch nur Menſchenaugen und
führt nur Menſchenwort. Allein er iſt wie ein Wein, von dem ein Schmack aushauchet, lebens-
voll und gewaltig, daß eines jeden Nüftern beben, eines jeden Bruſt ſchwillt. Er läßt die Augen
aufleuchten und den Mündern gibt er das Gewißheitslächeln. Bafil, der iſt ein Zauberer, ein
Herenmeifter, aber kein unheiliger — er iſt ein Eigener, ein Sohn Gottes und nit fein Affe.
Er hat an den Quellen der Menſchwerdung getrunken als der Heiland. Alle Herzen rings um
ihn ſchlagen nach ſeines Herzens Schlag, ſei's in Zorn und Freuden, ſei's in Haß und Liebe,
das iſt gleich — ſie müſſend ſich alſo drein ſchicken. Die Verzagten werden kühn unter ſeinem
Blick und die Feigen entbrennen nach Mannestat. Er formt fie alle, ohnbewußt, aber unent-
rinnbar. Als Gott das irden Kloß formet und ihm ſein Odem einblus, allſo füllet er ſie mit
eim höhern Leben. Sieh um dich, mein Baſil, und ſo du einen Eigenen gewahrſt, freue dich
deines Augenlichts, dann du erſchauſt den Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Aus Kolben-
heyers „Meiſter Joachim Pauſewang“.)
Solch ein Einſamer, Stolzer, Starker, Lebensvoller und Eigener, der vom Atem Gottes
angehaucht und nun von ewigem Unfrieden verzehrt iſt, ſein Selbſt zu ſchauen, ſolch ein Zauberer,
der alle, die noch der Erhebung und Eyrfurcht fähig find, mit ſich zu reißen verſteht in feine
eigene „Gottesverſtricktheit“, in feinen eigenen „Sehnſuchtstraum“, fold ein Führer zur Wahr-
heit, Schönheit und edlen Menſchlichkeit iſt der raſtlos nach Vollendung ſtrebende Dichter Erwin
Guido Kolbenbepyer.
Der Künftler entſtammt einem alten deutſchen Geſchlecht, das zuletzt in heißumſtrittenen
deutſchen Grenzlanden nachweisbar iſt und das ihm als Erbe hinterließ ein ſtarkes männlidy”
deutſches Empfinden, frei von engſtirnigem Kantönlitum. Sein Urgroßvater war Fabrikant
im öſterreich- ſchleſiſchen Bielitz, fein Großvater evangeliſcher Pfarrer zu Odenburg in Ungarn,
ſein Vater endlich wirkte als hochbegabter Architekt zu Budapeſt, wo er die größeren Bauten
des ungariſchen Unterrichtsminiſteriums auszuführen hatte. Dort ward Erwin Kolbenheyer
am 30. Dezember 1878 geboren. Mit Recht aber nehmen ihn die Deutſchböhmen als ihren
größten Dichter für ſich in Anſpruch, denn nach dem vorzeitigen Tode des Vaters zog die Mutter
mit dem erſt zweijährigen Kinde in ihre böhmiſche Heimat, und Erwin Kolbenheyer ver-
lebte feine Kindheit und Jugend zu Karlsbad und Eger. Auf der Univerfität Wien erwarb
er ſich mit einer Arbeit aus der experimentellen Pſychologie die Würbe eines philoſophiſchen
Doktors. Dann lebte er bis zum Weltkrieg als freier Schriftſteller in der öſterreichiſchen
Hauptitadt. 1903 erſchien fein erſtes größeres Werk: die Tragödie der Renaiffance „Gior-
dano Bruno“. Darauf aber widmete er ſich ganz dem Roman und geſchichtlichen und philo-
ſophiſchen Studien. Nach dem Kriege, den er als Etappenoffizier mitmachte, ſiedelte er (1919)
nach Tübingen über.
340 Der Dichter Erwin Guido Roldenhepe
„Ich habe mein Geſamtwerk,“ jo führte der Dichter kürzlich aus (Hannoverſcher Kurier,
vem 1. Januar 1925), „nach drei Richtungen hin auszubauen. Die eine Richtung, welche Welt⸗
anſchauung, vor allem deutſche Weltanſchauung der Vergangenheit bringt, iſt fo ziemlich aus-
gebaut. Sie greift von der Blütezeit Hollands (der E pin oza- Roman ‚Amor Dei‘) über die
Zeit des Oreißigjährigen Krieges (Jakob Böhmes Gedankenwelt in ‚Meifter Joachim
Pauſewang) zur Reformationszeit zurück (Par acelſus“ Trilogie) und wird ihren Abſchluß
in einem Werke aus der Myſtikerzeit finden müͤſſen. In dieſer Folge von Dichtungen will ich
das weltanſchauliche Erbe unſerer deutſchen Sinnesart neu beleben. Das Abſchlußwerk iſt
noch nicht geſchrieben. — Die andere Richtung meines Geſamtplanes wendet ſich Teilproblemen
der Gegenwart zu. Die Folge dieſer Dichtungen iſt noch weniger vollftändig (Montſalvaſch',
„Ahalibama“, „Klein-Rega', ‚Drei Legenden). Ein Sammelband ‚Gedichte‘ gehört in
dieſe Reihe. Er iſt faſt abgeſchloſſen ...“ Soeben iff ein Werk erſchienen, „das die dritte Seite
meines Geſamtplanes vertreten wird: ‚Die Bauhütte, Elemente einer Metaphpſit der
Gegenwart‘. Oeutſche Weltanſchauung der Vergangenheit und weltanſchauliche Gegenwarts-
fragen in Einzeldarſtellungen können in dichteriſcher Form wirkſam vorgetragen werden, der
Weg zu einer Metapbyſik aber, die Ziel und Richtung des geſamten Anpaſſungskampfes bezeid-
net, in dem die weiße Menſchheit heute ſteht — dieſer Weg kann mit den Oarſtellungs mitteln
der Poeſie nicht eröffnet werden, denn er weiſt in die Zukunft. Vorerſt müffen Elemente eines
ſolchen zukünftigen metaphyſiſchen E yftems neu erſtellt fein. Wir beſitzen heute kein weltanfchau-
liches E yſtem, das genügen könnte. Wir müffen weltanſchauliche Fundamente und Richtlinien
erft wieder gewinnen. Dem foll die Bauhütte dienen.“
überſchaut man Kolbenheyers Dichtungen als Ganzes, fo erkennt man ſchon an der Über-
ſchrift feiner Hauptwerke: Giordano Bruno, Paracelfus, Jakob Böhme, Spinoza, Montſalvaſch
die Richtung feines küͤnſtleriſchen Strebens. Unabläͤſſig ſuchen ſeine Helden mit geiſtiger Leiden-
ſchaft die Gralsburg der Erkenntnis und Wahrheit. Sle alle, fo verſchieden ihr äußeres Leben
verlaufen iſt, ſtehen in naher geiftiger Berwandtſchaft zueinander. Giordano Brunos Lehre ift mit
der des Paracelſus und Spinoza verwandt, Paracelſus hinwiederum hat Jakob Böhmen ufs
ſtärlſte beeinflußt, und Ulrich Bihander, der Held des zeitgenöſſiſchen Studentenromans „Mont-
ſalvaſch“, iſt durch Epinozas Pantheismus hindurchgegangen. „Vom Adlerſchrei des Gewiſſens
geweckt“, ſind ſie alle ihren weiten einſamen Sehnſuchtsweg geſchritten, haben ſie mit heißem
Herzen ihr Selbſt, ihre Aufgabe geſucht und erkannt, unbekümmert um Neſtbehagen und Schollen
glück, jederzeit bereit, alles, auch das Leben, zu opfern für ihr Werk: „Wachſen, das iſt alles,
Sott in uns, Gott der Welten und Hmmel. Nit Werden noch Vergehen, nit Rennen noch
Ruhen, kein totes Spiel, das in ſich zurückkehrt! Wachſen — vom Yd) zum Selbſt und weiter
über dein Selbſt hinaus! Das iſt Weltleben, nur das iſt Gott!“ („Meifter Pauſewang“.) „Was
iſt das Leben eines, der unter Gottes Zeigefinger ſteht? Zeichen ſelber, Kreuz und der Gekreuzigte
daran. An einem ſolchen wird das Werk, darin die andern plätſchern, zum Schickſal, das er
mit dem Leben büßt.“ („ Paracelſus“, III. Teil.) Reines Gewiſſens nehmen fie den Kampf
auf gegen die Vielzuvielen, gegen eine in toten Formen aufgeblähte Gelehrſamkeit, gegen die
Wortſchlemmerei der Scholaſtik, bis fie gelernt haben, alles Weltgeſchehen zu beurteilen unter
dem Geſichtewinkel der Ewigkeit, bis ſie die Einheit alles Seins entdeckt, bis ſie Ruhe gefunden
haben in der Gewißheit: , Gott iſt überall, in Höhen und in Tiefen, im Kleinſten und
im Größten — die ganze Welt ein gewaltiger Leib, von Gottes Fülle durchflutet ... Urewig-
teitegefang aus allen Weſen! Steigen und Fallen, Werden und Schwinden nur die Melodie
des endloren, unſtörbaren Welteinklangs ... Wir gleichen der Knotung zahlloſer Fäden, die
von Ewigkeit her einander durchdringen und umſchlingen und nach gleichen Geſetzen in der
Zeit das Bild formen.“ („Amor Dei“.) Die ernſte Gregartigteit folder Weltauffaſſung wird
auch der willig zugeſtehen müffen, der des Lebens Ratfel im Sinne des Heilandes zu löfen
trachtet.
Der Didter Erwin Guldo Rolbenbeyer 341
Am eindrucksvollſten hat Kolbenheyer einen ſolchen von Unfrieden und Sehnſucht ſich ver-
zehtenden ruheloſen und gehetzten und doch durch ſeinen Glauben an ſein Werk gefeſtigten und
zuletzt beſeligten Menſchen verkörpert in dem Helden ſeiner gewaltigen dreiteiligen Dichtung
Paracelſus“ („Die Kindheit des Paracelſus“ (1917), „Das Geſtirn des Paracelſus“
(1922), „Das dritte Reich des Paracelſus“ (1926). Den Marterweg dieſes Lebens, wie
es dem Weiſen bei der unerwarteten Berufung an die Vajeler Hochſchule blitzartig-ſchmerzvoll
an den Augen vorbeizieht, hat der Dichter mit den Worten geſchildert: „Sein verhehlter Schmerz,
ſein bitterer Trotz loderten auf, ein kaum bezwingbares Schamgefühl überkam ihn: Montpellier,
Paris, Dangig, Wilna, Wien, Tübingen, Freiburg — überall hohmütige, höhniſche Geſichter
unter den Baretten, und überall neiderfüllte, haßkalte Blicke. Und fein Herz vor Verlangen
berſtend, ihnen mitzuteilen, was den Geiſt in Überlaft der Eckenntniſſe, Geſichte und Er-
fahrung bedrängte. Er war bettelnd von Stadt zu Stadt gewandert, daß fie ihn hörten und
in der Kunſt vom alten Wahne ließen. Er war überall geächtet worden und ſtets im Wett-
uuf der Zungen unterlegen. Nichts galt der Ruhm, den er von Krankenbetten holte, fie glaubten
ihm nicht — hätte er Tote erweckt, die glaubten ihm nicht, weil ſie nicht ſehen wollten. Und
Was ſich zu ihm hielt, das ſuchte ihn um Handgriffe zu belauern.“ Erſt am Ausklang jeiner
langen Lebens fahrt überkommt ihn heiliges Eckennen, daß er, der Anfang war einer neuen Kunſt,
als Knecht des ſchaffenden Gottes ſtändige Verkennung dulden mußte und daß dieſe Anfechtung
notwendig war zur reſtloſen Entfaltung feines Innenlebens. Auf dem eingeſunkenen Grabhügel
ſeines treuen Vaters zieht endlich heiliger Frieden in ſein ſturmerfahrenes Herz: „Da fühlte
Theophraſt von Hohenheim, daß feines Lebens Weg, den er ſtets ſehnſuchtsvoll vor ſich geſehen
hatte, von einer ſanften Hand in feine eigene Bruſt zurüdgeleitet wurde. Er, der des Wegs
gelebt, der ſich Monarcha, das iſt ein Anfang und kein Ziel, genannt hatte, wußte nun, daß
er auch End und Ziel geweſen fei, Biel aller feines Stammes, deren Element und Stern zerfallen
wf, ihrer aller letztes, äußerſtes Leben auf Erden.“ Und ein Wort des Herrn zieht ihm bei
dieſer Lebensrüdichau durch den Sinn: „Der Fuchs hat fein’ Gruben, der Vogel hat fein Neſt,
des Menſchenſohn hat nicht, wo er fein Haupt hinlege .. .“
Wie hellſichtig und genial der Dichter das Leben und die Bedeutung diefes großen Vorläufers
der modernen Medizin, Arzneilehre, Mineralogie, Chemie und Naturphiloſophie gedeutet und
geftaltet hat, das zeigt ein vergleichender Einblick in das glänzend geſchriebene Werk von Annie
Francé-Harrat „Die Tragödie des Paracelſus“. Es erſcheint uns heute möglich, ja wahr-
| ſcheinlich, daß die Geſtalt vom Dr. Fauft nichts anderes iſt als eine Zuſammenfaſſung von all
dem, was Sage und Überlieferung aus dem als Schwarzkuͤnſtler und Schwindler verſchrienen
Paracelſus gemacht haben.
Fauſtiſcher Erkenntnis trieb lebt auch in dem Helden des faſt überreih mit Gedanken befrad-
teten ſtudentiſchen Entwicklungsromans „Montſalvaſch“, einer überaus feſſelnden Erzählung
aus dem Wien der Vorkriegszeit. Der Student der Philoſophie Ulrich Vihander, der rein
und unerfahren wie Parzival die Burg des Lebens fucht, gelangt vom Wort zum Wiſſen,
„über die Perjon zur Perſönlichteit, über das ſelbſtbewußte Ich zur ſelbſtfühlenden Sehnſucht“.
urch ein ſchweres Liebesabenteuer, das ihn zeitweilig ſeiner Aufgabe zu entziehen droht,
wird fein Streben nach der Gralsburg noch vertieft, wird ihm die Gewißheit: „Die Begriffe,
nach denen ein Menſch lebt, vulgät oder nicht, find traurige Stützen. Sie gertniden unter der
ungewöhnlichen Lebenslage. Nichts Armſeligeres als ein Leben auf Begriffen. Das
. Immer und überall bleibt nur das Herz. Wer ein Herz verachtet, iſt verwirrt oder
n.“
Man ertennt ſchon aus dieſen Andeutungen, daß es in allen Dichtungen Kolbenheyers um
a Fragen, böchſte Werte geht, und fo find feine Romane kein leichter Leſeſtoff, ſondern
ungen ein williges Mitgehen und Mitarbeiten mit dem Künſtler. Dafür winkt aber auch
eicher Sewinn. Dieſer gedankenſtarke Dichter beſchenkt uns mit ſolcher Fülle prachtvoller.
342 Der Dichter Erwin Guido Ratderiheyer
kräftiger Lebensweisheit, daß man unſchwer mit Kernſprüchen feiner Dichtungen ein feines
Büchlein füllen könnte, gewiſſermaßen ein Gegenſtück zur Raaben Weisheit von Wolzogen,
wie denn Kolbenheyer in mehr als einer Hinſicht an dieſen Meiſter gemahnt. Wie dieſer liebt
er kraftvolle, herbe, beſinnliche deutſche Männer, liebe, lebenstapfere Frauen, kühne, fternen-
zugewandte Jünglinge, keuſche, liebliche Mädchen, iſt er tief eingedrungen in des deutſchen
Volkes Seele, umfaßt er in inbrünftiger Liebe und mit verſtehender Güte alle Tugenden und
Fehler feiner Deutſchen. Beſonders der „Meiſter Joachim Pauſewang iſt ſolch ein ſtilles,
feines, beſinnliches Werk, köſtlicher Erkenntniſſe voll.
Auch an den wunderlichen Käuzen der Schuſterzunft auf der Breslauer Rauffergaſſen hätte
Wilh. Raabe fein herzliches Vergnügen gehabt. Er hätte ſich aber ebenſo ergößt an dem ſtarken,
eigenwilligen Vater Pätzke Pauſewang, dem hoheitsvollen Wirte und Laienprediger von Exlau,
den die Sehnſucht nach Freiheit verzehrt, bis er fein letztes Faß mit feinen Gäften ausgetrunken
und damit ſein Erbgut verzehrt hat und nun als Landsknecht vor Paris ziehen kann, wo des
Heißblütigen Herzblut verſtrömt. Ganz Raabefd empfunden und geſchaut iſt auch der alte im
Ruheſtande lebende Finanzrat in „Montſalvaſch“, ein menſchenverachtender Philoſoph, der
jein feines und reines Herz, das er mit ſtachligen Worten fist, nur offenbart und ausftrömen
läßt in der Muſik.
Humordurchſonnt, dabei im tiefſten Grunde tragiſch, iſt im Novellenbande „Ahalibama“
die ſeeliſch feine Erzählung, die dem Werke den Titel gab. In den drei Novellen handelt es
ſich aufs neue um die Frage: Wie gelangt der Menſch in die Welt ſeines innerſten Eigentums?
Wieder iſt's ein philoſophierender Schuſter, dem der Name von Eſaus Weib, „Ahalibama“,
den Zugang eröffnet zu der Erkenntnis, daß alle Lebensäußerungen der Menſchen nichts find
wie Übertreibungen — und dabei ahnt der Gute nicht, daß er ſelbſt das Opfer ſtärkſter Über-
treibung wird! (,Abalibama, welch ein Ungetüm an Übertreibung! Was für eine Orgie an
Konſonanten und Vokalen! Was für ein Kerl muß Eſau geweſen fein, wenn er ſolch eine un-
erhörte Übertreibung ehelichen konnte, ohne daran zugrunde zu gehen.)
Die ſtarke Begabung Kolbenheyers für zeitgenöſſiſche Satire beweiſt die köſtliche Legende
vom „Klaas J, dem großen Neutralen“ (in den „Drei Legenden“), der, ein zweiter
Ehidder, wieder einmal die Welt beſucht, um der Frage nachzuſpüren: Was die Menſchen
unter Glüd verſtänden. Dabei hat er ſich dieſes Mal Deutſchland nach dem Weltkrieg ausgeſucht
und erlebt nun ſcharfen Blickes den Wahnwitz der Schieber - und Valutazeit mit, er findet
aber auch inmitten aller Raffgier einen ſchlichten Künſtler, der in der Schöpfung eines reinen
Werkes fein Glück findet und der fein entbehrungsſtarkes Weib an ſeiner hohen Stunde teil-
haben läßt.
Am ſchönſten erſchließt ſich einem das Herz des Dichters, wenn man feine mit feinſter Be-
obachtungsgabe, keuſchem Einfühlungspermögen, ehrfurchtsvollem Staunen und liebevoller
Schalkheit gezeichneten Kinderbildniſſe betrachtet. Schon „Amor Dei“, noch mehr die rei-
zende Studie „Klein-Rega“ und „Meiſter Pauſewang“ bieten Beiſpiele hierfür, am koöſt⸗
lichſten aber iſt die Entfaltung der „ſchwebenden Keime des Menſchentums“ in dem ein-
ſamen, eigenwilligen, gefühlsreifen und ſcharf ſchauenden kleinen Paracelſus zur Anſchauung
gebracht.
Alle ſeine Geſtalten aber hat der Oichter hineingeſtellt in ſtarkes geſchichtliches Geſchehen,
in große Kulturbilder, die packend geſchaut und geſtaltet ſind. Dabei kommt ihm zu Hilfe eine
ungewöhnlich ſichere Beherrſchung aller geſchichtlichen und kulturgeſchichtlichen Quellen, ſelbſt
auf recht entfernten Gebieten, wie der Alchimie und mittelalterlichen Medizin, und dieſe Quellen
find ihm nicht Prunkſtück, Zierat, Selbſtzweck, ſondern Mittel zur Belebung künſtleriſcher Kraft,
Eigenart und Anſchaulichkeit. So feſſelt ſelbſt das beſcheidene, zurüdgezogene Gelehrtenleben
Spinozas, das doch nur in ſeinem Ourchringen zur geiſtigen Unabhängigkeit, in ſeinem Streite
mit feiner Familie und feinen Raſſegenoſſen der Dramatik nicht entbehrt, indem wir das reiche,
Ser Dichter Erwin Guido foldenheper 343
meerbeherrſchende Holland mit feinen fiirftliden Kaufherren, feinen feinen Gelehrten und
Kimftlern (Rembrandt) und feinen behäbigen Bauern kennen lernen und Einblick gewinnen
in die äußeren Kämpfe um die Vorherrſchaft mit England und Frankreich, in die inneren Streitig
keiten zwiſchen Oraniern und Republikanern (Jan de Witt), Orthodoxen und Freigeiſtern.
Beſonders eingehend und farbenfroh iſt das eigentümliche Ghetto von Amſterdam geſchildert.
Sicherlich iſt es dem Dichter hier wie im erſten Teile der Paracelſustrilogie nicht immer geglückt,
das Kulturgeſchichtliche in Einklang zu bringen und zu beziehen auf ſeinen Helden, gar oft
erſcheint die Verbindung loſe und äußerlich. Am beſten iſt ſolche Forderung erfüllt im „Meiſter
Pauſewang“, in „Montſalvaſch“ und in den andern Teilen vom „Paracelſus“. Der „Meiſter
goachim Pauſewang“ bietet anziehende Bilder von einem geſuchten Gaſthofe an der „Hohen
Landſtraße“ (Leipzig Breslau) als Mittelpunkt eines armen, vom Grundherren mißhandelten
Dorfes und vom Leben und Treiben im belagerten Breslau während des Dreißigjährigen
Krieges. Im „Montſalvaſch“ ward der Gegenſatz der unheimlich haftenden, geiſtig regen Millionen;
ſtadt und den ſtilleren erinnerungsreichen Vorſtädten (Heiligenftadt!) wirkſam und lebensvoll
geſchaut. Sanz überreih an Abwechſlungsfülle aber iſt die Paracelſusdichtung. Das ruheloſe
Banderleben des Weiſen bringt es mit ſich, daß immer neue Landſchaften, Menſchen und
Begebenheiten auftauchen, jo daß wir ein vielfarbiges, kräftiges Riefengemälde dieſer regen
und erregten Zeit in unvergeßlich packender Geſtaltung empfangen.
Man hat die Darftellungstunft von Kolbenheyer naturaliſtiſch genannt, das iſt aber nicht
richtig. Sewiß beſitzt der Dichter eine ſcharfe Beobachtungsgabe, die nichts beſchönigt oder
verhüllt, aber zugleich ſpürt man doch überall den Drang und das Vermögen, die Ereigniffe
zu ſchauen von einer höheren Warte, fie zu erheben ins Allgemeine, Symboliſche, fie einzu-
ordnen ins ewige Weltgeſchehen mit der ruhigen Abgeklärtheit und Gelaſſenheit reifer Kuͤnſtler⸗
ſchaft.
Die Sprache aber ift ihm in feinen letzten großen Werken („Meiſter Pauſewanig“, „Para-
celfus“) Ausdrucksmittel höchſter Art, bald knapp, karg, klar, gedrungen und urwüchſig, fo daß
man an Oürers Holzſchnitzkunſt, an Böhles Realiſtik oder Hodlers ans Übermenſchliche ge-
ſteigerte Wildheit gemahnt wird, bald weich und reich, fließend und farbenfroh, beſinnlich und
behaglich, immer aber klanglich und rhythmiſch abgewogen, fo daß ihr voller Reiz erſt beim
lauten Vorleſen wirkſam wird. Während ber „Meifter Pauſewang“ ganz in der altertümlichen
Sprache des Dreißigjährigen Krieges erzählt, find die eingeftreuten Reden der „Paracelfus-
dichtung“ in den Mundarten der Reformationszeit geſchrieben. Aber der Dichter iſt der großen
Gefahr der Kuͤnſtelei entgangen, indem er dieſe Sprachen wirklich beherrſcht, oft fo meiſtervoll
wie ein Luther, ein Grimmelshauſen und ein Jakob Böhme, dann aber auch, weil ihm das
Zuſammenklingen von Form und Gehalt, Wort und Handlung tatſächlich gelungen iſt, fo daß
wir dieſes Kunſtmittel bald als einzig paſſendes, reizvolles Gewand empfinden. Freilich wird
dadurch der Zugang zu Kolbenheyers Werk aufs neue erſchwert — aber vielleicht iſt es gut,
daß oberflächliche Leſer abgeſchreckt werden, ein Heiligtum zu betreten, in dem ſich eine große
Küͤnſtlerſeele hüllenlos offenbart.
Es iſt erfreulich, daß gerade ein Teil unſerer reifſten Jugendbewegung in ein enges Verhältnis
zu dieſem ſtark männlichen, frommen und tiefen Oichter getreten iſt; ſie hat ſich damit einen
techten Führer zum wahren Oeutſchtum erwählt, auf den man die Worte anwenden könnte,
die der Dichter feinem Meiſter Pauſewang im Hinblick auf Jakob Böhme in den Mund legt:
Es iſt doch der deutſch Großmeiſter von der himmelstiefen Beſinnlichkeit, wurzelſtändig im
Eigentum und voll hoher Träum'.“
(Die meiſten Romane erſchienen bei Georg Müller in München, „Klein- Rega“ ift in der Samm-
lung „Der Schatzgräber“ (Nr. 92), die „Drei Legenden“ als Volksbuch der Deutſchen Oichter⸗
Sedachtnisſtiftung (Nr. 49) herausgekommen. Die Tragödie „Giordano Bruno“ (Wien, W. Stern
1903) ift ſeit Jahren vergriffen. „Die Bauhütte“ brachte Albert Langen, München, heraus.
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544 Briefe, Erinnerungen und Ledensdlider
Der Jugendbewegung ijt ein Auswahlbändchen aus Kolbenheyers Dichtungen gewidmet:
„Ein Gruß vom Wege — Eurem Weg“, im Greifenverlag Rudolſtadt, 1925. Endlich fei
auf des Dichters ausgezeichnete Überarbeitung von Grimmelshauſens „Simpliziſſimus“,
Volks verlag der Bücherfreunde 1920, hingewieſen.) Dr. Martin Treblin
Briefe, Erinnerungen und Lebensbilder
oviel man im Zuſammenhang mit der allgemeinen Wirtſchaftslage von der Not auch
des deutſchen Buches hört und weiß — die Fülle der Neuerſcheinungen an Briefen und
Dentwirdigteiten läßt nicht erkennen, daß in dieſem Bereich das Vertrauen auf die Aufnahme-
und Raufwilligteit des Publikums geringer eingeſchätzt würde. Aus faſt allen Rulturgebieten,
aus Literatur und Runſt „Wiſſenſchaft und Politik liegt eine faſt unüberfehbare Menge ſolcher
unmittelbaren Lebensurkunden vor, und wer über fie berichten will, hat Mühe, ſchon dem wirk-
lich Wertvollen gerecht zu werden.
Weit hinaus über den Kreis der zünftigen Geſchichtsforſcher verdient das Werk Aufmerkſam-
keit, das Guſtav Berthold Volz, der Herausgeber der politiſchen Rorrefpondenz Friedrichs des
Sroßen, unter dem Titel „Friedrich der Große und Wilhelmine von Bayreuth,
Zugendbriefe 1728 — 1740“ (Verlag K. F. Koehler, Leipzig) der Öffentlichkeit übergab. Aus den
vielen Hunderten von Briefen des geſchwiſterlichen Schriftwechſels wird zum erſtenmal eine
einigermaßen erſchöpfende Ausleſe geboten, die F. R. von Oppeln Bronikowski in gutes Deutfch
übertragen hat. Sowohl für die Jugend Friedrichs, für die bekanntlich die Quellen fpärlich
fließen, als für die Geſchichte der Markgräfin, deren vielberufene „Oenkwürdigleiten“ längſt als
Zeugniſſe von zweifelhafter Zuverläſſigkeit erkannt find, iſt die Sammlung von hoher Wichtig
keit. Das Drama zwiſchen Vater und Sohn, neuerdings fo häufig auch dichteriſch behandelt,
wird in feiner ſchroffen Entwicklung lebendig. Neben der Rüftriner Kriſe tritt die der Jahre
1734/35 in ein neues, bedeutſames Licht. Ich laſſe dahingeſtellt, ob die von Volz vertretene An-
ſicht, daß dieſe zweite Rrife, die Zeit der ſchweren Erkrankung und Wiedergeneſung des Vaters,
dle noch gewichtigere war, den ungeteilten Beifall der Hiftoriter finden kann. Jedenfalls tritt aus
den Briefen jener Jahre der klaffende Gegenſatz zwiſchen dem wildwüchſigen Knorren Friedrich
Wilhelm I. und dem Kronprinzen, der ſich vom Vater „wie die Sünde“ gehaßt weiß, zum zweiten;
mal mit erſchreckender Härte hervor. „Meine Feinde verbünden ſich jetzt mehr denn je gegen
mich“, lefen wir in einem Brief vom 18. November 1734, „fo daß ich mich, wenn das ſchickſals-
volle Ereignis nicht eintritt, auf die ſchlimmſte Zukunft gefaßt machen kann.“ Als das ſchickſals-
volle Ereignis ausbleibt, ſchreibt Friedrich nicht ohne Bitterkeit: „Du kannſt es mir glauben, liebſte
Schweſter, er hat Gott ſei Dank eine Bärennatur und wird das künftige Geſchlecht überleben“
und weiter unten im felben Brief: „Allerſeits von der Welt angewidert, überlaffe ich mich der
ftillen Betrachtung. Sie zeigt mir mehr und mehr, daß es hienieden kein dauerndes und beitän-
diges Glüd gibt“... Friedrich taucht feine wunde Seele in das ſtählerne Bad der Philofophie ;
die erneute Prüfung ſteigert ihn der endgültigen Reife zu. Die Rheinsberger Zeit beginnt. Bis
zum Tod des Vaters endet zwar das „Fegefeuer“ nicht, aus dem der Sohn ſich „nach Erlöſung“
ſehnt; er bleibt der „Prügelknabe“ des väterlichen Zorns und bäumt ſich wohl auf: „Sicherlich
haben die Soliman, Feodorowitſch und Caligula nicht zu klagen, daß ihr Geſchlecht ausſtirbt“ ..
aber der Stoiker in ihm behält den Sieg: „Für Unvermeidliches gibt es keine Abhilfe. Das beſte
iſt, ſich darein zu fügen und das Unabdnderlide hinzunehmen.“ — Die Liebe der Geſchwiſter
findet durch alle Wandlungen ihrer Perfönlichkeit in ihrem Schriftwechſel eine reiche Spiegelung;
er berichtigt das fait gebäſſige Bild, das Wilbelmine unter dem Eindruck des Zerwüuͤrfniſſes der
m. DaB — —
Beiefe, Erinnerungen und Lebensbilder 345
fpäteren Jahre in den , Oentwiirdigteiten* von ihrem Bruder entwarf — jenes Serwiirfniffes,
das in den Jahren 1742 bis 1744 ſich mehr und mehr vertiefte, bis 1747 mit dem Beſuch der
Markgräfin in Berlin die Verſöhnung und die Erneuerung des innigen geſchwiſterlichen Bundes
eintrat.
„Deshalb find Briefe fo viel wert, weil fie uns das Unmittelbare des Dafeins aufbewahren“ —
mit Recht ftelit John Ries dies Goethewort vor die „Briefe der Elife von Türkheim“, die
er, unter Mitarbeit von Ernſt Marckwald und, ſoweit nötig, in der Verdeutſchung von Richard
Dofe, im Auftrage des Wiſſenſchaftlichen Inſtituts der Elſaß- Lothringer im Reich (Verlag
Englert & Schloſſer, Frankfurt a. M.) herausgegeben hat. Der ſtattliche Band, der alle bisher
aufgefundenen Briefe in teilweiſe gebotener Kürzung vereinigt, wird diejenigen enttäuſchen,
die in ihm neue Aufſchluͤſſe über Goethes Verhältnis zu feiner Lili ſuchen; wohl aber iſt er ganz
dazu angetan, die reife Frau, die Gattin Bernhard Friedrichs v. Tuüͤrckheim und Mutter von fünf
Söhnen, kennen zu lehren und aus ihrem Bild Beſtätigung für das Urteil Otto Heuers zu geben:
„Gewiß trägt die Geftalt, die uns aus dieſen Briefen entgegentritt, andere Züge, als die des froh
in die Welt hinausblickenden jungen Mädchens, das Goethe liebte. Aber eine edle Pflanze er-
waͤchſt nur aus gutem, gefunden Keim, und in der Blüte kündigt ſich ſchon die reife Frucht an.
Gereift iſt Life v. Tardheim durch Leben und Leiden, aber Lili Schönemann war ihr wefens-
gleich.“ Wenn auch die ernſte Goethe forſchung lange ſchon davon abgekommen iſt, die Gründe
für die Löſung des Verlöbniſſes in der Oberflächlichkeit und Vergnügungsſucht der Sechzehn;
jährigen, ftatt im Weſen Goethes und feiner naturgebotenen Entwicklung, ſowie im Ui terſchied
geſellſchaftlicher Verhältniſſe zu ſuchen: das Bild der eitlen und koketten „niedlichen Blondine“,
die dem Genie des Dichters nicht genügen konnte, ſpukt noch immer in den Köpfen. Neben dem
jo anders lautenden Zeugnis des ſpäteren Goethe bietet das ſchlichte Denkmal, das fic die treue,
bodfinnige und warmherzig vornehme Frau im Schriftverkehr mit ihrer Familie und Männern
wie Lavater und F. 9. Redslob geſetzt hat, die willkommenſte Berichtigung. — Die Briefe der
Elife v. Türtheim umſpannen die Jahre von 1785 bis 1816; den Zeitraum von 1794 bis 1820
umfaßt ein anderes Lebensbild mit noch geprägterer Eigenart. Unter dem Titel „Voſſiſche
Hausidylle. Briefe von Erneſtine Voß an Heinrich Chriſtian und Sara Boie“ (Rarl Schüne-
mann Verlag, Bremen) bringt es Ludwig Bäte ans Licht. Die wackere Frau des Homerüber-
ſetzers und Joyllikers iſt den Literaturfreunden ſchon durch ihre „Mitteilungen (Aus dem Leben
von 3. H. Voß)“ wert geworden. Die Briefe, die an den Bruder und ſpaͤter an deſſen zweite
Frau gerichtet find, zeigen Erneftine fo, wie ſchon Raroline Herder fie ſah: „Eine treffliche Frau
von einer feften und liebenden Seele zugleich, eine Heldin, die für Mann und Rinder alles unter-
nehmen und alles tragen kann.“ Der Vater Voß in feiner niederſächſiſchen Bauerngeradheit er-
greift nur felten zu einer flüchtigen Nachſchrift das Wort. Ob es „Die Welt um Klopſtock“ in
Eutin iſt, ob das Leben in Jena, im Schatten der Weimarer Großen oder in Heidelberg „Neben
den Gärten der Romantik“ — es bleibt dieſelbe idylliſche Kleinwelt, in der wir bei Voſſens at-
men — etwas eng, etwas ſpießbuͤrgerlich, aber in ihrer Stuben und Hausgartenluft voll Ur-
vaͤterbehaglichkeit und gemütvoller Wärme. Beſſer als jede Beſchreibung wird fie durch ein paar
herausgehobene Briefſtellen anſchaulich. Da heißt es am 15. Februar 1800 (aus Eutin): „Geſtern
hat Voß die allerliebſte kleine Ode an die Sina Roſe gemacht. Du wirſt dich wohl freuen, daß
wir den Winter fo fdhine Blumen haben. Noch keinen Winter iſt es uns fo gut geworden. Die
Blumen müffen Ahndung haben, daß Voß fie brauchen kann. Erſtlich haben wir einen Sirenen-
buſch mit einem großen Strauß, das war eine Freude. Dann kam ein Topf Maililien, der nun
ſchon in die fünfte Woche blüht. Zu meinem Geburtstag kam ganz unbemerkt die wohlriechende
kleine Tulpe. Und nun ſteht auf Voß feiner Stube, neben der kleinen Sina-Roſe ein großer
Rofenbufd mit ſieben Knoſpen! und unten in meiner Stube ſchöne Hyazinten ..“ „Nach-
mittags beim Tee lieſt Voß mir aus deutſchen Dichtern vor. Klopſtocks Oden hatten wir guerft,
die machten uns aber oft unwillig. Dann nahmen wir Raniler, Bürger, Kleiſt vor, die uns viel
Der Zünnes XXVIN, 4 23
346 Briefe, Erinnerungen unb Ledensbilbe
Freude gegeben haben. Abends nach Tiſch nutzen wir die Sider aus der Leſe-Geſellſchaft, wenn
wir ſonſt nichts haben; dieſe Woche hatten wir eine angenehme Reife nach China. Morgens beim
Kaffee plaudern wir.“ Aus Jena unterm 15. Zuli 1803 wird im Glück über zwei neue, brauchbare
Mägde, „die mit der Rage ein ſchönes Kleeblatt ausmachen“, gemeldet: „Nun kann ich ihn mehr
pflegen ... und kann ihm immer ein heiteres Geſicht zeigen, wenn ich, nicht mehr rot von der
Glut, eine mühſam und oft mit Arger bereitete Schüſſel auf den Tiſch bringe. Heute abend
bringe ich ihm: Zuckererbſen in Schoten und junge gebratene Küͤchlein! und kann hier wie eine
Dame am Schreibe pult ſitzen“, und am 5. Dezember des gleichen Jahres: „Goethe iſt jetzt oft in
Jena und ſehr heiter. Zetzt ſitzt er gerade mit Voß am Tiſch, und fie leſen Horaz. Goethe iſt ein
gar angenehmer Menſch, er hat foviel frohe Laune und legt in unſerer Wohnſtube alle feine Steif-
heit mit dem Mantel ab, in den er immer eingehüllt ins Zimmer tritt. Auch Schiller war neulich
einige Tage ohne feine Frau in Jena, und einen Mittag und Abend bei uns. Mit dem fühlt man
ſich aber viel herzlicher und wohler, ganz fo, als ob er einem angehört. Sie iſt mir auch ſehr lieb ...
Und über den Zahnarzt, der von Weimar kommen ſollte, bin ich gar mit ihr in Briefwechſel ge-
raten“... In Heidelberg, wo Voß die einundzwanzig letzten Zahre feines Lebens verbrachte,
herrſchte, wie ein gleichgeſtimmter Zeitgenoſſe es nennt, die „Schmach der Görres-Brentano-
Arnimſchen romantiſchen Wut“. Nur zu begreiflich, daß Voß, der die ihm fo ſchmerzlichen Erfah-
rungen mit Fritz Stolberg wie eine immer neu aufbrechende Wunde mit ſich trug, ſich mit ſeinem
begrenzten Rationalismus gegen den unbegreiflichen Geiſt der jungen romantiſchen Generation
ingrimmig auflehnte. — Den vollen Abſtand zweier Zeitalter ermißt man, wenn man neben
der „Voſſiſchen Hausidylle“ zu „Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren
Briefen“ greift (Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G., Gotha-Stuttgart). Heinrich Meisner,
dem die ſchöne dreibändige Ausgabe der Schleiermacher Briefe zu danken iſt, hat fie nach den
Originalen herausgegeben. Nach der hausbackenen Behaglichkeit und rechtſchaffenen Dernünf-
tigkeit dort — wie anders hier die bewegliche, überfeinerte Geiſtigkeit, die bis zur Selbftbefpiege-
lung gefteigerte Gefühlskraft, die ſtimmungsmäßige Verſenkung in die Natur! Qiefer Alexander
Marwitz, gleich ſeinem Nachfahren Bernhard, über den im Dezemberheft 1924 des „Türmers“
berichtet wurde, ein Frühvollendeter, ſchon in der äußeren Erſcheinung eine glänzende Edel
mannsgeftalt, ift Vollblut- Romantiker: „Wäre der Wille, ftatt ſich in einzelnen Phaſen zu ver-
lieren, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet geweſen, hätte er den Weg verfolgt, den ihm Geburt,
Bildung und Gelegenheit bot, ſo wäre er vielleicht ein Staatsmann geworden von der Art eines
Humboldt oder Niebuhr. So aber verlor er ſich in dem Beſtreben, immer mehr werden zu wollen,
und blieb .. . ein zwiſchen klaſſiſcher Bildung, feurigem Patriotismus und ſuchender Menfchen-
liebe hin und her geworfener Mann.“ Zn Rahel Levin, der feinſpürigen, genialen Anempfin-
derin und Geſelligkeitskünſtlerin, findet der anfangs der Zwanziger Stehende „wohl jetzt das
größte Weib auf Erden“. Die faſt hundert Briefe, die er und die zu Beginn der Freundſchaft
ſchon 38jährige, mit Varnhagen fo gut wie verlobte Rahel im Zeitraum von wenigen Jahren
wechſeln, find für die Pſychologie der Romantik und die Eigenart ihrer Seelenbündniſſe be-
ſonders kennzeichnend; die Marwitzſchen find nach Stil und Inhalt gerundeter, erſchöpfen gründ-
licher den Gegenſtand — fei es im Urteil Aber Menſchen oder in der Schilderung der Natur;
Rahel, die vielbefreundete und vielbeanſpruchte, iſt in der Form flüchtiger, launiſcher, voll geift-
reicher Einfälle, Phantaſie und ſenſibler Stimmungen. Beide treffen ſich in einer überlegenen
Offenheit des Geſtändniſſes, ob es ſich um Marwitz' Leidenſchaft für die junge Henriette Schleier
macher oder um Rahels früheren Verlobten, Raphael d Urquicho und den ſpaͤteren Gatten Barn-
hagen handelt. Und doch iſt überall, bei ihm wie bei ihr, zugleich ſchon der bewußte, literariſche
Briefſchreiber am Werk, und man tut gut daran, Rabels ſpãteres Wort ſich gegenwärtig zu halten:
„Wir find eigentlich, wie wir fein mochten, und nicht fo, wie wir find.“ — Die vielſeitigen Strö⸗
mungen und Strebungen, die wir gewohnt find, unter den Namen Klaſſizismus und Romantik
zu begreifen, fanden einen geſchäftlichen und geiſtigen Mittelpunkt in der Perſon des damals
Briefe, Erinnerungen und Lebensblider 347
beherrſchenden Derlagsbudhdndlers Johann Friedrich Cotta. Es iſt freudig zu begrüßen, daß
der Cottaſche Verlag ſich entſchloſſen hat, ſein ſo reiches Archiv aufzuſchließen und von Maria
Fehling die „Briefe an Cotta“ herausgeben zu laſſen, die in ihrem erſten, jetzt vorliegenden
Band, das Zeitalter Goethes und Napoleons (1794—1815) umfaſſen (J. ©. Cottaſche Buch-
handlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin). Die erleſenſten Geiſter unferer dichteriſchen Ver-
gangenheit geben ſich in dieſem Buch ein Stelldichein. Neben Schiller und Goethe, Wieland
Hölderlin und Kleiſt, neben Voß und Seume der romantiſche Kreis der Gebrüder Schlegel,
Tieck und Zacharias Werner, Oehlenſchläger und Jean Paul; die Philoſophen Lichtenberg,
Fichte, Schelling; das politiſche Zeitbild in Männern wie Poſſelt, Sulzer, Reinhard, Bsttiger,
Oelsner und vielen andern. Außer den Briefen Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleiſts iſt
damit ein bisher unbekannter Schatz ans Licht gehoben, der nicht nur dem Forſcher Ausbeute,
fondern jedem Gebildeten Anregung in Fille bietet. Inmitten der langen und ſtolzen Reihe
feiner Rorrefpondenten ſteht Cotta — mehr als ein füͤrſtlicher Raufmann: ein treuer Freund,
Berater, Helfer, ein hochgerichteter, weitſchauender Menſch
Naher an die Gegenwart führt Ernſt Hartung mit dem Buch „Gottfried Keller“, das, in die
Reihe der bekannten „Bücher der Roſe“ geſtellt, Briefe und Gedichte des großen Schweizers
mit lebensgeſchichtlichen Verbindungen zuſammenfaßt (Wilhelm Langewieſche Brandt, Eben-
haufen bei München) und wohl geeignet iſt, das Leben und Schaffen Rellers vielen in neuer
Friſche nahezubringen. — Ein Lebendiger, der über fein Leben ſich und uns erzählend Rechen-
ſchaft gibt, iſt Heinrich Vierordt, der eben fein ſiebzigſtes Lebensjahr angetreten hat. „Das
Buch meines Lebens“ heißt er feine Erinnerungen (Türmerverlag Greiner & Pfeiffer,
Stuttgart), und wer ihn bisher nur als Lyriker und kernigen Spruchdichter kannte, wird es nach
dem Leſen dieſes Buches bedauern, daß Vierordt nicht auch und erſt recht den Erzähler in ſich
ausgebildet hat. Die Stätten feiner Knaben jahre, Rarlsruhe, Raftatt, Freiburg, Konſtanz und
Vertheim erſtehen in fatten Bildern; über die Studienzeit in Heidelberg, Leipzig, Berlin geht
die Wanderfahrt durch halb Europa, um wieder im heimiſchen Rarlsrube zu enden. Vierordt ift
Meiſter im ſcharfgeſchauten Nleinbild; im Moſaikſtil fügt er Zug zu Zug, bis das fertige Abbild
einer Zeit, einer Stadt und Landſchaft, einer Perſönlichkeit greifbar daſteht. Von den vielen
namhaften Menſchen, mit denen ihn der Weg zufammenführte, hat er Scheffel, die Familie
Freiligrath, Seibel, den Großherzog Narl Alexander von Sachſen-Weimar, um nur einige zu
nennen, befonders eindrucksvoll geſchildert und ihre Porträts mit manchem feinen und neuen
Zug bereichert. Liebenswert in feiner ſchauenden Dafeinsluft, feinem Gemüt, feiner barod-
deutſchen Ganzheit hebt er ſich ſelber aus dieſen Blättern ab.
Neben der Literatur iſt die Kunſt im weiteren Sinn mit einer Reihe lebenskundlicher Neu-
erſcheinungen zu nennen. „Gerhard von Kügelgen, ein Malerleben um 1800“ be-
titelt Leo von Kügelgen die umgearbeitete und erweiterte Ausgabe eines mit vielen Abbildungen
ausgeftatteten hüͤbſchen Buches (Chr. Belſer A.-G., Verlagsbuchhandlung, Stuttgart), das auch
die andern ſieben Ranftler der Familie“ behandelt. — Monika Hunnius, die Sängerin und
Geſangslehrerin, Schülerin von Stodhaufen und Zur-Mühlen, gibt den Freunden der Muſik
in ihrem Erinnerungsbuch „Mein Weg zur Runft“ eine ſeeliſch feingeſtimmte Oarſtellung
ihrer baltiſchen Heimat, ihres Lebens- und Werdegangs. — „Aus der Theaterwelt, Erleb-
niſſe und Erfahrungen“ (Verlag C. F. Müller, Karlsruhe) heißt ein ſchmaler, aber inbalts-
reicher Band aus der Feder des jüngſt verſtorbenen Eugen Kilian, der die Entwicklungen und
Kampfe des begabten Bühnenmannes mit dem Schmerz um feinen Verluſt ins Gedächtnis ruft.
— dn gehörigem Abſtand fei in dieſem Zuſammenhang, wegen feines verdienſtlichen Wirkens
für die ſchwediſche Nachtigall“ Zenny Lind, Phineas Taylor Barn um mit feinen unter dem
Titel „Die große Trommel“ (Verlag Otto Wiegand, Leipzig) neu aufgelegten Lebenserinne-
tungen angefügt, die O. E. Sutter Barnums Memoiren nacherzählt: unterhaltend, beluftigend
und belehrend entrollt ſich die laute, bunte Welt dieſes Reklametrommlers von außergewöhn-
348 Briefe, Erinnerungen und Lebensbilder
lichen Maßen, des Kaufmanns, Zournaliften, Schauftellers, Smprefarios, Raritätenfammlers,
Zirkusbeſitzers und — Menſchen.
Die Wiſſenſchaft der verſchiedenſten Gebiete iſt mit fo zahlreichen Brief- und Erinnerungs-
büchern vertreten, daß es im begrenzten Rahmen nicht moͤglich iſt, fie ausführlich zu würdigen.
Noch einmal ins 18. Jahrhundert führt ein von Dr. Auguſt Nebe (in der Buchhandlung des Wai-
ſenhauſes, Halle a. S.) herausgebrachtes Bändchen „Aus der Brautzeit eines deutſchen
Gelehrten 1788-1791“, in dem der junge Lehrer des Staatsrechts Friedrich Auguſt Schmel-
zer, der auch poetiſchen Neigungen huldigte und der Muſik zugetan war, ſich mit ſeiner Braut
Sophie Beckmann unterhält und im empfindſamen Ton der Zeit, aber doch mit anſprechender
Schlichtheit vom Leben und Treiben in Helmſtedt, Regensburg, Wetzlar, Wien berichtet und den
Prunk der letzten Frankfurter Raifertrönung ſchildert. Auch der Humor fehlt ihm nicht, wie die
Erzaͤhlung des Beſuchs im Tübinger Stift beweiſt. — Von gewinnendem Humor zeigt ſich der
unlängjt verſtorbene Archäologe Robert Roldewey in einer Sammlung ven Briefen, die
Karl Schuchardt veröffentlicht („Robert Roldewey. Ernfte und heitere Briefe aus einem deut
ſchen Archaologenleben“, G. Groteſche Verlagsbuchhandlung, Berlin). An die Suͤdküſte der
Troas, nach Aſſos; auf die Inſel Lesbos, nach Sizilien und ins innerſte Babylon begleiten wir
den Forſcher auf ſeinen Ausgrabungsreiſen; aus jeder Zeile, im Scherz und tiefen Ernſt, ſpricht
die ſtarke, in ſich geſchloſſene Perſönlichkeit, die ihren opfervollen, weiten Weg unbeirrbar dahin
ſchreitet. — Die mediziniſche Wiſſenſchaft iſt durch zwei hervorragende Kliniker vertreten: „Aus
dem Leben eines deutſchen Klinikers“ gibt der Leipziger Profeſſor Adolf Strümpell
feine Erinnerungen und Beobachtungen (Verlag von F. C. W. Vogel, Leipzig); und der ver-
ſtorbene Straßburger Univerſitätskliniker Profeſſor Dr. B. Naunyn tritt ihm mit nicht minder
gehaltvollen „Erinnerungen, Gedanken und Meinungen“ (3. F. Bergmann Verlag,
München) an die Seite. Die beiden Gelehrten geben nicht nur anziehendes perſönliches Erleben,
in dem bedeutende Menſchen vorüberziehen, ſondern auch tiefen, dem Laien verftändlichen und
nützlichen Einblick in die Entwicklung der kliniſchen Wiſſenſchaft. — Hinter der Medizin ſteht die
Theologie nicht zurück. Aus den Zugendtagebuͤchern Johann Hinrich Wicherns hat Martin Ger-
hardt, der Archivar des Rauhen Hauſes, mit kundiger Hand ein Buch „Der junge Wichern“
aufgebaut, ein Bildnis des Werdenden aus der Erweckungsbewegung, des dem Religionspfydo-
logen und Nirchenhiſtoriker, aber auch einem weiteren Leſerkreis ſich empfiehlt (Agentur des
Rauhen Hauſes, Hamburg). Aus vielſeitiger kirchlicher Wirkſamkeit erzählt Ernſt Haack, der lang;
jährige Leiter der mecklenburg-ſchwerinſchen Landeskirche, unter dem Titel Führungen und
Erfahrungen, Lebenserinnerungen aus 70 Jahren“ (Verlag Friedrich Bahn, Schwerin i. M.).
„Ein Herrnhuter Wirtſchaftsmenſch des 18. Jahrhunderts“ tritt uns in „Abraham Oadrninger*
entgegen; dem fchöpferifhen Kaufherrn und zugleich metaphyſiſch veranlagten, frommen
Glaubensmann hat Herbert Hammer eine (im Furche Verlag, Berlin, erſchienene) leſenswerte
Darſtellung gewidmet. Einem Nationalhelden der Siebenbürger Sachſen, dem tapferen Pfarrer
Ste phan Ludwig Roth, der 1849 von ungariſchen Soldaten als „Rebell“ erſchoſſen wurde, gilt
„Stürmen und Stranden, Ein Stephan-Ludwig-Roth-Buch“ (Ausland und Heimat Ver-
lags-A.-G., Stuttgart), das Otto Folberth zuſammengeſtellt und eingeleitet hat.
Mit Stephan Ludwig Roth iſt wieder das Gebiet der politiſchen Geſchichte betreten, von dem
unfere Uberſchau den Ausgang nahm. An den Anfang des vergangenen Jahrhunderts, feiner
Kriegs- und Nachkriegsnöte leitet ein populär gehaltenes Jabnbud, „Fr. L. Zahn, Eine Wür-
digung ſeines Lebens und Wirkens“ von Fritz Eckardt, herausgegeben im Auftrag der deutſchen
Turnerſchaft (Wilhelm Limpert Verlag, Dresden). Es nimmt als Leitſatz das Wort Dieſterwegs:
„In jeder großen Not des Vaterlandes wird man auf Zahn und feine erhabenen Ideen zurüd-
greifen. Auf ihn zurückgehen, heißt auch heute noch vorwärtsſchreiten“ und feiert den wunder
lichen, in feiner Beſchränkung ſtarken Turn vater als Sprachmeiſter, Vorbild eines wackeren deut;
ſchen Mannes, einen der größten Zugend- und Volkserzieher und Vorkämpfer für Einheit und
Belefe, Erinnerungen und Lebensbilber 349
Reich, an dem fich fein eigener Ausſpruch erfülle: „Die Nachwelt ift das höchſte irdiſche Gefdwo-
renengeridt !“ ... Der 1819 als Demagog verhaftete, durch ein ſchmahliches Urteil in den Kerker
geworfene Jahn, gehörte 1848 in der Paulskirche zu den Männern der äujterften Rechten. Der
um ein Menſchenalter jüngere Otto von Cor vin, ehemaliger preußiſcher Offizier, ftand mitten
in den revolutionären Rämpfen von 1848 und 49, leitete als Generalſtabschef die Verteidigung
der in der Hand der badiſchen Aufſtändiſchen befindlichen Feſtung Raſtatt und bezahlte feinen
Freiheitsdrang mit einer harten ſechsjährigen Haft im Bruchſaler Zuchthaus, um dann in Lon-
don, fpäter in Amerika als Schriftſteller zu leben und endlich wieder in Deutſchland fein an Er-
lebniſſen überreiches Daſein zu beſchlie ßen. Es iſt ſehr zu begrüßen, daß Hermann Wendel die
Erinnerungen Corvins unter dem berechtigten Titel „Ein Leben voller Abenteuer“ (Frank-
furter Sozietäts-Oruckerei, Abt. Buchverlag, Frankfurt a. M., 2 Bände) wieder ausgegraben
bat. Sie feſſeln von Anfang bis zu Ende durch die Friſche ihrer Darſtellung, die Fülle der Ereig-
niffe und nicht zuletzt durch die im bunten Wechſel des Geſchehens immer gleiche, offene, wage;
mutige Natur ihres Helden. Für die noch immer merkwürdig ungekannte und doch fo tennens-
werte achtund vierziger Zeit ſind ſie ein nicht genug zu ſchätzender Beitrag. — Mitten in die
ſoziale Bewegung unferer Tage führt das Buch „Minna Cauer, Leben und Werk“, das die
jüngere Freundin und Mitarbeiterin der bekannten Frauenführerin, Elfe Lüders, an Hand der
Tagebücher und nachgelaſſenen Schriften (im Verlag Friedrich Andreas Perthes, Gotha Stutt-
gart) veröffentlicht hat. Die von liebe vollen Eltern gehegte Kindheit im Pfarrhaus zu Frenen-
ſtein (Oſt priegnitz); die glückliche, fpäter durch die ſchwere Krankheit des Mannes fo leid volle erſte
Ehe mit dem jungen Arzt Dr. Auguſt Latzel; nach vollendetem Lehrerinexamen die ſchwere
Pariſer Zeit als Erzieherin in einer franzoͤſiſchen Familie; der reife zweite Lebensbund mit dem
hervorragenden Schulmann Eduard Cauer, der ihr nach zwölf für ihre Entwicklung beſtimmenden
Zabren (1869 — 1881) durch den Tod entriſſen wurde — dieſe Stufen bilden den Unterbau zu
einem öffentlichen Leben voll hingebender Arbeit im Dienſt einer großen Zdee, zu Erfolgen
und zu nicht minder reichen Enttäuſchungen. Die Perſönlichkeit der charaktervollen, hochbegabten
Frau, in deren Weſen ſich verborgene Weichheit und unbeugſame Härte ſo ſchickſalsvoll miſchen,
entfaltet fic tragiſch in den Blättern des Gedentbuds — freilich nicht, ohne daß ein ungelöfter
Reit bleibt, den wohl die gebotene RAdjidt auf Lebende erklärt. Hervorleuchtend im Bild Minna
Cauers, wie es hier erſteht, iſt ihr ethiſcher Ernft — „Ja, rein erhalten, dazu gehört fo viel Kraft“;
ihre ſuchende Frömmigkeit, ihre glühende Vaterlandsliebe — „Mein geliebtes Vaterland, meine
liebe Heimat, mein deutſches Volk“ klingt es immer wieder unbeirrt aus allen Bitterniffen und
hellſehenden Urteilen der Kriegs- und Zuſammenbruchszeit —; der heilige Glaube an die neue
Sendung der Frau, die fie verficht. Die gemein- irdiſche Bedingtheit alles politiſchen Wirkens hat
im tapferen Leben dieſer Frau zur Tragik ihrer Natur die unausweichliche einer ewig gültigen
Erfahrung gefügt. — Ein zweiter, anders gerichteter ſozialer Vorkaͤmpfer, der bekannte Boden-
reformer Adolf Damaſchke, ergänzt das Zeitbild der Gegenwart und der Jahrzehnte, aus
denen ſie hervorwuchs, durch ſein Erinnerungsbuch „Aus meinem Leben“ (Grethlein & Co.,
Leipzig und Sarid). Eine eigenſtarke Perſönlichkeit, ohne Wanken im Oienſt des Volkes feinem
Ziel zugekehrt, geht auch er ſeinen Weg. Freunde und Feinde ſeines Ziels, die Lehrerſchaft und
vor allem die Jugend, um die er mit feinem jungen Herzen wirbt und zu deren Seelenkunde er
durch frühe Tagebuchblatter Wertvolles beiträgt, werden mit Genuß und Gewinn feine Erinne-
rungen leſen. [Wir kommen an anderer Stelle darauf zuruck. O. T.]
Das eingreifendſte Erlebnis, das uns Heutigen beſchieden war, der Weltkrieg, ſpiegelt ſich
ſchon erſchüͤtternd in dem eben beſprochenen Minna Tauer-Buch. In voller Unmittelbarkeit gibt
es ein Dichter, Rudolf ©. Binding, in feinen Feldzugsaufzeichnungen „Aus dem Krieg“
(Lit. Arftalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.). „Venn ich tief in ihn hineinſehe, fo iſt er doch
wohl ein Zenſeits, aus dem nicht nur die nicht zurückkommen, die man leiblich begräbt, ſondern
vielleicht keiner. Um dieſem Zenfeits zu genügen, müßte eine beſondere Sprache erwachſen, von
350 Ein ſchwediſcher Rinfilec
uns zu erlernen, von euch ewig unverſtanden“ — dieſe vorangeftellten Zeilen ermißt in ihrer
ganzen Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nur der, der felber im Feld mitgeftritten und gelitten
hat. Und doch, dem Dichter Offizier war es vergönnt, etwas, nein viel in jene „beſondere Sprache“
zu überſetzen, und auch die unter den Niht-Mitlämpfern, die feine Sinne haben und ihr Urteil
nicht von irgendeinem billigen, lügneriſchen Parteigeſchrei, welcher Seite immer, hoffnungslos
ſich verbilden ließen, können verſtehen. Die Rüdjicht auf die feine, wiſſende Seele deſſen, der
dies Buch von ſchlichter und edler Zeugnisgewalt uns ſchenkte, verbietet es, einzelnes aus dem
Zuſammenhang des künſtleriſchen Ganzen zu heben. Die Wahrheit allein, ob ſchmerzhaft, ob
füß, ſchafft reinigende Wandlung. Heinrich Lilienfein
Ein ſchwediſcher Künſtler
Zu unſren Bilderbeilagen
icht ſenden in die Tiefe des menſchlichen Herzens — das iſt der Beruf des Künſtlers“, ſchrieb
Robert Schumann. Ich mochte hier von einem bildenden Nünſtler erzählen, der am 1. Auguft
auf ſechzig Lebensjahre zuruͤckſchaute und Über deſſen Lebenswerk dieſe Worte als Kennwort
ſtehen könnten. Von feiner Ausſtellung, die zu Anfang dieſes Zahres in feiner Heimat Stockholm
veranſtaltet wurde, ſagte mir eine Beſucherin: „Man wird ſo froh und gut vor dieſen Bildern.“
Und der alte Türhüter am Eingang: „Wir haben noch keine Ausſtellung gehabt, von der alle fo
befriedigt fortgegangen ſind.“
Die Schweden neigen ganz und gar nicht zum Bypzantinismus, wie vielleicht mancher denken
könnte, wenn er nun lieſt, daß dieſer Maler der Prinz Eugen von Schweden iſt. Als vierter
Sohn des Königs Oskar II. und feiner deutſchen Gemahlin (Prinzeſſin Sophie von Naſſau) ge-
boren, iſt der Prinz ſeit feinem 21. Jahr in ernſter Arbeit und ſtrengſter Selbſtkritik beſtrebt ge-
weſen, feine hervorragende Begabung zu ſchulen und zu immer höherer Kuͤnſtlerſchaft zu führen.
Er iſt ſeit Jahren der anerkannt erſte Landſchaftsmaler ſeines Landes. Vor dem Krieg hat er
mehrfach in größeren deutſchen Städten ausgeſtellt. Er kennt unſere deutſchen Kunſtſchätze beſſer
als viele Deutſche und hat mit manchem deutſchen Künſtler und Kunſtgelehrten (3. B. mit Licht;
wart) Beziehungen angeknüpft und feſtgehalten. Er iſt Mitglied der Goethe- Geſellſchaft und
Ehrenmitglied der Berliner Akademie der Rünfte. Als dem Ehren vorſitzenden der ſchwediſchen
Sammlung für deutſche Studenten iſt ihm unſer Vaterland zu beſonderem Dank verpflichtet.
Hat doch dieſe Sammlung nach dem Ausſpruch eines Berliner Gelehrten „weſentlich dazu bei-
getragen, daß die deutſche akademiſche Jugend heute wieder ein hoffnungs volles Deutſchland
vertritt“.
Die Ausftellung des Prinzen gab eine Überfchau über Werke aus etwa vierzig Jahren, die Lebens-
arbeit eines Meiſters, fo umfaſſend wie fie andere Rünitler ſelten bieten können, die oft nicht ein;
mal wiſſen, wo ihre Bilder gelandet ſind. Von den erſten Studien aus ſeinen Lehrjahren in Paris
wuchs er in aufſteigender Linie zu vollkommener Beherrſchung der Technik und immer ernfterer
Vertiefung, immer innigerem Einfühlen in die Natur feines Landes. Wenn man in der nordiſchen
Kunſtgeſchichte verfolgt, wie ſich etwa im 12. Jahrhundert eine ſchwediſche Eigenart heraus-
kriſtalliſiert, fo erſtaunt man über die einfach vornehme Ruhe der Geſtaltung im Vergleich mit
den Kunſterzeugniſſen anderer Völker zur ſelben Zeit. Es iſt wie ein Widerſpiegeln der großen,
ruhigen Linien der ſchwediſchen Landſchaft. Dieſe dem Schwedenland eigentümliche, monu-
mentale Linie bringt kein anderer Maler in der gleichen klaſſiſch- harmoniſchen Ruhe zum Aus-
druck wie Prinz Eugen. Wenn es möglich iſt, daß man dies Land in feiner Eigenart, mit dem
Zauber der hellen Nächte und der langen Dämmerungen jeder Jahreszeit aus Bildern verſtehen
und lieben lernen kann, fo müßte es durch feine Gemälde geſchehen. Ich wage die Möglichkeit
Cin ſchwebiſcher Runitler 351
nicht beſtimmt zu behaupten, denn ich kannte und liebte Schweden, ehe ich Bilder ſeines erſten
Landſchafters zu ſehen bekam: daß feine Gemälde aber das Verſtändnis für die Eigenart des
Landes vertiefen und neue Schönheiten erſchließen — das habe ich erfahren. Ich lernte die
„innere Landſchaft“ ſehen.
Von den 350 ausgeſtellten Ölgemälden, Aquarellen und Zeichnungen kann ich hier nur wenige
nennen und zu ſchildern verſuchen. Die erſten bedeutenderen Bilder zeigen meiſt nur Natur. Wo
Gebäude mit darauf find, gehören fie ganz dazu, ſcheinen aus dem Boden hervorgewachſen. „Wo
der Wald ſich lichtet“ läßt durch weit auseinanderſtehende Fichtenſtämme einen verſchneiten Hof
ſehen, von Abendglanz übergoldet, von den blauen Schatten der Winterdämmerung eingehüllt:
ein Bild tiefen Heimatfriedens. „Der Wald“ zeigt ebenfalls ſchwediſchen Fichtenwald. Hier wird
er zum Tempel, durch deſſen unzählige aufſtrebende Säulen das Myſterium der Sommernacht
wie eine heilige Flamme hereinleuchtet. Sommernädte im Stockholmer Skärgarden, im gol-
digen Schimmer oder wie unter dem grünlichen Dämmerungsſchleier ſchlummernd, werden ge-
ſchildert. Auch das „Stockholmer Schloß“ zeigt uns der Meiſter in einer ſolchen Zaubernacht. Es
iſt kein Bild, ſondern das Bildnis eines Gebäudes. Teſſins ſchlicht-vornehmer Bau erzählt in
der Stille der Nacht die Geſchichte der Vergangenheit, wie man ſie in den Zügen der Männer
und Frauen Rembrandts lieſt. Ebenſolche Hausportrats find „Schloß Torup“, das „Unbewohnte
Haus“ und der „Balkon“. Die letzteren beiden find auch Bämmerungsbilder und geben einen Aus-
blick über den Stockholmer Hafen mit fern aufflammenden Lichtern. Mit den Jahren malt der
Rinftler immer öfter Stätten menſchlicher Arbeit. Da liegt am Waſſer eine aus mehreren Häu-
fern beſte hende Fabrik. Die Aber dem Hauptgebäude hängende dunkle Rauchwolke, viele ſtarke
Lichter aus Fenſtern und von Booten ſpiegeln ſich im leicht bewegten Waſſer: ein Hohelied der
Arbeit. Ein reizendes Stimmungsbild einer Winterabendddmmerung gibt „An der Eiskante“.
In einer Bucht bei Stockholm überwinternde Schiffe, die dicht an der für die Dampfer offen
gehaltenen Fahrtrinne liegen, ſich dunkel von dem Blauweiß des Eiſes und Waſſers und vom
drüben nebelhaft ſichtbaren Ufer mit bereits angezündeten Lichtern abhebend. Wunderbar le;
bendig, als fähe man fie ziehen, find die Wetterwolken gemalt, die ſich über dem roten Turm einer
Landkirche zuſammenballen. Oder ein Zrühlingsbild von der Terraſſe von Waldemarsudde,
der ſchönen Halbinſel an der Stockholmer Hafeneinfahrt, wo ſich der Prinz eine Villa erbaut hat.
Auf der Terraſſe ſteht ein Bronzeabguß des Nike Samotrake Torſos. Die vorwärtsftrebende Ge;
ſtalt der kraftvollen jungen Siegesgöttin — auch in der Verſtümmelung noch ſchoͤn — erſcheint
wie ein Symbol des in der Natur vorwärtsbrauſenden Frühlings. Auf der Terraſſe und auf den
gegenüberliegenden Felfenhiigeln ſchmilzt der Schnee, das ſtahlblaue Oſtſeewaſſer wogt ftür-
miſch, und die grauweißen Wolken werden vom Lenzwind gejagt.
Von den großen monumentalen Gemälden, die der Prinz im Laufe der Fabre für Theater ;
vorfäle, Schulgebäude, eine Kirche in Riruna (Nordſchweden) und zuletzt für das Stockholmer
Stadthaus ſchuf (uͤber letztere durfte ich den Türmerleſern im April 1924 berichten), brachte die
Ausſtellung Skizzen und Kartons. Nach Vollendung der Wandbilder im Stadthaus malte der
Künſtler faſt ausſchlie lich Bilder in kleinerem Format. „Als eine Art Aue ruhen“, fagte er mir.
Zum Teil find es italieniſche, meiſt römiſche Bilder von einer Reife im Winter 1923/24. Der
Prinz weilte ſchon früher mehrmals in Stalien, feine küͤnſtleriſche Ausbeute war aber klein. Auch
bier mußte ſich der ernſte Rünftler die Natur erſt ganz zu eigen machen, ehe er fie wiedergeben,
ausſchöpfen konnte. Auch in diefen kleinen Gemälden tritt die monumentale Linie für den auf-
merkſamen Beobachter überall hervor. Unwillkuͤrlich überſetzt man fie ſich im Geiſte in größeres
Format und iſt dann gar nicht erſtaunt, wle ausgezeichnet dieſer Verſuch in Wirklichkeit ausfällt:
Prinz Eugen malte zwei größere Kartons nach kleinen Olbildern, „Weg durch die Campagna“
und „Grotte der Egeria“, und die klaſſiſche Ruhe der Linien, die meiſterliche Behandlung von
Ferne und Nähe tritt nur noch ſchöner hervor. Aber die wärmſte Leuchtkraft, die tiefſte Berinner⸗
lichung findet fein Pinſel auf den Heimatbildern, wovon manches Stimmungsbild von feinen
552 Theodor Rirchner und bic Wiedergeburt der Hausmuſu
geliebten Stodholmer Ufern oder den weiten väftergötlandifchen Gefilden aus den letzten Zahren
aufs neue zeugt. Und diefe Bilder atmen eine ſolche Kraft und dabei eine fo tiefe, weiche, gefam-
melte Harmonie, daß man hoffen darf, der fechzigjährige Meiſter werde noch viel Schönes zu
ſchaffen vermögen. Sophie Charlotte von Sell
Theodor Kirchner und die Wiedergeburt
der Hausmuſik
Zu unfrer Muſikbeilage
s könnte als ein Widerſpruch erſcheinen, wenn man ſeit längerer Zeit in mufit- und fogial-
E pdbagogifden Kreiſen darüber klagt, daß die Hausmuſik bereits einer entſchwundenen
Kulturepoche angehöre, während ſich doch jeder leicht davon überzeugen kann, wie bis zur Läftig-
keit die Mietskaſernen der Großſtädte namentlich in den Abendſtunden mit Muſik erfüllt find.
Aber die Muſik, die da gepflegt wird, iſt zum größten Teil weit davon entfernt, Hausmuſik im
guten Sinne des Wortes zu fein; und die Ausübenden geben ſich allzu große Mühe, die Wahr⸗
heit folgender Worte Wilh. Buſchs nachzuweiſen:
Muſik wird oft nicht ſchöͤn gefunden,
weil fie meiſt mit Gerdufd verbunden.
Nun ſind ja die Bewohner der Mietskaſernen noch lange nicht das Volk, ebenſowenig wie nur
in den Haͤuſern der Großſtädte Muſik getrieben wird. Gleichwohl find die erſteren bei der Se
urteilung der Muſikkultur des geſamten Volkes unbedingt, wenn nicht hauptſächlich, mit in Se
tracht zu ziehen. Und ſteht denn die Muſik, die man in Villen und Paläften treibt, durchweg auf
der Höhe des guten Geſchmacks? Wenn man den Menſchen, die auf Motorrädern ſpazieren
fahren, im Auto ihre Dispoſitionen treffen oder im Eindeder Kreisgänge in den Azur unter-
nehmen, nicht zumuten will, daß fie noch Gefallen an Kompoſitionen im Plepelſchen Schlaf-
mützenſtil finden follen, fo ift es um fo erſtaunlicher, daß in manchen Häuſern folder Menſchen
noch die Klingeleien der muſikaliſchen Schaumſchlaͤger wie: Leföbure-Wely, Ketterer, Badarc-
zewska, Richards, Eilenberg und — Karl Heins ertönen. Ja, letzterer, der als Komponiſt einen
noch etwas tieferen Rang einnimmt als die Courthe-Mahler in der weitverbreiteten Kunſt des
Romaneſchreibens, übertrifft an Popularität manchen bedeutenden Vertreter der pianiſtiſchen
Kleinkunſt. Sogar einen der genialften, den Oeutſchland bis jetzt aufzuweiſen hat: Theodor
Kirchner (geb. 1823 in Chemnitz, lange Jahre Organiſt in Winterthur, geft. 1903 in Hamburg),
auf dieſem Gebiet der unmittelbare Nachfolger Schumanns, über den Rob. Franz ſagte, daß
er Schumannſcher ſchreibe als Schumann. Oieſer ſelbſt batte auf Kirchner die Öffentlichkeit ſchon
nach dem Erſcheinen feines op. 1 (Lieder) mit folgenden Worten in der „Neuen Zeitſchrift für
Muſik (1845) aufmerkſam gemacht: „Man ſchreibe ſich ſchon jetzt den Namen dieſes talentvollen
Muſikers zu denen, die einen guten Klang in der Folge zu bekommen verheißen.“ Nun ſchreibt
freilich ſchon A. Niggli in feinem biographiſch-kritiſchen Eſſay Aber Kirchner, daß deſſen Ton-
ſprache viel zu feinfinnig, zu geiſtig vornehm, zu ſubjektiv zugeſpitzt fei, als daß feine Klavier“
dichtungen je die Menge anziehen, in allen Kreiſen Verbreitung finden könnten. Wenn aber
Kirchner heute auch noch nicht ganz das Schweigen teilnahmsloſer Vergeſſenheit deckt — dazu
iſt er bei Kennern zu hoch angeſchrieben —, fo müßte er doch in weit größerem Maße zur Haus-
muſik weiter Kreiſe herangezogen werden als das bisher geſchehen iſt.
Der Oeutſche beging ja ſchon ein Unrecht gegen ſich ſelbſt, indem er den um 20 Jahre jüngeren
Norweger Grieg ſo begeiſtert huldigte und ſo eifrig ſpielte, ohne ſich vorher die Mühe zu geben,
Speodor Kirchner und die Wiedergeburt der Hauremufit 355
erſt einmal feinen Landsmann Kirchner, auf den ſtolz zu fein er alle Urſache hat, kennen zu
lernen. Verleger und Herausgeber mögen da auch nicht ganz frei von Schuld fein. Von den zahl-
reichen Sammelwerken klavieriſtiſcher Hausmuſik habe ich nur eines gefunden, in dem Theodor
Kirchner mit vertreten iſt, und zwar das im Verlag von E. Bisping erſchienene „Am Klavier“
von Alfred Roſe. Der als Klavierpädagog rühmlichſt bekannte Prof. Karl Zuſchneid hat leider
auch keinen Kirchner mit in ſein zweibändiges Sammelwerk „Ausgewählte Vortragsſtücke“
hineingenommen; wohl aber Mayer - Mahr eine ganze Reihe von Stücken verſchiedener Schwie-
tigkeitsgrade in feinen ſoeben erſchienenen dreibändigen „Klavierunterricht“ (Simroch. Natürlich
ſteht in den acht Bänden des größten und leider verbreitetſten Sammelwerkes „Sang und Klang“,
die insgefamt 800 Stüde enthalten, nicht ein einziges von Kirchner, wohl aber eine große Zahl
folder von Dvorak, Tſchalkowſky, Nostowsti, Leoncavälle, Poldini, Godard, Chaminade,
Debuſſp, Tellier, Torquay, Mac-Dowell, Powell und anderen nichtdeutſchen Komponiſten.
Sewiß, unter letzteren befinden ſich Meiſter von Weltruf. Aber bevor man Spindler, Guftav
Lange und Eilenberg mit aufnimmt, follte man erſt einmal Kirchner einen Ehrenplatz ein-
träumen. (Die Sammlung iſt allerdings noch nicht abgeſchloſſen; damit iſt die Möglichkeit ge-
geben, daß in den folgenden bzw. bereits wieder erſchienenen Bänden Kirchner die längft ver-
diente Beruͤckſichtigung findet.)
Denn gerade dieſer Vollblutmuſiker, deſſen Sondergebiet die muſikaliſche Kleingeſchmeide⸗
kunſt blieb, hat darin die höchſte Meiſterſchaft erlangt und gerade in feiner Mufit find in glüd-
lichſter Weiſe diejenigen Eigenſchaften vereinigt, die wir von beſter deutſcher Hausmuſik fordern:
Hohe Geiſtigkeit mit tiefem Seeliſchen bei zum Teil geringerer Spielſchwierigkeit. Wie
in Schumanns Miniaturmalerei, fo bedeutet auch in Kirchners Phantafie- und Eharatterftüden
„jeder Zentimeter eine kleine Welt“. Deshalb iſt ja keine feiner zahlreichen Klavierkompoſitionen
zum Primaviſta Spiel geeignet, weil die verblüffende Prägnanz feiner Schreibweiſe ſogar beim
leichteſten ſeiner Stücke — ſobald der Spieler dem Inhalt vollauf gerecht werden will — ein
gewiſſes Studium fordert.
„Das letzte Ziel aller Lyrik ift Lied zu werden.“ Wie felten bei einem Vertreter der Schu-
mannſchen Schule bewahrheitet ſich dieſes Wort Zul. Babs bei dem genialen Tondichter Kirchner.
Pflegte letzterer ſchon zuerſt mit Vorliebe und großem künſtleriſchen Erfolg das Lied, fo find
auch die meiſten feiner Klavierkompoſitionen mehr oder weniger liedmäßig gegliedert. Dasfelbe
gilt von feinen wenigen, aber ebenfalls meifterhaften und empfehlenswerten Rammermufit-
werken, mit Ausnahme des Streichquartetts, op. 20, in dem er ſich in den weiten Fermen des
Sonatenſatzes bewegt. Und alle Schöpfungen haben die charakteriſtiſchen Merkmale feines
Stiles: Prachtvolle Geſchloſſenheit der Form, geiſtreich motiviſcher Aufbau, wunderbare, oft
überrafchende, immer aber ungeſucht und natürlich ſowie in leuchtender Schönheit erſcheinende
harmoniſche Wendungen. Poeſievoll, aus tiefſter Seele heraus empfunden, einige ergreifend,
zeichnen ſich Kirchners Kompoſitionen noch dadurch aus, daß ihnen keinerlei Süßlichkeit oder
Weichlichkeit anhaftet. Stärkere Männlichkeit iſt nicht der einzige Vorzug, den er bei dem nahe
liegenden Vergleich mit Chopin vor dieſem voraus hat. Soll auch deſſen überragende Größe
unbeſtritten bleiben, ſo fehlt ihm doch meiſt eine ſchätzenswerte Eigenſchaft, über die Kirchner
reichlich verfügt und die er in einigen ſeiner Werke in recht herzerfriſchender Weiſe zum Ausdruck
bringt: Humor. Außer auf die köſtlichen Humoresken op. 48 ſei in dieſer Beziehung noch auf
die „Plaudereien am Klavier“ op. 60, auf die übermütige Nummer 22 der „Oreißig Kinder und
Küͤnſtlertaͤnze“ op. 46 und auf das drollige, zum Lachen reizende Intermezzo „Oer Klavier-
ſtimmer kommt“ zwiſchen den Nummern 9 und 10 der Neuen Albumblätter op. 49 hingewieſen.
Es iſt natürlich unmöglich, hier auf all die über 60 Klavierwerke, deren faſt jedes aus mehreren
Stuͤcken beſteht, näher einzugehen. Liebt es doch Kirchner, verſchiedenartige Blumen zu einem
Strauß zu flechten, ganze Serien von Stücken unter einem Geſamttitel zu vereinigen, der in
ſeiner Allgemeinheit oft die mannigfaltigſten Gebilde deckt“. Techniſch ziemlich leicht und für
354 Theodor Kirchner und die Wiedergeburt der Housmu
Hausmuſik beſonders geeignet find die „Dorfgeſchichten“ op. 39, die bereits oben erwähnten
„Plaudereien“, „Humoresken“ und „Neuen Albumblätter“ (2 Hefte), das „Album für Klavier“
op. 26, die „Alten Erinnerungen“ op. 74 (2 Hefte), die „Albumblätter“ op. 7 und op. 80, das
„Neue Klavierbuch“ op. 52 (3 Hefte) ſowie die „Studien und Stücke“ op. 30 (4 Hefte). Nr. 3 des
letzten Werkes, das auch ſchon ſchwierigere Stücke enthält, zeichnet ſich durch feine rührende
Innigkeit ganz beſonders aus. Reizvolle und liebenswürdige Klavierkompoſitionen für die
Jugend ſind die „Neuen Kinderſzenen“ op. 55, „Spielſachen“ op. 35 und „Miniaturen“ op. 62.
Ausgeſprochen Unterrichtszwecken dienen die ebenfalls für die Jugend beſtimmten ausgezeidh-
neten Prdludien op. 65 und die noch reichlichere Schäße bietenden „100 kleinen Studien“ op. 71.
Nur wer ji in den allen Vertretern der Schumannſchen Schule eigenen, wie feine Filigran-
arbeiten anmutende Verwebungen der Stimmen leicht zurechtfindet und ſonſt über größere
Spielfertigkeit verfügt, möge ſich an die drei Hefte „Phantaſieſtücke“ op. 14, an die „Phantaſien
am Klavier“ op. 36, an die „Nachtbilder“ op. 25 und an die „Romantifhen Geſchichten“ op. 73
wagen.
Die Brahms gewidmeten Walzer op. 23 (2 Hefte) dürften geübtere Dilettantenhände noch
bewältigen können, während die Aquarelle op. 21 (2 Hefte) und die Romanzen op. 22 (2 Hefte)
ſchon über den Rahmen der Hausmuſik hinausgehen. Aber ſchließlich gilt von allen Werken
Kirchners das, was Louis Ehlert fo fein und treffend ſagt: „Kirchners Tondichtungen ver-
ſenken den Hörer in ſich ſelbſt, ſtimmen ihn unſozial (verſunken, ungeſellig) und werden daher
beſſer am einſamen Klavier oder mit wenigen Freunden, denn im Konzertſaal genoſſen. Wer,
der ſich mit dem Komponiſten eingehender beſchaͤftigt, hätte es nicht erfahren, daß manche feiner
ſchöͤnſten Kompoſitionen gewiſſermaßen das Licht der Sonne ſcheuen, daß das Geräuſch des
Tages ihren Herzſchlag übertönt, daß man die Stille der Nacht abwarten muß, um den Zauber
auf ſich wirken zu laſſen, der darin webt und klingt!“
Die dröhnende, auf Derdußerlihung und Maſſendienſt eingeftellte Neuzeit nimmt nun zwar
derartigen Kompoſitionen, wie der verinnerlichenden Kunſtpflege überhaupt, gegenüber eine
mehr und mehr gleichguͤltige Haltung ein. Und es ſtürmen gewiß noch andere nicht zu unter
ſchätzende Gefahren auf die Hausmuſik ein als „der Betrieb der darſtellenden Muſik, der alles
vor die Öffentlichkeit zerrt“. Es iſt eben die täglich wachſende veräußerlichende Ziviliſation, die
auch bei uns beginnt, amerikaniſches Format anzunehmen und wie aller, fo auch der Muſik⸗
Kultur bedenklich an den Kragen geht. Wenn ſämtliche in der Luft liegenden Erfindungen auf
dem Gebiete der muſikaliſchen Übermittlung zur Tat werden und ſich durchſetzen, fo dürfte das
bald zu einem gewaltigen Umſchwung des Muſiklebens führen. Um fo mehr heißt es auf dem
Poſten fein und helfen, der Wiedergeburt der Hausmuſik, die ja ſchon längſt zweifelhafter Salon;
muſik das Feld räumen mußte, den Weg zu ebnen. Denn die Vertiefung der Muſik-Kultur eines
Volkes iſt ohne Pflege guter Muſik im Hauſe nicht denkbar. Ebenſowenig wie man ein Volk
fromm nennen kann, das keine Hausandachten kennt, ſondern nur zu Feſtgottesdienſten fic in die
Kirche findet. Wenn aber in jedem deutſchen Haufe, wo ein Klavier ſteht, auch die Stüde von
Theodor Kirchner und anderen deutſchen Meiſtern ſeines Ranges erklingen, ſo wird das bald
von unvergleichlicher Bedeutung für die Wiedergeburt der Hausmuſik im beſten Sinne des
Wortes werden. Rich. Möbius
Der ſchlappe Bismarck Frankreichs gewandelte Politik und
deren Urſache - Die Vereinigten Staaten von Europa - Abend⸗
ländifhe Wirtfchaftsnöte - Die politiſchen Folgen - Wir und
der Völkerbund - Muſſoliniſche und moſſuliniſche Gefahren
Růͤckblick und Vorblick
ismarck heißt ja immer der eiſerne Kanzler. Allein erſt ſeit er aufhörte, es
zu fein. Solange er es war, wurde im Gegenteil viel über feine Schlapp-
heit geſcholten. Bismarck und ſchlapp! Allein er erzählt ſelber, daß im Auguſt 1866
das ganze Hauptquartier gegen ihn tobte, weil er es ablehnte, den geſchlagenen
Gegnern nach Siegerweiſe die Schröpfköpfe auf die Haut zu ſetzen. Vor dem
„Queſtenberg im Lager“ — ſo nannte man ihn — ſpuckten Generäle aus wegen
ſeines „faulen ſchmachvollen Friedens“.
Wir kennen jetzt den Grund dieſer Milde. Schon drohte nämlich der Austrag
mit Frankreich. Verprellte man die heutigen Gegner, dann trieb ſie dies an die
Seite des morgigen. Die Geſchichte hätte von keinem Wörth und keinem Sedan
zu erzählen, wenn im Juli 1870 die Süͤddeutſchen ſtatt über den Oberrhein über
den Main, die Oſterreicher nach Schleſien vorgebrochen wären. Das linke Rhein-
ufer fiel dann den Franzoſen zu und es gab kein Oeutſches Reich.
Man ſoll alſo nie vorzeitig verdammen; keinen Kartenſpieler kritiſieren, bevor
die Blätter offen auf dem Tiſch liegen. Auch Locarno war erſt ein Stich, aber
noch kein Spiel.
Verfrühtes Lob iſt natürlich ebenſo töricht. Vorſchußlorbeeren verfallen gar
leicht dem Spott der üblen Nachrede. Chamberlain und Briand haben mit be-
ſchwingtem Wort von der Abrüſtung der Herzen geſprochen, vom Geifte der Ver-
ſöhnung und des Vertrauens, von dem Grundſtein einer Freundſchaft zwiſchen
lieben Völkern, den man nun gelegt habe. Ihnen gegenüber ſei nachdrücklich be-
tont, daß Locarno kein Rütli war, ſondern allenfalls eine Abwicklungsſtelle.
Solange Frankreich Haß brauchte, ſo lange wurde er gepredigt. Erſt drei Jahre
iſt es her, ſeit Poincaré frei heraus erklärte, Deutſchland dürfe gar nicht erfüllen
können, damit man das Rheinland nie zu räumen genötigt wäre.
Diefer Taktik ſchob der Dawespakt den erſten Riegel vor. Ein zweiter noch
feſterer wurde Frankreichs wachſende Notlage. Seitdem iſt der Haß zweckwidrig
geworden, und nun erſt baut man ihn ab.
Oer vierjährige Krieg hat den Franzoſen 120 Milliarden gekoſtet; der fieben-
jährige Friede noch 60 obendrein. An dieſer Rieſenſchuld find ſelbſt Caillaux' ſcharfe
Finanzkünſte ſchartig geworden. Loucheur aber hat den gepflegten Bluͤtenteppich
franzöſiſcher Illuſionen mit einer ganzen Steinfuhre rückſichtsloſer Steuervor-
ſchläge verfchüttet. Die Kammer war beftürzt; das aus allen Himmeln geriſſene
356 Zürmers Tagebuch
Land will nod immer nicht glauben, daß es fo ſchlimm ſtehe. Es erzwang viel-
mehr Loucheurs Rücktritt und droht mit einem Steuerſtreik. Inzwiſchen macht es
alle die Inflationsübel durch, woraus uns die Rentenmark erlöſte. Aufgeſcheucht
flieht das Kapital ins Ausland. In ganz Genf iſt kein Stahlfach mehr zu haben;
die Mieter ſind ſämtlich Franzoſen. |
Im Krieg und Nachkrieg hat Briand in ganz demfelben Deutſchenhaß geglüht
wie Clemenceau und Poincaré. Erſt ſeit ein paar Monaten paßt ſich fein Denken
den Verhältniſſen an. Er wurde anders, weil die Lage anders wurde. Anders mit
dem Verſtande, ſchwerlich mit dem Gefühl. Allein beſſer als wir verſteht der Fran-
zoſe, zu wollen, was er muß, und meiſt will er dann auch gleich mit einer gewiſſen
Inbrunſt, die äußerlich faſt wie Gefühl ausſieht.
Frankreich iſt jetzt ſo weit, daß es müſſen muß. Der Druck Englands ſteht dahinter.
Dieſes leidet unter der Verſalller Torheit Lloyd Georges, deſſen walliſiſch beweg-
licher Geiſt allerdings jetzt ſelber das Gegenteil deſſen anrät, was er damals tat.
Nun ſoll ſich das geſtörte Gleichgewicht Europas wieder auspendeln. Noch mehr
drückt Amerika: der Aſſoziierte naher Vergangenheit, aber läſtige Gläubiger bis in
eine ferne Zukunft. Er verlangt Geld und Ruhe; das eine für ſeine noch unbezahlten
Kriegsdarlehen, das andere für ſeinen Friedenshandel, den man endlich aufs neue
aufmachen möchte. Geſchäft alſo das eine wie das andere; Frankreich wie wir inter;
eſſieren drüben bloß vom kaufmänniſchen Standpunkte. Demnach ergeht ein ge
meinſamer Ruf an beide: „Ich will, ihr ſollt Frieden halten und mir ordentlich ab-
kaufen. Wie, ihr hättet kein Geld dazu? So rüſtet doch ab, dann iſt es in Fülle da.
Wir ſind ſehr dafür, daß ihr euch herausrappelt. Denn dann werdet ihr kaufkräftig.
Wir geben euch ſogar Kredite; ſoviel ihr wollt, euer Zinsfuß iſt ja angenehm hoch.
Aber es darf kein Rifito dabei fein, alſo vorher Abrüſtung.“
Briand beugt ſich dem Unabänderlichen. Klüger als wir vor dem Kriege, durch
unſer Schickſal gewitzigt, weiß er, daß der Widerſtrebende eingekreiſt und nieder-
gebort wird. So macht ſich der alte Rüſtungsfanatiker zum Anwalt der Abrüftung.
Er betreibt fie in Genf mit einem Eifer, der außen Glut, aber innen Eis iſt. Frage
bogen werden verſandt und Vorkonferenzen zur Vorkonferenz in Ausſicht genom-
men. Schmunzelnd meint der „Temps“, auf dieſem Wege ſei man etwa in einem
Menſchenalter ſchon dicht an die Hauptfrage heran.
In dieſem Nachgeben vor Amerika liegt alſo zugleich ein verſtohlenes Front-
machen gegen Amerika. Wir gewahren dies auch ſonſt. Seine Wirtſchaft ſteckt mehr
und mehr die ganze Welt in ihren Sack. Sie iſt unvergleichlich beſſer geſtellt als die
anderen, denn ſie hat alle Rohſtoffe im Lande. Von der Kohle iſt ſie zum Ol, vom
Dampf zur Elektrizität vorgeſchritten; ihre Truſts verteilen die Arbeit im Sinne
ausgetiftelter Zeit- und Krafterſparnis. Fordſche Methoden und hohe Akkord-
löhne holen aus dem Arbeiter die dreifache Leiſtung heraus. Ungeheuer klug, fein
und raſch arbeitend, hat daher ihre Technik die europäiſche weit überholt. Sie ver-
mag einen Himmelskratzer von 36 Stockwerken hundert Tage nach dem erſten
Spatenſtich bezugsfertig abzuliefern. Während des Weltkrieges war es ſolcher Ge-
ſchicklichkeit ein leichtes, den Welthandel an ſich zu reißen. Nun braucht man Europa
nur noch als Käufer, deſto mehr dieſes Amerika als Geldleiher.
Zürmers Tagebuch 357
Denn unſre alte Welt ſiecht an dem Selbſtmordverſuch der letzten zwölf Jahre.
Mährend ſich drüben alles vertruſtet, hat fie ſich umgekehrt zerſplittert und baltani-
ſiert. Bordem gab es in Europa 15 Wirtſchaften mit eigner Währung; jetzt doppelt
ſo viel. Ihrer jede iſt einzeln ein David gegen den Goliath, leider ein David ohne
Schleuder. Ob es wenigſtens hilft, wenn fie ſich zuſammentun zu verſtärkter Er-
zeugung und erleichtertem Austauſch?
Gerade Briand, durch Loucheur beraten, ruft dazu auf. Die gegenwärtige Organi-
ſation der Unwirtſchaftlichkeit müffe ein Ende haben. Das politiſche Locarno bedeute
nichts, wenn nicht ein wirtſchaftliches folge. Es fei nötig, in Erdteilen denken zu ler-
nen und den Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa
entgegenzuſtellen. f
Darunter darf nun Deutſchland nicht fehlen, das Herz und der Eiſenhammer des
Feſtlandes. Aber wie das ſiegerdünkelhaft mißhandelte Volk dem Gedanken auf-
ſchließen? Politiſches Entgegenkommen muß Atmoſphäre ſchaffen. Daher der plöß-
liche Wandel des Mannes, der noch Düſſeldorf, Duisburg und Ruhrort feindſelig
beſetzte; daher der heilig geſprochene „Geiſt von Locarno“, der ſich plötzlich auf den
Siebenvölkertag ausgoß und auf die Häupter in Zungen verteilte, als wären ſie
feurig.
Im Sabre 1916, alſo auf der Gipfelhöhe des Krieges, erſchien Naumanns „Mittel-
europa“. Sein Gedanke eines ewigen Wirtſchaftsbundes der beiden verbündeten
Kaiſerreiche verflog mit deren Niederlage. Aber ein paar Jahre ſpäter ſchlug der
Graf Coudenhove-Kalergi „Paneuropa“ vor; einen ſowohl wirtſchaftlichen wie po-
litiſchen Staatenbund. Es war eine pazifiſtiſche Träumerei, die unter anderm die
„Intereuropäiſierung der Schulen“ verlangte und den Haß des einen Mitglied-
ſtaates gegen den anderen als „Hochverrat an Paneuropa“ beſtrafen wollte.
Immerhin werden jetzt einige ſeiner klügeren Gedanken herausgegriffen und auch
von unſeren Staatsmännern auf praktiſche Durchführbarkeit ernſtlich geprüft. Man
meint, es laſſe ſich reden über ein europäiſches Eiſenbahnabkommen, ein gemein-
ſames Flugweſen und namentlich über den Abbau der gegeneinander feindſelig
aufgeworfenen Zollſchützengraben. Dabei käme ſo etwas ähnliches heraus, wie vor
hundert Jahren unſer Zollverein geweſen: überhaupt Friedrich Lifts deutſche Vor-
ſchläge ins Europäifche erweitert. Bis zu welchem Grade der Plan ſich verwirklicht,
das ſteht dahin; aber er liegt in der Luft als Rückwirkung der gemeinſamen Notlage
Europas.
Wie es mit uns am Jahresende ſteht; bedarf es vieler Worte? Wir haben jetzt
weit über eine halbe Million Arbeitsloſe; bei Winters Ausgang, ſo fürchtet man,
wird die ganze voll ſein. Abgebaute und Kurzarbeiter ſind da gar noch nicht einmal
mit hineingerechnet.
Hart ringt unſere Wirtſchaft um ihr nacktes Daſein. Im November wurden
26000 Wechſel proteſtiert und es gab gegen 1500 Pleiten. Der Abſatz ftodt, nament-
lich wegen der franzöſiſchen Währungskriſis. Denn der Frank, unter ſein Fünftel
verjadt, macht die Ausfuhr zur Schleuderkonkurrenz. Italien kauft jetzt zwanzigmal
ſo viel franzöſiſche Metallwaren, daher noch nicht ein Zehntel ſo viel deutſche als
früher. Vor drei Jahren war es gerade umgekehrt. Wenn die einen Inflation haben,
-
358 N Türmets Tagebuch
kommt Abſatzkriſe und Arbeitsloſigkeit über die anderen. Dem Franz wird der Bad-
zahn hohl und der Hans bekommt davon die Zahnſchmerzen. Er gewinnt natürlich
großes Intereſſe daran, daß jenem der Nerv getötet, die Stockſtelle ausgebohrt und
gefüllt wird.
Sogar England füttert jetzt fünf Viertelmillionen Arbeitsloſe. Das unterbietende
Frankreich in Europa, das beſſer liefernde Amerika in der Welt rauben ihm die
Abſatzmärkte. Auch haben die Dominions, während des Krieges infolge der U- Boots-
nöte unverſorgt geblieben, eigne Induſtrien aufgemacht und find jetzt Selbſt⸗
verſorger. Nach einem amerikaniſchen Sachverſtändigenurteil find überdies die eng-
liſchen Anlagen veraltet, die Methoden überholt. England fei nicht mehr konkurrenz-
fähig, völlig drunter durch (down and out). Wenn man dergleichen lieſt, dann ſummt
einem ſo etwas durch den Kopf wie ein Schickſalslied der Parzen, und der Kehrreim
iſt immer: „Untergang des Abendlandes“.
Denn unfre deutſche Induſtrie ift noch weit ſchlechter daran durch das Dawes⸗
Abkommen. Es wirkt ſich bei ihr aus in Obligationsbelaſtung, hohen Steuern, ver-
teuerter Fracht, und ſeine Härte ſteigert ſich nach dem Plane von Jahr zu Jahr. Sie
möchte vorwärts kommen, wird aber gezwungen, ſich im Kreiſe zu bewegen. Wenn
man zahlen ſoll, muß man verdienen können; ihrer Maſſenerzeugung wird jedoch
der Maſſenabſatz geſperrt. Überdies ſoll ihr ausgemergelter Körper das Oritthalb-
fache deſſen auf die Schultern nehmen, was vor dem Kriege ihr geſunder trug. Ge-
wiegte Volkswirte kündigen an, ſpäteſtens im nächſten Frühjahr erliege ſie der
Daweslaſt. Wir müffen daher ſuchen, dieſes ſcharfkantigen Kreuzes ledig zu werden.
Die Briandſchen Anregungen weiſen einen Weg, wenn auch der Franzoſe ſelber
dabei natuͤrlich an einen Verzicht auf Reparationen am allerletzten denkt. Wir aber
haben in dieſem Sinne zu arbeiten, und die Lage auszunutzen. Alle europäiſchen
Nöte haben dieſelbe Wellenlänge, und auf ihr liegt das Einverſtändnis.
Das muß natürlich auch neue politiſche Rückwirkungen zeitigen. Die bisherigen
find beſſer als gar keine, aber fie genügen nicht. Zumal das höhnende Wort fran-
zöſiſcher Offiziere bekannt wurde, daß man ſelbſt von dem Zugeſtandenen am
Rheine nicht allzu viel ſpüren werde. |
In dieſem Urnebel werdender Dinge hätte uns die Kabinettskriſe erfpart bleiben
ſollen. In Luther hatten wir einen tiefreligiöfen, von reinſter Vaterlandsliebe
durchdrungenen, abgeklärt ſachlichen, verantwortungsfrohen, zähen und tat-
kräftigen Kanzler. Er hat weder dem deutſchen Vorteil noch der deutſchen Würde
je das geringſte vergeben. Das Vertrauen Hindenburgs trug ihn, und dies be
ſchwichtigt das Bedenken derer, die ein geſchärftes Mißtrauen haben gegen alle
Abkommen mit den alten Gegnern.
Voriges Jahr verwies Macdonald auf den leeren Banquoſitz im Genfer Refor-
mationsſaale. Es wird ein folgenſchwerer Tag fein, wenn Deutſchland ihn ein-
nimmt. Zuerſt wollte man uns nicht, dann holte man uns. Sollen wir feindlichen
Zwecken dienen oder werden wir den Völkerbund uns nutzbar machen? Das iſt eine
Frage der größeren Geſchicklichkeit. Ich denke an die heilige Allianz. Sie wurde
nach den Freiheitskriegen gegen Frankreich gegründet wie der Völkerbund nach
dem Weltkriege gegen uns. Talleyrand, der einer der geriſſenſten Diplomaten der
Zürmers Tagebuch 359
Weltgeſchichte war, hat den ſtolzen Trotzigen nicht geſpielt. Mit allen Mitteln
legte er es darauf an, hineinzukommen, und es gelang. Aber mit dieſem Eintritt
hatte der Klüngel für Frankreich Schärfe und Gefahr verloren.
Der Völkerbund ſteht vor Feuerproben. Er hat Moſſul England zugeſprochen.
Die türkiſche Preſſe tobt; Heer wie Gaſſe ſchreien nach dem Einmarſch in den Frak.
Kommt es hart auf hart, dann iſt der Krieg da; wenn Räterußland Angora unter-
ftüßt, dann ſogar der neue Weltkrieg. Denn man munkelt, England habe ſich be-
reits den italieniſchen Imperialismus gekauft und wolle ihn den Kemaliſten wie
eine Handgranate vor die Füße ſchleudern. Der Brite arbeitet immer mit Bundes-
genoſſen; er bezahlt fie auf Halb- oder Viertelpart der Siegesbeute.
Vorläufig iſt's erſt Rückverſicherung. London richtet ſich klug auf mögliche Kon-
flitte ein, ſcheut fie aber ebenſo klug unter den jetzigen Verhältniſſen. In Angora
iſt das nicht unbekannt. So könnten Geſchrei und Waffenlärm als Bluff gedeutet
werden. Die Türkei hat Anlaß, kriegsmüde zu fein, und der alte iſlamitiſche Fatalis
mus, der mit dem bequemen „wenn Allah will, dann —“ über jedes Bedenken
hinwegkam, ift im aufkläreriſchen Angora längſt von des Zweifels Bläſſe an-
gekränkelt. Seit vierzehn Jahren hat man faſt unabläſſig gekämpft. Mit Italien,
den Balkanſtaaten, den Verbandsmächten und mit Griechenland. Faſt das ganze
junge Geſchlecht modert zwiſchen Donau und Kaukaſus, dem Toten Meere und
dem Perſiſchen Golf. Bis ein neues erwächſt, dauert es gut und gern feine fünf-
zehn Jahre. Auch iſt die ruſſiſche Hilfe entweder zweifelhaft oder hinterhaltig.
Man traue keinem Mauleſel und keinem Bolſchewiſten! Es hat ſchon Schützer ge-
geben, die zwar eilfertig kamen, aber dann nicht mehr weggingen und Bedrücker
wurden.
Ebenſo gefährlich für den Beſtand des Völkerbundes iſt der Faſzismus. Seinem
Prahlen nach ſoll künftig die Welt an der italieniſchen Kultur geneſen, ſeine
Benehmeformen find jedoch nur Proben wüſteſter Untultur. Die deutſchen Minder-
heiten Südtirols werden in himmelſchreiender Weiſe mißhandelt und vergewaltigt.
Von faſelndem Größenwahn erfaßt, träumt man ein neues Imperium romanum.
Das Fragebuch der Jungmannen macht eine verzehnfachte Irredenta auf. Frank-
reich ſoll Savoyen und Nizza, Korſika und Tunis hergeben, England Malta. Von
der Schweiz wird das ganze Teſſin und das halbe Graubünden verlangt, von
Oſterreich die Selztaler Alpen, der Hohe Tauern und das halbe Kärnten, von den
Südjlaven ganz Dalmatien und zu alledem kommt noch Albanien. Die brutale
Fauſt, die ſchon längſt im Lande waltet, fuchtelt jetzt auch jedem Nachbarſtaate
in höchſt völkerbundswidriger Weiſe vor der Naſe herum. Der Duce treibt ein
gefahrvolles Spiel. Er überheizt den Keſſel völkiſcher Leidenſchaften, und eines
Tages wird er platzen.
So ſehr wir mit den Brüdern in Südtirol leiden, ſo ſicher wir ihnen zu helfen
ſuchen werden, ſobald wir Sitz und Stimme haben im Genfer Rate, vorläufig
berühren uns dieſe muſſoliniſchen und noch mehr die moſſuliniſchen Fragen nur
indirekt. Aber ſie verlangen ſcharfes Augenmerk. Die Geſchichte iſt die große Lehre
von den nie geahnten Fernwirkungen. Erſt recht die neuſte, die merkwürdige fee-
liſche Aberlandkraftanlagen enthüllt hat. An jenem Sonntagnachmittag, als die
560 Zürmers Tages
erfte Runde ausging von dem Serajewo- Morde, wer von den im Weltkriege Se
fallenen hätte damals geahnt, daß mit dem Todeslos des öſterreichiſchen Er
herzogs auch das ſeinige geworfen war?
Wir ziehen jetzt den Summenſtrich unter das alte Jahr. Der Abſchluß iſt wirt
ſchaftlich trübe. Politiſch indes buchen wir die Befreiung von Ruhr und Nieder
rhein; wenn auch nicht als Gewinn, ſo immerhin als ein doch noch eingegangenes
unſicheres Guthaben. Auch die Erleichterungen in den beiden Zonen gehen zwat
bei weitem nicht ſo weit, wie wir verlangen können, allein doch weiter, als wir am
vorigen Neujahrstage erwarteten. Während im Innern noch alles wogt und gätt,
hat ſich unſer äußeres Anſehen gefeſtigt, und aus einem ausgeſtoßenen Staate ſind
wir ein mitbeſtimmender geworden. Zahlen wir den Siegern Reparationen an
Geld, ſo zahlen ſie uns jetzt Reparationen des Einfluſſes.
Im Jahre 1919 wurde der Friede geſchloſſen, jetzt erſt haben wir ihn. Im Früh
ling ſoll ja ſogar auf Briands Einladung Streſemann nach Paris fahren. Er ware
der erſte deutſche Miniſter, der dienſtlich wieder hinkäme; der erſte, nicht etwa
ſeit 1914, ſondern ſeit 1871. Als zwanzig Jahre nach dem Frankfurter Frieden die
Kaiſerin Friedrich Paris zu beſuchen wagte, da wurde ſie von dem Pöbel der
Boulange ausgepfiffen. Wie wird es Streſemann ergehen, ſieben Jahre nach dem
Frieden von Verſailles?
Allein er kommt als Gaſt. Man ſoll wie nichts in der Politik, fo auch dieſe Wen-
dung nicht überſchätzen. Sie entſpringt dem herriſchen Befehl der ungeſtümen
Preſſerin Not, keinem Inſichgehen der franzöſiſchen Seele. Es iſt Verkehr auf
Kündigung. Auch Poincaré kann wiederkommen und mit einem Wandel der Lage
ſogar Briand ſelber ſich über Nacht wieder wandeln. Ganz wie der Verſtand es für
rätlich hält, ſo ſchlagen in der Politik die Gefühle um. Es iſt weder Pazifismus noch
Mangel an vaterländiſchem Rückgrat, wenn man ſich nüchtern ſagt, daß gerade das
Zerfleiſchen des Weltkrieges die Völker Europas in eine Schickſalsgemeinſchaft ge
zwungen hat. Nachdem in London der Locarno- Vertrag unterſchrieben war, fprad
Streſemann das nachdenkliche Wort: „Wenn wir untergehen, dann gehen wit
gemeinſchaftlich unter; wenn wir in die Höhe kommen wollen, können wir es
nicht im Kampfe gegeneinander, ſondern nur im Zuſammenwirken miteir
ander.“ Das neue Jahr eröffnet ſomit weite Ausblicke. Wer lebt, der wird an feinem
Schluſſe ſehen, wie viele Vorſätze Tat geworden und wie viele Taten Fortſchritte.
Abgeſchloſſen am 19. Dezember 1925]
5 „ 1 — 14 ei
— er rn
Gruß an Rudolf Eucken
1846 — 5. Januar — 1926
an ſoll dieſes Tages gedenken als eines
Feiertages der Seele.
Achtzig Jahre jind viel für ein Menſchen⸗
leben. Was geſchah nicht in den achtzig Jahren
ſeit 18461 Eines Volkes Aufſtieg und Nieder-
gang; ein ſtürmiſches Vorwärtsdrängen in
techniſchen Dingen und ein jähes Erlahmen
der ſeeliſchen Kraft; eine Reichsgründung und
ein Reichszuſammenbruch. Wie viele kamen
und gingen, wie manche waren bekannt und
ſind nun — vergeſſen. Achtzig Jahre!
Aber für das eine Menſchenleben waren
ſie mehr noch als der Rhythmus der Zeit und
die flüchtige Stunde, die aus der Ewigkeit
rinnt. Acht Jahrzehnte waren es, geſchaut mit
den Augen der Liebe von Menſch zu Menſch,
durchlitten in bitterer Sorge um den Sufam-
menbruch, der kommen mußte, durchkämpft
in gabem Ringen um die Seele unſeres Volkes,
um die Seele jedes einzelnen von uns. Wißt
ihr, was es heißt, das Verhängnis nahen zu
ſehen und es doch nicht aufhalten zu können?
Ahnt ihr das Herzeleid, wiſſend zu ſein und
vergeblich zu mahnen und zu rufen? Und
wieviel Mut und Glauben gehören dazu, den
noch immer und immer wieder den Kampf
aufzunehmen gegen Tand und Trug und
Halbheit, um einem neuen Leben zum Siege
zu verhelfen.
Ja, einem neuen Leben! Der Durchſchnitts-
menſch ſchaut in dieſen Tagen nur die Nebel,
die ſchwer und dick über eurem Tale laſten;
aber in der Höhe kämpft die Sonne mit ihnen
und wird ſie bezwingen. Ihr trauert um eine
„Iterbende Epoche“: ihr ſolltet lieber lauſchen
auf den Pulsſchlag des Jahrhunderts, welches
kommt. Und diefes Jahrhundert wird im Zei-
chen eines neuen Zdealis mus ſtehen, wie
ihn Rudolf Eucken lebenslang vertreten hat.
Die kommende Zeit braucht andere Men-
ſchen, als dieſes Zeitalter der Naturaliſten und
ontellettualiften, der Relativiften und Mam-
moniſten. Ihr wird erfteben ein gläubiges
der Türmer XXVI, 4
Geſchlecht, das in der Tiefe des Ewig-Gött-
lichen wurzelt, wo es Halt und Hilfe findet.
In Ehrfurcht wird es ſich beugen vor dem
weltweiſen Willen über ihm, demütig sic rü-
ſten zu feinem Waffen und Werkzeug. Es wer-
den feine und ſtille Menſchen fein, die vom
Herzen aus tapfer den Kampf aufnehmen
um ihres Lebens Größe und Znhalt, ſich
ſelbſt, dem Volk, der Menſchheit zu dienen.
Zum Tun ſeid ihr beſtellt, Freunde! Wer-
det Tat!
So grüßen wir zu ſeinem achtzigſten Ge-
burtstag Rudolf Eucken, den Kuͤnder und Weg-
bereiter einer neuen Zeit. Fritz Vater
Anthropoſophiſches
n den Gruppen ber Steinerſchen Anthro-
poſophie läuft eine Legende um. Dieſe
Denkweiſe — man kann ſie auch ſchon eine
niedliche Verleumdung nennen — iſt mir
brieflich und mündlich zu Ohren gekommen;
und ein junger Menſch gibt ihr in der Wochen;
ſchrift „Anthropoſophie“ (Nr. 41, 11. Okt.
1925, Herausgeber: der Vorſtand der anthro-
poſophiſchen Geſellſchaft in Oeutſchland,
Schriftleiter: Dr. Kurt Piper) gleichſam offi-
ziellen Ausdruck. Er ſchreibt: „Uns fällt auf,
daß Lienhards Abrüden von der geiſtigen Be⸗
wegung Rud. Steiners zuſammenfällt mit
etwas, das mir als ein Abruͤcken der geiſtig en
Kräfte von ihm erſcheint; ſeine Zeit war in
dem Augenblick aus, als er ſich von Stei-
ner abwandte.“ Und ſo ſetzt denn Herr
Kunze mein Schaffen kräftig herunter. Ich
hätte zwar „verheißungsvoll“ begonnen; er
läßt „Wieland“, „Wege nach Weimar“, „Ober-
lin“ gelten; lehnt aber unvorſichtigerweiſe ge-
rade den „Spielmann“ (1913) ab, deſſen leicht;
ironiſchen Unterton er nicht vernommen hat,
erſt recht die drei Bände „Meiſter der Menſch⸗
heit“. Worte wie „Zerfahrenheit“, „Alters-
erſcheinung“, „Pathos der Lamentation”,
„Unkonzentriertheit der Geſtaltung oder des
Stils“, Mangel an „Selbſterkenntnis“ be-
zeichnen dieſe Tonart. Dazwiſchen behauptet
24
362
der unkundige Jüngling, ich „leugne“ die
Realität der geiſtigen Welt oder wiſſe ſie
„nicht mehr zu begreifen“. Und zum Schluß
empfiehlt er ſeinen Geſinnungsgenoſſen ein
ſachliches Nachdenken über ein ſo bebauerns-
wertes Schickſal“!
Ich trat darauf dieſer Legendenbildung mit
folgender Berichtigung entgegen, die ich der
„Anthropoſophie“ einſandte, und die ich auch
den Türmerleſern nicht vorenthalten möchte:
Sehr geehrte Schriftleitung!
Geſtatten Sie mir, Ihnen und dem Vor-
ſtand der Anthropoſophiſchen Geſellſchaft in
Deutſchland mein Befremden über den Auf-
fat des Herrn Wilhelm Kunze in der Wochen-
ſchrift „Anthroposophie“ (11. Okt. 1925) aus-
zudrücken. Dieſer Artikel verbreitet irrige Tat-
ſachen; und ſeine Schlußfolgerungen ſind
lieblos. Ich ſtelle folgendes feſt:
1. Meine grundſätzliche Einſtellung zur gei-
ſtigen Welt iſt heute noch genau dieſelbe wie
vor 25 oder 30 Jahren, als ich Swedenborg,
die ſpiritiſtiſche und die theoſophiſche Literatur
ſtudierte. Demnach find die mehrfachen Wen-
dungen des Herrn Kunze, daß ich die Reali-
tät der geiſtigen Welt „nicht mehr zu begreifen
vermag“ oder „leugne“, vollſtändig irrig.
2. Ebenſo falſch iſt die Behauptung: „Uns
fällt nämlich ins Auge, daß ſein Abrücken von
der geiſtigen Bewegung Steiners zuſammen-
fällt mit etwas, das mir als ein Abrücken der
geiſtigen Kräfte von ihm erſcheint; ſeine Zeit
war in dem Augenblick aus, wo er ſich von
Steiner abwandte.“ Ich bin erſt im Winter
1910 / 11 als auswärtiges Mitglied einer
Stuttgarter Gruppe beigetreten, habe dann
bis zum Ausbruch des Weltkrieges an zahl-
reichen Tagungen teilgenommen, Bucher und
Kurſe gründlich ſtudiert, oft mit Steiner ge-
ſprochen und ebenſo wertvolle wie eigenartige
Menſchen kennen und ſchätzen gelernt. Heute
noch bin ich Ehrenmitglied der Stuttgarter
und der Berliner Loge. In jenen vier Jahren
ſchrieb ich ein einziges Buch (als Ergebnis
einer Reife nach der Provence und nach Spa-
nien): den Roman: „Der Spielmann“ (1913).
Und gerade dieſes Buch lehrt Herr Kunze
ab! Die vorher geſchriebenen Werke „Ober-
lin“, „Wege nach Weimar“, „Wieland“ läßt
Auf der Varte
er gelten. Seine Schlußfolgerung iſt alſo
haltlos.
3. Durch die anthropoſophiſchen und theo-
ſophiſchen Kreiſe bin ich ebenſo ſelbſtändig
bindurchgegangen, wie etwa vorher durch die
Bewegung eines Johannes Müller. Dr. Stei-
ner achtete dieſe Selbſtändigkeit und ſagte mir
in einer privaten Unterredung zu Baſel fol-
gendes: „Ich habe kein Recht, mit Medita-
tionen in Ihre Entwicklung einzugreifen, denn
Sie haben am deutſchen Volk eine beſondere
Sendung. Was ich aber tun kann, iſt dieſes:
ich gebe Ihnen hiermit die Erlaubnis, nicht
nur an unſeren eſoteriſchen Kurſen teilzu-
nehmen, ſondern auch unſere Veranſtaltungen
im Tempel zu beſuchen.“ So weitherzig war
der Führer der Anthropoſophen.
4. Dann kam der Weltkrieg, der für uns El-
ſäſſer ganz beſonders erſchütternde Wirkungen
mit ſich brachte und mir die Heimat raubte. Fh
ſchrieb außer einer Reibe Kriegsſchriften in
dieſen ſchweren zehn Jahren noch folgendes:
„Der Einſiedler und fein Volk“ (Novellen,
1915), „Jugendjahre“ (1918), „Phidias“ (1918),
„Weſtmark“ (Roman, 1919), „Oer Meifter
der Menſchheit (drei Bände, 1918 bis 1921),
„Unter dem Roſenkreuz“ (1925) und übernahm
im Jahre 1920 die mich außerordentlich be-
laſtende Leitung des „Türmers“. Jeder Un-
befangene ſollte dieſe Arbeitsleiſtung achten.
5. Es heißt nicht die Realitäten der geiſtigen
Welt „leugnen“, wenn man ſich unter anderen
Lebenslaſten von der anthropoſophiſchen Ver-
einstdtigteit guriidgiebt; und ich ſehe kein „be-
dauernswertes Schickſal“ darin, wenn ich
Methoden der Anthropoſophie oder manche
Dogmen und Lehren für mich ablehnen muß.
Cs entſpricht aber nicht meiner Einſtellung,
mich bei einem Auseinanderwachſen gehäſſig
über Perſönlichkeiten oder Richtungen auszu-
ſprechen, die mir einmal menſchlich nahe-
geſtanden haben. In meinem „Meiſter der
Menſchheit“ III, 11. Aufl., S. 129) ſteht über
Steiner der Satz: „Bemerken will ich bei
dieſem Anlaß, daß ich perſönlich bei mannig-
fachem Zuſammenſein mit Rud. Steiner nie-
mals irgendwelche Aufdringlichkeit bei ihm
bemerkt habe, ſondern nur mit unein-
geſchränktem Dank — ich betone dies —
Auf ber Warte
an feine Anregungen zurüddente.“ Ich ſetzte
bei den Anthropoſophien eine ähnliche Gefin-
nung mir gegenüber voraus und bin erftaunt
über die herabſetzenden Worte, bie ſich der
dreiund zwanzigjährige Herr Kunze gegenüber
einem Sechzigjährigen leiſten darf, ohne daß
die reiferen Herren des Vorſtandes ihm in den
Arm fallen. Es gehört nach meiner Erinnerung
zu den vornehmſten Anſtandspflichten eines
Anthropoſophen, die innere Freiheit eines
Mitmenſchen zu achten.
Mit hochachtungsvollem Gruß
Weimar, 24. Nov. 1925.
Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard.
— Über den Verbleib dieſer Berichtigung
habe ich bis heute (16. Dezember) noch nichts
vernommen. L.
Vom, Heliand“ und feinem Sänger
s ift ergreifend zu leſen, daß in jenem
Lande, welches mehr als 30 Jahre ſich
gegen die Übermacht des Frankenkaiſers Karl
gewehrt hatte, dem Lande, welches im Blut-
gericht von Verden Aber 4000 feiner Edelſten
binmorden fab und ganz zur „roten Erde“
wurde, daß in dieſem von Krieg und Trauer,
Sreuel und Grauſen übervollen Niederſachſen
über alle Verwüſtung hoch hinweg ſich in den
20er Jahren des 9. Jahrhunderts wie eine
Lilie das Lied vom Leben des Heilands
erhebt. Ein Künſtler und religiöfer Mensch hat
es aus lauterem Herzen und reinem Gemüt
geftaltet, Leiden zu mildern und fein Volk
emporzuziehen in den Glauben an Chriſtus,
ſtärker als brutale Fauſt und mächtiger als das
Schwert: das Lied vom „Heli and“.
Sind wir nicht heute, nach den Greueln des
langen Krieges, in einer ähnlichen Zeit?
Brauchen wir nicht wieder einmal den Helfer
und Heiler: den Heiland oder Heliand?
Man hat Verfuche gemacht, jenen Sang
dem neudeutſchen Volke nahe zu bringen, aber
Beſitz iſt es ihm nicht geworden. Wer würde
von unſerer „modernen“ Welt, die nur Ober-
fläche liebt und für die das Wort Verinner-
lichung eben nur ein Wort iſt, ſich einmal mit
heiligem Ernſt in dieſe erſte Meſſiade ver-
tiefen? Was ich hier ſchreibe, mochte nur eine
363
kleine Anregung für die „Türmer-Gemeinde“
ſein.
Was uns ſo beſtrickt an dieſem großen Epos,
das in altgermaniſcher Form das Leben des
Heilands erzählt, iſt dies: über und in dem
Ganzen liegt heimiſch-germaniſches Gepräge;
Geftalten und Begebenheiten werden mit alt-
germaniſchen Vorſtellungen lebendig gemacht.
Man hat geſagt, daß in dieſem Werke ein
„deutſches Chriſtentum“ gepredigt ſei. Aber
wo in Norddeutſchland iſt der Heliandſänger
zu ſuchen? Oenkt niemand an den furchtbaren
Hintergrund — Widukinds Kämpfe —, vor
dem ein paar Jahrzehnte fpdter das Heilands-
lied ertönt? Muß immer eine wiſſentliche Be⸗
einfluſſung durch angelſächſiſche Dichter ftatt-
gefunden haben, wo doch manches Verwandte
im angelſächſiſchen und niederdeutſchen For-
melſchatz bereits beſtand? Wir ſehen den
Heliandſänger als einen großen Künſtler an,
der ſeine ſchwere Aufgabe wundervoll löſte.
Nicht um eine „Überfegung“ der Evangelien
handelt es ſich, ſondern um eine Schöpfung.
Im „Heliand“ ſchafft ein Künſtler. Er weiß,
daß ſeine Sachſen, deren Eltern noch bluten
von Widukinds Kämpfen, nicht den Chriſtus
annehmen, den die Prieſter des Frankenkaiſers
Karl mit Blut und Brand einbrennen wollten.
Darum taucht er die ausgewählten Matthäus-
Kapitel in Heimiſches. Chriſtus erſcheint als
ein mächtiger, freigebig-germaniſcher König.
Seine Gefolgſchaft find die Jünger, edel-
geborene Männer, herrliche Degen, die dem
Fürſten aus vornehmem Hauſe dienen. Er,
der Ringfpender, belohnt ihre Treue mit gol-
denen Armringen. Treue! Es muß dem Dich-
ter ſchwer geworden fein, fo milde zu ſchreiben;
aber er kann nicht umhin, einmal, wo eine
Kampfſchilderung einzureihen war, die Treue
der Gefolgsmannen zum Schwerte greifen zu
lajfen. („Da erzuͤrnt ward der ſchnelle Schwert-
degen Simon Petrus...)
Der Dichter bringt an jener Stelle den ein-
fachen Bericht der Bibel plaſtiſch und lebens-
voll, und wir können das in der ganzen Dich-
tung verfolgen. Stellen, die das germaniſche
Empfinden gekränkt hätten, der Verrat des
Judas oder das feige Verlaſſen der Jünger,
werden begründet oder entſchuldigt. Wie viel
364
germaniſche Anſchauungen in dieſer Gadfen-
dichtung ſtecken, kann auf dieſem engen Raume
nicht dargeſtellt werden. Der Helianddichter
kennt noch die Wurd, das Schickſal, das bei
ihm geradezu Verhängnis und Tod bedeutet.
Es iſt etwas wunderbar Schönes, wie neben
dieſen im Volke lebenden Anſchauungen, die
in ihrem Eigenleben vom Welſchtum und
römiſchen Weſen nicht zerwalzt find, die ſtille
reine Geſtalt Chriſti ſteht. Wer den „Heliand“
als bloße Überfegung aus dem Angelſächſiſchen
ſieht, hat nie niederdeutſche Art kennen ge-
lernt und nie in das Schaffen eines Dichters
geblickt, der eine hohe Dichtung ganz eigen
artig geſtaltete, ſchwungvoll, wuchtig und mit
allen äußeren Kunſtmitteln.
Wer ijt der Dichter des „Heliand“ und wo
iſt das Werk entſtanden? Das ſind zwei
Fragen, die ebenſoſehr die gelehrte Welt be-
ſchäftigt haben wie die nach dem „Nibelungen
dichter“. Man ſtreitet ſich oft in geradezu kind;
licher Weiſe, ob er ein Geiſtlicher oder ein
Laie war. Man hat geglaubt, die Dichtung
ſei in Holſtein oder Nordfrankreich, ſei in
Hersfeld oder Halberſtadt entſtanden; wo
immer irgend eine Form der Sprache Wege
wies, wo ein um die Zeit gebautes Kloſter
auftauchte: dort mußte jener unbekannte
Künſtler gelebt haben. Vorſichtig mahnt der
Germaniſt Theodor Siebs (ohne ſonſt eigent-
lich recht Pofitives zu bringen): „Jedenfalls
ſind alle Schlüyfe, die aus den Schilderungen
der Landſchaft über Sitten uſw. auf den Did-
ter und ſeine Heimat gezogen werden, mit
Vorſicht aufzunehmen.“ Wir können hier nicht
den vielen Vermutungen nachgehen, ſondern
gunddjt nur daran erinnern, daß Ludwig der
Fromme einen als Oichter nicht unbekannten
Sachſen mit der Abfaſſung der Dichtung be-
auftragte, wie uns eine lateiniſche Mitteilung
aus dem 17. Jahrhundert bekundet. Aber eine
neue Hypotheſe, die Prof. Böckelmann im
„Herforder Heimatblatt“ (2. Jahrg. Nr. 3)
vor einiger Zeit mitteilte, hat ſo viel An-
ziehendes, daß man an ihr nicht vorübergehen
darf. Ob man ihm folgen kann, ift eine Streit-
frage. Er ſieht den Dichter im Abt Adalhard
von Corbie, dem Begründer von Corvey. Er
kommt zu folgenden Ergebniſſen: Die Dich-
Auf der Warts
tung, die den Beſtrebungen Karls des Großen
entſpricht, iſt aus der Lehrtätigkeit des Abtes
in Corbie (Nordfrankreich) zurückzuführen, wo
er junge ſächſiſche Adelige zu Miffionaren fir
ihre Heimat ausbilden mußte. Nach Karls
Tode (814) wurde das Werk, als Adalhard von
Ludwig nach dem Kloſter Heri, der alten Inſel
Norimutier in Frankreich, verbannt war, wäh
rend Adalhards ſiebenjährigen Aufenthalt
unter den Eindrücken der See gefördert, ver-
mutlich im Verein mit ſächſiſchen Zöͤglingen.
Die unbefriedigte Lage in Sachſen veranlaßte
Ludwig den Frommen im Jahre 821 Adalhard
zurüdzurufen und, feinen Anregungen fer
gend, die Gründung von Corvey und Herford
und die Herausgabe der Miſſionsdichtung an-
zuordnen. Infolge der ablehnenden Haltung
des ſächſiſchen Volkes gegen das Mönchsweſen
wird das Werk in Anlehnung an germaniſche
Anſchauungen und Kunſtformen in Sachſen
vollendet, unter Benutzung bibliſcher Kom-
mentare. Die letzte Faſſung aber ſoll ihm ein
ſächſiſcher Volksſänger (scöp) gegeben baben.
Mit dieſer Auffaſſung will Prof. Böcker
mann auch einige Rätſel, die der Erflärung
im Wege ſtanden, löjen: „Das auffallende
Hervortreten des Meeres, das Salz am
Strande, die romaniſchen Antlänge, die frank
ſchen Sprachformen, die Entſtehung zu ſo
früher Zeit nach kaum beendigter Unter
werfung .. .“
Sicher, dieſe Auffaffung hat etwas Feffeir
des. Doch möchte ich ihr bei aller Anerkennung
widerſprechen. Wenn der Weſtwind (weströni
wind) auf der Inſel Heri irgendeinen Aus
ſchlag für die Nähe des Weltmeers geben foll:
konnte man ihn nicht auch an norddeutſchen
Küften fühlen? Die übrigen Argumente find
ſo wenig ſtichhaltig, daß ſie noch keinen end
gültigen Beweis für den Entſtehungsott
geben. Die ſprachlichen Verhältniſſe laſſen es
jedenfalls nicht zu, daß das Werk in einer
Küſtengegend entſtanden iſt, ſondern weiſen
eher auf einen Binnenländer als Dichter hin.
Und könnte ein Binnenländer nicht auch die
Großartigkeit des Meeres erfahren haben?
Wie nahe liegt es doch, daß nach den Kämpfen
der Sachſen die Verbindung mit den Oaͤnen
feftgebalten iſt. Nahe liegt auch, daß dem
Auf der Warte
Heliandfänger als scöp auch der verwandte
reiche Formelſchatz der altſͤächſiſchen und angel;
ſächſiſchen Dichtung (3. B. im Beowulf) be-
kannt war... Immerhin ſtellt Prof. Böckel
manns Unterſuchung eine beachtenswerte Lei-
ſtung dar.
Oer lateiniſche Gewaͤhrsmann berichtet von
einem ſächſiſchen Mann, der bei den Seinen
für einen hochangeſehenen Oichter galt (qui
inter suos non ignobilis vates habebatur).
Wir haben oben das echt Germaniſche ſeiner
Dichtung betont. Wer in ſolchen tiefen alt-
germaniſchen Anſchauungen ſteckte, hatte wohl
noch Blut aus dem Geſchlecht um Widukind.
Darum ſeine Freude am Kampf; darum Vor-
ſtellungen, die ſchwerlich zu einem Abte
paßten. Daß dieſer Volksſänger nun gar ein
Werk in feinem Geiſte hat überarbeiten müj-
jen, ſcheint mir unmoglich.
Wie kommen wir zur letzten Deutung aller
Rätfel um den „Helianddichter“? Wie bringen
wir ſein Werk den Guten unſeres Volkes
wieder näher? Was wüßten wir vom Lied
Waltharis, wenn uns nicht Scheffel ſeine un-
vergeßliche Dichtung beſchert hätte! Nicht
Gelehrſamkeit wird uns jenen unbekannten
Eindeutſcher der Evangelien nahe bringen:
vielleicht aber der Dichter?
Dr. W. E. Gierke
Eine Rede von Elſa Branditröm
n einem „ſchwediſchen Abend“ der chrift-
lichen Weltkonferenz in Stockholm fpra-
chen in der bis zum allerletzten Platz gefüllten
Blaſieholmskirche Perſönlichkeiten, die auch
in Deutichland bekannt find: S. K. H. Prinz
Rarl, Dr. Nathanael Beskow, Dr. Selma
Lagerlöf und Schweſter Dr. Elſa Bränd-
ſtröm. Die leidenden und gefangenen Rrie-
ger in Sibirien, denen ſich letztere während
des Krieges und nachher mit größter Hingabe
gewidmet hat, haben Schweſter Elſa Bränd-
ſtröm „Sibiriens Engel“ genannt.
Der Inhalt ihrer Rede möge hier in deut-
ſcher Überfegung wiedergegeben werden:
„Venn wir hoffen, daß die Liebesarbeit eine
der Brücken werden kann, die uns als volks-
derſöhnende Mittel dienen ſollen, fo muͤſſen
365
wir uns klar machen, welche Brüden es heut-
zutage gibt, von welcher Beſchaffenheit ſie ſind
und was ſie leiſten.
Wenn wir ehrlich kritiſch find, müffen wir
zugeben, daß nur leichte Pontonbrücken von
Ufer zu Ufer geſchlagen ſind. Gewiß können
auch dieſe ab und zu mächtige Laſten tragen.
Wenn wir an Exeigniſſe denken wie den Unter-
gang der Titanic, das Erdbeben in Meffina,
die Hungersnot in Rußland, und uns erinnern,
welche großen Opfer von einzelnen Menſchen
und Nationen gebracht worden ſind, um den
Leidenden zu helfen, dann können wir uns
mit Recht über dieſe Beweiſe ethiſchen Fort-
ſchritts freuen.
Aber wir ſollten uns von dieſen gelegent-
lichen Opferfeuern nicht blenden laſſen, fon-
dern ehrlich bekennen, daß ſie nur vereinzelte
Anläffe find, wo wir durch Kataſtrophen von
ungewöhnlicher Größe aus unſrer gewohnten
Gleichgültigkeit aufgerüttelt worden find,
Oer Grund, auf dem ſich die internationale
Liebesarbeit aufbaut, iſt nicht ſtark genug.
Es gilt darum, das Fundament zu befeſtigen,
auf dem die Liebestatigteit ruht, und vor allem
müffen ihre Arbeiter durchdrungen werden
von dem Gefühl der unerhörten Verantwor-
tung, die auf ihnen ruht.
Wenn wir ſelbſt die Fähigkeit, intuitiv zu
handeln, nicht haben, weil wir von friibefter
Kindheit an in Formen eingeſperrt worden
find, die lähmend auf die ſpontane Handlungs-
kraft wirken, jo müffen wir wenigſtens ver-
ſuchen, die heranwachſende Generation nicht
in derſelben Weiſe zu verderben. Dieſe neue
Generation, die ſo vieles gut machen ſoll, was
wir verſchuldet haben, muß auch dazu erzogen
werden, eine Liebestätigkeit zu ſchaffen, die
lebendig iſt, verſtehend und zu guter Letzt
völkerverſöhnend.
Aber was können wir dazu beitragen?
Sicherlich dies, daß wir verſuchen, die Zu-
gend ſich zu wahren, freien und ſelbſtändigen
Menſchen entwickeln zu laſſen, die verſtehen,
daß nur das Natürliche, Unmittelbare,
das Ein fache groß iſt.
Das Unmittelbare, Urſprüngliche iſt die
Anziehungskraft untereinander. Erſt wenn die
Überlegung kommt, entſteht die Kluft.
366
Wie oft konnte man dies nicht im Kriege
beobachten!
Ich habe ruſſiſche Bauersfrauen geſehen,
die gerade von ihren zur Front gehenden Söh-
nen und Männern Abſchied genommen hatten,
wie ſie verwundeten feindlichen Gefangenen
zu eſſen und zu trinken gaben. Ich habe deut;
ſche Kriegsgefangene ihr letztes Stück Brot mit
Frauen und Kindern des feindlichen Volkes
teilen ſehn.
Tauſendfältig ſind die Beiſpiele, die der
Weltkrieg dafür erbracht hat, daß das Gefühl
viel ſchneller als der Verſtand verſöhnende
Brücken fchlägt.
Welche ungeheure Lehre ſollte man nicht
aus dieſen Tatſachen ziehen? Und wie ſollte
man nicht verſuchen, die Jugend auf dieſe
primitive natürlich-menſchliche, groß-
zügige Auffaſſung aufmerkſam zu machen?
Es liegen weder kosmopolitiſche noch inter;
nationale Tendenzen in dieſen Beſtrebungen,
im Gegenteil — nur wer ſtolz ift auf feine
nationale Eigenart, auf ſein Land und ſein
Volk, kann ſich den Luxus leiſten, anderer Aber-
zeugung, Sitten und Gebräuche zu achten. Duld-
ſamkeit iſt eine Eigenſchaft, die nur ſtarke Per-
ſönlichkeiten oder ſtarke Volker haben können.
Die Liebestdtigteit iſt eine Kulturarbeit, die
wir immer als Kunſt betrachten ſollten.
Wenn wir die Menſchen betrachten, die eine
Liebestãtigkeit ausgeübt haben, welche über
die augenblickliche materielle Hilfe hinaus
fruchtbar war, fo ſtehen ihr Leben und ihre
Arbeit da wie ein harmoniſches Kunſtwerk
deshalb, weil fie Mut und Kraft gehabt haben,
ihrer inneren Eingebung zu folgen und weil
ſie ihr Beſtes gegeben haben nicht aus Pflicht
oder Gewiſſensgründen, ſondern weil ſie nicht
anders konnten.
Sie waren erfüllt von einer höheren Macht
und haben das Wahrſte und Größte hervor-
gebracht: Liebe.
Ihr Künſtlertum beſteht darin, daß fie
Harmonie ſchaffen: Harmonie zwiſchen Ein-
zelmenſchen, Harmonie zwiſchen Völkern.
Unfer Verſtändnis und unſre Bewunderung,
unſre Hilfe und unſre Unterſtuͤtzung ſollten wir
ihnen ſchenken, auf daß ſie ſtarke Brücken
von Ufer zu Ufer ſchlagen möchten.
Auf der Warte
Kenntnis und Verſtändnis find bie Brüden-
köpfe, der Glaube an die Menſchen und die
Hingebung ſind die Pfeiler, auf denen die
Liebestätigkeit ruhen foll. So kann fie zum
Mittel der Verſöhnung zwiſchen den Völke
dienen.“ 9.
Bücher des Feinſinns
in äſthetiſches und ein lebensphilofophi-
ſches Werk verdient unter dieſem Ge-
ſichtspunkt unter den Neuerſcheinungen ge-
nannt zu werden: Robert Saitſchick,
Menſchen und Kunſt der italieniſchen
Renaiffance (München, Beck, 633 S.), und
Das Ehe-Buch des Grafen Kepſerling
und feiner Mitarbeiter (Niels Rampmann Ver-
lag, Celle, 428 S.). Ein feinſinniger Bider-
freund und ein feinſinniger Inſtrumentator
geiſtiger Gegenwartskräfte vermitteln uns
philoſophiſch und pſychologiſch vertiefte Ge-
ſamtbilder einer großen Zeit und einer gro-
ßen Lebensfrage. In beiden tritt das eigen
ſchöpferiſche Moment hinter der Wiedergabe
und Verbindung vorhandener Wirklichkeiten
zurüd,
Glänzend ift dieſe Abſicht in Saitſchicks Dar-
ſtellung der Renaiſſance gelungen, einem Werk,
das nach zwölfjährigem Verſchwinden vom
Büchermarkt nun in zweiter Auflage erſcheint.
Mit Recht darf der Verfaſſer der Anſicht Aus-
druck geben, daß ſein Werk niemals veraltet,
weil es mit großer Gediegenheit der Grund-
lagen anſchauliche Darſtellung und ſchlichte
Wahrheitsliebe verbindet, wozu nicht zuletzt
auch ein beſonderes Vermögen der Einfüh-
lung dieſe Darſtellungen ſympathiſch macht.
Neben Jakob Burckhardts Werken iſt Sait-
ſchicks Schilderung gerade wegen dieſer Eigen-
art der Behandlung durchaus nicht entbehr⸗
lich und ſteht wiſſenſchaftlich auf gleichem
hohem Niveau. Denn gerade die Charaktere
und inneren Erfahrungen haben den Kultur-
hiſtoriker viel weniger intereſſiert als den
Pſychologen, als welcher Saitſchick zu den
feinſten der Gegenwart gehört. Nur eine ein-
zige Darſtellung, enger in der Auswahl der
Stoffe und ſchwung voller in der poetiſch an;
gehauchten Sprache, ift an pſychologiſcher Ver-
Auf der Warte
tiefung dem Zeitbild von Saitſchick nicht unter-
legen, doch iſt ſie noch nicht dem deutſchen
Schrifttum gewonnen: Schures „Propheten
der Renaiſſance“. Hinter dem Werke Sait⸗
ſchicks ſteht viel mehr der Gelehrte und der
biſtoriſche Forſcher, was dem ſehr großen
Reichtum des Buches an anſchaulichen Einzel-
tatſachen trefflich zugute kommt. Dieſes Ge-
mälde der Renaiffance hat den Stil der Ge-
diegenheit und einer gewiſſen Anmut zugleich,
die ſich vor romantiſchen Entgleiſungen hütet.
Sammlung und Ruhe ſprechen aus den
lebens vollen Schilderungen, in denen die Be-
ſonnenheit eines philoſophiſchen Geiſtes den
Pinſel geführt hat. Soll man die Namen jener
Zeit aufzählen, die Saitſchick bis zu den auch
weniger bekannten eingehend behandelt? Es
dürfte überflüſſig fein. Nur muß hervorge-
hoben werden, daß Dichtung und bildende
Kunſt, Politik und Sittenzuſtände, Religion
und Philoſophie gleichermaßen und in ſchö⸗
ner, dem Leben angemeſſener Verteilung be-
handelt werden, was wohl von keinem der
andern Bücher über das Thema ebenſo unein-
geſchränkt geſagt werden kann. Saitſchicks
„Renaiffance“ iſt das beſte Univerſalwerk über
dieſe auch für den Menſchen der Gegenwart
grundlegend bedeutſame reiche Epoche, zu
welcher ſich begreiflicherweiſe gerade Wagner
freunde — denn auch Saitſchick iſt ein folder —
ſtark hingezogen fühlen. Das Fehlen einer
Bibliographie in dieſer zweiten Auflage war
leider nicht zu umgehen. Weiterſchuͤrfend e
mũſſen ſich den zweiten Band der erſten von
einer Bibliothek beſorgen.
Renferlings Ehe-Buch iſt ein Sammel-
werk von 25 Abhandlungen verſchiedener Ver-
faſſer über das Thema. Sammelwerke und
Kolle kti vforſchungen liegen dem Zeitgeiſt heute
näher als Perſönlichkeitsſchöpfungen. Renfer-
ling gewinnt dieſem im allgemeinen betlagens-
werten Hang zur Vertruſtung des Geiſtes eine
gute Seite ab, indem er die Stoffe und Au-
toren nach Art eines Kapellmeiſters zufam-
menſtellt, der aus dem Zuſammenſpiel von
Inſtrumenten ein Orcheſter und aus der Ab-
folge von tönenden Werten eine Symphonie
geſtaltet. So wird in Darmſtadt verfahren, fo
im Ehe-Buch. Pluralitätswerk leider wie un-
367
ſere ganze niedergegangene Kultur, aber im
Kreiſe dieſer Schematik die weitaus fym-
pathiſchſte Form: über dem Ganzen waltet
ein feinſinniger Geiſt und wahrer Philoſoph,
der in der Vielheit die Einheit ſucht. Vor-
liegendes Werk zerfällt in zwei Hälften, welche
die hiſtoriſch-geographiſch-ſozialen Beſtimmt-
heiten der Eheform und Beiträge zu deren all-
gemeiner Wefensanalyfe enthalten. Der ſym-
phoniſche Aufbau ſcheint mir gut gelungen.
Vom Einleitungsaufſatz des Grafen bis zur
Schluß; Abhandlung von Gofeph Bernhart
über „Die Ehe als Sakrament“ (ſcharf luther-
feindlich !) geht eine Gedankenſtrömung, deren
aͤſthetiſche Einheit man empfinden kann. Es
ließe ſich allerdings über das gleiche Thema
mit ganz andern Inſtrumenten und andern
Motiven eine Reihe von Symphonien denken,
die dem oder jenem mit Grund beſſer gefallen
konnten. Aber wir haben das Werk zu nehmen,
wie es vorliegt und als ſolches kurz zu fdil-
dern. In welchem Ton iſt es geſchrieben?
Welcher Geiſt und welche Stimmung ruht
über dem Ganzen? Das iſt die Frage. Den
Ton möchte man definieren als grübleriſche
Feinſinnsweiſe mit beachtlicher Tiefe — etwa
Max Reger —, der Geiſt dürfte der des höchſt
komplizierten Menſchen der Gegenwart ſein,
die Stimmung entbehrt der Sphären harmonie
von Gemüt und Seele, in denen dynamiſche
Weisheiten ſich ſetzen, die kein Intellekt zu
ſetzen vermag. Gewiß, ich verſtehe und gebe zu,
daß Philoſophie nicht Fühlen, ſondern Den-
ken bedeutet. Man kann aber auch mit dem
Feuer der Begeiſterung Statuen meißeln und
Symphonien komponieren, deren Geiſt dar-
unter nicht im geringſten zu leiden braucht.
Zwiſchen Aſthetiſieren und Kunſtſchaffen aus
urgewaltiger Notwendigkeit des Innern be-
ſteht bekanntlich ein großer Unterſchied. Und
an ihn werde ich ein wenig erinnert, wenn ich
das von mir hochgeſchätzte Lebenswerk Renfer-
lings erwäge.
Das Ehe- Buch gibt einen vielſeitigen und
differenzierten Einblick in viele Regionen des
für den Menſchen wichtigſten Lebens problems.
Die ſämtlichen Stoffe können hier nicht auf-
gezählt werden. Hervorhebenswert ſcheint mir
vor allen Dingen der überaus weiſe Einlei-
568
tungsauffa des Herausgebers „Oas richtig
geſtellte Eheproblem“, während ſein zweiter
Beitrag „Von der richtigen Gattenwahl“ in
der ſehr ſtarken Betonung der Eugenik und
entſprechenden Hintanſetzung von Gemüts-
werten angefochten werden dürfte. Es iſt ein
Verdienſt, daß Keyſerling, wie übrigens auch
ich ſelbſt in meinem ſoeben erſchienenen Buche
„Philoſophie des Eros“ (Ernſt Reinhardt,
München, 197 S.) den autonomen Menfchen-
wert der Ehe unabhängig von Liebe und Fort-
pflanzung als eigene Rategorie des Lebens
gelten läßt und betont. In dieſer Frage ver-
treten andere, etwa Max Scheler, den Stand;
punkt der bloßen Kon ventionalität der Ehe im
Gegenſatz zu den Liebes- und Gattungsträf-
ten. Keyſerlings ausführliche und tiefe Be⸗
gründung deſſen, daß die Ehe ihre eigene Rate;
gorie als Bedeutung im Menſchenleben be-
ſitzt, gehört zum philoſophiſch Bedeutendſten
des Buches. Auch die altmodiſch erſcheinende
Rechtfertigung der „Standesehe“ iſt befonde-
rer Aufmerkſamkeit würdig. Man kann viel-
leicht die Empfindung haben, als ob die Gegner
der Ehe in dem Buch etwas kurz gekommen
wären; der Beitrag „Die Ehe als Feſſel“ ent-
hält nur den Preis des buddhiſtiſchen Mön-
ches, die meiſterhafte Darftellung der „Roman-
tiſchen Ehe“ durch Ricarda Huch gibt nur ein
hiſtoriſches Gemälde. (Zu dieſem möge man
auch vergleichen: Julius Steinberg, Liebe und
Ehe in Schleiermachers Kreis. Dresden 1921.
Carl Reißner.) Nicht als ob ich dachte, grund-
ſätzliche Ehegegnerſchaft laſſe ſich zureichend
begründen. Aber in unſerer Zeit, wo die be-
treffenden Ideen in vielen Köpfen eine Rolle
ſpielen, hätte man gerade auch einen ſcharfen
Ehe-Gegner ſeine Gründe vorbringen hören
ſollen, und zwar nicht vom Standpunkt
Buddhas, der uns herzlich wenig in dieſem
Zuſammenhang berühren kann. Von den Mit-
arbeitern des Bandes ſeien noch Leo Fro-
benius, Rabindranath Tagore, Jakob Waffer-
mann, die Pſychoanalytiker C. G. Jung und
Alfred Adler genannt. Einen beſonderen wert-
vollen Beitrag ſtiftete Havelock Ellis mit dem
Kapitel „Liebe als Kunſt“.
Privatdozent Dr. Ernſt Barthel (Köln)
*
Auf der Watte
Zur Ausländerei auf den deutſchen
Bühnen
ir haben im Dezember -Heft des „Tür-
mers“ auf dieſe unerhörte Wirtſchaft
bingewieſen. Das abgeſtumpfte deutſche Bu-
blikum läßt ſich auf dieſem Gebiete ſchlechthin
alles gefallen, ſtatt ſich in Maſſe zu erheben.
Jetzt ſtößt der alterprobte Berliner Theater-
kritiker Zulius Hart im „Hellweg“ (Heft 47,
1925) denſelben Notſchrei aus. Er ſchreibt:
„Ludwig Fulda hat als Vorſitzender des Ver⸗
eins deutſcher Bühnenſchriftſteller in einem
Schreiben an den Verein unſerer Bühnen-
leiter unlängſt Widerſpruch eingelegt gegen
die beſchämende Dernadläffigung und Zuruck
ſetzung unſerer einheimiſchen Dramatiker und
die Überſchwemmung unſerer Theater mi-
Werken des Auslands, franzöfifchen, italienit
ſchen, engliſchen, amerikaniſchen, norwegiſchen,
ſchwediſchen, däniſchen, ruſſiſchen, tſchechiſchen,
ungariſchen uſw. Leider nur in einem Briefe,
nicht auch gleich in der allgemeinen Öffentlich
keit.
In dieſen Tagen auch geſchah es, daß ein
wohlangeſehener deutſcher Poet dem Spiel-
leiter eines unſerer vornehmſten Berliner
Bühnen-Konzerns auf der Straße begegnete
und ihn gluͤckſtrahlend anredete: „ Ich habe fo-
eben ein neues Schauſpiel fertiggeſtellt!
Prüfen Sie's. Ich ſchicke es Ihnen in den
nächſten Tagen zu.‘ Dod kopfichüttelnd, adfel-
zuckend nur wehrte der andere ab:, In welcher
Welt leben Sie eigentlich, verehrter Freund?
Haben Sie keine Ahnung von dem, was wir
aufführen? Sehen Sie in unſeren Gpielver-
zeichniſſen auch nur einen deutſchen Namen?
Sie haben ein deutſches Drama geſchrieben?
Glauben Sie wirklich, daß einer von uns auch
nur hineinblickt? Ausgeſchloſſen, völlig aus
geſchloſſen. Ja, wenn Sie etwas üÜberſetzt
hätten ... Der arme deutſche Oichter hat's
mir ſelber erzählt, und für die Wahrheit der
Geſchichte gebiirgt...
Deſſen bedurfte es nicht. Ein Blick in die
Theateranzeigen der Berliner Blatter ſchreit
es jedem zu:, Deutſche Sprak, plumpe Sprat.‘
Mit einem deutſchen Drama wollen unſere
Theaterleiter nichts mehr zu tun haben. Wenig ·
Auf der Warte
ftens die in der Reichs hauptſtadt nicht. Far fie
gibt es nur noch jenſeits unſerer Grenzen
Menſchen, die fähig ſind, Theaterſtücke zu
ſchreiben.
Diefer Winter 1925 / 26 hat nunmehr eine
ſolche Entwicklung auf eine ganz beſondere
Höhe getrieben. Woche für Woche iſt es das
ſelbe. Auf zwanzig Aufführungen ausländi-
ſcher Werke kommen immer nur zwei bis
drei Werke einheimiſchen Urſprungs, wenn
man die Kunſt der Vergangenheit ausſchließt,
und nur das Schaffen der Lebenden, die Dich-
tung unſerer Zeitgenoſſen, der unmittelbaren
Segenwartskunſt beruͤckſichtigt. Man kann alfo
ſagen, daß ungefähr tauſend Prozent Drama
bei uns augenblicklich von auswärts bezogen
wird!
An ber Tatſache läßt fid jedenfalls nicht
rütteln und ſchuͤtteln, ganz zweifellos ift es,
daß feit anderthalb Jahrhunderten unſer deut;
ſches Theater noch nie ein ſolches Armuts-
zeugnis ſich ausftellte, wie heute, daß
noch niemals die eigene einheimiſche Oramatik
fo mißhandelt und verächtlich in die Ecke ge-
ſtellt wurde, alle Pforten ihr verſchloſſen
blieben, und in fo erdrüdender Überfülle nur
noch Auslandsware den Kunſtmarkt be-
herrſchte. Weh dir, daß du ein Deutſcher biſt,
vor allem weh dir, armer deutſcher Drama-
tiker!
Wenn man dem glauben ſoll, was unſere
Berliner Bühnenleiter heute durch all ihr
Tun unſerem Volke predigen und vertin-
digen, ſo muß man es ſchon als eine Tatſache
hinnehmen, daß dieſer Krieg uns geiſtig und
ſeeliſch verwüſtet und verelendet hat,
wie einſtmals unſeligen Angedenkens der
Oreißigjaäͤhrige Krieg. Der machte damals
allerdings Deutſchland zu einem Barbaren
land, und während in England und Frank-
reich hoͤchſte Bluͤtezeitalter der Kultur und
Kunſt leuchteten, herrſchte bei uns Winter-
und Eiszeit, und es war immerhin eine Not-
wendigkeit, daß ein Gottſched einem Leſſing
die Bahn bereitete. Nach den Zeugniſſen un-
ſerer Berliner Bühnenkunſt in dieſem glor-
reichen Winter 1925/26. muß man ſchon an-
nehmen, daß auch jetzt wiederum rings in
Europa und drüben in Amerika ein neuer
309
herrlicher Frühling der Kunſt aufgegangen iſt
und nur das deutſche Drama iſt tot, ein ab-
geſtorbener Baum, der keine Blätter und
Blüten mehr trägt.
Natürlich ift es nur das ſchlimmſte Zerrbild
aller Zerrbilder, welches uns unſere reichs
hauptſtãdtiſchen Theater damit bieten, und
es ſpottet aller Wirklichkeiten, aller Tatſachen.
Es kommt nur darauf an, den Geiſt zu brand
marken und bloßzuſtellen, der ſich fo an un-
ſerem Volke verſündigt, es mit Verſailler
Ruten geißelt und wie in den Kriegsjahren
mit Feindeszungen von unſerer Kunſt redet,
als von einer Kunſt der Boches.
Mag man nod fo trüb und finjter, fo ver-
zweifelnd mit allen Unglücksprophetenſtimmen
von den völligen Zerfall und Niedergang des
zeitgenöffifchen Dramas ſprechen, die ganze
Kunſtform überhaupt als eine überlebte Ver
gangenheitsform verwerfen, und mit der
Stimme eines Wilhelm Scherer einen ſtets
mehr fortſchreitenden Zerſetzungsprozeß bis
zum Jahre 2200 verkündigen — mag man
noch ſo kraß die zurzeit ja etwas chaotiſchen
und dadaiſtiſchen Zuſtände hier übertreiben:
all die Krankheits- und Schwäche Erſcheinun⸗
gen wären jedenfalls allen Literaturen gemein
ſam, bei allen Völkern die gleichen. Und nicht
wie im 17. Jahrhundert liegt nur in Oeutſch⸗
land das Dornröschen im Schlaf. Immerhin
halt unſer deutſches Drama heute durchaus
den Vergleich mit jedem fremdländiſchen aus,
es marſchiert durchaus mit in erſter Reihe.
Was find fie denn, dieſe Dramatiker des
Auslandes, vor denen unſere Berliner
Bühnenleiter einen fo tiefen Kotau machen?
Gailsworthy? Ein mittelmäßiger Sudermann.
O'Neill, der Amerikaner? Nicht ohne Eigen-
art. Doch ſechs deutſche Poeten wenigſtens
könnte man ihm ohne weiteres entgegen-
halten. Und die große Mehrzahl, das ſind die
Stückefabrikanten, die auf der unterſten
Stufe ſtehen. Jerome K. Jerome, die Fran-
zoſen Birabeau, Verneuil und Sacha Guitry,
die uns vorgeſtellt worden als die echteſten
Vertreter Pariſer Kultur! Doch daheim ſelber
blickt man auf ſie herab, und ein franzöſiſcher
Kritiker vom Range eines René Doumir
wehrt fie ſchaudernd ab. Für ihn find es nur
370
Vertreter des „theätre indésirable“, eines
höchſt unerwünſchten Theaters, und man foll
von ihnen nur nicht auf franzöſiſche Kultur
ſchließen. Aber für uns ſind es köſtliche Perlen!
Man kann auch gar nicht ſagen, daß die
äußeren Publikumserfolge irgendwie dieſe
ſkandalöſe Vergötterung aller auslän-
diſchen und Mißhandlung der einheimi-
ſchen Kunſt rechtfertigen. So felten in Berlin
echte Uraufführungen deutſcher Dramatiker
find und gar die junger, neuer, noch unbe-
kannter Poeten: dann und wann geſchieht ja
auch dieſes Wunder. Nun, Mable Trieſchübel',
deſſen Uraufführung im „ Zentraltheater“ im
September 1925 ſtattfand, wird bis Weih-
nachten Tag für Tag auf dem Spielplan
ſtehen. Ein Erfolg, der auch einem ausländi-
ſchen Werk nur in den ſeltenſten Fällen zuteil
wird.
Es gibt keine Entſchuldigung, keine Recht-
fertigung einer ſolchen in unſerer Theater-
geſchichte geradezu unerhörten Tatſache: zehn
Aufführungen ausländiſchen Urfprungs und
nur eine einzige deutſche ! Man laſſe alle Rede;
reien vom Gnternationalismus oder Natio-
nalismus der Kunſt beiſeite! Solches Wüten
gegen das eigene Fleiſch und Blut, ſolche
Selbſtzerſtörung unſeres Geiſteslebens iſt nur
ein Verblödungsakt. Ein ſchändlicher Ver-
rat an unſerem Volk und unſerer Kunſt. Man
kann ihn nur brandmarken.
Es bedarf keiner weiteren Darlegungen,
was gerade in unſerer Zeit dieſe würdeloſe,
fo völlig einzig daſtehende, unerhörte
Preisgabe unſeres Theaters für unſer
Volk bedeutet...“
Die Schillings⸗Kriſe in Berlin
gehort in dasſelbe Kulturgebiet: Theaterwirt-
ſchaft. Der Intendant der Berliner Staats-
oper, Max von Schillings, iſt vom Kultus-
miniſter Becker friſtlos entlaſſen worden. Es
wird vom ganzen Perſonal gegen dieſe auf-
fallende Maßnahme proteſtiert. Wer ſind da
wohl die Hintermänner? Wir freuen uns,
feſtzuſtellen, daß in den letzten Wochen auch
der „Jungdeutſche“ zu dieſen Kulturſorgen
eifriger Stellung nimmt als früher. Dort
Auf der Bern
ſchreibt z. B. „Gero“ zu dieſer Kriſe folgende
(Nr. 279):
. . . „Max von Schillings hat dieſe beleid
gende Entlaſſung zurüͤckgewieſen, da er en
im vorigen Jahre einen neuen Vertrag aui
weitere fünf Jahre vom Miniſterium mit aui
fallenden Lobeserhebungen bekam. In dem
Schreiben des Kultusminiſters heißt es nun
plötzlich, er fei „weder geſchäftlich noch tim:
leriſch ſeiner Aufgabe gewachſen“ (). Auf
Max von Schillings Entſchluß, bei der Staate
oper auszuharren, hat der Miniſter am Dor
nerstag nachmittag mit einer friſtloſen Ent-
laſſung des Intendanten geantwortet! Der
Miniſter hat das gewagt, obgleich die Preſſe
der verſchiedenſten Lager einſtimmig für den
Intendanten eintrat. (Nachdem die „Voſſiſche
Zeitung’ anfangs gegen Schillings Stimmung
machte, hat die, B. Z. am Mittag‘ — aus dem
gleichen Verlag — für Schillings geftimml,
wobei nur nicht ganz klar iſt, ob aus Mber-
zeugung oder aus kluger Berechnung.) Tro:
dieſer Verteidigung des angeſehenen Kinit
lers durch die Linkspreſſe muß feſtgeſtellt wer
den, daß es ſich hier um ein minifterielle
Keſſeltreiben gegen den letzten deutſchbli⸗
tigen Mann in der Leitung der ſtaatlichen
preußiſchen Kunſtinſtitute in Berlin handel.
Im Verbande der Staatsoper umgibt Herm
von Schillings bereits eine jüdiſche Garde de
Kleiber, Szell, Wohllebe, Meyrowitz uſw. 9.
der Städtifchen Oper in der Philharmonie, in
der Staatlichen Hochſchuie für Muſik, im Ber
liner Symphonie-Orcheſter — überall be
finden ſich nach ſyſtematiſcher Abſchieduns
verdienter deutſcher Künſtler die Zuden an
der Spitze!
Sie haben ihre Hintermänner, ihre Dunkel
männer im Miniſterium. Die jüdiſchen Her
ren Keſtenberg und Seelig haben ſich von
Gnaden der Revolution dort im Wechſel de
Regierungen zu halten gewußt und unter
minieren im Novembergeiſte die letzten Pfeile
deutſcher Kultur in Preußen. Daß ſie in ihrer
geiſtarmen, reſſentimentgeladenen Art hier ſo
dauernd wirtſchaften und den Miniſter für ihre
Ziele gewinnen konnten, iſt ein Bewe's, wie
unheilvoll und verderblich das parlamente
riſche Syſtem ſich auch in der Kultur auswirkt.
Auf dee Warte
Hier rächt fid die Unterſchätzung tulturel-
ler Machtfaktoren durch die Parteipoli-
tiker der Rechten gewaltig. (Sehen Sie,
das predigt der Tüͤrmer ſchon lang und nutz-
los! D. T.) Der Fall Schillings beweiſt die
große Selbſtſicherheit, mit der das Judentum
in hohen Ämtern arbeitet.
Max von Schillings hat fid in der Staats-
oper verabſchiedet; er wird gegen das Mini-
ſterium prozeſſieren; es wird einen Stanbal-
prozeß geben, gegen den die hohe Öffentlidy-
keit heute abgebrüht iſt —, hat ſie doch ſchon
ganz anderre Charakterſeiten hoher Herren auf
dieſem Wege kennengelernt als Brutalität
gegen einen Künftler von Rang! Es wird viel
Aufhebens um die errechnete Unterbilanz der
Oper gemacht werden —, und indeſſen hat
Leo Blech oder Paul Bekker (der ſchon aus
Kaſſel nach Berlin gekommen iſt) im Zeichen
des Davidſterns die Leitung der Oper über-
nommen.
Auf die offiziellen Politiker der Rechten
wird dieſes Aufgeben des letzten Poſtens keinen
Eindruck machen. Das parlamentariſche Rechen
erempel hält alle Welt in Atem. Für Kultur
bat man keine Zeit. Die Kunſt, die Hoch-
ſchulen, die Schulen, die Literatur, die Preſſe:
alles iſt in den Händen derjenigen, die ihrem
Blute nach nicht zu uns Deutſchen gehören
Es iſt die ſittliche Aufgabe jedes Deutſchen, die
ſchlummernden Gemüter zu wecken und die
Jugend auf das Echte hinzuweiſen.“
Zu derſelben Sache ſchreibt Willy Paſtor in
der „Zägl. Rundſchau“ (Nr. 531): „Dieſe frift-
loſe Entlaſſung ift ein cäfarifcher Entſchluß, zu
dem man ſich unter dem alten Regiment nie-
mals verſtanden haben würde. Iſt der Herr
Kultus miniſter Becker allein ſchuld an dieſem
unglaublichen Ausgang? Sein Verhalten
während der zum Teil recht erregten Ver-
handlungen gegen Schluß der Ausſprache
machte nicht den Eindruck. Recht unverhohlen
wurde auf die eigentlich Schuldigen in dieſem
Intrigenſpiel aufmerkſam gemacht: die un-
verantwortlich verantwortlichen Herren See-
lig und Keſtenberg. Dieſe Herren, ferner
Herr Nentwig und wie fie alle heißen, hätte
gerr Becker cäſariſch behandeln ſollen: als
Minifter, als Reſſortchef, als Menſch. Er hat
371
es vorgezogen, ſie zu decken, Schillings aber zu
infamieren; denn die friſtloſe Entlaſſung iſt
eine Infamierung .. .“
Das aljo find die nächſtbeteiligten Hinter-
männer. Man hat Herrn Paul Bekker, den
früheren Muſikkritiker der „Frankf. Ztg.“ und
jetzigen Intendanten in Raffel als Nachfolger
genannt — hat aber dann doch hinzugefügt,
er fei „noch zu unerfahren“. Er wird bald fo
weit fein... Einſtweilen wird man ſich nach
dieſem mißglückten Vorſtoß vielleicht „ver-
ſöͤhnen“ ... Man beachte übrigens auch, wie
ſich in der Erörterung des Landtags unver-
hohlen die Partei-Cinftellung breit macht!
Hans Schliepmann
m 26. November wurde Hans Sdliep-
mann 70 Sabre alt. Oberbaurat im
Ruheſtande, Fachſchriftſteller, früherer Her-
ausgeber der bedeutenden Zeitſchrift „Ber-
liner Architekturwelt“ — und Verfaſſer einiger
Romane, Erzählungen und eines ethifch-philo-
ſophiſchen Werkes. Er gehört nicht zu jenen
Schriftſtellern, die neue Richtungen, neue For-
men und Werte erfinden oder ſchaffen, oder
Werte zerſtören, die ſich mit oder ohne innere
Berechtigung als der „Geiſt der Zeit“ gebär-
den. Schliepmann als Berliner (aber von der
auch vorhandenen Seite Fontaneſcher Kultur)
iſt ohne jede Geſte, ohne Pathos und falſchen
Sturm, ein Schriftſteller, dem es mehr um
das lebendige Leben ging, als um jenes geift-
reiche Leben, das wir manchmal mit dem Be-
griff „Literatur“ bezeichnen. Er iſt kein glanz
voller Schriftſteller, den wir bewundern, aber
er wird uns ein Freund, den wir lieben. Das
Thema ſeiner wenigen Bücher iſt das Leben
ſelbſt (alſo keine phantaſiegeborenen Dich-
tungen, nicht das Unfaßbare kunſtleriſcher Oä⸗
monie), iſt Lebensmeiſterung im Sinne jener
deutſchen Ideale, die keine Zeit zerſtören kann,
da ſie die lebenſpendende Quelle deutſchen
WVeſens überhaupt find: dieſe Quelle kann ver-
ſchüttet werden, ihr Waſſer kann nach innen
verfließen, ſtatt befruchtend über das Land zu
rauſchen — aber verſiegen kann ſie nicht, denn
es gäbe dann kein deutſches Leben mehr.
So ſind Schliepmanns drei bedeutſamen
372
Werke Bewahrung in edler Überlieferung,
Gaben eines hellſichtigen, ſcharfſinnigen, har-
moniſch gebildeten und gütigen Menſchen:
beſtes Bürgertum. Opferſinnig, ſtrebend, bei
aller Gemütswärme und weichheit ausge
zeichnet durch jene feine Form, die nach außen
verhüllt, was innen leidet, verzweifelt und
zerbricht; reines Menſchentum mit jenen
ſelbſtverſtändlichen heldiſchen Zügen der ftil-
len inneren Rämpfe, Selbſtuͤberwindungen
und Siege der Liebe und des Charakters.
Die Herkunft Schliepmanns legte den Reim
zu der Lebensſtimmung feiner Werke: Pafto-
ren; und Apothekerfamilien der brandenbur-
giſchen Mark, kleine, enge, aber tüchtige und
ehrenhafte Verhältniſſe, manch tauber Spie
ßer dabel, aber auch feſte, ſcharfumriſſene
Köpfe und edle Herzen, komiſche und tragiſche
Figuren — wundervoll lebt dieſe ferne und
zeitlich doch nicht allzu ferne Vergangenheit
in dem dichteriſch reichſten Werk, der Chronik
der Familie Hoffer „Von ſeligen Herzen“.
Sn dem behaglichen und ruhevollen Stil un-
ferer großen Erzähler, vielgefaltet vom lädyeln-
den Humor, überfunkelt von fröhlichem Witz,
erzählt Schliepmann die Geſchichte feines Ge-
ſchlechtes, den Sieg zweier ſeligen Herzen über
die Not des Tages. Man leſe die Kapitel vom
werdenden Groß-Berlin nach 1870, die Ra-
pitel vom Rauſch der liberalen Idee um 1848
belebte und bewegte Zeitgeſchichte. In den
Jahren vor dem großen Kriege ſpielt der fpan-
nende und vielgeſtaltige Roman „Was das
Leben erfüllt“, ein Denkmal der Deräußer-
lichung, der Charakterloſigkeit und Führer;
loſigkeit im deutſchen Leben des zwanzigſten
Jahrhunderts, das durch die prachtvoll leben
dige Charaktergeſtalt des Helden, des „echten
Deutſchen“, überragt wird zu überzeitlicher
Gültigkeit. In dieſem Roman iſt anfänglich
ein Wirbel von Geſchehniſſen, Handlungen
und Verwirrungen, eine Fülle von Typen aus
allen Ständen und Berufen bis in die Spitzen
der Regierung; faſt wirkt das Buch wie ein
mächtiger Film — bis immer lebhafter und
befreiender die Idee alles durchbricht und das
ewige und immer neue Evangelium von der
abſichtsloſen Liebe und Hingabe an die großen
Dinge, an Vaterland und ſtarkes Menſchen⸗
Auf det Warte
tum, verkündet. In dem umfangreichen ethi-
ſchen Werk „Die Wenigen und die Die-
len“ gab uns Schliepmann ein populdres Be-
trachtungswerk mit dem Ziele „Wegweiſer zu
einem nachkrieglichen praktiſchen Idealismus“;
anſchaulich, vielſeitig, anregend, iſt das Buch
geeignet, im Sinne der Euckenſchen Philo-
ſophie, im „Zürmer“-Geift, beſonders der den-
kenden Zugend Anleitung und Führung zu
geben.
Schliepmanns leiſe Ironie und fatyrifcher
Humor kommen in zwei kleinen Büchern zur
Geltung: „Abſonderliche Gefdhidten* und
„Die Büßende Magdalena“, heitere Geſchich⸗
ten und angenehme Geſellſchafter. (Alle Bü-
cher Verlag Erich Matthes.)
Wie es üblich geworden iſt, beſchenken die
Geburtstagskinder unter den Schriftſtellern
und Dichtern ihre „Angehörigen“ — und fo
durfte der Verfaſſer dieſer Zeilen das neueſte
Wert des Dichters, den Roman „Herbft der
Ehe“, dieſer Tage im Manufeript leſen. Ein
Buch voll Lebensweisheit, voll Wiſſen um die
Mannigfaltigkeit von Licht und Schatten im
Eheleben, das im Herbſte ſteht. Das Buch
dürfte im Frühjahr im Buchhandel erſcheinen,
während der rüftige und geiſtig friſche Jubilar
ſich zu neuen Werken bereitet.
Franz Alfons Gayda
Hans Altmüller
m 2. Dezember vollendete Hans Alt-
müller ſein ſechzigſtes Lebensjahr. Er iſt
in Kaſſel, ſeiner Vaterſtadt, nicht unbekannt.
Um ihn ſchart ſich ein Kreis von Verehrern,
der ſeine Fahigkeiten anerkennt. Auch in der
Volkshochſchule verſammelt er allwöoͤchentlich
eine größere Anzahl Zuhörer um ſich. Aber in
der breiteren Offentlichkeit konnte Altmüller
noch nicht durchdringen. Er teilt dieſes Schick
jal mit feinem Vater, dem leider allzufrũh ver-
ſtorbenen Karl Altmüller, dem Dichter des
Heſſenliedes: „Ich weiß ein teuerwertes
Land“, das u. a. Lewalter vertont hat und das
wohl jedes heſſiſche Schulkind ſingt.
Hans Altmüller iſt Denker und Oichter,
Schriftſteller und Künſtler. Ein Menſch von
individueller Eigenart und eine Perjönlichkeit
Auf der Warte
von ausgeprägter Geiftigteit, wie fie unfere
verflachende Zeit nur felten noch hervor-
bringt. An die Öffentlichkeit tritt er vor allem
durch feine Vorträge über Kunſt und Kul-
tur, Literatur, Muſik und Philoſophie. Was er
in dieſen Vortragen in anziehendſter, geift-
reicher Form vertritt, iſt das klaſſiſche Bil-
dungsideal, das er als vollgültig und höchſt
erſtrebenswert auch und gerade für unſere im
techniſchen Problem einfeitig gefeſſelte Gegen-
wart hinſtellt. Er iſt ſelbſt ein vollendeter Re-
präjentant dieſes Ideals, im Weſen und in der
Erſcheinung. Originell im Ausdruck, neu und
ſchöpferiſch im Gedankenbau, begeifternd und
mitreißend in der Rede, handhabt er feinen
unerſchöpflichen Vorrat an ſtofflichem Wiſſen
mit rhetoriſcher Meiſterſchaft.
Schriftſtelleriſch iſt Altmüller ſchon 1892 mit
einem Frühwerk: „Oeutſche Klaſſiker und Ro-
mantiker“ hervorgetreten. Für Heidelbads
Heſſenland“ hat er dann manchen Beitrag in
Poeſie und Proſa geliefert. 1920 erſchien ſein
„Unſterblichkeits problem“, dem ſich 1924 das
Buch „J öchſte Lebenswerte“ anſchloß, in
dem der vorgenannte Vortrag mit zwei wei-
teren über „Das Weſen des Chriſtentums“
und „Die Bedeutung unferer Klaſſiker für die
Gegenwart“ vereinigt wurde (Kaſſel, Verlag
Erich Scharwenka). Dieſes Buch enthält das
Weſentlichſte ſeiner Weltanſchauung, die durch-
aus pofitiv, ſich bei aller Anlehnung an klaſ⸗-
ſiſche Vorbilder als ein ſelbſtändiges Ergebnis
langer und fruchtbarer Denkarbeit darſtellt.
Wer dieſe Vorträge lieſt, hört den Verfaſſer
ſprechen.
Die meiſten feiner ſchriftſtelleriſchen Pro-
dukte, insbeſondere die Mehrzahl feiner Ge-
dichte, ruhen aber noch unveröffentlicht im
Schreibtiſch.
Im heutigen Oeutſchland find Perſönlich⸗
keiten wie Altmüller nicht zahlreich vorhanden.
Kaſſel und Heſſen dürfen ſtolz fein auf dieſen
Sohn der heimatlichen Erde, deſſen ganze
Perſönlichkeit feſt in ihr wurzelt, wenn auch
fein Werk auf Univerſales zielt. Dieſes Ziel iſt
immer die Erziehung des Menſchen zur
freien, harmoniſchen Perſönlichkeit, die
ſich ihrer ſittlichen Beſtimmung und Verpflich-
tung bewußt iſt. Es geht immer um ethiſche
378
Dinge; und Tagesfragen gelten Altmüller nur
infoweit, als fie in Beziehung zu dieſen End-
abſichten zu bringen ſind. Darum iſt er auch
ganz und gar unpolitiſch, ſofern er unberührt
bleibt von den Tages meinungen, und doch in
hervorragendem Maße berufen und auser
wählt, an ſeinem Teile praktiſche Wieder-
aufbauarbeit zu leiſten und unſer Volk
innerlich reif und fähig für eine beſſere Zu-
kunft zu machen.
Hoffen wir, daß nach einem Jahrzehnt dieſe
lichtere Zeit angebrochen iſt! Und daß bei der
ſiebzigſten Geburtstagsfeier dem Jubilar Ge-
rechtigkeit in einem Umfange zuteil wird, die
ſeiner überragenden Bedeutung entſpricht!
A. Veit
Adolf Damaſchke
dolf Damaſchke, der Sechzigjährige,
bat nun auch den zweiten Band feiner
Erinnerungen veröffentlicht. Welch ein Le-
benstampf! Sein Vater war ein kleiner Hand-
werksmeiſter, feine Mutter war Schweſter ge-
weſen. Beide ſparten und darbten ihr Leben
lang für ihre Kinder. , Die Liebe, die wir den
Eltern nicht zurüderftattet haben, müſſen wir
an unſere Kinder weitergeben“, ſagt Adolf
Damaſchke in ſeinen Lebenserinnerungen.
Seine Kindheit ſpielte im Berliner Miethaus-
milieu: Stube, Kammer, Ride — ſtändiger
Wohnungswechſel! „Oer Aufenthalt auf den
Höfen und das Spielen ſind verboten.“ Der
junge Adolf Damaſchke war kurzſichtig, un-
praktiſch, von feiner Empfindlichkeit und liebte
die Bücher.
Was ihn von jung an zu einem geſchloſſenen
Menſchen machte, war leidenſchaftliche Fah
nentreue. Noch ſuchte er eine Idee. Er half in
der freikirchlichen Sonntagsſchule Paulus Caf-
ſels: „In den freikirchlichen Organiſationen
ift alles ſelbſterkämpfte Überzeugung; hier
ſpielt weder äußerer Glanz noch äußerer
Zwang irgendwie eine Rolle.“ Der junge Da-
maſchke will Volksſchullehrer werden. Wäh-
rend der ſtraffen Seminarzeit befchäftigte ihn
das Jahrhundert der Kreuzzuͤge am ſtärkſten.
Als kaͤmpfender junger Lehrer will er Lern-
mittelfreiheit für die Volksſchuͤler erringen.
Eine ſeiner erſparten Reifen geht nach Palä-
574
ſtina. „Wer auf dem Ölberg mit ſehenden Au-
gen geſtanden, der ſteigt von ihm herab — von
vielem für immer geneſen .. .“ „Mein Weg
war klar,“ ſchreibt er, „ich war entſchloſſen,
mich nicht zu trennen von dem armen Volke,
dem ich ſelbſt entſtammte.“ Das ijt das Ge-
heimnis ſeiner zu Herzen dringenden Sprach-
gewalt. So wirkte er jahrelang als Schrift-
führer des Vereins für naturgemäße Gefund-
heitspflege: „Heilkunſt iſt eben eine Kunſt, bei
der das Beſte nicht im äußeren Wiſſen allein
gegeben werden kann.“ Dann trat der Boden-
reformgedanke in fein Leben durch den
Verein für Bodenbeſitzreform, deſſen Zeit-
ſchrift „Frei-Land“ er jahrelang redigierte.
Was den Anfang der neunziger Jahre fenn-
zeichnet, iſt eine innere Unruhe der Aufgewed-
ten, es iſt eine Zeit der Selbſtmorde. Auch die
Bodenbeſitzreform gart. Männer ſtark indivi-
dualiſtiſcher Prägung, wie Flürſcheim, Hertzka,
verſuchen Utopien in Mexiko und Afrika; Da-
maſchke kämpft für den Schutz der Bauhand-
werker, für den Bau- und Sparverein, denn:
„Die theoretiſche Erkenntnis von der Ver-
derblichkeit der Schacherfreiheit der Erde wird
durch die Anſchauung beſſerer Verhältniſſe
ungemein raſch wachſen.“ Aber: „Es gibt
keine Gnjein der Seligen. Wir Volksgenoſſen
ſind alle durch unſichtbare, aber unzerreißbare
Ketten miteinander verbunden; wir ſteigen
alle in die Höhe oder wir ſinken alle, zuletzt
auch die, wenn nicht ſelbſt, dann in ihren Kin-
dern und Enkeln, die heute glauben, aus
krankhaften ſozialen Verhältniſſen Sonder-
vorteile zu ziehen.“ Er weiß: „Das Vertrauen
zu den Führern macht eine Organiſation erſt
arbeitsfähig.“ Seine Methode war: „Die ur-
alte Wahrheit, deren Bedeutung man er-
kannt, bineingufiigen in das Leben feines Vol⸗
kes, ſo wie es ſeine geſchichtliche Entwicklung
gerade in dieſer Stunde verlangt und ermög-
licht!“
1896 iſt die Entſcheidung für ihn. Er gibt den
geliebten Lehrerberuf auf und wird Re-
dakteur der „Kieler Neueſten Nachrichten“.
Der Bund für Bodenbeſitzreform geht auf in
den deutſchen Volksbund, bis 1898 der Bund
Deutſcher Bodenreformer unter dem Vorſitz
Adolf Damaſchkes gegründet wird. Aus einer
Auf der Ware
Weltanſchauungsſekte wird er der Bund der
praltiſchen Arbeit. Der Bund greift ein in
innerpolitiſche Fragen: Kolonien, Kanal
bauten, ſtädtiſche Bodenpolitik, Hypotheken-
reform (Geſetz zur Sicherung der Bauforde⸗
rungen), Monopolifierung der Bobdenſchätze,
Erbbau und Wiederkaufsrecht, Agrarfrage,
Wohnungsfrage. Der Bund hat ſein eigenes
Organ und ein wiſſenſchaftliches „Jahrbuch
der Bodenreform“. Damaſchke ſchreibt ſeine
drei großen Schriften: „Bodenreform“, „Ge-
ſchichte der Nationalökonomie“, „Aufgaben
der Gemeindepolitik“. Er heiratet die Enkelin
des badiſchen Staatsmannes Gelzer, ſeine ge⸗
treue Gefährtin in aller Arbeit. Er gewinnt
treue Freunde unter Univerfitätsprofefjoren,
Kaufleuten, Politikern, Berwaltungsbeamten,
Pfarrern: Männer, die den Bundestagen der
Bodenreformer das feſte und bodenftändige
Gepräge geben. Im Krieg kämpfte der Bund
unermüdlich für die Heimſtättenhoffnung.
1919/20 wurden Reichsſiedlungsgeſetz, Reichs-
heimſtättengeſetz, Art. 155 der neuen Ver-
faſſung geſchaffen. Gegen Krankheit und Alter
kämpft Dr. Damaſchke unermüdlich für feine
Fahne. Er hat in einer Zeit gelebt, die keine
Berge verſetzte, jondern eine Zeit der Borbe-
reitung war. Er hat nicht weite Strecken er-
obert, aber fein Leben iſt Mühe und Arbeit
geweſen.
„Sich an der Gewißheit genügen, Samen
ausſtreuen, Samen, der hinfliegt in die Welt,
zuletzt von dem einzelnen Gdemann unkon-
trollierbar, damit begnügen ſich nur wenige,
auch wenn ſie wiſſen, daß es guter Samen iſt,
deſſen Frucht eine Frucht des Glüdes und des
Lebens werden muß.“ E. Behne
Deutſche Feſtſpiele 1926 in Weimar
m 1. Auguſt 1925 iſt der „Bayreuther
Bund der deutſchen Jugend“ gegründet
worden. Man gab ihm zwei Aufgaben mit auf
den Weg, deren jede eine nationale Erziehungs-
tat fein ſollte. Die innere Aufgabe iſt die Er-
ziehung unſerer reiferen Jugend zum Ge
danken von Bayreuth, dem gewaltigen mufit
dramatiſchen Kunſtwerke Richard Wagners.
Das Ziel iſt die Bildung einer neuen Ge-
Auf ber Warte
meinde, die aud in Zukunft, eng verwachſen
mit dem Werke, Bayreuth und das deutſche
Kunſtwerk tragen und um dieſes unvergäng-
liche Wahrzeichen deutſcher Kultur das deutſche
Volk ſammeln ſoll. Die äußere Aufgabe iſt
das Bewußtſein, als Machtfaktor tatkräftig
und geſtaltend in das Kulturleben unſeres
Volkes einzugreifen, das deutſche Volk an
ſeine große Kultur wieder glauben zu lehren
und eine neue Lebensbewegung an die Stelle
des immer mehr drohenden Verfalls der deut-
ſchen Kunſt und Kultur zu ſetzen.
Es iſt diesmal nicht bei den gewohnten hilf-
loſen und ohnmächtigen Ausſchußſitzungen,
Vorſtandsberatungen, Mitteilungen durch die
Preſſe und ideal-phantaſtiſchen Ankündigun⸗
gen und Aufrufen geblieben. Junge, begei-
ſterte Menſchen haben ſich über Formalismus
und Pedanterie hinweggeſetzt und mit einem
kühnen Griff den deutſchen Geiſt und den
deutſchen Willen hervorgezogen aus dem
Schlummer. Sie haben an die Stelle der Rede
und der Schrift die Tat geſetzt und dürfen
heute, innerlich gefeſtigt, an die Öffentlichkeit
treten.
Über das ganze Deutſche Reich verbreitet,
arbeiten die Orts- und Schulgruppen des
jungen Bundes der Bayreuther Jugend. In
Berlin, Hamburg, Dresden, Magdeburg, Wei-
mar, Deſſau, Elberfeld Barmen, Jena, Cife-
nach, Gotha, Arnftadt, Eiſenberg, Pforzheim
ſitzen die Hauptgruppen, ſelbſt ſchon ſtark,
aber immer weiterſchaffend, in vielen Städten
ſind einzelne Perſönlichkeiten, begeiſtert von
dem Gedanken einer Bayreutherziehung, die
das ganze deutſche Kulturleben in ſich
vereinigen will, werbend und aufbauend tätig,
um dem jungen Bunde zu jeinem erſten Wie
genfeſte die Freude einer weitverzweigten
Verbreitung zu machen. Überall aljo Aufbau-
arbeit unter dem Zeichen der Freude und der
goffnung!
Die erſte Kulturtat aber, die erſten deut-
ſchen Feſtſpiele, ift nun begründet und
ſichergeſtellt. über den Wert und das Ziel
einer ſolchen Feſtzeit ſind wir uns heute um ſo
klarer geworden, je deutlicher die Feſſelung
des deutſchen Kunſtlebens durch internatio-
nalen Geift und Ausländerei der Kreiſe ge-
375
worden iſt, die heute alle leitenden Stellen
des deutſchen Geiſteslebens innehaben. Eine
ſolche Beſinnung auf das eigene Kulturgut
im deutſchen Volke iſt notwendig, wenn wir
nicht wollen, daß wir ſeeliſch und geiſtig ver-
kümmern.
Was einzelne an einzelnen Stellen refor-
matoriſch zu beſſern verſuchten, das wollen
die für den Juli 1926 angeſetzten „Deutſchen
Feſtſpiele“ zuſammenfaſſen und zum madt-
vollen Anfang einer neuen deutſchen Kultur-
bewegung machen.
In Bayreuth, das uns Symbol des deut-
ſchen Nationalkunſtwerks iſt, werden im Jahre
1926 die Proben zu den für 1927 angeſetzten
Feſtſpielen ſtattfinden. Das Probenjahr darf
jedoch der deutſchen Kulturgemeinde nicht
verlorengehen, die in der Ruhepauſe Bay-
reuths von 1914 bis 1924 ſchon lange genug
hatte entbehren muͤſſen. Im ſchönen Weimar
ſoll fie ſich zur Pflege deutſcher Kultur ver-
einen, damit ein lang erſehnter Wunſch deut-
ſcher Führerperſönlichkeiten wie Hans von
Wolzogens und Friedrich Lienhards Wahrheit
werde, die Bayreuth und Weimar ver-
bunden wiſſen wollten, da eines ohne das
andere nur ein einzelnes, die Vereinigung
beider aber das große Ganze erreichen könnte.
Durch das verftändnisvolle und bereitwillige
Entgegenkommen der Generalintendanz von
Weimar haben die Gedanken Blut und Leben
bekommen. Das prächtige, ſchon durch ſeinen
vornehmen Stil und die bauliche Anlage wie
zum Feſtſpielhauſe geſchaffene „Deutſche Na-
tionaltheater“ in Weimar ijt für den Juli 1926
an den „Bayreuther Bund der deutſchen Zu-
gend“ verpachtet, der mit dem 1. Juli die
Proben aufnehmen wird und mit dem
22. Zuli zu feinen „Deutſchen Feſtſpie-
len“ einladet.
In dieſem erſten Feſtſpieljahre ſollen drei
deutſche Männer zu Worte kommen, die ihrem
Volke Vieles und Schönes zu ſagen haben:
Siegfried Wagner, Friedrich Lienhard
und Hans von Wolzogen. Von Siegfried
Wagner werden „Der Bären häuter“ und
„Sternengebot“ aufgeführt. Der „Bären-
häuter“, ein kraftvolles, kerndeutſches Drama,
iſt das erſte Werk des Bayreuther Dichter
376
komponiſten, mit dem er in den Jahren 1900
bis 1901 die Bühnen im Sturm eroberte; das
„Sternengebot“ dagegen ein ganz in Melodie
getauchtes hohes Lied der Liebe. Eine gewal-
tige dramatiſche Steigerung erfährt dieſes
Werk durch die Geftalten des Salierherzogs
Konrad und des Krüppels Kurzbold, der ſich
für einen verheimlichten Sohn des Herzogs
hält und ſelbſt nach der Krone greifen möchte.
Karl Waak, aus dem Kreiſe um C. Fr. Glaje-
napp, hat dieſes Werk in einer tiefen Abhand-
lung nach feinem dramatiſchen Gehalt unter-
ſucht. Auf die von ihm erſchienene Broſchüre
fei als beſte Einführung neben den umfaffen-
den Werken von Glaſenapp ſelbſt und Paul
Pretzſch (beide bei Breitkopf & Härtel) emp-
fehlend hingewieſen.
Von Friedrich Lienhard wird der „Münd-
hauſen“ aufgeführt, um die muſikaliſchen
Abende mit dieſem entzückenden, heiteren
Spiel zu unterbrechen, deſſen Anlage mir in
Shakeſpeareſcher Meiſterſchaft erſcheint, und
das dem großen lebenden Träger des Weimar-
gedankens neue Freunde zu den getreuen Ver-
ehrern ſeiner edlen Kunſt gewinnen wird.
In einer Morgenfeier kommt außerdem
Hans von Wolzogen zu Worte, den es im
Jahre 1926, als dem Gedenkjahre des fünf-
zigjährigen Beſtehens Bapreuths, zu ehren
gilt. Neben einem Vortrage über den treueſten
Jünger des Bayreuther Meiſters, den edlen
deutſchen Mann und Streiter und den Sänger
Wolzogen, ſteht die Aufführung feines „Lon-
ginus“.
Die Beſetzung der führenden Partien in
ſämtlichen Aufführungen nennt klangreiche
Namen der beſten deutſchen Bühnenkünſtler.
Siegfried Wagner wird die künſtleriſche Lei-
tung innehaben, Generalmuſikdirektor Franz
von Höslin (Seffau) und Karl Elmendorf
(Staatsoper München) die muſikaliſchen Auf-
Auf der Warte
führungen dirigieren, Alexander Spring
(Stadttheater Aachen) die Bühnenleitung
führen und Dr. Ulbrich, der Generalintendant
des Nationaltheaters, für die Schauſpielregie
zeichnen. Kammerſänger Habich, Heinrich
Schultz, Rudolf Watzke, Joſeph Correck, Fritz
Wolff, Hans Beer, ſämtlich durch ihre Mit-
wirkung in Bayreuth bekannt, Anton Maria
Topitz, Elli Sendler, Inge Sarauw, Liſelotte
Yeinlin und manche andern wirken in den
muſikaliſchen Aufführungen mit. Orchefter
und Chöre werden bedeutend verſtärkt fein,
fo daß Feſtſpielaufführungen erreicht werden,
die den Charakter eines künſtleriſchen Exeig
niſſes tragen ſollen.
In der rechten Erkenntnis der ſchweren
wirtſchaftlichen Notlage unſeres Volkes und in
dem Bewußtſein, mit den „Oeutſchen Feſt⸗
ſpielen“ eine notwendige ideale Tat durch
zuführen, hat die Feſtſpielberwaltung einen
Etat aufgeſtellt, der es ermöglicht, die Ein-
trittspreiſe ſo niedrig zu geſtalten, daß der
Feſtſpielgedanke auch in den Kreiſen unſeres
Volkes Verbreitung finden kann, die zwar das
Bedürfnis nach künſtleriſchen Feierſtunden,
nicht aber die Mittel dafür haben.
Die Verwaltung liegt in den Händen des
„Bayreuther Bunds der deutſchen Jugend“,
die Gefchäftsitelle der Feſtſpiele iſt beim Ber-
lag W. Hartel & Co. Nachf., Leipzig, Johannis-
gaffe 30 JI.
Die Geſchäftsſtelle des „Bayreuther Bunds
der deutſchen Jugend“ befindet ſich in Alten;
burg, Thüringen, Leipziger Straße 1, beim
Bundesvorſitzenden. Dort erfährt man, wie in
der Geſchäftsſtelle der Feſtſpielverwaltung,
Näheres.
An allen deutſch Empfindenden liegt es nun,
die „Oeutſchen Feſtſpiele“ zu einem Bekennt⸗
nis für deutſche Kultur zu geſtalten.
Otto Daube
Herausgeber: Profeſſor Dr. Friedrich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Ronrab Dürte,
Weimar, Rari-Alexrander-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen.
Annahme ober Ablehnung von Gedichten wird im „Briefkasten“ mitgeteilt, fo daß Rückſendung erſpart bleibt.
Ebendort werden, wenn möglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Cinfendungen bitten wir Rüdporto beizulegen.
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart.
1°
Bildnis der Friederike Sachs (Erstveröffentlichung) M. v. Schwind
ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT
Setausgegoben von Prof. Dr h.c. Friede: ———
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28. Jahrg. Februar 1926 Heft 5
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Der Greis follte von Dank erfüllt fablen, daß
ibm zur lebten Lebeusflufe vorguſchreiten ver-
gönnt war; er bat nicht naͤtig zu jammern, weun
fie aunaßt, es iſt ifm geftattet, mit filler Web-
mut Hinter fid zu blicken nnd nad dem ſchwũlen
Tag in abenò licher, labender Kable gleich ſam auf
der Bank vor feiner Aaustür ſichenò, fein ver-
bradtes Leben zu ũberſchlagen. In begaõten,
auserwablten Männern galten raft und Aus-
dauer faft obue Abuutung weit langer nad.
Welche Fülle ununterbrochener Tätigkeit und
geifliger Gewalt bat ein Aumbolöt bis ins feruſte
Alter allen zu flauneuder Bewunderung kund-
gegeben? Und die FJerrſchergabe des großen
Röuigs, deffen ruhmvolles Andenken wir heute
feiern, erſchien fie nicht bis zum Odluf ſeines
Dafeins unermattet, unverfiegt ?
Fakob’ Grimm
(„Über das Altec’, 1860)
D x / .
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2
SS
Der Türmer XXVI, 5
378
Jugend und Alter im Lichte des Ideals
Von Friedrich Lienhard |
Feſtrede zur Feier bes 7Sjöhrigen Beſtehens der Berliner
Studentenderbindung Wingolf in der Aula ber dortigen
Univerfität. 2.
Ei iſt mir der Auftrag geworden, zur Feier des fünfundſiebzigjährigen Veſtehens
der Berliner Studentenverbindung Wingolf an dieſer Stelle die Feſtrede zu
halten. Ich habe dieſer Verbindung einſt in den Jahren 1887 und 1888 zwei Semeſter
angehört, nachdem ich die vorausgehenden Jahre in der Straßburger Schweſter⸗
verbindung Argentina verbracht hatte. Damals gab es noch ein deutſches Straßburg
und darin ein reich ausgeprägtes deutſches Studentenleben mit einer neuen ſchönen
Universität. Es war die Zeit, wo man im fröhlichen Heidelberg das fünfhundert
jährige Gefteben der „Carola Ruperta“ feierte. Der Frühling blühte bei jenem
großzügigen Studentenfeſt überwältigend ſchön über alle Gartenmauern; und die
Gaſſen und Märkte blühten von überquellenden Scharen buntbemützter Mufen-
ſöhne. Es war eins meiner erſten eindrudsvollften Erlebniſſe auf altdeutſchem
Boden — und es war eine Höhezeit deutſcher Reichsmacht. Denn noch lenkte
Bismarck das Reich, noch lebte der edle alte Kaiſer Wilhelm. Und als wir ein Jahr
darauf nach Berlin kamen, war es für uns elſäſſiſche Studenten einer der erſten
Gänge, uns drüben vor dem Kaiſerſchloß aufzuſtellen, wenn die Wachtparade vor-
überzog. Dann erſchien wohl das vornehme Geſicht des greifen Monarchen einen
Augenblick am Fenſter; wir jungen Deutſchen jauchzten ihm zu und ſangen wohl
auch mit Hochgefühl ein vaterländiſches Lied. Denn Deutſchland war damals in
der ganzen Welt geachtet.
Aber in Berlin erlebten wir auch des alten Kaiſers Tod und Vismarcks Ent-
laffung. Beides hat uns tief erſchüttert, ganz beſonders des Kanzlers Schickſal. Es
iſt jedem, der dabei war, unvergeßlich, wie ſich die ganze Nacht die ſchweigende
Menſchenmaſſe unter leiſe rieſelndem Märzregen vor dem Palaſt drängte und auf
Nachricht über den ſterbenden Kaiſer harrte. Ich entſinne mich noch, wie meine
urberliniſchen Wirtsleute am Morgen weinend in der Küche ſaßen: „Der Kaiſer
iſt tot!“ Ja, des Reiches künftiges Schickſal war mit dem Tode jenes Kaiſers und
mit der Entlaffung des Kanzlers beſiegelt. Als wir Studenten dort am eiſigen
Morgen des Begräbnistages in ſtudentiſchem Wichs vor der Univerſität Spalier
bildeten und der lange, lange Leichenzug weſtwärts durchs Brandenburger Tor
vorüberwallte — da war eine geſchichtliche Wende angebrochen. Vis ins Mark hat
es uns dann erregt, als der genialſte Außenpolitiker der ganzen Kulturwelt, nicht
nur Deutſchlands, von dem jungen Nachfolger in den Sachſenwald verbannt wurde.
Dies taucht heute vor dem Auge des ſechzigjährigen Elſäſſers auf — ein Rüd-
blick über faſt vierzig Jahre. Was hat ſich in dieſen vier Jahrzehnten Erſchuͤtterndes
vollzogen! Und was vollends in den fünfundſiebzig Jahren, auf die wir heute bei
dieſer Feier zurückſchauen! Aus den Nachwehen der Revolution von 1848 tauchte
in jenen fünfziger Jahren dieſe deutſch und chriſtlich geſinnte Studenten verbindung
auf. Es war die Zeit, als Bismarcks Wirkſamkeit begann und als Hindenburg geboren
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Lenhard: Zugend und Alter in Lichte des Zde als 379
war. Und damit ſteigt unſere Betrachtung aus dem Perſönlichen ins Allgemein-
Hiftorifche empor.
Laſſen Sie uns dem Tatbeftand kühn ins Auge ſchauen und gleich die Kernfrage
ſtellen: war Deutjchland damals etwa jung — und iſt es nun alt geworden und
reif zum Zuſammenbruch? Läuft nicht das verfängliche Wort um vom „Untergang
des Abendlandes?“ Läßt ſich Aber Jugend und Alter nichts Troſtvolles und Über-
geordnetes finden, was dem Wechſel ftandhält?
Mit dem Begriff „Studentenverbindung“ iſt ohne weiteres der Begriff Jugend
verbunden. Jugend wandert unaufhaltſam hinüber in das Alter; und immer neue
Jünglinge drängen an die verlaffenen Plätze der alten Herren. Und fo wäre hier
ein ewiger Wechſel und Wandel feſtzuſtellen, wenn nicht etwas Gemeinſames
Jugend und Alter verbände. Dieſes Gemeinſame, dem wir alle dienen, alt und
jung, iſt das Ideal.
Ein gutes Ideal muß uns durch das ganze Leben begleiten können; es muß nicht
nur ſtandhalten, ſondern auch Kraft geben; es muß bei aller Beharrlichkeit im
Weſen doch fähig ſein, ſich in den Formen immer wieder zu verjüngen und den
wechſelnden Zeitverhältniſſen anzupaſſen.
Der Wingolf fügt ſich mit feinen Idealen in die Linie der Reichsromantik ein.
Er entzündet feine Fackel an demſelben Feuer, das die Burfdhen der Wartburg
belebt hatte, das im deutſchen Idealismus eines Schiller und Fichte und Schleier
macher lebendig war, das ſchon von Klopſtock und den national geſtimmten „Varden“
entzündet war. Das altgermaniſche Wort „Wingolf“ bezeichnet — ähnlich wie
Walhall — eine Freundſchaftshalle, einen Tempel der Freundſchaft. Klopſtock hat
eine ſeiner erſten und längſten Oden (1747), die er ſeinen Freunden widmete, mit
dieſem ſelten vorkommenden Namen belegt. Dort heißt es:
„Den ſegne, Lied, ihn ſegne bei feſtlichem
Entgegengehn, mit Freudenbegrüßungen,
Der über Wingolfs hohe Schwelle
Heiter, im Haine gekränzt, hereintritt ...
Die ganze Lenzflur ſtreute mein Genius,
Der unſren Freunden rufet, damit wir uns
Hier in des Wingolfs lichten Hallen
Unter dem Flügel der Freud' umarmen!“
Des Meſſiasſängers Grundideale — Freundſchaft und Liebe, Vaterland und
Frömmigkeit — ſind auch die unferen. „Durch Einen Alles“ (de? Evös xdvra), iſt des
Wingolfs gläubige Loſung: durch Einen Alles — durch den göttlichen Meiſter!
Gott, Freiheit, Tugend, Anſterblichkeit, Vaterland: dies gehört zu den Kräften,
die einſt ſeit Klopſtocks Tagen unterirdiſch das Reich vorbereitet und gebaut haben —
einſt: vor dem Einbruch des Materialismus! Es waren die ſtärkſten Stützen der
deutſchen Familie und damit auch der deutſchen Lebensgemeinſchaft; ſie banden die
Oeutſchen zur Einheit, als wir ſtaatlich noch nicht geeinigt waren. Vergeſſen wir
nicht, daß die Burſchen der Wartburg gemeinſam in der Kirche das heilige Abend-
mahl nahmen! Tiefernſt war es ihnen an jenem reinen Oktobertage des Jahres 1817
380 Lienhard: Zugend und Alter im Lichte des deals
init ihrer vaterländiſchen Sache, fo daß fie zuvor brüderlich vor das Angeſicht Gottes
traten. Dieſe religidfen Gemütsträfte find heute vom Materialismus und Sntellel-
tualismus zurückgedrängt.
So erhebt ſich bei einer wehmutvollen Rüdihau auf dieſe fünfundſiebzig Jahre,
die eine Reichsgründung und einen Reichszuſammenbruch erlebten, die Frage:
waren jene Ideale, die wir in die Worte „Deutſchtum“ und „Chriſtentum“ ſeit
Klopſtock und ſeit der Wartburg-Burſchenſchaft zuſammenballten, nur ein Traum?
Soll die neue Schicht recht behalten, die das Vaterland in Internationalismus
auflöſen und die Religion nicht nur als „Privatſache“ (alſo für die Gemeinſchaft
belanglos), ſondern überhaupt als „überflüſſig“ abſchaffen will? Ein wenig weiter
öſtlich in Europa hat man in der Tat nicht nur die Monarchie abgetan, wie bei uns,
ſondern auch Gott abgeſetzt und die Religion ausgetilgt aus dem terroriſtiſch be-
herrſchten öffentlichen Leben. Fahle Flammen züngeln von dort herüber; was man
als unſre koſtbarſte deutſche Eigenart zu ſchätzen pflegt, das ſchöpferiſche Gemüt,
das unſere Märchen, unſere Muſik, unſere Philoſophie ſchuf und das Chriſtentum
eindeutſchte, das droht von jenem kalten Verſtand zerſetzt und zerfreſſen zu werden.
Es iſt ein neuer Tatareneinfall. Und man begreift, daß nach ſolchem mörderiſchen
Weltkrieg — der nur die äußere Auswirkung des längſt ſchon die Seele zerſetzenden
Materialismus ift — in Europa ein Flüſtern umläuft vom „Untergang des Abend-
landes“. Man machte ſich um die Jahrhundertwende, als Häckel und der platt
gewordene Darwinismus den Markt beherrſchten, lächerlich, wenn man den Namen
Gott ausſprach; und man wird heute der Phraſe verdächtigt, wenn man das Wort
„Idealismus“ in den Mund nimmt. Es iſt landläufige Unſitte geworden, den Gdealis-
mus nicht mehr als eine wünſchenswerte Seelenkraft hoch zu achten, die ſich erſt
recht im Leid bewährt: fondern als Ideologie und Illuſionismus ſpöttelnd zu miß-
achten, wobei man ſich unter Idealiſten gemeinhin unpraktiſche Schwärmer vorſtellt.
Wir aber ſprechen als unfere Überzeugung mit ganzer Feſtigkeit und Unzwei-
deutigkeit dies aus: wenn die ſchöpferiſchen Gemütskräfte, die einſt den deutſchen
Idealismus, die deutſchchriſtlichen Lebensideale, die Reichsromantik geſchaffen
haben, wenn dieſe Grundſteine eines edlen deutſchen Familien- und
Gemeinſchaftslebens untergehen — fo hat Oeutidland feine Sendung ver-
kannt, ſo geht Deutſchland unter.
Nicht das Abendland iſt dem Untergang geweiht, denn dies mag auch als Zivili-
ſation weiterleben oder weitervegetieren, aber die beſondersartige deutſche
Gemütskultur ijt dann zur Belanglofigkeit und damit zum Abſterben verdammt.
Das Reich iſt dann ſeelenlos geworden, eine Maſchinerie, ein Mechanismus; der
Duft und Hauch iſt weg; das Unausſprechbare, was ich mit dem Wort „Reichs-
ſeele“ anzudeuten pflege, iſt verflogen.
Nicht der Idealismus als ſolcher wird untergehen. Niemals! Denn wahrer
Idealismus kann im einzelnen Menſchen nun und nimmer ſterben, er iſt unbrechbar
und bekundet eben damit, daß er den äußeren Verhältniſſen überlegen iſt, ſeine
Herkunft von Gott, ſeine Unbedingtheit, ſein kosmiſches Geheimnis. Er wird ſich
aber bei zu ungünftigen Zeiten nur noch in einzelne Perſönlichkeiten zurückziehen
und wird das Gemeinſchaftsleben nicht mehr zu durchdringen vermögen. Die
Lienhard: Jugend und Alter im Lichte des Ideals 381
idealiſtiſchen Gottgefandten find zwar immer in der Minderheit, aber fie durch-
ſäuern und durchſalzen die Maſſe und bewahren ſie vor Fäulnis. Das iſt ihre
Sendung. Wo dies nicht mehr gelingt, da fällt eine Lebensgemeinſchaft rettungslos
auseinander; denn ſie weiß nur noch mit dem ſinnlichen Genuß und Nutzen etwas
anzufangen, iſt alſo nur noch eine ziviliſierte Tierheit und wird von unten her
in triebhaften Zuckungen geleitet, aus den Bezirken der Zeugung und Verdauung.
Die oberen Mächte jedoch, die Kräfte des Guten und Schönen, haben ſich in ihr
Lichtreich zurückgezogen. Es iſt der Anfang vom Ende. Das Ende aber ijt Ver-
maſſung, Verblödung, Vertierung.
Eine große Polarität oder Wechſelwirkung geht je und je durch die Welt: Trieb
kräfte von unten und Geiſtkräfte von oben. Jene ſind erdhaft, dieſe ſind kosmiſch.
Jene find die Arbeits- und Fronkräfte im Kampf ums Dafein, dieſe find Religion
und Kunſt, Freundſchaft und Liebe. Dort iſt Zwang und Alltag, hier iſt ſegnender
Sonntag. Wer ſich den aus dem Lichtreich einſtrömenden Kräften des Sonntags
verſchließt, der verknöchert unrettbar. Die helfende Liebe von oben hat ihn verlaſſen.
Wir können auch ſo ſagen: es iſt die Polarität oder Wechſelwirkung zwiſchen
Staatsreich und Gottesreich. Beide wirken zuſammen wie Leib und Seele. Wenn
ſich das feine „Reich Gottes“, das Chriſtus verkündet hat, nicht ſtrahlenhaft hinein-
wirkt in das Staatsgebilde, indem es die einzelnen Herzen zubereitet, ſo iſt nur
noch eine ſeelenloſe Maſſe zu befehligen, die dann allerdings einen Diktator braucht
(da hat Spengler recht), weil ſie ſelber keine mitregierenden Kräfte des Guten
mehr in fic übt. Nicht ernſt genug kann man dieſe beiden Pole Staat und Gottes-
reich in ihrem notwendigen Zuſammenwirken beachten. Chriften und Zdealiſten
find Mitarbeiter der Gottheit, gleichviel welche Stelle fie im Staatskörper ein-
nehmen mögen. Ihre Herzen ſtehen in ununterbrochener ſtiller und inniger Gebets
verbindung — oder wie man dieſes kosmiſche Heimatgefühl benennen mag —
mit den Meiſtern der Weisheit und der Liebe. Sie ſind die aufnehmenden Antennen
für die Stimmen der Höhe.
Dieſe Stimmen ſind es, die ein Volk vor dem Untergang bewahren. Dieſe edle
Minderheit iſt das Licht der Welt und das Salz der Erde. Hier iſt die feine Schnur,
mit der die Menſchheit am Himmel hängt, an den Reichen des Lichts, in die unſere
Erde eingebettet iſt und von denen fie nicht abgeſchnürt werden darf.
Das deutſch-chriſtliche Lebensideal ijt ein Doppelideal: das irdiſche Vaterland
wird durchleuchtet von göttlichen Kräften, die in unſerem Falle nun einmal chriſtlich
ſind. Unſer Meiſter iſt der Herzog Heliand; wir ſind ſeine Mannen. Ich rede keiner
deutſchtümelnden Form des Chriſtentums das Wort; dieſe Formen mag jeder ſich
ſelber finden und wählen, wie er eben Ewiges erleben mag. Auch iſt Deutſchtum,
ſelbſt in edelſter Ausprägung, nicht dasſelbe wie Chriſtentum, ſelbſt in eingedeutſchter
Form. Dieſes iſt kosmiſch, jenes erdhaft. Es gibt keinen Religions-Erſatz, jo wenig
wie es einen Sonnen-Erſatz geben kann. In Gott leben, weben und wirken wir,
ſelbſt der Unglückliche, der ſich gegen ihn ſträubt oder ihn mit Worten leugnet.
Unfer Planet ift undenkbar ohne die Sonne; und die Menſchenſeele iſt undenkbar
ohne Gott. Dieſes Bewußtſein unſrer göttlichen Weſensart und Beſtimmung in den
erdgebannten Menſchen wachzuhalten und ihr dadurch Wärme und in der Wärme
382 Llenhard: Jugend und Alter im Lichte des Feels
Liebe und Vertrauen oder Glaube zuzuführen — dieſe Stärkung iſt die ſchöne
Lebensaufgabe wahrer Chriſten und wahrer Zdealiſten, dieſer natürlichen Bundes
geno ſſen gegen Materialismus und Mammonismus.
Wir fangen aber unſre Arbeit damit an, daß wir unſer eigenes Leben und Wirken
im Sinne des deals zu geſtalten ſuchen. Und das Geſtaltete ſtrahlen wir ganz
von ſelbſt hinaus in die erreichbare Uniwelt. Veredlungs- und Vollendungsdrang:
das iſt die in uns wirkende ſchöpferiſche Kraft. Bei echten Chriſten und Zdealiſten
(ich ſetze beide immer wieder als gleichgerichtet voraus, da ich vom deutſchchriſtlichen
Idealismus ſpreche) decken ſich Leben und Lehre; denn ihre Lehre iſt Leben, das ſich
in Worten verdichtet, und ihr Leben iſt geſtaltete Lehre.
Hier, meine jungen Freunde, geht der Weg zu einem neuen Aufſchwung unſres
deutſchen Volkes. Ich weiß keinen edleren Ehrgeiz in einem jungen Menſchen zu
entflammen als den: fein Leben fo zu meiſtern und zu meißeln, daß feine Geift-
geſtalt würdig werde, mit den Meiſtern zu wandeln in den Reichen der Vollendung.
Fange jeder von Ihnen mit ſich ſelber an! Was auch die Umwelt tue, erteilen Sie
ſich mit perſönlichem Trotz den autoſuggeſtiven Befehl: „Du diene den Meiſtern,
den Guten und Großen, den Fackelträgern, die am Pilgerzuge der Menſchheit
führend entlang wandern! Du ſei zunächſt Lehrling, dann Geſelle, zuletzt Meiſter
oder Meiſterlein nach dem Maße deiner Kräfte!“ So wird dein Leben geſegnet ſein.
Es iſt wahrlich leicht, ſich über Idealismus luſtig zu machen, es iſt ſchwer, aber
ſchön, den Weg des Idealismus ſelber zu wandern. Je länger du wanderſt, um ſo
weniger brauchſt du deine anfangs notwendige Laterne: denn in dir ſelber ent-
faltet ſich eine wunderbare Leucht- und Wärmekraft, und du felber wirſt von innen
leuchtendes Vorbild ſein für viele und wirſt von deinem Vorrat Kraft abgeben
denen, die an Unterkraft leiden!
Es gibt nämlich ein Geheimnis — und nun ſpricht der ältere Freund zu den
Jungen — es gibt ein Geheimnis, das nur diejenigen wiſſen, die ſich auf die Ewig-
keit einſtellen, alſo gleichſam teleſkopiſch zu ſchauen vermögen: etwas in uns wird
nämlich immer jünger, wenn wir in gutem Sinne alternd unſer Leben geſtaltet
haben. Immer jünger wird in uns die Geiſtgeſtalt, an der wir lebenslang be-
wußt und unbewußt gemeißelt haben. Sie macht ſich rüſtig und bereit, in die
Ewigkeit hinüberzuziehen, aus der wir gekommen ſind. Schickſal und Widerſtände
haben uns hienieden geübt. Wir gehen über die Erde, beſtehen eine Reihe von
Prüfungen, wachſen und reifen daran — und fahren bereichert und geklärt auf
unſrer kosmiſchen Bahn weiter. Dieſes Frohgefühl des unſterblichen Menſchen,
durch eine tapfer beſtandene Erdenfahrt gereift zu ſein auf unſrer großen kosmiſchen
Bahn von und zu Gott, das iſt ein Gefühl der Verjüngung, meine jungen Freunde,
das iſt ein beglüdendes Sieges gefühl. Und unſer oe Wort nach folder Fahrt
darf dann wahrlich ſein das Wort Dank.
Jedenfalls, liebe Kommilitonen, wenn die Welt ein Land der Prüfungen iſt,
wenn ſonderlich Oeutſchland jetzt hart geprüft wird — wohlan, laßt uns die Prä-
fungen tapfer beſtehen! Ich rufe das Heldiſche in Ihnen an, nämlich das Heldiſche
auf ſeeliſchem und ſittlichem Gebiet: arbeitet an eurer Innenwelt, duldet und denkt,
helft und heilt, ſammelt alle edlen Kräfte im Aufblick zu großen und guten Meiftern,
Riendard: Zugend und Alter im Lichte des Zdeals 383
obenan zum Meiſter Chriftus — und ihr werdet eine Macht fein mitten in äußerer
Ohnmacht! Ich weiß keinen anderen Weg als dieſen ſtrengen Pfad durch ſeeliſche
und ſittliche Erneuerung. Jeder einzelne Menſch muß ihn gehen; da tritt kein
andrer für ihn ein. Das Reich Gottes wendet ſich mit ſeiner erhabenen Votſchaft
an die einzelne Seele; es geht kein andrer Weg zu Gott, wie du ja auch allein
durch die Todespforte mußt. Das durchgöttlichte, geprüfte und durch Prüfung
geläuterte Ich wird weder hochmütig werden noch im Individualismus erſtarrt
vereinſamen, ſondern im Dienſte der Gottheit und an der Geſamtheit eine Stim-
mung der Brüderlichkeit erzeugen, in deren warmem Blutkreislauf ſich die
ſozialen Spannungen löſen.
Ich habe mit jugendlichen Erinnerungen begonnen, laſſen Sie mich wieder daran
anknũpfen! Es ſind etwa ſiebzig Jahre her — kurz nach der Gründung des Verliner
Wingolfs — da hat ſich unſre Straßburger Studentenverbindung Argentina dem
geſamtdeutſchen Wingolfsbunde angeſchloſſen. Es ſchlugen dort in den fünfziger
Jahren einige warmherzige junge Elſäſſer die Brücke über den Rhein: ſtaatlich
franzöſiſch, in ihrer Kulturgeſinnung deutſch. Man follte bei einer Rüdichau dankbar
einige jener Namen nennen: fo den prächtigen ſangesfrohen Ihme, den warm-
herzigen Dichter Karl Hackenſchmidt und den Verfaſſer der „Fröſchweiler Chronik“,
Karl Klein. Ihme — er wirkte ſpäter als Pfarrer im romantiſchen Bärental, in
den nördlichen Vogeſen — las gelegentlich einen Bericht über ein Wingolfsfeſt und
fing Feuer. Im Geiſte dieſes Feſtes ſpürte er das Zdeal deutſchen und chriſtlichen
Studententums. So fanden jene erſten Argentiner den Weg über den Rhein: ſie
waren eine Vorahnung der Rückeroberung des Elſaſſes. In Kehl zogen ſie ihre
Bänder aus der Taſche und hingen ſie um; gelegentlich waren ſie auch Gäſte der
Verbindungen in Gießen oder Marburg, mit denen fie Fühlung genommen. Und
einer von ihnen — der redemächtige Karl Klein — hielt dort einmal eine fo feurig-
deutſche Rede, daß ihn der alte Vilmar unter Tränen umarmte. |
Was jene jungen, heißen Herzen, jetzt alle dahingegangen, einſt ausſtrahlten
— jenes Band zwiſchen elſäſſiſcher und deutſcher Kultur — wir ſpäteren Elſäſſer
haben es freudig fortgeſetzt, bis uns der Weltkrieg hinauswarf aus der jetzt verlorenen
Heimat. Es iſt mir, als wär' es geſtern geweſen, wie der ZIdealiſt Ihme auf jenen
umblühten Pfingſtfeſten in meinem Geburtsort Rothbach mit mächtiger Stimme
voranſang, wenn die alten evangeliſch-lutheriſchen Choräle erklangen. Und wir
Jungen ſangen begeiſtert an der Orgel mit. Da war nicht alt noch jung: da war
die alles umſpannende gemeinſame Lebensſtimmung deutſchrchriſtlich gefinn-
ter Menſchen jeden Alters und Geſchlechts. Bleibt mir weg mit dem hodmitig-
modernen Wort „Wir Jungen!“ Ach was, ihr Jungen! Es gibt unter euch Jungen
dumpfe, durchſchnittliche und hochbegabte, begeiſterungsfähige Herzen: nicht die
Jugend als ſolche iſt das Entſcheidende, ſondern euer Herzens- und Geiftes-
gehalt. Und dieſer kann im äußerlich alternden Manne noch ſo ſtark und ſo rein
glühen wie im Jüngling. Hat nicht der immerjunge Feuerkopf Blücher, der Marſchall
„Vorwärts“, als Greis von einigen ſiebzig Jahren die jungen Freiheitskrieger
angeführt? Und verdankt Deutſchland den großartigen Rückzug feines Heeres aus
dem Weltkrieg nicht dem ebenſo betagten Feldmarſchall Hindenburg, der jetzt des
384 Rabe : Feierabend
Reiches höchſtes Amt bekleidet? Merkt man einem der bedeutendſten Bücher von
Ernſt Moritz Arndt, den „Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn
vom Stein“, etwa an, daß es ein Greis von neunundachtzig Jahren geſchrieben
hat? Cicero in feiner bekannten Rede „De senectute“, die er dem älteren Cato
in den Mund legt, und Jakob Grimm in feiner nicht minder rühmlichen Akademie⸗
rede „Über das Alter“ haben lobende Worte über des Alters herbſtliche Reife
geſprochen. Ein ſchönes Alter ijt des Frühlings Erfüllung; wie der Herbit Früchte
ſpendet, ſo ſpendet der gut gereifte Menſch aus der Fülle ſeiner Weisheit und ſeiner
Lebenserfahrung. Es kann und darf für Menſchen, die in gleicher Geſinnung — sub
specie aeternitatis, aus dem Engen ins Ewige — reifen, kein Gegenſatz beſtehen.
Ihr Jungen und wir Alten — beide arbeiten wir in gleicher Liebe am gleichen
deutſchen Volke, am gleichen Reich Gottes des Guten, Großen und Schönen —
als die Immerlebendigen, die man nicht wie der äußerliche Materialismus nach
Jugend und Alter unterſcheiden darf, ſondern nach dem Wärmegrad ihrer fchaffen-
den und helfenden Liebe.
Glückauf zu ſolcher Geſinnung, liebe deutſche Jugend!
Feierabend
Von Georg Kläbe
Der Meiſter ſprach das frohe Wort,
Den Kalk oon ſeiner Kelle ſchabend.
Es klingt in meinem Herzen fort
Wie eine Glocke: Feierabend!
Vertrauten Heimweg ſucht mein Fuß
Durch braunes Moor auf langen Dämmen,
Das Auge bietet Wandergru
Zu nebelfernen Hügelkämmen.
Nun winkt vom Waldrand her mein Haus,
Vom Schornſtein quillt's in grauen Schwaden,
Als wollt' es mich zum Abendſchmaus
Zur wohlverdienten Nuhe laben.
Des Herbſtes letzter Blütenflor
Lockt lieblich aus dem kleinen Garten.
Zwei blonde Mädels ſteh'n am Tor,
Die längſt auf ihren Vater warten.
Die Löckchen weh'n im Abendwind,
Zwei Stimmlein läuten ſilberhelle —
Auf jedem Arm ein lachend Kind
Betret ich meine traute Schwelle.
Bald ſteigt die Nacht, die Eule fliegt,
Die Welt iſt ganz in Grau zerfloſſen —
In dieſer Dämmerſtunde liegt
Des Werktags ganzes Glück beſchloſſen.
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt:Roman von Herbert Martens
(Fortſetzung)
1666
rs Lievens war von der Hartenjiraat herübergekommen, und feine unverwüft-
liche Heiterkeit funkelte über den Tiſch, der einfach gedeckt in dem Nordzimmer
hinter der Malkammer ſtand; um ihn ſaßen Titus mit feiner blaſſen Braut, Magda-
lena van Loo, einem frühentwickelten Mädchen, wie man fie bei den Iſraeliten oft
antrifft, und der Meiſter neben Kornelia, die ihm zur Hand war, alle in aufgeräumter
Stimmung. Jan Lievens war es auch nicht beſſer ergangen in den letzten Jahren
als den meiſten holländiſchen Malern: ſie ſetzten ihre Bilder nicht mehr ab. Selbſt
die Italiener unter ihnen fanden jetzt viel Spreu unter dem Hafer ihrer Kunſtkrippe.
Hollands Handel hatte durch den Wettkampf mit den Engländern einen ſtarken
Stoß erlitten, deren Kriegswimpel jetzt alle Meere der weiten Welt beherrſchten.
Aber das mochte den unbekümmerten Mann wenig ſcheren. Er war der geborene
Frohſeher, und feine hohe hagere Geſtalt überragte alles Sorgengewölk. Sein flä-
miſch dreinſchauendes bärtiges Geſicht vertrieb allein ſchon jedes Unwetter, vor
allem, wenn er den Mund öffnete, um einen wahren Wogenſchwall von unausſprech-
lichen, nie gehörten Fluchworten hinauszuſchmettern.
— Rem, mein alter Kamerad, es lebe die Lebensfreude! Hier in dieſem engen
Amſterdam wird meines Bleibens nicht lange mehr ſein! Nirgendwo kann ich recht
ſeßhaft werden. Das macht der ewige Drang ins Weite. Du weißt ja, ich bin einer
von denen, die Waſſer und Wolken um ſich haben müfjen und einen harten ſcharfen
Wind um die Naſe. Dann erſt bin ich in meinem Element! —
— Ja, Jan, und dazu einen prickelnden Dampf, der einem überheißen Glas Grog
entſteigt; ja, ſo ein harter ſcharfer Grog um die Naſe. Kein Widerſpruch, du biſt
eine glückliche Natur. Wenn du nur ein Liebchen im Arm und deinen Hering zum
Morgenimbiß haft, dann biſt du glücklich und der große Mynheer. —
— Spotte du nur, Rem! Hätten wir beide die Fürſten und Machthaber des Lan-
des zu Schirmherren gehabt, wir könnten jetzt in Saus und Braus dahinleben.
Das ſoll heißen: ich; nicht du! Zum Höfling taugſt du nicht. Du biſt eine Fgelnatur,
die ſchon glücklich iſt, wenn man fie ungeſchoren läßt. Und aus Amſterdam kommſt du
niemals mehr heraus. Ich weiß wirklich nicht, was du ſo Großes an dieſer Stadt der
Heringe findeſt. Nur die Mädchen ſind hier hübſcher als anderswo, mit Ausnahme
von Antwerpen. Ja, das war dort in meiner ſtolzen Künſtlerzeit ein Sinjorenleben! —
— Spiel' dich nicht auf, Jan, du alter Lüderjahn. Niemand kennt die Hafen-
ſchenken in den Niederlanden ſo gut wie du. Eigentlich ſollteſt du mit dieſen ehrbaren
Mädchen gar nicht an einem Tiſch ſitzen. —
— Ach, Rem, du glaubſt immer, ich lebte wie Apoll im ſiebenten Himmel. Nein,
ich habe letzthin mein Schock Verdruß wegbekommen. Der Jan Andrea, mein Er-
wachſener, du kennſt ihn ja, macht mir das Leben verdammt ſauer. O heiliger Niklas
von Flandern, hätt' ich doch ſolch feine anſtändige Kinder wie du! Aber dieſer Lüm-
mel trinkt, flucht, ſchwört wie der Papſt. Er ſchleicht des Nachts die Straße hinüber
386 Martens: Oer Odmon des Lge
zu Annetje, einem armen jungen hübſchen Mädel, das der Lump verführt hat, und
ſchläft bei ihr, wenn er nicht gerade Händel hat mit der Wache, wenn er nicht feinem
Bruder auflauert im Dunkel vor der Tür mit einer Pechfackel in der Hand und ſie
ihm ins Geſicht ſchlägt, wenn dieſer ins Bett will. Ich habe durch Meeſter van Byler
an das Stadtgericht ſchreiben laſſen, den Flegel hinter Schloß und Riegel zu ſetzen,
den verfluchten Galgenvogel! —
— Jan, mäßige dich! Wer hätte denn in feiner Sturmjugendzeit nicht den hüb-
ſchen Mädchen nachgeſtellt! Oder waren das von dir immer nur Prahlereien? Me
konnte dies Röslein am alten knorrigen Wetterſtamm anders ausſchlagen? —
— Zugeſtanden, Rem, aber beim Hemdzipfel meiner fröhlichen Neeltje, nie habe
ich ein Mädel verführt. Huſch, du alter Igel, der Junge muß in den Turm. Wie ſoll
ich ſonſt, ich alter Witwer, Regiment halten bei all meinen fröhlichen Kindern, die
meine Luſt und mein Leben ſind! —
1667
| 1.
Ein heller farbenfroher Sonntag leuchtete über Amſterdam. Aberfreudige Ernte
dankſtimmung und Schützenfeſtjubel lagen in der Luft. Ins freie Feld drängten die
bewegten Volksmaſſen vom frühſten Morgen an, hinaus in die ſaftgrünen Wieſen,
in die blumen; und kränzegeſchmückten Wirtshäuſer und auf die breiten hölzernen
Tanzböden, die weit im Lande, oft von lauſchigem Gehölz verſteckt, zu wilder aus-
gelaſſener Freude lockten. Ein friſcher Wind, der von der See herkam, blies ein lu⸗
ſtiges Trompeterlied, und Haar und Röcke der ſchmucken Evastöchter flogen im flot-
ten Tanzwirbel. Im Hafen ſchaukelten plätſchernd die gewaltigen Galeonen und
riſſen heftig an ihren Tauen. Freude herrſchte über dem weiten Land; ja, es war eine
Luſt, den wunderbaren ungetrübten Himmel Gottes über ſich zu fühlen.
Ausgeſtorben ſchien dagegen die Stadt, dieſe große reiche Stadt mit ihren ſchwer⸗
wiegenden Bürgern, deren Vermögen nach Silbertonnen Gewicht geſchätzt wurde.
Manch ſchwergewichtiger Herr wog ſeine tauſend Pfund bares Silber.
Nur die Kranken und die Mühſalbeladenen waren zu Hauſe geblieben, die Krüppel
und Menſchenſcheuen, die Armen und Vergeſſenen. Zu dieſen gehörten auch die
ſtillen Bewohner des ſchmalen tiefen Hauſes in der Roſengracht, in dem Rembrandt
wohnte. Im Erdgeſchoß hatte Titus ſeinen kleinen dunkeln Antiquitätenladen;
wohnen tat er nicht mehr bei ſeinem Vater, ſeit er zu der Mutter ſeiner Braut nach
dem Singel gezogen war, die einen beſcheidenen Gaſthof für junge Handlungs-
reiſende und Künſtler führte. Sie war eine prachtvolle alte Frau, voll Lebenserfah-
rung und guter Ratfchläge für die Hilfsbedürftigen; ſelten kam einer zu ihr, der nicht
froheren Geſichts wieder fortgegangen wäre, beſchenkt mit einer Gabe oder einer
Wegweiſung zum Glück.
Magdalena verkehrte ſchon lange im Haufe der van Ryn: der Meifter liebte ibe
ſtarkes temperamentvolles Weſen. Titus war immer in ſie verliebt geweſen, ſeit
er denken konnte; fie war ihm gleichalterig und ſchon mit fünfundzwanzig ein
vollreifes Weib, das über ſeine Mädchenblüte längſt hinausgewachſen war. Nur
Kornelia brachte der zukünftigen Schwägerin ein Herz verhaltener und geſpaltener
Gefühle entgegen. Meiſt ohne Magdalena kam Titus in ſein dunkles armſeliges
Martens: Der Odmon des Lichte 887
Vaterhaus. Heute, am Sonntag, traf er wohl den Vater und die Schweſter allein zu
Haus; die junge jüdiſche Köchin Rebekka, die trotz der harten Zeiten getreu am trau-
tigen Herde der van Ryn aushielt, die für ſie kochte und wuſch, war zu ihrer alten
Mutter ins Alteleuteſtift gegangen. Da mußte Kornelia, Hendrickjes üppige ſchöne
ſechzehnjährige Tochter, allein den Hausſtand beſorgen.
Die Geſchwiſter liebten ſich innig; niemals hatte der Gedanke ihr zärtliches Ver-
hältnis zueinander getrübt, daß Kornelia das uneheliche Kind der menſchlich großen
Hendridje Stoffels war, die ſeit drei Sommern bereits in der Gewalt des Todes
ruhte. |
O du ſeltſam dunkles unvergdnglides Leben! Hier fühlten ſich in aller Armut
drei tief angelegte Seelen glücklich, im reinen harmoniſchen Verbundenſein; drei
ſich in edler Empfänglichkeit liebende Menſchen hatten in ihrer Demut und trotz der
Lebensdornenkrone immer nur bewundernde Blicke füreinander. Welch ein eifriger
unermüdlicher Ernährer war Titus, begabt mit dem glücklichſten Erwerbsſinn in
ſeiner jungen unternehmungsfrohen Männlichkeit! Und Kornelia, die koſtbare
Augenweide des Vaters, des ſchönheitstrunkenen Künſtlers, angetan mit den Reizen
ihrer germaniſch urwüchſigen rötlichblonden Schönheit! Und beide in der herrlichen
Tugend vereint, in der köſtlichen Kindespflicht, ihr junges Leben an die Erhaltung
ihres großen Vaters zu ſetzen.
Immer ſtand eine ſtille Freude in den großen Augen des jungen Bräutigams,
dachte er an Vater und Schweſter, und auch jetzt war es fo, als er mit ſchnellen Schrit-
ten von der Prinzengracht kommend, die Roſengracht hinabſchritt, an deren Ende
das Haus des Mannes lag, deſſen Name einſt in aller Munde war, jetzt aber als ein
bedeutungsloſer Kieſelſtein im Menſchenozean verſunken und vergeſſen ſchien. Sein
weiter ſchwarzer Mantel, der bis an die Füße reichte, flatterte im Gehen hindernd
um die mit ſeidenen Strümpfen und Schnallenſchuhen geſchützten Beine. Einen
luſtigen Oreiklang pfeifend, klopfte er mit dem roſtigen Eiſenring an die ſchmale
hölzerne Haustür, zu der drei verfallene Stufen hinführten, die er mit einem ein-
zigen Satze genommen hatte. Kornelia, die auf ihn gelauert haben mochte, öffnete
ſofort und küßte ihn zärtlich, als er in der Haustür ſtand. Sie ſchaute ihm dabei ſchnell
und verſtohlen ins Geſicht; wie bleich und eingefallen er ausſah, der ſorgende Bru-
der! Wie hatte er ſich von früh bis fpät zu plagen. Sie nahm ihm den Mantel ab, und
Arm in Arm verſchlungen ſah ſie der gerade in der Bibel leſende und aufblickende
Meifter ins Zimmer treten, feine Kinder, die zärtlichen Sprößlinge feiner Leiden
ſchaften. Er hatte von Boas und Ruth geleſen und vermeinte, das in glühender Liebe
ſich in die Arme ſinkende Paar vor Augen zu ſehen. Er wollte aufſtehen und ihnen
entgegengehen, doch Titus kam ihm zuvor und drückte ihn in den harten Strohſeſſel
zuruͤck, der an der rauchgeſchwärzten offenen Herdſtelle ftand, in der auf einem kleinen
Oſchen der Waſſerkeſſel ziſchte und pruſtelte. Kornelia holte die paar henkelloſen
Taſſen vom Brett herunter und bereitete den Tee. Jedem rüdte fie ein vierbeiniges
Tiſchchen an den Stuhl heran und verbreitete in dem Zimmer ein trauliches Gefühl
jungfräulicher Anmut.
Der Meiſter trank langſam und bedächtig ſeinen Tee, dann ließ er ſich von Titus
eine der langen angerauchten Tonpfeifen ſtopfen, die überall an den kahlen Wänden
388 Martens: Der Dämon des Lichts
als zweifelhafter Schmuck hingen, und ftedte fie vorfidtig in Brand. Vor ſich hin-
ſinnend ſchmauchte er lange den bläulichen Rauch ins dunkle Zimmer hinein und
griff erſt wieder zur Bibel, als Kornelia die Kerzen entzündete. Mit lauter gelebrie-
render Stimme las er den Kindern das dritte Kapitel aus dem Buche Ruth:
1. Und Naemi, ihre Schwieger, ſprach zu Ruth: Meine Tochter, ich will dir Ruhe
ſchaffen, daß dir's wohlgehe.
2. Nun, der Boas, unſer Freund, bei deſſen Dirnen du geweſen biſt, worfelt dieſe
Nacht Gerſte auf ſeiner Tenne.
3. So bade dich und ſalbe dich und lege dein Kleid an und gehe hinab auf die Tenne;
gib dich dem Manne zu erkennen, bis er ganz gegeſſen und getrunken hat.
4. Wenn er ſich dann leget, ſo merke den Ort, da er ſich hinleget, und komme und
decke auf zu feinen Füßen und lege dich, fo wird er dir wohl fagen, was du tun follft. —
Die getragenen Worte ſchwebten ernſt und verhalten durch das lange ſchmale
Zimmer und verklangen in dem Herzen der andächtig Lauſchenden. Und der Meiſter
las, wie Boas die Moabiterin Ruth zu ſeinen Füßen gebettet fand und ihr Herz ge-
wann durch ſein gerechtes und inniges Weſen:
— 11. Nun, meine Tochter, fürchte dich nicht, alles, was du ſageſt, will ich dir tun;
denn die ganze Stadt meines Volkes weiß, daß du ein tugendſam Weib biſt.
12. Nun, es iſt wahr, daß ich der Erbe bin; aber es iſt einer näher denn ich.
13. Bleib’ über Nacht. Morgen, fo er dich nimmt, wohl; gelüftet’s ihn aber nicht, dich
zu nehmen, fo will ich dich nehmen, jo wahr der Herr lebt. Schlaf’ bis zum Morgen!
Und weiter las der Meiſter, wie Boas ſich ins Tor der Stadt ſetzte und den Erben
erwartete, und, als dieſer kam, zehn Männer von den Alteſten der Stadt nahm, die
Zeugen der Verhandlung mit dem Erben waren, der aber auf ſein Erbrecht ver-
zichtete, als er von Boas die Bedingung vernahm: Welches Tages du das Feld
kaufeſt von der Hand Naemis, ſo mußt du auch Ruth, die Moabitin, nehmen. Da
ſprach der Erbe: Beerbe du, Boas, was ich beerben ſoll. Und er zog nach alter Sitte
feinen Schuh aus und gab ihn dem Boas. Das war das Zeugnis in Ffrael.
Alſo nahm Boas die Ruth, daß ſie ſein Weib ward. —
Hier ſchloß der Meiſter die Heilige Schrift, und ſein Geiſt lebte noch lange in den
Bildern des Buches Ruth. Wie leibhafte Geſichte ſtanden ſie in den dunklen Ecken
und erfüllten ihn mit der ewigen Sehnſucht des ſchöpferiſchen Künſtlers, i in dem das
Werk in ſeinen erſten Akkorden zu erklingen beginnt.
Groß und gewaltig, ein ſiegreicher Feldherr, ſtand er vor der Staffelei:
— Heute bin ich groß und glücklich, jung und beſchwingt. Mich leitet eine wunder-
bar ſtarke ſichere Hand, und voll der Gnaden iſt meine Seele. Titus, keuſchzärtlich
halte die Schweſter wie Boas die Ruth umfangen, wie du es kraft deiner innigſten
Liebe vermagft. Breite den linken Arm ihr um die ſchwellende Hüfte, lege die Rechte
zärtlich ihr auf die bewegte Bruſt! Zärtlicher, inbrünſtiger, Titus, verſenke dich in
den glühenden Geiſt der Leidenſchaft, die Boas erfüllte! Und du, Cornelia, blond-
frieſiſches Blut meiner ſtürmiſchen Hendrickje, bändige die Begierde deiner Blicke,
unter den tiefer geſenkten Lidern träume fie innig verſunken hinaus in die Aner-
meßlichkeit deiner ſtrahlenden Zukunft! —
Martens: Oer Dämon des Lichts 389
2.
Nur noch zum Schlafen, Träumen und zu den kargen Mahlzeiten verließ der
Meiſter die Staffelei. Seine fieberhaft ſchaffenden Hände mußten ſich ausarbeiten.
Oft ſtand er ganz in Schweiß gebadet und vollſtändig erſchöpft vor ſeinen großen
Lebenswerken, die er ſchnell hintereinander und auch nebeneinander ſchuf. Mit den
alten Mitteln konnte er der Fülle ſeiner Geſichte nicht mehr Herr werden. Neue
Mittel, neue Farbenharmonien mußten gefunden werden, um den Anforderungen
feiner emporbäumenden Phantaſie, feiner verzitternden Innigkeit der Gefühle ge-
recht zu werden. Und immer wurde er von der Angſt gepeitſcht, nicht mehr ein er-
ſchöpfendes Maß von Lebenskraft in fi zu tragen, um das große Leid feines Lebens
hinausklagen zu können in die Ewigkeit. Niemals wieder würde er dieſe ſüße Schwer-
mut, dieſe dunkle Melodie des Schmerzes in die Farbentiefe eines Bildes hinein-
zaubern können.
Berge von Farben verarbeitete er, verknetete er mit ſeinen nervigen Fingern.
Dies war kein Malen mehr im gewöhnlichen Sinne, dies war eine Verſchmelzung
von Malerei und Bildhauerei. Eine funkelnde Demantpracht in nie geahnter Farbig-
keit ſtrahlte wunderbar geheimnisvoll, wie Meeresleuchten in dunkler Nacht, aus
den Tiefenwirkungen der vertriebenen Töne. So wurde in dieſen ſchlechtbeleuchteten
ärmlichen Räumen eine neue Ausdruckswelt geboren, die ein Leben von unſagbarer
Arbeit und Entbehrung mit der Gloriole der Unſterblichkeit krönen ſollte.
3.
— Titus, in welchen Stadtteil führſt du mich? Mein Gedächtnis ijt nicht mehr das
beſte. —
— Vater, du müßteſt dich doch gerade dieſer Gegend gut erinnern können. Von der
Anthoniesbreeſtraat biſt du kaum einen Kanonenſchuß weit entfernt. Von der Hout-
gracht her betreten wir über die Schmausjesbruͤcke das alte Judenviertel Blovienburg.--
— Gewif, Titus, nur kam ich ſelten von dieſer Seite hinein in dies finſtere Laby-
rinth von Schmutz und Armut, in dieſes Inferno menſchlicher Erbärmlichkeit und
Unflats. Es hebt ſchon wieder der üble peſtilenzialiſche Geſtank von Knochen und
Häuten an. Früher war dieſer Bezirk des Elends, dieſes einſtige Ghetto, das eine
Inſel bildet inmitten der Kanäle, nur von vier Brücken her gangbar, und dieſe
wurden ſtreng bewacht. Die Zeiten ſind ja menſchlicher geworden; aber die Stätte,
an der dies ſo lang verfolgte geknechtete Volk unſägliche Leiden zu erdulden hatte,
ſcheint ihm immer noch willkommen zu ſein. Seine Synagogen ſtehen hier, ſeine
Vorfahren haben hier gelitten, es ift ihm geheiligte Erde geworden. Nur die Ab-
trünnigen und die Reichgewordenen verlaſſen den traurigen Boden ihrer beengten
Kindheit. — Damals, als wir noch in der Breeſtraat wohnten, kam ich faſt täglich
hierher und zeichnete die Welt der engen Gaſſen. Die Breeſtraat iſt längſt nicht mehr
eine der vornehmſten Straßen der Stadt. Seine einſtigen Anwohner ſind zumeiſt
nach dem neuerbauten Weſtviertel hinübergezogen. Wir ja auch, Titus! —
— Ja, Vater, die Rofengracht ijt in ihrem ländlichen Charakter ein heiterer Wohn-
ort, ſo ein rechter Aufenthalt allen Malern. Wir haben ja auch lange warten müſſen,
bis wir unſer ſchmales Häuschen beziehen konnten. —
300 Martens: Oer Dämon des Lidts
— Gitus, es hat nur einen einzigen Nachteil; wer dorthin zieht, an den Stadtwall,
den vergißt die Welt ſchnell. — |
— Vergißt fie aud den alten Rembrandt, Vater, das muß dich nicht verdrießen.
Den jungen blühenden Meiſter der dreißiger und vierziger Jahre wird fie niemals
wieder vergeſſen können. Deine Bilder aus dieſer Zeit ſteigen ſelbſt noch heute, in
der Zeit des Verfalls, dauernd im Werte. —
Wer kann fo gut tröften wie du, Titus! Von dem Erlös all meiner Werke, die in
feſtem Beſitz ſind, ließe ſich bereits heute eine Kirche erbauen, vielleicht einmal eine
von der Pracht und Größe der Peterskirche in Rom. Wir aber können inzwiſchen ver-
hungern. Du ſiehſt immer krank und müde aus. Du ſollteſt dich ſchonen! —
— Meine Natur iſt ſchwächlich, Vater, daran iſt nichts zu ändern. Wenn ich dich
dagegen betrachte, deine bäuerifchftolge breitſchultrige Art, die dir immer eigen war,
fo müßte ich allerdings verzweifeln. —
— Zunge, wie ein ſchmächtiges, zartes, frühverbluͤhtes Jungfräulein kommſt du
mir vor in deinen langen Locken. Doch gerade fo biſt du mir lieb. Im Grunde ift
alles eitel und vergänglich. Die Armen find oft die Glidlidften. Du haft die Hoff-
nung, im Leben voranzukommen, und ich meine Kunſt. Was wollen wir mehr! —
Beide Männer verfielen in ein langes Schweigen; jeder verſank in ſeine traurigen
Gedanken, die fie ſich nicht anvertrauen wollten. Durch das lärmige Gewühl' der
Holzgaſſe ſchritten fie nebeneinander her, bis fie vor dem einſtigen Haufe des Michael
Deſpinoza ftanden, in dem der große Sohn dieſes portugieſiſchen Kaufmanns den
Tag des Lebens erblickt hatte. Rembrandt zog ehrfürchtig den Hut, als hätte er den
Philoſophen Baruch Deſpinoza am Fenſter geſehen; doch dieſer lebte abgeſchieden
von der Welt und verbannt von ſeinen Volksgenoſſen im Haag. Dann ſchritt der alte
Mann weiter, ſeines verſtorbenen Freundes gedenkend, des Rabbi Manaſſe ben
Iſrael, mit dem er einſt dieſes Haus beſuchte.
Rembrandt fing nun an, die Geſtalten aufmerkſamer zu betrachten, die fie um-
ringten, an ihnen vorübereilten, fie ſtreiften und berührten. Ein uralter Zude mit er-
blindeten blutunterlaufenen Augen taſtete, auf einen Stock geftüßt, und von einem
kleinen Mädchen mit bloßen Füßen geführt, über das unſagbar holperige Pflaſter
und hatte dabei Rembrandts Rod berührt. Rembrandt folgte dem Alten in den nied-
rigen ſtockfinſteren Hauseingang, wo es nach Feuchtigkeit und Moder roch, und for-
derte ihn auf, ihm Modell zu ſtehen, indem er ihm ſagte, wer er ſei, und ihm anbot,
ihn von Titus in die Roſengracht führen zu laſſen. Nachdem ſie ſich auf einen Gulden
für die Sitzung geeinigt hatten in Gegenwart von zwei Nachbarn als Zeugen — der
Alte hatte zuerſt fünf Gulden verlangt —, reichte Titus, dem Vater zuvorkommend,
dem Modell gleich den erſten Silbergulden dar als Handgeld, den der Blinde forg-
ſam in der Hand wog und befühlte. Als das Notwendige beſprochen war, ging die
kleine Gruppe auseinander.
Sie gingen wieder ſchweigend nebeneinander her, indem Titus jetzt den Vater
am Arm führte. Die Gaſſe ſchien unendlich hoch in ihrer beſchatteten Enge. Die
ſchwarzgewordenen, ſteil und ſchief in den Himmel gewachſenen Mauern mit ihren
unzähligen krummen, oft bretterverſchlagenen Fenſtern, die gleich leeren Augen-
bdblen von Totenſchädeln zu gähnen ſchienen, machten einen unausſprechlich ver-
gRattens: Oer Dämon des Lichte 591
nachläſſigten Eindruck. Und überall, auf allen Treppen und Fluren diefer ſchmutz⸗
ſtarrenden Behaufungen, in denen Tauſende armſeliger Familien armſelig hauſten,
überall Lärm, Gekreiſch und Zank. Aus allen Kellern erhob ſich der abſcheuliche Ge-
ſtank der Kloaken zur friſchen Seebriſe hinauf, die den Frühling auf ihren Schwingen
trug, während vermummte Leidentrager die verhüllten Körper der Pefttranten
eilig davonſchleppten.
Auf der Blauen Brüde machten die beiden Wanderer Halt und lehnten ſich er-
ſchöpft auf das hölzerne Geländer, in die ſonnenbeglänzten Fluten der Amſtel
hinabſchauend, bis der Meiſter ausrief:
— Hier erſt fühle ich mich wieder ein lebendiges Geſchöpf Gottes! Die in langem
feuchten Winter ſteif und ſtumpf geſeſſenen Glieder beginnen ſich wieder zu regen.
Auch dir wird es aufhelfen, Titus! Welch ein ſchimmernder Anblick, dieſe fonnen-
funkelnde Wafjerfläche !
Titus, ich muß dir von dem neuen Gedanken zu einem Bilde ſprechen, das mir auf
der Seele brennt. Es wird wieder manchen ſchweren Gulden an Leinwand und
Farbeningrediengien verſchlingen, und am Ende kauft es ja doch keiner. So erging
es mir mit dem großen Familienbild, das ich für deine zukünftige Schwiegermutter,
die Frau van Loo, malte. Erſt ließ ſie mir keine Ruhe, bis ich dich, Magdalena und die
drei Kinder ihrer verheirateten Tochter in Lebensgröße abkonterfeit hatte; und
jetzt will ſie es nicht haben und verweigert die Abnahme, weil die Ahnlichkeit ihrer
Anſicht nach gar nicht getroffen wäre, und die Gemalten viel zu alte Geſichter hätten.
Wer weiß, vielleicht feh’ ich zu tief in die Menſchen hinein, ſehe die Falten der zu
früh gealterten Seelen und überſchaue ganz die jünger gebliebenen Geſichter aus
Fleiſch und Blut! —
— Vater, beunruhige dich nicht! Mutters nicht unbeträchtliches Vermächtnis,
das mir nach den langen Prozeſſen mit deinen alten Gläubigern zufiel, ruht ja gut
verſchloſſen in den drei unteren Räumen deiner Wohnung, und ſein Bronnen iſt
immer noch jo ergiebig, daß er uns alle bis an das Ende unſerer Tage vor dem Hunger-
tode beſchũtzen wird. Erzähl’ mir jetzt, Vater, von dem neuen Bild! Was ſoll es vor-
ſtellen, und brauchſt du noch andere Modelle dazu als den greiſen alten Juden? —
— Ein gewaltiges Vild ſoll es werden: die Heimkehr des verlorenen Sohnes.
Eine ganze Seite meiner Zimmerwände ſoll es bedecken. Ich brauche noch eine zer-
lumpte Vettlergeſtalt, die den Verkommenen darſtellen foll, wie er zerlumpt und
zerriſſen an Gefühlen und Gedanken vor dem greiſen verzeihenden Vater kniet und
bettelt: um ein Herz voll Erbarmen. Ferner iſt noch eine ſchwarzbärtige hoch-
gewachſene Hausmeiſterfigur vonnöten, mit einem ſtrengen wüͤrdevollen Geſicht, die
als Zuſchauer die Größe des Augenblicks feierlich betonen foll. Und alles in ein leuch-
tendes Rot der Verſöhnung gekleidet und verklärt. —
— Vater, das wird ein erſchütterndes Gemälde menſchlicher Seelengröße. Es
wird vielleicht das ergreifendſte Bild, das je einem Menſchenhirn entſprungen, feb’
ich doch viel tiefer, als du glaubſt. Immer ſchon ſah ich dich ringen mit Gott, ſah dich
ringen um deinen Glauben an ihn, ſah dich kummervoll in deiner Einſamkeit, weil
du glaubteſt, er hätte dich verſtoßen. Nun biſt du wieder zu ihm heimgekehrt, ſein
teuiger Sohn. Laß mich deine zitternden Hände küſſen .
392 Martens: Der Dämon des Lichte
— Citus, wenn ich dich nicht hätte! Komm, wir wollen nad Haufe. Ein wunder-
heimliches Rot ſchwebt mir vor den Augen, eine Miſchung von Karmeſin und Rotel,
aber verhaltener, aus dem Dunkel menſchlicher Verſtocktheit hervorbrechend wie die
Morgenſonne aus den Wolken der uralten Nacht. Komm, Titus, führe mich! —
1668
Totentanz
1.
— Geelforger der Armen, ehrwürdiger Mann, faſt täglich betritt jetzt dein Fuß
mein ärmliches Haus, feit mein Sohn Titus, unſer Ernährer, krank darniederliegt.
Du weißt, wir find keine Katholiſchen, keine Papiſten, und doch bringſt du uns Speiſe
und Trank, auf daß wir nicht verhungern und verdurſten. Das iſt edel von dir, from-
mer Mann! Zn dieſem heißen Hundstagsmonat iſt das Waſſer nicht mehr zu ge
nießen. Peſt und viel ähnliches Siechtum wird von dem Schiffsvolk eingeſchleppt.
Und das harte Brot, das jetzt einzig unſere Mahlzeit ausmacht, iſt ſchal und dumpf
Wie ſollen wir uns dafür erkenntlich zeigen? Häng' dir dieſen von mir gemalten
Chriſtus in die Zelle, wenn er dich nicht zu calviniſtiſch anmutet! —
— Lieber Meiſter und Freund, dein ſchönes Bild wird meine Kapelle zieren. Ich
danke dir im Namen der heiligen Maria. Beten werde ich für deinen fiebernden
Titus. Nun aber höre: mich bedrückt ſchon lange Gewiſſensqual, dir in deiner Not
nur mit irdiſcher Speife beiſtehen zu können. Mich aber will bedünken, es gebräche
dir auch am Frieden der Seele. Lange und oft habe ich mir deine großen Bilder
betrachtet: den weinenden König Saul, dann den Propheten Moſes, der die Ge-
ſetzestafeln zertrümmert. Und am längſten ſteh' ich immer vor der Heimkehr des
verlorenen Sohnes. Niemals ſprach Reue, Verbitterung und Verzweiflung klagender
aus dem Munde der Beichtenden! —
— Mönch, du ſuchſt mein Leben vergeblich in meinen Werken. Nicht mein
Leben ſteht in den Augen dieſer Geſtalten, wohl aber verſchwendete ich an ihnen
die Kraft meiner Seele. Was in der Heiligen Schrift uns erjchüttert, was dort
an köſtlichen Symbolen, Wahrzeichen und Weisſagungen geſchrieben ſteht, füllte
mein langes arbeitſames Leben aus. Mein Schaffensdrang überbot ſich in der
Verherrlichung der Bibel, und je weiter ich vorankam in meiner Kunſt, je kräftiger
konnte ich den ſpröden Stoff bemeiſtern, bis mein höchſtes Streben einmündete
in das Meer gewaltiger ſeeliſcher Bewegungen, bis es mir gelang, ganz ausſchließ-
lich durch den Ausdruck der Augen und Züge und der Stellung des Körpers, den
höchſten ſeeliſchen Schmerz ohne jegliche Bewegung der Arme und Hände und
vermittelſt ganz neuer Lichtwirkungen und Farbenzuſammenſtellungen in der
Darſtellung des Raumes über alle Maßen lebendig zu geſtalten.
Es können aber alle Ausdrucksmittel nicht genügen, wenn der darzuſtellende
Stoff ohne Größe iſt. Mönch, du weißt fo gut wie ich, die von mir gewählten Vor-
gänge find vielleicht die ergreifendften der ganzen menſchlichen Leidensgeſchichte.
Und die Heimkehr des verlorenen Sohnes empfand ich als den ſtäkkſten Vorwurf.
Niemals habe ich ſchwerer um die Geſtaltung eines Werkes ringen muͤſſen. Ich muß
— —
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Martens: Oer Dämon des Lichte 303
es dir anvertrauen: Ich rang mit Gott um dieſes Kunſtwerk, ich mußte es ſeinen
Händen in einem Kampf entreißen, der mir mein beſtes Herzblut koſtete. —
— Meiſter Rembrandt, ich danke dir für dein Vertrauen, das mich noch reicher
macht als das Werk deiner meiſternden Hand. Und dennoch, ich verhehle es mir nicht,
dein Leben ſcheint voll dunkler Rätſel und Sonnenflecke. Hatteſt du nicht durch
eigene Schuld dein mit höchſten Kunſtſchätzen angefülltes Haus verloren, und
wandte ſich nicht die bürgerliche Welt von dir ab, weil du ſonder Pflichtbewußtſein
die großen Summen, die dir geliehen wurden, mit ſchlechten Frauen und in frevel-
hafter Vergeudung und Völlerei verſpielteſt, wie es auch der verlorene Sohn getan?
Stehſt du nicht voll Makel vor dem Richterſtuhl deines Gottes? So hoch dein Name
als Künſtler einſt ſtand, fo tief ift dein Ruf als chriſtlicher Bürger in den Höllen-
unflat der Schande hinabgeſtürzt! —
— Mind, mic drängt keine Reue zur Beichte, doch vernimm als Freund, was
mich trieb und meinen Namen zerſchlug, was mich gering zugleich und groß machte,
laß dir von meiner Hölle und meinem Himmel auf Erden erzählen. Du kannſt es
nicht wiſſen, wie ſchwer und ſchmerzlich die Dornenkrone des Künſtlermartyriums
drückt, wie unſagbar ſchwer es ijt, fein Künſtlertum makellos durchs Leben zu tragen.
Ach, ich habe und werde niemals das hehre Ziel meiner Seele erreichen können;
der Weg iſt zu lang und zu beſchwerlich für ein einziges Menſchenleben. Und je
größer und erhabener unſere Werke werden, je mehr zehren ſie an unſerem Mark
und vernichten unſere Kraft. Ich ſage dir, ein Weſen meiner Art würde Reiche
zugrundegehen laſſen, ein ganzes Menſchengeſchlecht dafür opfern, nur um mit
dem wolfsgierigen Leben keinen Pakt ſchließen zu müſſen, der die jungfräuliche
Anberührtheit feiner Künſtlerſeele vernichten würde. O Mönch, der Dämon, der
ihr innewohnt, iſt ein zartes lichtumfloſſenes Weſen, herb und ſpröde, rein und
keuſch, unnahbar dem geringen Geiſt des hochmütigen Bürgers, der ſeine Tugenden
zur Schau trägt; nein, dieſer Dämon iſt gütig und verzeihend den Stillen und
Demütigen unter den Menſchen. Wie einen Ausſätzigen haben mich die ſtolzen
Herren dieſer Stadt gemieden, es fei; aber meine Anwartſchaft auf die ewige Ge-
rechtigkeit bleibt ihren Nachkommen als ſchweres Erbe hinterlaſſen, denn ich gab
ihnen mein Koſtbarſtes: ich opferte ihnen hungernd und verzweifelnd die Wunder
meiner Seele! —
2.
— Vater, wir bangten um dein Leben. Vom Sturm durchnäßt, ganz erſchöpft
kehrſt du heim, ohne Hut, mit triefenden Haaren, der Mantelſaum ein wahres
Rinnfal. Wie konnteſt du dich dem raſenden Unwetter, der tobenden Wut der
Elemente ſchutzlos preisgeben? —
— Kinder, was liegt noch an meinem Leben! Ich ſuchte den Berg der Sehnſucht
im blutroten Licht der untergehenden Sonne, das bis ins Schmutzigviolette ſich
verdunkelte, mit topasgelben Lichtern durchſetzt. Ich ſuche neue Gedanken für eine
Gewitterlandſchaft. Und bin mit der Erkenntnis heimgekommen, daß mein Können
knabenhaft unzulänglich iſt.
Titus, ich habe auf dem Bollwerk den Gott der Blitze in Verſuchung geführt,
mich heimzuſuchen. Er war furchtbar großartig anzuſchauen, dieſer Gott. Seine
Der Eirmer X XVIII, 5 26
394 Martens: Der Dämon des Lichts
blitzenden Augen waren von jagenden Wolken bedeckt, die, ein Wald von langen
fliegenden Haaren, fein ungeheuer majeſtätiſches Antlitz peitſchten. Die furdt-
ſamen Menſchen hatten ſich in ihre Häuſer verkrochen. Das Vieh auf den Weiden
wollte ſich in den Gräben verbergen und ertrank. Und jedesmal, da er feine funtein-
den ſonnenhaften Augen öffnete, und ein Gießbach von Blitzen auf die zitternde
Erde ſtürzte, traten ſeine gigantiſchen Füße die geballten Wolken, daß ſie donnernd
auseinanderſtoben.
Da führte eine humpelnde Frau einen alten blinden Mann an mir vorüber,
der Gerbermiible zu; beide hatten ſich die Mäntel als Schutz über den Kopf geftülpt.
Die alten Leute ſchienen des Unwetters gar nicht zu achten und wanderten lang-
ſam die Böſchung hinab. Ich verfolgte ſie unwillkürlich mit den Augen und in einer
dunklen Eingebung rief ich ihnen ein brüllendes Halt! nach. Sie achteten aber nicht
darauf und ſchwankten mühſam vorwärts gegen den ſtürzenden Regen. Da be-
leuchtete ein wild niederzuckender Blitz ſchwefliggelb das Weideland bis zur Mühle;
der Donner ſchien nur über dies Stück Erde hinzurollen. Es mußte faſt neben mir
eingeſchlagen haben, denn eine große brandige Flamme züngelte mir entgegen. Als
mein Blick die Blendung überwand, ſah ich am Rande des Waldes zwei verkohlte
Leichen ſtehn, die ſich umfaßt hielten, bis der Sturm ſie trennte und zu Boden warf.—
— Vater, ſchone mich! Mein Blut quält mich, die glühende Lava meines Herzens,
das vulkanähnlich brodelt. —
3. |
— Pfarrer, du durfteſt nicht fehlen. Dein Croft ift koſtbarer denn Nektar und
Narde! —
— Faſſe dich, Rembrandt, bändige deinen Schmerz. —
— Titus, mein Titus, tot, tot — tot!! —
— Mein armer alter Freund! —
— Paſtor, Gottes Hilfe kam, um Titus ſterben zu ſehn. —
— Verſündige dich nicht länger in gottloſer Rede, ich flehe did an! —
— Titus ſtarb, mein guter treuer Sohn, der Troſt meiner alternden Augen.
Nun kam Gottes Troſt! —
— Unglidlider verblendeter Mann! —
— Zn meinen Armen ſtarb er. Kein Engelchen ſtirbt ſanfter und leichter. —
Warum lachſt du? —
— Bch lache nicht. Der Schmerz zerreißt uns allen das Herz. —
— Der Herr hat mich geſchlagen wie einen räudigen Hund! —
— O Rembrandt, der Herr ſtraft, den Er liebt. —
— Dein treues, herrliches Herz, Titus, nur noch ein Klumpen verweſenden Aaſes.
Ha ha ha! —
— Gott vergebe dir deine Lafterungen. —
— Tragt ihn fort, ihr ſchwarzen Männer! Laßt ihn nur nicht fallen! Er war
immer zart und gebrechlich geweſen. Leb wohl, Titus, leb wohl! — Was fag’ ich:
leb wohl? Geh auch du, Pfarrer! Laßt mich allein mit Mutters Bibel und der
zärtlichen Einſamkeit und dem grinſenden Mann dort im Dunkeln! — Lebt wohl! —
— Lebt wohl! —
Martens: Der Dämon des Lichts | 395
4,
— Die andern Hagen und fteben jetzt weinend um dein Grab, Titus! Nur id
nicht. Ich kann nicht! Arbeiten muß ich, mich vergrabend in die Arbeit verlieren
wie in die Erde der Maulwurf! Fleißig mußt du ſein, Rembrandt, ſolange deine
Augen noch leuchtende Welten von Farben trinken können und den ſchaffenden
Händen die Fülle der Seele entſtrömt.
Wiſſe, Spiegel, die Welt iſt aus den Angeln geſprungen! Und darüber ſoll ich
nicht lächeln, grinſend lächeln? Schau nur, Spiegel, darüber muß ich grinſen wie
der Herr der Welt, der allmächtige Diener der Zeit, der ſenſenſchwingende Tod.
Wie ſeltſam! Ich ganz allein bin unverſehrt und unverrüdt! Ich ganz allein.
Alle andern, auch dich, Titus, haben die plötzlich losgebrochenen Weltenſtürme
zermalmt wie Gottes Fuß. Und die Entronnenen hat der Wahnſinn geſchlagen, der
ihr Geſicht bis zur Unkenntlichkeit entſtellt.
Spiegel, ich male mich jetzt als hohnlächelnden letzten Menſchen, der aus dem
verſtörten Dunkel der Welt graufig hervorhöhnt: Welt, verkrieche dich, du nichts
nutziges Chaos! Welcher Stern will dich noch beleuchten!
Wie gut ſtehn mir dieſe rotbraunen Töne! Sataniſch geſättigtes Goldbraun! —
Nun ſpachtle ich Ton an Ton, Farbe an Farbe zu Riſſen und Flächen, förmlich
zu Steinen eines Moſaiks. Niemand weiß, wie ich dies zuſtandebringe! Niemand
ſoll es wiffen ! Ewig unverſtanden wird dieſe Malart bleiben. Andeutend verſchwimmt
alles und dennoch hebt es ſich in der Andeutung verſchwimmend heraus. Meiſterhaft,
meiſterhaft! Und ſchnell vertreib ich mit dem Stiel des Pinſels die blitzenden Lichter!
Ein Komet bin ich, ein raſend gewordener Komet in der unendlichen Finſternis.
Mutter, du hatteſt einen Stern geboren, einen wirklichen Stern. Und die ein-
fältigen Menſchen, dieſe behäbigen Dickwänſte von Spießbürgern glaubten, ich
wäre der Moraſt, in dem ſie für Geld ihre Fratzen ſpiegeln könnten!
Nun muß ich, Titus, allein im Dunkeln wandern. Du kannſt mich nicht mehr
ſtützend führen.
unheimlich wird mir zu Mut. Aus allen Eden grinſen mich Augen an. Aus den
Wänden hervor kriechen Spinnen und Skorpione. Sie bedrücken mich, dieſe Augen,
dieſe Wände! Niemand zu Hauſe. Ich ſchleiche hinaus in die Nacht, in den Nebel. —
5.
An der unregelmäßig gegliederten Häuſerreihe der nördlichen Roſengracht
ſchleicht eine gekrümmte Geſtalt, ſich vorſichtig entlang taſtend, getrieben von
irgend einer dunkeln Vorſtellung. Über der Prinzengracht ballen ſich die Nebel-
ſchwaden und winden und reden ſich wie Geiſter empor zum Himmel; fie ſcheinen
um die noch belaubten Linden zu tanzen. Doch auch die Menſchen auf der Straße
wirken geſpenſtiſch. Die Luft iſt feucht und lind, die Sonne iſt ſchon hinunter;
einzelne letzte rötliche Lichter glänzen über der aufſteigenden Feuchtigkeit der
Kanäle. Dort erſcheint der Nebel unheimlich gerötet, wie von einer Feuersbrunſt.
Still und tot ragt der Turm der Weſterkerk in die einbrechende Nacht.
Das Leben auf den Straßen iſt erloſchen. Amſterdam beginnt zu ſchlafen. Die
Beleuchtung beſteht aus einzelnen großen Laternen, in denen Talglichter blaken.
596 Martens: Der Dimon des Lichts
Sie find an den Häufereden, an den Kirchen und Brücken befeftigt. Wer ausgehn
muß, verſieht ſich ſelber mit einer Laterne, die er vor ſich her trägt. Der gebüdte
alte Mann, der von der Rofengradt herkommt, hat kein Licht bei ſich. Einem Blinden
gleich geht er durch die Dunkelheit.
Niemand führt ihn, denn es gibt niemand, der ihn führen könnte. Er geht feinen
eigenſinnigen Weg ins Innere der Stadt hinein. Bald wäre er auf der Lelicbrüde
ausgeglitten. Eine ſtarke Männerfauſt hält ihn zurück. Es iſt Rombout Hamer,
der Steuermann. Rembrandt weiß es nicht. Er läßt ſich nach der Breeſtraat führen
wie ein Kind. Hamer glaubt, der alte Meiſter wohne immer noch dort.
Im Nebel ſind alle Dinge möglich. Jede Stadt gleicht dann einem verſteinerten
Zauberwald. Alles iſt unwirklich. Rembrandt glaubt nicht an den ſchweigſamen
Führer. Es muß ein Engel fein. Er würde ſich ſonſt zur Wehr ſetzen.
Der Engel führt ihn in eine tiefgelegene Schenke an der Calverſtraat. Dort
ſitzen lauter junge Leute einträchtig beieinander. Sie fingen alte traurige Volks
lieder; fie ſehen aus wie Maler und Muſikanten. Die ſchönen Mädchen find ihre
Freundinnen.
Die Menſchen haben alle träumerifche Gefichter. Das kommt von dem Engel, der
ihn führt. Eines von den hübſchen Mädchen kommt zu ihm an den Tiſch. Sie fest
ſich ihm auf den Schoß und tigt ihn. Da muß er an Saskia denken.
Bald ſtehn fie wieder auf der Straße, und die Milde der Nacht tut ihm gut.
Er ſieht eine koſtbar gekleidete Frau aus einem der großen Häuſer in der Clovenier-
burgval herauskommen. Sie wird von einem galonierten Diener in die prächtige
Kutſche gehoben, die hohe breite rote Räder hat. Ihr Mann folgt. Es iſt Jan Six,
der Tuchfärber, in großer Gala. Das Ehepaar fährt zur Bürgermeijterei, wo
Generalſtaatenball iſt. Rembrandt erkennt fie nicht; er glaubt, es ſei der Bürger-
meiſter und will eine große Reverenz machen. Statt des Hutes hält er aber feinen
ſchmutzig gelben Turban in der Hand, den er jetzt immer beim Malen trägt und den
er zu Haufe abzulegen vergeſſen hat. Der Bürgermeiſter würdigt ihn keines Blickes.
Das erwartete er auch gar nicht.
Sein guter Engel führt ihn, und er iſt glücklich, ihm folgen zu dürfen. Es geht
über die Raamgracht nach der Breeſtraat. Vor feinem einſtigen Haufe verläßt
ihn Hamer. Er ſetzt ſich beſcheiden auf die unterſte Stufe der ſteinernen Haustreppe
und wartet, bis man ihm öffnet; aber er wartet vergeblich. Er pocht mit leiſem
Finger an die Tür; aber niemand öffnet ihm. Er ruft zärtlich nach Saskia. Immer
wieder ruft er dieſen lieben Namen; niemand hört auf ihn. Dann ruft er nach
Hendrickje; auch dieſe kommt nicht, ihm zu öffnen. Dann nach Titus; alles vergeblich.
Die Nebel ſind wie dichte Schleier. Wie ſchön! Er will ſie dort oben nicht ſtören.
Sie ſchlafen wohl ſchon. Er ſchleicht wieder fort, um ſeinen Engel zu ſuchen.
6.
Es war Chriſtian Duſart, ein ferner ſtehendes Mitglied der bekannten Maler-
familie dieſes Namens, der den in Leid und Nebel Verlorenen am nächſten frühen
Morgen eingeſchlafen auf der ſteinernen Treppe ſeines Hauſes fand. Er beſuchte
die van Ryn zuweilen als ein letzter treuer beſcheidener Freund des herunter
8 a 4 * * cr = 7 ~
— ———— —
— 8 — —— ————?-Äñ⸗Vñ⸗k.
Hadina: Hochzettemotgen 397
gekommenen Hauſes und war fo betreten von dem ſchmerzlichen Anblick des Elends,
daß er ſich mit einigen wenigen Freunden vornahm, den völlig hilflos verarmten
Greis und Kornelia, deren Vormund er war, vor dem Hungertode zu ſchützen, fo
ſchmal auch ſeine eigenen Mittel waren. Wer kaufte auch in dieſen harten laſtenden
Zeiten noch Bilder? Amſterdam begann einen Kampf auf Leben und Tod; Eng-
land und Frankreich, ſo tuſchelten die Gerüchte, hätten ſich verbunden, um das kleine
wacker⸗ tüchtige Land, feinen Reichtum und feine Ehre anzutaſten.
Seit den Vergeſſenen der Todesſchmerz um feinen Sohn in die Fangarme ge-
nommen, ihn an die ſtachlige Bruſt gepreßt, von ſeiner Seele gezehrt und ihn wieder
von ſich geſtoßen hatte, blieb er ſtill in ſich gekehrt, fernab dem Leben, verloren in
die Gedanken der ihm getrübten Welt. Und wie ſein Leben geworden, ſo wurden
auch die ſeltſamen Bilder dieſes letzten Jahres, die nach feinem Tode für ſechs
Groſchen das Stück in den Handel kamen, und für die niemand ein Verſtändnis
hatte: ihre Seelen waren getrübt, ihr Blick in die Irre ſchweifend, vielleicht in
einer innerlichen Todesverzückung, die wir nicht begreifen können. Darunter be-
fanden ſich zwei Vildniſſe; in dem einen glaubte man ſeinen Sohn Titus, in dem
andern ſeine Schwiegertochter Magdalena, beide in jüngeren Jahren, erkannt zu
haben. Sie müſſen darnach aus der Erinnerung oder nach vorhandenen Skizzen
gemalt worden ſein. Beide üben einen unheimlichen Zauber aus: brandigrote und
fahlgelbe Farben bekleiden die Geſtalten, die deutlich die Spuren von verſtümmelten
Seelen in ſich tragen. An ihnen wurde klar: dem Großmeiſter der holländiſchen
Malkunſt waren die Schwingen gebrochen; der Berg der ewigen Sehnſucht war in
ferne blaſſe Nebel gehüllt. (Schluß folgt)
Hochzeitsmorgen
Von Emil Hadina
Die Erde glüht im erſten Schöpfungslichte,
Aus fernen Nedeln rollt ein junger Stern.
Der Morgenpſalm „Das iſt der des Herrn“
Von Kinderzungen wächſt zum Weltgedichte.
Zwei Augen aus dem bräutlichſten Gefidte,
Wald brunnenklar, dann glutverhüllt und fern,
Als ahnten fie der Wunder tiefſten Kern
Sie weiſen meiner Andacht Ziel und Nichte.
Du, die mir Eva wurde und Madonne,
Friedlinde meiner langen Sucherqual,
Heb’ deine nackten Arme hoch zur Sonne!
Aus ihren reinen Gluten Strahl für Strahl,
O ſammle fie zu bräutlich heißer Wonne,
Daß Gottheit glüh’ durch unſer Liebes mahl!
Malwida v. Meyſenbug an Heinrich v. Stein
Unveroffentlidte Briefe, mitgeteilt von Dr. Gotz von Selle
(gus)
XII.
Le Havre, 22. September [1882]
br geftern angelangter Brief aus Venedig loom 17. Sept. 82, vgl. Bricfe an M. b. N.,
1 e. 101 ., lieber Freund, kam mir fo erwünſcht und verſetzte mich im Traum diefe
Nacht ſo lebhaft nach Palazzo Vendramin, daß ich nicht umhin kann, ihn alsbald
zu beantworten. Ich war etwas beſorgt um die teuren Wahnfrieder, da ich noch
nichts gehört hatte (ich hoffe, mein Brief an Coſima kam noch vor der Abreiſe nach
Bayreuth) und dachte, es könnte am Ende doch noch cine böfe Folge der Exrmũdung
eingetreten ſein. Sie haben mich auf das beſte beruhigt, und ich freue mich, daß Sie
noch eine Zeit frohen Zuſammenlebens in der zauberiſcheſten der Städte haben,
ein herrlicher Nachklang der herrlichen, jüngſt verfloſſenen Zeit. Die friedenvolle,
verklärte Stimmung dieſer Zeit iſt mir noch ganz geblieben und erfüllt mich mit
unverſiegbarer Heiterkeit. Um fo mehr begreife ich, wie dieſe Gralsheiterkeit unferes
Freundes und Meiſters Weſen erfüllen muß, die von ihm ausging, der ſie une
ſchuf. Möge fie ihm ungetrübt bleiben als einziger würdiger Dank für fein gött-
liches Schaffen, und möge fie uns bleiben, um uns zu ſtärken, des „Grales Liebes-
werke“ zu vollbringen, da wir doch der heiligen Genoſſenſchaft anzugehören das
Glück haben. Daß ich als Botin des Grales lebe und handle, können Sie denken.
Neulich habe ich vor einer Verſammlung guter Menſchen den ganzen Text erzählt,
und alles horchte in ſtaunender Andacht; eine junge, ſehr geiſtvolle Franzöͤſin rief:
„es komme mir niemand mehr mit Meyerbeer oder modernen Opernkomponiſten,
ich kenne nur erſt wenig Wagner, aber ich fühle, das iſt die Wahrheit“. Überhaupt
finde ich wieder ſehr viel Gutes unter den Franzoſen, allerdings hier in einem
völlig hugenottiſchen Kreis, und dabei lerne ich in der Normandie ein entzüdend
ſchönes Land kennen. Wie mußten die tapferen Normannen entzückt ſein, als ſie
an dieſen Küſten niederſtiegen! Und in dem ſchönen Lande wahre Wunder der
Architektur! Wie würde Siegfried hier entzückt fein, dieſe alten normanniſchen
Schlöſſer, dieſe herrlichen Kirchen! — Nun er wird alles einſt noch ſehen! —
Tauſend Grüße an alle Wahnfrieder. Daniela möge mir auch einmal ſchreiben,
wenn Coſima nicht kann, ich habe ihre Briefe ſo gern. Auch die Ihren! Avis au
lecteur! Herzlichen Gruß M. M.
a 2
*
XIII.
Rom, 8. März [1883]
[Der erſte Brief nach dem Tode Nichard Wagners. Antwort auf Steins Brief vom 22. Febr. 1885,
vgl. a. a. O., S. 192 ff.]
Lieber Freund, ja die Liebe höret nimmer auf, fie ſchwebt ſogar reiner, bimm-
liſcher, von jedem ſtörenden Hauch des Irdiſchen befreit, wie ein heiterer Gegens-
ſpruch über der Welt und ruft uns zu, nicht zu weinen, ſondern in andächtiger
Selle: Malwida von Meypſenbug an Heinrich von Stein 399
Feier uns zu freuen, daß er den Kampf des Lebens überſtanden hat und nun in
der Reihe der Unjterbliden daſteht, ein ſchönes, herrliches, unverlierbares Bild.
Ich kann die Wahrheit ſagen, ich fühle ihn fortwährend um mich, und wenn ich
an ihn denke, iſt es mir, als lächle er mich an. Nur die Zurüdgebliebenen find mir
eine ſchmerzliche Sorge. Ich hoffe aber, daß hier der alte, beinah triviale Spruch
von der Zeit doch einmal wieder wahr werden wird, nicht als ob das Unerſetzliche
ihr erſetzt werden könnte, aber ihr blieb noch ſo viel, was Troſt, ja Freude bringen
und wieder ein Lebensziel werden kann. Daß ſie jetzt ſich von allem ſcheidet, was
nicht er und die Kinder find, verſtehe ich vollkommen, ja, ich würde es nicht ver⸗
ſtehen, wenn's anders wäre. Daß fie aber auch für die treuſten Freunde für immer
geſchieden ſein will, finde ich nicht recht und ich hoffe, auch das wird ſich mit der
Zeit ändern. Wenn ich fie aber nicht ſehen kann, dann gehe ich nicht nach Bayreuth.
Ich glaube, auch ich könnte den Parſifal dies Jahr nicht ſehen, es ginge über meine
Kräfte. Phyſiſch habe ich natürlich die Folgen dieſes Schlags bedeutend gefühlt,
ich bin überhaupt den ganzen Winter leidend und lebe nur mit der Arbeit, da aber
auch ſehr eifrig.
Lieber Freund, ich verlange fo danach, Ihren Solon zu leſen lin „Heiden und Welt“.
Ich habe natürlich auf die B. Bl. ISapreuther Blatter) abonniert, habe aber bis jetzt
keine neue Nummer erhalten. Können Sie vielleicht in Bayreuth daran erinnern?
Hoffentlich fahren Sie auch fort, für die Bl. zu arbeiten. Die Arbeit allein iſt es,
die uns die Flügel wieder löſt, und indem wir den Samen des Zdeals, jeder in
ſeiner beſcheidenen Weiſe, hinausſtreuen in die unbekannte Menge, bereiten wir,
helfend, auch ihm die Generationen, denen ſeine Glorie hell ſcheinen wird. —
Leben Sie wohl, mein lieber Freund, laſſen Sie uns verbunden bleiben und
geben Sie mir öfter Nachricht von ſich. M. Meyſenbug
2 a
*
XIV. 6 via Polveriera
Rom, 10. April [1883]
Mein trefflicher Freund
Ich kann Ihnen nicht fagen, wie ſehr Sie durch Ihren Brief dom 26. Marz 1883 ogt.
a. a. O. Seite 194 ff.] und Ihr Buch l. Heiden und Welt'] mein Herz erquidt haben. So wie
der erſte Ihre Stimmung ſchildert, fo hoffte und fo wünſchte ich Sie. Ja, in dieſer,
von ihm begonnenen Arbeit der Verſöhnung zweier Welten, der immer reineren
Enthüllung jener idealen Wirklichkeit iſt, in deren Begreifen die ſchuldige Welt des
Scheins endlich entfühnt und wiedergeboren wird, liegt die Aufgabe aller der
Treuen, welche ihn überleben. Mein Tagewerk iſt bald getan, ich fühle es, und der
einzige Schmerz, den ich dabei empfinde, iſt der, nicht noch kräftiger zu ſein, um
ſtark an jener Aufgabe mitarbeiten zu können. Aber mit freudiger Zuverſicht ſehe
ich in die Ferne, wenn ſolche Streiter darin vor meinem Blick erſtehen, wie Sie
und auch Förſter, dem ich aus ganzem Herzen den Segen einer alten Arierin mit
auf den Weg gegeben habe. Und daß auch Ihnen das „übrig bleibt“, was auch
mich einſt tröſtete, das: gut ſein und Gutes tun, das freut mich ſo. Nur darin haben
400 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein
Sie unrecht, daß Sie meinen, mit der Selbſtändigkeit von Gedanken und Ent-
ſchlüſſen, wie damals in Rom, ſei es vorbei. Nein, was Sie empfingen in der
Zwiſchenzeit, war nur der gewaltige Anſtoß, der befruchtende Tau, den jede, noch
fo originale Pflanze bedarf zu mächtigem Wachstum und Gedeihen. Das beweiſt
mir Ihr Bud. Sie können nicht denken, mit welch herzlichem Entzücken ich es
leſe. Es ſtellt Sie mit einem Male in die Reihe unſerer edelſten Geiſter. Es iſt ſo
vollendet in Geiſt, Sprache und Vedeutung, daß man von hier aus nur noch einen
Schritt weiterſieht, den zum vollendeten Dramatiker. Ihnen dieſe Bahn zu zeigen,
die Sie wohl ſelbſt kaum ahneten und Ihre Freunde auch nicht, dazu hat jener
erhabene Einfluß wohl in Ihrem Leben wirken müffen, und das iſt wieder einmal
einer der Einblicke in das wunderbare Gewebe der Kauſalität, der uns mit freu-
diger Erkenntnis von der fortwirkenden Kraft des Guten, Schönen, Erhabenen
erfüllt und über Gräbern wie eine Glorie ſchwebt. Am Tag leſe ich die ſchönen
Bilder und am Abend lieſt Frl. Nietzſche, welche jetzt hier iſt, ſie mir noch einmal
vor. Auch dieſe, welche ſich außerordentlich gut, geiſtig entwickelt hat, ſeitdem ſie
nicht mehr durch ihren Bruder denkt, iſt ganz hingeriſſen und hat bei der Kornelia
geſtern heiße Tränen der Begeiſterung geweint. Ich war auch mit meinem Roman
{Ppadea} fertig und hatte bereits mit einem Verleger abgeſchloſſen, nachdem er einen
Teil geleſen und herrlich gefunden hatte. Nun, ganz aber findet er ihn zu tugend-
haft und druckt ihn nicht. Iſt das nicht charakteriſtiſch für unſere Zeit?
Welches ſind Ihre Pläne für den Sommer? Wenn Sie an Glaſenapps ſchreiben,
grüßen Sie ſie, bitte, herzlichſt, innigſt von mir.
Leben Sie wohl, lieber Freund, gottlob, daß Sie in der Welt ſind.
M. Menfenbug
* *
*
XV. 6 via Polveriera
Rom, 23. Mai [1883]
Aber, lieber Freund, warum find Gie denn fo ganz verftummt? Go follte man
doch eigentlich feine Freunde nicht behandeln. Ich wußte gar nichts mehr von
Ihnen, niemand konnte mir etwas ſagen, nun habe ich auf dem Umwege erfahren,
wo Sie find. Und es ergeht nun meine Frage: wie geht es Ihnen, was treiben
Sie und warum ſind Sie mir ſo entſchwunden, die ich doch ſo herzlichen Anteil
an Ihrem Geſchick nehme?
Geſtern war ein Tag, an dem wir gewiß alle im Geiſt zufammen waren an dem
Grabe zu Bayreuth. Wie ſchön war es damals in Neapel lost. Siaſenapp, Leden Riduzb
Wagners, VI, 340 ff., als wir auf dem Golfe fuhren und uns nachher, im rofen-
geihmüdten Saal der erſte Akt des Parſifal ertönte! So etwas kommt nie wieder
und die Sehnſucht danach muß ſchweigen vor dem Glück, es einmal gehabt zu haben.
Ich weiß noch nicht, ob ich auch dies Jahr in Bayreuth fein werde oder nicht. Es
würde mir da erſt zu ganz materieller Wirklichkeit werden, was mir jetzt immer
noch faſt wie ein ſchmerzlicher Traum ift. Dann bin ich überhaupt noch nicht ge-
wiß, ob ich es mit anderem werde vereinigen können. Mein Arzt will, daß ich ın
ein deutſches Bad gebe, um meine Geſundheit etwas zu kräftigen, und meine
Selle: Malmida von Mepfendug an Heinckh von Stein 401
Teuren in Frankreich rufen mich aud mit Allgewalt, folang es mir noch möglich
iſt, die weite Reiſe zu machen. Es wird eben alles ſchwerer, wenn man alt wird.
Wir haben hier 5 Monate lang ganz in Wagneriſcher Muſik gelebt, was eine himm-
liſche Erquidung in dieſer Mufitwüfte war. Joſeph Rubinſtein war hier, und da
verging faſt kein Tag, wo wir nicht bei Gräfin Dönhoff zuſammen waren und alle
die erhabenen Schöpfungen durchnahmen und immer tiefer in ſie uns verſenkten.
Staunen, Bewunderung, Glück, daß fo etwas wieder einmal möglich geweſen,
daß ſolch ein gewaltiger Wille in einer einzelnen Erſcheinung wieder einmal jene
Allmacht hervorgerufen hatte, die uns an Götter glauben ließ, haben mich da
wieder bis ins tiefſte Herz bewegt. Nein, darüber hinaus gibt es auf dem Gebiete
der Kunſt nichts mehr; das muſikaliſche Drama iſt geſchaffen, und was nun etwa
noch in der Art käme, könnte nur Nachahmung ſein. Was bleibt nun zu erreichen?
Das Leben felbft zum Kunſtwerk machen. Das iſt unſere Aufgabe, d. h. es den
kommenden Generationen als höchſtes Ziel hinſtellen. Denn wir, ja auch ſelbſt
Sie noch, werden nur wie Moſes das gelobte Land von der Höhe herab ſchauen,
ohne es zu erreichen.
Wir haben einen frühen Sommer, alles flieht ſchon nach Norden, ich genieße
noch mit Wonne die unſägliche Schönheit der geſchmückten Erde und des reinen
Lichts. Vis Mitte Juni gedenke ich jedenfalls hier zu bleiben. Laſſen Sie bald ein-
mal etwas von ſich hören und ſeien Sie herzlichſt gegrüßt
M. Meyſenbug
2 ®
*
XVI. 6 via Polveriera
Rom, 8. Juni [1884]
Lieber Freund, man ſieht, daß Sie Berliner Hofluft atmen, ſo feierlich war die
Anrede Ihres letzten Briefes. Hoffentlich bedeutet es nichts weiter. Erſt wenige
Tage vor Empfang desſelben hatte ich gehört, daß Sie Halle mit Berlin vertauſcht
haben. Daß Ihnen dort doch auch nicht allzu wohl iſt, ſagt mir Ihr Brief. Ach, ich
fürchte, Sie find für dieſe Regionen vollſtändig verdorben, wie wir alle, die wir
wiſſen, was es mit jener Welt für eine Bewandtnis hat. Ja, wenn es Ihnen ge-
lingt, die Augen und Herzen Ihrer Zuhörer für jene „andere Welt“, die Sie dieſer
gegenüber ſtellen wollen, zu öffnen, dann geht es, dann iſt überall gut fein, und
iſt es vielleicht Pflicht, im Kampfe auszuharren. Aber iſt es moglich, unter den
Pickelhauben? Ich begreife es, daß Ihre nächſten Dialoge „Flüchtlinge“ heißen
werden. Wäre ich noch jung und geſund genug dazu, nichts hielte mich ab, dem
wackeren Förſter nach Paraguay zu folgen. Ich höre öfter von ihm durch Frl.
Niet. zſche]l, welche mit ihm korreſpondiert. „Oeutſchland liegt wie ein grauer Nebel
hinter mir, ich kehre nie zuruck“, ſchreibt er. Er hat ein großes Stück Land bekom-
men, welches u. a. 100 Orangebäume trägt, die dort in Wäldern, hoch wie unfere
Eichen, wachſen und deren Früchte ſo trefflich ſind, wie man ſie in Europa gar
nicht kennt. Ein friſcher, freier, wie erlöſter Sinn ſpricht aus allen ſeinen Worten,
und ich freue mich, daß eine edle Manneskraft dem wüften Parteileben und den
Beſtrebungen, die hier notwendig zu Zerrbildern werden mußten, entnommen iſt.
402 Selle: Malwida don Wenfendug an Heinrich von Eten
Auch das kleine Buch von Mevert über Paraguay hat mich unendlich intereſſiert.
Ja, möge nur die Anſiedlung im Sinne dieſer Männer gelingen und mögen die
Uberrefte dieſer liebenswürdigen Bevölkerung erhalten bleiben und durch noch mehr
Miſchung mit dem germanifchen Element ein neues, edles Kulturvolk hervorbringen.
Wie ſchön wäre es, ſo etwas noch zu erleben. Doch auch für den, welcher keine
Ausſicht dazu hat, iſt es ein tröſtender Gedanke.
Nietzſche war jetzt kurze Zeit hier mit ſeiner Schweſter, und ich freue mich, Ihnen
ſagen zu können, daß in Erfüllung geht, was ich immer, auch in Wahnfried, ver
treten habe, daß jene Epoche ſeiner Entwicklung, die wir alle beklagten, nur eine
Durchgangsphaſe war. Der edle Grund in ihm iſt unverletzt, nur durch ein geiſtiges
und phyſiſches Märtyrertum hindurchgegangen, das ſeinesgleichen kaum finden
wird. Die furchtbare geiſtige Aſkeſe, die er ſich auferlegt hatte, um riidbaltlos alles
zu prüfen, und in den Hades des Häßlichen hinabzuſteigen, überall ein unbarn-
herziger Richter zunächſt gegen ſich ſelbſt — hat doch den tief poetiſchen Grund
ſeines Weſens nicht zerſtört, und nachdem er, gleich Giordano Bruno, geradezu
den Feuertod des Leidens durchgemacht hat, wird er, wenn ſeine phyſiſche Kraft
ausreicht, noch viele Schätze feines Innern ans Licht fördern und auch fein Der
hältnis zu unſerem Toten Wagner, „den er geliebt hat wie nie einen Men-
ſchen“, wird wieder ins rechte Licht treten
Leider komme ich nun zu der Mitteilung, die mich wahrhaft ſchmerzt, nämlich
daß wir uns wohl nicht ſehen werden im Sommer. Ich bin fuft fortwährend leidend
und gerade in dieſem Augenblick bin ich es wieder ſehr und in den Händen des
Arztes. Die vielen Hin- und Herreiſen find mir geradezu unmöglich, und wenn ich
einen ſtillen, ländlichen Ort in der Schweiz, den wir ausgeſucht haben, erreichen
kann, um einige Monate mit Olga und den Kindern zu verbringen — ſo iſt es
das Höchſte, was ich leiſten kann. Dieſer Winter hat unter meinen Zeit- und Exil
genoſſen gewaltig aufgeräumt und ich fühle, daß meine Reihe kommt. Möchte es
mir zuteil werden, den letzten erhabenen Augenblick mit vollem Bewußtſein zu
vollenden und den Genuß der Ruhe zu fühlen, wie ich fie jetzt ſchon in abnungs-
voller Helle oft vor mir ſehe. Sie gaben mir keine Adreſſe, deshalb ſchicke ich über
Halle. In warmer Freundſchaft Ihre M. M.
* *
*
XVII.
549 Kurſtraße
Nauheim b. Fr. a. Main, 7. Sept. [1884]
Lieber Freund, ich will doch verſuchen, Ihnen mit ein paar Worten die Freude
auszudrucken, die mir Ihr Brief verurſachte, obgleich ich nicht weiß, ob Sie noch
in Zürich ſind. Daß Sie ſich jo mit Nietzſche gefunden, iſt mir eine wahre Herzens
freude; auch er ſchrieb mir beglückt über Ihr Zuſammentreffen. ſetein war dem 28. Ns
28. Zuil 1884 in Sile-Marta dei metzſche. Ader dieſe Begegnung vgl. Llenhacds „Wege nach Weimar“ I. 71 fl
Ich habe nie an ihm gezweifelt, obgleich es eine kurze Zeit gab, wo ich ihn abſolut
nicht mehr verſtand. Auch feine Trennung von Wagner iſt mir jetzt erklärlich. Es iſt
Selle: Malwida von Meyfenbug an Heinrich von Stein 405
viel Mißverſtändnis von jener Seite dabei, aber zu lang, um es brieflich zu erörtern.
— N. iſt ein Märtyrer der ſeltenſten und edelſten Art, und wenige wohl haben die
Siegespalme ſo verdient wie er. Daß ich ihn nach Rom haben möchte, daran
zweiflen Sie nicht, aber ich fürchte, ich erreiche es nicht. Er ſchrieb mir, um mir
vorzuſtellen, ich ſolle nach Nizza kommen. Das kann ich aber nun wirklich nicht, ich
müßte mein kleines Heim in Rom ganz aufgeben, meine Sachen transportieren
oder verkaufen und ich habe in Rom manche Verbindung, die mir teuer iſt und An-
laß zum Arbeiten. Nächſten Winter beſonders hoffen viele junge Weſen auf mich,
die durch Rat und Tat zu leiten auch eine Aufgabe iſt. Vor allem iſt die liebe Gräfin
Dönhoff noch dort, die an mir mit Tochterliebe hängt und meiner bedarf. Käme
nun N. hin, ſo fänd er einen trefflichen kleinen Kreis, Sympathie und Hilfe, Muſik
und geiſtige Anregung aller Art. Aber er hängt an dem Klima Nizzas. Für den
Augenblick kann man nun freilich auch nicht nach Italien wegen der Cholera.
Für heute leben Sie wohl, lieber Freund, ja, könnten wir das Kloſter ſtiften!
Herzlichen Gruß M. M.
* *
*
XVIII. Villa Amiel
Derfailles, 4. Juli [1885]
[Se iſt bas Haus S. Monods, nach dem Schweizer Dichter H. F. Amiel denannt.]
Endlich, in der Rube dieſes ftillen grünen Verſailles komme ich dazu, Ihnen,
lieber Freund, mal wieder einige Worte zu ſagen. Durch Daniela wußte ich, daß
es Ihnen gut geht, daß Sie Erfolge haben und befriedigt ſind. Was kann man
Beſſeres für feine Freunde wünſchen? Dann ruht man aus in dem Gedanken an
ſie und läßt die Stunden und die Tage verſtreichen, ohne ihnen zu ſagen, wie
herzlich man ihrer denkt.
Werden Ihre Vorleſungen nicht gedruckt werden? faſtdent der deutſchen Raffiter, vgl.
„Zur Kultur der Seele a. a. O.] Ich möchte fie fo gerne leſen, da ich überzeugt bin, daß
ich neue und mir ſo ſympathiſche Geſichtspunkte darin finden würde. Ich bin auch
froh, daß Sie im Hauptſitz des Vaterlands Ihre Wirkſamkeit haben beginnen kön-
nen, denn wie ſehr ich auch Ihre und Wagners Auswanderungsideen teile (Beweis:
Phaͤdra), fo freue ich mich doch jedes Samens einer neuen Lebensauffaſſung, der
dort ausgeſtreut wird, denn wenn die Frucht dort reifen kann, ſo wird ſie köſtlich
fein. Ich glaube, daß die Geburt eines neuen Zdeals ſich vorbereitet; es wird ganz
anders kommen, als wir Zdealiſten von 48 es träumten, aber worauf es ankommt,
iſt, daß es nicht in einer furchtbaren, verheerenden Geſtalt komme, ſondern, wohl
vorbereitet in den Gemütern, alsbald die humane Form annehme, die eine nor-
male Entwicklung möglich macht. Das iſt es auch, was ich auf Ihren Einwand
gegen die Behandlung der Commüne (Phädra) zu erwidern habe. Ich habe mehr
Sympathien mit den Grundideen der Commüne, als mit denen ihrer Gegner,
das wiſſen Sie; ich habe werte Freunde unter denen gehabt, welche nachher Com-
miinards wurden, aber die Form, in der die Sache zum Vorſchein kam, die Haupt-
vertreter derſelben, der rohe Materialismus, der ſich alsbald anſtatt der Idee her;
vordrängte, und die Beſtialität der menſchlichen Natur entfaltete. anftatt ihrer
404 Selle: Malwida von Mepfendug an Heinrich von Stein
Idealität, war wieder ein Beweis, wie ſubtiler Natur das Ideal iſt, das ſich vor
jeder Berührung mit dem Gemeinen wie eine Senſitive zurüdzieht und in höhere
Regionen entflieht. Nun bin ich wieder in dieſem ſeltſamen Land der Experimente,
wo im Augenblick ſcheinbar die Herrſchaft der Mediokrität ſtattfindet, wo aber jene
Partei doch noch ſtark und tätig iſt; doch, glauben Sie mir, ſie hat den Schlüſſel
unſerer Zukunft nicht, den muß ein Gottbegnadeter bringen, wie der, den wir
ſchon beſaßen und der vielleicht nur der Johannes der Täufer des einſtigen Meſſias
war M. Menfenbug
* *
*
XIX. 6 via Polveriera
Rom, 11. Februar 86
Mein lieber Freund
Innig erfreuten mich Ihr lieber Brief und die Nachrichten über Sie, welche ich
durch Poske erhielt. Ich glaube, daß, wie Sie es ſagen, der Vorteil einer beſtimmten
Tätigkeit und Anregung zur Durcharbeitung beſonderer Gebiete nicht hoch genug
anzufchlagen iſt und dem Leben eine feſte Baſis gibt, auf der nachher alles Zu-
fällige, Intuitive, Unmittelbare, wie Blüten an einem geſunden Stamm, frei und
glückbringend ſich entfalten kann. „Denn wenn wir erſt in abgemeſſnen Stunden
mit Geiſt und Fleiß uns an die Kunſt gebunden, mag frei Natur im Herzen wieder
glühen.“ Das iſt ungefähr dasſelbe. — Sie laſſen hoffentlich Ihre Vorleſungen
über Aſthetik ſpäter drucken, damit man fie auch genießen kann. nach dem Tode Steins
von Poste und Huber 1897 herausgegeben.] Der wichtigſte Geſichtspunkt bei aller äſthetiſchen
Betrachtung ſcheint mir immer die ethiſche Wirkung zu fein. Es gibt fo viele Men-
ſchen, ja, ich glaube faſt, es find die meiſten, die von einem Kunſtwerk nur ver-
langen, daß es eine äſthetiſche Befriedigung gebe, d. h. eigentlich nur, daß es auf
die Sinne angenehm wirke (diefe Meinung vertrat Frl. Salome in Bayreuth). Ich
glaube, das wahre große Kunſtwerk muß ethiſch wirken, muß uns transfigurieren,
ſo wie wir es einſt von der Religion verlangten. Es verſteht ſich, daß der Schöpfer
kein Didakt fein muß, aber das Weſen des Genius iſt es, in die äſthetiſche Form den
ethiſchen Inhalt zu gießen; ohne Abſicht, kann er doch nicht anders, er muß es,
und das ſichere Kennzeichen des wahren Kunſtwerks iſt, daß es ethiſch wirkt. Des-
halb bringen auch die modernen Realiſten kein Kunſtwerk zuſtande, weil ſie bloß
äſthetiſch wirken wollen und trotz manchen Vorzügen laſſen fie uns kalt.
Einen Künſtler nur ſehe ich hier jetzt viel und erfreue mich an ſeinem Schaffen,
wiewohl es nur ein beſchränktes Gebiet der Kunſt umfaßt, aber auf dieſem voll-
ſtändig jene zwei Anforderungen erfüllt. Ich meine Franz Lenbach, der mir ein
werter Freund geworden iſt. Seine Bilder find, wie die Tizians und van Oyks,
die Kulturgeſchichte einer Epoche; aus ihnen wird man unſere Zeit beurteilen
können.
Unfere Zeit fängt an, in der fo verfaulten Politik einmal wieder ein großartiges
Moment aufzuweiſen: die Begebenheiten im Sudan. Meine heißeſten Sympathien
ſind mit dem Mahdi und den Mohammedanern, ſo wenig mir dieſe ſonſt gerade
ſympathiſch ſind. Aber ich wollte, die orientaliſche Welt erhöbe ſich im Namen
Lorenz: Winteradend 405
ihres Glaubens und ihrer Unabhängigkeit gegen dieſe infame europäiſche Politik
der Habſucht und Heuchelei, immer unter dem Vorwand, die Ziviliſation zu bringen.
Welche Zivil. [iſation! !! Mit Gordon ijt ein edles Opfer gefallen, ihn beklage id,
aber den Engländern wüͤnſche ich eine vollkommene Niederlage, wünſche ihnen, daß
das Geſpenſt des Banko, des zertretenen und gemißhandelten Irlands, ſich daheim
an ihre Tafel ſetze und daß Indien von dem Foche feiner Blutſauger ſich frei mache.
Zuleid iſt es mir, daß Italien ſich hat hinreißen laſſen für Engl. [and], das ihm nie
dankbar ſein wird, Menſchen und Geld zu opfern, während daheim die Bevölkerung
leidet und das reiche Land darbt.
Leben Sie wohl, mein Freund, auf den ich unter allen Lebenden die größte
Hoffnung ſetze. M. M.
[NB. Am 20. Juni 1887 iſt Heinrich von Stein in Berlin geſtorben.]
Wintermorgen
Von M. Lorenz
Mühe hat die alte Sonne
Babe kämpft fie gegen Maas Wolten,
Bis fie ihres Lichtes blante Lanzen
Mächtig über die zur Nacht verſchneite
Herrlich weiße Erde ſchleudern kann.
O, wie lacht der liebe Garten
In dem friſchen Gotteslichte!
Auf des Brunnens ſchöner Nundung
Sitzt ein Dompfaff-Paar gepluſtert
In dem Daunenbett der Flocken.
Wie ein rotes Blũtenwunder leucht et
Dompfaffs Bruſtlatz aus dem weißen Polſt er.
überall, wo flinke Meiſen
In dem ſchneebeladnen Aſtwerk turnen,
Sprühen glitzernde Fontänen:
Funkelnd, blendend, ſtrahlenb rechend
Blitzt der Schneeſtaub in der Sonne
Wie der Schliff der Edelſteine.
In die bräutlich reine Dede,
Die der Schnee auf die Terrafſ e
Faltenlos und ohne Tadel breitet,
Rif noch keines Lebeweſens rauher Tritt
Spuren, die des Bildes Schönheit trüben.
Doch — dicht vor der Tür ſind feine Nunen:
Sind die zarten klaren Spuren
Einer Droffel, deren leichte Fütz e
Eine Reihe eckig ſchöner Zeichen
In die himmliſch weiße Fläche ſchrieben.
Wie die [hone Heiden eines Meiſters
Sind die zarten Linien ſinnvoll hingeworfen
Und bewegen mir geheim die Seele
In der Reinheit dieſes ſtillen Morgens,
Da der Schnee die Erde keuſch umarmt
Der Hufar
Von Kurt Siemers
<>) Herzog von Cumberland mit feinen Hannoveranern und Engländern
mußte am 8. September 1757 bei Kloſter Zeven ohnweit Bremen einen nicht
ſehr ehrenvollen Kapitulationsvertrag unterſchreiben.
Damit waren die Straßen bis an die Elbe frei. Der Herzog von Richelieu zog
mit ſechzigtauſend Franzoſenkerls und ziemlichem Geſchütz heran. Die preußiſchen
Provinzen zitterten und dachten an ihren König, der in Schleſien ſeine Campagne
führen mußte.
Der Obriſt Fiſcher, des Raubens und Plünderns ein Meiſter, fiel mit franzöſiſchem
Vortrab ins Bistum Halberſtadt. Den Hühnern drehten fie die Hälfe ab, und mandy
mal auch den Bauern, wenn ſie Keller und Scheuern nicht gutwillig öffnen wollten.
Die Herren vom Rat kratzten ſich ratlos hinter den Ohren; die Frauenzimmer
liefen durcheinander wie ein Hühnervolk, auf das der Habicht ſtößt. Nur die nichts;
nutzigen Buben freuten ſich, weil die Kanters keine Schule mehr halten konnten.
Die Halberſtädter wußten, daß der Cumberländer das Herz im Hoſenboden ſitzen
habe und vor lauter Feigheit nicht zu ſiegen wagte. Als die Dickſtiebel des Braun-
ſchweiger Herzogs Wilhelm Ferdinand gerade im beſten Gange waren, den Wind-
beuteln des Richelieu das Kamiſol vollzuhauen, ließ der Cumberlän der Retraite
blaſen. Der junge Braunſchweiger hatte nachher wie ein Koppelknecht auf den
Cumberländer geflucht, aber das half den Preußen nicht aus dem Dreck.
Der Bürgermeiſter Benjamin Lieberkühn von Halberſtadt hatte vertraute Boten
ausgeſchickt, aber die kamen ohne Hoffnung auf Entſatz wieder.
Auf den Cumberländer dichtete man einſtweilen gallige Reime, machte einen
breiten Buckel und ſah böſe zu, wie ſich die Franzoſenkerls Taſchen und Panſen
füllten.
„Schlagt doch dat Aaszeug dot!“ ſagten die Harslebener und Wehrſtedter Bur-
iden und diskutierten, ob eine Huſarenmontur oder eine Küraſſieruniform fic beifer
anließe; denn ſie hatten Luſt, als preußiſche Reiter Schlachten gewinnen zu helfen.
Einſtweilen waren die Reiter des großen Königs noch weit, und die Bauern
mußten den franzöſiſchen Dieben ihr eigenes Korn ins Hamſterlager nach Ofterwied
fahren. Das liebe Brot ward rar; dafür waren aber in Halberſtadt die Parifer
Princes, Contes und Marquis jo gemein wie Raupen im Weißkohl.
Viel Mutwillen übte das Pack aus Welſchland. Inſonderheit mußte ſich der arme
Landmann viel Vexierung gefallen laſſen. Dem Paſtor zu Sargſtedt taten ſie argen
Schabernack, den er, fo chriſtlich der milde geiſtliche Herr ſonſt fühlte, niemals ver
geffen hat. Er war ein ſonderlicher Liebhaber kuriöſer und gelehrter Bücher und
hatte eine große Stube voll davon. Die ſchleppten ſie heraus und kochten damit ihre
Morgenſuppe.
Im Kreuzgang der Kirche Unſerer Lieben Frauen wieherten Soldatengäule, und
die alten Gräber waren unter Pferdemiſt verſchwunden.
Der Fürwitz, der dieſer Nation eigen iſt, trieb die Herren Franzoſen bis unter die
Kanonen von Magdeburg, wo ſie den Landleuten manchen Schaden taten.
Stem ers: Der Hufar 407
Das war den Preußen eines Tages doch zu dumm. Achtzig Freiwillige von
Herzog Ferdinands Eiſenbeißern, gedeckt von einer Schwadron ſeydlitziſcher Hu-
ſaren, zogen eines Sonntags auf Halberſtadt zu, nach Egeln. Dort lag eine weit
überlegene franzöſiſche Abteilung. Die Preußen kamen gerade zur rechten Zeit,
um ſich bei den franzöſiſchen Offiziers zu Mittag zu laden; denn es war die Zeit
nach dem Kirchgang. Der Küraſſier-Obriſt Conte Luſignan hob mit ſeinen acht
Offizieren auf höfliche Invitation der Preußen im Egelner Kloſterrefektorium die
Hände hoch, und auch ſeine ſtarke Mannſchaft dachte nicht an Widerſtand. Nach
welſcher Sitte ſteckten die Herren Preußen das koſtbare Silberzeug des Herrn Grafen
als Souvenir ein. Die Huſaren ließen das eben aufgetragene Eſſen nicht kalt werden
und faßten auch, wo es nottat, gleich mit der fünfzinkigen Gabel zu. Alles, was
Franzoſe hieß, marſchierte in Gefangenſchaft, und waren ihrer über die tauſend
Mann.
Da trafen Kuriere ein mit der Nachricht von einer großen Bataille in Schleſien,
gerade als der Due zweihunderttauſend Taler Kontribution gefordert hatte. Die
franzöſiſchen Hörner ſchmetterten in Halberſtadt den Breiten Weg herunter, und
die Armee zog nach Weſten ab, weil man wußte, daß der Sieger von Roßbach
keinen Spaß verſtehen würde. Auch hieß es, daß preußiſche Vorhuten den Feinden
ſchon auf den Hacken ſeien.
Bei den Franzoſen ging ein unheimliches Geſchnatter und ein Reden mit Händen
und Armen los. Halten da vor dem Kühlinger Tor noch fünf franzöſiſche Küraſſiere,
um nach den Preußen lange Hälſe zu machen, während ihre Kameraden über
Ströbed abrückten. Da bricht ein ſeydlitziſcher Huſar aus dem Hinterhalt, preſcht wie
der Deubel auf die verdutzten Kerls zu, fuchtelt ſie mit dem Säbel, daß ſie zu fünfen
Pardon ſchreien, Waffen und Piſtolen ins Gras werfend. Der Preuße lädt ſie durch
Zeichenſprache ein, Bruſtbeutel, Mantelſack und Taſchen aufzuknöpfen, tomman-
diert Kehrt und läßt fie hübſch vor fic her reiten bis auf den Domplatz, wo die
Bürger ſchmunzelnd zuhauf rennen.
Neben dem Dom am Zwicken halten fie zu Sechſen. Der Hufar dreht den Schnurr-
bart, macht den Mädeln Augen und läßt ſein buntes Mäntlein im Winde kriegeriſch
wehen. Muckſtill halten ſich die Franzoſen, während der Huſar ſeine Beute zählt.
Bit manches Talerſtück dabei, das ein preußiſcher Bauer in der Bettlade verborgen
hielt.
Einen Augenblick überlegt der Huſar, da packt ihn eine ausbündige Luſtigkeit: einen
Beutel nach dem andern leert er, klingling über die Menge, und das Volk, das vom
Johannisbrunnen und aus der Gröperſtraße zuſammenlief, balgt ſich um die Münzen
und ruft auf Geheiß des Preußen: „Vivat Fridericus und ſeine Huſaren!“
„Was ſoll ich mit dem Dreck? Die Taler drücken und die Lujedors zerreißen mir
das Hemde!“
Spricht's, läßt die fünf gefangenen Kerle abſitzen. Drei junge Burſchen, Poppe
aus dem Drachenloch, Kahmann von Quenſtedt und Schliephake aus dem Huy,
ſitzen auf, um fic bei des großen Königs Huſaren anwerben zu laſſen. Im Zudel-
trab geht's aus der Stadt heraus, zur Schwadron des Huſaren zurück, und die fünf
Franzoſen immer nebenher.
408 Seude: gtmeilnb
Die Buben ſchreien noch immer „Vivat Friedericus!“
Für diesmal waren die Halberſtädter aus aller Not, und der Sargſtedter Paftor
konnte ſich ein Schock herzhafter Hagel- und Donnerwetters auf die Kujone erlauben,
die feine ſchönen Bücher ſtibitzten, ohne daß ein Blitz vom Himmel dreinſchlug.
Der Kanonikus Gleim hörte den fröhlichen Lärm in ſeinem ſtillen Häuschen hinter
dem Dom und fang ſpöttiſch den Abziehenden ein Liedchen nach.
Irmelind
Von Kurt Geucke
8 den Hügeln, im Mitternachtswind,
aß an den Weiden Schön Irmelind:
„O Sterne, ihr Tränen der Ewigkeit,
Wo wächſt das Kraut Vergeſſenheit ?!“
Am Waſſer, am Walde ſeptembert und fpinnt
Und raunt in den Wipfeln feltfam der Wind:
Wo ſchlummert dein Blut, wo ſchläft dein Kind —?
Irmelind! Irmelind!
„Mein Blut, mein Blut ſchläft nimmermehr;
Mein Kind, ach, ſchläft einen Schlaf ſo ſchwer ! —
Wer tränkte dein Kindlein im Mondenwind — 2
Irmelind! Irmelind!
„Die Wellen im Weiher, die tränkten mein Kind,
Die Wellen, die Winde, und trugen’s gelind.
O Tränen der Erde, o Sterne fo weit,
Wo wächſt das Kraut Vergeſſenheit?!
Schon fragt ich die Walder und fragte die Seen,
Die Winde, die Wellen, die Täler und Höhn,
Den Nöttelgeier im Felſenneſt,
Die Dögel der Stürme von Often und Weft.
Sind's taufend Jahre, daß ich gebarrt?
Ach, keine Antwort von keinem ward!
Einſt hört ich, ein Nabe wär, alt wie die Zeit,
Der wüßte das Kraut Vergeſſenheit!
Komm, ehe du wechſelſt — du ſahſt es, Mond! —
Zeig mir das Land, wo der Nabe wohnt!
Und ſäß er vor Höhlen der Ewigkeit —
Wo grab ich dich, graue Vergeſſenheit ?!!!“
Der Wind, der Wind im Hagedorn,
Wind über Wellen und Stoppelkorn:
Kein Balſamkraut ſprießt um dein Kind,
Irmelind! Irmelind! —
Da tropfte vom Hornbuſch ihr roſenrot Blut,
Sah ſie das Kraut in Mondenflut.
Wo am tiefſten das Waſſer, dort ſtand's am Grund...
Kein Stein an den Weiden, kein Kreuz tut kund
Von Irmelind, Irmelind.
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Winter im Walde
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409
Leben und Kultur der alten Etrusker
Nie Frage, ob die Etrusker, dieſes rätſelhafte Volk, auf dem Land- oder Seewege nach Stalien
gr find, muß vorläufig unentſchieden bleiben. Einige Anzeichen ſprechen für nordiſchen
Urſprung; jo Grabſteine aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. aus Rätien mit nordetruskiſchen In—
ſchriften im Rätiſchen Muſeum zu Chur; dann flache Tonſchalen mit charakteriſtiſch umgeboge—
nem Rand, die in Thüringen gefunden wurden und die ſonſt nur in ſüdetruskiſchen Gräbern vor—
kommen; ferner die „Hausurnen“ (Abb, 1). Dieſe zur Aufnahme von Aſche Verſtorbener dienen-
den Tonbehälter find Wohnhäuſern nachgebildet und es beſteht eine gewiſſe Ahnlichkeit zwiſchen
ſkandinaviſchen und etruskiſchen Hausurnen.
Andererſeits waren die Etrusker in erheblich höherem Maße ein Seefahrervolk als ſelbſt die
Griechen und können daher ebenſogut zu Waſſer nach Italien gekommen ſein, womit die Theorie
eines kleinaſiatiſchen Urſprungs recht behielte. Jedenfalls ſteht feſt, daß die Etrusker mehrere
Jahrhunderte vor den Römern ein mächtiges in zwölf Gaue geteiltes Staatsweſen bildeten,
deſſen Ruf ſich nach Livius (B. I, Kap. 2) „von den Alpen bis zur Meerenge Siziliens“ erſtreckte.
Sie waren laut Liv., B. I, Kap. 24, auf dem Meere die Herren. Ja, ſie machten ſogar den Kar—
thagern die Seeherrſchaft ſtreitig und führten kühne Raubzüge nach allen Richtungen aus, die
ihnen große Reichtümer einbrachten.
Wie die Etrusker eigentlich gelebt haben, iſt nicht leicht zu ergründen, da die Römer es ſich an—
gelegen ſein ließen, alles, was von der Macht und der Kultur ihrer jahrhundertelangen Erbfeinde
zeugte, zu vernichten. Aus dieſem Grunde iſt uns wenig erhalten geblieben, und nur das eifrig
weiterbetriebene Studium der etruskiſchen Sprache, die uns immer noch fajt ein Buch mit ſieben
Siegeln ijt, kann da mit der Zeit einigen Aufſchluß bringen. Der im 2. Jahrhundert n. Chr. le—
bende römiſche Schriftſteller M. Cornelius Fronto, der als etwas verſchroben gilt, will in Anagni,
ſuͤdlich von Rom, einige heilige etruskiſche Bücher, die auf Leinen geſchrieben geweſen ſeien,
geſehen haben; doch iſt es wenig glaubhaft, daß ſolche noch zu ſeiner Zeit beſtanden haben
können. Früher wird es wohl derartige Bücher gegeben haben; denn ſein Zeitgenoſſe Pomp.
Abb. 1. Hausurne und Nandelaber. Etruskiſches Muſeum in Tarquinia.
Der Türmer XXVIII, 5 pr
410 Leben und Kultur der alten Etruster
Feſtus ſchreibt in feinem Buch „De verborum significatu“: „Es werden Ritualbücher der Etruster
genannt, in denen vorgeſchrieben iſt, nach welchem heiligen Gebrauch Städte zu gründen, Altäte
und Gebäude zu weihen find, mit welcher heiligen Handlung Mauern, mit welcher Rechtsformel
Tore, auf welche Weiſe Stämme, Kurien, Zenturien eingeteilt, Heere geſchaffen und die übrigen
auf Krieg und Friedensſchluß bezüglichen Einrichtungen getroffen werden ſollen.“ Und M. Te—
rentius Varro, der berühmte Grammatiker und Zeitgenoſſe Ciceros, berichtet, daß es eine Zeit
gab, zu der man Jahrbücher und Geſchichten der Etrusker geleſen habe, die im achten Jahrhundert
der etruskiſchen Zeitrechnung geſchrieben wurden, was etwa dem Ende des vierten Fahrhundetts
Roms entſprechen würde.
Nach alldem haben wir es mit einem ungemein mächtigen Reich zu tun, das ſich einer ſehr hohen
Kulturſtufe erfreute. Um fo bedauerlicher ijt es, daß von den Sitten und der Lebensweiſe dicjes
Volkes ſo ſehr wenig auf uns überkommen iſt. Schuld daran hat eben der römiſche Imperialismus
Die Römer kannten nur zu gut die geiſtige und kulturelle Überlegenheit der ihnen blutsfremden
Raſſe, die ihrem Ausdehnungstrieb überall im Wege war. Und obwohl es Etruskerkönige waren,
die mit ihrem Anhang nach Rom kamen und Rom erſt zu einem geordneten, geſunden und kriegs—
tüchtigen Gemeinweſen machten, ſo wandte ſich ſpäter das Gefühl der einem zuſammengelau—
fenen Geſindel entſtammenden römiſchen Volksmenge gegen die „Eindringlinge“, bis nach und
nach alles, was noch etruskiſches Volk hieß, ausgerottet oder wenigſtens lahmgelegt wurde. Aber
die Gefahr eines Wiederauflebens einer nationaletruskiſchen Bewegung war eines Tages vor-
über. Und in dem Maße, wie die Römer ſtärker wurden, bewegte ſich die Macht der Etrusker auf
der abſteigenden Bahn, ſo daß es immer leichter wurde, ſie zu vertilgen.
Hier haben wir die Tragödie eines großen Volkes, wie fie ſich ſpäter auch bei den Römern ſelbſt
abſpielte. „History repeats itself.“ Man geht wohl nicht fehl, wenn man den Verluſt der Wider-
ſtandskraft der Etrusker auf Verweichlichung durch Reichtum und Wohlleben zurückführt. Ob—
ſchon nun die Römer alles tilgten, was den Beſiegten als Denkmal früherer großer Zeiten des
Geſamtvolks dienen konnte: einiges iſt ihrer Zerſtörungswut doch entgangen, und das ſind vor
allem die Grabſtätten, die ſtets außerhalb der etruskiſchen Städte lagen, oft tief in der Erde ver—
ſteckt, nur durch gemauerte Zugänge zu erreichen waren und ſich äußerlich kaum von einem un—
ebenen Felde unterſchieden.
Eine ſolche typiſche und für das Studium des etruskiſchen Kulturſtandes überaus ergiebige
und lehrreiche Stätte ijt vor allem Tarquinia bei dem heutigen Corneto-Tarquinia, nordweſtlich
von Rom gelegen und von dort in kurzer Bahnfahrt zu erreichen. Schon der Beſuch Cornetos,
der dicht am Meer auf einer 200 Meter hohen Platte gelegenen, mit mächtigen mittelalterlichen
Mauern umgebenen Stadt, die beſonders von 1300 bis 1400 blühte und damals 35000 Einwohner
zählte, mit ihrer Gruppe dräuender Türme, iſt äußerſt reizvoll. Zumal das überaus reichhaltige
ſtaatliche etruskiſche Muſeum im Palaſt Vitelleschi, einem Kleinod gotiſcher Architektur, unter-
gebracht iſt und ſich außerdem auf Schritt und Tritt prächtige alte Gebäude zeigen, darunter die
im Jahr 1000 erbaute Kirche von S. Pancrazio.
Unmittelbar an die Stadt ſchließt ſich nun das Gräberfeld, die Nekropole der durch ein langes
Tal von ihr getrennten uralten Mutterſtadt der Etrusker: Tarquinia. Die Gräber, ſoweit ſie bis
jetzt entdeckt oder ausgegraben ſind, liegen unregelmäßig zerſtreut. Von vielen hunderten Grab—
ſtätten find bis jetzt nur etwa ein Viertelhundert geöffnet worden. Einige von dieſen ſind einfach,
andere überreich geweſen an Geräten und Wandmalereien. Aus dem Studium dieſer und zu
anderen Etruskerſtädten gehöriger Gräber laſſen ſich bis heute die einzigen Schlüſſe auf Leben,
Sitten und Geiſt dieſes Volkes ziehen, obwohl die Stätten verſchiedenen Zeitaltern angeboten
und in Südetrurien bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Ganz allgemein geſprochen, gehoͤtt
ein Teil der etruskiſchen Gräber dem primitiven tuskiſchen Typus an, ein anderer dem vot—
geſchrittenen archaiſchen, bei den übrigen iſt ſchon ſtellenweiſe römiſcher Einfluß zu erkennen.
Hier in Tarquinia gehören die meiſten Gräber wohl der zweiten Gruppe an.
Leben und Kultur der alten Etrusker 411
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Abb. 2. Grabhügel (Tumuli) bei Caere
Schwerlich hat je ein Volk ſeinen Toten ſoviel Liebe und Sorgfalt angedeihen laſſen, ſoviel
Ehren erwieſen, wie die Eiruster. Zunachſt ſchützte man die tief in der Erde gelegenen Räume,
wo die Toten auf ſteinernen Betten aufgebahrt wurden, durch enge mit behauenen Blöcken ein-
gefaßte ſeitliche Gänge, die oben durch große Tonplatten oder flache Steine bedeckt wurden,
worauf man Erde häufte, jo daß ein flacher, dem Uneingeweihten nicht auffallender kleiner Hügel
entſtand. Außer dieſer Einrichtung gibt es ſowohl hier als auch in der Nekropole des nahen ur-
alten Cae re (heute Cerveteri), wo die Königsfamilie der Tarquinier begraben lag, die ſogenannten
Tumuli (Abb. 2), aus behauenen Blöcken hergeſtellte mit Erde bedeckte Rundbauten, ebenfalls mit
unterirdiſchem, durch eine Steintreppe erreichbarem Eingang. Der unterirdiſche Teil war aus dem
weichen vulkaniſchen Tuff gehauen. Die Höhe über der Erde beträgt etwa 4 Meter, der Umfang
etwa 20 Meter. Dieſe Tumuli liegen in langen geraden Reihen. In Orvieto hingegen, das
gleichfalls eine Totenſtadt aufweiſt, haben wir Reihen dicht aneinandergebauter Gräber aus
Peperinblöcken, die innen der Struktur eines ſchmalen Hauſes mit Gewölbekonſtruktion an der
Decke nachgebildet ſind. Dieſe Grabhäuſer liegen nur wenige Stufen tief unter der „Straße“,
die einige Meter breit und auf beiden Seiten von Grabhäuſern eingefaßt iſt; die Straßen ver-
laufen parallel und die Grabhäuſer ſtoßen mit ihren Rüdwänden aneinander. Die ganze „Stadt“
wurde fpäter mit Erde zugedeckt und unzugänglich gemacht. Nur auf der Oberfläche kann man
noch heute die Lage der Gräber durch herausragende ſteinerne Phalli erkennen. Auch in Orvieto
liegen noch erhebliche Teile der Totenſtadt unerforſcht da!
Bei den Etruskern galt die religiöfe Überzeugung, daß man den Tod als Übergang von dieſer
Welt zu einem ewigen Glück anſehen müſſe. Daher wurde bei der Beſtattung jeder Gedanke an
Trauer vermieden. Die Wandbilder, die beſonders in Tarquinia gut erhalten find, zeigen denn
auch die Geſtalten der Verſtorbenen, wie ſie, in antiker Weiſe auf Diwanen gelagert, ſich des Mahles
erfreuen. Daneben liegt eine ſchöne Frau. Meiſt ſind es mehrere Paare, ſo daß eine Bankettſzene
(Abb. 3) dargeſtellt iſt. Die Namen eines jeden find darüber oder darunter gemalt. Vor den Feſtteil-
nehmern ſtehen kleine Tiſche mit allerlei Speiſen auf Tellern und in Schüſſeln. Alle Perſonen
ſind in lebhafter Unterhaltung begriffen, die durch außerordentlich ſprechende Geſten dargeftellt
ift. Auch heute noch führt ja der Südländer einen Teil der Unterredung mit den Händen; daher
412 Leben und Kultur der alten Ettusket
die von den Künſtlern bewieſene Beobachtungsgabe. Auf manchen Bildern bringen Sklaven
Wein und Speiſen herbei; auf faſt allen ſind Flötenbläſer oder Lautenſpieler in Tätigkeit, woraus
ſich auf eine große Muſikliebe ſchließen läßt. Andere Wände des gleichen Grabraums zieren Sze-
nen aus dem Leben des Verſtorbenen und ſchildern ſeine Lieblingsbeſchäftigung: die Jagd auf
Wild und Geflügel, den Fiſchfang, Wettſpiele oder den Reitſport. Ich gebrauche abſichtlich dieſes
Wort; denn die gemalten Pferde ſind offenſichtlich edler Raſſe und haben feuriges Temperament.
In einem Grabe iſt ſogar ein Rennen rings um den Raum wiedergegeben; am Ziel ſtehen zwei
Jünglinge mit ihren tänzelnden Roffen rechts und links von dem „Unparteiiſchen“ und ſtreiten um
den Preis (Abb. 4). Oft ſind Tänze von Männern und Frauen geſchildert, manchmal in grotesken
Stellungen, die lebhaft an die Verrenkungen erinnern, die man in der letzten Zeit fo häufig in Raba-
retten geſehen hat (Abb. 5)! Faſt nie iſt aber etwas verzeichnet, alle Glieder find im richtigen Ver-
hältnis, die Bewegungen find leicht, gefällig, graziös, nie ſchablonenhaft wie bei den Agyptern;
die Gewänder folgen den Bewegungen, ſind luftig und fließen; die Farben, bei denen ein ſattes
Rot, ein lebhaftes Hellgrün, Dunkelbraun und Schwarz vorherrſchen, find diskret aufeinander ab-
getönt. Die Decken des Grabraums ſind oft ſchachbrettartig in verſchiedenen Farben gegeben.
Die um den Raum laufenden Frieſe find in Breite und Stil fein gegen die Größen verhältniſſe
des Grabes abgewogen, und die Muſter der Diwane, Teppiche und ſonſtigen Gewebe ſind ſo
eigenartig, daß mancher heutige Kunſtgewerbler da noch etwas lernen könnte. Kurz: die Künſtler
hatten Blick, Farbenſinn, Temperament, Erfindungsgabe und — viel Humor. Man vergißt
vollſtändig, in einem Grab zu fein. Und das war ja auch der Zweck. Der Tote ſollte eben das-
jenige Leben, das er liebte, weiterführen dürfen, ein rührender Zug von Gemüt. Und aus dieſem
ſeeliſchen Moment möchte man auf die germaniſche Urheimat der Etrusker ſchließen, da ja dem
Südländer Gemüt völlig fremd iſt. Die äußerliche Oarftellung der Szenen iſt freilich ganz füd-
ländiſch. Es ſchien bei den Reichen, die ſich ein ſolches Grab leiſten konnten, Mode zu ſein, den
Künſtler aus dem Orient kommen zu laſſen, was bei dem regen Schiffsverkehr mit allen Küſten
Abb. J. Bankettſzene
Leben und Rultur der alten Etrustne 415
Abb. 4. RNennſzene aus dem Grab des „Barons“, Tarquinia
nicht umſtändlich ſein konnte. Jedenfalls ſind, mit verſchwindenden Ausnahmen, ſämtliche Per—
fonen und Tiere im Profit gezeichnet, wie dies im Orient ſeit den ditejien Zeiten von den Aſſyrern
und Agyptern gemacht wurde. Sodann kommen in den Bildern vielfach Panther, Leoparden,
Löwen, Krokodile und andere wilde Beſtien vor, die es in Italien natürlich nicht gab — oder erft
Jahrhunderte fpäter bei den römiſchen Kampfſpielen —, die aber vollkommen richtig gezeichnet
und in ihren Bewegungen gut beobachtet ſind. Schließlich findet man bei dieſem ſeefahrenden
Volk in den Gräbern niemals Darſtellungen von Schiffen, ſondern nur auf den aus Griechenland
eingeführten Vaſen, ſo daß ſich aus dieſem Mangel eine Unvertrautheit der Künſtler mit dem
Gegenſtand und damit auf ihre Landesfremdheit ſchließen läßt. Denn die Schiffstypen aller
ſeefahrenden Völker waren damals ſehr weit voneinander verſchieden; vielleicht hätte der
Künſtler alfo ein phönikiſches oder griechiſches oder ägyptiſches Schiff darſtellen können, was na-
türlich abgelehnt worden wäre.
Intereſſant iſt, daß die Hautfarbe der Männer ſtets rot, die der Frauen aber ſtets weiß iſt.
Es war alfo wohl ein Stolz der Männer, wettergebräunt auszuſehen, als jagd- und ſportluſtig
hingeſtellt zu werden; die vornehme Frau dagegen hatte es nicht nötig, Hausarbeiten zu machen
und ſich dabei der Sonne auszuſetzen. Beliebt ſchien auch blondes Haar bei Frauen zu ſein, wie
es noch heute im Süden iſt. Die Männer haben auf den Bildern durchweg ſchwarzes Haar;
ſollten alſo die Damen ſchon Anno 500 v. Chr. — 2 Jedenfalls find uns aus jener Zeit hübſche
Schminkkäſtchen mit verſchiedenen gut erhaltenen Farben und Näpfchen überkommen!
Aus einigen Bildern geht mit Sicherheit hervor, daß die Etrusker an die Unſterblichkeit der
Seele glaubten. Oft ſieht man geſchildert, wie die Seelen von guten oder böſen Geiſtern ent—
führt werden, entweder zum Elypſium oder in den Tartarus. In den Gräbern „des Kardinals“
und des „Polyphem“ zu Tarquinia haben wir dafür zwei typiſche Bilder. Die guten Genien ſind
weiß, haben weiße Flügel, beſchwingte Kothurne und tragen meiſt einen leichten Stab. Die
böfen Genien find ſchwarz, haben ſcheußliche Fratzen und ſchwingen mächtige Hämmer, mit denen
ſie die Seelen zu den Furien treiben.
Sympathiſch und erfreulich wirkt die offenbare Vorliebe für Blumen aller Art und Blätter,
die bald myrthen -, bald olivgrün gemalt find. Überall: bei den Gaſtmählern, in den Vorhängen,
Decken und Gewändern find Blumenmuſter verwendet; an den Frieſen ziehen ſich Gewinde von
Blüten hin; wo ein freies Plätzchen iſt, find Kränze angebracht oder es ranken ſich Zweige mit
Knoſpen, Blüten und Früchten empor; auch die Tänzer haben Kränze im Haar.
414 Leben und Rultur der alten Etruelet
Vielfach fieht man bei Gaſtmählern das Ei; es galt als Urſprung alles Seins und außerdem
als die reinſte der Speiſen.
Wie ſchon bemerkt, ſpielt der Sport eine große Rolle. Wir ſehen nicht nur Pferderennen,
für das die Etrusker einen ſolchen Namen hatten, daß ſchon der römiſche König Tarquinius
Priscus, der ja Etrusker war, ſeine Landsleute nach Rom berief, um es den Römern in dem
von ihm erbauten Zirkus zu zeigen. Wir finden auf den Grabbildern auch den Fauſtkampf,
den Wettlauf, das Wagenrennen, das Diskuswerfen und das Fechten mit dem Streitkolben
vertreten.
Die in den Gräbern als Beigaben für die Toten niedergelegten Gegenſtände: Waffen, Geräte,
Vaſen, Schmuckſachen — die einen hohen Goldwert haben — und, im Einklang mit den Wand-
malereien, einen feinen Geſchmack und eine hohe Stufe kunſtgewerblicher Kultur verraten, de-
finden ſich in dem wohlgeordneten, überſichtlichen und äußerſt ſehenswerten ſtaatlichen Muſeum
in Corneto, gegen das ſelbſt die reichen Sammlungen im Vatikan und im ſtaatlichen Muſeum der
Valle Papa Giulio in Rom zurückſtehen müſſen.
Erwähnt ſei noch, daß die Götter der Etrusker im großen und ganzen den griechiſchen Göttern
entſprechen; fie führen jedoch gänzlich andere Namen, ſoweit es Hauptgötter find, ein weiterer
Beweis für die Fremdraſſigkeit der Etrusker. So heißt bei ihnen der dem Zeus entſprechende
Gott: Tinia, die Venus — Aphrodite — Aſtorte: Turan, der Merkur — Hermes: Turns!
Auf den Grabbildern kommen ſie nie vor; dagegen auf Vaſen und Bronzeſpiegeln.
Wenn man alles geſehen hat, bleibt als Geſamteindruck eine hohe Bewunderung für ein fruͤhet
mächtiges Volk, das hervorragende Fähigkeiten beſaß, auch auf dem Gebiete des Städtebaus,
der Gewölbekonſtruktion und der Kanaliſation; für ein Volk, das es verſtanden hat, zu einer Beit,
als die Römer noch ein rauhes zuſammengewürfeltes Geſindel ohne Kunſt und Kultur waren,
fi einen verfeinerten Lebensgenuß zu verſchaffen. Um fo mehr muß man ſchmerzlich bedauern,
daß es vollſtändig untergehen mußte, um ſein Beſtes an ein brutales Herren volk zu geben, das
ſich dann allenthalben mit fremden Federn ſchmückte. Siegfried Naeger
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Abb. 5. Tanz. Grab bei Tarqulnia
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Der Deutfche Hochchuleng
as deutſche Studententum, das ſeit etwa 1750 eine ſtete, aufwärtsſteigende Entwicklung
genommen und im kaiſerlichen Deutfchland eine ungeahnte Blüte und weitgehende Aus-
geſtaltung erlebt hat, iſt als zeitweiſe führender Teil des emporſtrebenden deutſchen Bürgertums
hochgekommen. Dieſe enge Schickſalsgemeinſchaft offenbarte ſich auch am 9. November 1918,
we es zuſammen mit dem Bürgertum jäh geſtürzt ward und als eine aus ihrem bisherigen
Boden geriſſene, wurzellofe Größe den neu aufkommenden Gewalten machtlos gegenüberſtand.
die akademiſche Frontjugend, die vier lange Jahre unter den alten Reichsfarben im Felde
geſtanden und für das Vaterland wertvolle Zeit der Ausbildung, ſowie die Geſundheit, ja ihr
Herzblut willig geopfert hatte, konnte ſich innerlich mit der neuen, ihr fremden Entwicklung
nicht einverſtanden erklären, noch dem neuen deutſchen Staat zujubeln, der ihre nationalen
Hoffnungen und Forderungen nicht zu erfüllen ſchien. Ihre Geſinnung wird durch die damals
erfolgte Umdichtung der Binzerſchen Strophe gekennzeichnet:
„Das Band iſt zerſchnitten; war ſchwarz-weiß und rot!
Und wer dafür geſtritten, bleibt treu ihm bis zum Tod!“
Und wenn die akademiſche Jugend nach dem Umſturz zu wiederholten Malen zu den Waffen
griff und unter Einſetzung ihres Lebens den neuen Staat gegen die Kommuniſten ſchützen
half, ſo geſchah dies nicht aus „ſtaatstreuem Opfermut“, wie der Verkehrsminiſter Gröner in
einer Kundgebung meinte, ſondern lediglich aus Liebe zu Volk und U die es vor einer
Zukunft ruſſiſcher Art zu bewahren galt.
Aber die im Kriege gereifte Studentenſchaft ſah ein, daß ſie in erſter Linie der Regierung
gegenüber ihre Belange nachdrücklich vertreten müſſe, wenn nicht die geſamte Entwicklung der
Zeit zermalmend über ſie hinweggehen ſollte. Um nun ihren hochſchulpolitiſchen und ſozialen
Beſtrebungen die nötige Stoßkraft zu verleihen, waren alle Studenten — gleichviel, welcher
politiſchen Richtung — gezwungen, gemeinſam und eng geſchloſſen vorzugehen, und ſo kam
denn beim erſten deutſchen Studententage zu Würzburg am 17. bis 19. Juli 1919 die zukunfts-
reichſte und gediegenſte Schöpfung der Kriegsſtudenten, die „Deutſche Studentenſchaft“, der
Geſamtbund aller Einzelſtudentenſchaften an Deutſchlands hohen Schulen, zuſtande. Abgeſehen
von einer längeren Zeit ſchwerer innerer Kämpfe gelang es dieſer Organiſation, die für ihre
Arbeit nötige Unparteilichkeit zu wahren, die Anerkennung der Studentenſchaften als öffentlich-
rechtlicher Körperſchaften innerhalb der Hochſchule zu erkämpfen und durch unermüdliche
Tätigkeit der mit ihr verbundenen „Wirtſchaftshilfe der Deutſchen Studentenſchaft“ die von
allen empfundene drückende Not der akademiſchen Jugend zu lindern und ein Verſinken der
letzteren in ein proletariermäßiges Bettelſtudententum unmöglich zu machen.
Innerhalb dieſer großen, umfaſſenden Gemeinſchaft, welche mit den gegebenen geſchichtlichen
Mächten der Gegenwart, insbeſondere mit dem neuen Staate, rechnen mußte, gab es keinen
Raum zur Vertretung ausgeſprochener, einſeitig herrſchender Parteirichtungen. Dieſe wurden
vielmehr dazu gedrängt, außerhalb der neutralen Studentenſchaften und deren Geſamtverbands
auf dem Wege der freien Einung alle die zu ſammeln, die ihre Hochziele anerkannten. Das galt
in gleicher Weiſe für die links eingeſtellte Zugend wie für die rechts gerichtete. Naturgemäß
verſuchte die letztere, die ſich durch den Umſturz und die neuere Entwicklung des Staates in
ihrem Daſein aufs ſchwerſte bedroht fühlte, zuerſt zu einer Zuſammenfaſſung der Gleich-
geſinnten zu gelangen. Die früheſte Vereinigung dieſer Art fand unter den ſchlagenden Studen—
416 Der Oeutſche Hochſchulring
tenverbänden ſtatt, die mit Ausnahme der Deutſchen Burſchenſchaft am 7. und 8. Auguſt 1919
zum Schutz der ihnen eigentümlichen Belange den „Allgemeinen Deutſchen Waffenring“
ſchufen. Wohl ließ ſich derſelbe durch Einbeziehung aller derjenigen ſtudentiſchen Gruppen
noch erweitern, welche mit den alten Verbänden in der Auffaſſung innerlich mancherlei ge-
meinſam hatten, aber der großen Maſſe der akademiſchen Jugend erſchien die ſchlägerfreudige,
ritterliche Romantik des Waffenſtudententums als etwas Fremdes und Überlebtes, und um fie
zu gemeinſamer Arbeit heranzuziehen, brauchte man ein neuzeitliches, zugkräftiges Fdeal, das
allgemein zu begeiſtern und fortzureißen vermochte. Und ein ſolches fand man auf außer-
akademiſchem Gebiet in dem völkiſchen Gedanken.
Nicht zum erſten Male tauchte dieſer in der Studentenſchaft auf. In der deutſchen akademiſchen
Zugend des alten Oſterreich, das in Völkerſchaften zerriſſen war und ſchon ſeit Jahrzehnten
ſtark unter jüdiſchem Einfluß ſtand, machte er ſich bereits um 1880 geltend, und durch die etwa
gleichzeitige Kyffhäuſerbewegung der Vereine Deutſcher Studenten, die, von Nord-
deutſchland ausgehend, ſtürmiſch bald das ganze Reich ergriff, wurde ſeiner Verbreitung in
Reichsdeutſchland bedeutend vorgearbeitet. Der Kampf mit dem Judentum, das der freiſinnige
Mommſen 1882 als „Ferment der nationalen Dekompoſition“ bezeichnet hatte, führte immer
klarer zum Bewußtſein der deutſchen Eigenart, und je mehr ſich die Kyffhäuſervereine in dieſe
vertieften und bis zu den Quellen des deutſchen Volkstums hinabſtiegen, deſto mehr geſtaltete
ſich der politiſche Antiſemitismus, aus dem jie hervorgegangen, zu rein völkiſcher Anſchauungs
weiſe um — eine Richtung, die durch Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahr
hunderts“ geſchichtsphiloſophiſche Vertiefung, einen feſteren Halt und neue Antriebe erbielt.
Aber erſt infolge des Umſturzes, bei dem der jüdiſche Teil der Bevölkerung führend auftrat,
ward der völkiſche Gedanke Allgemeingut der akademiſchen Jugend. Und die fo denkenden
ſtudentiſchen Kreiſe, Verbindungen wie Freiſtudenten, zu einer ſtarken, einheitlich zuſammen—
geſchloſſenen Partei vereinigt zu haben: das bleibt die große, entwicklungsgeſchichtlich be
deutungsvolle Tat des „Deutſchen Hochſchulrings“.
Als Gegenbewegung gegen die von links kommenden, das nachrevolutionäre Deutſchland
beherrſchenden Mächte verbreitete ſich die neue Strömung auf akademiſchem Boden. An elemen-
tarer, weithin wirkender Gewalt kam ſie den Bewegungen der Urburſchenſchaft und der Vereine
Deutſcher Studenten gleich, ja ſie bedeutete eigentlich den Sieg und die Erfüllung der Be—
ſtrebungen des Kyffhäuſerverbandes innerhalb der Studentenſchaft. Sie war aber keineswegs
eine auf die Hochſchule beſchränkte Bewegung, ſondern nur ein Teil der nach völkiſcher Er-
neuerung ſtrebenden Jungdeutſchen, die fic als urſprünglich rechter, nationalgerichteter Flügel
von der freideutſchen Jugendbewegung losgelöſt hatte.
Die eigentliche Wiege des Deutſchen Hochſchulrings ijt Berlin, wiewohl etwa gleichzeitig
auch anderwärts ähnlich geſinnte ſtudentiſche Gruppen hervortraten, wie z. B. der Bund zur
Hebung des nationalen Gedankens zu Göttingen und Hannover. Als Ausgangspunkt darf die
Berliner Fichte-Hochſchulgemeinde gelten. Abſeits von jeder Parteipolitik wollte dieſe zumeiſt
aus alten Wandervögeln beſtehende loſe Vereinigung, die ſich im Frühjahr 1919 bildete, in
kleinen Arbeitsgemeinſchaften und in großen öffentlichen Vorträgen zeigen, daß Fichtes wabt—
haft völkiſche Lehre für Deutſchlands Wiederaufbau wichtiger ſei als das parteipolitiſche Treiben
der Gegenwart. Die führenden Köpfe der Fichte Hochſchulgemeinde weckten das vöͤlliſche
Verantwortlichkeitsgefühl der Kriegsſtudenten, und aus dem Zuſammenſchluß mit andern
gleichdenkenden Studentengruppen ging im Juni 1919 der „Hochſchulring deutſcher Art“ zu
Berlin hervor, der am 12. Dezember desſelben Jahres feine erſte öffentliche, von faſt vier
tauſend Perſonen beſuchte Feier in der Univerfitätsaula veranſtaltete. Anläßlich des Göttinger
Studententages vereinigten ſich am 22. Juli 1920 die inzwiſchen entſtandenen Hochſchulringe
von Breslau, Danzig, Darmſtadt, Dresden, Erlangen, Greifswald, Halle, Hamburg, Zena,
Kiel, Leipzig und Noſtock, ſowie die ihnen ähnlichen Gebilde in Bona, Frankfurt, Freiburg i. B,
*
der Oeutihe Hodididcing 417
Göttingen, Hannover und Stuttgart mit der Berliner Gruppe zum „Hochſchulring Oeutſcher
Art“. Dies geſchah auf Grund folgender Erklärung:
„Wir befennen uns gum deutſchen Volkstum und erſtreben die deutſche Doltsgemeinjdaft. —
Wir erachten deshalb den Zuſammenſchluß aller Krafte für erforderlich, welche aus gemeinfamer
Abstammung, Geſchichte und Kultur heraus die Volksgemeinſchaft aller Deutſchen und damit
die Wiedererſtarkung unferes Volkes und Vaterlandes erſtreben. — In nationalen und hoch-
ſchulpolitiſchen Fragen wollen wir neben dieſem Zuſammenſchluß einen Zweckverband mit
den Gruppen ſchließen, die ſich nicht auf dem voͤlkiſchen, fondern auf dem nationalen Gedanken
aufbauen.“
Oer Hochſchulring war zunächſt überall weiter nichts als ein Sammelbecken, in welchem ſich
die verſchiedenſten Studentengruppen — Waffenſtudenten, Vereinsſtudenten, Mitglieder tatho-
liſcher Vereinigungen und völlifche Freiſtudenten — zu gemeinſamer vöͤlkiſcher Arbeit trafen.
Wollte er nicht zu einer lebloſen, mumienhaften Organifation herabſinken, fo mußte er die
neue Form mit neuem Inhalte füllen, und das konnte er nur, indem er als, völkiſches Gewiſſen“
der Studentenſchaft den von ihm erfaßten ſtudentiſchen Kreis zu einer Erziehungsgemeinſchaft
im unverfälfcht deutſch- ariſchen Sinne umwandelte, was er durch die zahlreich von ihm ver-
anſtalteten Schulungswochen durchzuführen verſuchte. Dabei war große Vorjicht geboten, denn
die einzelnen Stubentenbünde und deren große Zuſammenſchluͤſſe wollten ſich naturgemäß
von keinem die Erziehung ihrer Mitglieder aus der Hand nehmen laſſen, und ſo geriet der
Hochſchulring ganz von ſelbſt, beſonders nachdem das Geſchlecht der Kriegsſtudenten von den
Hochſchulen verſchwunden war, in die oft kleinliche, an Eiferſuüͤchteleien reiche „Studenten-
politik hinein. Doch dürfte er dieſe Kriſe überwinden, zumal ſich die einzelnen Gruppen fagen
muͤſſen, daß der Hochſchulring die ihnen eigentümlichen Aufgaben feiner ganzen Wefensart
nach weder übernehmen kann noch will. Auch wird er ſich davor ſchon deshalb hüten, weil er
weiß, daß die ſtudentiſchen Bünde und Verbände die Hauptträger feiner Bewegung find. Aber
ſelbſt wenn diefe wie die Deutſche Burſchenſchaft und die Vereine Oeutſcher Studenten bereits
jahrelang im völkiſchen Sinne tätig geweſen find, vermögen fie es nicht, ihren Angehörigen
eine vöoͤlkiſche Erziehung und Durchbildung zu bieten, welche die Herbeiführung der Volks-
gemeinſchaft auf überparteilicher Grundlage bezweckt. Dazu bedarf es einer überbünbifchen,
weitblickenden und weitreichenden Organiſation, die mit reicheren Mitteln und geiſtigen Kräften
aus verſchiedenen Lagern zu arbeiten in ber Lage ift.
Während ſich ſo das Verhältnis des Hochſchulrings zu den ſtudentiſchen Bünden ziemlich
leicht regeln läßt, war das zur Deutſchen Studentenſchaft eine Zeitlang ſtarken Schwankungen
unterworfen. Es gab Heißſporne, welche wünſchten, daß der Hochſchulring feine Hochſchul⸗
politik darauf einftelle, den ſtubentiſchen Gefamtverband zu einer völkiſchen Gemeinſchaft um-
zuwandeln — ein Verfahren, das den Tod der Deutſchen Studentenſchaft bedeutet hätte. Eine
zweite Richtung verlangte dagegen, daß man von jeder Einmiſchung in die Angelegenheiten
des Geſamtbundes abſehe und eine durchaus felbftändige Arbeit auf vöͤlliſch· kulturellem Gebiet
entfalte. Dieſe Richtung hätte eine für die allgemeine Entwicklung der akademiſchen Jugend
gefährliche Doppelorganifation der deutſchen Studentenſchaft zur Folge gehabt. Und ihre
Politik führte tatſächlich dazu, daß auf dem Erlanger Studententag 1921 die großdeutſche Ein-
heitsform des Gefamtverbandes zerſchlagen ward, und daß der verbliebene kümmerliche Reft
durch die Göttinger Notverfaſſung 1922 zu einem innerlich gebaltlofen Zuſammenſchluß der
reichsdeutſchen Studentenſchaften herabſank, der faſt ausſchließlich wirtſchaftliche Zwecke ver-
folgen follte. In dem nun einfegenden Verfaſſungskampf, bei dem der Hochſchulring als Spitzen-
verband gegen die gleichfalls als Spitzenverband handelnde Deutide Studentenſchaft auftrat,
erreichte der erſtere den Gipfelpunkt feiner hochſchulpolitiſchen Außentätigkeit. Mit dem Würz-
burger Studententag 1922, welcher die alte, großdeutſche Einheits form des ſtudentiſchen Gefamt-
bundes wiederherſtellte, ſchloß dieſer kampfesreichſte Abſchnitt der Geſchichte des Hochſchulrings;
der Tuͤrmer x XVIII. 5 28
418 | Der Heutſche Hochſchulring
von da an wirkte er innerhalb der Deutſchen Studentenſchaft im Sinn einer Fraktion, welche
die voͤlkiſchen und großdeutſchen Belange mit Nachdruck zu wahren ſucht und e die
großdeutſche Kultureinheit der akademiſchen Jugend aufrechterhält.
Von ausſchlaggebender Zukunftsbedeutung iſt es nun, ob der völkiſche Grundgedanke des
Hochſchulrings es tatſächlich vermag, die geſamte völtifch geſinnte akademiſche Jugend wirklich
zu erfaſſen. Die Entſcheidung darüber liegt beim katholiſchen Studententum. Der Göttinger
Zielformel nach kann ſich letzteres ſehr wohl dem Hochſchulring anſchließen, und die Partei,
die ſich um die „Oeutſchen Akademiſchen Blätter für das junge katholiſche Deutſchland“ geſchart
hat, tut es aus vollſter Überzeugung und arbeitet fördernd mit. Dagegen lehnt der wifjen-
ſchaftliche Unitas-Verband jede Beteiligung ab, und im katholiſchen Cartell-Gerband (C. V.)
der farbentragenden Verbindungen tobt ein leidenſchaftlicher Kampf für und wider den Hoch-
ſchulring, dem man in zwei Broſchüren ein wohl lüdenlofes Verzeichnis der politiſchen und
katholikenfeindlichen Entgleiſungen der Hauptleitung und der Einzelhochſchulringe entgegenbielt.
So verquickt ſich denn die Katholikenfrage ganz von ſelbſt mit derjenigen der polit. ſchen
Betätigung des Hochſchulringes überhaupt. Dieſe Arbeit war urfprünglich als überparteilich
gedacht, aber der Ruhreinfall der Franzoſen und beſonders der Hitlerputſch in München 1925
zwangen die Geſamtleitung und die örtlichen Gruppen zu einer ausgeſprocheneren Stellung;
nahme, wenn fie ihren moraliſchen Einfluß auf die leidenſchaftlich erregte und vorwärtsdrängende
akademiſche Jugend nicht verlieren wollten. Die Münchner Ereigniſſe bedeuteten bisher wohl
die ſchwerſte Gefahr für den Hochſchulring, aber feine Sprengung durch die radikale „Deutſch⸗
völkiſche Studentenbewegung“, die fi damals bildete, ward durch eine geſchickte Politi? ver-
mieden. Dieſe Münchner, wie auch andere frühere Vorgänge, die einſeitige Zuſammenſetzung
der Altherrenſchaft und die bereits erwähnten zahlreichen politiſchen Entgleiſungen der Haupt-
leitung und der ortlichen Koͤrperſchaften mußten in weiten Kreiſen die Meinung erwecken, die
Beſtrebungen des Hochſchulrings ſeien parteipolitiſch einſeitig und zwar rechtsradikal. Eine ſolche
Anſicht entſpricht jedoch nicht der Wirklichkeit: trotz aller Abweichungen vom urjpringliden Pro-
gramm, die ſich nicht leugnen laſſen, geht die Geſamtrichtung des Hochſchulrings zwar im
ganzen nach rechts, iſt aber keineswegs parteipolitiſch beſtimmt.
Eine derartige unbedingte Feſtlegung würde übrigens auf die Dauer die Arbeit des Hoch
ſchulrings hemmend beeinfluſſen, insbeſondere auf dem Gebiete des Grenzlands und Auslands-
deutſchtums, wo er ſeine wertvollſten und Dauer verſprechenden Erfolge erzielt hat. Auch
würde fie ihn, der eine lebendige, ſich ſtetig erneuende Bewegung darſtellt, zu einem friih-
zeitigen, hoffnungsloſen Erſtarren verurteilen.
Eine Zeitlang pulfte im Deutſchen Hochſchulring zum größten Teil das geiſtige Leben der
akademiſchen Jugend. Seine Hauptblitegeit iſt aber zu Ende, und feine kriſenreiche Entwicklung
vollzieht ſich in ziemlich gleichmäßigen Bahnen. Nicht die Taten der äußeren Politik find für
ſeine Geſchichte das Entſcheidende, ſondern die Erziehungsarbeit, die er leiſtet, und das innere
Leben, das er zu wecken vermag, und das er einem hohen Ziel entgegenführen will. Dieſes
beſteht in nichts Geringerem als in der Schaffung eines völtifchen Großdeutſchlands, das weit
über die heute verſtachelten Grenzen hinausreicht und einſt vielleicht auch eine andersartige
ſtaatliche Geſtalt erhält, als fie das heutige Deutſche Reich beſitzt.
| Prof. Dr. Paul Sſymank
Nachwort. Wir ſind dem Verfaſſer für dieſe Darlegung dankbar. Der Herausgeber des
„Türmers“ hat ſelber vor dem Göttinger Hochſchulring programmatiſch geſprochen, und es be-
darf keiner weiteren Betonung, daß wir auch dieſer Bewegung freundlich naheſtehen. Zum
Loſungswort „Großdeutſchland“ gehört freilich unbedingt auch die Vertiefung, die Beſinnung —
in jener Art, wie damals die Wartburg-VBurſchenſchaft durch Kant, Schiller, Fichte und andere
geiſtigen Mächte befeelt war. Und wieviel mehr noch als nach jenem ſiegreichen Feldzug brauchen
wir heute Kräfte der Beſinnung auf das Geheimnis deutſcher Kraft! O. T.
S — Leer a ra 2 em a)
2... . ers cr. #4
Das alte Heer und die Kultur
Da Zeit der Zerſetzung alter Werte erhebt gegen das alte Heer und inſonderheit ſein Hirn
und ſeine Seele, das Offizierkorps, gern den Vorwurf des Mangels an Kultur, ja der
Kultur feindlichkeit. Ohne weiteres iſt zuzugeben, daß das Offizierkorps als Ganzes als Träger
einer geiftigen oder künſtleriſchen Kultur nicht in Frage kam; es waren immer nur Einzelne,
die in dieſer Hinſicht in Betracht kamen, wenngleich ihre Zahl nicht jo klein war, wie man viel-
fach annimmt: in jedem Regiment gab es eine kleine Gemeinde geiſtig und kuͤnſtleriſch inter-
eſſierter Offiziere, die ſich nach den verſchiedenſten Richtungen zu fördern ſuchten und, wo fie
konnten, der üblichen Verflachung und Verödung des kameradſchaftlichen und geſellſchaftlichen
Zuſammenlebens entgegentraten. Aber fie waren — und darum weiß man nicht viel von ihnen —
nicht tonangebend. Das waren vielmehr die Fachfanatiker, die bewußt jeden Seitenblick auf das
außerhalb des Dienſtbereichs vorüberbraufende Leben vermieden und jede Ablenkung von ihren
beruflichen Pflichten ängſtlich ſcheuten. Unter der jungen Mannſchaft gaben den Ton gewöhnlich
einige vorlaute, um eine Vertiefung ihrer Bildung in keiner Weiſe beſorgte Leute an. Keineswegs
aber waren dieſe beiden Sorten in der Überzahl; fie drängten ſich freilich am meiſten vor und
die zahlreichen ſtillen Pflichtmenſchen und die vielſeitiger Intereſſlerten zurück und haben bei den
Kreiſen, die in nur oberflächliche Berührung mit Offizieren kamen, das ganze Offizierkorps in
Miftredit gebracht.
Trotz alledem kann es für jeden, der tieferen Einblick in die Verhaltniſſe hatte, keinem Zweifel
unterliegen, daß das alte Offizierkorps einen Kulturfaktor erſten Ranges barſtellte. Als Träger —
nicht einer geiſtigen oder künſtleriſchen Kultur — aber einer Arbeits-, Berufs-, Erziehungs- und
Perſönlichkeitskultur hatte es nicht ſeinesgleichen. Hier gab es eine jahrhundertelange Über-
lieferung der Lebensanſchauung und ber Lebensform, hier wurde bei ſparſamem Lob, aber
häufigem und ſcharfem Tadel hart und rückſichtslos erzogen mit dem Ziel, den Willen zu
ſtählen, die Entſchlußkraft zu fördern und jeden Menſchen zu feinen hddften Möglichkeiten zu
ſteigern; hier gab es ein ſtetes, erzieheriſch ſo ungeheuer wertvolles Wechſelſpiel von befehlen
und gehorchen, hier gab es Verantwortlichkeits- und Pflichtgefühl in ſchärfſter Prägung, hier
galt der reine Intellektualismus gar nichts, die Perſönlichkeit alles; hier war das heute wieder
in den Vordergrund gerüdte Problem — Verhältnis zwiſchen Einzelperſönlichkeit und Gemein-
ſchaft — gelöſt: die aufs ſchärfſte herausgemeißelte Einzelperſönlichkeit war als gebundene und
doch nicht gefeſſelte Kraft für die Geſamtheit nutzbar gemacht als Führer, Erzieher, Perſönlich⸗
keitsbildner.
Die Aufzählung von tauſend Schäden, die das Heer hatte, wird den Kundigen nicht davon
überzeugen, daß fie überhaupt in Betracht kämen gegen den einen ungeheuren Vorzug, daß es
eine Schule der Perſönlichkeit war, wie fie in dieſem Umfang und in dieſer Vollendung nie
dageweſen iſt. Und ihre Seele war eben das Offizierkorps, die ariſtokratiſche Genoſſenſchaft, die
in ſich wieder eine kleine, überaus harte Perſönlichkeitsſchule darſtellte. Hier wurden Männer
erzogen — und das bedeutet doch wohl etwas für das Kulturleben? — mit dem ausgeſprochenen
Zweck, wiederum Männer zu erziehen.
Was es bedeutete, wird vielleicht eher klar, wenn man andere, dem Streit der Meinungen
entrüdte ariſtokratiſche Genoſſenſchaften auf ihren Kulturwert näher anſieht, z. B. die ober-
italieniſchen Oligarchien, die Ritterorden, die hanſeatiſchen Großkaufleute, die alten Zünfte, ja
auch meinetwegen das deutſche Großbauerntum. Auch bei allen dieſen Genoſſenſchaften hat man,
fo verſchieden fie find, als gemeinſame Merkmale die hohe Bewertung der Überlieferung, den
einheitlichen Stil aller Lebensformen, die Strenge in den Anſchauungen und im Befolgen
ſelbſt gegebener (vielfach ungeſchriebener) Geſetze, die unerbittliche Härte gegen Fehltritte gerade
gegen dieſ e Geſetze, die Abſonderung von anderen Kreiſen, den Hochmut, die Überhebung, die
Unfreiheit, den Mangel an Geiftigteit. Unb doch wird felbft der wildeſte Demokrat oder der
420 Das alte Hex
geiftig überheblichfte „Ziviliſationsliterat“ nicht die Oreiftigteit haben, zu leugnen, daß in dieſen
Senoſſenſchaften gewaltige Kulturwerte ſteckten und — ſoweit fie noch beſtehen — noch heute
ſtecken, eben weil hier, wie nirgends fonft, Perſönlichkeiten, Charaktere, Starrköpfe, Willens
kräfte ſyſtematiſch gezüchtet wurden und werden Produktive der Tat, in jedem Fall Männer,
während der Gntellettualismus gar zu oft nur Zertbilder von ſolchen hervorbringt.
Kein Verſtandiger wird ſich vermeſſen, den Intellektualismus gering zu bewerten und feine
Verdienſte um das Hinwegrdumen von Vorurteilen und um die Erziehung zur „pſychologiſchen
Reinlichkeit“ zu mißachten: aber man fragt ſich doch, woher in aller Welt er nur immer wieder
den Mut nimmt zu der Anmaßung, ſich als den alleinigen Kulturbringer und Träger aufzu-
ſpielen, nachdem ihn Leute wie Goethe, Schopenhauer und Nietzſche fo energiſch in feine Schran-
ten zuruͤckgewieſen haben. Welche Gedankenloſigkeit, nur die wiſſenſchaftliche, literariſche und
künſtleriſche Produktion als kulturell in Betracht kommend zu beachten und zu bewerten, während
in dem vielgeſtaltigen Lebensgetriebe allerwärts große Schaffende am Werke ſind von einem
Ausmaß ber Geiftes-, Seelen und Willens kräfte, daß fie ſchlechterdings den Genies zuzurechnen
find. Sicherlich tft es der Geift, der die Richtung geben muß bei allem Schaffen, gewiß aber nicht
der fo bedauerlich einfeitig eingeftellte Geift unſerer jetzigen Wiffens-, Schreib- und Leſekultur.
„Ja, mein Lieber, es gibt auch eine Produktivität der Taten“, ſagte Goethe gelegentlich zu
Eckermann, und in feinem „Aufruf zum beiligen Krieg der Lebendigen“ ſchreibt Rudolf Pann-
witz: „Zwar ſind einige wenige zu Schaffenden beſtimmt und können nicht alle körperlich dienen,
aber doch find faft alle Geiftigen geiſtiges Proletariat, Wurzelloſe und Arbeitsiheue und gehören
ins tätige Leben.“ .. Geiſtiges Proletariat! aber fie halten ſich für die Kultur- Ariſtokraten, die
Elite, die das Höchſte, das den Stoff Beſeelende, den Geiſt, gepachtet zu haben glauben, indem
fie alles Lebendige zu Büchern verarbeiten, oder in bieſer Verarbeitung aufnehmen, es zer-
ſchreiben oder zerleſen. Im alten Heer war ein gangbares Wort, daß ein Vielwiſſer nur zu
häufig ein Nichts kö nner fei, und die „Schriftgelehrten“ waren leicht dem Spott ausgeſetzt, fie
könnten keinen Zug Infanterie über einen Rinnftein führen. Darin kam ein geſunder Inſtinkt
zum Ausdruck: die Abwehr des Alexandrinertums und des Hamletweſens von einem Lebens-
kreis, der bie Erzlehung zu willensſtarken Perſönlichkeiten und die Produktivität der Tat auf
ſeine Fahnen geſchrieben hatte; wobei nicht verſchwiegen werden ſoll, daß dieſe an ſich geſunde
Auffaſſung häufig von Oummköpfen als Deckmantel ihrer geiſtigen Unzulänglichkeiten benutzt
wurde.
Es ſollte doch ſehr zu denken geben, daß Nietzſche das deutſche Offizierkorps gerade als Kultur-
faktor fo außerordentlich hoch bewertete: daß er in ihm ein „Kunſtwerk“ ſah; daß er geſchrieben
hat: „Die Zukunft der deutſchen Kultur ruht auf den Söhnen der preußiſchen Offiziere“; und
weiter: „gebe Erhöhung des Typus „Menſch“ war bisher das Werk einer ariſtokratiſchen Ge-
noſſenſchaft“; und ſchließlich — und damit die zuerſt angeführten Außerungen gleichſam be-
gründend: „Ich ſehe durchaus nicht ab, wie Einer es wieder gut machen kann, der verfäumt hat,
zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein ſolcher kennt ſich nicht, er geht durchs Leben,
ohne gelernt zu haben, der ſchlaffe Muskel verrät ſich bei jedem Schritt noch. Mitunter iſt das
Leben fo barmherzig, dieſe harte Schule nachzuholen .. Das Wünfchenswertefte bleibt unter
allen Umftdnden eine harte Difziplin zur rechten Zeit, d. h. in jenem Alter noch, wo es ſtolz
macht, viel von ſich verlangt zu ſehen. Denn bies unterſcheidet die harte Schule als gute Schule
von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß ſtreng verlangt wird; daß das Gute, das Aus-
gezeichnete ſelbſt, als normal verlangt wird; daß das Lob ſelten iſt, daß die Indulgenz fehlt;
daß der Tadel ſcharf, ſachlich, ohne Rüdjicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine ſolche
Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt von dem Leiblichſten wie vom Geiſtigſten; es
wäre verhaͤngnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Diſziplin macht den Militär und den
Gelehrten tüchtig; und näher beſehen, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Inſtinkte
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine ſtolze Weiſe ge-
Streltfragen des Welitriege 421
horchen; in Reih und Glied ſtehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen
vorziehen; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen,
Schlauen, Paraſitiſchen mehr feind fein, als dem Böſen. — Was lernt man in einer harten
Schule? Gehorchen und Befehlen.“ —
Diefe Außerungen ſtammen doch nicht von irgend jemandem, ſondern von einem Genius erften
Ranges — und zwar aus feiner reifiten Zeit —, ber fein Leben daran geſetzt hat, zu ergründen,
wo die eigentlichen Kulturwerte ſtecken.
Major a. D. Max Oehler-Weimar, Archivar des Nietzſche- Archivs
Streitfragen des Weltkriegs
Da Hochflut der Kriegsliteratur beginnt abzuebben. Zahlreiche Heerführer auf verbündeter
und feindlicher Seite haben geſprochen und die Dinge, fo wie fie fie ſahen, klargelegt und
beurteilt; berufene und unberufene Kritiker haben ſich vernehmen laſſen, und die Fille der bis
herigen Literatur über den Weltkrieg iſt ſchier unüberfehbar geworden. Immerhin beginnen
aber heute, elf Jahre nach Beginn dieſes gewaltigſten aller Kriege, die Geſchehniſſe ſich zu klären;
die Zuſammenhäͤnge entwirren ſich, Urſachen und Wirkungen werden erkennbar, und in den Ur-
teilen maßgebender Kritiker tritt vielfach eine gewiſſe Ubereinſtimmung zutage. Freilich bleiben
immer noch Streitfragen übrig, wo auch Fachmänner verſchiedener Meinung fein können.
In allererſter Linie iſt zu berichten über das mit Ungeduld und Spannung erwartete amtliche
Geſchichtswerk des Reichsarchivs, „Der Weltkrieg 1914—18“, deſſen erſten beiden Bände
„Die Grenzſchlachten im Weiten“ (720 S.) und „Pie Befreiung Oſtpreußens“ (390 S.) in gerade;
zu muftergültiger Ausſtattung mit zahlreichen vortrefflichen Kartenbeilagen im Verlag von
Mittler & Sohn, Berlin, Ende 1924 erſchienen ſind. Die hochgeſpannten Erwartungen, die an
dieſes auf die amtlichen Quellen, Kriegstagebuͤcher und Ookumente ſich ftügende Werk geknuͤpft
wurden, ſind noch erheblich übertroffen worden, und es iſt hier ein Werk zuſtande gekommen,
das in feiner Klarheit, Überſichtlichkeit und Folgerichtigkeit über jedes Lob erhaben ijt. Die Ab-
ſicht des Reichsarchivs, dem kämpfenden und blutenden Heere, der ſchaffenden und duldenden
Heimat von 1914 bis 1918 ein auf umfaſſender Forſchung begründetes Denkmal zu errichten in
einer grundlegenden zuverläſſigen Darſtellung des Weltkriegs“, ijt in den vorliegenden Bänden
aufs fchönfte erreicht worden. Der erſte Band umfaßt den Aufmarſch und die Ereigniſſe an der
Weſtfront bis Ende Auguſt 1914, während im zweiten Band der Aufmarſch im Oſten und die
Ereignifje bis Mitte September 1914, und zwar ſowohl auf deutſcher wie öͤſterreichiſcher Seite
behandelt werden. Bei der Darſtellung eines Kriegs von dem gigantiſchen Umfang des Welt-
kriegs war es natürlich nicht mehr möglich, wie in früheren Generalſtabswerken, in taktiſche Ein-
zelheiten hinabzuſteigen, der Schwerpunkt muß vielmehr auf der Entwicklung der operativen
Vorgänge und der Veranſchaulichung der Entſtehung der Füͤhrerentſchlüſſe ruhen. Auch iſt das
Kriegswerk lediglich Kriegswerk, politiſche und wirtſchaftliche Verhältniſſe werden nur kurz ge-
ſtreift und ſoweit erörtert, als zum Verſtändnis der militäriſchen Dinge unbedingt notwendig iſt.
Bei letzteren wird nichts vertuſcht und verheimlicht, vielmehr ſtrengſte Wahrhaftigkeit geübt,
wodurch das Werk gegenüber den früheren, mehr oder minder fubjettiv eingeſtellten Veröffent-
lichungen außerordentlich an Bedeutung gewinnt. Die Kritik iſt ſtreng ſachlich, ungemein maß
voll und zurüdhaltend, nirgends leibenſchaftlich oder lehrhaft; es werden keine Schuldigen ge-
ſucht, keine Berdammungsurteile ausgeſprochen, aber auch nichts verſchwiegen oder [hin gefärbt.
Zugleich bedeutet aber das Werk, auch wenn es nicht geſagt wird, ein leuchtendes Denkmal für
den Genius bes Grafen Schlieffen, deſſen geiſtige Größe bei ruͤckſchauender Betrachtung geradezu
gigantiſch in die Erſcheinung tritt.
42) Streitfragen des Weltkriegs
Während das amtliche Kriegswerk, deſſen Ausgabe bei dem Umfang des zu ſichtenden und zu
verarbeitenden Materials ſich naturgemäß verzögern mußte, ſoeben feinen Eintritt in die Kriegs;
literatur vollzogen hat, geht ein anderes, ihm ſchier ebenbürtiges, groß angelegtes Werk, auf das
ich ſchon mehrfach lobend und empfeblend hinweiſen durfte, dem Abſchluß entgegen, nämlich
„Der große Krieg 1914-18 in zehn Bänden, herausgegeben von Generalleutnant Schwarte
(im Verlag von Ambroſius Barth, Leipzig und acht weiteren Verlegern). Von dieſem monu-
mentalen Werk, das im Gegenſatz zur obengenannten amtlichen Veröffentlichung neben den mili-
täriſchen auch politiſche, wirtſchaftliche und organiſatoriſche Fragen in Darftellungen ſachkundiger
Mitarbeiter eingehend erörtert und in dieſer Hinſicht vielleicht einzig daſteht, iſt gleichfalls Ende
Dezember 1924, der dritte Teil des dritten Bandes, „Oer deutſche Landkrieg. Dom Winter
1916 / 17 bis zum Kriegsende“ (694 S.), erſchienen, womit die Darſtellung des deutſchen Land-
kriegs ihren Abſchluß gefunden hat. Er umfaßt den Abſchnitt der Kriegführung durch die dritte
Oberſte Heeresleitung vom Herbſt 1916 bis zum Kriegsende und behandelt beſonders eingehend
die deutſchen Angriffe des Jahres 1918, die die Kriegsentſcheidung hätten bringen ſollen. Auch
dieſes Werk verlegt den Schwerpunkt auf ſtreng ſachliche Darſtellung der Ereigniſſe und ver⸗
meidet im allgemeinen ätzende Kritik; lediglich die aus der Feder des rühmlichſt bekannten Mili-
tärſchriftſtellers Generals von Zwehl ſtammenden Betrachtungen über die Schlußkämpfe und das
Ende des Krieges an der Weſtfront enthalten zahlreiche kritiſche Bemerkungen, die aus fo berufe;
nem Munde doppelt wertvoll ſind. General von Zwehl hat auch eine kurze Schlußbetrachtung
über den Geſamtverlauf des Krieges angefügt, in der die Hauptereigniſſe des 51 Monate wab-
renden furchtbaren Ringens nochmals kurz in die Erinnerung zurückgerufen werden.
Der öͤſterreichiſch· ungariſche Generalſtabschef Feldmarſchall Conrad Freiherr von Hötzendorf
hat den von mir bereits früher beſprochenen drei Bänden „Aus meiner Oienſtzeit 1906—18“
den vierten Band folgen laſſen, der die Ereigniffe vom Beginn des Krieges bis zum 30. Sep-
tember 1914 behandelt und deshalb beſonderes Intereſſe beanſpruchen darf. (Rikola-Verlag,
Wien-München 1923, 956 S.) Dieſe Aufzeichnungen, die ein kriegsgeſchichtliches Urkundenwerk
erſten Ranges und für das Studium des Weltkrieges unentbehrlich find, haben in deutſchen Mili-
tärkreiſen vielfach unliebſames Aufſehen erregt und teilweiſe ſehr abfällige Beurteilung erfahren,
weil Conrad einen Briefwechſel mit ſeinem Freund, dem Generaladjutanten Freiherrn von
Bolfras, veröffentlicht, in dem er die Deutſchen wiederholt bezichtigt, die getroffenen Verein-
barungen nicht eingehalten und die Oſterreicher ſchmählich im Stiche gelaffen zu haben. Diefe
Vorwürfe find, wie ich vorweg bemerken möchte, ungerecht und ungerechtfertigt. Ich möchte aber
deswegen doch nicht mit Conrad allzuſcharf ins Gericht gehen, denn es iſt ihm tatfadlid von
Moltke reichlich viel verſprochen worden, was dann unter dem Zwang der Verhältniffe nicht ge-
halten werden konnte; auch muß man beridfidtigen, in welch geſpannter Lage, in welch kritiſcher
Zeit und unter welchem ſeeliſchen Druck dieſe ganz intimen Briefe geſchrieben worden ſind.
Einem guten alten Freund gegenüber wird da nicht jedes Wort auf die Goldwage gelegt. Fb
mochte dieſe in größter Erregung geſchriebenen Briefe nicht allzu tragiſch nehmen, zumal ihnen
der Schein einer gewiſſen Berechtigung nicht ganz abgeſprochen werden kann; immerhin wäre
ihre Veröffentlichung im Intereſſe des beiderſeitigen guten Einvernehmens zwiſchen den beiden
Bruderſtämmen vielleicht beſſer unterblieben. Im übrigen gewinnt man auch aus dieſem Bande
wieder einen ſehr günftigen und ſympathiſchen Eindruck von der Perſönlichkeit Conrads als
Menſch ſowohl, wie auch als Feldherr. Insbeſondere gelingt es Conrad, ſich von dem bisher gegen
ihn erhobenen Vorwurf des gänzlich verfehlten erſten öſterreichiſchen Aufmarſches, der die Ur-
ſache weiterer Mißerfolge geworden iſt, zu reinigen. Wir ſehen, daß Conrad durchaus richtige und
geſunde ſtrategiſche Anſichten über die Führung der erſten Operationen in einem Sweifronten-
krieg gegen Serbien und Rußland hatte und ſich auch darüber klar war, daß in dieſem Falle der
Schwerpunkt gegen Rußland lag. Die Umſetzung dieſer Anſichten in die Tat iſt aber durch Fehler
der politiſchen Leitung erſchwert und verhindert und teilweiſe auch durch Intrigen Potiorets,
Streitfragen bes Weltkriegs 425
des Führers gegen Serbien, und vom Auswärtigen Amt (Berchthold) abſichtlich durchkreuzt
worden. Unbegreiflicherweiſe hielt Graf Berchthold noch Ende September 1914 wegen Zul-
gariens und Rumäniens einen Erfolg in Serbien für wichtiger als in Galizien. Dieſer Meinungs-
unterſchied aber war die verderbliche Urſache des Zurüdhaltens ſtarker Kräfte in Serbien und
der Selbftändigftellung Potioreks, die Conrad die einheitliche Leitung der Operationen ſehr er-
ſchwert hat. Zuſtimmen kann man Conrad auch, daß noch nie ein Krieg unter fo zerfahrenen Ver⸗
hältniſſen begonnen worden ift wie 1914 in Ofterreid-Ungarn — leider auch im Oeutſchen
Reich — und daß, wenn Öfterreich und Deutſchland den Krieg gegen Rußland gewollt hätten,
wie unſere Feinde noch immer behaupten, ſie ſich hierüber und über die erſten Operationen ganz
anders verſtändigt und niemals zugelaſſen hätten, daß ſo ſtarke Kräfte gegen Serbien eingeſetzt
wurden, wie tatſächlich geſchehen. Intereſſant iſt auch die Feſtſtellung, daß man aus Berichten
Cyernins bereits Mitte Juli wußte, daß Rumänien Oſterreich im Stich laſſen würde, daß aber
dann Rumänien Mitte September gegen Abtretung Suczawas doch zum Eingreifen bereit ge-
weſen wäre, was aber am Widerſtand Ungarns ſcheiterte. Conrad tritt in feinem Buch vor allem
als Vollblut ſterreicher in die Erſcheinung, und von dieſem Geſichtspunkt aus muͤſſen feine Aus-
führungen gewertet werden. Er war trotz aller Verſtimmungen, die nicht immer unberechtigt
waren, ein treuer Freund der deutſchen Sache und trotz mancher Mängel doch wohl der genialſte
unter den oberſten Heerführern der verbündeten Mächte in den erſten Kriegsjahren. Der Ver-
lauf der Ereigniffe hat gelehrt, daß bei den zahlreichen Meinungsverſchiedenheiten mit Falken;
hayn Conrad meiſt im Recht geweſen iſt.
Auch General Hoffmann, einer unſerer geiſtreichſten und befähigtſten Generalſtabsoffiziere,
die rechte Hand Ludendorffs und fpdter des Oberbefehlshabers im Oſten, erkennt die Genialität
Conrads in ſeinem leſenswerten Buch „Der Krieg der verſäumten Gelegenheiten“
(Verlag für Kulturpolitik, München) voll an. In dieſem Buch wird die Frage geſtellt: War es nötig,
daß wir den Krieg verloren und welche Perſönlichkeiten oder Verhältniſſe waren ſchuld daran,
daß wir ihn verloren haben? Wie ſchon der Titel beſagt, iſt der Verfaſſer nicht der Anſicht, daß
der Krieg für die Mittelmächte verloren gehen mußte, worin man ihm nur beiſtimmen kann. Daß
er trotzdem verloren wurde, war die verhängnisvolle Folge einer Reihe ſchwerer Verſäumniſſe
militäriſcher und politiſcher Art, die in geiftvoller und auch für den Nichtfachmann leicht verftänd-
licher Weiſe beleuchtet werden. Soweit der Often in Betracht kommt, kann General Hoffmann
wohl als der maßgebendſte Fachmann auf dieſem Kriegsſchauplatz angeſehen werden, und auch
feine Ausführungen über die Friedens verhandlungen in Breft-Litowft, an denen er bekanntlich
beteiligt war, wird man mit Gntereffe leſen. Seiner mitunter recht ſcharfen, ja ſchroffen Kritik
der Operationen des Jahres 1918 im Weſten, bei der die Kräfte nicht einheitlich und nicht glüd-
lich eingeſetzt wurden, muß ich mich leider größtenteils anſchließen. Die mit großem Selbjtbewußt-
ſein und nicht minder großer Schärfe vorgetragene Kritik Hoffmanns hat in manchen militäriſchen
Kreiſen Ablehnung erfahren; gleichwohl bietet das Buch ſehr viel des Intereſſanten und bildet
eine Ergänzung der bisher erſchienenen kritiſchen Abhandlungen über den Weltkrieg.
Zu den wertvollſten Erſcheinungen auf letzterem Gebiet iſt das kürzlich herausgegebene Buch
des Generalleutnants Kabiſch, „Streitfragen des Weltkriegs“ (Bergers Liter. Bureau,
Stuttgart 1924, 400 S.) zu zählen. Der Verfaſſer, der den Krieg in hervorragenden General-
ſtabsſtellungen mitgemacht hat und außerdem die geſamte Kriegsliteratur in ſeltener Weiſe be;
herrſcht, erörtert die Feldzugspläne, den Fall Prittwitz, die Strategie Conrads, den Marnefeld-
zug, Saloniki, Verdun, die Märzoffenſive 1918 und ſonſtige militäriſche Streitfragen, bei denen
die Meinungen noch vielfach ſtark auseinandergehen. Er wendet hiebei ein eigenartiges, ſehr emp;
fehlenswertes Verfahren an, indem er die in der Kriegsliteratur zutage getretenen Anfichten
gegenüberftellt, beſpricht und dann in einer Schlußbetrachtung ſelbſt dazu Stellung nimmt.
Indem auf dieſe Weiſe dem Leſer die behandelten Fragen von allen Seiten beleuchtet werden,
wird er zur Bildung eines eigenen Urteils angeregt. Die von Kabiſch gemachten Vorſchlaͤge über-
424 Streitfragen des Weltkriegs
raſchen vielfach durch ihre Neuheit und Eigenart. Trotz der bereits vorhandenen umfangreichen
Literatur erfahren wir auch noch manches Neue, fo daß das öͤſterreichiſch- ungariſche Heer in
Galizien zu Kriegsbeginn dem ruſſiſchen zahlenmäßig keineswegs unterlegen war; überraſchend
iſt auch die Verurteilung des Handſtreichs auf Lüttich. Aber Prittwitz, den der Verfaſſer übrigens
ausgezeichnet charakteriſiert, und die erſten Operationen im Oſten erfährt man auch manches,
was bisher noch nicht allgemein bekannt war. Ganz ausgezeichnet find die Ausführungen über
die Operationspläne und die Verwäſſerung des genialen Schlieffenſchen Planes (der uns ſicher
zum Sieg geführt hätte) durch Moltke und feine unfähigen Gehilfen, desgleichen die Betrach-
tungen über die große Offenſive im März 1918, deren ſcharfe Kritik berechtigt ift. Dagegen vermag
ich dem gemachten Vorſchlag, die letzte große Entſcheidung 1918 in der ſtrategiſchen Defenfive
zu ſuchen, keinerlei Geſchmack abzugewinnen, und auch die beigegebene eingehende Begründung
kann mich nicht davon überzeugen, daß wir auf dieſe Weiſe den Endſieg hätten erringen können.
Ebenſowenig kann ich auch Kabiſch in feiner Verurteilnng der erſten öſterreichiſch- ungariſchen⸗
Offenfive gegen die Ruffen zuſtimmen; er ſteht hiemit ziemlich vereinzelt da, und auch das amt-
liche Werk des Reichs archivs betont, daß dieſe Offenſive unter den gegebenen Berhaltniffen durch
aus richtig, ja notwendig und auch keineswegs ausſichtslos war. Zu beanſtanden iſt lediglich die
Art der Durchfuhrung am rechten Flügel bei Lemberg, wo Zuruͤckhaltung geboten war, durch
die 3. Armee Brudermann. Das Verhalten Brudermanns iſt auch von Conrad ausdrücklich miß-
billigt worden, und er iſt bald darnach auf Antrag Conrads ſeines Poſtens enthoben worden.
Noch weniger kann ich dem ungemein ſcharfen Urteil Rabifd’ über Conrad zuſtimmen, dem er
geradezu jede Befähigung zum Feldherrn abſpricht. Hierin geht Kabiſch m. E. entſchieden zu
weit, und ſein Urteil ſteht auch im Gegenſatz zu dem der weitaus überwiegenden Mehrzahl recht
maßgeblicher Kritiker. Eine gewiſſe Voreingenommenheit gegen Conrad tritt unverkennbar zu-
tage und ſcheint durch deſſen Bolfras-Briefe (f. oben) hervorgerufen zu fein. Gleichwohl ſtehe ich
nicht an, das Buch Kabiſch' als eine der vorzüͤglichſten Erſcheinungen der Kriegsliteratur zu be-
zeichnen. f
Nicht minder bedeutend und wertvoll ſcheint uns ein Buch zu ſein, das der Feder des weithin
rũhmlichſt bekannten Militärſchriftſtellers Generalleutnant Otto v. Moſer entſtammt: „Ernit-
hafte Plaudereien über den Weltkrieg. Eine kritiſche militärpolitiſche Geſchichte des Rrie-
ges für Fachleute und Nichtfachleute. Zur Ridfdau in die Vergangenheit und zur Ausſchau in
die Zukunft.“ (Belſerſche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1925, 463 S.) Das Buch möchte, wie
der Verfaſſer in einer Militärzeitfchrift ausgeführt hat, nicht nur feinem Inhalt nach vor der
ſtrengen Kritik des militäriſchen Fachmannes und Hiſtorikers beſtehen, ſondern auch ſeiner Form
nach den militärifhen Nichtfachmann zu ſtrategiſch-politiſchem Mitſtudium einladen und anregen.
Und zwar deshalb, um die gebildeten deutſchen Volksgenoſſen, insbeſondere die politiſchen und
geiſtigen Führer aus der ſtrategiſchen Unmündigkeit und Urteilsloſigkeit herauszureißen, in der
fie alle den Weltkrieg miterlebt haben. General v. Mofer iſt bekannt durch die Schärfe und Rlar-
beit feines Urteils. Tiefer Ernft und warmes vaterländifhes Empfinden durchziehen feine Schrift,
deren eingehende Beſprechung vielleicht fpdter noch moglich iſt. Ich möchte dieſes Buch von
allen andern in erſter Linie jedem Nichtfachmann zur Beſchaffung warm empfehlen.
Schließlich ſei noch eines kleinen Buches gedacht, an dem nicht achtlos vorbeigegangen werden
kann: „Kaiſerliche Eingriffe in die Veltkriegsführung“ von Rudolf Wagner (Verlag
Thalacker & Schwarz, Leipzig 1924, 268 S.). Das Buch ift von einem anſcheinend national ge-
ſinnten Manne geſchrieben und enthält manche treffende Bemerkung, daneben aber fo viel un-
gereimtes Zeug und zahlreiche Behauptungen, die völlig unbewieſen, unhaltbar oder von einer
wiſſenſchaftlichen hiſtoriſchen Kritik längſt widerlegt ſind, daß nur davor gewarnt werden kann,
alle Angaben diefes Buches für bare Münze zu nehmen. Der Berfaffer will den Nachweis er-
bringen, daß der Raifer wiederholt zugunſten Englands und zu unſerem Nachteil in die Krieg;
führung eingegriffen habe, fo in der Marneſchlacht, bei Apern 1914 und bei anderen Gelegen
Streitfragen des Welttriege 425
heiten. Man mag zu Raifer Wilhelm II. ſtehen wie man will, aber die Gerechtigkeit gebietet doch,
feſtzuſtellen, daß auf Grund fachlicher Nachprüfung keiner der vielen Falle aufrechterhalten
werden kann, in denen der Raifer in unzuläſſiger Veiſe in die Kriegshandlung eingegriffen haben
ſoll. Sie fallen vielmehr allemal auf das Schuld konto der betreffenden oberſten Heeresleitung,
und man muß billigerweiſe vielmehr anerkennen, daß der Kaiſer als oberſter Kriegsherr eine
Zurückhaltung geübt hat, wie man fie vor dem Krieg nie von ihm erwartet hatte. Lediglich in der
Frage des Einſatzes der Rampfflotte kann vielleicht von einer gewiſſen Einflußnahme des Kaiſers
geſprochen werden. Zahlreiche Kritiker, beſonders aus Marinekreiſen, haben es als einen ſchweren
Fehler bezeichnet, daß die Hochſeeflotte nicht bald nach der Kriegserklärung zur großen Seeſchlacht
gegen England eingeſetzt wurde. Fh mochte dem General v. Zwehl (Schwarte, S. 655) beipflichten,
daß bei der Überlegenheit Großbritanniens an Hilfsquellen und Referven auch ein allenfallfiger
Seeſieg über die engliſche Flotte zu Kriegsbeginn die allgemeine Lage auf die Dauer wohl kaum
entſcheidend hätte beeinfluſſen können. Die Vorwürfe Wagners find größtenteils in das Gebiet
der Phantaſie zu verweiſen; einzelne gute Gedanken verkümmern unter dem Wuſte der Gehäſſig⸗
keit, und das Buch als Ganzes iſt daher abzulehnen.
Der für dieſen Aufſatz verfügbare Raum geſtattet es leider nicht, ſämtliche militäriſchen
Streitfragen des Weltkriegs auch nur in Kürze zu behandeln. Ich nenne hier vor allem die
Fragen der Feldzugspläne, Weft- oder Oſtaufmarſch, Moltkes Anderungen am Schlieffenplan,
den Marnefeldzug, den Fall Prittwitz, die Verabredungen mit Oſterreich, Conrads Offenfive
in Galizien, die Führung der Operationen im Oſten, Saloniki, Verdun, den italieniſchen Feld
zug 1917 und die Schlußoffenſive 1918. Hierüber wäre unendlich viel Wichtiges und Intereſſantes
zu fagen. Ich muß mich leider darauf beſchränken, hievon nur einige beſonders wichtige Probleme
herauszugreifen und kann auch dieſe nur kurz ſtreifen.
Die Frage, ob zu Kriegsbeginn die Hauptkräfte gegen Often oder Weſten einzuſetzen
waren, kann nunmehr zugunſten des Weſtaufmarſches als entſchieden gelten. Hieriiber beſteht
unter den ſachverſtändigen militäriſchen Fachkritikern Übereinftimmung. Die hiefür ſprechenden
Griinde werden beſonders klar und überzeugend von Kabiſch entwickelt, der auch den Nachweis
erbringt, daß der Hauptſchlag gegen Rußland neben anderen gewichtigen Gründen, die dagegen
ſprachen, ſchon rein techniſch wegen der Nachſchubſchwierigkeiten unmöglich geweſen wäre.
Ebenſolche Einmütigkeit herrſcht in der geſamten Kritik darüber, daß Schlieffens Opera-
tionsplan, deſſen grandioſe Einfachheit und Größe immer mehr in die Erſcheinung tritt, uns
unbedingt zum Siege geführt haben wuͤrde, wenn er von Moltke befolgt worden wäre, zumal
der franzöͤſiſche Aufmarſch und Joffres Operationsplan mit dem Gedanken eines Durchbruchs
zwiſchen Diedenhofen und Dinant denkbar ungeſchickt und für die Deutſchen beſonders günftig
war. Wirkſamer konnte der Feind einem deutſchen Waffenerfolg großen Stils kaum in die Hand
arbeiten, und die franzöſiſche Kräftegruppierung bot dem Schlieffenplan die größten Ausſichten
des Gelingens. Leider iſt dieſer Schlieffenplan von feinem unfähigen Nachfolger in der bedent-
lichſten Weiſe verhunzt und verwäͤſſert worden, fo daß von dem großen Gedanken Schlieffens
— alle Kräfte auf den rechten Flügel — kaum noch viel übrig blieb. Sowohl Kabiſch wie das amt-
liche Werk des Reichs archivs führen dies in ſehr klarer und überzeugender Weiſe aus und liefern
den Nachweis, daß Moltke ſich die Grundgedanken Schlieffens eigentlich nie fo recht innerlich zu
eigen gemacht hat. Denn während bei Schlieffen das Kräfteverhältnis des rechten zum linken
Flügel 7:1 iſt, wird es von Moltke auf etwa 3:1 herabgebrüdt und dem Entſcheidungsfluͤgel da-
durch die überwältigende Stoßkraft genommen. Völlig verlaſſen wurde dann der große Gedanke
Schlieffens von der Oberſten Heeresleitung (O. 9. L.), die höchſt unglücklich zuſammengeſetzt war,
und in ber niemand war, der den ſchwachen Moltke ſtützen oder ergänzen konnte — auch Stein
verſagte völlig —, am 22. Auguft 1914 nach der Schlacht in Lothringen. Bisher war man vielfach
der Anſicht, daß die Fortſetzung der Kämpfe in Lothringen und das nutzloſe Anrennen gegen
Nancy und Epinal auf das Schuldkonto des Armeeoberkommandos (A. O. K.) der 6. Armee,
42 Streitfragen des Welttrieas
Prinz Rupprecht von Bayern, zu ſetzen ſeien. Das amtliche Kriegswerk bringt hierüber vollſte
Aarheit und reinigt das A. O. K. 6 von dieſem Verdacht. Nicht das A. O. K. 6 ift ſchuld, ſondern die
O. H. L., die die Fortſetzung der Verfolgung nach Süden ausdrücklich befohlen hatte, während
Prinz Rupprecht und fein ausgezeichneter Generalſtabschef, General Krafft von Oellmenſingen,
im Schlieffenſchen Sinne die 6. Armee zu anderweitiger Verwendung auf dem rechten Flügel
bereithalten wollten. Sie hatten richtig erkannt, daß es nach dem Sieg in Lothringen Zeit war,
die Operation dort abzubrechen und die Haupttrdfte der 6. und 7. Armee auf den Entſcheidungs;
flügel zu führen. Statt deſſen kam die O. H. L. zu dem ganz unverftdndliden und geradezu wahn-
witzigen Entſchluß, die Verfolgung nach Suden fortzuſetzen und gegen die franzöfifche Befefti-
gungslinie von Nancy —Epinal mit noch dazu ganz unzulänglichen Kräften anzurennen, ein Be-
ginnen, vor dem Schlieffen ſtets eindringlichſt gewarnt hatte. Damit beginnt die Unglücks kette
und das Verhängnis für die Deutſchen. Erſt auf einen ſcharfen Proteſt Kraffts hin wurde am
26. Auguſt, nachdem Ströme von Blut nutzlos gefloſſen waren, das ganz verfehlte Unternehmen
eingeſtellt. Nicht die Marneſchlacht, wie vielfach geglaubt wird, iſt der erſte Nagel zum Sarg, in
dem wir unſere Siegeshoffnungen begraben durften, ſondern obengenannter Entſchluß der
O. H. L. vom 22. Auguſt zur Fortſetzung der Kämpfe in Lothringen. Dies iſt viel zu wenig bekannt
und ſoll hiemit nachdrücklichſt feſtgeſtellt werden.
Aber auch am 26. Auguſt kam die O. 9. L. noch nicht zu dem einzig richtigen Entſchluß, die über-
ſchüſſigen Kräfte der 6. und 7. Armee an den entſcheidenden rechten Flügel zu verſchieben, ob
wohl das Eifenbahnmaterial hiefür bereitſtand, wie General Gröner in den „Preuß. Jahr
bũchern“ (Januar 1925) berichtet, ſondern es wurden im Gegenteil durch den Abtransport
zweier Armeekorps nach dem Oſten dem Entſcheidungsflügel auch noch Kräfte entzogen.
Dieſe überaus unglückliche Maßnahme wurde, wie Kabiſch berichtet, vom Generalquartiermeiſter
Stein, auf den man im Frieden, ebenſo wie auf den Generalv. Bülow (2. Armee) große Hoffnungen
geſetzt hatte, und die dann beide leider verſagten, angeregt. Das amtliche Kriegswerk berichtet,
daß noch vor dem endgültigen Abtransport dieſer Korps bei der O. 9. L. Bedenken auftauchten
und die Frage brennend wurde, ob ſie nicht doch noch anzuhalten ſeien, um dem Weſtheer als
Reſerve zu folgen. Leider konnte fi aber Moltke zu dieſem einzig richtigen Entſchluß nicht auf-
raffen. Die Gründe find nicht recht erſichtlich geworden; Moltkes Abneigung gegen Gegenbefehle
ſcheint hiebei den Ausſchlag gegeben zu haben. Das Studium des erſten Bandes des amtlichen
Werks drängt uns die traurige Überzeugung auf, daß die erſte O. H. L. die Hügel dort, wo eine
ſtraffe Zügelführung notwendig geweſen wäre, nämlich bei den Armeen des rechten Flügels,
völlig ſchleifen ließ, und daß, wie Kabiſch richtig bemerkt, vom 27. Auguſt ab eigentlich überhaupt
kein Operationsplan mehr beſtand. Denn das nackte Hinterherlaufen hinter dem Feinde kann
man doch nicht ſo nennen.
Erfreulicher find die Eindrüde, die man beim Studium des zweiten Bandes des amtlichen
Werkes gewinnt. Ein breiter Abſchnitt iſt der Schlacht von Tannenberg gewidmet, wo ein
ſtarker Führerwillen und überlegene Führungskunſt den Ruſſen ein „Kannä“ im Geiſte Schlief-
fens bereiteten. Die vielfach verbreitete, irrige Meinung, daß dieſe Schlacht nach einem vorbebach-
ten feſten Plane geſchlagen worden fei, wird allerdings berichtigt werden muͤſſen. Die achttägige
Schlacht ſetzt ſich vielmehr aus einer Reihe räumlich und zeitlich getrennter, von den einzelnen
Armeegruppen felbftdndig durchgeführter Einzelgefechte zuſammen, bei denen mit Front nach
allen Himmelsrichtungen gekämpft wurde und ſich böchft wechſelvolle Zwiſchenfälle ergaben.
Die oberſte Führung konnte hier nur von Fall zu Fall das Zweckentſprechende befehlen, um
unter Feſthaltung eines großen Grundgedankens die Sache zum großen Enderfolg zu geſtalten
und ausreifen zu laſſen. Die Führung iſt hiebei auf deutſcher Seite dadurch erheblich erleichtert
worden, daß es möglich war, die ruſſiſchen Funkſprüche mitzuleſen. Die Hauptſchwierigkeit beim
Kriegführen beſteht ja zumeiſt in der Ungewißheit darüber, was der Gegner tun wird. Auch iſt
der jener Schlacht zugrunde gelegte große Gedanke nicht das Verdienſt eines einzigen Mannes,
Streltfragen bes Welttriegs 427
ſondern er reifte, wie in dem amtlichen Wert ſehr intereſſant entwickelt wird, faſt gleichzeitig bei
den verſchiedenſten Stellen, und die hiezu erforderlichen Truppen bewegungen waren beim Ein-
treffen Hindenburgs im Oſten bereits in die Wege geleitet worden. Man wird daher auch dem
damaligen 1. Generalſtabsoffizier (Ja) beim A. O. K. 8, Oberſtleutnant Hoffmann, einen Anteil
am Erfolge zuſprechen dürfen, ohne hiebei zu vergeſſen, daß die Verantwortung auf dem Ober-
befehlshaber allein laſtet und ihm daher auch allein die Ehre des Erfolgs gebührt. So war es
wenigſtens im deutſchen Heer bisher Sitte. Eine Ausnahme hievon wurde erſt im Auguſt 1916
gemacht, als auch dem 1. Generalquartiermeiſter die Teilnahme an der Verantwortung für die
Sefamtleitung neben dem Generalſtabschef des Feldheeres ausdrücklich zugeſprochen wurde.
Gegenüber den von Conrad in ſeinem IV. Band erhobenen ungeheuerlichen Vorwürfen iſt es
erfreulich, daß auch das amtliche Werk die Frage der mit Öfterreich getroffenen Verab-
redung en eingehend beſpricht. Man gewinnt hiebei leider allerdings den Eindruck, daß Moltke
Conrad reichlich viel verſprochen hat, und daß es in ſehr bedauerlicher Weiſe verfäumt worden iſt,
in dieſer wichtigen Frage feſte und vor allem klare Abmachungen zu treffen. Ich kann mich des
unbehaglichen Eindrucks nicht erwehren, daß man auf deutſcher Seite wie die Katze um den heißen
Brei um dieſe heikle Frage herumgegangen iſt, ohne Conrad darüber reinen Wein einzuſchenken,
daß, ſolange ſtarke ruſſiſche Armeen an der Oſtgrenze Oſtpreußens ſtehen, von den von ihm ge-
wünfchten Vorſtoß über den Narew, Richtung Siedlee, niemals die Rede fein könne, und daß
daher vorausſichtlich mindeſtens einige Monate verſtreichen dürften, bis dieſer Fall möglich fein
würde. Bei einiger Überlegung hatte ſich dies Conrad allerdings ſelbſt fagen müffen, und man
möchte beinahe in dieſer Hinſicht an ſeinen ſtrategiſchen Fähigkeiten zweifeln, wenn man ſich nicht
fagen müßte, daß er im Hinblick auf die von Moltke gemachten recht unvorſichtigen Zuſagen ab-
ſichtlich die Augen hievor verſchloſſen hat. Der grundlegende Brief Moltkes, auf den ſich Conrad
ſtuͤtzt, iſt vom 19. März 1909 und verſpricht einen Angriff ſchwacher deutſcher Kräfte gegen die
Narew- Linie, trotz der beſtehenden Schwierigkeiten und abweichender Grundauffaſſung Moltkes.
Moltke fährt hiebei wörtlich fort: „Oennoch werde ich nicht zögern, den Angriff zu machen, um
die gleichzeitige öſterreichiſche Offenſive zu unterftiigen. Eure Exzellenz können ſich auf dieſe
Zuſage, die reiflich überlegt iſt, wohl verlaſſen.“ Es folgt dann allerdings gleich darauf
die Einſchränkung, daß für den Fall, daß der Feind die Ausführung unmoglich machen würde,
ſchnellſte Benachrichtigung geboten ſei. Diejer Fall war aber von Haus aus der normale und hätte
daher zum Ausgangspunkt der Verabredungen genommen werden muͤſſen. Rein ſachlich war
ja die deutſche O. 9. L. vollkommen im Recht; ein Vorſtoß fiber den Narew war, ſolange Rennen
kampf in Oftpreußen nicht geſchlagen war, vollendeter Wahnſinn. Das hätte ſich Conrad eigentlich
ſelbſt ſagen miffen. Sein Vorſchlag, 3 Divifionen gegen Rennentampf ſtehen zu laſſen und mit
den übrigen 9 Divifionen über den Narew vorzuſtoßen, iſt durchaus abwegig und hätte zu nichts
geführt, fondern das deutſche und öfterreichifche Oſtheer ſehr bald in die allerübelfte Lage gebracht.
Die Oeutſchen konnten im Often nicht anders und beſſer operieren, als unter Hindenburg ge-
ſchehen. Sie haben dadurch ſehr ſtarke, weit überlegene ruſſiſche Kräfte gebunden, ſchlleßlich ge-
ſchlagen und dadurch ihrer Buümdnispflicht weit beſſer genügt, als wenn fie der Aufforderung
Conrads fofort nachgekommen wären. Oer öſterreichiſche bevollmächtigte General im deutſchen
Sroßen Hauptquartier, Graf Stiirgth, verſuchte auch Conrad klarzumachen, daß es ſich nicht
darum handelt, daß die Deutfchen den Öfterreihern nicht helfen „wollen“, wie Conrad ſich ein-
bildete, ſondern daß fie einfach nicht können“. Vergeblich! Er erreichte dadurch nur, daß er bei
Conrad in Ungnade fiel und bald abgelöſt wurde. Conrad blieb unbelehrbar und ſandte im Auguſt
1914 nicht weniger als fieben dringende Hilferufe an die deutſche O. . L., obwohl er nach dem
beiderſeitigen Kräfteverhältnis zu Kriegsbeginn ſehr wohl die Ruſſen aus eigener Kraft hätte
ſchlagen können, wenn ihm Potiorek und Brudermann das Konzept nicht verdorben hätten.
Eine Tatſache, die allgemein auch viel zu wenig bekannt iſt. Erſt ſpaͤter wurde die Abermacht der
Ruffen erdruͤckend.
428 Streitfragen des Welttriegs
Zum Schluß noch einige Worte über die Märzoffenſive 1918, deren Scheitern die Rriegs-
entſcheidung ſchließlich gebracht hat. Für deren Beurteilung beſonders dienlich und wichtig, ja
ich möchte ſagen grundlegend, iſt ein von mir ſchon früher empfohlenes Büchlein: „Die März-
offenſive 1918“ von Major a. D. und Archivrat Otto Fehr (Koehler, Leipzig 1921, 48 S.),
das der ſonſt fo ſehr beleſene Generalleutnant Kabiſch merfwürdigerweife gar nicht zu kennen
ſcheint. Aus Schwarte erfahren wir, in welch umſichtiger, ſorgfältiger und peinlicher Weiſe diefer
letzte große Schlag, der vor dem Eintreffen namhafter amerikaniſcher Kräfte den Endſieg bringen
ſollte, erwogen und vorbereitet worden iſt. Daß der Entſchluß zur letzten großen Offenfive im
Weiten richtig war, wird kaum noch beſtritten. Das Kräfteverhältnis ſprach auch zugunſten der
Oeutſchen, die eine kleine Überlegenheit im Weſten hatten. Ein durchſchlagender Erfolg lag ſomit
ſehr wohl im Bereich der Möglichkeit. Umfaffende Waffenhilfe durch die Oſterreicher wäre er-
winfdt und moglich geweſen; fie ſcheiterte am Widerſtand Kaiſer Karls oder richtiger feiner Ge-
mahlin. Zum mindeſten hätten die Oſterreicher gleichzeitig in Italien losſchlagen ſollen und müf-
ſen. Statt deſſen rafften ſie ſich erſt im Zuni hiezu auf und zudem ſcheiterte ihre Offenſive infolge
verfehlter Anlage kläglich. Für die letzte entſcheidende Offenſive 1918 kamen zuletzt zwei Angriffs-
richtungen in engere Wahl. Die Heeresgruppe Prinz Rupprecht hatte vorgeſchlagen, den Haupt-
angriff nördlich Arras gegen die Engländer zu führen und bei Armentieres in Richtung Bailleuf-
Hazebrouck durchzubrechen, um fie gegen die Küſte und ins Meer zu werfen (Georg-Angriff),
während Ludendorff über die Linie Arras — La Fere vorbrechen wollte, um an der Nahtſtelle
der Franzoſen und Engländer bei Amiens durchzubrechen und ſodann im weiteren Verlauf
die Engländer über St. Pol-Doullens aufzurollen (Michael- Angriff). Der Hauptſtoß ſollte ſich
alfo gegen rechte Flanke und Rücken der Engländer richten. Beide Pläne haben ihre Vor; und
Nachteile, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Tatſächlich kam dann der Michael
Angriff zur Durchführung, und zwar durch die 17., 2. und 18. Armee. (Ich darf hiewegen auf
die Skizze im Farmer 1921, S. 394, verweiſen.) Der dem Angriff zugrunde liegende Gedanke
war im allgemeinen gut und hätte zum Erfolg führen können, wenn er nur zäh feſtgehalten wurde.
Dagegen bietet die Ausführung, vor allem die Kräftegruppierung und Verwendung der Referven,
Anlaß zu berechtigten Bemängelungen, die denn auch bei Kabiſch und Hoffmann folgerichtig,
klar und überzeugend entwickelt werden. Ebenſo geben die Kommanboverhältniffe zu ſchweren
Bedenken Anlaß und find m. E. der Urgrund, weshalb die Operation nicht in den gewollten Bah⸗
nen lief und nicht zum Enderfolg führte. Es war ein Fehler, die drei Angriffsarmeen nicht „einem“
Heeresgruppentommando einheitlich zu unterſtellen; daß auch das Heeresgruppentommando
Kronprinz Wilhelm daran beteiligt war, ſollte ſich als verhängnisvoll erweiſen. Es wäre richtiger
geweſen, die Führung der Offenſive dem Prinzen Rupprecht (Generalſtabschef v. Kuhl) allein
zu übertragen, und ich habe die Überzeugung, daß in dieſem Falle der Endſieg errungen und der
Krieg vermutlich gewonnen worden wäre. Alles kam auf den letzten großen Wurf an. Man mußte
einen beſtimmten Plan haben und dementſprechend die Kräfte gruppieren. Da man bei Amiens
durchbrechen wollte, mußte der linke Flügel der 2. Armee ſtark gemacht werden und mußten
ſtarke Reſerven dahinter als Durchbruchsarmee bereitgeſtellt werden. Statt deſſen verfuhr man
gerade umgekehrt und machte jene Armee (18.) am ſtärkſten, der die am wenigſten entſcheidende
Rolle zufiel. Die Folgen blieben nicht aus. Die 18. Armee erzielte naturgemäß die raſcheſten Er-
folge und nun kommt das Furchtbare, was uns den Krieg verlieren ließ: unter dem Eindruck
dieſer Erfolge wirft die O. 9. L. ihren bisherigen guten Plan um; aus dem beabſichtigten Stoß
nach Nordweſten wird ein Doppelſtoß nach Nordweſten und Suͤdweſten. Die Armeen gehen
exzentriſch auseinander! Die Front bei Amiens, dem entſcheidenden Punkt, wird infolgedeſſen
immer dünner, zumal die Reſerven hinter der ganzen Front verzettelt, auch nicht am richtigen
Platze ſtehen. So erhielt der Angriff zwei Schwerpunkte, nördlich der Somme gegen die Eng-
länder und üblich der Somme gegen die Franzoſen. Dazu konnten die deutſchen Kräfte aber nicht
ausreichen.
An Ber Stenze bes Stoffes 429
Ole weitere Frage, ob es nicht vielleicht zweckmäßiger geweſen wäre, nach dem Mißlingen bes
Michael-Angriffs von weiteren Angriffen an anderer Stelle abzuſehen und das Heer in die mit
allen Kräften zu verftärtende Siegfriedftellung zurückzunehmen, um es bis zu den alsbald zu
beginnenden Friedens verhandlungen moͤglichſt intakt zu erhalten, iſt ſchwer zu beantworten.
Ich möchte jetzt letzteres wohl für richtiger halten. Doch dies iſt nachträgliche Stubenweisheit.
Das Studium der Geſchichte des Weltkriegs ſchafft uns die betrübende Erkenntnis, daß nicht
nur die politiſche Leitung, ſondern auch die oberſte militäriſche Führung unter Moltke und
Falfenhayn völlig, unter der dritten O. H. L. im entſcheidenden Augenblick verſagt hat. Um fo
heller erſtrahlt dafür die unvergleichliche Leiſtung der Truppe, beſonders in den erſten Kriegs-
jahren. Sie allein gibt uns unter den troſtloſen Verhältniſſen der Gegenwart die Hoffnung auf
einen Wiederaufſtieg unſeres Volkes. Denn ein Volk, das ſolche Leiſtungen aufzuweiſen hat,
kann nicht zum Untergang beſtimmt ſein. Franz Freiherr von Berchem
An der Grenze des Stoffes
er „Türmer“ brachte im November 1924 und Februar 1925 eine bemerkenswerte Zwie-
ſprache über das Thema, Atomtheorie und Materialismus“ zwiſchen den Herren Dr. See
liger und Dr. Metz. Jener hatte behauptet, daß die heutige Atomtheorie den Materialismus
endgültig erledige, weil mit ihr das Atom materielle Beſchaffenheit verlöre. Demgegenüber ſtellt
Dr. M. wohl mit Recht feſt, daß letzteres nicht zutrifft: auch mit den Elektronen uſw. bleiben wir
noch auf dem Boden der Materie, da wir fie als materielle Teilchen aufzufaſſen haben. Anderer
ſeits aber muß man doch wohl Dr. S. recht geben, inſofern wir mit der neuen Atomtheorie auf
dem Wege der „Entmaterialiſierung“ der Materie find, und dies ſcheint mir auch der tiefere
Sinn feines Gedankens zu fein. Hinwiederum iſt es eine durchaus berechtigte Forderung, wenn
Dr. M. auf ſcharfe Scheidung zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung und daher auch
zwiſchen Atomtheorie und Materialismus drängt. Das iſt es auch geweſen, was mich zu der
Begriffsſcheidung „Welt bild“ und Welt anſchauung“ und zur Gründung des darauf fußenden
Keplerbundes (1907) führte. Ebenſo richtig iſt die Feſtſtellung, daß die nee das
Gebiet der Materie betrifft.
Trotz alledem aber bleibt es doch noch zweifelhaft, ob nicht Dr. Seeliger Recht behalt oder
richtiger gefagt: Recht bekommen wird. Es fragt ſich nämlich, ob die Naturwiſſenſchaft nicht
einen metaphyſiſchen Hintergrund hat, und zwar deshalb, weil bie Materie ſelbſt letzten Grundes
„ metaphyſiſch“ oder beſſer geſagt dynamiſch begründet ift, wohlverftanden „dynamiſch“ und nicht
etwa, energetiſch“; denn die Energie liegt ja immer noch im Bereich der Materie, das Oynamiſche
aber, die Kraft, geht darüber hinaus, darf alſo wohl als „metaphyſiſch“ bezeichnet werden. Es
will mir nun aber ſcheinen — und damit hat denn Dr. S. recht —, als ob wir mit der neueſten
Atomtheorie doch ſchon auf dem Wege zur dynamiſchen Auffaſſung der Materie ſind, auch dann,
wenn wir die Elektronen noch als „materiell“ anfeben, fie ſtehen doch als elektriſche „Teilchen“
gewiſſermaßen auf der Grenze des Materiellen, und es fragt fh nur, ob nicht die weitere Ent-
wicklung der Wiſſenſchaft noch mehr in das Oynamiſche hineinführen wird.
Dies ſcheint in der Tat der Fall zu fein. Ich mochte im Folgenden von einer Unterſuchung
berichten, welche, wenn fie noch weiter beftätigt werden follte, was zu bezweifeln ich kaum
Anlaß habe, zu recht ſchwerwiegenden Folgerungen führen könnte, wie ich am Schluß noch
darlegen werde.
Wir gehen von der Frage aus: In welchem Grade der Verdünnung wirken kleinſte Stoff-
mengen noch? Man wird dabei fofort an die Homdopathie denken, die ja bekanntlich mit außer
ordentlich verdünnten Arzneien arbeitet. Sie wird daher oft verlacht. Iſt dies berechtigt? Eine
430 An der Grenze bes Stoffes
ſachliche, naturwiſſenſchaftliche Antwort wird vielen wertvoll fein; aber die Frage des erften
Satzes hat auch ſonſt ein allgemeines großes Intereſſe. Durch gewiſſe Unterſuchungen der
neueſten Zeit ſind wir beſſer als früher imſtande, fie zu beantworten.
Zunächſt ein Wort über die Verdünnung des Stoffes im allgemeinen. Man denkt dabei
vor allem an Löſungen, bei denen ja eine Verdünnung auf einfachſte Art vorzunehmen ift; aber
es gibt auch eine Methode der Verdünnung feſter Stoffe, die in der Homöopathie angewandt
wird, die fog. Derreibung. Es wird dabei eine kleine Menge eines feſten Körpers in Pulverform
mit einem anderen indifferenten Stoff (3. B. Milchzucker) längere Zeit maſchinell verrieben.
Indem man von dem entſtehenden Pulver wieder einen Teil mit dem betreffenden Stoff ver-
reibt, erhält man eine höhere Verdünnung uſw. Hier follen uns aber nur die verdünnten Lö-
jungen beſchäftigen und für ihre Benennung wählen wir die der Homöopathen, welche bei ihnen
folgendes Verfahren einſchlagen.
Wenn man l Gramm des betreffenden Stoffes, ſagen wir z. B. Kochſalz, in 9 Gramm Waſſer
auflöſt, fo erhalten wir die fog. 1. Potenz, die alſo auf 10 Gramm 1 Gramm Kochſalz enthält.
Wenn man von dieſer Löſung einen Raumteil mit 9 Raumteilen Waſſer ſchuͤttelt, enthält die
neue Löſung in 100 Teilen 1 Teil Kochſalz, es iſt die 2. Potenz. Verfährt man mit ihr wieder
ebenſo, ſchüttelt alfo einen Raumteil mit 9 Raumteilen Waſſer, fo enthält die entſtehende 3. Po-
tenz in 1000 Raumteilen 1 Teil Kochſalz, und fo geht es weiter, alſo:
die 1. Potenz iſt das Verdünnungeverhältnis 1:10,
die 2. „ „ „ = 1: 100,
die 35. „ „ „ 5 1: 1000.
Man ſieht, die Potenzen richten ſich nach der gaht der Nullen; fo iſt z. B. die 6. Potenz 1: 1000000,
d. h. eins zu einer Million, ebenſo die 9. Potenz eins zu einer Milliarde, die 12. Potenz eins
zu einer Billion. Es ift dies eine ſehr bequeme und klare Bezeichnung, weshalb wir fie für unſern
Zweck von den Homöopathen übernehmen.
Da der Laie mit ſolchen Zahlen gemeinhin nicht viel anfangen kann, fo iſt es gut, ſich dies ein;
mal räumlich zu veranſchaulichen:
die 3. Potenz enthält auf 1 Liter (1000 Gramm) = 1 Gramm Kochſalz,
die 6. Potenz „ „ 1000 Liter = 1 Gramm „
die 9. Potenz „ „ 1 Million Liter EAI l Gramm „
die 15. Potenz „ „ 1 Billion Liter = 1 Gramm „
1000 Liter find ein Kubikmeter. Denkt man ſich alfo einen Würfel von einem Meter Ranten-
länge, mit der 6. Potenz gefüllt, fo enthält dieſer nur 1 Gramm Kochſalz. Ein Würfel, der bei
der 9. Potenz 1 Gramm Kochſalz enthielte, müßte dagegen eine Kantenlänge von 10 Metern
haben. Ein Würfel endlich, der mit der 15. Potenz gefüllt ijt, muß, wenn er 1 Gramm Kochſalz
enthalten ſoll, eine Kantenlänge von einem Kilometer haben, d. h. er wäre etwa jo hoch wie der
Brocken.
Man kann es nun wohl keinem Laien verdenken, wenn er bei ſolchen Verdünnungen an keine
Wirkung mehr glaubt, welcher Art fie auch immer fein mag. Wenn aber auch naturwiſſenſchaft-
lich gebildete Männer die Möglichkeit einer Wirkung leugnen, fo muß man ſich wundern. Es
iſt doch nun einmal eine Tatſache, daß in dieſen Rieſenwürfeln noch Kochſalz vorhanden iſt,
wenn wir auch nicht wiſſen, in welcher Form. Weshalb ſollte denn da nicht doch noch irgend-
eine Wirkung möglich fein?
Oie Wirkungen, auf die es dabei ankommen kann, ſind vor allem chemiſche und phyſiologiſche,
jowie auch phyſikaliſche. Die chemiſchen „Reaktionen“, wie man fie nennt, laſſen ſich auch duger-
lich erkennen, vor allem an Niederſchlägen und Farbenänderungen, und dieſe dienen in der
chemiſchen Analyſe zur Erkennung und Auffindung der verſchiedenen Stoffe, da dieſe gemeinhin
verſchledene Reaktionen ergeben. Und da iſt nun eine intereſſante Frage, bis zu welchem Grab
der Verdünnung man noch Stoffe chemiſch nachweiſen kann. Das iſt naturlich für verſchledene
An der Grenze des Stoffes 431.
Stoffe ganz verſchieden; denn manche Reaktionen find empfindlicher als andere. Verfuche haben
nun ergeben, daß die chemiſche Reaktionsgrenze etwa bei der 10. Potenz liegt, d. h. es gibt
Stoffe, die man noch nachweiſen kann bei einer Verdünnung von 1:10 Milliarden, alſo wenn
in einem Würfel von mehr als 10 Meter Kantenlänge 1 Gramm der Subſtanz vorhanden iſt.
Eine phyſikaliſche Wirkung ijt hier aber noch feiner, nämlich bie fog. Spektralanalyſe, durch
ſie hat man noch Stoffe bei einer Verdünnung bis zur 15. Potenz nachgewieſen, alſo wie oben
dargelegt 1:1 Billion Liter oder bei einem Gehalt von 1 Gramm in einem Kubikkilometer. —
Wer ſich dies einmal klar gemacht hat, der wird dann doch wohl über die Wirkung kleinſter Stoff-
mengen nicht mehr ungläubig die Achſeln zucken.
Man kann ſich dies aber noch von einer andren Seite her klarmachen. Bekanntlich denkt man
ſich heute den Stoff aus Heinſten, mechaniſch nicht weiter teilbaren Teilchen, den Molekülen auf-
gebaut, die dann aber noch chemiſch aus Atomen beſtehen. Oieſe kleinſten Teile find auch für das
ſtaͤrkſte Miſkroſkop noch viel zu klein, und es erſcheint ſehr zweifelhaft, ob der Menſch fie je wird
direkt ſehen können; aber durch geniale Methoden iſt man inſtandgeſetzt, die Moleküle zu
zählen, und da hat man denn auf verſchiedenem Wege rechneriſch die Zahl der Moleküle im
Kubikzentimeter eines Gaſes feſtgeſtellt. Man fand die Zahl 27½ Trillionen (18 Nullen). Bei
einer Fluͤſſigkeit oder gar einem feſten Korper ijt die Zahl natürlich noch weit größer. Wir
wollen aber, um uns keine Übertreibung zuſchulden kommen zu laſſen, einmal dieſe Zahl, die
man nach ihrem erſten Berechner die Loſchmidtſche nennt, auch für ſolche Stoffe gelten laſſen.
Nit ihr können wir nun auch berechnen, wieviel Moleküle der betreffenden Subſtanz die einzelnen
Potenzen enthalten. Wenn bei der 6. Potenz 1000 Liter (oder 1 Million Kubikzentimeter)
1 Gramm Kochſalz enthalten, jo find dies alſo mindeſtens 27 Trillionen Molekule Kochſalz. Ein
einzelner Kubitzentimeter dieſer 6. Potenz enthält alfo V TT TMEM b. h. 27 Billionen Mole-
tile. Da ein Kubikzentimeter etwa aus 20 Tropfen beſteht, fo enthält ein Tropfen der 6. Potenz
noch weit über 1 Billion Moleküle. — Ebenſo erhält man für die 10. Potenz in einem Kubik⸗
zentimeter noch 2,7 Milliarden und in einem Tropfen 135 Millionen Moleküle. Da es auch für
die Grenze der ſpektralanalytiſchen Wirkung von Intereffe ift, jo fei dies auch für fie (die 15. Po-
tenz) berechnet. Ein Kubikzentimeter der 15. Potenz enthält noch 27000 Moleküle, ein Tropfen
noch 1350,
Kann man ſich da noch über Wirkungen kleinſter Stoffteile wundern, bzw. fie gar in Zweifel
ziehen?
Die Chemie hat nun auch die Frage beantwortet, in welcher Weiſe der Stoff in den Löfungen
enthalten iſt. Während man früher glaubte, der gelöfte Stoff ſei dem feſten ganz gleich, hat ſich
darin die Anſchauung ganz gewandelt. Heute glaubt man, daß bei der Löjung der Verband der
Atome im Molekül gelöft wird, fo daß ſich in der Löſung freie Atome, und zwar mit elektriſcher
Ladung befinden, ſolche Atome nennt man dann „Zonen“ und man ſagt, der Stoff iſt in der
Löſung „joniſiert“; Es hat ſich herausgeſtellt, daß die Joniſierung um fo ſtärker iſt, je verdünnter
die Löſung ift. Man kann alfo annehmen, daß ſich in den höheren Potenzen nur noch Atome
mit elektriſcher Ladung befinden. Um bei unferem obigen Beiſpiel zu bleiben: das Molekul
Kochſalz beſteht aus einem Atom Chlor und einem Atom Natrium (ein Metall). Es enthält dem-
nach ein Tropfen der 15. Potenz vom Kochſalz noch immer 2700 Atome, nämlich 1350 Chlor-
jonen und 1350 Natriumjonen, und zwar find jene negativ elektriſch und dieſe pofitiv elettrifd.
Die Möglichkeit einer beſondren Wirkung iſt damit alſo unbedingt gegeben. (Pie Jonentheorie
wurde neuerdings bezweifelt, doch iſt bisher wohl kaum Beſſeres an ihre Stelle geſetzt worden.)
Dies find ja nur theoretijche Erwägungen, die eben nur die Möglichkeit einer Wirkung kleinſter
Stoffmengen bartun, ihre Tatſächlichkeit muß das Experiment erweiſen. Bezüglich der chemiſchen
und phyfikaliſchen Wirkung hat, wie ſchon gejagt, die chemiſche und Spektralanalyſe den Beweis
bis zur 10. bzw. 15. Potenz erwieſen. Es ift natürlich nicht ausgefchloffen, daß einmal noch feinere
42 | ein det Grenze bes Etofks
Methoden gefunden werden, welche chemiſch- phyſikaliſche Wirkungen bis zur 20. Potenz Har
legen. Aber dann? |
Es gibt nun ja aber noch eine andere Wirkungsart, namlich die phyſiologiſche, d. h. auf den
menſchlichen Körper, bzw. allgemeiner auf Lebeweſen. Das iſt ja eben die von den homz opa
thiſchen Ärzten behauptete Heilwirkung ihrer potenzierten Arzneimittel. Theoretiſch wird man alſo
nach Obigem die mogliche Wirkung der Mittel wenigſtens bis zur 15. Potenz zugeben müffen.
Nun behaupten manche Arzte aber auch noch Wirkungen darüber hinaus, ſogar bis zur 100. und
200. Potenz. Da ift dann alſo ein ungläubiges Kopfſchuͤtteln doch wohl am Platze. Der Tat
fachen- und Erfahrungsbeweis der Homdopathen liegt darin, daß fie mit ſolchen Hochpotenzen
ihre Patienten geheilt zu haben glauben. Allein ein wirklicher, experimenteller Beweis iſt dies
doch nicht. Man wird dagegen immer wieder einwenden können, bie betreffenden Kranken
wären auch ohnedies geſund geworden, oder es fei eine Suggeſtipwirkung durch den Glauben
an die Heilwirkung uſw. Oer eigentliche experimentelle Nachweis der phyſiologiſchen Wirkung
kleinſter Stoffmengen ſtand bisher alſo noch aus. Kürzlich iſt nun aber eine Arbeit erſchienen,
welche denſelben in der Tat liefert, und zwar, wie es ſcheint, in kaum zu bezweifelnder Be
ſtimmtheit. Daß dieſe Arbeit von anthropoſophiſcher Seite und von Gedankengängen Stein ers
ausgeht, darf uns nicht abhalten, dies anzuerkennen. Wir wollen das Gute nehmen, woher es
auch kommt.
Weiter fortgeſetzte Berechnungen mit Hilfe der Loſchmidtſchen Zahl ergaben, daß theoretiſch
wenigſtens die Molekular- bzw. Atomwirkung etwa bei der 20. Potenz aufhören muß, weil dann
die Zahl der Atome fo gering wird, daß jene nicht mehr denkbar erſcheint.
Die Steinerſche Richtung hat in Stuttgart allerhand Inſtitute mit dem Gefamtnamen „Der
Kommende Tag“ gegründet, dabei auch neben einem Sanatorium auf mehr oder weniger
domdopathiſcher Grundlage ein biologiſches Laboratorium, und in dieſem hat Frau L. Kolis ko
ſeit Jahren ſehr mühfame Unterſuchungen zu unferer Frage angeſtellt. Über deren bisherige
Ergebniſſe berichtet fie nun in einer Arbeit „Phyſiologiſcher und phyfikaliſcher Nachweis der
Wirkſamkeit kleinſter Entitäten“. (Der Kommende Tag A.-G. Verlag, Stuttgart, 1923. 50 S.
3 Tafeln und 11 Abb.) Dieſe Unterſuchungen machen den Eindruck ernfter Wiſſenſchaft, und
ihr Ergebnis ijt in mehr als einer Richtung höchft beachtenswert, weshalb wir die kleine Schrift
allen, die ſich nach dem folgenden Bericht dafür intereffieren, zum eingehenden Studium feb-
haft empfehlen.
L. Kolisko hat Pflanzen unter fonft gleichen Umftänden gezogen und mit Salgldfungen
verſchiedener Potenz (von der 1. bis zur 30.) behandelt. Die Verſuche machten gunddft einige
Schwierigkeiten, einmal hinſichtlich der Auswahl des Saatguts, weil es natürlich darauf ankam,
Samenkörner mit gleicher Keimkraft und Wachstumsenergie auszuwählen. Daß dies abſolut
nicht möglich war, ift felbftverftändlih. In dieſem Punkt fei auf die Arbeit verwieſen. Des wei-
teren ſtellte ſich heraus — und dies iſt auch in theoretiſcher Hinſicht nicht ohne Intereſſe —, daß
die Potenzierung der benutzten Verdünnungen ſehr forgfältig vorgenommen werden mußte,
um gleichmäßige und gute Ergebniſſe zu erhalten. Es ergibt ſich daraus, daß der Vorgang des
Potenzierens keineswegs ein ſo einfacher iſt, wie man von vornherein anzunehmen geneigt
fein mochte, alſo nicht etwa lediglich ein Verduͤnnen, ſondern vielleicht ein noch Aber die Joni⸗
ſierung hinausgehender analytiſcher Vorgang, was für unſere theoretiſche Anſchauung vom Stoff
von hohem Zntereſſe fein oder werden könnte.
Als Verſuchspflanze wurde Weizen gewählt, es wurden je 30 forgfältig ausgeſuchte Weizen
körner in einen Blumentopf geſetzt und jeden zweiten Tag mit den potengierten Löſungen
begoſſen. Nach vierzehn Tagen wurden die Blätter und Wurzeln der Pflänzchen gemeſſen und
in einigen Verſuchen auch getrocknet und gewogen. Indem dann die Werte jeder der je dreißig
Pflanzen als Ordinaten auf Millimeterpapier eingetragen wurden, erhielt K. Kurven für jede
Potenz, die ſich dann miteinander vergleichen ließen und Schläffe auf die verſchiedene Wirkung
An der Grenze des Stoffes 435
der Potenzen erlaubten. Verwendet wurden von Salzen für bie Verſuche: Kupferdoppelſalz
(Kupferſulfat und Ammoniumnitrat), Eiſenvitriol (Eiſenſulfat) und Antimontrioxpd. Zur
Kontrolle wurden auch Verſuche mit reinem, deſtilliertem Waſſer gemacht.
Die Ergebniſſe waren auffallend übereinſtimmend wie auch auffallend in ihrer Art. Die mit
den potenzierten Löſungen behandelten Pflanzen zeigten durchweg ein ſtärkeres
Wache tum als die mit reinem Waſſer begoſſenen; und zwar ſtieg dies bis zu einer
gewiſſen Potenz, fiel dann bei der 15. oder 16. Potenz wieder ſehr ab, meift fogar
unter das Wachstum der Waſſerkontrolle, um dann aber wieber zu ſteigen und
vor der 30. Potenz zum zweitenmal zu fallen. Kolisko hat dies durch Kurven für jede
Potenz dargeſtellt, fo daß ſich eine aus dieſen Einzelkurven zuſammenſetzende Geſamtkurve
ergibt. Die Einzelkurven ſtellen alſo jedesmal die 30 Werte der 30 Pflanzen der Kultur einer
Potenz dar, daß dieſe unter ſich verſchieden find, beruht auf der fog. fluktulerenden Variation
der Individuen, worauf die Verfaſſerin nicht eingeht. Sie hätte daher auch auf dieſe nicht
einzugehen, ſondern nur die Durchſchnitte zu nehmen brauchen, wie fie denn auch aus folchen
eine Kurve („Ourchſchnittskurve“) bildet. Tatſächlich kann nur dieſe für die Beurteilung maß
gebend ſein.
Die Kurven find für die verſchiedenen Salze verſchieden; aber auch für dasſelbe Salz bei
Wiederholung nicht ganz gleich. Dies kann aber wiederum auf Koſten der fluktuierenden Varia-
tion ſo ſein. Dagegen iſt in allen Fällen auffallend gleichmäßig die Stellung des Minimums
bei ber 15. bzw. 16. Potenz. Übrigens liegt auch das Maximum bezüglich Länge des erſten und
zweiten Blattes und Wurzellänge nicht immer bei derſelben Potenz. Folgendes Beiſpiel mag
das Geſagte erläutern. Bei einem Verſuch mit Eiſenvitriol ergab ſich das Minimum bei der
16. Potenz, nämlich: eine Länge des erſten Blattes von 11,6 om, des zweiten Blattes von
7, 8 om und der Wurzel von 13,1 om, während der Ourchſchnitt der Waſſerkontrolle bzw. 13,9 om,
9,7 om und 14,1 cm ergab. Jene Minimumwerte liegen alſo beträchtlich unter den Werten der
Waſſerkontrolle. — Demgegenüber wurden Maxima bei der 5., 8. und 14. Potenz und dann
wieder bei der 21. und 28. beobachtet, und zwar mit Zahlen, die ſich aus der nachfolgenden Ta-
belle ergeben (auch mit dem Gewicht):
Rultur in 1. Blatt 2. Blatt Wurzel l 5 ei N
cm cm cm mg ; mg
Waffer ........... 13,9 9,7 14,1 388 —
5. Potenn 15,5 13,2 16,2 510 189
8. Potenz 15,7 12,3 17,7 483 221
14. Potenz 15,7 11,3 17,3 462 204
16. Poten 11,6 78 13,1 388 152
21. Poten 15,4 11,8 16,6 496 200
28. Potenz 15,2 13,1 15,5 492 | 208
Zwiſchen den hier mitgeteilten Potenzen ſchwanken die Werte hin und her, ohne aber in der
erſten Hälfte auf die Durchſchnittswerte der Waſſerkontrolle herabzuſinken. Dies geſchieht erſt
bei der 15. Potenz. In der zweiten Hälfte dagegen werden jene Ourchſchnittswerte mehrfach
erreicht, auch halten ſich hier die Maximalwerte unter denen der erſten Hälfte. Die höchſten
Maxima liegen hier für das erſte Blatt bei der 4. Potenz, für das zweite Blatt bei der 5. Po-
tenz und für die Wurzel bei der 8. Potenz. In anderen (den meiſten) Fällen hingegen liegen
alle höchſten Maxima in der zweiten Hälfte, alſo bei den höchſten Potenzen (ſtärkſten Ger-
dünnungen). Kolisko macht auf dieſe Verſchiedenheit nicht aufmerkſam, ſie iſt aber doch ſehr
auffallend und bedarf der Klärung, wie überhaupt die Schwankungen der Maxima. Auf Rech
nung der Verſchiedenheit des Gaatgutes und etwa auch der fluttuierenden Variation möchte
der Cirmer XXVIII, 5 29
434 An der Grenze des Stoffes
es ſich allein wohl nicht ſetzen laſſen. Hier müßten weitere Unterſuchungen Klarheit zu verſchaffen
ſuchen.
Da es mir wünſchenswert erſchien, auch die Kurven der Maxima des Wachstums, die ja doch
auch zugleich die Optima, d. h. beſten Wirkungen der Potenzen darftellen werden, feſtzuſtellen
und mit denen der Durchſchnittswerte zu vergleichen, habe ich dies verſucht, ſoweit es nach den
Angaben Koliskos möglich war. Es ergibt ſich dabei ein verſchiedenes Verhalten bei den ver-
ſchiedenen Salzen. Bei dem Kupferſalz zeigt ſich ſowohl hinſichtlich der Längen des erſten Blattes
wie auch der Wurzeln eine dem Durchſchnitt ſehr ähnliche Kurve. Vor allem liegt auch hier das
Minimum bei ber 15. Potenz, und zwar tief unter dem Maximum der Waſſerkontrolle. Ferner
liegen bei beiden Organen, geradeſo wie der Durchſchnitt, die Kurven faſt ganz über dem
Maximum der Waſſerkontrolle. Die Kurven zeigen mehrere Maxima, das höͤchſte liegt in beiden
Fällen auf Seiten der Hochpotenzen jenfeits der 15. Potenz, und zwar beim Blatt ſowohl für
die Maximum wie für die Durchſchnittskurve bei der 17. Potenz, und für die Wurzel bei der
23. Potenz. — Anders bei den Verſuchen mit Eiſenvitriol. Hier hält ſich für das erſte Blatt
die Maximakurve faſt ganz unter dem Maximum der Waſſerkontrolle, nur die hoͤchſten Maxima
ragen über dieſes hinaus: bei der 7. und 11. Potenz, ſowie bei der 23. und 29., letztere liefert
das höchſte Maximum. Fir die Wurzel ift es ähnlich, doch erhebt ſich die Kurve etwas mehr
über das Maximum der Waſſerkontrolle. Die Durchſchnittskurven der Wurzel halten ſich mehr
über den Durchſchnitt der Waſſerkontrolle. Auffallend iſt, daz in beiden Fällen die Minima
ziemlich zujammenfallen: für das Blatt genau bei der 16. Potenz, bei der Wurzel für die Maxima
kurve bei der 16., für die Durchſchnittskurve bei der 18. Potenz. Davon abgeſehen ſind die Ab-
weichungen aber doch fo auffallend, daß fie eine Erklärung fordern, die nur neue Unterſuchungen
geben können.
Auf jeden Fall bleibt aber das von Kolis ko hervorgehobene Ergebnis beſtehen: „Das Wachs-
tum von Weizenkörnern wird beiden nlederen Stufen der Potenzierung gefördert,
bei fortgeſetzter Steigerung der Potenzierung allmählich gehemmt. Nach dieſem
Minimum kann bei noch weiterer Steigerung der Potenzierung das Wachstum
bis zu einem Maximum auffteigen.“
Erwähnt ſei noch, daß für die Kulturen mit Antimontrioxyd zwei ungefähr gleiche Minima
bei ber 19. und 21. Potenz liegen, Maxima des Blattes weiſen die 25. und 27. Potenz auf, das
Maximum der Wurzel hat die 17. Potenz. Man ſieht daraus ſchon, daß die Kurven bei ver-
ſchiedenen Stoffen ſehr verschieden find. Die Tatſache eines Minimums iſt aber ſtets zu beobad-
ten. — Dieſer letztgenannte Verſuch ift nun dadurch von beſonderem Intereſſe, weil Kolis ko
mit einem Antimonſalz auch einen phyſikaliſchen Verſuch machte, der annähernd ein ähnliches
Ergebnis hatte.
Als eine brauchbare Methode zum phyſikaliſchen Nachweis der Wirkſamkeit kleiner Mengen
erwies ſich nämlich die Kapillaranalyſe, die darauf beruht, daß verſchiedene Flüͤſſigkeiten in
Kapillarröhren verſchieden hochſteigen. Wenn man Fließpapierftreifen, die ja Kapillarſpſteme
darſtellen, in eine Fluͤſſigkeit taucht, fo ſteigt dieſe in ihnen empor, und nach dem Trocknen erhält
man dann für jede Subſtanz ein kennzeichnendes Kapillarbild. Praktiſch verwendbar iſt dies
z. B. bei der Feſtſtellung von Drogenfälſchungen. Kolisko fand nun auch bei ben verſchiedenen
Potenzen eine verſchiedene Steighdhe. Sie verfuhr dabei fo, daß fie mit den Potenzen getränkte
Fließpapierſtreifen in eine neutrale Farbſtofflöſung eintauchte und die Steighöhe der letzteren
beobachtete. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, fei nur betont, daß das Minimum auch hier dei
der 21. Potenz liegt und daß auch hier bie 25. und 27. Potenz Maxima zeigen. Das höchſte
Maximum liegt allerdings bei der 17. und 18. Potenz; aber dasjenige für die Gejamtlänge des
Pflänzchens befindet ſich ebenfalls bei der 17. Potenz. Das iſt jedenfalls ein recht bemerkens
wertes Ergebnis.
Wir wollen uns nicht verhehlen, daß es uns wünſchenswert erſcheint, daß dieſe bedeutſamen
An der Geenge des Stoffes 435
Verſuche fortgeſetzt und auch auf andere Stoffe und Pflanzen erweitert werden ſollten, um das
Ergebnis auf eine breitere Baſis zu ſetzen und einige Unſtimmigkeiten aufzuklären. Übrigens
wäre es auch ſehr wünfchenswert geweſen, wenn ftatt der Erdkulturen Waſſerkulturen gemacht
worden wären, die von vornherein viel einwandfreier find. Immerhin, es ſcheint doch fo, als ob
ſich ſchon jetzt bedeutſame Schlüſſe aus den Verſuchen ziehen laſſen. Und dies um fo mehr, als
unabhängig von Kolis ko ein ruſſiſcher Forſcher Rradow mit Tierexperimenten zu einem ähn-
lichen Ergebnis kam. Er unterſuchte den Einfluß von Giften bei ſteigender Potenzierung (bis
zur 32. Potenz) auf Tiere. Die Wirkung erreichte zunächſt einen Nullpunkt, dann aber beginnt
ſie von neuem und erreicht häufig bei zunehmender Verdünnung eine auffallende Zunahme.
Auch hier könnte eine ſyſtematiſche Fortführung der Verſuche zu uͤberraſchenden Ergebniſſen
führen.
Wie follen wir uns nun dieſe auffallenden Wirkungen Heinfter Stoffmengen vorſtellen? Die
berichteten Unterſuchungen fordern doch geradezu eine theoretiſche Erklärung heraus. Zunächſt
wäre es möglich, daß etwa bei der Verdünnung der 16. Potenz die Atome bzw. Elektronen frei
werden und nun eine neue Wirkſamkeit entfalten. Iſt es ſo, dann werden ſchon noch einmal
phyſikaliſche Methoden zum Nachweis gefunden werden.
Oer Umſtand aber, daß jenſeits der 16. Potenz wieder eine erhöhte Wirkung eintritt, iſt nun
beſonders bemerkenswert; denn er läßt kaum noch eine ftofflich-energetifche Deutung zu. Es liegt
der Gedanke nahe, daß hier eine dynamiſche, d. h. reine Kraftwirkung ſtattfindet, die man
nicht mehr wie die energetiſche irgendwie meſſen, ſondern nur noch an der Reaktion auf das
lebende Protoplasma erkennen kann, wie ſich eine ſolche in jenen Wachstumserſcheinungen bei
den Koliskoſchen Verſuchen oder an etwaigen Heilwirkungen der hochpotenzierten Arzneimittel
offenbart. Dann wird man freilich auch weitere Aufklärung nicht von chemiſch-phypſikaliſchen,
ſondern von phyfiologijden Methoden zu erwarten haben.
Es iſt dies letztere natürlich nur eine etwa mögliche Hppotheſe, die weiter zu prüfen wäre,
Jedenfalls läßt ſie Ausblicke in die Welt des Allerkleinſten und in den Bau des Stoffes zu, die
von höoͤchſter Bedeutung werden könnten. Dies bezieht ſich vor allem darauf, daß bei dieſer An-
ſchauung die Materie nicht nur in Energie, ſondern ſogar in Kraft aufgelöft wird. Man überlege
einmal, was dies bedeutet. Man hat in der Phyſik während der letzten Jahrzehnte den Begriff
der „Kraft“ fallen laſſen und ſtatt ſeiner den Begriff „Energie“ gewählt, d. h. der Arbeitsleiſtung.
Das war ein großer Fortſchritt; denn dieſe, alſo Energie, läßt ſich unmittelbar meſſen, „Kraft“
nicht. Dies iſt aber auf dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften, alſo des Stoffes, unbedingt nötig.
Der Begriff der „Kraft“ iſt nun frei geworden für ein jenſeits des Stofflichen liegendes Gebiet,
d. h. er iſt ein rein metaphyſiſcher Begriff geworden, und auch dies iſt ein Gewinn. Vom Stand-
punkt der Naturwiſſenſchaft aus muß man ihn ablehnen, vom Standpunkte der Weltanſchauung
aus darf man ihn annehmen, und hier wird er ſich als ſehr fruchtbar erweiſen.
Durch die hier beſprochenen Verſuche aber ließe ſich der Zuſammenhang zwiſchen „Kraft“
und „Stoff“ finden, und ihre weitere Verfolgung könnte in dieſer Richtung noch ſehr Wert-
volles zutage fördern, Jener Zuſammenhang würde, wie ſchon gejagt, eine Auflöſung des ſinn-
lichen Stoffes in überſinnliche Kraft bedeuten. Dies läge dann zwar außerhalb der reinen
Naturwiſſenſchaft, würde aber dafür auch Ausſicht auf eine moniſtiſche Löſung des Rätſels des
Stoffes bieten, freilich nicht im materialiſtiſchen, ſondern idealiſtiſchen Sinne. Und dafür haben
ja gewiſſe Leute kein Intereſſe.
Goethe dachte anders als dieſe kleinen Geiſter, das möge zum Schluß noch ein kennzeichnen
des Wort von ihm beweiſen. Er ſagt in den Tagebüchern (1812, 22, April): „Es wird fo weit
kommen, daß die mechaniſche und atomiſtiſche Vorſtellungsart in guten Köpfen ganz verdrängt
und alle Phänomene als dynamiſch und chemiſch erſcheinen und fo das göttliche Leben der
Natur immer mehr betätigen werden.“ Prof. Dr. D. Dennert
Literatur,
Denen
Emil Hadina als Lyriker
ls ich daran ging, dieſen Aufſatz zu entwerfen, der ja keineswegs von Emil Hadina ein
erſchöpfendes Bild feines bisherigen Lebenswerkes und im beſonderen des Iyrifchen geben
kann, da geſellte ſich meiner Forſchung und Wertung ein Begleiter zu, der mit einer mel
würdigen Beharrlichkeit mir Schritt für Schritt vorauszueilen ſchien und der meiner Arbeit
immer mehr zum Geleiter wurde: „Religion und Leben“, ein Beitrag zum freien Gottiuden
unferer Tage (1912 bei 3. ©. Findel in Leipzig erſchienen). Es war Hadinas erſtes und iſt gewiß
ſein am wenigſten bekanntes Buch geblieben, dieſes ſchmale ſchlichte Bändchen, das heute den
Gejamtbeurteiler wie eine dichteriſche und mehr noch menſchliche Programmſchrift anmutet.
Und es erfreut: erfreut deswegen, weil es einen lebendigen Beweis dafür darſtellt, daß ein
Menſch und Dichter in den langen wirren Jahren, in die ſein Werden fiel, ſich und ſeinem Weſen
eine ſeltene pflihtmäßige Treue bewahrt hat. Die ganze feſtgefügte Perſönlichkeit Emil Hadinas,
wie wir fie heute kennen und ſchätzen, tritt hier bereits in ihren Grundzügen erkennbar zutage.
An einer Stelle dieſes Werkchens wird Nietzſches Zarathuſtra-Wort: „Nicht um die Erfinder
von neuem Lärm, um die Erfinder von neuen Werten dreht ſich die Welt, unhörbar dreht fie
ſich“, zitiert; und „ſolch neuer Wert,“ fährt Hadina daran anknüpfend fort, kann ein Wort der
Begeiſterung werden, das einen Müden und Kleingläubigen fortreißt und kräftig macht, ein
Wort des Troſtes, das um bie trauernde Seele fic legt wie weicher Mutterarm, ein Wort freund-
ſchaftlichen Verſtändniſſes, das ſich liebevoll hinabſenkt in die Herzen der Schwachen und Suͤnd⸗
haften und fie nicht verzagen läßt, ein Wort der Glaubenskraft an das Schöne und Göttliche
des Lebens, das jungen Seelen einen Reichtum des beglüdendften Idealismus erſchließen und
zerfallene Menſchen zu ihrem Gott führen kann.“ Auf wen beſſer könnten dieſe Folgerungen
angewendet werden als auf ihn ſelbſt, der als Kuͤnſtler des Wortes dieſes vor unſeren Augen
ſo oft zur guten Tat gemacht?!
Emil Hadina hat nie zu den Lärm- Machern gehört, weder in feinen Anfängen, noch fpater.
Schon fein erſtes, im Jahre 1914 bei Fritz Eckardt in Leipzig erſchienenes Gedichtbuch, All
tag und Weihe“ war ganz darnach angetan, wenig beachtet zu werden. Und es dürfte auch
nicht in allzuweite Kreiſe gedrungen ſein, trotzdem der Dichter damals ſchon Mitarbeiter der
erſten und bekannteſten Zeitſchriften Oeutſchlands und Ofterreids geweſen war. Wie in der
vorerwähnten Abhandlung tritt auch hier Weſen und Wille bes Dichters klar hervor. Andacht
iſt ihm alles Schaffens Urgrund, und feine Andacht kennt nichts Müdes und nichts Knechtiſches.
Kraft aller Kraft, das iſt ihm Gott, den er fo lange geſucht und der bei ihm immer wieder das
eklärte, von konfeſſionellen und dogmatiſchen Runzeln freie Antlitz erheben darf. Kraft aller
Kraft und jeder letzte Troſt:
Doch will mir kein Stern erſcheinen, Sieh, ich trag in meinen Handen
Hör ich in mein banges Weinen Blühen, Reifen und Vollenden,
Deine Stimme wehn: Ewig gleichgeſinnt.
„Ein Tag iſt wie tauſend Jahre, Mehr doch als die Sternenwelten
Und der Sonne Kreis, der klare, Soll mir deine Sehnſucht gelten,
Soll vor dir zur Neige gehn! Denn du bift mein Kind, mein Kind!
So leſen wir in bes Dichters nächſter Gabe, dem Buche „Nächte und Sterne“, das wie bie
meiſten fpäteren Werke Hadinas im Verlage L. Staadmann, Leipzig, erſchienen iſt. Es gibt
Emil Hadine els Lyriker 457
Sichterbücher, die zu Gebetbüchern moderner Menſchen werden follten, und Emil Hadinas
„Nächte und Sterne“ find ein ſolches“, ſchrieb Adam Müller-Guttenbrunn über dieſes Buch.
Immer wieder finden wir das Weh um Gott und das Glüd in Gott aus feinen Liedern ſteigen,
immer reicher und bekenntnistiefer und immer weiter vordringenb zu den letzten Höhen, von denen
aus letzte Dinge überblickt werden, bis zu dem wundervollen Gedichte in dem Bande „Lebens-
feier“, das mit den Worten „Mir iſt der Tod der Schatten meiner Hand ...“ beginnt und endet.
Eine tief im Weſen wurzelnde und in Kämpfen gefeſtigte Gläubigkeit bleibt der Grundton,
auch wenn der Oichter ſeine Weiſen dem Leben oder der Liebe weiht. Das Gedicht „Myſterium“
in dem Bande „Nächte und Sterne“ ſpricht von letzter Sehnſuchts-Erfüllung, und ich kenne
wenige beutſche Liebesgedichte von ſolchem Stimmungszauber und von ſolcher Gefühlstiefe,
wie das nachſtehende, „Waldſonntag“ benannte:
„Die Friſche nach dem ſtillen Morgenregen Und eine helle Stimme hör’ ich wieder,
Liegt wie ein Tau auf der erwachten Welt. Noch hallt im Winde jedes liebe Wort.
Ich gehe auf den lieben alten Wegen, Nun ſingt ſie fern im Kirchlein Feſttagslieder
Die geſtern erſt geheimer Glanz erhellt. Und lauſcht der Orgel gldubigem Akkord.
Noch ſpiegelt alles ein verträumtes Leuchten, Und ahnt nicht in der Andacht der Choräle,
Wo junge Fife leicht den Weg berührt Wie hier noch alles träumt von ihrem Licht,
Und eine weiße Hand dem dunkelfeuchten Und ihre reine blumenhafte Seele
Maldgrün die rote Erdbeerfrucht entführt. Fühlt aus dem Wald mein ftilles Grüßen nicht.
Doch mir auch in mein heißes Stürmer Sehnen
Zieht Morgenandacht, ſonntäglich geweiht.
Die Sonne kügt den Tau wie bange Tränen,
Und in den grünen Wipfeln rauſcht die Zeit.
Die hohen Fichten ſtehn mit frommer Miene,
Und wie ein Prieſterteppich liegt die Au —
Zum unbekannten Gotte, dem ich diene,
Steigt mein Gebet für eine ferne Frau..“
So ſpricht Liebe, die aus tiefem Herzen kommt und die in dieſer aller Innerlichkeit fo ab-
holden Welt oft als „weher Klang“ oder nur als ein Traumen Platz findet. Was Wunder, wenn
da Frau Sehnſucht fo oft des Dichters Tröſterin bleiben muß?
„RNaſtlos reit ich durch das Leben,
Treu und Untreu gleich ergeben.
Seh den Himmel bald in Gluten,
Bald in Nacht und fternelos —
Und der Sehnſucht heißes Bluten
Trag ich durch den Weltenſchoß“, ,
beginnt ein Gedicht, deſſen Ausklang „Heimat, Heimat, tu dich auf!“ betet.
Und die Heimat, die er einmal als verloren beſingt: „Mir fiel ein Fluch von den waltenden
Sternen, mein Avalun baut ſich in ſchimmernden Fernen“, die Heimat iſt dennoch nach Gott
und Liebe der große Grundſtein feines Weſens und Oichtens.
Emil Hadina hat uns eine Kriegslyrik geſchenkt, die auch in bieſer Nachkriegszeit ſich nicht zu
verbergen braucht. Und atmeten alle ſeine Verſe tiefes und verklärtes Deutſchtum, in ſeinen
Kriegsliedern hat er das erſte Mal fein Deutſchland, das auch von Umſturz und Umwertung
nicht zerſtört werden kann, mit vollem Namen genannt und bekannt. Man leſe die Gedichte der
Sammlung „Sturm und Stille“ (Verlag Deutſcher Schulverein, Wien), man erbaue ſich an den
völkiſchen Verſen in „Heimat und Seele“ und in dem Buche „Lebensfeier“, und man wird er-
kennen, daß man es da mit einem wahrhaften Streiter für jenes Deutſchland zu tun hat, um
438 Die Suchtarten-Gammitung
das Männer wie Ernft Moritz Arndt und Hoffmann von Fallersleben, Luther und Kant, Goethe
und Lagarde in ihrem innerſten Weſen gerungen haben: für das Gottes reich der Oeutſchen,
das kommen wird, wenn die Zeit ſich erfüllt.
» . Um die Erfinder von neuen Werten dreht ſich die Welt, unhdrbar dreht fie ſich.“ Ich habe
in dieſem Aufſatze den Epiker Hadina aus dem Auge gelaffen, und mit Abſicht. Denn im ly
riſchen Schaffen tritt das Weſentliche eines Dichters in reinſter Klarheit zutage. Emil Hadinas
Balladen und Legenden, im beſonderen diejenigen unter ihnen, welche religiöje Stoffe geſtalten,
können ihren Schöpfer nicht verleugnen. Und auch die Novellen und Romane — ich nenne von
den letzteren „Suchende Liebe“, den Stormroman „Die graue Stadt — die lichten Frauen“,
„Advent“, ein tiefes und in ſeiner inneren Wahrhaftigkeit nachhaltig wirkendes Buch, und die
zuletzt erſchienene Erzählung „Maria und Myrrha“ — find echte Hadina- Schöpfungen. Auch
fie liefern den Beweis dafür, daß wir es in dem Dichter mit einem Schöpfer warmer, wahrer
Werte zu tun haben, und manches Wort in feinen Büchern wird der Sendung gerecht, die Hadina
in ſeinem Erſtling dem Worte zuerkennt. Hans Anderle
Die Buchkarten⸗Sammlung
Eine Mahnung zu engerer Fühlung mit der Literatur
eſtimmend für den Beſtand und die Entwicklung des deutſchen Volkes ſind heute nicht
B nur fein Platz an der Sonne und die materiellen Bodenſchͤtze ſeines Wohnſitzes, ſondern
in weit höherem Maße feine innere Welt, deren klarſtes Bild in feiner Literatur zum Aus-
druck kommt. Eine Führerſchaft ohne Verſtändnis für dieſe Tatſache, mag fie noch fo geſchickt
und geſcheidt ſein, verliert den Einfluß und muß von der Bühne der Welt abtreten. Die Mächte,
die das beutſche Volk beherrſchen, ſagt Guſtav Freytag in den Bildern aus der deutſchen Ver-
gangenheit, waren im Mittelalter der fahrende Sänger, in den vier Jahrhunderten der Re-
formation die Predigt und das geiſtliche Lied und in der Neuzeit das gedruckte Wort. Wie recht
er hat, beweiſt die Tragik unſrer Zeit, die mit verurſacht wird, weil ein großer Teil unſrer zur
Führung berufenen Schichten, wie Adel, Großgrundbefiß und Induſtrie zu wenig Fühlung
mit der Literatur hat. Es ſind nicht nur utopiſtiſche Hoffnungen auf eine goldene Zeit durch
die Verwirklichung kommuniſtiſcher Phraſen, die den linksgerichteten Intellektuellen einen ſo
ſtarken Einfluß auf die Maſſen einräumen, ſondern vielmehr ein geſchicktes, ja raffiniertes Ein-
gehen auf die literariſchen Bedürfniffe des Volkes. Sie haben die moderne Großmacht
der Literatur erkannt und ſcheuen weder Zeit, noch Mühe, noch Geld, fie in ihrem Intereſſe
zu verwenden.
u Wir ſtehen mitten im Kampf um das Führertum. Die Stellung zur Literatur wird dabei ein
entſcheidender Faktor ſein. Nie war es Führern der Menſchheit beſchieden, ihre Zeit durch
materiellen Reichtum und ſeine Möglichkeiten reſtlos zu befriedigen. Immer war der Glaube
an das Reich der Zdeale, der Beſitz einer geiſt-ſeeliſchen Welt eine ausgleichende Not-
wendigkeit. Speziell das deutſche Volk ward erſt dadurch zu feinen höchſten Leiſtungen be-
wogen. Vertrauen und Treue hat es von jeher am feſteſten an die Führer gebunden, die ihren
geiſt-ſeeliſchen Bedürfniſſen Befriedigung brachten und ihm ein unermeßliches Geiſtland er-
ſchloſſen. So waren in den vergangenen Jahrhunderten die Verheißungen und Lehren der
Kirche die heilige Macht, geniale Fähigkeiten zu regen, und ſo ſcheint heute im Rate höherer
Vorſehung die gewaltige Schöpfung unfrer Kultur, die Literatur, berufen zu fein, ſchöpferiſche
Energien im deutſchen Volke zu löſen. Daß heute unſeren bedeutendſten Geſtaltern auf lite
rariſchem Gebiete finſtre Stunden der Verzweiflung nicht ſelten ſind, iſt kein Wunder, denn
ihr tiefſtes Ningen, ihre höchſte Kunſt dient weiten Kreiſen nur als ſchöngeiſtige Unterhaltung
die Buchtarten· Gammlung 439
und zum Zeitvertreib. Wenn aber der Geijt der deutſchen Dichtung über bie Volksſeele keine
Macht gewinnt, wenn ihre göttlichen Ideale im beutſchen Weſen nicht ſichtbare Geſtalt und
reifen Ausdruck erhalten, dann ijt abermals ein lebenswichtiger Gedanke nicht zur Aus-
führung gekommen und ein Söttergeſchenk den Deutſchen vergebens in den Schoß gelegt
worden.
Oer Einfluß jeder Führerſchicht richtet ſich heute nach dem Maße ihrer Fähigkeit, den feinſten
Geiſt der eigentlich deutſchen Literatur zu verſtehen und das Volk mit dieſer gewaltigen Aus-
ſtrahlung feines Weſens vertraut zu machen. Das Heil der deutſchen Nation hängt ab von den
Beziehungen der Volksſeele zur deutſchen Literatur. Je inniger und tiefer fie find,
um ſo klarer und deutlicher wird ſie das darin prophetiſch erkannte und dichteriſch geſtaltete
Hochziel ihrer Entwicklung ſchauen und den Weg und die Kraft, dahin zu kommen, erlangen.
Vielen literariſch intereſſierten Menſchen gereicht es heute zum Unglück, daß ſie veranlaßt
werden, nach dem geiſtigen Beſitz der vorhandenen unuͤberſehbaren Literatur zu ſtreben, ohne
eine Moͤglichkeit zu kennen, ſich in erfolgreicher Weiſe durch regelmäßige Selbſttätigkeit mit
ihr zu verbinden. Ihr Verhalten gegenüber der vorhandenen und neu erſcheinenden Literatur:
was iſt das anderes als eine Art Selbſtverteidigung! Sie leſen Bücher und Zeitſchriften, um
ſie los zu werden, um Luft zu kriegen. Sie wollen und muͤſſen mancherlei wiſſen und kennen und
gerade das, was ſie am wenigſten angeht. Sie zerſtreuen, verlaufen und verlieren ſich in dem
unermeßlichen Gebiete der Literatur, und es droht ihnen ſtändig die Gefahr, den inneren Men-
ſchen, die Perſönlichkeit zu verlieren.
Ein zuverläffiges Mittel, ſich der mächtig andringenden Buͤcherhochflut gegenüber zu be-
baupten, iſt die Buchkarten-Sammlung, die ſich der Bücherfreund ſelber herſtellt, indem
er von jedem geleſenen Buche eine Titelkarte anlegt. Vielleicht im Format unfrer Reichspoft-
karten. Er vermerkt darauf in überſichtlicher Form den Autornamen, Buchtitel, Verlag und
Preis jedes geleſenen Buches. Eine ſolche Buchtitelkarte lege man ſich jedoch nicht nur von
gelefenen Büchern an, ſondern auch von denen, die man nod leſen mochte. So bewahrt man
am ſicherſten die Titel der Bücher, von denen man durch Proſpekte, Büͤcherverzeichniſſe oder
mündlide Empfehlungen Kenntnis erlangt. Dieſe fo gewonnenen Buchtitelkarten werden
alphabetiſch (ſyſtematiſch oder nach Schlagworten) geordnet, ſorgfältig in einem geeigneten
Käſtchen verwahrt und ſtehen auf dem Schreibtiſch oder im Bücherregal jederzeit bereit.
Feder, der ſich eine ſolche Buchkarten- Sammlung einrichtet, wird die Mühe reichlich gelohnt
finden. Heute ift es eine literariſche Lebensnotwendigkeit, daß jeder Bücherfreund Buchtitel
karten ſammelt. Dieſe kleine Karte iſt ein ſicherer Weg, das Verhältnis zwiſchen Buch und
Menſch wieder lebendig und fruchtbar zu geſtalten. Das Buchtitelſammeln muß zu einer lieben
Gewohnheit, ja zu einer ſchönen Leidenſchaft des Bücherfreundes werden, denn es entſpricht
einem Bedürfnis unfrer Zeit und gewährt die beſte Möglichkeit, das weite Gebiet der Literatur
erfolgreich zu durchdringen.
Dieſe geiſtige Buchführung bedeutet Erlöſung aus der herrſchenden literariſchen Verwirrung.
Sie bietet dem einfachſten und dem weiteſten geiſtigen Bedürfnis die Möglichkeit, der unermeß⸗
lichen Fülle der Literatur eine perſönliche Note abzuringen. Sie erzeugt ein ideales Verhältnis,
fruchtbare Beziehungen zwiſchen Buch und Leſer. Sie iſt ein ſicheres Mittel, dem literariſchen
Allerweltsmenſchen, der mehr oder weniger heute jeder Gebildete iſt, bei ſeiner zerſtreuenden
literariſchen Geſchäftigkeit Tiefe und Innigkeit zu erhalten, in der er bleiben muß, um in ſich
ſelbſt etwas Vollkommenes hervorzubringen. Dieje Geſchloſſenheit der Verarbeitung
darf keinem fremd ſein, der einen ſolchen ſeelenvollen oder geiſtigen Anteil am Buche nehmen
will, wie ihn der Autor wünſcht und hofft. Die Buchkarten- Sammlung iſt die feſte Burg, von
der aus jederzeit wohlausgerüftete, zielſichere, nähere und weitere Erkundungsfahrten in das zu
erforſchende Gebiet der Literatur unternommen werden können. Sie iſt eine Gegenwirkung gegen
die Zerf ahrenheit der aufgeregten Zeit. In ihr beſitzt jeder Bücherfreund einen mächtigen
44 Dic Suchlacten-Gammiung
Zauber, bekannte Geiſter jederzeit zu zitieren und unbekannte zur Verfügung bereit zu halten.
Und wenn es natürlich iſt, wie allgemein gefagt wird, daß der Menſch dem, was er ſelber erwirbt
und leiſtet, größeren Wert beilegt, dann gilt das von der Buchkarten Sammlung beſonders;
ift doch jeder in der Lage, fie feinen Wünſchen entſprechend zu geſtalten. Sie iſt etwas Ur-
perſönliches, fo verſchiedenartig zu geſtalten, fo wandlungs- und formenfähig, daß auch der
ſonderlichſte Außenſeiter fie feinen perſönlichen Neigungen entſprechend zuſammenſtellen kann.
Iſt wirklich, wie man überall hören kann, das Geiſtige das Wertvollſte im Leben des Men
ſchen, warum vernachläſſigt dann der Menſch feine Verwaltung? Warum gibt er fic ſelbſt
dann nicht gewiſſenhaft Rechenſchaft über das, was er geleſen hat und führt nicht ſorgfältig
Buch über das, was er noch leſen will? Wieviel Zeit und Mühe verwendet er nicht auf die
Verwaltung feines materiellen Beſitzes! Bit die Verwaltung geiſtiger Güter nicht ungleich
größeren Fleißes, ungleich höherer Sorgfalt würdig? Haben fie nicht den gleichen, ja vielleicht
noch ſtärkeren Anteil an der Entfaltung unſeres tieferen Weſens, am Werden unſrer Welt
anſchauung? Möchten wir nicht, die wir nun einmal nicht jedes Buch, das wir leſen, erwerben
können, wenigſtens ſeinen Titel zuverläſſig an einem ſichern Ort verwahren mit wenigen kurzen
Bemerkungen über Inhalt und Eindruck, um jederzeit ein lebendiges Bild von der Seele des
Buches uns vergegenwärtigen zu können, und es eines Tages, wenn wir die Mittel haben, doch
noch zu kaufen oder als eine erprobte Geiſtkraft einem lieben Menſchen zu ſchenken? Wie oft
iſt nicht der Einzelne in Verlegenheit, welches von den vielen ſchöͤnen Büchern er ſchenken ſoll!
Oer Titel des einen oder andern Buches, das tiefen Eindruck gemacht hatte, wovon er beſtimmt
wußte, daß es dem oder jenem etwas zu ſagen hatte, iſt ihm entfallen. Wie ſegensreich kann
die Buchkarten· Sammlung hinſichtlich des Bücherſchenkens wirken!
Es fei mir geftattet, noch einige Vorteile der Buchkarten Sammlung zu erwähnen, um Ber-
ſtäͤndnis und Luft dazu zu wecken.
Wer weiß denn heute noch, welche Bilderbücher unſer analphabetiſches Bewußtſein durch-
ſonnten, welche Maͤrchenbücher die Luft zum Leſen und die goldigften Phantaſien in uns
weckten? Wer kann fie denn noch alle nennen, die vielen ſchönen Bücher, die unſrer Sehnſucht
nach der geheimnis und abenteuerreichen Fremde Flügel liehen, und jene Bücher, die das
rührend und erldjend nannten, was wir empfanden, als erfte Liebe uns durchbebte?
In welch gluͤckſeligen Zuſtand würde jeder Bucherfreund durch Treue und Gewiſſſenhaftigkeit
in der bibliographiſchen Verwaltung geleſener und noch zu leſender Bücher verſetzt! Dadurch
allein kann er die vorüberraufchende Bücherhochflut regulieren, feinen literariſchen Garten in
fruchtbringender Weiſe wäſſern und pflegen und vor drohenden Überſchwemmungen ſchützen.
Durch fie allein iſt er jederzeit in der Lage, das Soll und Haben feines geiſtigen Beſitzes zu
ermitteln.
Welches Glück, welche Freude für unfre Liebſten, denen wir durch eine ſorgfältig geführte
Buchkarten-Sammlung die Möglichkeit gewähren, alle Stätten unfrer geiſtigen Wanderung,
wo wir verweilten, kennenzulernen. Iſt das nicht die beſte Gelegenheit, ſich geiſtig und ſeeliſch
näher zu kommen, einander mitzuteilen, was uns entzückte, was uns gebildet hat? Beſſer als
manches Tagebuch erklärt eine Buchkarten⸗ Sammlung, die ein perſönliches Gepräge hat, unfer
Weſen. Durch Jahrzehnte und Jahrhunderte in einer Familie fortgeführt, ijt fie ein vollſtändiger
Kommentar zur Familiengeſchichte und Tradition.
Die Einrichtung und Pflege einer perſönlichen Buchkarten Sammlung liegt nicht nur im
Intereſſe der Kreiſe, die ſchon in einem guten Verhältnis zum Buche ſtehen, ſondern iſt auch von
literariſch-erzieheriſchem Einfluß für alle, die ſich noch nicht fo recht an die Literatur heran-
trauen, die wohl gerne beſſere Beziehungen zum Buche haben möchten, aber nicht wiſſen, wie
fie das machen müfjen. Sie werden ein Bekanntwerden mit den Segnungen der Buchtitelkarte
als einen Lichtſtrahl in ihrem literariſchen Ounkel begrüßen.
Ja, wahrhaftig, der moderne Menſch kann ohne Bucher nicht mehr fein; aber er ſollte auch
Unfere Bllderdellagen 441
ohne Buchkarte nicht mehr leſen! Oann wird die göttliche Schöpferkraft des guten Buches
organiſch aufbauend und ſegensreich geſtaltend wirken. Wem in Oeutſchland iſt denn feine
Buͤcherei eine wirklich ernſthafte Angelegenheit? Es gibt ſolche geſammelten, verinner-
lichten Menſchen, aber ſie ſind ſelten. Wie können wir Genuß und Wirkung vertiefen, uns
jederzeit lebendig zurückrufen, wenn wir den Urheber, das gute Buch, mit Fleiß und Sorgfalt
bidliographiſch liebevoll feſthalten! Arno Franke
Unſre Bilderbeilagen
Ein bisher unbekanntes Bild von Moritz v. Schwind
ls die badiſche Regierung um das Jahr 1840 dem damals ſchon durch ſeine Fresken berühmt
gewordenen Moritz von Schwind die Ausmalung der neuerbauten Kunſthalle in Karls-
ruhe übertragen wollte, ſtellte fie in ihrem Vertragsentwurf die Forderung, der Künftler ſolle
bis zur Beendigung der Arbeiten ledig bleiben! Mit Entrüftung wies der damals in der Blüte
ſeiner Manneskraft ſtehende Künſtler dies Anſinnen zurück und verlangte einen Vertrag ohne
dieſe Heirats-Klauſel — der ihm auch nach längerem Hin und Her bewilligt wurde.
Es wird nicht Oppoſition, ſondern Zufall geweſen ſein, daß Schwind bald nach ſeinem Einzug
in Karlsruhe fein Herz an die ſchöͤne Luiſe Sachs verlor, an die Tochter eines badiſchen Majors,
die er nach mancherlei Hinderniſſen zur Frau gewann. Wir kennen ſie von mehr als einem
Schwindſchen Gemälde. Luiſe Sachs hatte mehrere Brüder und eine Schweſter Friederike.
Seine Schwäger und feine Schwägerin hat Schwind wiederholt gemalt (vgl. Klaſſiker ber Kunſt,
Bd. IX, S. 177, 352, 353). Zu dieſen von Otto Weigmann veröffentlichten Sachs'ſchen Fa-
milienporträts bildet das von uns zum erſten Male der Öffentlichkeit gezeigte Gemälde der
Friederike Sachs eine wertvolle Ergänzung. Es ergänzt auch in höchſt willkommener Weiſe
unſere Vorſtellung von Moritz von Schwind als Porträtmaler, für die wir ja nicht allzuviele
Unterlagen beſitzen: neben dem Bildnis des Freiherrn v. Blittersdorf darf dieſes Porträt der
Friederike Sachs wohl als eine der beſten Arbeiten des Meiſters auf dieſem Gebiete angeſprochen
werden.
Der Flächen- und der Raumbau des Bildes find äußerſt geſchmackvoll. Geftalt, Vorhang,
Baluftrade, Blumen und Himmel bilden einen fein abgeſtimmten Akkord, mit dem die Farb-
töne zuſammenklingen. Durch die blauſchwarze Nahfarbe des Schals wird die vor einem ge-
dämpften Grün ſitzende Figur kräftig in den Vordergrund gerückt, Vorhang und Baluſtrade
werden zurückgedrängt. Der Blick ſchweift über Blumen zu den Wolken und kehrt zu dem an-
mutigen Weſen zuruck, das da in ihrer faltenreichen Krinoline vor uns ſitzt. Der ſchöne Kopf iſt
mehr zeichneriſch als maleriſch behandelt; licht und plaſtiſch gemalt ſind aber Hals, Schultern,
Sewand. Wundervoll nehmen die voll erblühten Blumen das Organiſche wieder auf und gleichen
mit den ſchweren Falten des Vorhangs und der Tiefe des Himmels den nach links verſchobenen
Schwerpunkt des Bildes aus.
Das Porträt will nichts als ein Abbild des Lebens fein. Das Lächeln dieſes keuſchen Mädchens
hat nichts mit dem Geheimnis einer Mona Lifa zu tun. Wir haben ein echtes Kind der problem;
freien deutſchen Biedermeierzeit vor uns, das mit klaren ſonnigen Augen in die Welt ſchaut,
des feiner wartenden Glüdes gewiß.
Das Bild mag Anfang der vierziger Jahre in Karlsruhe entftanden fein. Friederike Sachs
heiratete fpäter den Oberſten von Noel. Das Original befindet ſich im Beſitz der Erben dieſer
Familie, die es dankenswerterweiſe dem „Türmer“ zur Erſtveröffentlichung anvertraut haben.
Wir wiſſen, daß Moritz von Schwinds eigentliche Bedeutung nicht auf dem Gebiete des
Porträts zu ſuchen iſt. Sie liegt auch nicht im Figürlichen, ſondern in der Märchenpoeſie der
442 Ole Tonweortichre von Rari Eig
deutſchen Landſchaft, in der Allbeſeelung der Natur und in der Verzauberung des Menſchen
zur Natur. Dennoch wäre es reizvoll, einmal eine Gonderftubie Aber den Porträtiſten Schwind
zu ſchreiben. Möge unſer Bild die Anregung dazu geben. — — —
Sohannes Köhler, einer der letzten Meiſterſchüler Theodor Hagens, hat viel gegrübelt,
experimentiert und geſucht. Er lief Gefahr, ſich in einer Art verſchwommener Myfſtik zu ver⸗
lieren. Mit dem veröffentlichten Werke ſcheint der Rünftler feinen Stil gefunden zu haben. Sein
ihm angeborenes Gefühl für die nordiſche Landſchaft hat ihn in der Schweiz immer wieder zu
dieſen mächtigen Eichen getrieben, bis er fie in ihrer ganzen Herbheit, Kraft und ſeltſamen bio-
logiſchen Funktionsform auf die Leinwand gebannt hatte. Waldfreunde werden das Bild auf-
merkſam betrachten und ſich darüber freuen, daß ſich den deutſchen Waldmalern ein neuer
Künftler zugeſellt hat. Dr. Konrad Dürre
Die Tonwortlehre von Karl Eitz
or nahezu 2 Jahren ift Karl Cig, der Eislebener Volksſchullehrer, Profeſſor und Dr. h. c.,
V an den Folgen eines Autounfalles geſtorben. Sein Werk, die Tonwortlehre, ſtarb aber
nicht nur nicht mit ihm dahin, ſondern fing gerade damals an, ſich mit neuer Lebenskraft zu
rühren. Das in Preußen ergangene Verbot, den Schulgeſang unter Zuhilfenahme der Eitzſchen
Tonworte zu lehren, war Anfang 1924 aufgehoben worden, und ſo begann in Preußen eigent-
lich erſt die Arbeit mit dieſem ausgezeichneten Mittel, den Schülern klare Tonvorſtellungen
und ein wirkliches Verſtehen der Notenſchrift mit ins Leben zu geben. Dr. Bennedik
in Halberftadt entfaltete eine rührige und erfolgreiche Werbetätigkeit für die Tonwortſprache,
Merfeberg-Fena und Strube-Harsleben wirkten vor allem durch ihre praktiſchen Erfolge.
So erſtanden den alten Eitzianern ſüdlich des Mains, von denen ich nur Simon Breu (Würz-
burg) nenne, im noͤrdlichen Deutſchland zielſichere Mitſtreiter. An den Univerſitäten traten
Prof. Stein (Kiel), Dr. Stephani (Marburg) und Prof. Moſer (Halle- Heidelberg) für das
Tonwort ein. Neuerdings beginnt die Tonwortſache auch im Weſten des Reiches (Köln und
Aachen; Elberfeld hatte in Weitkamp ſchon ſeit Jahren einen tüchtigen Vorkämpfer) die
Geiſter zu bewegen.
Die Gegnerſchaft gegen Eitz war und iſt groß. Zu einem nicht geringen Teile mag ſie in der
Trägheit der Seſang Lehrenden ihren Grund haben; zum anderen Teile beruht fie zweifellos
auf Überzeugungen. Überprüft man die vorgebrachten Einwände gegen das Tonwortſyſtem,
jo muß man allerdings feſtſtellen, daß fie zumeiſt an der Sache vorbeigehen, indem fie Eig Ab-
ſichten oder Handlungen zuſchreiben, die er nie gehabt bzw. nie unternommen hat. Wenn z. B.
gejagt wird, daß die Tonworte der Stimmbildung nicht völlig Genüge täten, jo ſchiebt man Gk
unter, daß er behauptet habe, fie täten es. Und dabei tun fie es durch ihre günſtige Vokal-
verteilung wirklich. Oder wenn es heißt, die rhythmiſche Schulung der Singenden werde nicht
genügend gefördert, fo muß dem entgegengehalten werden, daß die Tonworte an ſich überhaupt
nichts mit Rhythmik zu tun haben. Ihr Gebrauch kann alſo weder hemmend noch fördernd auf
die rhythmiſchen Übungen einwirken. Dagegen iſt es eine von allen Eitzlehrern bekundete Er-
fahrung, daß die tonalen Übungen auf Tonworte ſich rhythmiſch außerorbentlich vielfältig ge-
ſtalten laſſen und den Eitzſchüler daher rhythmiſch hinlänglich „feſt“ machen. Ferner hört man
immer wieder, die neuen Tonnamen ſeien im praktiſchen Muſikleben, vor allem im Chorgeſang
der Nachſchulzeit, ſtörende Fremdlinge. Nun: vor allem kommt es doch wohl darauf an, daß die
Chormitglieder wirklich vom Blatt ſingen können. Auf welche Weiſe ſie das erreicht haben,
kann nachher doch wohl gleich ſein. Daß die Eitzſchüler es zu neunzig vom Hundert können, darf
doch wohl nicht als dem praktiſchen Muſikleben nachteilig bezeichnet werden. Ganz daneben geht
Ole Conwortlehre von Rarl Elz 445
der Verſuch, die Tonworte wiſſenſchaftlich anfechtbar zu nennen. Sind fie doch im Gegenteil die
einzige Tonbenennung von unbedingter logiſcher Unantaſtbarkeit.
And damit haben wir uns dem Kernpunkte der Erfindung Eitz' genähert. Eitz ging gerade von
der Tatſache aus, daß unſere üblichen Tonnamen a bod ef g ufw. einer pſychologiſch - pädagog ;
iſchen Prufung nicht ſtandhalten. Denn erſtens erläutern ſie unſere Tonſchrift — die Noten —
nicht in der wünſchenswert eindeutigen Weiſe. Den Halbtonſchritt von e zu f oder von h zu e
gibt das Notenbild in genau derſelben Weiſe wieder, wie etwa den Ganztonſchritt von d zu e
oder von g zu a. In der Benennung der Töne bzw. Noten macht fie ebenſowenig Unterschiede;
es herrſcht da alſo eine bedeutſame Unklarheit; Unklarheiten aber bringen für Lehrende wie
Lernende ſtets unliebſame Schwierigkeiten mit ſich. — Zweitens fugen unfere alten Ton; und
Notennamen auf der Annahme von Stamm- und abgeleiteten Tönen. Stammtöne gibt es in
der Muſik in Wirklichkeit aber nicht, und abgeleitete Töne infolgedeſſen natürlich auch nicht.
Cis iſt nicht von o abgeleitet, ſondern ois und o find gleichwertige und gleichwichtige Eigentöne.
Die Irrmeinung von Stamm; und Ablegertönen war überhaupt erſt durch die falſche Namen
gebung — f — fis, f — fes uſw. — aufgekommen und im Grunde nichts anderes als der im
wiſſenſchaftlichen Sinne mißlungene Verſuch, mit der fortſchreitenden Chromatik und Enharmonik
Schritt zu halten. — Drittens leitete Cig bei der Aufftellung feines Syſtems die Erkenntnis,
daß der Erfolg des Schulgeſangunterrichtes in keinem erfreulichen Verhältnis zu der auf-
gewandten Mühe ſtehe. Das ſelbſtändige Singen nach Noten wurde — und wird — in nur
wenigen Fällen erzielt; die meiſten Lehrenden konnten es ſelber nicht oder wußten keinen
pſychologiſch und pädagogiſch einwandfreien Weg, es Kindern beizubringen.
Nach dem richtigen Wege zu forſchen, war wahrlich nicht verabſäumt worden, und auf der
oder jener Straße waren tüchtige Lehrer mit ihren Schülern immer ſchon zu hohen Zielen ge-
langt. Aber allgemein wollte es mit der Sache nicht vorwärtsgehen. Cig erkannte, daß bie
gauptſchuld daran die unzulängliche Namengebung der Töne bzw. Noten trug. Sie zulänglich
zu geſtalten, war darum fein heißes Bemühen. Er ſetzte ſich bei der Aufſtellung feines Tonwort-
ſyſtems mit allen bis dahin (um 1890) bekannten Verſuchen, das Notenſingen in der Schule zu
erreichen, auseinander, erkannte ihr Gutes gern und freimütig an, wies aber auch ſcharfſinnig
ihre Mängel nach. Der Wiſſenſchafter und der Lehrer und Erzieher in ihm machten ihn zu beidem
hervorragend fähig. Was er als Ergebnis feines Mühens vorlegte, ſoll im folgenden kurz bar;
gelegt werden. Da der Schulgeſang den wichtigſten Teil der muſikaliſchen Bildung unſeres Volkes
darſtellt, rechtfertigt ſich dieſes Unterfangen in einer den kulturellen Angelegenheiten Deutſch-
lands gewidmeten Zeitſchrift von ſelbſt. Die Spinnftuben- und Dorflindenzeit iſt für uns dahin;
in ihrem Zeichen ſingen, Lieder ſingen zu lernen, ſomit auch. Das weſentlichſte muſikaliſche Gut
liegt ſeit langem in Noten niedergeſchrieben vor uns da; von Noten, nach Noten ſingen zu
konnen iſt darum eine unerläßlihe Vorausſetzung für alle die geworden, die an der Hebung jenes
Gutes teilhaben wollen. Da alle Oeutſchen daran teilhaben ſollen, muß die Schule eine
ihrer ernſteſten Pflichten darin erblicken, ihre Pflegebefohlenen im Notenſingen fo weit zu för-
dern, daß fie, im Leben ohne Unterricht daſtehend, wenigſtens einfache Lieder felbftändig zu
verarbeiten imſtande find. Ohne zu folder Arbeit in den Stand geſetzt zu fein, nutzen den Schul-
entlaſſenen auch die herrlichſten Liederſammlungen nichts, da deren Eigentlichſtes, eben die in
Noten aufgezeichnete Singſtimme, für ſie ein totes Gebilde darſtellt, das in ihnen weder die
den Noten entſprechenden Tonvorſtellungen wachruft noch die Kraft und Kunſt verleiht, ſolchen
Vorſtellungen entſprechende Tonreihen hervorzubringen. Den m. E. einfachſten und guver-
läſſigſten Lehrgang im Notenfingen ftellte nun Karl Eig auf. Er benutzte dazu, wie gejagt, dankbar
und gewiſſenhaft alles ſchon Geſchaffene; aber ſein Tonwortſyſtem war ſchließlich doch etwas
durchaus Eigenes und noch nicht Dageweſenes.
Den zwölf Halbtönen innerhalb einer Oktave, die unbedingt ſelbſtändig nebeneinander be-
ſtehen, gab er zunächſt je einen feſtſtehenden, nur ihm eigenen Mitlaut als erſten Beſtandteil
444 Dic Eonwortichre von Nati e
des neu zu bildenden Tonnamens. Er gelangte fo zu der aus Dauer- und Augenblickslauten in
geſetzmäßiger Folge beſtehenden Reihe
br t mg ſpld fin =
o cis d dis e f fis g gs a ais h
(des) (ee) (ges) (as) (b)
gedes Fortſchreiten in dieſer Reihe von Dauer- zu Augenblidslaut bedeutet einen Halbton-,
jede Rüdung von Qauer- zu Dauer- oder von Augenblicks zu Augenblidslaut einen Gangton-
ſchritt ujw. Um dieſen Mitlauten erſt ihre volle Deutlichkeit bzw. ihre weitere Derwendbungsmög-
lichkeit zu geben, mußte er die Selbſtlaute heranziehen. Ihre Verwendung regelte er aus
dem Beſtreben heraus, den Bau der diatoniſchen Tonleiter, d. h. deren Ganz; und Halbtonfolge
für Ohr und Auge fofort erhör- bzw. erkennbar zu geſtalten und dadurch beiden eine ſichere
Stütze beim Leſen und Singen zu ſchaffen. Da ſieben Stufen mit Selbſtlauten zu verſehen
waren, aber nur fünf Laute zur Verfügung ſtanden, kam ihm der in ſeiner Einfachheit geniale
Gedanke, die Ganztonſchritte durch Fortſchreitung von Laut zu Laut, die Halbtonſchritte indes
durch Wiederholung desſelben Lautes zu kennzeichnen. Praktiſch dargeſtellt hieß dann die
Namenreihe z. B
für G-Our: la fe ni bi to gu pa la, ober
für BOur: ke bi to mo fu la fe ke, ober
für C Moll: bi to mo fu la da (1) ni bi uſw. uſw.
—
Die Halbtonſchritte von der 3 zur 4 und von der 7 zur 8 traten durch di eſe Tonworte mit völliger
Klarheit aus Lautbild und klang hervor; ebenfalls konnte es bezüglich des übermäßigen Ton-
ſchrittes von der 6 zur 7 im dritten Beiſpiel keine Mißdeutung mehr geben: in der Folge a—i
fehlte das e, an deſſen Stelle der Laut für den nächſten Ton trat, außerdem waren die beiden
Mitlaute f und k Überfprungen; folglich mußte es fic hier um die übermäßige Sekunde handeln,
d. h. um den dritten Halbton von „da“ aus. In dieſer Weiſe kam eine wunderbar geſetzmäßige
L natüurlich-wiſſenſchaftliche — Ordnung in die Reihe der Tonworte. Aber Eig ging weiter. Es
kam nämlich in dieſen Tonworten auch das wirkliche Verwandtſchaftsverhältnis der Halbtöne
untereinander zum Ausdruck. Wenn die herrſchende abod-Benamfung fis von f und ges von g
„ableitet“, dann tut ſie nämlich das Gegenteil deſſen, was auf Grund der Schwingungszahlen
der betreffenden Töne recht und richtig iſt; denn der Halbtonſchritt f — fis iſt um ein Geringes
größer als der Halbtonſchritt f — ges. Dürfte hier alſo überhaupt von „Ableitung“ geredet wer-
den, dann nur in dem Sinne, daß ges von f und fis von g ſtamme. Die üblichen Namen ſtehen
mit den akuſtiſchen Tatſachen in völligem Widerſpruch und leiſten gar nichts in bezug auf die
ſprachliche Darftellung der wirklichen Tonverhältniſſe. Eig hat dem abgeholfen und durch feine
einfachen neuen Namen ſprachlich zum Ausdrucke gebracht, was an Beziehungen der in der
Muſik verwandten Töne wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt iſt. Seine Namen find darum ein Der-
anſchaullchungsmittel der Converhdltniffe, wie es ein klareres m. W. nicht gibt; fie ſtellen in
ihrer Gefamtbeit eine ausgezeichnete Begriffs-, eine ihren Zweck voll und ganz erfüllende
Tonſprache dar, deren ſachliche Grundlagen und äußere Zeichen in der Seele des ſich ihr
Bedienenden eine unbedingt ſichere Verbindung miteinander eingehen. Die vorhin beſprochenen
Halbtonverwandtſchaften z. B. nehmen ſich in Eitzſchen Tonworten ſo aus:
cis — d = ro — to, b — a 2 fe — fe,
dis — e mu — gu, as — g = ba — la,
e— f= gu — fu, ges — f = pu — fu,
fis — g = pa — la, es — d = mo — to,
gs — a = be — fe, des— c= ri — bi.
ais — h = fi — ni,
h—c ni, bi;
Die Tonwortlehte von Rarl Cig 445
Die Namen mit Doppelkreuz oder = be weifen die gleiche tadelloſe Ordnung auf; es gibt eben
ſchlechthin nichts an Eitzens Tonwortſpſtem, was logiſch nicht glatt aufginge.
Mich ſelbſt hat anfangs das Fremdartige der Eitzſchen Namen abhalten wollen, einen Verſuch
mit ihnen zu wagen. In Wirklichkeit iſt nichts leichter, als das Erlernen feiner ſprachlichen Ton
zeichen: fängt man doch nicht mit allen auf einmal an, ſondern mit dreien, nämlich ben dreien
fie den erſten Dreiklang, den man üben will — fagen wir bi — gu — la = c - e — g. Für
den darauffolgenden Dreiklang der 4. Stufe: fu — fe — bi = f — a — c find zwei weitere
neue Namen und für den Oreiklang der 5. Stufe la — ni — to = g h d wieder zwei
neue nötig, macht im ganzen fieben Namen. Mit diefen ſieben Worten — den Namen der Ton-
leiter bi to gu fu la fe ni bi — wird monatelang gearbeitet, ehe der erfte weitere — pa oder fe,
je nachdem, ob 1 man G- oder F-Dur zuerſt vornimmt — drankommt. Und fo geht das im Laufe
von acht Schuljahren Schrittchen um Schrittchen fort, bis alle 21 Namen gelernt find, Die
25 Buchſtabennamen lernen die kleinen in einem Sabre!
Qn der Neuartigkeit der Namen liegt alſo keine Schwierigkeit; fie ſcheint nur erſt vorhanden
zu ſein. Der Lehrende braucht zu Anfang nicht mehr von ihnen zu können, als er an ſeine
Schüler heranbringen will, alſo drei Stuck; alle anderen eignet er ſich mit ihnen an. Im Laufe
der Zeit lernt er meiſt auch ſelbſt erſt den ſchlichten Wunderbau des Syſtems voll erkennen;
die Beherrſchung des Syſtems iſt eben gar nicht Vorbedingung zum Gebrauch ſeiner Elemente.
hernach fügt ſich immer alles Einzelne lücken und reibungslos zum Ganzen.
Soll nun der Geſangunterricht nach Eitz zum Zwange werben? Nein! Eitz ſelbſt wollte das
nicht; und niemand kann das wollen, bem die Freiheit in der Wahl der Unterrichtsmittel wert;
voller erſcheint als die Nötigung zum Gebrauche ſelbſt des beſten. Was wirklich gut iſt, hat nicht
zu fürchten, daß es untergeht.. . Zum Schluſſe fei es mir erlaubt, auf ein paar Schriften hin-
zuweiſen, die in die Tonwortlehre und Tonwortübung einführen: 1. Karl Eitz, Der Gefang-
unterricht als Grundlage der muſikaliſchen Bildung (Klinkhardt, Leipzig); 2. Oskar Meſſmer,
Hie Tonwortmethode von C. E. (Banger, Würzburg); 3. Frank Bennedik, Hiftorifde und
pſpchologiſch-muſikaliſche Unterſuchungen (Beltz, Langenſalza); 4. Suſtav Sötze, Oeutſche
Geſangſchule (Vieweg, Berlin); 5. Fr. Bennedik und Adolf Strube, Tonwortfibel und Ton-
wortliederbuch (Merſeburger, Leipzig); 6. Simon Breu, Das elementare Notenſingen (Stirs,
Würzburg).
Ein ſauerländiſcher Lehrer, der auf meine Anregung hin in feiner einklaſſigen Schule mit dem
Singen auf Eitzſche Tonworte begonnen und ſchon bald zu feiner und der Kinder Freude Schönes
erteicht hatte, ſagte mir ſpäter dem Sinne nach: „So, nun weiß ich, daß vor allem meine Mädchen
etwas aus der Schule mitnehmen, was ihnen die ganze Zeit ihres Heranwachſens über ftündlich
von Wert fein wird. Haben die jungen Dinger bei uns da oben doch nicht viel mehr an Unter-
haltung und Ergötzung als das Singen. So leicht wie jetzt iſt uns das Singen aber früher nie
geworden, ſoviel haben wir nicht geſungen und erſt recht hat ſich nie eines meiner Kinder allein
in einem Liederbuch zurechtfinden können. Das alles iſt aber jetzt ſo und wird, wie ich feſt glaube,
für viele ein Segen werden.“ Viele Lehrer in Stadt und Land in ſolchem Glauben bei der
Arbeit, müffen dem deutſchen Singevolke ein Segen, weil eine Erlöfung aus der Haft der zer;
mürbenden Zeitlaufte werben. Reinhold Zimmermann
Cagebuch
Notzeit und Praſſer Vernunft ward Unſinn Der Barla
mentarismus am Ende Die Diktaturen Italieniſche Ent:
wicklungen und Gefahren Argerniſſe König Chriſtus
ine Tanzſchule lud mich ein. Sie will „ein Feſt in der Hölle“ ſteigen laſſen.
E „Seine Hoheit Pluto, Fürſt der Unterwelt, entbietet alle Getreuen in ſein
Reich. Teufel, Hexlein, Trolle und Waldſchrat erwarten das ganze luſtige Erden⸗
volk zu tobender Ausgelaſſenheit.“ Ich dachte an die anderthalb Millionen Ar-
beitsloſer und zerriß das Blatt.
Sagte nicht Schacht, unſre Notlage verſtatte künftig der deutſchen Frau nur
noch alle zwei Jahre einen neuen Hut? Sie ſcheint aber den Neureichen fogar
noch Silveſterſchmäuſe bei Adlon, Briſtol, Eſplanade zu verſtatten; das trockene
Gedeck zu 35, 30 und 27 Mark. In der „B. Z.“ las ich die Speiſefolgen: Gänfe
leberpaſtete in Champagner-Gallert, Schildkrötenſuppe, Seezungenfilet Moskovite,
Helgoländer Hummer in Portwein, Rehrücken St. Hubertus, getrüffelte Poularde,
Silveſterbombe und dergleichen Mundwäſſerndes mehr. Auf der nächſten Seite aber
ſtand, daß in der Weihnachtswoche 74 Verliner Selbſtmord verübt haben. Und der
Handelsteil berechnete für 1925 10933 Konkurſe gegen 249 des Inflationsjahres 1923.
Der Teufel hält uns am Kragen; ſeine Grauſetatze hat kräftig zugepackt. Aber
unſer „luſtig Erdenvolk“ ſpürt ihn nicht. Vielmehr dünkt es ihm ein köſtlich Ding,
ſelber einmal den Teufel zu ſpielen; zum mindeſten Hexlein, Troll oder Waldſchrat.
Nun haben wir die Republik, worin keiner das Überflüſſige beſitzen ſollte, bevor
jedem das Nötige geworden. Und trotzdem dieſe Silveſterſchlemmereien mit ihrem
leichtfertigen „Nach uns die Sintflut“?!
Wir verloren den Krieg, verloren Land und Leute, verloren unſer Vermögen.
Schlimm; aber weit ſchlimmer, daß wir zu alledem auch noch den Charakter ver-
loren haben! Und den Menſchenverſtand obendrein.
War da im Kohlengebiet eine kränkelnde Zeche. Jedoch beſtand die Möglichkeit
des Weiterbetriebs, wofern ſich das Perſonal den Lohn bloß um ein Sechzehntel
kürzen ließ. Selber war es auch bereit, aber die Genoſſen von der Gewerkſchaft
verboten es. Der allgemeine Zwangstarif fei da, er dürfe um keinen Preis durch
löchert werden. Zugeſtändniſſe drehten nur den Strick, woran man den Arbeiter
morgen aufhänge. So wurde der Vorſchlag abgelehnt, die Zeche daher ſtillgelegt.
Fünfhundert Familien leiden Not und fallen der Gemeinde zur Laſt, die ſelber
Not leidet; aber Karl Marx hat geſiegt, und der Tarif iſt gerettet.
Was wohl der amerikaniſche Arbeiter in ſolchem Falle täte? Sein ausgeprägtes
„Ich- bin- ich“-Gefühl würde törichten Bevormundern ungemütlich aufs Dach ſteigen.
Wie teuer, ſo hieße es da, er ſeine Arbeit verkaufe, das bleibe ganz und gar ſeine
perſönliche Sache. Gut verdienen ſei ſchön, aber ſchlechter verdienen immer noch
beſſer als gar nicht verdienen. Wenn man von der Induſtrie leben wolle, dann
müſſe dieſe erſt ſelber einmal leben können.
Zürmers Tagebuch 447
Solche Schlüffe find aber zu logiſch, als daß deutſche Parteifunttiondre fie zu
ziehen vermöchten. Stimmenbuhleriſche Blindlingspolitik hat unſrem kriegs
geſchwächten, rohſtoffberaubten, reparationsbelaſteten Großgewerbe noch andert-
halb Milliarden Soziallaſten mehr als vor dem Kriege aufgebürdet. Man bedachte
wenig, aber beſchloß viel und ſieht jetzt verblüfft die abſonderlichſten Auswüchſe
wuchern. Der Bergknappe tritt mit fünfzig Jahren in den Ruheſtand. Auf alle
Falle tut er's; auch bei voller Kraft und Luſt zu weiterem Schaffen. Denn er
erhält ja mehr Rente als ein Vollarbeiter Lohn. Wenn der Mann ſtirbt, dann iſt
dies für die Frau ein menſchlicher Verluſt, aber ein wirtſchaftlicher Vorteil; ihr
Witwengeld iſt nämlich höher, als was er in ſeinen beſten Jahren heimbrachte.
Viele Betriebe könnten ſich und ihrer Belegſchaft über dieſe Notzeit mit Kurzarbeit
hinweghelfen. Aber wer bequemt ſich dazu, wo dann ſein Verdienſt niedriger wäre
als die Erwerbsloſenbeihilfe, um die er keinen Finger zu rühren braucht? Daß
Nichtstun beſſer bezahlt wird als Tun, ijt an ſich ſchon eine Ungereimtbeit, nun
gar jetzt, wo Deutſchland erzeugen muß, um zahlen zu können, und daher ſelbſt
den Landſturm der Arbeit aufbieten müßte.
Hat noch kein Sozialdemokrat erkannt, wie hirnlos es iſt, zugleich die Völker-
verbrüderung und den Klaſſenhaß zu pflegen? Wer die Vereinigten Staaten von
Europa will, der ſollte doch zunächſt einmal die Vereinigten Stände und Parteien
Deutſchlands erſtreben. Wie weit wir aber noch davon ab, das verriet die Kabinetts
kriſe, womit wir das neue Jahr ganz ebenſo begannen wie das alte.
Hat der Parlamentarismus Sinn und Verſtand, dann iſt Regierungsübernahme
nicht nur ein Recht, ſondern die Pflicht der ſtärkſten Partei. Sträubt fie ſich, zer-
ſchlägt ſie gar das Kabinett, das dann ohne ſie zuſtande kam, ſo zerſchlägt ſie nicht
nur jede vaterländiſche Politik, ſondern auch den Parlamentarismus.
Minifter fein verlangt freilich in unſren ungeheuren Wirtſchaftsnöten den Mut
zur Unpopularität. Je demokratiſcher die Partei, deſto ſchwächer nun leider gerade
dieſe Spielart der Herzhaftigkeit. Ein ſozialdemokratiſcher Kanzler müßte ſeine
phraſenberauſchten Genoſſen zunächſt einmal ernüchtern und entblenden. Er müßte
ihnen ſagen, was Fritz Ebert, der Sohn, kürzlich in einem tapferen Heftchen ſchrieb:
Der Umſturz hat uns kein Schlaraffenland, ſondern ein Verhängnis gebracht. Go-
zialiſierungen bei wirtſchaftlichem Niederbruch find ein Unſinn. Erpreßte Lohn-
beſſerungen ſchlagen ins Gegenteil um, wenn der Staat darob erliegt. Wer für Er-
füllung ſchwärmt, der muß die Wirtſchaft fo ſtellen, daß fie erfüllen kann. Wenn
man aber das Dawes-Abkommen vorn einſpannt, erhöhte Fürſorgeanſprüche hin-
gegen hinten, dann wird der Wagen der deutſchen Induſtrie in Stücke geriſſen
und der deutſche Werkmann endet als der Leibeigene ausländiſchen Kapitals.
Die Not ſchreit, die kommuniſtiſche Umſturzgefahr wächſt. Um allen Möglich-
keiten gefeit zu fein, bedarf es einer breiten, ſtarken Zentralgewalt. Die Sozial-
demokratie rühmt ſich der Maſſe hinter ihr. Gerade darum hätte ſie den Mut zur
Wahrheit haben müſſen. Statt deſſen macht fie es wieder wie damals beim Mu-
nitionsarbeiterſtreik. Weil man Severings politiſche Kinder fürchtet, treibt man
deren politiſche Kinderei ſelber mit.
Zentrum und Demokraten haben geworben und gewarnt. Wenn die ſozialiſtiſche
448 Zürmers Tagebuch
Linke ſich als Klaſſenpartei ifoliere, dann handle fie wie Kaiſer Wilhelm IL, als er
das engliſche Bündnis abwies. Sie habe nur zu wählen zwiſchen zeitweiſem Verluſt
an Stimmen und ſchleichendem Anſehensverluſt der Republik, der Demokratie und
des Parlamentarismus. Auch Noske und Braun, ſelbſt Severing und Scheidemann
redeten zu, aber fie unterlagen der Verantwortungsſcheu und der Angſt des un-
ſchöpferiſchen Nörglers, dem plötzlich zugerufen wird: „Nun zeige, was du kannſt!“
Noch höhere Warte hat Hellpach erſtiegen, der demokratiſche Gegenkandidat
Hindenburgs in der Präſidialſchlacht. Solcher Fraktionismus führe in den Sumpf.
Es liege gar nichts Beunruhigendes darin, wenn Deutſchland mit dem parla-
mentariſchen Syſtem breche. Die beiden echteſten Demokratien der Welt
haben es nicht und daher auch keine Kabinettskriſen. In Amerika ernennt der Präſi-
dent die Miniſter, und fie bleiben, ſolange es ihm, nicht folange es den gejeggeben-
den Körpern gefällt. In der Schweiz werden die Bundesräte zwar gewählt, aber
nicht auf Widerruf, ſondern auf feſte Zeit; fo etwa, wie bei uns die Oberbürger-
meiſter.
Hellpachs Wort wird nicht verhallen. Ein Demokrat, der die Verfaſſung ent-
demokratiſieren will! Aber er tut es in der klugen Einſicht, daß nur Umbau dem
Amſturz vorbeugt.
Beiſpiele warnen. Wo es der Parlamentarismus gar zu närriſch treibt, da ſteht
eines Tages die Diktatur auf. Gleich am erſten Januarſonntag erlebte die Welt
binnen drei Jahren den dritten Schulfall.
„Wir müſſen ſparen“, erklärte General Pangalos in Athen. Wir auch. „Die
Parteiführer haben jede vernünftige Regierung durchkreuzt“; ganz wie bei uns.
„Der Parlamentarismus hat uns ins Elend geritten“; als ob ein Deutſcher ſpräche!
So wurde die Diktatur verkündet, und es grüßte fie hallender Hochruf der Regi-
menter. Sofort verſpürte man heilenden Zwang, wie er früher gefehlt. Der Leut-
nant Theſeus Pangalos machte ſich mauſig; kurzerhand ſtieß ihn der Vater aus
dem Heere wegen ſchlechter Mannszucht.
Auch auf der pyrenäiſchen Halbinſel hat ſich die Diktatur bewährt. Ihre ſchweren
Gefahren hingegen entpuppen ſich auf der apenniniſchen. Im zariſtiſchen Rußland
lebten die Deutſch Balten zehnmal beſſer als jetzt die Deutſch Tiroler im faſchiſtiſchen
Italien. Deren Leiden machen uns das Bruderblut ſieden. Der Geiſt von Locarno
weht am Brenner nicht; ſo wenig wie übrigens in Paris, trotz Briands glatten
Reden. Hier wird der verſprochene Abbau der rheiniſchen Veſatzungen verweigert,
dort Marinettis Meute auf ein wehrloſes Splittervolk gehetzt.
Jahrzehntelang hat Italien für das Nationalitätenprinzip geeifert und nach den
erlöſten Brüdern geſchrien. Jetzt find all die ſchönen Grundſätze verweht, und man
mißhandelt fremdes Volkstum mit Maulkorb, Ketten, Reitpeitſche und Rizinusöl.
Oer italieniſche Staat kam in zwei Menſchenaltern empor; aber nicht durch Er-
folge, ſondern trotz Niederlagen. Seine Bündniſſe waren glücklicher als ſeine Waffen,
und man hatte den Zufall zum liſtigen Freunde.
Je unverhoffter der Sieg, deſto toller überſchlägt ſich der Siegesüͤbermut. Wie
er ſich jetzt in dem Lande, wo die Zitronen blühen, gebärdet, das wird ſchon ein
reizvolles Studium für Nervenärzte. Marinetti paukt der Jugend Schlagſätze ein:
Türmers Tagebuch 449
„Italien iſt göttlich“; „jeder Fremde hat Ztalien mit religiöſer Ehrfurcht zu be-
treten“; „der letzte Italiener gilt mehr als tauſend Fremde“. Dergleichen ſteckt an,
und italieniſcher Volkagrößenwahn iſt die Hauptfriedensgefahr des neuen Europas.
Dort unten grollt und brüllt es wie im Krater des Veſuvs; der Völkerbund gleicht
einem Pompeji am Vorabend des großen Ausbruchs.
Wie hat ſich doch der italieniſche Arbeiter gewandelt! Keiner war erpichter auf
den blutroten Umſturz als er, und er ſchwur auf den weltbefreienden Stich des
Dolches. Caſerio, Luccheni, Bresci, die Mörder Sadi Carnots, der Gemahlin Franz
Sofephs und des Königs Humbert, find ſämtlich italieniſche Anarchiſten geweſen.
Gegen hunderttauſend riefen dann „Krieg dem Kriege“ und zerriſſen den Geſtel
lungsbefehl. Im Herbſt 1920 kam es in Oberitalien zu bolſchewiſtiſchem Aufruhr;
die Fabriken wurden ſyndikaliſiert, und die rote Fahne flatterte darüber. In jenen
Tagen entſtand der Faſchismus als Rückſtoß, glühend gehaßt von der roten Arbeiter-
ſchaft, der er blutige Kämpfe lieferte. Wo ſind die Anarchiſten, Syndikaliſten und
Bolſchewiſten von damals? Im ſchwarzen Staubhemde paradieren ſie vor dem
Duce; ihr Ave ſchallt und ihre Rechte reckt ſich zum Kaiſergruß der römiſchen
Legionäre. Warte nur, balde machen ſie den einſtigen Steinträgerſtift zum Im-
perator Romanus.
Nimmt es wunder, daß unſere Sozialdemokratie bei dem Namen Muſſolini
immer gleich hochgeht? Was da im Süden einſetzt, das iſt die Gegenbewegung
des zwanzigſten Jahrhunderts gegen die demokratiſche des neunzehnten. Sie hatten
geglaubt, mit dem Zeitwinde zu ſegeln, nun melden die drei Halbinſeln Südeuropas
ſchroffen Wetterumſchlag. Dazu am italieniſchen Beiſpiel die bittere Erkenntnis,
wie wenig Verlaß doch iſt auf die Maſſe, das berühmte reifgewordene, zielbewußte,
werktätige Volk. Wer ihr den Kopf warm macht, der hat ſie, und wenn nur der
richtige Heißmacher kommt, dann flutet fie von knallroter Weltbürgerlichkeit bran-
dend hinüber zu himmelblauſtem Völkiſchſein.
Daher die hirnzerfreſſende Angſt vor einem deutſchen Faſchismus, einem deut-
ſchen Muſſolini und einer deutſchen Diktatur. Herr v. Löbell ſchrieb, wenn fogial-
demokratiſche Störrigkeit kein Kabinett aufkommen laſſe, dann bleibe nur der Aus-
nahmezuſtand. Und ſofort tobte die Linkspreſſe wie eine Raſſelbande von Haber-
feldtreibern.
Was war denn an dem Hinweis ſo verbrecheriſch? Der Verfaſſungsartikel 48
iſt doch da, damit man ihn gebraucht im Falle des Bedarfs. Aber ſelbſt wenn er
nicht wäre; Zwangsläufigkeiten verhindert kein Geſchrei. Eine Diktatur kommt alle-
mal, ſobald der letzte Glaube an Parlamentarismus und Parteiweisheit erliſcht.
Abwenden kann fie nur Vernunft und Umkehr, derweil Starrſinn und Abwehr-
angſt nur wie bei der Schickſalstragödie erbauend vollendet.
Mit Satzungen iſt nichts getan; der Volkscharakter, in dem liegt alles. Das beſte
Staatsgrundgeſetz verſagt am ſchlechten Staatsbürger. Macht die Deutſchen beſſer
als ſie heute ſind, und es wird von ſelber beſſer ums Vaterland.
Anſre Linksleute behaupten, früher ſei's auch nicht anders geweſen. Schaden-
froh krebſen ſie daher mit der Enthüllung, daß der Haupturheber unſres deutſchen
Unbeils, der Herr v. Holſtein, ein politiſcher Börſenſpieler geweſen. Er der
Der Türmer XXVIII, 5
450 Zürmers Tagebuch
Mann war geiſteskrank; er ift arm geſtorben, weil er feinen Marktgewinn irrſinnig
zu einer weltumſpannenden Beſpitzelung unſres geſamten auswärtigen Dienſtes
vom Votſchafter bis zum Attachs verbrauchte.
Krieg und Umſturz ſind — je länger, deſto mehr — üble Menſchenverderber.
Große Naturen machen ſie zwar größer, aber kleine dafür um ſo kleiner. Da es
nun viel mehr kleine als große in der Welt gibt, ſo iſt auch das Geſamtergebnis
betrüblich. Zm In- wie im Auslande reißen die Argerniſſe nicht mehr ab.
Prinz Windiſchgrätz, aus einer jener deutſchen Fürſtenfamilien Öfterreichs, die
ſich mit ihrem Grundbeſitz haltlos vertſchechten und madjariſierten, war k. k. Kam-
merherr und Geheimer Rat, dazu ungariſcher Ernährungsminiſter. Seine Aben-
teurernatur vergeudet ein ungeheures Erbgut und ſchlägt ſich dann hochſtapelnd
durch die Welt, bis ſie beim Notenfälſchen anlangt.
Ein gemeiner Spitzbubenſtreich, der ins Zuchthaus führt. Aber wie viele politiſche
Spitzbubenſtreiche dieſer eine ſofort auslöſte! Jede Partei hängt den Fälfcher-
prinzen flugs ihrem Gegner an die Rockſchößen. Sein Schwindel wird ihr Schwin-
del; aus den Scheinen, die er ſtechen ließ, ſchlagen ſie Kapital. Die Republikaner
beweiſen an ihm die Verworfenheit der Monarchiſten. Die Linksradikalen laſſen
melden, Anſtifter ſeien unſre Völkiſchen. Die Tſchechen beſchuldigen den ungariſchen
Staat, verlangen Einſchreiten des Völkerbundes und bieten ſich mit verdächtigem
Eifer als Gerichtsbüttel an. Die Franzoſen find ſittlich erboſt und verlangen aus-
giebigen Schadenerſatz. Sie haben offenbar vergeſſen, daß eine feindliche Noten-
preſſe in jedem Kriege zu Napoleons notwendigſter Feldausrüſtung gehörte. Aber
es iſt erſt drei Jahre her, daß ihr Heer an der Ruhr unfertiges deutſches Papier-
geld beſchlagnahmte, ſelber mit Nummern verſah und die Annahme bei den Kauf-
leuten durch Gefängnisſtrafen erzwang. War das etwas anderes als Windifd-
grätziſche Fälſchung?
Wie widerwärtig iſt auch der Zank um die Fürſtenvermögen! Von „Abfindung“
ſpricht die Linkspreſſe und führt ſchon damit irre. Es handelt ſich vielmehr um
reinliche Scheidung zwiſchen Staats- und Privatbeſitz, ſchwierig dadurch, weil der
Vormärz fürſtliches Eigentum und fürſtliches Nutzungsrecht meiſt ſchlecht oder gar
nicht auseinanderhielt. Da hilft nur guter Wille auf beiden Seiten und ſtatt fette
Prozeſſe der magere Vergleich.
Wieder wurde der Volksentſcheid verlangt. Der Wähler ſollte Richter ſein in
eigener Sache. Schon ſetzten Beſtechungsverſuche ein: von den eingezogenen Mil-
lioner könne man der ganzen Wohnungsnot ſteuern. Volksverſammlungen erhoben
den Vorſchlag „mit Begeiſterung“ zum Beſchluß. Der ſouveräne König beugte ſich
einſt dem Einſpruch: „Ja, wenn das Kammergericht nicht wäre!“, das ſouveräne
Volk aber ſagt: „Das Kammergericht bin ich.“
Nein; Recht bleibe Recht auf ſeiten des Staates. Dafür muß Takt freilich auch
Takt bleiben auf ſeiten der Fürſten. Adel verpflichtet; erſt recht Geſchlechter, denen
die Geſchichte einen heiligen Beruf zuerkannt und mit Ehrfurcht umgeben hatte.
Es verdrießt, daß, wo der Bürger kaum um das Zehntel aufgewertet wurde, jetzt
einige von ihnen trotz Wirtſchaftsnot und Daweslaſt auf voller Aufwertung be-
harren. Über alle Bäume aber ſteigt das mecklenburgiſche Anſinnen, der Staat folle
Zürmers Tagebuch 451
die unehelichen Kinder des letzten Großherzogs abfinden und die Leibgedinge
zweier Mätreffen übernehmen. Wo bleibt da die Wurde und ſelbſt die ganz gewöhn-
liche Vorſicht? Gegen ſolches Schamvergeſſen muß gerade der Monarchift brein-
fahren mit dem ganzen lodernden Zorne eines Reichsfreiherrn vom Stein. Das
Reichsbanner plant für des Kaiſers Geburtstag Kundgebungen gegen die „Fürſten⸗
hyänen“ und Werbeabende für die demokratiſche Republik. Merkt ihr Hoheiten,
ihr Fürſtenräte und Hofmarſchälle, was ihr angerichtet?
Der Papſt will einen neuen Feſttag ſchaffen, dem König Chriſtus geweiht. An
ſich ein Gedanke, ſinnig und zeitgemäß. König Chriſtus iſt der Diktator, den unſre
verwahrloſte Gegenwart braucht. Er iſt erprobt und hat gezeigt, daß er Teufel
austreiben, Beſeſſene heilen kann. Nur ſollte der Vatikan bedenken, daß ſein Reich
nicht von dieſer Welt, ſein Thron vielmehr in den Herzen erbaut ſein will. Durch
die Gewiſſen regiert er, nicht mit weltlicher, ſondern mit ſittlicher Macht. Wo aber
die Seelen erwachen, da werden Menſchen, die bei jedem Tun, bei jedem Laſſen
zu Rate gehen: „Wie wirkt es auf die Nächſten, wie wirkt es aufs Vaterland?“
Bei jedem, ob es ſich um Kabinettskriſen handelt, um Notlagen, um Locarno-
Verträge, um Vermögensverzichte oder Faſchingsfeſte beim Fürſten der Unterwelt.
Wenn man vergleicht, wie es ſein müßte und wie es hingegen iſt, dann möchte
man verzweifeln. Seltſam jedoch, daß die andern dabei nicht an uns irre werden
trotz alledem. Zur Wende des alten Jahres haben die Sterndeuter das Horoftop
des neuen geſtellt; Wahrſagerinnen die Zukunft geleſen aus Karte und Kaffeeſatz.
Für Frankreich kam allerhand Dunkles heraus; ſelbſt bei der Vie und der Freya,
den beiden berühmten Pythien von Paris. Allein alle und ſelbſt ſie künden dem
geſundenden Deutſchland Heilung und dämmerndes Heil.
Wie gerne glaubte man! Wer jedoch hat dazu den Mut? Das Erlebnis eines
furchtbaren Jahrzehntes hat uns politiſch zu Thomaſſen gemacht, die ſehen wollen,
bevor ſie glauben. Das Vertrauen iſt ſchwach geworden und bedarf zur Stärkung
der Beweiſe. Es will Ernſt ſehen und hohen Sinn, einiges Handeln bei neuem Fleiß
und neuer Sparſamkeit: nicht Silveſterſchmäuſe bei Adlon und nicht Höllenfeſte mit
Teufel, Herlein, Troll und Waldſchrat! F. H.
Abgeſchloſſen am 21. Januar 1926.
Guſtav Schröer
feierte am 14. Januar feinen 50. Geburtstag.
Daß der „Türmer“ auf dieſen Tag hinweiſt,
dazu hat er ein volles Recht. Denn G. Schröer
gehört zu den Schriftſtellern, die ſich, wie der
Herausgeber des „Türmers“ es vorbildlich ge-
tan hat, der naturaliſtiſchen Welle eines Lite-
ratentums entgegenwerfen, das im materiali-
ſtiſchen Strom der Zeit ſchwimmt und dem
relativiſtiſchen Zug der Libertiniſten huldigt.
Nichts davon bei Schröer. Er iſt in dieſem
Sinne ganz unmodern. Er hat das Wort des
Freiherrn vom Stein vor Augen, der ſagt, ein
Volk könne ſich nur erhalten durch die Tugen-
den, durch die es groß geworden iſt. Er ſchreibt
aus der Seele des Volksteils heraus, der, ab-
feits von der in ewigem Wedel begriffenen
Fabrikarbeiterſchaft, fein wurzelhaftes Dafein
führt und den bleibenden Grundſtock der Na-
tion bildet. Dazu konnte ſich Schröer angeregt
finden, da er als junger Lehrer, in ein Dorf
des oberen Saaletals verſchlagen, mehr als
zwei Jahrzehnte lang Erfahrungen und Ein-
drücke zu ſammeln in der Lage war. Sein erſtes
Buch, „Der Freibauer“, ſchrieb er im Alter von
38 Fahren. Dieſes und alles, was er ſonſt
herausgab, wurzelt lan dſchaftlich in Thüringen,
das ihm, neben der kürzlich verſtorbenen Re-
nate Fiſcher, köftlihe Schilderungen von Land
und Leuten verdankt.
Mit Recht preift man ihn als einen Haupt-
vertreter des neuen deutſchen Bauernromans.
Wird dabei hervorgehoben, daß die Haupt-
geftalt aller feiner Bücher „der großzügige
Bauer“ ſei, ſo darf darin nicht ein verſtecktes
Bedenken geſucht werden, ob wohl die Zeich⸗
nung der Thüringer Bauern ganz echt ſei.
Durchaus echt und begrüßungswert ijt das Be⸗
ſtreben Schr ers, die ſittlichen Werte der Per-
ſonen und Geſchehniſſe herauszuarbeiten. Es
iſt eine reine Luft, die in ſeinen Romanen
weht. Und das tut in unſerer materialiſtiſch
durchſeuchten Zeit doppelt gut. Man wird bei
der Lektüre ſeiner Romane ſogleich gefeſſelt.
Man intereſſiert ſich für die auftretenden,
tedenden und handelnden Perſonen und folgt
mit Spannung ihren Schickſalen bis zum
Schluß. Daraus erklärt ſich auch die Tatſache,
daß ſeine Bücher ſehr bald eine zahlreiche
Leſerſchar gefunden haben. Die „Flucht aus
dem Alltag“ erlebte binnen eines Jahres drei
ſtarke Auflagen.
Damit erſchöpft ſich aber nicht die Arbeit
Schrö ers. Seit dem 1. Mai 1922 iſt er Leiter
der kulturellen Abteilung des, Thüringer Land-
bundes“ in Weimar und Herausgeber der Zei-
tung „Der Thüringer Landbund“. Auch gibt
er ſeit 1½ Jahren die Thüringer Monatſchrift
„Glaube und Heimat“ heraus, die in Thüringen
in etwa 65 O00 Exemplaren verbreitet iſt. So
iſt er der gute Genius des Thüringer Land-
volkes, was auch dadurch in Erſcheinung tritt,
daß er an der großen deutſchen Bauernbewe⸗
gung lebhaften Anteil nimmt, wie fie in Thü-
ringen durch Gründung von Bauernhochſchulen
in Oberellen bei Eiſenach und Neudietenderf
ſich Boden erwarb.
So vereinigen ſich in ihm glüdlicherweife
ſtändige praktiſche Anteilnahme und Fühlung
mit dem Leben und dichteriſche Ausgeſtaltung
deſſen, was ihn innerlich bewegt und zur Dar-
ſtellung drängt. Das Thüringer Volk, und mit
ihm Geſamtdeutſchland, kann ſich an dieſem
einfachen, ſelbſtloſen, friſchen Zdealiſten, der
doch mit beiden Füßen feſt auf der heimat-
lichen Erde ſteht, herzlich freuen.
Prof. Dr. W. Rein (Jena)
„Im Anfang war die Liebe”...
Iſt wirklich noch etwas Neues zu fagen
über Malwida von Meyſenbug, die Ver-
faſſerin der „Memoiren einer Zdealiſtin“? Sie
ſelbſt belehrt den Ungläubigen eines Beſſeren,
denn ſie iſt es, die in dieſem Werke das Wort
führt, ſie einzig und allein. Berta Schleicher,
die treue und verſtändnisvolle Viographin
Malwidas, ihre publiziſtiſche Wegbereiterin
nach dem Tode, hat in mühevoller Arbeit
etwa dreitauſend Briefe, die über einen Zeit;
raum von rund 30 Jahren ſich verteilen, ge-
Auf der Warte
ſichtet. Einen kleinen Bruchteil hat fie ver-
öffentlicht, er iſt ſoeben unter dem Titel
„Malwida von Meyſenbug. Im Anfang war
die Liebe. Briefe an ihre Pflegetochter“ bei
der C. H. Beckſchen Verlagsbuchhand—
lung in München erſchienen.
Schon ein Brief Buch Malwida v. Meyfen-
bugs verdanken wir Berta Schleicher, die
„Briefe von und an Malwida von Menfen-
bug“, die ungefähr den gleichen Zeitraum be-
treffen. Handelt es ſich dort um einen Brief-
wechſel mit verſchiedenen Perſönlichkeiten, ſo
find hier monologartig autobiographiſche No-
tizen in einer Fülle gehäuft, die das Buch zu
einer willkommenen Ergänzung des Me-
moirenwerks machen. Gerichtet an Olga Mo-
nod, die Tochter ihrer Wahl, das Kind des
teuren Freundes Alexander Herzen, ſpiegelt
{id in dieſen Briefen die ganze Liebesfülle die!
ſes reichen Frauenherzens. Sie ſollten „eine
Brüde ſchlagen zu dem geliebten Leben, das
ſich durch Olgas Verheiratung mit dem Hifto-
riker Gabriel Monod fern von ihr abſpielte“.
Volle drei Jahrzehnte, bis zum Tode der
Briefſchreiberin, haben ſie dies treulich getan.
Und — erſtaunlich, aber wahr, fie find in-
zwiſchen keineswegs vergilbt oder verblichen,
fie leben von warmem Blutſtrom durch-
rauſcht, als hätte ſie geſtern die Hand der
gütigen und klugen Schreiberin aufs Papier
geworfen. Welch vollgültiger Beweis für die
höhere Kultur einer Zeit, die nach Jahren ge-
rechnet nicht allzu lange hinter uns liegt und
die in unſere nüchterne Gegenwart dennoch
hineinlugt wie ein verlorenes Paradies! Mal-
wida hat die kommende Entwicklung mit febe-
riſchem Blick geahnt. Prophetiſch empfunden
leſen ſich ihre Worte (Rom, Dezember 1875):
„ . . die Oper iſt ein verfaulter Leichnam, nur
das muſikaliſche Drama war zu erreichen, und
Wagner hat es geſchaffen mit unerhörter
Genialitat. Aber das ift möglich, daß er allein
bleibt wie Michelangelo und daß nach ihm der
Verfall kommt, weil man ihn wird nachahmen
wollen, ohne ihn erreichen zu können, wie es
mit Michelangelo auch ging. Da wäre dann
der Verfall der Kunſt überhaupt da, aller
Kunſt; es bliebe dann nur hübfche Ornamentik,
Ausſchmückung des Lebens, aber kein großes,
455
geniales Schaffen mehr.“ Bei dieſer Deta- ;
dence, dieſem Epigonentum ſind wir in der
Tat angelangt, und die Hoffnungslofigteit, zu
urtimlidem Schaffen zurüdzufinden, wurzel)
zutiefſt im Bewußtſein vom Verluſt oder der
Vergiftung unſerer Seele.
Dieſe finſteren Schatten durchgeiſtern Mal-
widas Briefe nicht. Sie durchſtrahlt das helle,
kraftvolle, ſonnige Licht eines tätigen Lebens,
das alte Tradition und Bande des Blutes
ihres Deſpotismus entkleidete, um den Men-
ſchen ſeiner Wahl zu geben, was in ſeinen
Kräften ſtand. Dies wechſelweiſe Geben und
Empfangen, das aus dieſen Briefen zu uns
ſpricht, macht fie zu einer ungemein angieben-
den Lektüre. Wie Zauberſtrahlen fallen warme
Schlaglichter auf Gräber, die ſich längit ge-
ſchloſſen; nochmals entſteigen ihnen in irbi-
ſchem Gewande unſterbliche Geſtalten, andere
miſchen ſich darein, die noch unter uns wan-
deln — der Meiſter von Bayreuth, Coſima,
der kleine Fidi (Siegfried Wagner), Friedrich
Nietzſche, Lenbach, Bülow, der ſpätere Ranz-
ler, Donna Laura Minghetti, der jugendliche
Romain Rolland und ſo viele andere, ein un-
ermeßlicher Zug — — —
Ein unverſiegbarer Lebensquell ſprudelt in
dieſen Briefen. Es iſt ein nicht hoch genug
einzuſchätzendes Verdienſt Berta Schleichers,
daß ſie uns den Zugang zu ihm erſchloſſen hat.
Auch über ihrem biographiſchen und editori-
ſchen Schaffen prangt als Leitwort „Im An-
fang war die Liebe“, der Wahlſpruch, der dem
Buche den Titel gab, die Worte, mit denen
Malwida an der Schwelle des Todes Abſchied
von dem Leben nahm.
„Lamore fu al prinoipio di tutto.“
Dr. M. Leuchs - Mack
Die Quäker
En Buch von Julie Schloffer anzuzeigen
iſt eine Freude, denn welchem Gebiet
fie auch ihren Gegenſtand entnimmt: immer
weiß ſie von der erſten Zeile an zu feſſeln,
immer kleidet ſie ihn in das Gewand ihrer
warmen, lebens vollen, bildhaften Sprache
und ihrer vornehmen Auffaſſung aller Dinge.
Diesmal iſt es die Semeinſchaft der Quäker,
deren wohltãtig ruhevolles Bild fie in die Zer⸗
q
7
ae
454
riſſenheit unſerer Tage hineinſtellt (Julie
Schloſſer: Vom inneren Licht, die
Quäker. Furche- Verlag, Berlin 1926).
Faſt jedes Kind in Oeutſchland weit heute
von den Quälern — was aber die meiften von
uns wiſſen, iſt nur ihr Hilfeſpenden, die aͤußere
Auswirkung ihres Glaubens, mit dem ſie ohne
Kompromiß Ernſt machen. Das Buch von
Julle Schloſſer aber ſpricht vom inneren Ge-
halt des Quälertums und will ihn, aus deut;
{her Seele heraus geſehen, den Deutſchen
näher bringen, als dies bloße Überfegungen
engliſcher und amerikaniſcher Quaͤkerliteratur
zu tun vermögen. Mit liebevoll eindringendem
Nerſtändnis zeichnet fie die Weſenszüge des
Quälertums, feine Verwandtſchaft mit dem
Urchriſtentum und der alten deutſchen Myſtik
eines Meiſter Eckhart, die Vereinigung von
innerer Stille und Sammlung mit nugbrin-
gender Arbeit in der Außenwelt, die den
Quäkern eigen iſt. Der Gegenſatz zu Luther,
die Stellung zur Bibel und zu Zefus, die
Wahrhaftigkeit, der Reſpekt vor fremder gen;
art und Perjönlichkeit, die Freiheit von Autori-
täten wird klar herausgearbeitet.
Das Kapitel über die Geſchichte des Quaker;
tums macht uns mit einigen ſeiner Haupt-
vertreter bekannt. Vor allem mit feinem Be-
gründer George Fox, dem Gottſucher, der in
der gdrenden Zeit des 17. Jahrhunderts aus
ſeeliſcher Not zu Klarheit und Freudigkeit
durchdrang und das Quälertum zu einer
geiſtigen Macht erhob, in Kerker und Der-
folgung ſtandhlelt und ſeine Botſchaft in die
Neue Welt hindbertrug — ein Weg, den dann
fein Freund William Penn durch Gründung
von Pennfylvanien und Philadelphia weiter
beſchritt. Der Aufſtieg war verheigungsvoll,
aber ihm folgten Enttaͤuſchungen, Kränkungen,
Gegenfadge. Das Quatertum hatte ein ODurd-
gangsſtadium zu beſtehen, eine Zeit der Flucht
vor dem Kampf mit Problemen. Es war be-
droht von der Erſtarrung in Regeln, von der
Entwicklung zur bloßen Sekte, womit eine Ab-
nahme der geiſtigen Bildung Hand in Hand
ging. Aber ſelbſt in ſolchen dürren Zeiten er-
ſtanden ihm Perſönlichkeiten von ſeltener
Kraft. Zwei von ihnen zeigt uns Julle Schlof-
fers Buch: John Woolman, den treuen Kämp-
Auf der Warte
fer für die Sklavenbefreiung in Amerika, der
in ſeinem Weſenszug der Ehrfurcht vor allem
Lebendigen an eine Geſtalt unſ er er Tage
— an Albert Schweitzer — erinnert. Und
Elizabeth Fry, die organiſatoriſch begabte Be;
gründerin der Gefängnisreform, die die mo-
derne Fürforgearbeit, auch auf dem Kontinent,
ſtark beeinflußt hat.
Das 19. Jahrhundert bringt dem Qudfer-
tum einen Aufſchwung, neues Leben, neue
großzügige Arbeitsfelder, ein Aufnehmen
neuer Probleme; der Weltkrieg vollends hat
es vor Riefenaufgaben geſtellt, denen es durch
Hilfswerke auf allen Gebieten in allen Län;
dern gerecht geworden iſt. Die Zeiten wurden
wieder wie zu Beginn der Bewegung: es galt
wieder gegen den Strom zu ſchwimmen, Ge-
fahr, Verkennung, Sefangenſchaft auf ſich zu
nehmen. Ein ganzes Kapitel iſt dem Wert der
Quäler für uns — dem inneren Wert nach
der äußeren Hilfe — gewidmet, der darin
gipfelt, daß ihr Chriſtentum durch feine Wahr-
haftigkeit und Untompligiertheit eine Brücke,
eine Kraft bedeutet in der einen großen
Seelennot der Zeit: auf dem fo vielfach ver-
bauten Weg zu Gott. Zulie Schloſſer über-
ſieht nicht das weſentlich Angelfähfifche, durch
die Berhdltniffe Bedingte des Quälertums
und die viel ſchwierigeren Forderungen, vor
die es in Deutſchland geſtellt iſt, wo ihm „die
ruhige Klarheit, der Hintergrund der Tat und
des Leidens um einer Sache willen“ fehlt.
Aber es wird in den anders gearteten Ver;
hältniſſen des Kontinents und unſerer Zeit
auf den alten Grundſteinen der Bewegung
ſeinen Glauben aufbauen und Werte, die
über Zeit und Raum erhaben find, mit herein;
nehmen.
In diefen letzten Kapiteln pulfiert Julie
Schloſſers warmes Fühlen für das Heute und
für den „kommenden Tag“, für feine Pro-
bleme und Aufgaben; ihr Auge und Ohr iſt
offen für alle ernſten Beſtrebungen und Be
wegungen, die fie vom Schlagwortcharakter
befreit und maßvoll und gerecht beurteilt.
Sanz zuletzt weiſt fie den Lefer auf Chriſtoph
Blumhardt, einen Wegbereiter dem Reiche
Gottes, für das er mit weitem, freiem Blick
bedingungslos wirkte, bis in unſere Zeit
Auf der Warte
hinein — ja gerade in ihr — Einfluß aus-
bend. Dem Quälertum verwandt, iſt er in
ſeiner Vereinigung von Peſſimismus und
Optimismus ein Prophet, der Albert Schweit-
zers Wort vom beſonderen Merkmal des
Chriſtentums verſinnbildlicht.
Dem Werk vorangeſtellt iſt ein Seleitwort
des engliſchen Quaters Corder Catchpool, der
kurz Sinn und Zweck des Buches umſchreibt.
Doh weit über ihn hinaus reicht fein Wert.
Starlite Anregungskraft geht von ihm aus —
auch für den, der vielleicht dem Quälertum
ganz ferne ſteht. Und was ich ſchon von den
Blättern ſagen durfte, in denen uns Julie
Schloſſer das Lebensbild ihrer Mutter ge-
ſchenkt hat — das gilt auch von dieſem Buch:
es begleitet uns wie ein heimlicher Segen.
Berta Schleicher
Die attiſche Göttin
r mir liegt die Dezember - Nummer ber
Bruckmannſchen „Runjt“, die einen aus-
fuͤhrlicheren Bericht bringt Aber die nach Berlin
gerettete“ attiſche Göttin.
Wieder ein Rekord! Wahrlich, es kann uns
nicht mehr ſchlecht gehen. Unzweifelhaft haben
wir auf der Leiter des Wlederaufbaues berelts
eine hohe Stufe erklommen und können herab
blicken auf die hinter uns zuruͤckgebliebenen
Volker Europas und der umliegenden Kon⸗
tinente. Heil und Sieg! die attiſche Göttin aus
dem 7. Jahrhundert vor Chriftus iſt für Oeutſch ;
land gerettet. Für lumpige „eine Million
Sold mark aus den Händen eines ſchweize⸗
tiſchen Konſortiums nach Deutſchland gerettet.
Jetzt muß es beſſer werden, und die aus allen
Eden und Enden des fo fiegreihen Deutſch⸗
lands ertönenden Klagen und Vergweiflungs-
ſchreie können nur noch aus dem Mund ein-
gebildeter Kranker kommen. Heil und Dank
dem Muſeums direktor Geheimrat W., dem
hauptſächlich das Verdienſt gehört, dleſe Ret-
tungsaktion geleitet und zu ſlegreichem Ende
geführt zu haben. Die Volker der Erde werden
wallfahren zu dem Tempel dieſer Gottheiten
und den Lorbeer uns, dem Volke des Retters,
reichen.
Im Ernſt: gibt es ein traurigeres Bild
gegenwartsferner Eitelkeit, als das uns hier
455
wieder gebotene Schauſpiel? Hunderte, tau-
ſende, zehntauſende Künſtler in unferem
Vaterland hungern und find der Derzweif-
lung nahe. Und ein Berliner Muſeums direktor
bringt es fertig, eine Million Goldmark ins
Ausland zu ſchicken, um eine alte Griechen
göttin für Oeutſchland zu retten! Noch fo
wertvoll mag ſie ſein, noch ſo hehr und heilig —
ich beſtreite den Wert des ſeltenen Stückes gar
nicht, halte ihn noch für höher, für ben... der
Aberfluß hat. Aber für das tatſächlich arme,
immer mehr verarmende Deutſchland? ! Wer
glaubt im Ausland an die Unmöglichkeit der
reftlofen Erfüllung des Dawes- Planes, wer
an unſere wirtſchaftliche Not, wenn wir ſolche
Streiche vorzuweiſen haben und uns gar noch
damit brüften?
Wer kann den Wert dieſer Söͤtterfigur er-
meſſen, erfühlen, erkennen? Wenn es hoch
kommt, eine Handvoll Spezialgelehrter. Es
würde unſerer Wiſſenſchaft und unſerer Kunſt
keinen Deut Abbruch tun, wenn dieſe Figur
in der Schweiz, in Paris, in London ſtuͤnde.
Aber eine Million Soldmark ins Ausland
werfen — und dabei eine unüberſehbare
Schar mit der Not kämpfender Künitler
innerhalb unſerer Grenzen! Wer mit gefun-
dem Verſtand kann dies faffen? Im Ausland
gewiß niemand.
Was hatte dieſe Golbmillion in Oeutſchland
wirken können!
Eintauſend Kuͤnſtler — man Aberdente ein-
mal dieſe Zahl, ſtelle ſich eintaufend Menſchen
einmal vor —, eintauſend lebende Menſchen
hätten durch Übernahme eines ihrer Werke
mit jeweils eintauſend Goldmark für Monate
der Verzweiflung, mindeſtens bitterer Not ent;
riſſen werden können. Dieſe eintauſend Kunft-
werke, wenn auch nur mittleren Wertes, hätten
unzählbaren Menſchen in Provinzmuſeen, die
ſicher daran arm ſind, Freude gebracht und
manch einen davon überzeugt, daß auch un
ſerer lebenden Kuͤnſtler Erhaltung uns fo nötig
ift wie das tägliche Brot. Oder weiß der Mu-
ſeumsdirektor Geheimrat X. B. 8. nichts von
dieſer Not?
Welcher der zahlreichen Abgeordneten im
Reichstag oder in irgendeinem der zahlreichen
Parlamente in Oeutſchland hat zu dieſer Ver-
456
geudung das Wort genommen? Zſt alles nur
noch Partei und nichts mehr das Antereffe
der Allgemeinheit? Oder gehören Kunſt und
Wiſſenſchaft nicht mehr zu den Belangen des
öffentlichen Volksintereſſes?
Nun ſteht die hehre Göttin unter uns.
Sarkaſtiſches Lächeln über unſere Eitelkeit
zuckt um ihren Mund. Sie lebt — wie jedes
wahre Kunſtwerk — und wir werden ver-
gehen; nicht vergehen und mit ihr ins Unver-
gaͤngliche erhoben bleibt das Kapitel ihrer Ein;
holung nach dem ruhmreichen Berlin.
M. K.
Schillings und der Parteienſtaat
enau wie zu erwarten war, ſcheint ſich die
Berliner Schillingskriſe weiter zu ent-
wickeln: man wechſelt beruhigende Briefe und
ſcheut auf beiden Seiten die klare, kräftige
Durchfuhrung eines ernſten Streitfalles. Der
Kultusminiſter Becker erklärt Schillings für
einen Ehrenmann und — beſetzt den Poſten
neu; Schillings bekommt eine andre Stelle
angeboten, iſt gerührt und — geht! Und
Keſtenberg und Seelig bleiben. Was für ein
Schauſpiel!
In feinem „Deutſchen Volkstum“ beleuchtet
Wilhe m Stapel dieſen Fall in ſeiner ausge-
prägten Art: Es iſt kein Konflikt — ſagt er —
zwiſchen Staatswürde und Künftlerwürde,
ſondern zwiſchen Künftlerwürde und den hin;
ter dem Staate ſtehenden Parteien. Näm-
lich:
„Im neunzehnten Jahrhundert hätte das
Theater eigentlich ein Volkstheater werden
ollen“. Aber der Geift des Sätulums machte
ein Geſchäftstheater daraus. Ganz folge-
richtig wehrte ſich das organiſierte Volk gegen
die kapitaliſtiſchen Theaterunternehmungen
und ſuchte echte Volkstheater zu ſchaffen. Aus
der marxiſtiſch-ſozialiſtiſchen Volksidee heraus
wurde die Freie Volksbühne, aus der hriftlich-
ſozialen Volksidee heraus wurde der Bühnen-
volksbund gegründet. So haben wir an
Stelle des Nationaltheaters, wie es Leſſing
wollte, auf der einen Seite wildwachſende Ge-
ſchäftstheater, auf der andern Seite organi-
fierte Parteitheater (die natürlich nicht Par-
teien im Parteiſinne, ſondern im Weltan-
Auf der Warte
ſchauungsſinn vertreten, deren eines aber
Verbindungen mit der ſozialdemokratiſchen
Partei, deren andres mit den chriſtlichen und
nationalen Parteien hat). Die Szylla unfres
derzeitigen „Volkslebens“ iſt der Geſchäfts-
geift, die Charpbdis iſt der Gefchäftsführer-
geiſt. Weil der Volksſtaat kein Volkstheater
ſchuf (und auch nicht ſchaffen konnte, da er nur
dem Namen nach ein Volksſtaat, in Wahrheit
aber ein Parteienſtaat iſt), mußten die
Parteitheater entſtehen. Wie ein Privatunter-
nehmen in unſerm Zeitalter dem Gefdhdfts-
geiſt anheimfällt, ſo fällt eine Organiſation
dem Gefchäftsführergeift anheim. Das Eigen-
tümliche eines richtigen Geſchäftsfübrer-
geiftes iſt, daß er den Weg ins Parlament
und in die Regierung findet. Er fand auch in
dieſem Fall — fonft wäre er nicht tüchtig ge-
weſen — beide Wege, auch den Weg ins
Kultusminiſterium. Der Volksbühnen-
geiſt fuhr in Herrn Keſtenberg, der Bühnen-
volksgeiſt in Herrn Seelig. Bewilligſt du mir,
bewillig’ ich dir. Natürlich rückte der Bewilli-
gungsgeiſt auch dem Intendanten Schillings
auf den Leib, der, in einer andern Welt lebend
und vor allem ſeiner Staatsoper verpflichtet,
wohl nicht immer ohne weiteres den Gejchäfts-
führergeiſt verſtehen wollte.
Wie alfo ſtellt ſich der Staat dar, deſſen
Würde gegen Max von Schillings verteidigt
werden muß? Inmitten auf dem Minifter-
ſeſſel thront der Gewaltige, der den Ukas in
Händen hält, zur Linken ſteht der Volksbũh⸗
nenjude, zur Rechten der Buͤhnenvolksjude.
Die Volksbühnen- und die Bühnenvolks-
trabanten des Landtags gruppieren ſich büb-
nenwirkſam um das lebende Staatsbild und
rufen: Vive la coalition!
Warum fiel Herr Schwering vom ask
im Landtag um, nachdem er fic zuvor gegen
über Herrn Buchhorn über Schillings’ Be-
handlung empört hatte? Darum. Warum
fiel die Sozialdemokratie im Landtag um,
die doch ſonſt für die Freiheit und gegen die
Autorität ſchwärmt, warum ſchickte fie irgend
einen Genoſſerich aus Dingsda vor, der keinen
Namen zu verlieren hat? Darum!“
Zu derſelben Sache ſchreibt die „Tägliche
Rundſchau“:
Auf der Warte
„Aus dem Theater wird ein Geſchäft, und
geſchaͤftliche Rüdjichten allein beſtimmen die
Entſchlüſſe. Sicher iſt, daß der Erleſene des
neuen Konzerns, Herr Tietjen, der Mann der
Seelig, Keſtenberg und Konſorten war, deren
Abgang man als unabweisbare Pflicht einer
auf ſich haltenden Verwaltung empfand, die
aber blieben, während Schillings ging, im
letzten Augenblick im Stich gelaſſen von den-
ſelben Perſönlichkeiten, die ihm vorher pa-
thetiſch Treue gelobten, die aber ſchließlich
dann doch ihren demokratiſchen Miniſter höher
ſtellten als den reinen Künſtler Schillings.
Sicher iſt ſchließlich, daß Herr Kleiber, von
dem Schillings ebenſo ſchonend wie treffend
bemerkte, fein jugendliches Temperament be-
dürfe noch der Führung, nun den größten
künſtleriſchen Einfluß auf das Berliner Opern-
weſen ausüben wird.“
Auch ein Künftler
n einer Nummer der Parifer „Humanite“
ſteht ein kleiner Artikel, der ſich mit einer
Ausftellung des deutſchen Zeichners Georg
Groß befaßt.
Es ſei daran erinnert, daß im Jahre 1925
in Berlin ein Prozeß ſpielte, in dem der Ger-
leger eines Buches mit Karikaturen von Groß
ſich gegen die Beſchlagnahme wehrte. Erinnere
ich mich recht, fo traten für den Künftler, der
mit ſeinen Bildern erzieheriſche Abſichten zu
verfolgen angab, bis zu einem gewiſſen Grade
auch der Reichskunſtwart Dr. Redslob ſowie
Maximilian Harden ein. Zm März dieſes
Jahres bin ich den Büchern von Groß in der
Buchabteilung der Wiener Meſſe begegnet
und konnte mich an der Hand der „in Oeutſch⸗
land verbotenen“ Bilderſammlung von der
ſcheußlichen Schamloſigkeit und der ekelhaften
Würdeloſigkeit überzeugen, mit der dieſer Er-
neuerer feines Zeitalters Schäden im gefell-
ſchaftlichen Leben zu geißeln vorgibt, während
er in Wahrheit mit ſichtlichem Behagen im
Schmutze wühlt und ſich nicht genug daran
tun kann, den Oeutſchen in der Welt ſchlecht
zu machen. Aber nirgends witzig, ſondern
überall bösartig und gemein.
Derfelbe Grok wird jetzt in der „Humanité“,
457
bekanntlich dem Blatte der franzöfifchen Kom-
muniſten, in den höchſten Tönen gefeiert. Der
franzöſiſche Referent ſagt gleich zu Anfang,
ſeine „kühnen Karikaturen“ ſeien von der
gleichen Bedeutung wie die Werke eines
Daumier! „Ich ſcheue mich nicht zu er-
klaren,“ fährt er fort, „daß Georg Groß unter
die größten europaͤiſchen Zeichner zu rechnen
iſt!“ Gewiß — vor ſeinen ahnungsloſen Leſern
braucht dieſer Kenner keine Angſt davor zu
haben, daß fie den Blödſinn merkten, der
ihnen da vorgeſetzt wird.
Deutlicher wird die Sprache, wo es heißt:
„Als unerſättlicher und biſſiger Zerſtörer, als
unverſöhnlicher Zeuge der Verkommenheit
der bürgerlichen Geſellſchaft iſt er der Maler
der Borniertheit, der Eitelkeit, des Hochmuts
und der Grauſamkeit der herrſchenden
Klaſſe in Oeutſchland und ihrer Verbün⸗
deten, der Sozialdemokraten. Aber ebenſo iſt
er der Maler der Armen, der Krüppel, der
Revolutionäre, und nichts iſt packender als
einige ſeiner Werke, in denen er ganz kalt die
einen den anderen gegenüberftellt: Die Herren
und die Sklaven, die Mörder und ihre
Opfer!“
Herr Groß kann ſich alſo über mangelndes
Derftändnis bei feinen franzöſiſchen Gefin-
nungsgenoſſen nicht beklagen. Auch wird ihm
zugeſtanden, daß er „alle die vielfältigen
Eigenſchaften ſeiner Raſſe beſitzt, zu der auch
Dürer und Holbein zählen“ ! Es iſt doch nieder;
trächtig ſchön, wenn man ſeine Bildung ſo
glänzen laſſen kann!
Zum Schluſſe folgen einige Sätze aus einem
Artikel, den Groß in der „Clarté“ veröffent-
licht hat und der an Geſchwollenheit und Un-
natur auch von dieſer Seite her das Bild des
„deutſchen Zeichners“ vervollſtändigt. Das
Bekenntnis dieſer Welſchgänger-Seele lautet:
„Heute haſſe ich die ſchlechten Einrichtungen
und ihre Verteidiger. Und wenn ich eine Hoff-
nung habe, fo iſt es diefe, daß dieſe Einrich-
tungen und die Menſchenklaſſe, die fie ſchützt,
zugrunde gehen mochten. Meine Arbeit gilt
dieſer Hoffnung. Tauſende von Menſchen
teilen dieſe Hoffnung mit mir. Das find felbjt-
verſtändlich weder die Kunſtliebhaber, noch
die Mäzene, noch die Käufer von Bildern!
458
Aber wenn man meine Arbeit Kunſt nennen
will, dann kann man das nicht tun, wenn man
nicht die Meinung teilt, die ich vertrete, näm-
lich zu wiſſen, daß die Zukunft dem Prole-
tariat gehört.“
Um die Verhetzung noch zu unterſtreichen,
bringt die „Humanits“ über ihrem Artikel
zwei taritierte Köpfe und ſchreibt dar⸗
unter: „Charakteriſtiſche Typen des deutſchen
Bourgeois, geſehen von Georg Groß.“
Man merke ſich dieſe Art, in Paris gegen
ein durch Karikaturen vertretenes Deutid-
land Stimmung zu machen! Man wird hof⸗
fentlid bei fpäterer Gelegenheit dieſem Lan⸗
desfeinde die richtige Behandlung angedeihen
laſſen, wenn er wieder einmal in Deutſchland
erſcheinen und auf die Vergeßlichkeit feiner
Heimat ſpekulieren ſollte.
Dr. No b. Volz
Der Fall Becher
le Tagespreſſe der Linken, verſchiedene
literariſche Zeitſchriften und der Schutz;
verband deutſcher Schriftſteller haben ſich in
Proteſten und erregten Artikeln gegen die
Verhaftung des Dichters Johannes R. Becher
gewandt, der wegen revolutiondr-erregender
Schriften in Gewahrſam genommen worden
ift; er foll, da er Hungerſtreik androhte, in-
zwiſchen wieder entlaſſen ſein. Dieſer Fall
gibt Gelegenheit, ein paar allgemeine Be-
trachtungen anzuſtellen und die Angelegen-
heit etwas näher zu beleuchten. Zunächſt:
wer einmal die Verſe Bechers geleſen, der
wird es ſchwer begreifen, daß immer wieder
von dem „allgemein geachteten“ Didter ge-
ſprochen wird; denn es wird nur herzlich
wenige Leſer geben, die aus dem wirren Ge-
ftammel der Worte und Zeilen nur den
Schimmer eines Sinnes zu erraten wiſſen.
Man leſe etwa folgende Verſe aus dem Ge-
dichte „Schnee“:
Tyrannen! Schnee muß eure Hölle ſtreichen!
Schnee- Menſch. Kriſtallener. Schnee: das
Morgen -Tier.
Weh euch! Oer fieht mit unfehlbaren Zeichen,
Der wittert feinſt ... Dämonen ihr!
Auf der Warte
Moraft des Monde, du ſchwingſt mit Schleier
Pfützen.
Geblimte Stadt fo zwiſchen Winden kracht
Die bellend ſauſend durch die Täler flitzen.
O Schnee der Schlacht uſw.
Oder der Beginn der „Hymne an Lenin“:
Klopfzeichen noch in den
Särgen waren elektriſch
Hingerichteter. Die Bauchdurchſchoſſenen
Vierfüffig krochen, die Sedärme zurecht ſich
Zupfend. — Fabrikgevierte: fieberkurvige
Landſchaft: Odmonentlumpen, eifen —
Gequadert, aufquollen, Abergeworfen wie
Atzend umpanzert, von leuchtgaſigen
Rauhmänteln uſw.
Man wird zugeben muͤſſen: biefer „Erprei-
ſionismus“ iſt nur für die Eingeweihten ge-
nießbar. Freilich haben in der „Roten Fahne“
andere Verſe geſtanden, deren aufreizender In-
halt höchft eindeutig und ſehr verſtändlich war.
Nun aber: was hätte man in den Tagen
der glorreichen Revolution für ein Geſchrei
erhoben, wenn man Haßgefänge gegen Ebert
oder Scheidemann angeſtimmt hatte! Wenn
dagegen ein Verſemacher wie Becher offen zu
Aufruhr und Gewalttat herausfordert, jo foll
man ihn gewähren laſſen? Es iſt das trübe
Zeichen unſeres individualiſtiſchen Zeitalters,
daß man das Literariſche mit ungebührlicher
Wichtigkeit beftaunt, daß man ein ungemäßes
Aufhebens macht von allem, was irgendwie
aus dem Geleife gefallen. Vergeſſen wir es
nicht: wertvoller und zukunftsſtaͤrker als alle
aͤſthetiziſtiſchen Redensarten iſt Innentum
und Seele, und das Volk iſt nicht mit ftam-
melnden Verſen, ſondern durch Zucht und
Belehrung zu leiten. Der Staat muß das
Recht für fi in Anſpruch nehmen, unlautere
und gegneriſche Elemente unfdddlid zu
machen; wenn die Preſſe der Linken es bei den
Bolſchewiken verſtändlich findet, fo mag fie
ſich nicht dort ſperren, wo es ſich in Oeutſch⸗
land um die Frage unſeres Volks tums
handelt, das nicht von einigen verſchwärmten
und verirrten Schreiern geftört werden foll.
Endlich beginnt in Oeutſchland die Beſinnung
und Einkehr; wenn Herr Becher nicht einver-
ſtanden iſt, fo wende er ſich nach Rußland
Auf der Warte
deſſen Lobgeſang er angeſtimmt. Wenn ein
deutſcher Dichter in Rußland heute gegen Lenin
oder Trotzki Haſſeshymnen fänge, was würde
mit dem Unjeligen geſchehen? . Sch.
Die „ſchwarze Schmach“ in unſerer
Tanzmuſik
iegfried Wagner hat einen Aufruf ver-
S oͤffentlicht, in dem er, aus Anlaß des
bundertften Geburtstags von Johann Strauß,
der tanzenden Jugend ans Herz legt, ſich doch
der ſchoͤnen deutſchen Tanzmuſik des Wiener
Walzerkonigs zu erinnern, ſtatt nach den primi-
tiven Tonfolgen und ohrenverletzenden Rbyth-
men der verſchiedenen Jazz- Muſiken zu tanzen.
Bei dieſer Gelegenheit mag es angebracht
erſcheinen, doch einmal zu betrachten, was
Jazz-Muſik denn eigentlich iſt? Oiefe uns aus
Amerika, wo fie als etwas bodenſtaͤndig Origi-
nelles gewiß Berechtigung hat, importierte
Halbmuſik ift aus einer allmählichen Ger-
miſchung der Muſik der Neger und der Muſik
der Meſtizenbevoͤlkerung Mittelamerikas, na-
mentlich der Inſeln Kuba und San Domingo,
hervorgegangen, Deshalb ſchließt Richard
Wagners deutihfühlender Sohn feinen Auf-
ruf auch ſehr richtig mit den Worten: „Die
blaue Donau liegt uns denn doch näher als
Kuba und San Domingo!“
Nicht viel bekannt dürfte es fein, daß auch
ſchon lange, bevor dieſe „ſchwarze Schmach“
auf unſerer deutſchen Muſik laſtete, das un-
muſikaliſche Element der Negerlieder bei uns,
wenn auch nicht in die Tanzfäle, dafür aber
in die Konzerſäle Eingang gefunden hatte.
Der größte Komponiſt der Tſchechen, Anton
Dvorzak, im Jahre 1891 Oirektor des Neu-
porter Konſervatoriums geworden, hatte, um
ſich vor den ihm in Amerika bis zum Überdruß
in den Ohren klingenden burlesken Melodien;
broden der Wilden zu retten, einige diefer von
den dazumal noch vernünftigeren Europäern
verachteten Naturlaute auf das genialfte in
zwei ſeiner Kammermuſilwerke verwertet.
Sein F-Dur Streichquartett, op. 96, wird in
ber Mufitwelt überhaupt kurzweg bloß als
„Das Negerquartett“ bezeichnet; aber auch
Dvorzaks A-Dur Streichquartett, op. 97, weift
459
in feinem Scherzo ein echtes Negermotiv auf,
das, auf gleichen Viertelnoten aufgebaut, von
acht Bäſſen rhythmiſch fo originell begleitet
wird, daß man wirklich meint, die Handpauke
eines wilden Negerſtammes zu bören. Der
berühmte Kritiker der „Neuen Frelen Preſſe“,
Eduard Hanslick, hoffte aber ſchon damals
beim erſten Erſcheinen dieſer Streichquartette,
es möchte Ovorzak doch wieder gelingen, eine
Muſik „ohne Transfuſion von Negerblut“ zu
ſchaffen! N
Die moderne europälfche Begeiſterung für
ihre Volksgeſänge ift den Schwarzen von jen-
jeits des Ozeans fidtlid zu Kopf geftiegen.
So haben ſich dort im letzten Jahre gleich zwei
Geſellſchaften gebildet, die es ſich, nach dem
Vorbilde ziviliſierter Nationen, zur Aufgabe
machen, alle Negerlieder zu ſammeln. Die
eine, ausſchließlich nur aus Schwarzen be-
ſtehende Vereinigung, ſammelt nur die reli
gidfen Gefange ihrer Raffe. Übrigens waren
ſchon vor drei Jahrzehnten gelehrte Stimmen
laut geworden, die behaupteten, daß die Lieder
der Neger in der Hauptſache von aus Schott;
land ſtammenden Liedern herruͤhren.
In Amerika hat die Jazz-Muſik Eingang
ſelbſt in die Oper gefunden. Dort gibt es nicht
bloß Jazzband - Tanzmuſik und ZJazzband-
Konzertmuſik, ſondern auch ein wahrhaftiges
Jazzband -Opernorcheſter. Der jüngfte Aus-
wuchs dieſes Geſchmacks iſt eine amerikaniſche
Oper: „Daniel Jazz“, von Louis Grünberg.
Ihr Inhalt ift die bibliſche Erzählung: Daniel
in der Löwengrube. Da die Oper bloß einen
Akt hat, iſt in ihr kein Szenenwechſel nötig; der
ganze Vorgang fpielt in einem Löwengraben.
Der Hauptheld, Daniel, der Prophet, iſt natür-
lich ein — Neger, aber auch das Publikum
muß mitwirken. Ein dringender Aufruf ergeht
an jeden Beſucher: „In den geeigneten Mo-
menten ja auf Löwenart mitzubrüllen !
Mathilde v. Leinburg
Unfug im Geldverkehr
ie „B.-Z. am Mittag“, das fenfations-
hungrige Ullfteinblatt, bediente ſich
kurzlich eines hoͤchſt bedenklichen ameri-
kaniſchen Propaganda -Tricks, der zwar dem
Verleger die Taſchen füllt, aber aus volks-
460
wirtſchaftlichen Gründen der ſchärfſten Kritik
bedarf. Die Zeitung ſetzte eine Reihe von
Fünfmarkſcheinen in Umlauf, deren Nummern
dann nach Ablauf einer Friſt aufgerufen
wurden. Den Wiederbringern dieſer Geld-
ſcheine händigte der Verlag für jeden Fünf-
markſchein einen Hundertmarkſchein aus.
Dieſes Lockmittel genügte, um Hundert-
tauſende zu verführen, alle Fünfmarkſcheine
zu hamſtern. Wenn man annimmt, daß
300000 Lefer, was bei den Riefen-Ullftein-
Auflagen nicht zu hoch gegriffen iſt, je
10 Scheine zu fünf Mark ſammeln, jo werden
bereits 15 Millionen Mark Umlaufsgeld brach-
gelegt. Abgeſehen davon, daß ſich in verſchie⸗
denen Städten ein empfindlicher Mangel an
Wechſelgeld einſtellte, wurde der deutſchen
Wirtſchaft ein Schaden zugefügt, der zu einer
unmittelbaren Gefahr führen muß, wenn
mehrere Groß- Unternehmer ähnliche Werbe-
mittel ergreifen.
Bargeldmangel hemmt das Getriebe der
Wirtſchaft. Da aber die Umlaufsgefchwindig-
keit unſeres Geldes ohnehin viel zu gering iſt,
muͤſſen alle geeigneten Kräfte dahin wirken,
jede Herausnahme von Geld aus dem Kreis-
lauf des Verkehrs zu vermeiden. Brad-
liegendes Geld foll nicht im Kaſſenſchrank
oder im Strumpfe liegen, ſondern der Öffent-
lichkeit durch die Spar- und Bankinſtitute
nutzbar gemacht werden. Was nutzt es, wenn
auf der einen Seite Maßnahmen zur Hebung
der Geſchäftstätigkeit in Deutfchland getroffen
werden und auf der anderen Seite wirtſchafts-
ſchädigende Vorgänge, wie wir fie bei Ullſtein
beobachten, nicht unterbunden werden! Was
ſagen Reichsbank und Regierung dazu?
K. A. W.
Europaͤiſche Revue
erausgegeben vom Prinzen Karl Anton
Rohan, einem Sproß der öfter-
reichiſchen Linie des bekannten franzöſiſchen
Adelsgeſchlechtes, erſchienen im Verlag Der
Neue Geiſt, Leipzig, iſt dieſe Zeitſchrift,
deren erſte Hefte nun vorliegen, keines der
üblichen Erzeugniſſe, wie ſie im deutſchen
Blätterwald zur Zeit maſſenhaft aufſchießen.
Hier iſt ein großzügiger Verſuch gemacht,
Auf der Warte
entſcheidende Geiſter aus allen Ländern,
Lagern und Parteien jenſeits von Tages-
politi? und Intereſſenkämpfen zu politifcher,
wirtſchaftlicher und küuͤnſtleriſcher Ausſprache
zu ſammeln. Demgemäß beſteht die Revue
aus Beiträgen über Politik, Wirtſchaft,
Philoſophie, Kunſt, Wiſſenſchaft und den
europdifden Fragmenten, die Abſchnitte
aus den Werken großer Geiſter der Ver-
gangenheit bringen, ſofern fie für die Gegen-
wart und die europäiſche Idee Bedeutung
haben. In ihrem erſten Heft hat die Revue
dieſen letzteren Teil mit Worten Friedrich
Nietzſches eröffnet.
Die europäiſche Revue iſt das Organ des
„Kulturbundes“, der im weſentlichen der
Initiative des Prinzen Rohan fein Ent-
ſtehen verdankend, die Möglichkeit engerer
Fühlungnahme geiſtig führender Perſönlich⸗
keiten der verſchiedenen europäifchen Nationen
mit dem Endzweck einer kulturellen An-
näherung der europäifhen Völker ſchaffen
will. Es gilt die Überwindung der Kriegs-
pſychoſe, die Hinwegräumung der Schützen
gräben und ODrahtverhaue, die aus der Zeit
des kaum entſchwundenen europdifden Kul-
turkampfes die geiſtigen Provinzen unſeres
Erdteils immer noch hemmend durchziehen.
Es gilt weiter, der Gefahr der Entſeelung zu
begegnen, die das Geſpenſt einer völligen
Vernichtung des europäͤiſchen Geiſteslebens
auf Grund äußerer zwangsmechaniſcher Ge-
ſetze der Technik täglich näher und näher
ruckt. Die Männer dieſes Bundes, dieſer
Revue, ftellen das Problem, wie der Heraus-
geber in feinem Vorwort ausführt und wie er
es ſeinerzeit in einem privaten Vortrage vor
der intellektuellen Ausleſe der Stadt Frank-
furt a. M. näher darlegte, keineswegs pazi⸗
fiſtiſch-ſentimental. Sie packen die Frage
nicht in internationalem, fondern in über-
nationalem Sinne an. Sie ſind ſich wohl
bewußt, daß die Aufgabe des europäiſch ein-
geſtellten Menſchen nicht in der Verwäſſerung
der Eigenart des eigenen Volkes, ſondern in
der Fühlungnahme mit fremden Kultur-
welten, in dem beſtimmten heraustreten aus
einer FIſolierung beſteht, die den von ihr
Betroffenen felber am meiſten ſchaͤdigt.
Auf der Warte
Damit kann fi auch der entſchieden national
gerichtete Deutſche einverſtanden erklären.
Was das erſte Heft der Revue bringt, iſt in
dieſer Richtung verheißungsvoll. Da ſind
Beiträge von Emile Vorel, von André Gide,
von Burns, von Franceſco Nitti, von Gug-
lielmo Ferrero, von Ignaz Seipel, Hans
Drieſch, Oskar A. H. Schmitz, Richard
Wilhelm, ein einleitender Aufſatz „Europa“
von Hugo von Hofmannsthal u. a. Da iſt
eine Beſprechung von Unruhs „Flügel der
Nike“ von Alfred von Noſtiz⸗Wallwitz, die in
ihrer fachlichen und nationalen Haltung
wohltuend berührt. Es ſind vorgeſehen
„Europäiſche Ausſprachen“, in denen beſtimmt
Probleme von gegenſätzlichen Standpunkten
aus behandelt und die in einem der nächſten
Hefte eröffnet werden ſollen. Als weitere
Mitarbeiter werden genannt: Paul Bainleve,
George Duhamel, Henri de Jouvenel, Graf
Romanones, Thomas Mann, Leopold Ziegler,
Guſtar Streſemann, Julius Meyer -Gräfe,
Otto Hoetzſch, um nur einige der bekannteſten
Namen zu bringen. Man wird der Ent-
wicklung der „Europäiſchen Revue“ mit An-
teilnahme entgegenſehen dürfen.
Dr. M. Leuchs-Mack
Die Begabten und die Grundſchule
uerſt eine Feſtſtellung. Ich will die Ver-
ſöhnung der Stände ſo leidenſchaftlich
als irgendein Verfechter der Grundſchule.
Der zwingende Nachweis ihrer Notwendig-
keit zur Erreichung der Volkseinheit würde
aus mir einen rückſichtsloſen Vertreter dieſer
Forderung machen. Aber noch iſt dieſer Nach-
weis nicht erbracht trotz der Maſſe der hierfür
aufgebrachten Oruckerſchwärze. Gelbftvoll-
en dung und Selbſtopfer find nach Spranger
die menſchlich würdigen Hochziele. Sie ge-
währleiſten die Aufwärtsentwicklung des
Staates und aller menſchlichen Gemein-
ſchaften. Sie bilden den beiten Prüfſtein für
alle unterrichtlichen und erziehlichen Veran-
ſtaltungen, alſo auch für den Fragekomplex:
Die Begabten und die Grundſchule.
Um die Prüfung dieſer brennenden Streit-
frage möglichſt zu vereinfachen, ſeien die Hoch;
461
begabten von vornherein aus dieſer Er-
örterung ausgeſchloſſen. Daß ihr Gang zur
Höhe durch eine vierjährige Grundſchule
empfindlich gehemmt wird, bedarf m. E.
keiner Erörterung. Ob aber auch die nur Gut-
begabten in der vierjährigen einheitlichen
Grundſchule Hemmung ftatt Förderung er-
fahren, das iſt die Frage, die uns beſchäftigen
ſoll. Ausgeſchieden werde ferner die Frage
der Begabtenausleſe und der Langfam-
reifenden. Alles Aufgaben, die beſonderer
Beachtung und Betrachtung bedürfen, deren
Bearbeitung aber an dieſer Stelle unſere
Aufgabe zu ſehr belaſten würde.
Wir befaſſen uns mit den Kindern, die
ſchon bald nach ihrem Eintritt in die Grund-
ſchule durch ihre rege und erfolgreiche Be-
teiligung am Unterricht auffallen und die Füh-
rung der Klaſſe übernehmen. Es ſind in der
Hauptſache jene Schüler, die, falls fie früher
der höheren Schule zugeführt wurden, dort
mit dem vollendeten neunten Lebensjahre
eintraten und fie dann unter normalen Ver-
hältniſſen ohne Anſtoß durchliefen. Sie ver-
lieren, wenn fie jetzt vier Jahre in der Grund-
ſchule verharren müſſen, ein volles Lebens-
jahr. Ein Jahr länger laſten ſie auf dem
ſchmalen elterlichen Geldbeutel, ein Jahr
ſpäter kommen ſie in ihren Beruf, ein Jahr
weiter hinausgeſchoben wird die Möglichkeit
der Verheiratung. Was gerade dieſer letzte
Umitand für die Ich und Wirwerte der Per-
ſönlichkeit zu bedeuten hat, darüber malt die
Volkshygiene erſchütternde Bilder.
Und doch verliert dieſe Gruppe der Be-
gabten zuweilen noch weit mehr als ein Jahr
in der undifferenzierten vierklaſſigen Grund-
ſchule: Sie verliert den frohen Bildungswillen,
die nimmerraſtende Bildungskraft.
Bedenken wir die Schwierigkeit der Auf-
gabe für einen Lehrer, ſelbſt in einer nur
normal beſetzten Klaſſe die verſchiedenen Be⸗
gabungen wejensgemäß zu fördern: die
Schwachbegabten, die Mittelbegabten und
die Gutbegabten. Und jeder Schüler hat doch
berechtigten Anſpruch auf anlagengemäße
Emporentwicklung. Es gibt Lehrerkünſtler,
die auch dieſer Aufgabe Herr werden; und die
im Lehrerſtand heimiſche Pflichttreue und
462
Hingabefittlidteit vermag viel. Aber im all-
gemeinen überfteigen dieſe Anforderungen
die Leiſtungs fähigkeit des Lehrers. Es bleibt
ihm nichts anderes übrig, als ein Ourchſchnitts⸗
maß, einen Durchſchnittsrypthmus zu wählen.
Was darüber hinausragt oder darunter bleibt,
erleidet nicht unbeträchtliche Einbuße an
perſonalem und ſozialem Wert.
Wieſo die Gutbeanlagten? Sach und Sinn-
gehalte, die ſie im Fluge vollinhaltlich und
formſicher in ſich aufnahmen, werden wieder
und wieder vorgeführt, geklärt und einge-
prägt. Anfänglich beteiligten ſich die Gut-
beanlagten eifrig. Allmählich erlahmt aber ihr
Eifer. Der Unterricht langweilt, enttäufcht fie.
Unluſtgefühle tauchen auf, ſchwellen an, ftei-
gern ſich. Vier Jahre hindurch, bald weniger,
bald mehr! Es bilden ſich Antipathien und
Gewohnheiten, die dem Lernen hinderlich
werden. Relativ gering nur iſt die Ernte an
wertvollem Bildungsgut, unentwickelt, weil
ungeübt, bleiben bedeutſame Grundkräfte
der Strukturanlage. Noch mehr, das dunkle
Sehnen des Kindes nach dem Sonnengeſtade
einer höheren Kultur irrt ab auf fehlführende
Bahnen. Begabte, die ſoziale Gründe in der
Volksſchule feſthalten, erreichen vielfach trotz
ihrer guten Anlagen nicht einmal die oberſte
Klaſſe. Und auch viele von jenen Gutbe-
anlagten, die nach vier Jahren der höheren
Schule zugeführt werden, gehen murrend
ihren Weg, gehemmt durch die eifernen Fuß-
kugeln der Lernunluſt; denn nicht immer
ſchwinden im neuen Klaſſen verband mit
neuen Lehrzielen die tieflagernden Unluſt-
gefühle und inneren Ablehnungen. Zumal
die höheren Lehrer auch nicht alle Bildungs
kuͤnſtler find. Und die in der Lebens fülle hoher
Kultur ſchwelgen ſollten, die emporf liegen
ſollten wie junge Adler, die empfinden die
Arbeit als eine Laſt, der ſie ſich mit allen
Liſten und Ränken zu entziehen ſuchen.
Manche leiden völlig Schiffbruch, andere
kriechen empor mit Verluſt von weiteren
Lebensjahren. Das Leben und die Jahre
machen ja manches wieder gut, rütteln die
Innenkraft wieder wach. Aber köſtliche
Jugendjahre, wertvolle Jugendkraft ſind
unwiederbringlich verloren.
Auf der Bart
Und doch gibt es ein Mittel, dieſe Geelennst
zu lindern, die Grundſchule zu veredeln: da
Mannheimer Schulſpftem. Es ſammelt die
ungefähr Gleichwertigen in beſondern Klaſſen,
und auch dem Durchſchnittslehrer wird die
weſensgemäße Förderung gelingen. Ja, abe
die Ausleſe! Die Begabungsprüfung ſteht ef
im Anbeginn ihrer Leiſtungsfähigkeit. 30
meine, dieſe Frage beunruhigt und beſchwert
uns ſehr zu Unrecht. Das durch die Erfahrung
geübte Auge des Lehrers, fein im ſozialen
Sinn verankertes Wohlwollen machen ſein
Differenzieren blickſicher und lehren ihn, die
Geiſt- und Willens hochwertigen von ihren
unterwertigen Altersgenoſſen unterſcheiden.
In der differenzierten Klaſſe aber wird Lern.
freude und Lernkraft wachſen, da jeder Ar
lagegruppe das an geiſtiger Koſt geboten und
an geiſtigen Leiſtungen zugemutet wird, was
fein leiblich-geiſtig-ſeeliſcher Organismus ver-
langt.
Neuerdings ſcheint man in den führenden
Kreiſen der Volksſchullehrerſchaft dem Ge
danken der „Veredlung“ der Grundſchule
ndbertreten zu wollen, wie ein bedeutjamer
Aufſatz in der „Preußiſchen Lehrerzeitung
zeigt. Würde dieſer Weg beſchritten, jo
würden viele ſich mit der vierjährigen Grund-
ſchule befreunden, die ihr jetzt feindlich gegen
überſtehen, weil fie ihre Kinder hungern
ſehen, weil fie eine Gefährdung der Zukunft
ihrer Kinder befürchten. Und weil fie wiſſen
oder fpfiren, daß jede Nichtausloͤſung oder
Nichtentwicklung perfönlider Werte eine
Schädigung der Allgemeinheit bedeutet. Die
Veredelung der Grundſchule durch das Mam
heimer Schulſyſtem wäre ein bedeutfamer
Schritt zur Sicherung der vierjährigen Grund
ſchule. K. K.
„Uberſpannung?“
s iſt freudig zu begrüßen, wenn in einer
Zeitſchrift wie dem „Türmer“, ber in
vorbildlicher Weiſe den inneren Wiederaufbau
vorbereitet, auch Mängel der Schule be
ſprochen werden, zumal da jetzt die neuen
Lehrpläne noch manche Erörterung herver-
rufen werden. Aber die in der Auguſtnummet
Auf ber Warte
(S. 472) gerügten „Überfpannungen“ ent-
ſprechen in der verallgemeinerten Gorm
glüdliherweife nicht den Tatſachen.
Zunächſt beklagt der Verfaſſer den Wahn
der Schule, „der Jugend müffe fo viel Wiſſen
als nur möglich eingetrichtert werden“,
dann die „Aberſchaͤtzung und Überfpannung
des gebädhtnismäßigen Lernens“ und das
daraus ſich erklärende „niederſchmetternde
Ergebnis“ hinsichtlich der Dauer des Er-
worbenen. Das find ohne Zweifel große
Fehler, die zum Teil mit dem ungeahnten
Aufſchwung der Naturwiſſenſchaften um die
Wende des 20. Jahrhunderts in Zuſammen-
hang ſtehen, die aber auch von führenden
Pädagogen wie Kerſchenſteiner u. a. vor
bereits 20 Jahren erfolgreich bekämpft wur-
den. Dafür nur ein Beweis: eine mir vor-
liegende Lehrordnung der Pfalz von 1908,
die aber in der nddften Zeit durch eine neu-
zeitliche abgeldft werden wird, ſagt einleitend
ausdrüdlich: „Die Durcharbeitung der Stoffe
hat ſich auf das Weſentliche zu beſchränken,
wie überhaupt in allen Schulverhältniſſen
bei jedem Unterricht nicht mehr Einzelheiten
aufzunehmen ſind, als nach Maßgabe der
verfügbaren Zeit methodiſch richtig be-
handelt werden können.“ Die mir bekannten
Lehrordnungen von Mannheim, München,
Hamburg u. a. ſchreiben in ähnlichem Sinne.
Des weiteren wird die Einführung neuer
Lehrfäher befürchtet. Wer nur oberflächlich
in der pädagogifchen Literatur Beſcheid weiß,
kennt die in den letzten Jahren in allen Teilen
des Reiches mit Geſchick und Erfolg arbeiten
den Beſtrebungen nach Zujammenlegung der
Fächer zum „Geſamtunterricht“, „jenfeits der
Fächerung“.
Auch über die Ermüdung der Kinder durch
die Schularbeit iſt man ziemlich unterrichtet,
ohne ſich dabei auf die ſehr perfinliden Emp-
findungen eines reichen Englanders ftüßen zu
müffen. So haben die ſehr eingehenden,
experimentellen Unterſuchungen des Prof.
Lobſien folgendes ergeben: „Die fünfte vor-
mittägige Unterrichtsſtunde wirkt Außerft
ermũdend, wenn ein ſchwieriges Fach ge-
trieben wird, bedenklich. Eine folgende ſechſte
Stunde wirkt geradezu erſchreckend.“
463
Bezüglich der Höͤchſtſtundenzahl ſieht die
vorhin erwähnte Lehrordnung feit 1008 in
den Oberklaſſen im Sommerhalbjahr wddent-
lich 24 Stunden vor. Zieht man die vom Ver⸗
faſſer noch zugegebenen „keine geiſtige An-
ſtrengung erfordernden“ Fächer ab, dann ver-
bleiben noch 19, für den Winter 21 Stunden,
demnach noch weniger als der Verfaſſer zur
Schonung der Jugend verlangt.
Hinſichtlich der Hausaufgaben beſteht die
ſtrenge Weiſung: „Obwohl der Stundenplan
der Werktagsſchule dem umſichtigen Lehrer
hinreichend Zeit für Einübung der Lehrſtoffe
während der Schulzeit läßt, will von Haus-
aufgaben nicht ganz abgeſehen werden; doch
find größere Hausaufgaben nur über den
ſchulfreien Nachmittagen guldfjig und dabei in
ſolchem Umfange, daß ihre Erledigung hdd-
ſtens eine Stunde erheiſcht.“
Wenn alſo die im „Türmer“ erwähnten
Mängel an irgend einer Landſchule noch be-
ſtehen, dann find fie jedenfalls nicht typiſch,
ſondern, Gott ſei Dank, ein Ausnahmefall.
Heinrich Löckel
Aufſchwung des deutſchen Turnier⸗
Sports
Fa in der Stille hat ſich ſeit Kriegsende
ein Zweig unſerer Inlandserzeugniſſe
und ſeiner praktiſchen Anwendung zu einem
gebietenden Faktor entwickelt, dem ohne
Zweifel die Zukunft gehört. Das deutſche
Pferd ift drauf und dran zu einem hoch-
wertigen und begehrten Ausfuhr-Objekt zu
werden. In jahrzehntelanger zielbewußter
Arbeit hat die deutſche Landwirtſchaft des
norddeutſchen Tiefs jenen Typus des hddft-
verwendbaren Pferdes herangezuͤchtet, der
unter dem Kennzeichen „Deutſches Halb-
blut“ feinen Siegeszug durch die Welt an-
treten wird. Der leichtere Schlag wird vor
allem im Hanndverſchen und auf den Marſchen
Holſteins gezogen. Der ſchwerere Schlag,
einem Kaltblüter ähnlicher als einem edlen
Warmblut, gedeiht namentlich in Oldenburg
und Oſtfriesland. Hier hat der unlängſt zu-
ſammengeſchloſſene Verband der Züchter des
edlen oldenburgiſchen Gebrauchspferdes (des
464
leichten der füdlichen Geeſt, des ſchwereren
der Marſch) mit einem Stamm von etwa
12000 Mutterſtuten und einem Beſtand von
gut hundert höchſtwertigen Hengſten ein von
langher vollkommen ausgeglichenes Blut her-
angezuͤchtet, fo daß die jährlichen Hengft- und
Stutenkörungen ein Ereignis erſten Ranges
auch für das Ausland geworden ſind. Die
Tſchechoſlowakei kaufte 1924 allein 35 dieſer
Hengſte an (der Rekordpreis für ein Tier war
faſt 50000 Mark). Auch Schweden, Amerika,
Belgien und Holland hatten Fachleute und
Aufkäufer entſandt. In Amerika find Olden-
burger als Wagenpferde von impoſanter
Form und fabelhaften Gängen (Stichtrab)
große Mode. Mit dieſem Aufſchwung der
einheimiſchen Pferdezucht, deren Produkte
man mit Freude und ehrlichem Staunen in
der viel beſſeren Nachkriegs-Form bei unferer
Kavallerie und berittenen Polizei feſtſtellen
kann, iſt aber auch die Auswertung nach der
idealen und realen Seite hin emporgegangen:
In den bäuerlichen Pferdezuchtgebieten hat
das Reitweſen höͤchſterfreulich zugenommen.
Das iſt nicht zuletzt den rührigen Landbünden
zu danken, die den reiterlichen Geiſt der alten
(verſcheuchten) Armee weiterpflegen will;
vor allem aber der Freude des ZJungvolks am
Reiten und Reiterlichen. Die bäuerlichen
Reitvereine, die heute faſt in keinem vater-
ländiſchen Feſtzuge fehlen, bilden ein un-
gemein wertvolles Glied in den voltstim-
lichen Beſtrebungen, für den verbotenen
allgemeinen Wehrdienſt eine gute körperliche
Ausarbeitung und den frohen, mannhaften
Geiſt zum edlen Sport dem Volke als Erſatz
liebwert zu machen. Sie dienen aber auch der
praktiſchen Arbeit am Objekt, am Pferde
ſelbſt. In den Turnieren finden dieſe Auf-
gebote der deutſchen Qualitätszudht ihren
Grabmeſſer und den öffentlichen Schauplatz.
Eine Statiſtik der Turniere und Nennungen
für deutſches Halbblut mag vom gewaltigen
Auf der Warte
Umfang dieſer Arbeit am guten Ding einen
Begriff geben.
Vom Reichsverband zur Zucht und Prü-
fung deutſchen Halbbluts wurden veranſtaltet:
1923: 273 Turniere, 11741 geftartete Pferde.
Höchſtzahl bei einem Turnier mehr als 1000,
1924: 375 Turniere, 24264 geſtartete Pferde,
1925: etwa das Doppelte, allein im Juli 79
Turniere.
Von den meiſten Turnieren hört man in
der großen Offentlichkeit nichts. Nur die
lokalen Blätter berichten darüber. Dabei
ſind bei dieſen kleineren Veranſtaltungen
meiſt drei- bis vierhundert Pferde am Start.
Allgemein bekannt, und als das deutſche
Olympia der Pferde anzuſprechen, ſind die
zwei großen FJahresveranſtaltungen des
Reichsverbands in Berlin: Das Frühjahrs-
turnier in geſchloſſenen Hallen (meiſt Luifen-
Tatterſall oder Sportpalaſt) und das gewal-
tige Herbſtturnier — der Heerbann des Halb-
bluts — auf dem Stadion im Grunewald.
Das find übrigens auch die zwei Gelegen-
beiten, wo man die ältere deutſche Gefell-
ſchaft in Reinkultur beiſammen ſehen und
Namen vernehmen kann, die in der neu-
deutſchen Luft Schall und Rauch geworden
ſcheinen.
Dieſe Entwicklung iſt zwangsläufig: die
geſunde Reaktion auf das Unmaß der ge
waltſamen Beſchneidung, Ausſaugung und
Verkümmerung von deutſchem Land und
Volk, niedergelegt im Verſailler Schandver-
trag. Dieſe Entwicklung zeigt auch, welchem
Exportgut die deutſche Volkswirtſchaft ihr
Hauptaugenmerk zuzuwenden hat: nicht den
deutſchen Induſtrie-Sachlieferungen, ſondern
dem einheimiſchen Erzeugnis, das kein Hoch-
ſchutzzoll, kein Dumping-Geſchrei fernhalten
kann, da es einfach unentbehrlich oder hoch
begehrt ift: das deutſche Halbblut- Pferd und
die deutſche Zuckerrübe — landwirtſchaftliche
Urprodulte beides. H. Sch.
Herausgeber: Profeſſor Dr. Friebrich Lienhard in Weimar. Hauptſchriftleitung: Dr. Konrad Oürre,
Weimar, Karl-Alexander-Allee 4. Für unverlangte Einſendungen wird Verantwortlichkeit nicht übernommen.
Annahme oder Ablehnung von Gedichten wird im „Brie fkaſten“ mitgeteilt, fo daß Nüdfendung erſpart bleibt ·
Ebendort werben, wenn moglich, Zuſchriften beantwortet. Den übrigen Einſendungen bitten wir Rückporto beizulegen.
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart.
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ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT
Herausgegeben Dr. h.c. Friedrich Lieriyard
Begränder: — Gil. Freiherr son & Srotthafs
28. Jahrg. März 1926 heft 6
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Akte III oa
De Erinnerung an das Vater
land tritt warnend und weiſend
mitten hinein in unſre perſönlichſten
Angelegenheiten, Gibt es irgendeinen
Gedanken, der heute einen rechten
Dentfchen lauter noch als das Gobot
der allgemoin-menſchlichen Pflicht zu
ſittlichem Mute mahnen kann, ſo iſt es
dieſer Gedanke: was du auch tun magſt,
um reiner, reifer, freier zu werden,
du tuſt es für dein Volk.
Heinrich von Treitſchke
4860
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Der Türmer XXVIII. 6
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Großdeutſchland,
ſein Lebensraum und ſeine Grenzen
Von Dr. phil. et iur. Hugo Grothe
Leiter des „Inftituts für Auslandkunde, Grenz: und Auslanddeutſchtum“, Leipzig
or Volk hat auf der Erde einen ihm von der Natur gegebenen Lebensraum.
Nicht von Urzeiten ſitzt es in ihm. Es beginnt mit demſelben erſt zu verwachſen,
wenn es im Prozeſſe kulturellen Aufſtieges dieſen Lebensraum durch Anpaſſung
eroberte und den Platz gegen Widerſacher ſeiner Nachbarſchaft durch ſiegreiche
Kämpfe zu halten vermochte.
Das deutſche Bolt gewann feinen Lebensraum in Mitteleuropa in den erſten Jahr-
hunderten vor Chriſti Geburt. Bedeutend eher, als die auf dem Boden des weſtlichen
Frankenreiches ſitzenden Stämme der Burgunder, Bretonen, Gascogner, Proven-
zalen ſich als „franzöſiſche Nation“ fühlten — es geſchah letzteres etwa ſeit den
Kämpfen gegen die Ausbreitung der Engländer im 15. Jahrhundert in Nord-
frankreich — kriſtalliſiert ſich das Volk der Deutſchen. Schon der griechiſche Geograph
Ptolemäus maß das Land Germanien nach Längen und Breiten im Jahre 150
n. Chr. Die römiſchen Grenzprovinzen am linken Rheinufer, „Germania superior“
und „inferior“ lagen da, wo ſich ſpäter die deutſchen Herzogtümer Ober- und Nieder-
lothringen und Hochburgund entwickelten. Auf Grund der Sprachgrenze im Weſten
wird das große Frankenreich Karls des Großen 870 im Vertrag zu Merſen in ſeine
romaniſchen und germaniſchen Beſtandteile zerlegt. Jetzt — um die Wende des
neunten zum zehnten Jahrhundert — iſt der Lebensboden für den weiteren politiſchen
und kulturellen Werdegang des deutſchen Volkes in den Grundzügen feftgelegt.
Die Grenze zwiſchen den beiden Reichen läuft gemäß der Sprachenſcheide Hunderte
von Kilometern weſtlich des Rheins. Der Strom ſelbſt war niemals Volksſcheide
und kann es nicht werden. Das Quellgebiet des Rheins, die Ufer des Bodenſees,
das ſüdliche Baden, Schweiz und Elſaß bis zur Moſel find von alemanniſchen Stäm-
men beſiedelt, indes flußabwärts die rheiniſchen und nach dem Meere zu die ſaliſchen
Franken ſaßen.
Rhein- und Moſelland werden feit Karl dem Großen Rückgrat und Seele des
deutſchen Reiches. Ungeheuerlich daher, daß Frankreich heute mit ſeinen Garniſonen
die Hände legt auf die alten Stätten deutſcher Macht- und Geiſtesentfaltung und ſie
ſeiner Kulturzone durch alle Mittel der Propaganda eingliedern möchte. Deutſches
wirtſchaftliches und geiſtiges Leben blühte frühzeitig in den Ländern und Städten zu
beiden Ufern des Rheins und lief in befruchtenden Strömungen auf den verſchie⸗
denſten Straßen ins Innere Deutſchlands. Am Rhein und an der Moſel, wo ſich die
innerdeutſchen Naturformen ſeeliſcher Tiefe und Herbheit von dunkelnden Wäldern
und friſchen Feldern mit Zeichen des ſonnigeren Südens, Rebengärten und Edel-
kaſtanien miſchen, entwickelte ſich im Mittelalter die Keimzelle der das deutſche
Chaos gliedernden Staatlichkeit. Hier tagten die glänzenden Reichstage, einer der
ſtolzeſten der von Mainz im Jahre 1184, auf dem Kaiſer Friedrich Rotbart die
Huldigungen und Grüße europäiſcher und aſiatiſcher Fürſten entgegennahm.
Grothe: Großdeutſchland, fein Lebensraum und feine Grenzen | 467
Unter den Hohenftaufen im 12. und 13. Jahrhundert wird im weſentlichen nach
Oſten und Südoſten zu der Bereich deutſcher Rolonifations- und Kulturarbeit ge-
rückt. Ein bis zwei Jahrhunderte ſpäter ift dieſes Neuland als inmitten der deutſchen
Sprachgrenze liegender geſchloſſener Volksboden klar gekennzeichnet. Dem deutſchen
Reiche zugehörig iſt damals das Ordensland Preußen, Pommerellen und Pom-
mern, weiter das ſchon halbwegs zur Warthe über die Oder oſtwärts greifende
Herzogtum Schleſien, dann im Süden die Markgrafſchaft Mähren mit Troppau,
Olmitz, Brünn, desgleichen das Herzogtum Steiermark, das im Süden ſchon feine
deutſchen Städte Pettau und Cilli aufgebaut hat, und ſchließlich an der oberen Drau
und Sau das gerzogtum Kärnten und die Markgrafſchaft Krain. Nur im Norden
fiel, im Gegenſatz zu der ſpäteren Entwicklung, die deutſche Grenze noch mit der Eider
zuſammen. Im Weſten waren indes dem Römiſchen Reiche deutſcher Nation noch
alle Landſchaften zwiſchen Schelde, Maas und Moſel mit Brüſſel, Namur, Verden
und Toul einverleibt, wo eine ſtarke, deutſchſprechende Oberſchicht, ſoweit es ſich
wirklich um romaniſchen Volksboden handelte, damals ſeßhaft war.
„Von der Maas bis an die Memel, von der Etſch bis an den Belt“ ... dies deutſche
Lied zeichnet in knappen Worten, die unſere bekannteſten Flußnamen der Grenz-
lande künden, das Ausmaß deutſchen Sprachbodens von Weſt nach Oſt, von
Süd nach Nord. Bern, Bozen, Klagenfurt, Radkersburg find die Städte feiner
Südflanke, indes Preßburg, Brünn, Olmütz, Beuthen, Thorn, Inſterburg die
ſtädtiſchen kulturellen Grengpuntte nach Oſten, Hadersleben, Stralſund, Danzig,
Königsberg, Memel nach Norden, Emden, Aachen, Trier, Metz und Straßburg
ſolche Kulturzentren nach Weſten zu darſtellen. Nicht weniger als neun dieſer deut-
ſchen Kulturherde liegen heute in Feindesland. Wären nicht im Oſten zwei große
Vöͤlkerkeile dem deutſchen Sprachgebiete eingedrückt, der polniſche und der tſchechiſche,
würde es die Geſtalt eines mächtigen unregelmäßigen Trapezes beſitzen, deſſen
breite, durch ſiebzehn Längengrade ſich erſtreckende Grundlinie an der Waſſerkante
verläuft, indes die kürzere, nur zehn Längengrade ſchneidende obere Linie ſich dem
Gebirgswall der Alpen anlehnt. Die geographiſche Wiſſenſchaft hat kürzlich die
Größe des deutſchen Sprachgebiets planimetriſch neu ausgemeſſen und ihm
652000 qkm gegeben. Von ihm liegen 365000 qkm im Kernland weſtlich von Elbe,
Saale, Böhmerwald, der Enns und dem Großglockner, 287000 im Kolonialland
öſtlich der Elbe. Innerhalb der alten Grenzen des Reiches von 1871—1918 finden
wir 72% des deutſchen Sprachgebietes, innerhalb der neuen Grenzen jedoch nur
66% desſelben. 49000 qkm entfallen auf die Niederlande, Belgien und Luxem-
burg, 12000 auf Elſaß-Lothringen, 23000 auf die Schweiz, 87000 auf Öfterreich
und Deutich-Südtirol, 27000 auf die Tſchechoſlowakei, 20000 auf Polen und Danzig.
Dazu kommen noch die weiter abgelegenen Sprachinſeln in Krain, Ungarn, Polen
und den baltiſchen Provinzen.
Die Territorien von acht Staaten berührten das im Herzen von Mitteleuropa
gelagerte Deutſchland Bismarcks. Ihre Zahl ſtieg mit den aus dem Schoße des Ver-
ſailler Diktats entſtandenen Mittel- und Kleinſtaaten auf zehn. Es iſt ſomit eine
mannigfache Umklammerung gegeben, eine Kehrſeite feiner zentralen Lage in
Europa, die für Verkehr und Wirtſchaft freilich viel der Vorteile birgt. Von den fünf
468 Grothe: Scotzbeutſchland, fein Lebensraum und feine Geenzen
Staaten der Oſtflanke werden ihrer drei (Polen, Tſchechoſlowakei und Südſlawien)
von franzöſiſchem Willen gelenkt: durch finanzielle und militäriſche Hilfe find fie zu
Werkzeugen der neuen Umkreiſung Deutſchlands geftaltet worden. Und von Litauen,
das erſt kürzlich ſich unter den Augen des Völkerbundes des Memelſtaates bemdd-
tigte, um ſich für den Verluſt Wilnas an Polen zu entſchädigen, iſt ſchwerlich eine
freundliche Haltung zu erwarten.
Eine noch buntere Reihe ergibt ſich, wenn wir die Volksſplitter betrachten, die
ſich um den Sprachboden deutſchen Volkstums gruppieren. Es ſind im Oſten, Sũden
und Weſten: Eten, Letten, Litauer, Maſuren, Kaſchuben, Polen, Tſchechen, Slo-
waken, Magyaren, Slowenen, Kroaten, Serben, Friauler, Ladiner in Südtirol und
in der Schweiz (Rhätoromanen), Italiener, Franzoſen, Wallonen, Belgier. Rings
her feben wir alfo im weiten Kreiſe von Nordoſt zu Oft, Südoſt, Süd und Weft
achtzehn Völker und Volksteile, die zur Mehrzahl auf Koſten deutſcher Erde und
deutſcher Menſchen eine Bereicherung an Gebiet, Kulturgut und Wirtſchaft erftre-
ben. In dem großen Ring, der um den deutſchen mitteleuropäiſchen Volksboden
gelegt ift, figen Raſſenverwandte allein im Norden mit Holländern, Dänen, Nor-
wegern und Schweden. Aber auch hier in der Nachbarſchaft verwandter Raſſen iſt
Schutz und Sicherheit vor nationaliſtiſchen Beſtrebungen nicht völlig gegeben. Auf
der jütländiſchen Halbinſel hat der kleine Däne die Niederlage Deutſchlands benutzt,
um unter Hervorholung alter Streitpunkte ſich Beute an Land zu holen.
Schuͤtzender Naturgrenzen entbehrte das Deutſche Reich von 1871 nahezu völlig,
mit Ausnahme derjenigen der Nord- und Oſtſee. Und im Rumpfdeutſchland von
1918 find die Türen und Fenſter, die für leichten Einmarſch der Nachbarn offen
ſtanden, noch weiter aufgeriſſen. Im Oſten wurde die früher ſchon ungemein lange
und ſchwer zu verteidigende Grenze um ein Drittel vergrößert und die Reichs-
hauptſtadt Berlin ihr auf nur 120 km nabegeriidt. Indem die deutſchen Flüſſe durch
das Verſailler Diktat fremder Kontrolle unterſtellt find, machte man Rumpfdeutſch⸗
land geradezu zum Tummelplatz nicht nur der Anlieger, wie Polen, Tſchechen, Fran-
zoſen, ſondern auch der Italiener und Engländer, die in den zur Aufſicht der Fluß-
ſchiffahrt eingeſetzten Ausſchüſſen vertreten ſind. Der deutſche Volksboden eines
künftigen Großdeutſchlands wird im Weſten und Süden günftigere Naturgrenzen
zu gewinnen haben, die heute nicht beſtehen, und zwar durch Vogeſen, Ardennen
und die Ketten der Alpen. In Often und Süͤdoſten, wo im Laufe der Jahrhunderte
ſich die Völker derartig hin und her ſchoben, daß ſie inſelartig ſich ineinanderbetten,
wird die Abgrenzung im Wege von natürlichen oder ſtrategiſchen Grenzen zur Un-
möglichkeit oder zur Ungerechtigkeit für einen der Grenznachbarn. Hier läßt ſich wohl
nur ein Ausweg ſchaffen: die Volkstumsgrenze wird zur Kulturgrenze geſtaltet.
Durch Abſtimmung entſcheiden ſich die Bewohner über ihre Hinneigung zum deut-
ſchen oder ſlawiſchen Sprach- und Kulturkreis.
Sind Möglichkeiten gegeben, die Errichtung eines „Großdeutſchland“ in abſehbarer
Zeit zu erreichen, ſo daß die heutige Generation ſolche Gedankengänge pflegen kann?
Gewiß, nur ſchrittweiſe wird ſich die Bildung eines ſtaatlich geeinten größeren
Deutſchlands vollziehen. Die kulturelle Sammlung des Deutſchtums, die Schaffung
des Bewußtſeins einer deutſchen Geſamtkultur und einer unlösbaren Zugehörig⸗
Grothe: Grohdeutſchland, fein Lebensraum und feine Grenzen 469
keit zum deutſchen Volkstum, ift das nächſte und das am eheſten erreichbare Ziel.
Es hat der erſte Bauſtein des Werkes der Zukunft zu fein. Ganz von ſelbſt wer-
den ſich dann Folgen politiſcher Natur einſtellen, die mit den Grenzen zwiſchen
Gliedern von Volksgenoſſen aufräumen. Die Reviſion der Grenzen im Often von
Rumpfdeutichland beſchäftigt heute ſchon die Staatsmänner fremder Staaten mehr
als unfere eigenen. Daß in die „Sicherheiten“, wie fie Frankreich für die Räumung
der Kölner Zone verlangte, eine Gewähr der Erhaltung des polniſchen Korridors
ſich niemals einbeziehen läßt, dieſer Tatſache haben die Verhandlungen von Locarno
Anerkenntnis verſchafft. Einen bezeichnenden Aufſatz ſchrieb im Frühjahr 1925 Lloyd
George, derfelbe, der feinen Namenszug mit unter den Vertrag von Verſailles ſetzte.
Wie er die Oft- und Südoftfragen Europas beurteilt, ergibt ſich aus folgenden Worten:
„Immer wieder habe ich darauf aufmerkſam gemacht, wie ſich einige der durch den
großen Krieg befreiten Nationen ſelber unvermeidliche Schwierigkeiten bereitet haben
durch ihre Gier nach Land, das bis vor kurzem anderen Völkern gehört hatte. Nach-
dem dieſe neubefreiten Völker Menſchenalter hindurch lebendig begraben waren, ſind
ſie aus ihren Gräbern herausgetreten, mit einem wütenden Hunger nach Land und
Menſchen, den nichts zu ſtillen vermochte. Polen wird eines Tages ſeine Gefräßigkeit
übel bekommen. Wer wird es dann zu retten vermögen? Polen hat ganze Fetzen
von unverdaulichen Ukrainern, Weißruſſen, Deutſchen, Litauern verſchluckt. Nicht
zufrieden mit dieſer beſchwerlichen und erdrückenden Mahlzeit, ſucht es jetzt die
ganze, durch und durch deutſche Stadt Danzig zu verſchlingen. In jenen Teilen
Europas bedeutet der Prozeß der Wiederherſtellung eine der unvermeidlichſten
Sorgen der Zukunft.“
Reviſionen des Vertrages von Verſailles von kleinerem oder größerem Umfange
wird alſo das nächſte Jahrzehnt unſtreitig bringen. Da heißt es, daß wir deutſcher⸗
ſeits uns rechtzeitig klarmachen, wohin unfere Forderungen auf Umſtoßung des
Friedensvertrags in territorialer Hinſicht gehen. Eine ganze Generation der
Tſchechen und Südſlawen hatte im ſtillen Wünſche genährt, geformt, fie ausgebaut
und begründet, ſo daß am Schluſſe des Weltkriegs in Verſailles ſcharf gefaßte und
durch zum Teil gefälſchtes Beweismaterial geſtuͤtzte Formulierungen für aufgeſtellte
Forderungen vorgelegt werden konnten.
Eines verkenne man nicht: wir haben einen Rechtsgrund, die Revifion des Ver-
failler Dittats zu fordern, wenn auch unſere Machtmittel zu ſolcher Umgeſtaltung
der Friedensbedingungen gegenwärtig noch nicht ausreichen. Aber mit dem Grade
unſerer inneren Erſtarkung und der wachſenden Erkenntnis von der Unwahrheit
der Kriegsſchuldlüge in der Welt und vom Sitze eines bedrohlichen Militarismus in
Paris wird auch die Zwangsjacke des Dittats von Verſailles und St. Germain fallen.
Eine Erſchließung der Verſailler Geheimakten hat gelehrt, daß die amerikaniſchen
Vertreter in Paris 1918 die ſtrenge Einhaltung der Vorabreden mit Präſident Wilſon
forderten, die fie, wie das getäuſchte Deutidland, als einen rechtsgültigen Vertrag
anſahen. Und als Grundlage der Friedensbedingungen und einer Neuregelung der
Staatsgrenzen war das Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker auserſehen. Die dies-
bezüglich maßgebende Kundgebung Wilſons lautet bekanntermaßen:
„Es ſoll weder Annexionen noch Entſchädigungen geben, Völker und Provinzen
470 Grothe: Großdeutſchland, fein Ledensraum und feine Grenzen
follen nicht von einer Staatshoheit in eine andere geſchoben werden, als ob es ſich
nur um Gegenſtände oder Steine in einem Spiel handelte. Jede Löſung einer Ge-
bietsfrage muß im Intereſſe und zugunſten der betreffenden Bevölkerung und nicht
als Teil eines bloßen Ausgleichs oder Kompromiſſes rivaliſierender Staaten ge-
troffen werden.“ |
Ins Gewicht für die Löſung des Problems Großdeutſchland fällt aber vor allem
die zahlenmäßige Stärke der deutſchen Menſchen, ſobald dieſe mit feſtem und
einigem Willen ein Großdeutſchland heiſchen. Ein Viertel aller Deutſchen iſt gewalt-
fam vom Reiche getrennt. Unter Fremdherrſchaft kamen von der Zahl der Grenz-
deutſchen rund 1650000 in Elſaß-Lothringen, in Moresnet und Eupen- Malmedy,
800000 an der Saar, 250000 in Südtirol und im Tarwisgebiet, 200000 in Slo-
wenien, 3750000 n Böhmen, 1½¼ —1!/, Mill. in Polen, 120000 in Memel, 315000
in Danzig, 40000 in Schleswig, das find zuſammen gut 8 / Millionen Deutſche. —
Weiter wurde 6730000 deutſchen Volksangehörigen in Oeutſch-Oſterreich der ein-
mütig verlangte Anſchluß verboten. Das find zuſammen nahezu 16 Millionen un-
erlöfte Deutſche, die zu einem einigen Großdeutſchland ſtreben. Eine Irredenta,
gegen die, wenn ſie unter dem Orucke der Entrechtung und Vergewaltigung eines
Tages zur Entfaltung und Entfach ung gelangt, jede frühere in Europa als harm-
loſe Kleinigkeit ſich ausnimmt! Sie iſt dann einunddreißig mal ſo groß als die
franzöſiſche in Elſaß- Lothringen und die italieniſche in Tirol wa! Sechzehn
Millionen — ſoviel wie die Bevölkerung der geſamten einundzwanzig nord-
amerikaniſchen Staaten weſtlich des Miſſiſſippi ohne Miſſouri und Jowa, vier Fünftel
ſoviel wie diejenige Spaniens, faſt halb foviel wie die Frankreichs!
Die ſtaatlichen Bildungen zur Umfaffung der Deutſchen haben im Gange eines
Jahrtauſends notgedrungen, je nach den die weltliche Macht tragenden Kräften und
dem Geiſte der Zeit, wechſeln müſſen. Zuerſt erſtand das mächtige Römifche Reich
Deutſcher Nation. In den Weſten und Oſten Europas ragte es weit hinein und um-
ſchloß alle Deutſchſtämmigen, dazu freilich viel fremdes Volkstum. Nach ſeinem
Zuſammenbruche kam der Deutſche Bund von 1815—1866. Als eine äußerliche
Bindung, in der die Eiferſucht zwiſchen dem ehemaligen Träger der Kaiſerkrone,
Oſterreich, und dem mächtig aufſtrebenden Preußen bald zum Moment der Spren-
gung werden mußte, hatte er nur kurze Dauer. An ſeine Stelle trat das Deutſchland
Bismarcks, dem trotz der Genialität feines Schöpfers die Merkmale eines Klein-
deutſchlands anhaften mußten. Dieſem ſiebenundvierzig Jahre glanzvoll beſtehen-
den „dritten“ Reiche folgte durch den Zwang der Sieger das beklagenswerte
Rumpfdeutſchland unſerer Tage.
Im Leben der ganzen Menſchheit wie in dem der einzelnen Völker vollzieht ſich
jede Entwicklung in Wellenlinien, die Höhen und Tiefen zeigen. Wir ſind kein in
phyſiſcher und ſeeliſcher Zeugungskraft abſterbendes Volk, foviel Wunden auch durch
den Materialismus der Zeit, durch Verſagen der Pflichterfüllung, durch Weichen der
Perſönlichkeit vor den Inſtinkten und Leidenſchaften der Maſſe ſeit Beginn des Welt-
krieges, aber vielfach auch ſchon früher, in den Volkskörper ſich eingefreſſen haben.
Aus dem engen Wellental eines Rumpfdeutſchland wird und ſoll Schwung und Auf-
ſtieg kommen zu einem reiferen und ſtärkeren Großdeutſchland.
Wolzogen: Was iſt die Welt? 471
In ihm möge der deutſche Menſch ſich entfalten, der feinen wertvollen Lebens-
raum, ſeinen glücklichen Boden, ſeine Vermittlerrolle im Herzen Europas durch
vollſte Ertüchtigung wieder zu erringen weiß ... ein deutſcher Menſch, dem nicht
Geldſack, Valuta- und Warenſpekulation, Bankdiskont und Anleihegeſchäfte das
einzige große Evangelium find ... ein deutſcher Menſch, der in der Welt feinen
Geiſt, ſein Können und ſeine Führerkräfte einzuſetzen vermag gegen angelſächſiſche,
romaniſche und flawifche Einflüffe und neben dieſen ... ein deutſcher Menſch, der
mit Goethe in höchſter Pflichterfüllung gegen ſich und fein Volk den Weg der Ve-
rufung zu gehen entſchloſſen iſt und in dieſer Aufgabe ein wahres, befreiendes und
erhebendes Glücksgefühl empfindet und hegt.
Im Deutiden Reiche von heute find nur 70—75 Prozent aller Deutſchen Mittel-
europas beieinander. Ein Großdeutſchland im kulturellen Sinne bedeute
eine Geijtes- und Seelengemeinſchaft, die im geſchloſſenen mitteleuropaͤiſchen Sied-
lungs felde über eine Menſchenmaſſe von reichlich 80 Millionen gebietet und, wenn
wir das geſamte Deutſchtum in der Welt ins Auge faſſen, von 100 Millionen Volks-
genoſſen nicht weit entfernt iſt. Scheiden wir die Oeutſch Schweizer im mitteleuro-
päifhen Dorgeldnde aus, fo umſchließt ein politisches Großdeutſchland der Zukunft in
Mitteleuropa doch früher oder ſpäter an 75 Millionen Volksgenoſſen und nicht nur
62 Millionen wie das Rumpfdeutſchland unſerer Tage. Den Regierenden dieſes
Staates wie der großen Maſſe kann nicht auf die Dauer allein die Wohlfahrt der
eigenen Pfahlbürger Selbſtzweck und Dafeinsfinn fein. Das Denken der Führer und
Geführten muß ein ſchöͤpferiſches werden, und neue Aufgaben haben in den Kreis
der Erwägungen und Pläne einzutreten. Reparations- und Räumungsfragen ſind
wohl noch für Jahre hinaus notwendiger Gegenſtand ihrer Sorgen und Kämpfe,
kõnnen es aber nicht ſtändig bleiben. Früher oder jpäter heißt es in Anknüpfung an
die Staatsgedanken eines Miniſters der Aufbauzeit nach 1813, des großen Reorgani ·
ſators vom Stein, vor deſſen Augen bereits ein mit dem Volksboden Mitteleuropas
ſich verſchmelzendes Reich ſtand, die Straße zu ſchreiten zur Einheit des deutſchen
Volkstums im Schoße eines Großdeutſchlands gemäß Recht und Gerechtigkeit,
gemäß einem Völkerbundsgedanken, der friedlich ſich ſcheidende Völker
im Rahmen ihrer wirklichen Beſtandteile, Kräftequellen und Kultur
grenzen zur höchſten wirtſchaftlichen und geiſtigen Soulsommenpeit
ſich entwickeln läßt.
Was iſt die Welt?
Von Hans von Wolzogen
Der eine lehrt — es war ein Weiſer —: Der andre meint — er iſt ein Sraver —:
Das Arge nur regiert die Welt; Die Welt iſt doch im Grunde gut;
Das Gute iſt ein Schein, ein leiſer, Das 8 wirkt nur als Beſtrafer,
Der hier und da den Weg erhellt. N Wenn einer mal nichts Gutes tut.
ch aber denke, kampfgewärtig:
wei Welten gibt es überhaupt,
Und mit der argen wird man fertig,
Wenn man nur an die gute glaubt.
472
Der Dämon des Lichts
Ein Rembrandt⸗Roman von Herbert Martens
(Sup)
1669
1.
uſart holt den Meifter gum Morgengang, fo dachte Cornelis Suythoff, der auf
Dos Sůdſeite der Roſengracht wohnte, ſchräg gegenüber dem Haufe der van Ryn.
Ein beſcheidenes Dachzimmer, das eher einer engen Schiffskoje glich, diente dem
jungen Malermeiſter zum Leben, wie es ſonſt nur Studenten zu jener Zeit und zu
allen erdenklichen Zeiten bezogen: dunkel, feucht und unbehaglich. Und doch hatte
auch dieſer enge Raum feine Zierde: das hohe, mit Blumenftöden beſtandene Dach
fenfter, zu dem eine Leiter hinaufführte. Hier ſaß Suythoff tagein, tagaus, mit
den feinſten Haarpinſeln eine winzigkleine Holgtafel mit einer erdachten Land-
ſchaft belebend: zwei knorrige Eichen nach einem Gewitter, die Luft geſchwängert
mit Feuchtigkeit; vorn zieht ein Waldpfad vorüber, auf dem zwei Reiter in die
hügelige Weite an einem Weiher vorbei hinausziehen, beide mit zinnoberroten
Röcken angetan. — Seit Cornelis Broom die hergebrachte Bildſtaffage; die Unter-
malung in einem rötlichen Ton, und Luft und Wolken hübſch laſiert.
Es war Vorſommer; die Linden auf der Prinzengracht ſandten ihren betduben-
den Duft herüber; die Schwalben huſchten am Fenſter vorbei; die Geranien reckten
ſich hoch empor, als könnten fie dann die Straße beſſer überblicken. Und ein zärt-
lich warmer Sonnenſchein vergoldete die dunkelſten Erker und Winkel, die roten
Giebel der langen Häuſerreihe und den Turm der Weſterkerk, und vergoldete
Suythoffs junges Malerherz, das in einemfort lachte, richtig laut lachte, hatte er
doch ſoeben noch einen glänzenden Blick von Cornelia erhaſcht, die den Vater bis
auf die Straße begleitete. Heute war Sommerwetter drinnen und draußen, und
übergenug Seligkeit, um einen ganzen langen Arbeitstag damit zu füllen. Er ſchob
ſeinen breitkrempigen Hut tief in den Nacken, liebäugelte mit den feinabgeſtimmten
Tönen ſeines Dutzendwerkleins und ſchnitt dabei die verliebteſten Grimaſſen.
Währenddeſſen luſtwandelten die beiden Männer zu den Seilerbahnen, die ſich an
der Innenſeite der Stadtwälle weit nach Süden hinzogen, im Schatten einer ſchmalen
Ulmenallee. Sie hatten ſich nicht viel zu erzählen. Der frühe Morgen war fo farbenreich
wie ein Stilleben von Snyders für ihre empfindlichen Augen, der die feinſten und
ſchönſten Leckerbiſſen auf rotem Tuch in den herrlichſten Farben zu ſchildern verſtand.
— Duſart, wie ſchön iſt doch die Welt! —
Zwei junge dralle Milchmädchen mit ihrer kupfernen Kanne in jedem Arm
ſchritten vorüber.
— Duſart, das Leben iſt doch das Schönſte! Ich habe nie den Mut gehabt,
dieſes rotbädige friſchblütige derbe Leben in feiner ganzen Harmonie der quellen
den Freude darzuſtellen, wie es Rubens gekonnt. Ja, diefer Fürft unter den Großen
verſtand fein Leben zu meiſtern. Ich komme mir oft vor wie ein Geift der Finjter-
nis und habe doch mein ganzes langes Leben um das Licht meiner Seele ringen
müſſen. Der große Peter Paul hatte es leichter. Ihn verſtand man, mich nicht.
Martens: Der Dämon bes Lichts 475
— Meifter Rembrandt, der Weg, den du bis zu Ende gegangen bift, war nicht
von lieblichen Gärten und zauberiſchen Wäldern umſäumt. Er führte durch enge
ſchmutzige Gaſſen, wo das hungernde und bettelnde Volk an den Türen lungert.
Du gingſt zu den Armen und Breſthaften, zu den Einfältigen und Irren, um der
Menſchheit die Leiden dieſer Ausgeſtoßenen zu ſchildern im Lichte der Bibel. Ach,
Meiſter, du deckteſt die Blößen und Wunden der Beladenen auf, und ich will nicht
wiſſen, ob du nicht redlicher mit ihnen deinen Überfluß teilteſt als die Reichen in
ihren Paläſten. —
— Du mußt kein Weſen daraus machen! Ich gab, was ich konnte; aber ich hätte
zehnmal mehr geben müffen. Es war alles immer nur Stückwerk. —
— Nicht immer, Meiſter Rembrandt! Dein Werk atmet den Geiſt der ſchmerz⸗
lichen Liebe. Es iſt etwas in dir, was uns Männer aus dem Volk in die Knie zwingt.
Der Tag wird kommen, wo die Kinder deinen Namen wie etwas Reines, Son-
niges ausſprechen werden, und die Eltern werden ihnen recht geben und ſie darin
beſtärken. —
— Sufart, mich ermüdet der Sonnenglanz. Auf der Seite der „Rofe“, die nach
der Raampoort hinabführt, iſt es ſchattig. Dort wollen wir uns niederlaſſen! —
Von dort aus konnten ſie ganz Amſterdam liegen ſehen, die trägen Fluten der
Amſtel, das breite vielverzweigte Becken der Kanäle, den weiten Hafen, auf deſſen
Reede die großen Kauffahrer und Kriegsſchiffe lagen. Zuweilen ſtieg ein weißes
Pulverwölkchen in die blaue Luft: O du uraltes Heimweh der Menſchen, das bie
dieſem Anblick das Herz beſchwert, bei dem Anblick des in ferne Weltmeere hinaus-
ſegelnden Schiffes!
Dann die hohen ſteilen Kirchtürme, verwittert und ſchwarz vor Alter. Die unend-
lich vielen ſpitzen Giebeldächer, die rauchenden Kamine; und das Gewimmel der
Menſchen, der ewig raſtloſen, kämpfenden Kreaturen Gottes!
Heute war es windſtill: die Rauchſäulen gingen fteil in die Höhe, und die Gäge-
und Gerbermiiblen lagen wie tot. Kam aber die friſche Seebriſe daher, dann raſten
die ungeheuer großen und ſteilen Flügel ſauſend durch die Luft, dann bebte die
Erde, und die Vögel des Landes wurden ſcheu und unruhig.
An dieſem frühen Morgen waren die beiden Zufahrten zur Stadt mit einer un-
überſehbaren Reihe von Fuhrwerken bedeckt, die alle ihr lebendes Vieh, ihre Ge-
müſe, Milch, Eier und Butter in die Läden und Hdufer ihrer Kunden brachten, und
auf dies emſig belebte Bild waren die Augen der beiden Männer gerichtet, die ſich
ins hohe Gras der Zitadelle gelegt hatten.
Plötzlich geriet der lange Zug ins Stocken, der durch die Bloemgracht ins Herz
von Amſterdam einbog. Die Fuhrleute und Bauern fluchten und hieben auf die
ſcheugewordenen Gäule ein. Es kam ihnen ein einzelnes ſchnellfahrendes Geſpann
entgegen, das in flotteſter Gangart die Heerftrake erreichen wollte. Der leichte
Wagen war mit billigem Hausrat und Gerümpel, das mit Stricken aneinander-
gebunden war, recht und ſchlecht beladen. Eine ganze Schar ſchreiender, johlender
Kinder hing an allen vier Seiten des hin und her ſchwankenden Gefährts und be-
unruhigte durch gellende Zurufe und Peitſchenknallen den behaglich im Halb-
ſchlaf dahinzuckelnden Wagenzug. Hinter dieſem Störenfried kam eine offene
474 Martens: Der Dämon des Lichte
Reifetalefde daher, in der die bekannten hageren Geftalten Jan Lievens und feiner
drei erwachſenen Söhne ſichtbar wurden, als fie gerade aus der Raampoort hinaus
rollte und die Feſtungsbrücke paſſierte.
Duſart hatte ſie gleich erkannt und begrüßte mit mächtigem Schwenken ſeines
Hutes die unten Vorbeifahrenden. Lievens ließ halten und gebot dem Kutſcher,
an dem nddften Kreuzweg zu warten, bis er nachkäme. Dann kletterte er mühſam
mit ſeinen langen ſteifen Beinen die Böſchung hinauf. Temperamentvoll wie immer
breitete er dem alten Sugendfreunde die Arme entgegen:
— Mein alter Freund, laß dich noch ein letztes Mal an die Bruſt drücken. Nach dem
Haag ſoll es gehen, mit Sack und Pack. Ein trauriger Auszug aus dem gelobten
Land, wo kein Honig uns Künſtlern mehr fließt. Dabei ſteckt mir wieder die alte
Wanderluſt in den Gliedern. Fort muß ich, hinaus in die Welt! Nach Antwerpen
und Paris, nach Rom und Florenz!
Mein bißchen Anſehen iſt hier völlig abgewirtſchaftet. Schulden über Schulden!
Sprechen wir nicht davon! Da haben wir uns doch, alter Freund, das Leben lich-
reicher vorgeſtellt, als wir vor bald vierzig Jahren Arm in Arm durch dieſes gleiche
Tor ſingend und unbeſchwert einzogen. Wir laſen damals, wie dem mittelmäßigen
Maler Bartholomäus Spranger von der Amſterdamer Bürgerſchaft der Ehrenwein
gereicht wurde, und wir prieſen dieſe Stadt. Es kommt immer anders als es ſich
der Menſch fo gern ausmalt. Beim Horn des Satans, die Kunſt iſt heut auf Ab-
bruch zu verkaufen, auf dem Trödlermarkt zu verhökern. Mich ekelt vor dieſer Stadt
voll Lumpengeſchmeiß! —
Hierbei ſpie er kräftig aus, und ein ungeheurer Strom von zyklopiſchen Fluchen
ergoß ſich in den warmen Sommertag hinaus, daß es eine Schande war.
— Jan, du kommſt wieder, ein neuer Lenz treibt dich zurück, du biſt mir immer
der beſte Freund geweſen. Wer weiß, vielleicht [Hist und einigt uns einft das gleiche
Kirchenſchiff. Ich kann dich nicht halten. Zieh wieder hinaus! Deine Freundſchaft
und dein tiefes Verſtändnis für meine Art haben mir die ſchwerſten Jahre lebens-
wert gemacht. Unfere gemeinſame Zugend war ſchön wie ein Traum. Dank, Dank,
du herrlicher Menſch! —
Lievens hatte noch etwas auf dem Herzen; man ſah es ihm an. Er legte ſeinen
langen Arm ſchützend um den Freund.
— Rem, ich fühle, wir ſehen uns nicht wieder. Niemals haben wir die Zeit mit
Worten verpraßt. Auch heute nicht. Aber eines muß ich dir noch ſagen, ein Letztes:
Viel und lang hab' ich über deine Kunſt nachgedacht, und ich wäre auch nicht recht
dahinter gekommen, was fie fo groß macht: da fang mir einmal Jordaens ein altes
vergeſſenes Kirchenlied von dem ewigen Licht, das in der Geftalt des Herrn Jeju
auf die Welt kam. Ich will nicht läſtern, nein, das liegt mir fern; aber niemals habe
ich etwas im Leben empfunden, das ſo groß und gewaltig, ſo namenlos tief und
ergreifend und doch fo zart und fein von diefem ewigen Licht des alten Liedes
Kunde gab wie deine Kunſt. Das wollte ich dir immer noch ſagen! —
Ein letzter Handſchlag, ein letztes ſtummes Abſchiednehmen, und Jan Lievens
lange Geftalt wanderte hinaus in die Welt, um noch ein letztes Mal fein Glück zu
verſuchen.
Martens: Oer Damon des Lichts 475
2. |
Der einſame Meifter ſaß am offenen Fenſter der Malkammer in feinem langen
ſchmutzigen Kittel, an dem er gewohnt war, die Pinſel ſorglos abzuwiſchen; er ließ
ſich die fröſtelnden Glieder von der ſpaͤten Nachmittagsſonne des dritten Oktobertages
beſcheinen, die nur kärglich hereindrang. Schon längjt erregte das gewohnte Straßen
bild feine Teilnahme nicht mehr. Es war immer dasſelbe Geſchrei der Gemüſe⸗
händler und Ausrufer, die Leierkaſtenmuſik der erblindeten Gaukler und der gaukeln
den Erblindeten, der Bettler aus Not und aus betrügerifcher Abſicht, die von zer-
lumpten Kindern begleitet waren. Ein Hanswurſttheater lockte die ſpielende Jugend
von beiden Seiten der grachtdurchzogenen Straße um ſich, die mangelhaft bepflaſtert
war und eher einer Dorfallee mit ihren ſcharrenden Hühnervölkchen ähnelte, als
einer Seitenſtraße der prächtigen Prinzengracht. |
Er blieb jetzt am liebſten zu Haufe, in den grauen dumpfen Mauern der ſchmalen
Zimmer, vor ſich hingrübelnd und kaum noch dem Licht und dem Leben zugetan.
Selten beſchäftigten ihn noch die Probleme feines Künſtlertums. Wie hatte ſich ihm
ſeit dem frühen Hereinbrechen des Herbſtes alles Sein und Weſen in ein lebloſes
Grau verwandelt! Waren wirklich erſt zwei Sommer dahingegangen, ſeit er in der
verlöſchenden Kraft feines unbändigen Temperaments den weinenden König Saul
förmlich mit dem Spachtel auf die Leinwand meißelte, ſeine beiden Kinder als
Boas und Ruth, in innigſter Zärtlichkeit umfangen, mit der letzten Glut ſeines
geprüften Herzens verherrlichte? Welch eine große erhebende Zeit war dies für
ihn geweſen, als er den Borſtenpinſel wie einen Zauberſtab ſchwang, mit dem er
die Geſtalten feiner Viſionen ins Leben rief. Er ſchuf jetzt nur noch ſeelenloſe Ge-
bilde, Schemen des Irrſinns und des Todes.
Oft kam ihn die wilde Luft an, fie alle zu vernichten, dieſe Zeugen feiner er-
loſchenen Kraft.
Er erhob ſich ächzend und ging mit humpelnden Schritten auf die Staffelei zu,
um fein letztes Selbſtbildnis zu zerſtören, dieſen gutmütig und blöde dreinfchauen-
den Greis mit den kunſtvoll geringelten Locken. Fort mit dieſem Plunder, der ihn
affte! Er riß das Bild empor, um es zu vernichten. Da klopfte es trocken an die
Tür, als hätten die Knochenfinger des Todes ein mahnendes Wort geſprochen.
J.
— Wer klopft? Wer ſtört mich bei der Arbeit? —
— Herr, es iſt einer von denen, die man nicht gern bei ſich ſieht. —
— Einer, der kommt, um mich zu quälen? —
— Herr, ich fürchte, es könnte ſo ſein. —
— $c empfange niemals bei der Arbeit. —
— Das iſt das Vorrecht eines großen Meiſters. —
— Harmen Becker, ich erkenne deine Stimme, tritt ein! —
— Bch fühle mich geehrt, den Freund meines Volkes begrüßen zu dürfen. —
— Woher ſtammſt du, Harmen? —
— Aus Riga, meine Vorfahren aus dem Ghetto von Kiew. Vor fünfzig Jahren
wanderte ich hier ein. —
476 Martens: Der Dämon des Lig
— Was iſt dein Begehr, Jude? —
— Jch heiſche mein Geld und meinen Anteil an Euren Bildern. Ihr ſeid in meiner
Schuld. —
— Geld habe ich keines, nur Bilder. —
— Mit dem Gelde hat es keine Eile. —
— Port an den Wänden ſteht das Werk des letzten Jahres. —
— Meiſter, ich habe die Bilder geprüft. Es war kein Rembrandt darunter. Hier
der gegeißelte Chriſtus: welche mittelmäßige Auffaſſung! Dort Euer Gelbitbild-
nis: ein einfältig dreinblickender Mann. Und die Rebekka am Fenſter, die beiden
Bildniſſe eines Jünglings: Herr, ein ſtumpfer Irrſinn ſteht in ihren Zügen und
Augen. —
— Aber Harmen, die Malart, die koloriſtiſche Wirkung! —
— Neiſter, es fehlt die gewaltige Auffaſſung des menſchlichen Seins. Die hattet
nur Ihr. Ich ſah vor mehreren Jahren ein Bild von Euch, der weinende König
Saul. Herr, ich habe innerlich geweint, als ich das Bild betrachtete. Es kam über
mich der ganze Jammer meines Volkes. Da pries ich Euch als den Verkündet
unferer Schmerzen, als den neuen auferſtandenen Propheten. Hier aber rauſchen
keine Adlerfittiche. Ich kenne die Tatze des Tigers. Dies find nur Katzenpfoͤtchen,
Herr! —
— Was ſoll ich dir darauf antworten? —
— Großer Meifter, es hängt noch in der Beſten Kammer ein Bild: Die Heim-
kehr des verlorenen Sohnes. Nach dem Urteil von Chriſtian Duſart und Abraham
Franken iſt dies Bild ſeine dreihundert Gulden wert. —
— Harmen, ich gebe dir das Bild nicht. —
— Es wäre bei mir gut aufgehoben, ich bin ein Beſchützer der Kunſt. —
— Sndem du deine Stüber den verhungernden Künſtlern darleihſt, gebieteſt du,
alter Mann, nach ihrem elenden Tode über koſtbares Malwerk. —
— Herr, Ihr ſeid zu ſtreng. Ich bin ein Handelsmann. —
— Harmen, mit dem Bilde iſt es nichts. Solange ich lebe, wird die alte Schuld
an Jan Six nicht eingelöſt. —
— Warum nicht, Meiſter? —
— Gie zertrümmerte eine Freundſchaft. Warte bis nach meinem Tode. Es währt
nicht mehr lang. —
— Meifter, es fei, wie Ihr wünſcht. —
— Warum gehſt du nicht? —
— $c habe Eure letzten Bilder ſchlecht gemacht. Jetzt kann ich mich von ihrem
Anblick nicht losreißen. Sie üben einen unheimlichen Zauber aus. Ich empfinde
in ihnen Dinge, die ich nicht auszudrücken vermag. Vor allem in den Bildniſſen
Eures Sohnes und der Magdalena, der armen Witwe. Glaubt Ihr, daß man vor
ſeinem Ende den leibhaften Tod in ſich trägt? —
— Wie kommſt du zu dieſer Frage? —
— Zn jedem dieſer Bilder ſeh' ich dieſen leibhaften Tod. Ich muß fliehen um
nicht von ihnen verfolgt zu werden! —
Martens: Oer Damon des Lichts 477
Er floh wirklich. Seltſam, wie empfindlich die Inſtinkte dieſes Volkes ſind. Das
hat mich immer zu ihnen hingezogen. Wie klar werden mir doch viele Dinge am
Ende meiner Tage!
4.
Als Cornelia am ſpäten Abend dieſes milden Herbittages aus der Stadt heimkam
und müde und beklommen die ſchmale ſteile Treppe bei der ſchlechten Beleuchtung
emporſtieg, kam in ihr das unbeſtimmte Gefühl auf, es ſtände jemand auf dem ober-
ſten Treppenabſatz; aber ſie mußte ſich getäuſcht haben und fuhr ſich mit der Hand
über die Augen, um eine trübe Ahnung zu verſcheuchen. Zitternd trat fie in die Mal-
kammer ihres Vaters ein und wich mit einem Aufſchrei zurück. Sie fand ihn auf dem
Boden liegend, mit dem Geſicht zur Erde, heftig röchelnd. Sie ftürzte in die Rammer
Rebekkas und weckte die Magd, die ſchlaftrunken ihr half, den Vater zu entkleiden
und zu betten. Während dieſe die Nachtwache hielt, eilte Cornelia hinüber zu Gunt-
hoff, um mit ihm einen befreundeten Arzt herbeizurufen. Der ließ nicht lange auf
ſich warten und ſtellte einen Schlaganfall feſt, der keine Hoffnung mehr zuließ.
Der Tod konnte jeden Augenblick eintreten. Sie begleiteten ihn bis auf die Straße
hinaus, und er verſprach, am frühen Morgen wieder vorzukommen, indem er Cor-
nelia warm die Hand drückte.
Da ſaßen nun die beiden jungen Menſchenkinder lange noch in der trüben Beleuch-
tung eines Kerzenlichtes auf der Treppe und gedachten Arm in Arm verſchlungen
des Sterbenden, den einſt ganz Amſterdam vergöttert hatte und von deſſen Daſein
kaum einer noch etwas wußte. Cornelia war nun bald achtzehn Jahr und für ihr
Alter ein großes ſchönes Madchen. Sie weinte all ihren jungen Kummer an der Bruſt
des Freundes in einem Schluchzen aus, das kein Ende nehmen wollte.
Und während oben die Seele eines Titaniden den Weg zum ewigen Lichte ſuchte,
feierte hier das Leben ſeinen ewigen Triumph der Auferſtehung.
5;
— Cornelia, mir ift nicht wohl. Die Kräfte verlaſſen mich. Leg’ deine jungwarme
Hand auf mein altes, müdes Herz. Dank für deine kindliche Treue. Es hilft! — Du
biſt blaß geworden, Mädchen! Leg' dich ſchlafen, gutes Kind! Wir wollen beide
einen langen Schlaf tun. —
— Cornelia, biſt du noch da? — Sie ging wohl. — Aber Rembrandt, dort kommen
ja Hendrickje und Titus! Was der Junge für große blanke Augen hat! Hendrickje,
ich muß fort, nach England. Spürſt du, wie das Schiff ſchaukelt? Das Geld liegt
in dem unterſten Käftchen in der alten Truhe aus Leeuwarden. Es iſt nicht viel. Mich
ſchmerzt, daß es ſo wenig iſt.
Jan Six, dein Schuldſchein iſt immer noch nicht eingelöſt. Die Zeiten waren zu hart.
Sei nicht traurig, Saskia! Ich trinke nicht mehr, wirklich nicht. Nie habe ich einen
Menſchen fo verehrend und demütig geliebt wie dich. Ich trank, um deine Augen zu
vergeſſen. Wie träumeriſch ernſt du dreinblickſt. Ach, Saskia!
Das iſt ja gar nicht Saskia! Das iſt doch meine Mutter! Wo iſt Vater? In der
Mühle? Beim Fiſchfang an der Vaſtei? Wo haft du meinen alten Drachen hingetan?
Wie die Mühle dröhnt und brummt! Pie alten Oelfter Taſſen Mirren noch immer auf
473 Martens: Der Oamon bes Lidte
dem Sims. Darf id an den Ryn, Mutter? Der Regen wird der alten zerriſſenen
Hofe nicht ſchaden.
Welch ein ſilberblauer Himmel über der unendlichen Weite! An der mächtig ge-
türmten Wolkenwand reihet ſich Mühle an Mühle — Burgen mit flatternden Fah-
nen — traumweit verliert ſich mein Blick, langſam vergeht mir die Erde — Leben,
ich fühle dich nicht mehr — alles zerfließt mir im Licht —
6.
Wenn wir armſeligen troftbedürftigen Sterblichen auf das letzte Lager zu liegen
kommen, wenn der Tod mit uns zu ringen beginnt, ſuchen die Augen, die Hände
nach einem letzten Halt, an den fie ſich anklammern können, wenn alles vor uns ver-
ſchwimmt: Licht, Liebe und Leben.
Rembrandts müde zitternde Hände fuhren wie ſuchend auf der Decke umher,
hin und her, bis ſie ihr vergebliches Taſten aufgaben und in einem zitterigen Krampf
allmählich Raft fanden. Der Herbſtſturm hatte ſich aufgemacht und heulte im Ra-
min, das verglimmende Holzfeuer kniſterte noch zuweilen, und die Kerzen waren
erloſchen ... Aus dem Nebenraum ließ ſich das ruhige tiefe Atmen der lieblichen Cor-
nelia vernehmen, und auf dem Flur hantierte ſchon die treue Rebekka. Auf der Rofen-
gracht begann das Leben ſich zu regen, der Straßenlärm wuchs, der Alltag forderte
ſein klares hartes Recht.
Im fröftelnden Morgengrauen erloſchen die großen majfeſtätiſchen Augen; der
Engel dieſes Lebens wollte nicht von dem Lager weichen, und der Tod ging ſo leiſe,
wie er gekommen war.
Nie wieder bis auf den heutigen Tag haben menſchliche Augen ſo tief und innerlich
geſchaut, nie hat eine menſchliche Hand das furchtbare Geheimnis des Lebens ſo
unerſchrocken im menſchlichen Antlitz entſchleiert.
Wie hatte er das Leben geliebt, glühend geliebt, der große Einſame, das dunkle,
rätſelhafte Leben, das er im menſchlichen Sinne nicht meiſtern konnte. Einſam war
er geſtorben. Das Schickſal blieb unerfchütterlich hart bis in den Tod. Das Leben hatte
ihn vergeſſen.
Nachſpiel
Zan Lievens letzte Wanderſchaft
1674
1.
Ein paar armfelige Menſchenjahre find von Often nad Weiten gezogen, ſeit Rem-
brandt den letzten Atemzug tat. Nun liegt er traumlos in der Weſterkerk, deſſen Turm
er vom Söller ſeiner letzten irdiſchen Wohnung aus ſehen konnte und den er einſt
mit fo großer Liebe gezeichnet hatte. Der Tote in der Weſterkerk rührt ſich noch nicht.
Aber nicht lange wird es währen, bis er ſeine unheimliche Macht auszuüben beginnt,
die großen Verblichenen eigen iſt, und die ſich unaufhörlich vergrößert, bis ſie eines
Tages die ganze weite Erde umfaßt und überall, wo empfängliche Herzen leben und
leiden, ihren heimlichen Zauber ausſtreut.
Martens: Oer Odmon des Lichts 479
Abwechſelnd im Haag und in Leiden lebt immer noch einer ganz unter ſeinem
Bann. Sein fläm ſcher Bart iſt eisgrau geworden und hängt ihm ſtruppig auf die
Bruſt. Die ſonſt an ihm auffallende ſtolze ſteife Haltung iſt dieſem Manne verloren-
gegangen. Er hinkt an einem Stock und verträumt feine Zeit in den Schenkwirt-
ſchaften, bis die Wirte ihn verklagen, weil der Veſitzloſe ihnen in einem einzigen
Monat Wein im Werte von hundertfünfzig Gulden vertrunken hat. Er ſitzt jetzt,
ganz gegen ſeine frühere Gewohnheit, in den dunkelſten Ecken und trinkt ſchweigend,
in ſich verſunken, und murmelt unverſtändliche Worte vor ſich hin. Er gedenkt ſeines
Freundes Rembrandt des Innigen und trinkt ihm in Gedanken zu, er, Jan Lievens
der Großartige. Doch er iſt nichts weniger mehr als großartig, und fein einſt berühm-
ter Pinſel ſtümpert ſchon lange auf der Leinwand umher wie ein Zahnſtocher in
einem zahnloſen Munde. Auch das Fluchen hat er verlernt. Niemals flucht er mehr.
Und das viele Drauflosſchwadronieren ſcheint er ganz vergeſſen zu haben. Er iſt genau
fo ſchweigſam geworden wie fein toter Freund. Dann ift es hohe Zeit, Jan Lievens,
dich endlich aufzumachen, du Raftlofer, um dein Ruheplätzchen zu finden! Auf wie
lange? Wer will es wiſſen!
Harte rauhe Kriegsjahre ziehen über das glückliche Land an der Zuiderſee. Eng-
land im Bunde mit Frankreich ſteht in ſchwerer Fehde mit dem ſtolzen Freiſtaat.
Handel und Wandel zwiſchen Amſterdam und Leiden liegen ſchwer darnieder. Viele
der prächtigen Patrizierhäuſer in beiden Städten ſtehen verödet; den Bürgern ſinkt
das Sorgenhaupt immer tiefer auf die Bruſt. Keiner traut dem Nächſten mehr.
Viele machen ſich auf und wandern aus nach Batavia. Die Lebensfreude hat einen
argen Stoß erlitten. Der erſtickend ſchwere Pulverrauch verfinſtert die roten, glän-
zenden, geſundheitsſtrotzenden Baden der fröhlichen Frauen die lange Waterkant
hinauf von Dünkirchen bis nach Danzig. Die nordiſchen Meere bekommen das See-
mannsblut der Blau- und Rotjacken zu ſchmecken.
Ein regneriſcher Aprilmorgen verdunkelte die unheimlich leeren Straßen Amiter-
dams. Selbſt die Nordſeite der Roſengracht war an dieſem nebligen Lenztag be-
ſtimmt kein angenehmer Anblick für einen Maler. Und doch ſtanden allerhand phan-
taſtiſch gekleidete junge Kerle auf dem holprigen Pflaſter umher, ſpien in großem
Bogen in die Gracht hinein, die nur einen einzigen Kahn in ihrem faſt ſchwarzen
Waſſer barg, und rauchten ſtehend oder auf den Grachtmauern ſitzend ihre langen
Tonpfeifen. Auch in den Fenſtern der ſchmalen hohen Häuſer tauchten dieſe jungen
Künſtlerköpfe auf. Es war ſeit Rembrandts einſtigem Einzug in die Roſengracht für
viele tüchtige Malermeiſter und Schüler eine frohe Lebensgewohnheit geworden, in
dieſer Gegend einen Unterſchlupf zu finden und ihre Zuſammenkünfte an beſtimmten
Wochentagen auf offener Straße abzuhalten, während die Händler dort ihre Vilder
zum Kauf anboten, und in ihren kleinen Buden die Liebhaber unter den heimiſchen
und fremden Kaufleuten mit vielverſprechenden Ankündigungen anlockten.
Trotz der hundsjämmerlichen Zeiten gab es nur wenige betrübte Geſichter unter
den Künſtlern; die meiſten lebten in einem friedlichen Frohſinn in den Tag hinein,
der in den Kunſtſtädten des Weſtens ſeit alters her eifrig gepflegt wurde. Und dies
war um jo bewunderungswürdiger, als kaum einer von den Jüngern des Apelles
480 Martens: Der Dämon des Lichts
feine eigenen Begräbniskoſten ſich erübrigen konnte. Ihre Beſtattung fiel faſt immer
der Armenkaſſe zur Laſt.
Die umfangreichſte der verſammelten Gruppen ſteht an dem grüngeſtrichenen
Kahn, der an der Nordſeite angelegt hat, und unterhält ſich im Flüſterton über das
ſeltſam zuſammengewüͤrfelte und zum Teil ſtark beſchädigte Hausgerät, das die bei-
den handfeſten Schiffer, Vater und Sohn, die kupferne Ringe in den Ohren tragen,
an Land ſchaffen und auf die Straße hinſtellen zum Ärger der Gemüſebauern, die
den Wagendurchzug verſperrt finden. Inmitten des alten Hausrats und Gerümpels
ſitzt auf einem verſchliſſenen Lehnſtuhl ein alter gebeugter Mann und träumt vor ſich
hin, als ſchliefe er. Drei hübſche brünette Mädchen zwiſchen zehn und fünfzehn Jah-
ren ſitzen auf ihren Stühlen um den Greis herum, die fie nach langem Suchen ge-
funden und herbeigeſchleppt haben, und eines nach dem andern tritt auf den Vater
zu, den ungepflegten weißbärtigen Vater, und legt ſeine roſigen Arme zärtlich um
feinen Hals, ihm freundliche Troſtworte ſagend. Die umherſtehenden Maler ftehen
bewegt und ſprachlos vor dieſem ſeltſamen Bilde, das eines Rembrandts würdig
geweſen wäre. Niemand von ihnen erkennt den alten Mann, bis einer der Maler
plötzlich aus dem Kreiſe heraustritt und feinen Hut tief vor ihm lüpft.
— Zan Lievens, willkommen in unſerer Stadt! Erkennt der Meiſter mich nicht
mehr? Chriſtian Duſart iſt mein Name. Kann ich Euch dienlich ſein? —
Der Angeredete blinzelt ſcheu empor und muß ſich erſt beſinnen, wo er iſt. Sein
Geſicht heitert ſich auf, als er Duſart erkennt.
— Sufart? Beim Satan, alter Freund, Ihr ſeid es? Ja, ich habe meinen ſchweren
Kummer. Der Wachtendonck weigert ſich, mich in das Haus hier quer gegenüber ein-
ziehen zu laſſen, das er mir vermietet hat. Der ſchlaue Fuchs ſcheint Lunte gerochen zu
haben. Notar de Dlieger hatte den Vertrag aufgeſetzt. Nun verlangt der Erzgauner
Kaution. Duſart, ich kehre ratzekahl aus Leiden und dem Haag zurüd. Weiter kam
ich diesmal nicht. — Haltet ihr jetzt auf offener Straße eure Verſammlungen ab? —
Übrigens, mein Sohn, der Zan Andrea, den ich damals wegen feiner Weibergeſchich⸗
ten in den Turm einſperren laſſen wollte, iſt ein anſtändiger Kerl geworden. Er hat
von der Urgroßmutter aus Antwerpen geerbt und will jetzt die Kaution für mich
hinterlegen und die Schiffer entlohnen. Der Satan ſegne ihn! Wie geht es der
Kunſt, Duſart? — Wie? Zufrieden? Hundsmiſerabel iſt's mir ergangen. Ich
mußte um süret6 du corps einkommen. Setzt bin ich Narr Gottes, ich alter Bruder
Liederlich nur noch eine Vogelſcheuche! — Setzt euch her zu mir auf die Kiſte!
Seht mir mal ins Geſicht! Was ſeht ihr dort? Einen alten verſchliſſenen Mann mit
ſeimigen Trinkeraugen. Mann Gottes, das iſt aus dem Jan Lievens geworden, dem
einſt der König von England, der gute Karl der Erſte, den der Pöbel jo zärtlich
köpfen ließ, und der ganz damit einverſtanden war, die Tür offen hielt, um ihn zu
ehren. Heute bin ich reif für den Schindanger. Sei's auch! — Duſart, dort hab' ich
noch im Sack einen guten alten Kornbranntwein, etwas ganz Edles. Seid ſo gut,
reicht ihn mir her. Und ihr, Kinder, haltet reinen Mund, damit der Jan Andrea es
nicht erfährt. Der wird ſonſt giftig. — Nun, Duſart, erzähl' mir noch von Rembrandt.
Er ſtarb in völliger Armut? Lievens, genau wie du. Und Suythoff heiratete Cor-
nelia und zog nach Batavia? Will er dort die Zuckerplantagen malen ober die Häupt-
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480 Martens: Der Dämon des Lichte
feine eigenen Begräbniskoſten ſich erübrigen konnte. Ihre Beſtattung fiel faſt immer
der Armenkaſſe zur Laſt.
Die umfangreichſte der verſammelten Gruppen ſteht an dem grüngeftrichenen
Kahn, der an der Nordſeite angelegt hat, und unterhält fi im Flüſterton über das
ſeltſam zuſammengewürfelte und zum Teil ſtark beſchädigte Hausgerät, das die bei-
den handfeſten Schiffer, Vater und Sohn, die kupferne Ringe in den Ohren tragen,
an Land ſchaffen und auf die Straße hinſtellen zum Arger der Gemüſebauern, die
den Wagendurchzug verſperrt finden. Inmitten des alten Hausrats und Gerümpels
ſitzt auf einem verſchliſſenen Lehnſtuhl ein alter gebeugter Mann und träumt vor ſich
hin, als ſchliefe er. Drei hübſche brünette Mädchen zwiſchen zehn und fünfzehn Jah-
ren ſitzen auf ihren Stühlen um den Greis herum, die fie nach langem Suchen ge-
funden und herbeigeſchleppt haben, und eines nach dem andern tritt auf den Vater
zu, den ungepflegten weißbärtigen Vater, und legt ſeine roſigen Arme zärtlich um
feinen Hals, ihm freundliche Troſtworte ſagend. Die umherſtehenden Maler ſtehen
bewegt und ſprachlos vor dieſem ſeltſamen Bilde, das eines Rembrandts würdig
geweſen wäre. Niemand von ihnen erkennt den alten Mann, bis einer der Maler
plötzlich aus dem Kreiſe heraustritt und feinen Hut tief vor ihm lüpft.
— San Lievens, willkommen in unſerer Stadt! Erkennt der Meiſter mich nicht
mehr? Chriſtian Duſart iſt mein Name. Kann ich Euch dienlich ſein? —
Der Angeredete blinzelt ſcheu empor und muß ſich erſt beſinnen, wo er iſt. Sein
Geſicht heitert ſich auf, als er Dufart erkennt.
— Sufart? Beim Satan, alter Freund, Ihr ſeid es? Ja, ich habe meinen ſchweren
Kummer. Der Wachtendonck weigert ſich, mich in das Haus hier quer gegenüber ein-
ziehen zu laſſen, das er mir vermietet hat. Der ſchlaue Fuchs ſcheint Lunte gerochen zu
haben. Notar de Blieger hatte den Vertrag aufgeſetzt. Nun verlangt der Erzgauner
Kaution. Duſart, ich kehre ratzekahl aus Leiden und dem Haag zurück. Weiter kam
ich diesmal nicht. — Haltet ihr jetzt auf offener Straße eure Verſammlungen ab? —
Übrigens, mein Sohn, der Jan Andrea, den ich damals wegen feiner Weibergeſchich-
ten in den Turm einſperren laſſen wollte, iſt ein anſtändiger Kerl geworden. Er hat
von der Urgroßmutter aus Antwerpen geerbt und will jetzt die Kaution für mich
hinterlegen und die Schiffer entlohnen. Der Satan ſegne ihn! Wie geht es der
Kunſt, Duſart? — Wie? Zufrieden? Hundsmiſerabel iſt's mir ergangen. Ich
mußte um sireté du corps einkommen. Segt bin ich Narr Gottes, ich alter Bruder
Liederlich nur noch eine Vogelſcheuche! — Setzt euch her zu mir auf die Kiſte!
Seht mir mal ins Geſicht! Was ſeht ihr dort? Einen alten verſchliſſenen Mann mit
ſeimigen Trinkeraugen. Mann Gottes, das iſt aus dem Jan Lievens geworden, dem
einft der König von England, der gute Karl der Erſte, den der Pöbel fo zärtlich
köpfen ließ, und der ganz damit einverftanden war, die Tür offen hielt, um ihn zu
ehren. Heute bin ich reif für den Schindanger. Sei's auch! — Duſart, dort hab' ich
noch im Sack einen guten alten Kornbranntwein, etwas ganz Edles. Seid ſo gut,
reicht ihn mir her. Und ihr, Kinder, haltet reinen Mund, damit der Jan Andrea es
nicht erfährt. Der wird ſonſt giftig. — Nun, Duſart, erzähl' mir noch von Rembrandt.
Er ſtarb in völliger Armut? Lievens, genau wie du. Und Supthoff heiratete Cor-
nelia und zog nach Batavia? Will er dort die Zuckerplantagen malen oder die Häupt-
pulxejuios pi
t
\
Martens: Der Dämon des Lichts 481
linge der Wilden? Kinder haben fie auch ſchon, und der älteſte Sohn heißt Rem-
brandt? Ouſart, du mußt nicht ungehalten fein, ich duze dich, das iſt dir doch recht? —
Alſo hör'. Mir liegt es fo ſchwer auf der Seele, daß Rembrandts Kunſt und die mei-
nige heute von niemand mehr beachtet wird. Sind wir von den Modemalern ter
Bord, Pieter de Hoogh und Metſu, die ſich hübſch an die Natur halten, an den
kühlen grauen holländiſchen Alltag, und alles blau, gelb und reſeda malen, völlig in
den Schatten geſtellt? Gilt denn die erfchütternde ſeeliſche Darſtellung mit all ihrem
myſtiſchen Zauber nichts mehr in der Welt? Ja, Duſart, es iſt Zeit, daß auch ich
mich aus dem Staube mache. Kinder, dann ſeid ihr mich, den Gottſeibeiuns, los. —
Plärrt nicht, ich bin euch allen doch nur eine Laſt! — Noch ein Gläschen, Ouſart?
Ser mundet, was? Der zerreißt einem ordentlich das ausgedörrte Gebärm. Nun
führ’ mich, alter Freund, in die Weſterkerk. Ich muß dich, Rembrandt, noch einmal
wiederſehen! —
Dabei erhob er ſich, ſetzte den verbeulten und verſchmutzten Hut zitternd auf den
faſt haarloſen Schädel und hinkte, auf den Stock geſtützt und von Duſart geführt,
durch den überall zurückweichenden Menſchenknäuel, bis er vor der Kirche ſtand.
Duſart begleitete ihn bis zu dem ſchlichten Stein, der Rembrandts irdiſche Hülle
barg; als er ihn verließ, kniete Lievens plötzlich auf dem Grabe nieder und begann
den Toten zu rufen:
— Rem, fteh’ auf! Jan Lievens ift heimgekehrt, um dich abzuholen. Wir wollen
nach Batavia, mit dem nächſten Schiff. Mach dich fertig! Mit unſerer Kunſt iſt es
doch vorbei: die Modemaler haben geſiegt. Du hätteſt Vürgerporträtift bleiben
ſollen und ich bei meinen Greiſenköpfen. Du hatteſt dein Ziel zu hoch geſteckt. Das
ärgert die Mitwelt. Man ſoll keine Seele haben, keinen göttlichen Funken. Wir
wollen fortziehn aus dieſem Land der Krämer, wo heute ein Krug Schnaps höher
bewertet wird als eines meiner Bilder. Geſtern noch ſah ich Neeltje in Leiden. Sie
iſt eine trübfinnig ernſte Matrone geworden, mit einer weißen bebänderten Spitzen;
haube. Doortje iſt ſchon lange tot. Sie laſſen dich beide grüßen. Komm, erhebe
dich, alter Zunge! Laß mich nicht ſo lange warten! Es iſt kalt und grau geworden
in der Welt; ich habe nur noch ein Vein, das andere haben ſie mir ausgeriſſen.
Bald kommt der eine Arm dran, dann der andere. Wahrlich, wie eine Vogelſcheuche
ſteh' ich dann hier! Komm, Rem, es iſt die Zeit! —
3.
So geſchah es, daß Jan Lievens am Tage feiner Rückkehr nach Amſterdam fpur-
los verſchwand und unter großen Angſten von feinen Kindern gefucht wurde, be-
fürchteten fie doch, er wäre im Nebel in eine der Grachten geſtürzt.
Als ſie den Vater endlich nach langem Suchen fanden, bot ſich ihren jungen
Augen ein erſchütterndes Bild menſchlicher Herzenseinfalt. Er lag völlig gufammen-
gekrümmt hinter dem Grabſtein feines alten Kameraden, unausgeſetzt Zwieſprache
mit ihm haltend in dem zärtlich- fröhlichen unbekümmerten Ton ihrer Jugend. Da
beſchworen ſie ihn, von dem Toten zu laſſen und ihnen in das neue Heim zu folgen,
das ſie liebevoll für ihn bereitet hätten; aber er weigerte ſich, von dem Verblichenen
zu weichen.
der Turmer X XVIII, 6 32
482 Lipp: Oer oſtpreuziſche Mons
Als alles Bitten und Flehen nichts fruchten wollte, mußten die Kinder den
Diener der Kirche herbeirufen, um ihnen beizuſtehen, den Widerſtrebenden mit Ge
walt nach Hauſe zu bringen, ſobald die Dunkelheit hereingebrochen ſei.
Dort lebte der Arme nur noch wenige Wochen. — An einem milden ſonnigen
Sunimorgen, als die Erde ſich mit Blumen bedeckt hatte, brachten die Amſterdamer
Maler Jan Lievens zu Grabe und mit ihm eine letzte welke Blüte einer großen
Kunſtepoche, die nie wieder in dieſer gigantiſchen Größe über ihr meerumbrandetes
Land heraufziehen ſollte.
Der oſtpreußiſche Mann
Von Herbert Lipp
Hartknochig, breitſtirnig und muskelſtraff,
Steifnadig und ftarr wie die Mole im Haff,
Ein rechter Bar: der oſtpreußiſche Mann.
Nührt ihn nicht an!
Litauer Paks ee und wie ihr heißt:
Langfam nur keimen ihm Liebe und Haß.
Doch, wo er zupackt, da wächſt kein Gras.
Sein Feuer birgt tief der oſtpreußiſche Mann.
Nührt ihn nicht an!
Litauer und Polen und wie ihr euch nennt:
Er brennt!
Diel le machen ift nicht feine Art.
eft in Aug’ und die Pranke drauf hart!
Das Abi er ſich — Schwur: der oſtpreußiſche Mann.
Nührt ihn nicht an!
Litauer und Polen und wie ihr benannt:
Fürchtet die Hand!
Es ee das Meer ſich fein eigen Geſchlecht.
lehmſchwerer Scholle, da wächſt es ſich recht.
ons wie fein ne iſt der oſtpreuß' ſche Mann.
Nührt ihn nicht an!
Litauer und Polen und was [deel nod ſieht:
Hie Stahl und Granit!
Raub ift die Art. Doch kernig und Stolz.
Feindwellen-Boliwer? von Eichenbolz,
Trutzig und treu: oftpreußifcher Mann.
Nührt ihn nicht an!
Litauer und Polen und 1 da noch bellt:
Jeder — ein Held
Auf der Farm und im Buſch
Von L. J.
Die folgenden Blätter entnahmen wir den Aufzeich⸗
nungen einer felt 13 Zahren in Sübweſt-Afrlka
lebenden Rolonialbeut{den. O. T.
gi wünſchte id mir als kleines Mädchen die Pantoffeln des kleinen Muck.
Sie ſtanden ſogar auf meinem Weihnachts-Wunſchzettel. Dreimal mußte man
ſich auf ihnen herumdrehen und ſich dabei einen fremden Ort wünſchen: haſt du nicht
geſehen, flog man fort in irgend eine märchenhafte herrliche Gegend.
So als hätte ich nun die Pantoffeln wirklich bekommen, fo traumhaft war es mir
zumute, als ich eines Morgens auf Farm Ka has in den erſten Frühlichtſtrahlen im
Ziegenkraal ftand, eine ehrwürdige Ziegenmama zwiſchen den Beinen, ein Kaffern-
weib daneben mit einem kleinen Zicklein, dieſem gut zuredend und das volle Euter
in das Maul ſtopfend.
Ich ſah ſtumm und aufmerkſam dieſer Tätigkeit zu, ſehr bedacht, mir in keiner
Weiſe eine Blöße zu geben, denn dies war mir gleich klar, daß ich ſonſt verlorenes
Spiel bei den Eingeborenen gehabt hätte. Eine weiße Miſſis muß alles wiſſen und
können. Heroiſch überwand ich meine Angſt vor dem großen Ziegenbock; er ſah
mich mit recht böſen funkelnden Augen an, und ich traute ihm nichts Gutes zu.
Seine mächtigen Hörner und ſein wilder Bart waren für mich, die ich aus der Stadt
kam und derartige Tiere nur aus Büchern kannte, reichlich beängſtigend. Ich atmete
auf, als ich wieder heil außen war und mit meinem Eingeborenenweib nach dem
Kuhkraal gehen konnte. Dort erwarteten mich weitere Schrecken. Zwei Schwarze
rannten einer wilden Kuh nach, um ſie mit einem Riemen zu fangen und an den
Hinterbeinen zu feſſeln.
So ging der Tag an. Mäh und Muh machte es an allen Ecken, und mir ſchwirrte
der Kopf von all dem Neuen. Geſtern hatte ich hier meinen Einzug gehalten. Eine
Karre mit vier Ochſen beſpannt erwartete mich an der Bahnſtation; dabei ſtanden
zwei Eingeborene. Der eine davon war ſo lang, daß er mühelos über alle Dächer
gucken konnte, ohne ſich zu ſtrecken. Er grinſte freundlich, nahm mein Gepäck in
Empfang und verſtaute es. Ich ſelbſt kletterte ziemlich erwartungsvoll und freudig
auf die Karre: dies ward meine erſte Fahrt durch den Buſch. „Wop!“ ſchrie der
Lange und ſchwippte mit ſeiner großen Peitſche. Ein Ruck, meine vier muntern
Ochſen ſetzten ſich in Trab. Ich flog nach hinten, die Beine in der Luft. Nachdem
ich mich wieder gefammelt hatte, hätte ich mich gerne angenehmen Träumen hin-
gegeben und die herrliche Gegend betrachtet; doch meine Ochſen ließen das nicht zu.
In raſendem Galopp ging es weiter über Steingeröll, Baumſtämme und Löcher.
daß mir Hören und Sehen verging. Krampfhaft hielt ich mich feſt, kaum hoffend,
noch lebend davonzukommen.
Nach einigen Stunden deutete der rieſenhafte Herero in den Buſch: „Kayas!“ fagte
er. Ich ſah zwar nichts als grüne Bäume, nickte aber begeiſtert. Nun klopfte mir
doch etwas das Herz; wie wird es dir ergehen dort, dachte ich, denn ich hatte von einer
Farm ziemlich nebelhafte Begriffe. Mit einem heftigen Ruck hielt die Karre. Ein
junger Menſch mit einem Räuberhut kam mit wuchtigen Schritten angeſtapft. „Det-
loff!“ ſtellte er ſich vor. Er war der Sohn des Farmbeſitzers; ſein Vater war nach
484 3.: Auf der Farm und im Buſch
Deutſchland abgereift. Dann kam nod ein Volontär mit Namen Peterſen; beide
waren erſt neunzehn Jahre alt. Ich war gekommen, um den Haushalt zu führen
und die beiden zu betreuen.
Das Haus, in welches mich Herr Oetloff führte, beſtand aus vier ebenerdigen
Zimmern, die alle in einer Reihe ſtanden und einer Veranda davor. Mein Zimmer
war das erſte. Seine Einrichtung ſetzte ſich zuſammen aus einem Feldbett, einem
Stuhl, einem Tiſch und einem Waſchtiſch. Dann kam das Wohnzimmer, hierauf
Herrn Detloffs Zimmer und das des Volontärs.
Mein erſter Anblick waren zwei Eingeborenenweiber, die im Hof auf dem Boden
ſaßen; um ſie herum lagen Töpfe und Geſchirr, die ſie in einer ſchauderhaften
Schmutzbrühe wuſchen. Sie ſelbſt ſtarrten vor Dreck und rochen auf ein paar Meter
Entfernung.
Als ich mich in meinem üppigen Heim etwas gewaſchen und umgezogen hatte,
kam eine von den ſchwarzen Perlen, die vorhin im Hof geſeſſen hatten, und ſagte:
„Miſſis, freſſen!“ Auf dieſe freundliche Einladung hin begab ich mich dann in das
Wohnzimmer. Dieſes machte einen überwältigenden Eindruck auf mich: ein Bücher-
ſtänder, ein Schreibtiſch, etliche Stühle und ein Tiſch, alles dick mit Staub bedeckt.
Auf dem Bücherſtänder lagen, hübſch durcheinander, allerhand Handwerkszeuge,
ebenſo auf dem Schreibtiſch: Konſervenbüchſen, Schüſſeln, Maisſaat, Ochſenriemen
uſw. An den Wänden hingen Kleider, Schuhſenkel, mit Weſpenneſtern zugebaut.
Ferner einige große Bilder, wovon niemand wußte, was ſie vorſtellten, da ſie von
Weſpenneſtern und Fliegenſchmutz vollſtändig überzogen waren. Die Lampenglocke
war ſchwarz. Auf dem Tiſch ſtanden drei Emailteller. „Kanakawi!“ rief Herr Oetloff.
Da erſchien die eine Schöne und brachte feſt an ihren ſchwarzen Bauch gedrückt,
der aus einem Gewand hervorſah, das mehr aus Löchern beſtand als aus ſonſt etwas,
Rührei, Gurkenſalat, Tomaten und ſaure Milch. Nun konnte das Mahl beginnen,
nachdem ich noch unzählige Fliegen herausgefiſcht hatte. Drei Hunde ſaßen er-
wartungsvoll um uns herum und wedelten begeiſtert. Da kein Fußboden gelegt,
auch noch nicht einmal die Erde feſtgeſtampft war, konnten wir uns häufig vor
Staubwolken nicht mehr ſehen. Fiel einmal aus Verſehen ein Löffel herunter, ſo
ſank er ins Bodenloſe und war hoffnungslos verloren. Herr Detloff erzählte mir
ſtrahlend, daß fie, Peterſen und er, die zwei Küchenweiber, Jadura und Kanakawi
drei Tage geputzt hätten. (Ich könne auch Kanakaffee ſagen, wenn mir Kanakawi
zu ſchwer ſei.) Sie hätten ſich auf meine Ankunft ſo herzlich gefreut und alles recht
ſchön machen wollen. Er erwartete ſichtbar ein Lob, doch ich blieb verſtockt, denn
wir betraten gerade das Schlafzimmer von Herrn Oetloff. Hier herrſchte ein wildes
Durcheinander, und nur ein geübter Turner konnte an fein Bett gelangen. Zum
Schluß gingen wir in die Küche. Dieſe ſpottete jeder Beſchreibung. In der Ecke ſtand
eine alte von Dreck ſchwarze Kiſte, von der ein entſetzlicher Geruch ausging. Sie
enthielt ein Stüd Kafe, ein Stück Speck, einige Buͤgeleiſen, Badobft und alte Säcke.
Dann waren noch zwei Tiſche da, mit einer Schmutzkruſte bezogen, und ein Herd.
Die Wände waren nicht verputzt, ſchwarz angeräuchert und mit Weſpenneſtern ver-
ziert. Der Lehm-Mörtel reiherte herunter. An der Seite hingen einige ſchwarze
Töpfe, und in der Mitte ſtand ein Fliegenſchrank, mit unſauberem Geſchirr voll-
geſtopft. Mir grauſte. Hier ſollte ich bleiben! Dies iſt ja mehr als primitiv und
g.: Auf der Farm und im Buſch | 485
ſchauerlich. Sofort band ich eine Schürze um, krempelte die Ärmel auf und fing an,
aufzuräumen und den gröbften Schmutz zu befeitigen. Herr Detloff flehte mich zwar
an, dies ſein zu laſſen und mich auszuruhen; ſie hätten doch erſt ſauber gemacht. Die
Abenteuer und das Leben im Buſch fangen ſchön an, dachte ich mir, als ich ziemlich
ermattet gegen Abend auf der Veranda in einen Liegeſtuhl ſank. Kanakaffee brachte
das Abendeſſen: Milchſuppe, Rührei und Brot, das Fäden zog. Meine beiden Pflege-
befohlenen ſahen mich noch etwas ſchüchtern von der Seite an und bemühten ſich,
mir die Reize und Annehmlichkeiten eines Farmaufenthalts fo glänzend wie mög-
lich auszumalen, doch ich blieb ſkeptiſch. Nach dem Abendbrot ſchlug Herr Detloff
auf eine an einem Baum hängende alte Pflugſchar. Auf dieſes Klingelzeichen er-
ſchien nach kurzer Zeit eine Schar wild fuchtelnder und ſchnatternder Weiber mit
alten Blechbüͤchſen, um ihre Koſt zu holen. Herr Oetloff ſtand wie ein Feldherr
mitten unter ihnen vor einem großen Keſſel Magermilch. Aus dieſem ſchöpfte er
nun in die herrlichen Gefäße; dazu gab es noch zwei Becher Mais. Das war die
Tagesration pro Mann. (Samstags gab es noch einen Becher Zucker, zwei Handvoll
Tabak und etwas Tee.) Ziemlich erſchöpft von all dem Neuen wollte ich nun zu Bett
gehen, bemerkte aber, daß mein Bett nicht bezogen war und verlangte darauf von
Herrn Oetloff Leintücher.
Dies brachte ihn in ſichtliche Verlegenheit. Ein Leintuch, ſtotterte er, habe er noch
in ganz Afrika nicht geſehen; hier wickle man ſich in ſeine Decken und ſchlafe gut und
prächtig. Ich war recht unangenehm überraſcht von dieſer Art in Afrika zu ſchlafen,
doch der Not gehorchend wickelte ich mich in die nicht ganz ſaubern, kratzenden
Decken mit dem feſten Vorſatz, morgen wieder fortzugehen. Trotz alledem ſchlief
ich recht gut.
Das gleiche Klingeln weckte mich am Morgen. Ich war gerade angezogen, da
erſchien wieder die Kanakaffee mit der bekannten freundlichen Einladung: „Miſſis,
freſſen!“ Der Tiſch war auf der Veranda gedeckt, zwar nur mit Emailbechern und
-tellern; doch die Sonne ging eben auf und verſchönte alles mit ihren Strahlen.
Meine beiden Pflegebefohlenen waren friſch und munter, von meinem Platz hatte
ich die grünen Berge und Fernen vor mir, der Kaffee, den die Zadura anſchleppte,
war auch gut — ſo wurde mein Entſchluß von geſtern wieder etwas wankend. Und
als Herr Detloff mir ſogar ein Leintuch brachte, das er zu unterft in feinem Koffer
entdeckt hatte, entſchloß ich mich doch zum Bleiben. Zu dieſem Zweck find wir ja ge-
kommen, wir deutſchen Frauen, den Männern in ihrem harten Daſein Freude und
Hilfe zu bringen! |
Mit dieſem löblichen Vorſatz begab ich mich denn an die Arbeit. Die beiden Herren
gingen zum Acker, der vier Kilometer vom Hauſe entfernt war; die Eingeborenen
mit den Ochſen und dem Pflug waren ſchon dort. Nun kamen die Melkweiber mit
der Milch, und es wurde entſahnt. Die Milchkannen waren mit einer dicken Kruſte
Schmutz überzogen, und unzählige Fliegen ſchwammen auf der Milch herum.
Ein rauhes Feld der Tätigkeit harrte meiner, und es dauerte noch Wochen, bis end-
lich Ordnung und Sauberkeit einzog, und vor allem, bis ich mir die für einen Farm-
betrieb nötigen Kenntniſſe aneignete, denn ich wußte durchaus nichts. Aber an Hand
guter Bücher lernte ich eine Menge, da ich ja guten Willen und großen Eifer hatte.
Es machte mir Spaß, meinen beiden Pflegebefohlenen, wenn ſie abends nach
486 3.: Auf der Farm und im Buſch
Hauſe kamen, meine Errungenſchaften vorzuführen. Die beiden waren meine
eifrigen Bewunderer und fanden alles herrlich und ſchön. Veſonders das Eſſen
ſchmeckte ihnen wundervoll (mittags ſchickte ich es ihnen aufs Feld). Daß ſie nicht
mehr ſelber kochen mußten, ſondern ſich einfach an den gedeckten Tiſch ſetzen durften,
daß ſie ſtets reine Wäſche vorfanden, das kam ihnen märchenhaft vor, denn ſchon
drei Jahre lebten fie hier im Buſch, meiſtens von Reis und Ruͤhrei. Früher war zwar
noch der Vater Herrn Oetloffs dabei, ein älterer Herr, der die Küche beſorgte und
das in ſehr eigenartiger Weiſe: die Speiſen kochte er nach eigener Erfindung, und
an alles kamen reichlich Lorbeerblätter und Nelken. „Für was ham mer ſe denn“,
ſagte er zu feinem Sohn, als dieſer ihn ſchüchtern bat, beim Milchreis die Lorbeer-
blätter und Nelken wegzulaſſen.
Ich hatte ja auch noch manche Zweifel beim Kochen, beſonders beim Brotbacken.
Zuerſt wollte der Teig nicht aufgehen, auch wenn ich ihn drei Tage ſtehen ließ. Es
war ſchauerlich, was für Zeugs wir da eſſen mußten, und nur unſeren geſunden
jungen Mägen können wir es verdanken, nicht bleibenden Schaden genommen zu
haben. Aber auch dies gelang zum allgemeinen Jubel eines Tags.
Viel Mühe hatte ich mit meinem „Küchenperſonal“. Die Kanakawi, ein Herero-
mädchen, war der Reinlichkeit eher näher zu bringen — ich machte ihr ein paar
Blaudruckkleider und ließ fie ſich gründlich waſchen — doch die Jadura, ein Raffern-
weib, war nicht zu kultivieren. Sie lachte, fang oder ſchlief und ſtank drei Meter im
Umkreis. Ihre Faulheit übertraf alles Dageweſene. Beim Buttern ſaß fie immer
am Boden, das Butterfaß zwiſchen ihren ſchmutzigen Schenkeln; mit der einen
Hand drehte ſie langſam die Kurbel, mit der andern ſtützte ſie ihren Kopf. Dabei
ſchlief ſie häufig ein, ein Rippenſtoß mußte ſie wieder wecken.
Einmal erwiſchte ich ſie, wie ſie eben ihre Beine und andere edle Körperteile aus
meinem Kochtopf heraus mit Butter einſchmierte. Ich war jo entrüftet, daß ich ihr
den Topf auf das Haupt ſtülpte, ihr einen Schubs gab und ſie hinauswarf.
„Laß dich ja nicht mehr hier ſehen, du alte Sau!“ rief ich ihr nach, . damit
war unſer Dienſtverhältnis aufgelöſt.
Ihre Nachfolgerin Komba, ein Buſchmannsmädchen, war ein kleines zierliches
Perſönchen und ließ ſich leicht anlernen. Kanakawi und Komba ſchwangen alſo
jetzt unter meiner Aufſicht Bejen und Putzlappen. Ich verſuchte, der Kaffernſeele
etwas beizukommen, denn am Anfang iſt man noch ſo naiv, bei den Eingeborenen
eine Seele zu ſuchen: ein ganz ausſichtsloſes Beginnen, da die Eingeborenen in
Süd weſtafrika auf einer recht niederen Stufe der Geſittung ſtehen und mit wenigen
Ausnahmen weder Dankbarkeit noch Anhänglichkeit kennen. Am höchſten ſtehen
noch die Opambos. Damals hatte ich aber noch andere Anſichten. Wenn fie krank
waren, half ich ihnen, und wenn fie eine Verwundung hatten, verband id fie. Ich
ſtudierte aus einem Buch die Hereroſprache und ſchrieb mir die nötigſten Worte auf
ein Papier, das ich dann herauszog, wenn ich es brauchte und zum großen Gaudium
meiner Küchenmädchen ablas.
Das Hereromddden Kanakawi weihte mich in ihre Gebräuche ein und ſchwatzte
mir manches vor in ihrem gebrochenen Deutſch untermiſcht mit Hererobrocken.
Unſer Viehwächter Keinatſch wollte ſie heiraten; deshalb verſteckte ſie ſich immer
ſchamhaft vor ihm, denn ſolch ſchamloſe Gebräuche wie die Weißen hätten ſie nicht.
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3.: Auf ber Farm und im Buſch 487
Dieſe gingen ſtets mit dem Gegenſtand ihrer Liebe Arm in Arm, was fie mir vor-
machte, indem ſie bei der Komba einhakte und mit gewichtigen Schritten auf und
ab wandelte. Ich lachte ſchrecklich. Auch die Kaffernmädchen ſeien auf keiner fo hohen
Stufe wie die Hereros; jene ſetzten ſich immer vor ihren Mann hin und ſähen ihn
an. Nein, wenn ein Hereromädchen heiratet, legt fie ſich mit verhülltem Kopf eine
ganze Woche in ihren Pontok und „flapt“.
Darauf ſchritt fie mit hocherhobenem Haupt und ſtolz gemeſſenem Gang hinweg.
3h blieb beſchämt zuruck und hatte ausreichende Muße, über die Schamloſigkeit der
Weißen und der Kaffernweiber nachzudenken.
Doch der Viehwächter Keinatſch ſtörte mich in dieſem nützlichen Tun.
„Miſſis, o ſafa, ſafa, willſt du, meinte ich, haſt du?“ erzählte er mir mit wilden
Gebärden. Ich begriff durchaus nicht und trabte mit zum Viehkraal. Eine Kuh war
beim Kalben, die Hinterbeine des Kälbchens hingen ſchon heraus, die Kuh rannte wie
beſeſſen herum, doch weiter ging es nicht. Nun ſollte ich helfen. |
„O fafa, ſafa!“ rief jetzt auch ich, denn ich nahm an, daß dies irgend eine An-
rufung der Götter um Hilfe ſei. Eine weiße Miſſis muß aber alles können; alſo redete
ich der Kuh gut zu, was Keinatſch ſicher für eine Beſchwörungsformel hielt, und
nach kurzer Zeit ging die Geburt vollends vonſtatten. Mein Ruf war gerettet.
Ich war faſt immer den ganzen Tag allein, denn Herr Detloff und Herr Peterſen
gingen in der Frühe aufs Feld und kamen erſt des abends zurück. Manchmal war es
mir dann recht einſam, obwohl der Tag ſtets reichlich mit Arbeit ausgefüllt war,
denn was eine Farmerin alles tun und können muß, iſt gar nicht zu ſagen. Doch nach
Feierabend freute ich mich ſehr, wenn ich in der Ferne die beiden Geſtalten auf-
tauchen fab. Meiſtens brachten fie eine Beute mit, die fie unterwegs geſchoſſen
hatten; die Hunde raſten ihnen entgegen, und es war ein vergnügtes Bild, ihr Einzug
in die Farm mit Hallo und Hundegekläff.
Nach dem Abendbrot lagen wir drei in unſeren Liegeſtühlen auf der Veranda.
Herr Detloff ſpielte auf der Mundharmonika, und wir andern fangen dazu, lauter alte,
liebe Lieder. Dieſe Stunden waren ſo friedlich und wunſchlos. Nichts ſtörte die tiefe
Ruhe, nur das Muhen der Kühe hörte man von fern und das Heulen der Schakale.
Sehr gern machte ich am Epätnadmittag, wenn die größte Hitze vorüber war,
kleinere Spaziergänge in den uns umgebenden Wald. Für mich war ja noch alles
neu und fremdartig. Die beiden Herren warnten mich immer eindringlich, ja nicht
zu weit zu gehen und nie die Pad zu verlafjen. Eines Nachmittags — ich war ganz
allein zu Hauſe — hatte ich wieder einmal das dringende Bedürfnis, auf Ent-
deckungsreiſen auszuziehen. Ich zog mir ein derbes Leinenkleid mit kurzem Rode
und ein paar feſte Stiefel an, auf den Kopf ſetzte ich einen Tropenhelm. Darauf
erklärte ich noch der Kanakawi, daß ich ſpazieren ginge, ſie ſolle nicht vergeſſen, die
Hühner und Schweine zu füttern. Ich marſchierte los. „Wem Gott will rechte Gunſt
erweifen, den ſchickt er in die weite Welt“ fang ich fo recht begeiftert vor mich hin.
Eine kleine Antilope ſprang erſchrocken auf und raſte davon, aber nicht allzu weit
blieb ſie ſtehen und betrachtete ſich vorſichtig dieſes fremdartige Weſen. Ich hielt
ihr eine Rede, daß ich kein Gewehr und nur friedliche Abſichten hätte, doch ſie traute
dem Frieden nicht und lief fort. Ich ging weiter und kam an einen großen wilden
Feigenbaum, deſſen Luftwurzeln überall herunterhingen. Unten am Baume waren
488 3.: Auf der Farm und im Sud
viele Löcher, in die ſoeben ein paar Erdmännchen verſchwanden, niedliche Tierchen,
die Ahnlichkeit mit unſeren Eichhörnchen haben. Ach wie ſchön war es doch hier
unter all den hohen Bäumen! So in angenehme Träume verſunken, trollte id
weiter. Da, plötzlich faucht etwas. Ich ſpringe zurück und ſehe eine große ſchwarz-
gelbe Schlange in halber Menſchenhöhe um einen Baumſtumpf geringelt. Sie ſpuckte
nach mir. Ich verſtecke mich ſchleunigſt hinter einem nahen Buſch und ſehe nun zu
meinem großen Erſtaunen, wie ein kleines rotes Tier mit ſpitzer Schnauze und
langem buſchigem Schwanz auf die Schlange losgeht, nach ihr ſpringt und beißt.
Die Schlange verteidigt ſich wütend gegen dieſen Angreifer. Der Kampf war gewiß
ſchon im Gange, als ich dazu kam und ſtörte; und nur dieſem Tier hatte ich es zu ver⸗
danken, daß ich nicht eine volle Ladung Gift in die Augen bekam, denn die Spuck⸗
ſchlange hatte wohl ihr ganzes Gift ſchon verausgabt. Ich ſchaute nun ſehr neugietig
und mäuschenſtill dieſem Kampfe zu. Es war ungeheuer fpannend: immer wieder
verſuchte das Tier, aus dem Graſe anſchleichend, die Schlange im Sprung zu über
raſchen. Da plötzlich biß das Reptil das Tier in die Schnauze und dieſes lief fort
und verſchwand im Geftriipp. Ich war betrübt, denn meine Sympathien waren
ganz auf Seiten des mutigen Geſchöpfes. Raſch nahm ich einen Stein auf und warf
ihn nach der Schlange. Dieſe hielt ſich immer noch in Furcht vor ihrem Gegner auf
dem Baumſtumpf und ſtieß mit weit- offenem Rachen nach dem Boden, wo der
Stein hingefallen war. Da warf ich raſch einen zweiten Stein und traf die Schlange
auf den Kopf. Sie ſchnellte noch einmal in die Höhe. Doch ich eröffnete jetzt eine
Beſchießung mit Steinen, der ſie bald erlag. Befriedigt zog ich weiter und nahm
mir vor, die Schlange von den Eingeborenen holen und die Haut abziehen zu laſſen,
da fie ſehr hübſch gezeichnet war. Aber weil es noch nicht fpdt war, wollte ich ein
kleines Stückchen weiterwandern. Ich bewunderte einen großen Termitenhaufen.
Dann tat fic eine große Flche vor mir auf und jenſeits ſah ich eine mächtige Antilope
mit ſtruppigem Kopf und Nacken ſtehen. Die mußt du dir etwas näher anſehen,
ſagte ich mir. Langſam und vorſichtig ſchlich ich durchs hohe Gras. Flüchtig ging es
mir durch den Kopf, daß ich ja die Pad nicht verlaſſen ſollte, doch ich wollte ja nicht
weit und war ſicher, ſie wieder zu finden. Immer näher kam ich der Antilope. Wie
ein Urwelttier mutete ſie mich an. Doch plötzlich hatte ſie mich gewittert und trabte
ziemlich gemächlich, die Hörner nach vorn legend, ab. Ich lief voll Begeiſterung
hinterher. Des ging fo eine Weile, da war fie außer Sicht. Nun war es aber an
der Zeit, nach Hauſe zu gehen. Die Sonne ſtand ſchon tief, und ich hatte Hunger und
Durſt. Ich ſuchte eifrig nach dem Wege ohne viel zu überlegen, denn ich war über-
zeugt, daß ich in öſtlicher Richtung gehen müßte. Als ich ihn nach einiger Zeit noch
nicht gefunden hatte, ſchlug ich eine andere Richtung ein, immer in der Meinung,
gleich die Pad vor mir zu haben. Es fiel mir ein, daß ich auf meiner eigenen Spur
hätte zurückgehen können, doch war überall hohes Gras, und ich hatte noch keine
geſchulten Augen. Ich ſuchte zwar nach meinen Spuren, konnte aber keine erkennen;
auch wurde es jetzt raſch dunkel. Da überfiel mich die Angſt. Ich ſetzte mich unter
einen Baum und brütete vor mich hin. Allerhand ſchreckliche Geſchichten von Leuten,
die im Buſche umkamen, fielen mir ein. Ach, wäre ich doch nicht von der Pad ge
gangen! Zetzt werden ja ſchon Herr Detloff und Peterſen zu Haufe fein und mich
wohl bald vermiſſen, dann werden ſie mich ſicher ſuchen. Ein kleiner Troſt zog in
3.: Auf der Farm und im Buſch | 489
mein Herz. Die Zeit ging weiter, grauenhaft ftill war es ringsherum, der Himmel
bewölkte ſich und kein Stern war zu ſehen. Die Angſt kam wieder über mich, und ich
horchte mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen in die Dunkelheit. Da
hörte ich ein Knurren neben mir, entſetzt ſprang ich auf und lief, ſo ſchnell ich konnte,
blindlings darauf los; einmal rannte ich in einen Dornbaum und zerkratzte mir
Hände und Geſicht, dann fiel ich in ein Loch und kletterte mühſam wieder heraus,
aber immer weiter lief ich, bis ich mich erſchöpft und ausgepumpt niederwarf. So-
bald ich mich etwas beruhigt hatte, verfuchte ich vernünftig zu überlegen. Ich ſagte
mir, daß nichts verloren iſt, ſolange man den Mut nicht verliert. Ich beſchloß, hier
den Reft der Nacht zu bleiben, nicht mehr ſinnlos herumzulaufen und dabei vielleicht
immer mehr vom Hauſe abzukommen. Es waren trotz aller guten Zureden, mit
denen ich mich tröſtete, doch recht bange Stunden, und jedes Geräuſch in meiner
Nähe machte mich erbeben. Ich ſchwor mir zu, nie wieder von der Pad zu gehen,
wenn ich nur noch dies eine mal mit heiler Haut davonkäme, und ich tat vielerlei
Gelübde. Mit Freuden begrüßte ich das erſte Tagesgrauen. Hoffnung zog wieder
in mein Herz ein, als die Sonne aufging. Die Nacht, die Dunkelheit iſt ſchrecklich,
wenn man in Not iſt. Mit neuem Mute ſuchte ich mich nun zurechtzufinden. Ich lief
und lief und lief. Manchmal ſetzte ich mich unter einen Baum, um mich etwas zu
erholen. Seit geſtern Mittag hatte ich nichts gegeſſen. Der Hunger quälte mich indes
nicht fo ſehr wie der Durſt. Meine Lippen waren geriſſen und die Zunge ſchwoll an.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf mich herunter. Es war die heißeſte Zeit des
Sabres, kurz vor dem erſten Regen. Bis Mittag fuchte ich immer noch, meine
Schritte wurden immer langſamer und meine Gedanken verwirrten ſich. Erſchöpft
ſank ich in das Gras nieder und ſchlief ein. Nach einigen Stunden erwachte ich wieder
etwas gekräftigt, nur der Durſt quälte mich ſchrecklich. Nach dem Stande der Sonne
war es etwa fünf Uhr. Ich nahm nun meine ganze Kraft zuſammen und überlegte,
was ich tun ſollte. Sie würden mich ja ſicher alle ſuchen und die Eingeborenen
würden meiner Spur nachgehen; das beſte iſt's alfo, hier ſitzen zu bleiben und nicht
weiter meine Kräfte zu vergeuden. Dieſen vernünftigen Vorſatz befolgte ich auch
ein Weilchen, bald aber erfaßte mich wieder die Angſt und die Unruhe. Ich mußte
etwas tun, um ſchnell zum Waſſer zu kommen, und ſicher fände ich den Weg. Viel-
leicht ift er ganz in der Nähe. Das Tageslicht muß ich ausnutzen. So ſuchte ich denn
wieder eifrig und raſtlos. Die Sonne ging ſchon unter, immer müder wurde mein
Gang und immer verwirrter mein Kopf. Allmählich wurde mir alles gleichgültig,
ich ſetzte mich nieder und wußte eine Zeitlang nichts mehr von mir. Die Kühle der
Nacht brachte mich wieder zu mir. Dies iſt nun die zweite Nacht, ſeit du vom Hauſe
fort biſt! Ich gab die Hoffnung auf. Die Nacht war kalt und mich fror; ſtumpf ſaß
ich da, ich weiß nicht wie lange, da hörte ich einen Schuß. Sofort war alle Dumpfheit
von mir abgefallen. Und mein Herz ſtand faſt ſtill vor Freude, als ſich die Schüſſe
wiederholten. Ich ſprang auf und lief wie toll durch Dornbüſche, die mich zer-
kratzten, über Steine und Löcher fallend, immer dem Klang der Schüſſe nach. Bald
hörte ich Rufen, doch ich brachte keinen Laut aus der Kehle. Laternen und Fackeln
blitzten auf, Menſchen kamen. Ich ſtolperte in ein paar Arme und dann wußte ich
nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, ſtand Herr Detloff neben mir und löffelte
mir warmen Tee ein. „Gott ſei Dank, daß wir Sie wieder haben, was für Sorgen
490 3.: Auf der Farm und im Buch
haben Sie uns gemacht!“ Die Schwarzen ſtanden um uns herum und grinſten
freundlich. Ich war glüdfelig und konnte es noch nicht faſſen, nach all der über-
ſtandenen Angſt und Gefahr wieder unter Menſchen und gerettet zu fein. Herr
Detloff erzählte mir: als ich die vorige Nacht nicht nach Hauſe kam, wären er und
Peterſen mit ſämtlichen Eingeborenen fortgegangen, um mich zu ſuchen. Sie hätten
viel geſchoſſen und große Feuer angezündet. Doch konnten ſie in der Dunkelheit
meine Spur nicht finden. Am anderen Tage war ſie in dem hohen Gras nicht mehr
zu ſehen. Sie hätten ſich in zwei Trupps geteilt und das Gelände weithin abgeſucht.
Endlich hätte einer der Schwarzen ein Stückchen Stoff von meinem Kleide an einem
Dornbaum gefunden. Nun wurde mit Hilfe der Hunde meine Spur verfolgt. —
Ach wie froh war ich! — Zwei Schwarze wurden nach Hauſe geſchickt, um die
Ochſenkarre zu holen, und nachdem ich getrunken und gegeſſen hatte, war ich neu-
geboren und konnte meine Abenteuer erzählen. Gegen Morgen kam dann die Karre,
und wir fuhren nach Haufe. Herr Peterſen kam jetzt auch an und ſchuͤttelte mir vor
Freude faſt die Arme aus dem Gelenk. Ich ſah ja bös aus, und eine ganze Zeit
dauerte es noch, bis meine Kratzwunden geheilt waren. — — Nicht allzulange nach
dieſem Erlebnis im Buſch fiel der erſte Regen, und nun wurde eifrig gepflügt und
geſãt.
Als der Regen nachließ, beſprach ſich Herr Detloff mit Herrn Peterſen, daß ſie
zuſammen vierzehn Tage wegziehen müßten, um Vieh zu verkaufen. Fcb ſollte fo-
lange allein bleiben. Nun ging es an die Vorbereitungen zu dieſer Reiſe. Viele
Büchſen wurden gefüllt mit Kaffee, Tee, Salz, Butter, Zucker, Mehl, Reis, Brot
uſw. Ein großes Faß goß man voll Waſſer; dann wurde alles auf dem Odfen-
wagen verftaut. Dazu kamen noch Decken und Waſſerſäcke, und nun konnte die
Fuhre losgehen.
„Arme Miſſis freßt der Löwe, wenn du fort biſt, Miſtera!“ ſagte die Kanakawi
tieftraurig, doch die beiden lachten nur und meinten, ich ſei hier im Buſch ſo ſicher
wie in Abrahams Schoß. Da ich den Vergleich nicht ausprobieren konnte, mußte ich
es ſchon glauben. Angſtlich war ich ja nicht, aber es iſt doch unheimlich, fo mutter-
ſeelenallein im Buſch zu wohnen. Nachts flatterten unzählige Fledermäuſe um mich
herum, und da der Regen wieder anfing, dröhnte es auf das Wellblech, ſo daß ich
allerlei Stimmen hörte und mir einbildete, es ſchliche ein Herero heran mit einem
geſchwungenen Kiri (Hererowaffe). Huh! wie ſchnell zog ich da die Dede über die
Naſe! Ab und zu krabbelte mal ein Mäuslein über das Bett, was mir Schauder
verurſachte, denn ich hielt es für eine Schlange.
So war ich immer froh und angenehm überraſcht, wenn der Morgen graute und
ich noch lebte. Der Tag war ja ſtets reichlich ausgefüllt und ſchnell herum, und ſo
gingen die vierzehn Tage auch vorbei. Eines Abends hörte ich Peitſchenknallen,
„Wop! wop!“ und ein Gerumpel: da kamen fie angerollt, vollgeſtopft mit Neuig-
keiten und allerlei Gutem für die Küche. Eine Oryxantilope hatten ſie unterwegs
geſchoſſen, ein Tier ſo groß wie ein Ochſe; die wurde raſch zerlegt, und dann ging
es an ein Braten und Kochen. Ein großer Teil des Fleiſches wurde in Streifen ge
ſchnitten, geſalzen und zum Trocknen aufgehängt. Dies wird wie „Bärenſchinken“ roh
gegeſſen und hält ſich lang. Die Hunde, die Eingeborenen, alles bekam Fleiſch, und
es war ein großes Eſſen und Jubeln.
3.: Auf der Farm und im Buſch 491
„Fräulein Imhoff,“ ſagte Herr Oetloff zu mir, „ich habe einen Brief aus Deutich-
land. In zwei Wochen kommt ein Volontär mit dem ſchönen Namen Amandus
Degenkolb.“
In Peterſens Stube wurde noch ein Feldbett aufgeſtellt und ſonſt noch einige
Verſchönerungen angebracht. Ein Bild mit einem Burengeneral, der in edler Hal-
tung daſteht und das Lager übergibt — es gehörte zu Herrn Peterſens Heilig-
tümern — wurde aufgenagelt. Die tiefen Löcher in dem Lehmfußboden füllte man
etwas aus, damit ſich der neue Ankömmling nicht gleich die Beine breche, und nun
warteten wir drei mit Spannung dem Tag ſeines Erſcheinens entgegen. Ein neuer
Hausgenoß, ein Grüner — wie überlegen fühlte ich mich dagegen ſchon mit meinen
vier Monaten Afrika!
„Er kommt!“ ſchrie Herr Peterſen, und ſchleunigſt liefen wir drei der Karre ent-
gegen. Stolz thronte er darauf, umgeben von Koffern, Kiſten und Paketchen, lang
und mager. Das einzige Abſtehende waren ſeine Ohren.
Ehe die Karre hielt, wollte er ſchon abſteigen, ſtolperte dabei mit ſeinen langen
Beinen über die Kiſten und Pakete und flog in hohem Bogen herunter. Aber ſofort
ſprang er wieder auf und faufte wie ein Beſeſſener im Kreiſe herum, wilde Tone
ausſtoßend. „Uah! uah!“ ſchrie er und ſchrecklich fuchtelte er dabei mit der einen
Hand. Wir ftanden vollſtändig erſtarrt da, bis er Herrn Oetloff die Hand unter die
Naſe ſtreckte und wir ſahen, daß ein Finger nach hinten umgebogen war. Herr Det-
loff packte den Finger ordentlich und renkte ihn mit einem Ruck wieder ein.
„Uah! uah! uah!“ ſchrie der Jüngling und hüpfte noch ein Weilchen im Kreiſe
herum. Allmählich beruhigte er ſich jedoch, und wir hatten nun Muße, ihn zu be-
wundern. Angetan war er mit einem hellen Tropenanzug, Gamaſchen, Sporen
und einem Schlapphut, einem Revolver im Gürtel und einem Gewehr auf dem
Rüden. Nachdem er ſich etwas erholt hatte, gab er uns feine Lebensanſichten zum
Beſten. Löwen und Tiger wolle er ſchießen. Ha, die Jagd, das ſei das Höchſte! Dabei
packte er aus. Drei Gewehre kamen zum Vorſchein, ein Drilling, eine Kugelbüͤchſe
und ein Mauſer, und dann noch zwei Revolver. Wir fühlten uns auch gleich erheb-
lich ſicherer; doch unſere Freude war unermeßlich, als er gar ein Grammophon
anſchleppte. Nun konnten wir nach den neueſten Walzern tanzen.
Gleich ging es los. Amandus machte mit, warf ſeine langen Beine nach allen
Richtungen und vergaß dabei ganz feinen ausgerenkten Finger. Sein Revolver ſtak
noch im Gürtel, das Gewehr hing auf dem Buckel, dazu klirrten die Sporen: es war
überwältigend komiſch. Wir waren ungeheuer luſtig; das Gelächter und den Radau
konnte man weit hören.
Überhaupt wurde unſer Leben weit unterhaltender ſeit Degenkolbs Ankunft.
Dieſer Jüngling ſorgte immer für unfere Veluftigung. Zuerſt war er ſehr ent-
täuſcht, daß er die ganze Woche arbeiten mußte und nur Sonntags auf die Jagd
gehen konnte. Doch dieſen Tag nützte er auch ausgiebig aus; weder Schlagſahne
noch Kuchen — ſein Leibeſſen — konnten ihn zurückhalten. Des Morgens mit dem
frũheſten ſchwang er ſich auf fein altes, klapperiges Muli. Seine begeifterten Er-
zählungen von feinen Jagdabenteuern waren hinreißend. Mit einem Stück Brot
in der Taſche und einer Feldflaſche mit Waſſer blieb er ſtets bis zum Abend fort.
Dann kam er im Schritt angeritten, entſetzlich auf feinem magern Klepper herum-
492 3.: Auf ber Farm und im Suid
rutſchend, bald ihm die Sporen gebend, bald ihm gut zuredend. Schon von weitem
machte er ſich ſo bemerkbar. Doch dem Muli fiels nicht ein, anders als im Schritt
zu gehen; ſo machte ſein Einzug gar keinen heldenhaften Eindruck. Dafür machten
es feine Erzählungen um fo mehr. Jagdbeute brachte er nie mit, doch dafür reichlich
zerriſſene Hoſen.
Da ich gern einmal eine größere Pad mitmachen wollte, das heißt eine lange
Reiſe durch den Buſch, verſprach Herr Oetloff, mich nach der Etoſchapfanne mitzu-
nehmen, um Salz zu holen. Herr Amandus ſollte auch mit, doch ohne ſeine Schieß
gewehre, was feine Freude erheblich dampfte. Aber unſer Leben war uns zu lieb,
um uns der Gefahr auszuſetzen, von ihm verſehentlich totgeſchoſſen zu werden.
Mein Photographenapparat, allerlei Eßvorräte, Mehl, Zucker, Kaffee, leere Gade
für Salz, Spaten und Faß mit Waſſer wurden aufgepackt, denn wir wollten drei
Wochen fortbleiben. Ein Nach barfarmer, Herr Ralph, ſchloß ſich auch noch an mit
einer Ziehharmonika.
Unter den Klängen: „Muß i denn zum Städtele naus“ zogen wir vergnügt auf
unſerm Ochſenwagen in den Buſch fort, das Herz voll Freude und Jugend. Ein Lied
um das andere wurde gefungen, begleitet von Herrn Ralphs Ziehharmonika, daß
es im Buſch nur fo widerhallte. Die Schwarzen hatten auch ihre Weiber im Feft-
ſtaate mit. Sie trugen prächtige Schleppkleider aus Blaudruck. Auf ihren Woll-
köpfen hatten ſie gelbe, rote und lila Kopftücher in den grellſten Farben und ſo boten
wir ein glänzendes Bild.
Allmählich ſtieg die Sonne immer höher, und unſere ſangesfreudigen Kehlen ver-
ſtummten. Es wurde heiß, und wir ſehnten uns nach einem kühlen Plätzchen. Es
ging nun auch ſchon gegen Mittag; man mußte ausſpannen. Unter großen ſchattigen
Bäumen wurde Raſt gemacht; Komba, die ich mit hatte, machte Feuer und kochte
Kaffee. Geſchoſſen war leider noch nichts worden, und fo mußten wir eben ohne
Fleiſch eſſen. Es ſchmeckte auch ſo vorzüglich; den Beſchluß machte ein Schläfchen.
Nach einigen Stunden wurden die Ochſen wieder herangetrieben, die einſtweilen
gefreſſen batten, Komba legte unſere Decken zuſammen, räumte alles weg und
verſtaute es wieder. Wir kletterten auf und weiter ging es. Amandus zog ein
Spiel Karten heraus, und nun wurde geſpielt faft bis die Sonne ſank und wahr
ſcheinlich hätten wir uns noch weiter dieſer reizvollen Tätigkeit hingegeben, wenn
wir nicht unterbrochen worden wären. Der lange Herero puffte Herrn Detloff in
die Seite: „Miſter, ein Bock!“
Sofort benahm ſich Amandus Degenkolb wie ein Beſeſſener, warf ſeine langen
Glieder nach allen Richtungen: „Ein Gewehr, ein Gewehr!“ ſchrie er. Doch dieweil
er noch mit den Armen fuchtelte, hatte Herr Detloff den Bock ſchon geſchoſſen.
Nun hatten wir Koſt, wie wurden wir da vergnügt! Nicht mehr lange ging der
Treck, und es wurde ausgeſpannt. Die Ochſen mußten noch einige Stunden freſſen,
ehe ſie feſtgemacht wurden. Wir ſuchten uns ein nettes Plätzchen für das Nachtlaget.
Nun wurde ein Feuer gemacht, der Bock wurde abgezogen, ausgeweidet, in Stücke
geſchnitten, und dann begann das Mahl. Es ſchmeckte uns vieren herrlich, da der
nötige Hunger vorhanden war. Die Eingeborenen kochten ſich Maisbrei und aßen
ihn mit dem Fochſcheit; ich wunderte mich dabei nur, daß fie keinen Splitter in ihre
langen Zungen bekamen, wenn ſie das Scheit ableckten. Von dem Bock erhielten
Biffer: Die Liebenden | 495
fie auch noch etwas, und fo waren wir alle gefättigt und guter Dinge, legten uns
ums Feuer, tauchten Pfeife und Zigaretten und erzählten Geſchichten.
die Schwarzen lagen ein wenig abfeits an ihrem Feuer und fangen ihre ein-
tönigen Gefänge. Überall herrſchte die tieſſte Ruhe; die Nacht war nur erhellt vom
Sternenglanz und unſere Geſichter beleuchtete maleriſch das Lagerfeuer.
„Erinnern Sie ſich noch, Herr Detloff,“ ſagte Herr Ralph, „als ich damals den
Schakal geſchoſſen hatte? Ich ſaß am Feuer; hinter mir zog ein Eingeborener den
Schakal ab. Als er ſoweit war, daß das Fell nur noch etwas am Kücken feſtſaß,
drehte ſich der Eingeborene zu mir, um mich etwas zu fragen. Wie er ſich darauf
wieder umwandte, ſtand der Schakal auf ſeinen Beinen und lief weg!“
„Owiſeſe!“ rief ich, das heißt: was lügſt du; warum ſollte ich nicht mit meinem
friſch aufgeſchnappten Herero etwas prunken?
„Es iſt die reinſte Wahrheit, mein Bierehrenwort!“ ſagte Herr Ralph, und Herr
Detloff bekräftigte es. Amandus war ganz hin vor Begeifterung; wenn er doch nur
auch einmal ſo etwas erleben könnte.
Wir lachten, und nun überboten ſich die beiden an Jagdgeſchichten und machten
dem armen Nimrod den Mund wäſſerig. Bis wir endlich müde wurden, und
melodiſche Schnarchtöne von den Eingeborenen zu uns drangen; da wickelten wir
uns in unſere Decken und gaben uns ganz der Mutter Nacht in die Hände, die uns
in ihren tiefen Frieden einſchloß und uns trotz der Härte des Lagers feſt ſchlafen ließ.
O über dieſe wunderbaren Nächte im Buſch, dieſe tiefe Stille, die nur manchmal
von dem Heulen eines Schakals unterbrochen wird! Man wird fromm und gut
dabei
Die Liebenden
Von Ernſt Wiſſer
Des Märzenſturms Gejauchz, Geftähn!
Mich ſtöͤßt vom Pfad der mächtige Föhn.
Gottes voll der Himmel! Durch tiefes Blau
Getürmter, zerrißner Wolkenbau.
Eine gelbe Primel am Waldrand ſprießt.
Ihr Düften wie Wein ins Blut mir ſchießt.
Fern ſchau ich im Wald jung edles Paar:
Blau blitzende Augen, hell leuchtend Haar.
Seit Monden wuchs hoch die Flamme ſchon —
Kein Wort verriet es, kein Blick, kein Ton.
Doch heut — war's Sturmes Drang und Schlag,
War's Primel? fie glitt, an der Bruſt ihm lag.
„Hör, herrliches Land! Hör, Heimatland!
Hoch ſoll fie mir dlühn, unter Gärtners Hand:“
Da reißt ſie ſich los, ihr Auge loht:
„Und käme die bittre, die lange Not — “
„Wohlan, fie komme! Dann zeigt die Tat:
Im Unwetter noch wächſt edle Saat!
Ich bin, o Gott, der wildfroh minnt
Und märzlich brauſt, dein echtes Kind!“
494
Die Entführung
Don Baul Ernft
n einem entlegenen Teil Spaniens, im vierzehnten Jahrhundert, wuchs bei
ſeinen Eltern auf einem wehrhaften Turm bei geringen Lebensumſtänden ein
friſcher Jüngling auf, den wir Florio nennen wollen. Er war nun in dem Alter, da
er in die Welt hinausziehen und fein Glück machen mußte. Im Hof wartete ſchon
das geſattelte, nicht mehr allzu jugendliche Pferd und hing geduldig den Kopf, zum
Zeitvertreib etwa einmal an einem magern Grashälmchen ſchnuppernd, das zwiſchen
den runden Pflaſterſteinen hervorwuchs.
Florio ſtand im Reiſeanzug vor ſeinem Vater, der, in einem großen Lehnſtuhl
ſitzend, ihm die letzten Ratſchläge mit auf die Reife gab. Der alte Herr ſagte: „Pie
Zeiten ſind ſchlechter geworden. Es iſt nicht mehr, wie es in meiner Jugend wat.
Du biſt ein Dichter. Zu meiner Zeit machte man feinen Vers, aber das war fo neben-
bei. Im übrigen verſtand man ſeine Sache, man wußte ſeinen Gaul zu behandeln
und brach ſeine Lanze.“
„Aber Vater,“ warf Florio ein, „du haſt doch ſelber geſagt, daß ich ein ganz guter
Krieger bin.“
„Ich ſpreche nicht von dir, ich ſpreche allgemein“, erwiderte der Vater. „Du wirft
ja ſehen, wie weit du mit deinem Dichten kommſt. Hauptſache im Leben iſt, daß man
etwas vor ſich bringt.“
Hier lachte Florio; „Aber Vater, ſonſt ſagſt du doch immer: Unſereiner bleibt, was
er iſt. Das find nur die Geſchäftsleute, die reich werden. Der anſtändige Mann hat
ſein Schwert, weiter braucht er nichts, mit dem dient er ſeinem König.“
Der Alte ſprach: „Sage ich auch. Fit auch wahr. Na, du wirft ja ſehen. Du biſt ein
guter Junge, du haſt auch Verſtand, du biſt ſchon geſcheiter wie ich. Komm, daß ich
dich ſegne.“
Dem alten Mann ſtanden die Augen in Waſſer, dem Jüngling rollten zwei Tränen
zu beiden Seiten die Wangen hinab. Er kniete, und der Vater legte ihm die Hände
auf das Haupt: „Bleibe gut! Der Herr, unſer Gott, behüte dich, daß du deine Ehre
immer rein hältft. Alles andere ijt Nebenſache.“
Er umarmte den Sohn und küßte ihn auf die Stirn. Der Jüngling ſprang auf
und drüdte die Mutter an die Bruſt, die ſtill zur Seite geſtanden hatte. Dann ftürmte
er ſchluchzend aus dem Zimmer. — —
Florio wollte in Madrid ſein Glück machen. Er wollte aber auch Ruhm dutch
dichteriſche Werke erringen. Er hielt es für ſelbſtverſtändlich, daß man beides ver-
einigte. Der Ort, wo man herkömmlicherweiſe Glück errang, war der Hof. Mit zäher
Beharrlichkeit hatte er ſich einen Platz im Vorzimmer des Königs errungen, wo et
denn in einer dichten Menge ſtand, von einem Bein auf das andere trat, und mit
andern jungen Leuten Geſpräͤche darüber führte, wie man es anzuſtellen hatte, wenn
man ſein Glück machen wollte. Der Ort, wo man den Ruhm durch dichteriſche Werke
errang, war das Kaffeehaus. Hier ſaß man den Nachmittag über, trank eine halbe
Taſſe Kaffee und beſprach die Nachahmung der Alten und ihre Überwindung.
Florio hatte ſchon etwa einen Monat lang Hof und Kaffeehaus beſucht ohne wei⸗
Ernſt: Ole Entführung 495
teren Erfolg, als daß der. Oukaten, den ihm fein Vater mitgegeben, in einen Real
zuſammengeſchmolzen war; da machte er eine Bekanntſchaft, die von entſcheidender
Wichtigkeit für ihn wurde.
Ein junger Mann in ſeinem Alter ſetzte ſich an ſeinen Tiſch mit unzufriedenem
Geſichtsausdruck. Er ſchleuderte feinen weiten Schlapphut mit großer Feder auf den
Stuhl neben ſich, fuhr ſich mit den Fingern durch die zierlichen Locken, beſtellte mit
erhobener Stimme eine ganze Taſſe Kaffee bei dem Aufwärter und ſaß dann, den
Kopf in die Hand geſtützt, ſchwermuͤtig und ſeufzend, indem er ſtarr auf die Marmor-
platte des Tiſches blickte. Er ſprach abgebrochene Sätze vor ſich hin: „Reime! Keinen
einzigen finde ich. Wozu überhaupt Berfe! Wenn man etwas Vernünftiges zu fagen
hat, das kann man in Proſa auch!“
Hier konnte fi Florio nicht enthalten, in höflicher Weiſe Einwendungen zu ma-
chen. Mit wohlgeſetzten Worten erklärte er dem jungen Herrn, nachdem er um Ent-
ſchuldigung gebeten, daß er ſich in ſeine Angelegenheiten miſche, daß ein Gedicht
etwas ganz anderes fei, als eine Reihe Proſaſätze, indem man zum Beiſpiel in
Verſen ſagen könne, was in Proſa auszudrücken ganz unmöglich wäre, und um-
gekehrt. Mit Behagen verbreitete er ſich über dieſe Gedanken weiter und ſprach,
indeſſen der andere halb zuhörte, bis er ihn endlich unterbrach und fragte: „Sie ver-
zeihen, mein Herr, Ihr Geſpräch iſt ſo ſachkundig und überzeugend, daß ich ſicher
bin, in Euch einen Meiſter der Dichtkunſt vor mir zu ſehen. Iſt es fo, oder irre ich
mich?“ Florio errötete und ſagte: „Einen Lehrling, einen jungen Geſellen hoch-
ſtens —“ er konnte aber ſeinen Satz nicht zu Ende ſprechen, denn der andere ſprang
vom Stuhl auf, umarmte ihn heftig und rief: „Sie ſind mein Mann! Sie müſſen
mic helfen; ich ſehe Ihnen an, daß auch Ihnen geholfen werden muß; das kann ich,
denn ich bin wohlhabend; wir müſſen uns zuſammentun.“
Es zeigte ſich, daß der junge Herr, er hieß Caliſto, ſehr vermögende Eltern hatte,
die ihm alle Wünſche gewährten, und daß er in eine junge Dame namens Luerezia
verliebt war, die einzige Tochter von gleichfalls ſehr reichen Leuten, eine wunder-
bare Schönheit, eine Tugend ohne Tadel, und ein Geiſt — hier ſeufzte Caliſto; ja,
ſie hatte einen Geiſt ſondergleichen; und das war es eben; ſie dichtete wie ein Engel;
und ſie verlangte, er ſolle auch dichten.
Beide Eltern waren einderſtanden damit, daß Caliſto und Luerezia ein Paar wür-
den. Caliſto wußte ganz genau, daß Lucrezia keinen andern liebte. Aber liebte ſie
ihn, Caliſto? Das war der Zweifel, der brennende Zweifel.
Er zeigte Florio ſeinen Hut. Der Hut war aus hellgrauem Sammet. Er ließ ihn
die Feder durch die Hand ziehen. Nicht wahr? Eine Feder! Es gab da einen einzigen
Mann in Madrid, bei dem man eine ſolche Feder finden konnte, und da mußte man
ein guter Kunde ſein, um ſie zu bekommen; der Mann hatte ſeine Beziehungen in
Marokko, wo der Markt für Straußenfedern iſt. Kann man eine ſolche Feder naß
werden laſſen? Das kann man doch nicht! Sie läßt ſich ja wieder aufkräuſeln, aber
die Schönheit iſt hin; jeder ſieht, das iſt bloß eine aufgekräuſelte Feder. Alſo, Caliſto
geht geſtern mit Lucrezia im Prado, die Eltern gehen voran, es kommt ein leichter
Regenſchauer, und Caliſto nimmt den Hut unter den Mantel. Lucrezia ſagt: „Ou
liebſt mich und denkſt an deinen Hut?“ — „Ja,“ antwortet er, „ich liebe dich und
496 Ernſt: Ole Entführung
denke an meinen Hut.“ Das Schauer iſt im Augenblick vorüber, Caliſto ſetzt feinen |
Hut wieder auf, und Lucrezia ſagt: „Nun mußt du wenigſtens ein Gedicht darüber
machen.“ Ein Gedicht! Wie ſoll man mit einemmal ein Gedicht machen! Er hat
die ganze Nacht nicht geſchlafen!
Wir wollen uns nicht in überflüſſige Einzelheiten verlieren. Florio macht das
Gedicht für Caliſto, der ſchreibt es ſchön auf goldumrändertes Papier ab und über-
reicht es der Geliebten. Lucrezia lieſt es, ſie ſieht ihn glänzend an mit ihren Augen
und fagt: „Caliſto! Iſt es möglich! Komm, ich muß dich küſſen! Ich habe dich ver-
kannt. Ich hielt dich für dumm. Du biſt ja ein Oichter!“ Caliſto iſt etwas verlegen,
aber dann faßt er ji; er ergreift Luereziens Hand und drückt auf fie einen achtungs⸗
vollen Kuß. Wie er wieder mit Florio zuſammenkommt, ſteckt er die Hand in die
Taſche und zieht einen Real vor. Er ſagt: „Es gibt in Madrid viele Dichter. Die
Konkurrenz hat die Preiſe ermäßigt. Gewöhnlich zahlt man für ein Gedicht nur
einen halben Real. Aber wir ſind Freunde. Ich zahle einen ganzen.“
In den nächſten Wochen verdiente Florio täglich einen Real, manchmal auch zwei.
Caliſto brachte ihm Lucreziens Gedichte, und Florio mußte fie in Verſen beant-
worten. Florio war ſparſam. Er ſagte ſich: „Wer weiß, wie lange dieſe Einnahme
währt. Am Hof kommt man nicht fo ſchnell vorwärts, wie ich dachte. Schulden machen
will ich nicht, ich will mich nicht vor andern Leuten bücken; außerdem würde mir
auch niemand etwas borgen.“
Es war ihm klar, daß der verliebte Gedichtwechſel bald ein Ende nehmen mußte.
Er hatte ja Lucrezia nie geſehen — — aber nach den Erzählungen Caliſtos, nach
ihrer reizend mädchenhaften Handſchrift, nach ihren Gedichten, welche durch ge-
legentliche Fehler gegen Stil, Ders und Reim, auch durch eine gewiſſe Gelbftandig-
keit in der Orthographie etwas ungemein Friſches und Munteres hatten, konnte er
ſich ein Bild machen: er machte ſich ein Bild, und indem er ſich mit gutem Gewiſſen
gehen ließ, weil ſeine Gedichte ja dadurch nur gewinnen konnten, verliebte er ſich
ſterblich in dieſes Bild. Er machte auch noch Gedichte für eigene Rechnung. In denen
beklagte er feine traurige Lage: daß er niemals einen Blick aus ihren Augen er-
haſchte, daß er nie an ſie ein Wort richten durfte, ja, daß er ſie nie geſehen hatte, und
daß fie überhaupt nichts davon wußte, daß er lebte; es war, wie wenn ein Mädchen
an einem See vorüberging und das Waſſer ſpiegelte ihr Bild, und ein Zauberer be-
wirkte, daß das Bild im Waſſer ſtehen blieb, nachdem das Mädchen fortgegangen war,
und nachher kam ein Züngling, und auch fein Bild ſpiegelte ſich und blieb, nachdem
er wieder gegangen; und nun liebte dieſes eine ſtumme Bild das andere ſtumme Bild.
An einem Lage, als er ſich, wie das die Gewohnheit geworden, mit Caliſto im
Kaffeehaus traf, bemerkte er, wie der Freund ſeltſam feierlich und ſchweigend ihm
gegenüber ſaß. „Was iſt Ihnen?“ fragte er. „Sollte mein letztes Gedicht zu kühn
geweſen ſein, oder — ich weiß, ich habe einen ſchlechten Reim verwendet, den man
ſich eigentlich nicht erlauben darf. Aber es geſchah mit Abſicht. Nur ſo konnte ich
die völlige Lebenswahrheit herausbringen, und man muß immer die geringere
Schönheit der wichtigeren opfern.“
Caliſto ſchüttelte den Kopf. „Das Gedicht war gut und drückte meine Empfin-
dungen ausgezeichnet aus. Sie haben überhaupt immer den richtigen Ton getroffen,
PUIMaIUYIS pio JFeYISPUEJLOOW
Eenft: Die Entführung 497
und ich bin mit Ihnen zufrieden. Wenn ich ſchweigſam bin, jo wird das dadurch ver-
urſacht, daß mich viele Gedanken beſtürmen. Wir werden uns für einige Zeit nicht
ſehen. Es iſt möglich, daß ich Sie ſpäter wieder um Ihre Freundſchaft bitten muß.
Ich werde Ihre halbe Taſſe Kaffee bezahlen. Ihre Wohnung iſt mir bekannt, aber
vielleicht treffe ich Sie auch wieder hier zur gewohnten Stunde, falls es nötig ſein
ſollte.“ Er erhob fic, ſchuͤttelte Florios Hand, ging zur Kaffe und bezahlte.
„Da haben wir es nun“, ſagte Florio bei ſich. „Das letzte Gedicht hat ihm natür-
lich nicht gefallen. Auf ſolchen zufälligen Erwerb hin kann man fein Leben nicht ein-
richten. Nun, für einen Monat habe ich wieder zu leben, man muß ſehen, wie man
in der Zwiſchenzeit etwas anderes findet.“
Am Abend ging er durch die Straßen. Es wurde dunkel, die Straßen leerten ſich;
an einer Ecke begegnete er einem jungen Herrn mit einigen Muſikanten, der ein
Ständchen bringen wollte. Er dachte an Lucrezien, fie wohnte gewiß in einer von
dieſen vornehmen Straßen. Die Nacht war mondlos. Gelegentlich hörte er ein
Flüſtern, ein junger Mann ſtand wohl vor einem Fenſter und ſprach durch das ge-
ſchmiedete Gitter mit feiner Geliebten, deren Eltern inzwiſchen in ihrer Kammer
ſanft ſchliefen.
Seine Verlaſſenheit fiel ihm auf das Herz und die dunkel ſtille Nacht und daß er
nun nicht mehr mit Lucrezien Gedichte wechſeln ſollte; er dachte an fein hart ein-
ſames Lager. Worte, Verſe und Reime fanden ſich zuſammen; er lehnte ſich an eine
Hausmauer neben einem vorgebauchten Fenſtergitter und begann probierend und
mit den Fingern der linken Hand den Rhythmus anmerkend, die unfertigen Verſe
vor ſich hin zu flüſtern.
Da hörte er dicht neben ſich aus dem Fenſter ein leiſes „Pft! Pit!" Er fuhr auf
und fragte: „Wer iſt da?“ — „Ich bin es“, wurde geantwortet. „Leiſe, leiſe! Warte
einen Augenblick, ich habe den Schlüſſel ſchon, ich komme gleich heraus.“
Florio ſah natürlich ein, daß man ihn für einen andern hielt. Aber was kann da
ſein? Eben öffnete ſich das ſchwere Haustor leiſe, durch den Spalt zwängte ſich ein
Mädchen, das Haustor ſchnappte wieder zu. „Nun habe ich den Schlüſſel inwendig
ſtecken laſſen“, fagte fie, dann hängte fie ſich Florio an den Hals und flüfterte „Schnell,
ſchnell!“, ſie nahm ſeinen Arm und zog ihn fort. „Wohin willſt du denn? Hier iſt es
doch!“ ſagte ſie und zog ihn um die Ecke. Da war eine dunkle Maſſe, ein Wagen mit
vier Pferden lang. Er öffnete den Schlag, hob das Mädchen hinein und ſetzte ſich
zu ihr. Der Wagen raſſelte los und flog die Straße hinab, um Ecken, durch das Tor,
die Landſtraße entlang wie der Blitz. Das Mädchen hing an Florios Hals und
kicherte. „Ou haft es nicht erwarten können. Eine Viertelſtunde vorher biſt du ge-
kommen! Gut, daß der Wagen ſchon hielt. Ich hatte ja auch ſchon gewartet!“
In feinem letzten Gedicht, das er an Lucrezien geſchrieben, hatte Florio eine Ent-
führung dargeſtellt. Er hatte ſich ja immer gedacht, daß er es eigentlich ſei, der
Lucrezien liebte, den fie wieder liebte, den nur die Eltern nicht wünſchten; nun
hatte er gedichtet, daß ſie einander um Mitternacht Ziel gegeben, um zuſammen
zu entfliehen. Caliſto hatte das Gedicht beim Abſchreiben nicht fo genau in ſich auf-
genommen, der Inhalt war ihm jedenfalls nicht klargeworden, er hatte nur fo All-
gemeines von Mond, Sternen, Nachtigall und Fliederduft gemerkt.
Ser Türmer X XVIII, 6 33
498 Ernſt: Die Entführmg
Halb benommen von ſeinem Abenteuer, das Mädchen im Arm, deſſen Herz un-
geſtüm an ſeinem ſchlug, das Köpfchen mit dem duftenden Haar unter ſeinem Ge—
ſicht in dem dahinraſenden Wagen, ſagte er den erſten Vers des Gedichtes:
Nacht und Schatten weich ſich ſchmiegend
und das Mädchen antwortete, ſich warm an ihn drückend:
Und es rauſcht der ſchnelle Wagen.
Er fuhr fort: |
Du an meinem Herzen liegend —
Und ſie ſchloß:
Und die Pferde weit uns tragend.
Er wunderte ſich nicht, daß ſie das Gedicht kannte: „Vielleicht träume ich“, dachte
er und küßte das Mädchen auf die Stirn und auf den Mund, der ſich im Dunkeln
ihm bot. Sie lachte: „Sieh, wie kannſt du küſſen! Das habe ich gar nicht gewußt!“
Durch das ſchweigende Land jagte der Wagen durch Geſchrei von Fröſchen und
das Schluchzen einer Nachtigall. Der Mond kam hoch, und die Bäume warfen
ſchräge Schatten auf die Straße. Das Mädchen zog die Gardinen vor die Fenſter
des Wagens. „Im Dunkeln will ich träumen,“ ſagte ſie, „ich fühle dich und fühle,
wie dein Arm mich hält. Weißt du noch, wie du mir die Hand küßteſt? Wenn da
nicht dieſes wunderſchöne erſte Gedicht geweſen wäre, dann hätte ich dich für
dumm gehalten. Aber du biſt ſo. Ach, ich bin dich ja gar nicht wert. Aber ich liebe
dich. Alles gebe ich dir. Alles ſollſt du haben, du biſt nun ſo ein Menſch — das hätte
ich dir vorher nie ſagen können, da ſchloß es mir immer den Mund zu, wenn du bei
mir warſt; nur wenn ich deine Verſe las, dann war ich dein; und nun liege ich in
deinem Arm und bin dein, nun fühle ich es auch, wenn ich bei dir bin.“
Der Wagen jagte dahin. Schwatzen, Lachen, Küſſe. Da kam ein Ruck, Lichtſchein
durch die Gardinen, die Wagentür wurde geöffnet. „Schnell den Schleier vor“,
ſagte ſie und verhüllte ſich, ſie barg ihr Geſicht an ſeine Bruſt. Ein Wirt ſtand vor
dem Wagen, machte Büdlinge: „Alles vorbereitet für die Exzellenzen, die Erzellen-
zen ſollen mein Gaſthaus loben.“
Florio nahm das Mädchen auf den Arm, das ſich willenlos tragen ließ und ſein
Geſicht an ſeiner Bruſt verbarg. Er ſtieg mit ſeiner Laſt aus dem Wagen, folgte dem
Wirt ins Haus, die Treppe hinauf, in das erleuchtete Zimmer. Der Wirt zeigte auf
den Tiſch: „Alles, wie Exzellenz befohlen haben. Kalte Küche. Exzellenz haben
Verſtändnis. Wenn man den Braten ſtundenlang warm halten muß, nachdem er
fertig iſt, dabei kann keine Kochkunſt beſtehen. Aber wer weiß das von den Hert-
ſchaften? Da wird geklingelt, gleich ſoll alles da ſein — —“
Florio fiel dem geſchwätzigen Mann ins Wort: „Die Dame iſt müde, Sie ſehen —“
„Jawohl, jawohl, bitte vielmals um Entſchuldigung“, ſagte der Wirt und ging
rückwärts zur Tür, öffnete ſie und ſchob ſich hinaus. „Wenn noch etwas gewünſcht
wird, da iſt der Klingelzug, ich fliege. Und guten Appetit. Go eine Nachtfahrt !.“
Damit zog er die Tür hinter ſich zu. Er öffnete ſie ſofort noch einmal und ſagte:
„Alſo wie geſagt, da iſt die Klingel, wenn etwas gewünſcht wird.“ Damit verſchwand
er endgültig. |
— mie u
Ernſt: Die Entführung 499
Florio hatte das Mädchen auf feine Füße geftellt. Die wickelte ſich den Schleier
ab. Zur Hälfte hatte ſie ihn abgewickelt, da ſah ſie Florio ins Geſicht. Entgeiſtert
hielt ſie an und ſtarrte: „Wer iſt denn das?“ Plötzlich lachte ſie hyſteriſch auf: „Ich
habe mich von einem Fremden entführen laſſen!“ Sie lief auf ihn zu, faßte ihn vorn
beim Rod und fragte: „Wer find Sie? Ich klingle. Sagen Sie ſofort, wer Sie find,
was Sie von mir wollen!“ |
Das war nun beides nicht fo leicht geſagt. Achtungsvoll führte er fie zu einem
Stuhl; fie ſpürte, daß fie nichts zu fürchten hatte und fegte ſich. Er ging im Zimmer
auf und ab; er mußte ſich erſt zurechtlegen, wie und was er ſprechen wollte.
„Woher kennen Sie das Gedicht?“ fragte fie ihn ungeſtüm. „Caliſto hat das Ge-
dicht nicht ſelber gemacht! Das haben Sie gemacht?!“ |
„Ja“, erwiderte Florio.
„Dachte ich mir doch, daß der Dummkopf kein Gedicht machen konnte“, rief fie
aus. „Ausgewachſen bin ich, wenn er neben mir ſaß und ſein Süßholz raſpelte.
Schnell! Erzählen Sie! Sie ſind ſein Vertrauter. Er hat Ihnen alles geſchwatzt,
und Sie haben die Gelegenheit ergriffen und haben mich ihm weggeſchnappt?“ Sie
ſagte das, auf dem Stuhl ſitzend, mit blitzenden Augen; dabei ſah ſie ihn ſorgfältig
prüfend an.
„Ach was! Zetzt halten Sie mich gar noch für einen Lumpenhund!“ ſagte Florio.
„Ich will alles erzählen.“
Und nun berichtete er, wie er nach Madrid gekommen war, und wie er all ſein
Geld ausgegeben hatte bis auf einen Real, und wie er mit Caliſto bekannt geworden,
und wie der ihm für jedes Gedicht einen Real bezahlt hatte. „Das ſieht ihm ähnlich“,
rief Lucrezia. „Einen Real für ein Gedicht!“ Florio holte ſich einen Stuhl und ſetzte
ſich neben ſie, faßte ihre Hand, die ſie ihm etwas zögernd ließ, dann fuhr er fort,
wie ſich Caliſto heute von ihm getrennt, wie er nun Sorgen hatte, daß das Ein-
kommen aus den Gedichten fehlte, aber er hatte ſich Erſparniſſe gemacht, und in
einem Monat jab die Sache wahrſcheinlich ſchon wieder ganz anders aus, und dann
kann ja auch das Glück plötzlich kommen, und dabei lachte er fie blitzend an, daß fie
errõtend zur Erde blickte. Endlich ſchloß er, wie er zufällig ſich an das Haus gelehnt
und berichtete weiter, wie es nun ſchon erzählt iſt.
Zwei große Karaffen ſtanden auf dem Tiſch mit rotem und weißem Wein. Gläſer
waren da und Teller. Da war eine Schüffel mit einem kalten Rehrücken. Ein großer
flacher Schafkäſe, Apfel, Weintrauben. Lucrezia ſah prüfend über den Tiſch hin und
ſagte: „Ich habe natürlich nichts zu Abend gegeſſen. Ich habe Hunger. Wir wollen
uns zunächſt an den Tiſch ſetzen, ehe wir weiter verhandeln.“
Als ſie ſich gegenũberſaßen, nachdem ſie den erſten Hunger geſtillt, ſprach ſie ernſt:
„Wiſſen Sie auch, daß Sie mit dem Schickſal eines Mädchens geſpielt haben? An
mich haben Sie wohl gar nicht gedacht, als Sie Ihre Gedichte ſchrieben?“ Florio
verfiel in Beteuerungen. Aber ſie ſchnitt ſeine Rede ab und fuhr fort: „Sie konnten
ſich wohl denken, daß ich den Narren durchſchaute. Plötzlich bringt er mir die Ge-
dichte an. Jetzt wird mir ja klar, daß ich ſofort meine Zweifel hatte; aber wer glaubt
ſich denn ſelber in ſolchem Fall? Wie er das Gedicht mit der Entführung vorzieht
mit ſeinem albernen Geſicht, und ich leſe es, da faßte mich eine tolle Luſtigkeit.“ Die
500 Ernſt: Die Entführung
Tränen glänzten ihr in den Augen auf, und fie lachte. „Ich war wohl verzweifelt.
Was ſoll denn ein einſames junges Mädchen machen? Keinen Menſchen hatte ich,
meine guten Eltern verſtehen das ja gar nicht, wenn ich ihnen etwas erzähle, das
mir aus dem Herzen kommt. Ich ſage ihm: Dieſe Nacht entführſt du mich! Du
beſtellſt einen Wagen mit vier Pferden, der wartet an der Ecke. Du beſtellſt ein
Abendbrot beim Wirt in Vallecas. Punkt zwölf Uhr iſt Abfahrt! Und, mein Hert
Florio, wie Sie heute abend dann da ſtanden — —“ hier wurde fie über und über
rot und beugte ihr Geſicht auf den Teller, und ſchwere Tropfen fielen aus ihren
Augen auf den Tellerrand.
„Lucrezia, du liebſt mich!“ rief Florio begeiſtert aus, kniete vor ihr nieder und
ſchlang ſeine Arme um ſie. Sie wehrte ſchwach ab: „Laſſen Sie mich, was müſſen Sie
denn von mir denken!“
Am andern Morgen ſchien die Sonne durch die Fenſter. Florio erwachte. In
feinem Arm ſchlief in tiefem Schlaf das reizende Mädchen, im Geſicht einen Aus-
druck unausſprechlichen Glücks. Er wagte nicht zu atmen. Da ging das Erwachen durch
ihre Züge, die Augen öffneten ſich, und noch halb im Traum ſchlang ſie die Arme
feſter um ihn
Noch war im Haus alles ſtill. Nach irgendeiner Zeit war dann ein Schlurfen auf
Steinfließen, ein unwilliges Rufen und Wecken, dann kam Türenſchließen, Gegacker
und Krähen vom Hühnerhof und allerlei weitere Geräuſche.
Sie ſagte: „Das iſt nun eine ſchöne Geſchichte. Wir ſitzen hier und haben eine gute
Zeche gemacht. Wie bezahlen wir die?“ Florio ſprach: „Ich habe zwanzig Realen
und noch einiges Kupfer, das wird ja genügen.“ — „Und dann?“ fragte fie und
lachte. „Wie denkſt du eigentlich eine Frau zu ernähren?“ Raltblitig erwiderte er:
„Deine Eltern haben doch kein Kind ſonſt. Was ſollen ſie machen?“ Sie lachte: „Ja,
was ſollen fie machen? Ich glaube, meine Mutter hat ſich ſchon ſelber zuweilen ge
ſagt, daß es mit dem Eſel von Caliſto nichts geben kann. Meine Mutter macht ſchon
keine Schwierigkeiten. Und mein Vater, der will ſchließlich wie meine Mutter will.“
Sie umarmte ihn. „Und ich will, wie du willſt.“ — „Nun, da iſt ja alles gut“, lachte
Florio. „Aber jetzt wollen wir frühſtücken.“
In Madrid war inzwiſchen geſchehen, was nach den Umſtänden geſchehen konnte.
Caliſto hatte vergeblich an Lucreziens Tür gewartet, hatte ſich dann nach dem Wagen
umgeſehen und ihn nicht gefunden, hatte wieder vor der Tür gewartet und hatte
ſich ſchließlich geſagt, das Ganze ſei ſo ein Einfall eines etwas überſpannten jungen
Mädchens geweſen, nun ſei es ganz gut, daß nichts damit geworden ſei; und dann
war er nach Hauſe gegangen, um zu ſchlafen. Luereziens Eltern hatten ſich am andern
Morgen gewundert, daß ihre Tochter nicht aus ihrem Zimmer kam; der Diener hatte
berichtet, daß der Schlüſſel am Haustor ſteckte; die Mutter hatte im Zimmer nach
geſehen und hatte es leer und das Bett unberührt gefunden. Man hatte gleich zu
Caliſto geſchickt, der war ſofort gekommen und hatte alles erzählt und auch von dem
Wirtshaus in Vallecas geſprochen. Die Mutter hatte ihm geſagt, er ſei ſo dumm,
daß er Prügel verdiene. Der Vater hatte ſofort anſpannen laſſen; und indeſſen
ſich der beleidigte Bräutigam entfernte, waren die Eltern nach Vallecas gefahren.
Sie trafen das Pärchen im Zimmer. Florio hatte bezahlt und reichliche Trinkgelder
felabe: Zwiſchen Pflug und Buch 501
gegeben und zählte grade die paar Kupferſtücke, die ihm noch geblieben, und Lu-
crezia nähte ſich einen Saum am Rod feſt, den Florio ihr abgetreten hatte. Luerezia
eilte auf ihre Mutter zu, umarmte und küßte ſie, weinte und lachte, ſtreichelte ihr
die Backen und ſagte: „Ich bin ſo glücklich, Mutter!“ Der Alte ſtarrte verwundert
Florio an, der eine leichte Verlegenheit bekämpfte, dann aber auf den Alten zutrat,
ſeine Hand nahm und ſprach: „An Adel bin ich Ihnen gleich. Geben Sie mir Ihre
Tochter zur Frau!“
Ja, was ſollten die beiden tun? Die Mutter ſagte gerührt: „Das Kind iſt fo glück-
lich“, und Lucrezia hängte ſich nun auch an des Vaters Hals. Der Vater machte ſich
verdrießlich los und knurrte: „Zu ändern iſt nun nichts. Meinetwegen!“ Da ſchloß
ihn Florio in ſeine Arme und küßte ihn auf die ſtoppelige Backe. Der Alte wollte
noch ärgerlich fein; aber dann bezwang ihn das Lachen der jungen Leute, die Rüh-
rung der Mutter, und er ſagte: „Na, wer weiß, wozu es gut iſt. Der andere hat mir
eigentlich nie gefallen. . .“
Zwilchen Pflug und Buch
Von Georg Kläbe
Wenn unfrer Väter einer mannbar war,
So griff er nach dem Pflug und zu den Waffen.
Ser Mann ward nicht zum Bücherwurm gefdaffen.
Sein Tun galt Ackerbau und Kriegsgefahr.
So fing ich an. Fünf Jahre Eiſenzeit
Fünf harte Jahre, neues Land zu zwing
Der Wildnis Halm und Heimſtatt a byutingen,
Zu jeder Arbeit Herz und Hand ber
Zehn Sabre rührten Herz und Hände ſich
Um aufzubaun, zu nähren und zu wehren.
eo der Geiſt verfladte im dntbebren.
un iſt er aufgeftanden wider mich
Und forderte fein Recht und ſchrie mich an,
bn hungert' nach Erkenntnis und nach Wiſſen.
un hab ich manches liebe Band zerriſſen
Und gab mich kalter Weisheit untertan.
Der Kopf blieb wacker, doch der Arm ward matt,
Der friſche Mannesmut ging mir verloren —
Denn meine Heimat liegt in fernen Mooren,
Und ich bin fremd in meiner Vaterſtadt.
cha u
Karl Beters
Cin Gedentblatt
ürzlich ſuchte ich die beiden unverheirateten Schweſtern des Gründers von Oeutſch-Oſtafrika
in ihrem Heime im Süden Hannovers auf. Von einer erfriſchenden Harzreiſe waren fie
vor einigen Tagen zurückgekehrt und gerade jetzt damit beſchäftigt, die Stickerei einer dunklen
Tiſchdecke zu erneuern, die ihr Bruder Karl der Mutter auf ſeiner erſten Reiſe nach Sanſibar
im November 1884 mitgebracht hatte. „Wenn ſie auf iſt, gibt es eine neue!“ waren damals
ſeine Worte. Gut, daß es noch die alte iſt und die treue Liebe der Schweſtern bei jedem Nadel-
ſtich wieder das bedeutende Leben ihres guten Bruders in den verfloſſenen 40 Jahren neu
erleben kann.
Wie viele Erinnerungen der freundlichen Wohnung zeugen zudem von ſeinem afrikaniſchen
Werke. Da breitet ſich das gefleckte Fell eines Panthers, den er als Führer der deutſchen Emin;
Paſcha-Expedition geſchoſſen hatte. Da find verſchiedene Geſchenke des treuen Kabaka Mwanga
von Uganda (der {pater auf einer Seychelleninſel des indiſchen Ozeans in engliſcher Gefangen
ſchaft gebrochenen Herzens ftarb), wie ein Zwerggazellenfell und ein großes braunes Stüc
Pflanzenrindenſtoff, der aus zuſammengepreßtem Feigenbaſt hergeſtellt iſt und von den Uganda-
bewohnern nach der Bekehrung zum Chriſtentum auf Anordnung des Königs getragen wurde.
Hier ift eine helle Seidendecke mit Pfaudarſtellung aus Agypten, darüber ein Bild der Kilima-
Noſcharolandſchaft, worin zwei Bergrieſen mit weißer Schneemüße die deutſche Wacht im
Norden Afrikas halten. An den Wänden des Doppelzimmers aber prunken zwei herrliche San;
ſibar-Exinnerungen aus der erften oſtafrikaniſchen Gründungszeit: eine gigantiſche Wanddecke
aus roter Seide mit vier goldgeftidten Pfauen und eine andere aus blauer Seide mit gold;
geſtickten Ibiſſen und Lotosblumen. Dann findet ſich ein aus einem Elefantenkinnbacken ver;
fertigter Briefbeſchwerer, — ein Felsſtũck mit Goldadern aus dem Manicalande mit dem fabel-
haften Fur aberge, deſſen Name noch auf Aufur und weiterhin Ophir hindeutet, — und dann
draußen auf der Veranda, von der man über die Große Bult zu den Waldgründen der Eilen-
riede herüberfchaut, ein Klapplehnſtuhl von der Emin Paſcha-Expedition, worauf Karl Peters
nach anſtrengendem Tagesmarſch eine gefahrvolle Nachtruhe fand, die nicht ſelten durch das
Gerdufd eines durch die Poſten geſchlichenen Feindes geſtört wurde. Es iſt nur ein kleiner un-
bequemer Ruheſtuhl, den Peters nicht größer wiinfdte, um die Träger nicht unndtigerweife zu
belaſten, von denen jeder 70 Pfund auf dem Marſche zu tragen hatte.
Im Wohnzimmer aber ſtickten die Schweſtern gleichſam geheimnisvolle Runen in die dunkle
Decke von Sanſibar, einen ſiegfrohen Peterszauber für unfere ſorgenreiche, ungewiſſe, gefahr⸗
volle Gegenwart.
* *
*
Zur Zeit, als in Deutſchland eine ftille Verſchwörung gegen Peters ſich vorbereitete, um
ihn endgültig zu beſeitigen, ſchrieb Frieda von Bülow der Schweſter, Fräulein Elli Peters:
„Unſer ſchlappes Regiment hält alle jungen lebenskräftigen Elemente nieder und lähmt den
Tüchtigſten die Schwungkraft. Was wir brauchen, iſt ein Mann, der weiß, was er will und ſich
nicht fürchtet, ſondern entſchloſſen iſt, das, was er will, mit oder gegen die Regierung durch;
zuführen, wie 1812 die Stein, Blücher, Gneiſenau, Bülow, Bork’ ... Von ganzem Herzen
wüͤnſche ich jetzt, wir möchten einen ſolchen Befreier und Mann in Ihrem Bruder finden. Die
ſchwere Charakterſchulung des Sichbeugens unter einer Leitung, die er überſah und im höoͤchſten
Grade mißbilligen mußte, hat auch gerade er durchzumachen gehabt.“
Rarl Peters 503
Ein Mann von der abnormen Seelenſtärke von Dr. Karl Peters, dem nach dem Urteil unferer
ſchärfſten Köpfe an geiſtiger Kraft unter den Zeitgenoſſen auch nicht einer ebenbürtig war,
paßte allerdings nicht in das ſchlappe Regiment der wilhelminiſchen Zeit, wovon er uns bei
politiſcher Reife hätte befreien können. Nein, er iſt ſeiner ganzen Natur und Leiſtung nach ein
Mann des alten Kurſes, getragen vom friderizianiſchen Geiſte, der Preußen und Oeutſchland
groß und mächtig machte, — ein Zdealiſt der Tat, der in feinem Handeln wie der alternde
Fauſt an das Schickſal unſerer Söhne und Enkel dachte, die auf neuem Grunde, von wirt-
ſchaftlichen Feſſeln befreit, ſich zu freien Bürgern und Menſchen entwickeln ſollten, anſtatt in
Verzweiflung über ihre unſelbſtändige Lage in der Heimat politiſch blind den Staat, aus dem
ſie hervorgegangen, und der in der Welt als vorbildlich galt, zu zerſchlagen und ein anarchiſches
Chaos an ſeine Stelle zu ſetzen.
* *
4
Während die Leiter des erſten deutſchen Kolonialvereins im 19. Jahrhundert „lediglich Pro-
paganda machen wollten, um im 20. Jahrhundert Kolonialpolitik treiben zu können“, ſchritt
Dr. Karl Peters bei ſeiner Rückkehr aus England zu Beginn des Jahres 1884 als Vorſitzender
der neuen Geſellſchaft für deutſche Koloniſation zur ausführenden Tat, indem er im November
desſelben Jahres durch einen Abtretungsvertrag mit dem Häuptling von Uſeguha das erſte
deutſche Schutzgebiet in Oſtafrika erwarb. Auf einer filbernen Petersgedentmiinge, die die
Schweſter Elli im Andenken an den toten Bruder trägt, zeigt die Rüdfeite ſinnig den damaligen
Flug der deutſchen Flagge übers Weltmeer zur afrikaniſchen Palmentiifte. 2000 & koſtete dieſe
erſte Expedition, die den Ausgangspunkt für das fpdtere Deutſch-Oſtafrika bilden ſollte. Am
27. Februar 1885 erhielt Dr. Peters ſodann vom Fürſten Bismarck den erſten kolonialen Schutz-
brief in der deutſchen Geſchichte, worin der deutſche Kaiſer die Oberhoheit über die erworbenen
Gebiete übernahm, die damit unter ſeinen kaiſerlichen Schutz geſtellt wurden. Hier wird Karl
Peters auch amtlich Mitarbeiter des alten Kurſes an den Aufgaben des größeren Deutſchland
über See.
Bald berührte ſich auch das koloniale Geſtalten von Dr. Peters mit dem Strom der hohen
Politik, als der proteſtierende Said Bargaſch von Sanſibar ſeine Flagge neben der deutſchen
in dem neuen Schutzgebiete aufziehen ließ und Karl Peters Auge in Auge dem Fürſten Bis-
marck gegenüberftand, deſſen Stolz auf empfindliche Weiſe berührt fein mußte. Peters ent-
warf damals die Proteſtnote an die Großmächte und riet dem Fürften zu der Gefdwader-
demonſtration vor Sanſibar, der ſich der Sultan und das engliſche Kabinett fügte.
Bald hatte der Unermüdliche auch das oſtafrikaniſche Seengebiet und die ganze Küfte von
der Umbamündung bis zum Kap Delgado erworben, den Frieda von Bülow in einem Briefe
vom 14. Juli 1887 aus Sanſibar an die Schweſter Elli damals folgendermaßen ſchilderte: „Es
ſcheint, als ob der Sturm in dieſem leidenſchaftlich ſtrebenden Geiſte hier wilder, weil un-
gehinderter, herbrauſt. Er fühlt ſich hier am Steuerrad der Geſchichte und greift mit ſeiner
kleinen, feſten Hand in die Speichen.“
Heute berührt es uns außerdem ſympathiſch, aus einem Briefe derſelben Dame aus Bom-
bay zu hören, mit welcher Sympathie die Herzogin von Connaught, die Tochter des Prinzen
Friedrich Karl, die trotz ihrer engliſchen Umgebung innerlich durch und durch deutſch geblieben
war — ſie ſtarb während des Weltkriegs, vielleicht an gebrochenem Herzen —, das entſtehende
Deutſch-Oſtafrika verfolgte und ſich über alle neuen Einrichtungen durch eifrige Erkundigungen
unterrichtete.
Peters zeigte ſich in allem ſeiner Aufgabe gewachſen. Er unternahm bereits im Sommer
1887 die Abſteckung der oſtafrikaniſchen Mittelbahn von Dar -es Salam ins Hinterland und
trat im übrigen für völlige Selbftverwaltung der Deutſchoſtafrikaner ein, die ſich ſogar ihren
Gouverneur ſelbſt wählen ſollten. Er ſteht hier über jeder Parteipolitik und hätte die Unter-
504 Rarl Peters
ftüßung eines jeden Deutſchen, ber ſich und die Seinen in deutſchen Kolonien weiterbringen
wollte, verdient.
Seine Glanzleiſtung iſt ſodann die Führung der deutſchen Emin-Paſcha⸗Expedition, durch
die die Tanalaͤnder, der Kenia, Uganda, die Nilquellen ſowie die Aquatorialproving dem deut -
ſchen Einfluſſe erſchloſſen wurden. Hier wäre der Ausgangspunkt für ein neues Kaiſerreich
Oeutſch-Oſtafrika von der Bedeutung des kaiſerlichen Britiſch- Indien Großbritanniens ge
weſen. Am oberen Nil vor der Aquatorialproving ſaß der Mahdi, deſſen Scharen Hicks Paſcha
bei El Obeid und Gordon Paſcha in Chartum vernichtet hatten. Zur Seite auf hoher Berg-
veſte lag das befreundete chriſtliche Abeſſinien, das europäiſch geſchult und bewaffnet ein adt-
barer Verbündeter hätte werden können. Im Weſten hatte König Leopold durch feinen ge-
heimen Erlaß vom 21. September 1891 die Kongoakte verletzt und ein Eingreifen der be-
teiligten Mächte ermöglicht. Im Kücken ſtreckte ſich Mogambique und Gafaland weit an der
Küfte entlang, womit Portugal nicht viel anfangen konnte, und gleich daran ſchloſſen ſich die
beiden befreundeten Burenrepubliken mit ihren vielen hollaͤndiſchen Geſinnungsgenoſſen im
Raplanb, den „Kaprebellen“. Was hätte hier ein Staatsmann, wie der Große Kurfürſt oder
Bismarck, und wohl auch ein ungehemmter Karl Peters nicht alles vermocht!
Das geſamte politiſche Reſultat der Emin-Paſcha- Expedition aber wurde mit einem dicken
Feberſtrich im Sanſibarvertrage vom Juli 1890 getilgt, wo nach Bismarcks Worten Oeutſch⸗
land feine goldene Glaukusrüſtung gegen die eherne Yiomebesrüftung Großbritanniens aus-
tauſchte. England erhielt damals bie Küfte von der Kwaihubucht bis zum Juba, dann Witu,
die Tanaländer, das Maſſaigebiet, den Kenia und Baringoſee, Uganda, den oberen Nil und
die Aquatorialproving. Außerdem verzichtete Deutſchland zugunſten Englands auf feine Vor-
rechte auf Sanſibar, Pemba, Patta und Wanda. Der neue deutſche Reichskanzler Graf Caprivi
aber ſprach damals das wenig erbauliche Wort: „Die Zeit des Flaggenhiſſens ift vorüber !*
Er hatte recht, denn die Zeit des neuen Kurſes, der Abwärtsbewegung der deutſchen Politik,
des Flaggenſtreichens und des Untergangs des Kaiſerreiches hatte begonnen. Sechs Millionen
Menſchen hätte Dr. Peters auf dem erworbenen Flächenraume anfiebeln können. Gewerk
ſchaftsſekretäre, Agitatoren und Fabrikarbeiter hätten hier auf eigenem Grund und Boden dei
zweimaliger Jahres ernte glücklicher werden können als in der Vorbereitung des Umſturzes in
der Heimat, aus dem doch nur einige Führer perſönlichen Gewinn zogen, nicht jedoch die mif-
brauchten Maſſen, und am wenigſten Staat und Volk.
Peters ſelbſt kehrte hochgeehrt nach Beendigung der Expedition nach Oeutſchland zurüd.
In einem eigenhändigen Handſchreiben zollte ihm der greife Feldmarſchall Graf Moltke kurz
vor ſeinem Tode ſeine Bewunderung und Anerkennung. Bilder und Anſichtskarten feierten
ihn allwärts, und mit Teilnahme ſchaute man auch auf feinen Gefährten, den Somali Huſſein
Fara, der durch den vorgehaltenen Schild einen auf Peters gezielten Maſſaiſpeer aufgefangen
und ſeinem Herrn dadurch das Leben gerettet hatte. Die Provinz Hannover aber ehrte den
großen Landsmann durch den Mund Rudolf von Bennigſens.
Selbſtlos hatte ſich Dr. Peters ſeinem Volke und Vaterlande geopfert. Selbſtlos verwandte
er nun die ihm zugedachte Petersſpende in Höhe von 150 000 „ zum Ankauf eines Dampfers
für den Tanganjikaſee. Seine eigentliche Tätigkeit in der Gründung Oſtafrikas aber hatte ein
Ende gefunden. Sie erfolgte im Zeichen des alten Kurſes unter inniger Teilnahme des alten
Kaiſers, dem Peters über feine erſte Expedition noch Vortrag gehalten, — mit Billigung Bis-
marcks, der den Erwerb überhaupt ermöglicht und dem Segens- und Geleitgruß des ſterbenden
Moltke. Der geſamte Erwerb unferes früheren Kolonialbeſitzes iſt ja in der Hauptſache noch
ein Verdienſt des alten Kurſes, der noch keine „Weltpolitik“ trieb.
Der neue Kurs iſt jedoch nicht nur charakteriſiert durch die ſchmachvolle Entlaſſung Bismarcks,
ſondern die empörende Beſeitigung von Dr. Karl Peters, die Exzellenz von Liebert mit vollem
Rechte als einen „Schandfleck des deutſchen Volkes und der Juſtiz“ bezeichnete.
earl Peters 505
Man hatte den Gründer von Oeutſch-Oſtafrika neben Emin Paſcha und Major Wißmann
zum „Reichskommiſſar, zur Verfügung des Gouverneurs von Oſtafrika“ ernannt und in das
Kilima-Ndſcharo-Gebiet geſchickt, um „den deutſchen Einfluß aufzurichten“ — in Wirklich-
keit, um ihn unter irgendeinem Vorwande möglichft bald los zu werden. Das Verhalten von
Dr. Peters dafelbft wurde von allen Afrikanern, vor allem Major von Wißmann, gebilligt
und auch von der Regierung bei verſchiedenen Unterſuchungen nicht weiter beanſtandet.
Auguſt Bebel brachte es nun durch die Vorlage des gefälſchten Tuckerbriefs fertig, dem ehe
maligen Staatsanwalt Freiherrn von Marſchall nach Abſendung des Kruͤgertelegramms auch
hier Gelegenheit zu ſeiner beſonderen politiſchen Befähigung zu geben und dem Auslande das
heute fo begehrte Material zum Nachweis unſerer moraliſchen Unfähigkeit für Kolonialbeſitz
zu liefern.
Es folgte die bekannte Diehftentlaffung durch die kaiſerliche Difgiplinarfammer, die alle ge-
ſtellten Beweisanträge als „unerheblich“ zurückwies und die Ladung vorgeſchlagener Zeugen
ablehnte. Das Urteil war bereits vor der Verhandlung fertiggeſtellt, da feine Verleſung doppelt
ſo lange dauerte als die Beratung und Feſtſtellung. Auf dem Wege des Privatprozeſſes hat im
übrigen Dr. Peters 10 Jahre ſpäter vor fünf Schöffengerihten den Fehlſpruch der Kammer
nachgewieſen, ohne indeſſen trotz des Nachweiſes der Unwahrheit aller Anſchuldigungen die
Aufhebung des Diſziplinarurteils bei den beſtehenden Vorſchriften herbeiführen zu können. Er
ſollte eben in der Kolonialgeſchichte das Schickſal von Chriſtoph Kolumbus, Ferdinand Cortez,
Sir Walter Raleigh und Lord Clive teilen und ſich mit dem Gedanken tröften, daß auch
einmal ein Sokrates verurteilt wurde, und zwar durch einen Juſtizmord, der wenigſtens noch
den Schein des Rechtes zu wahren wußte.
Bismarcks Entlaſſung, Krügertelegramm, Petersfall. Burenkrieg und Bülowſche Weltpolitik
ſind denn auch die Markſteine zum Untergang des deutſchen Kaiſerreiches geworden.
Mit jeder fruchtbaren Kolonialarbeit mußte es vorbei fein, als das Oeutſche Reich vor aller
Welt offiziell verkündete, daß man heute im Gegenſatz zu Bismarck „Weltpolitik“ treibe, daß
nichts in der Welt geſchehen ſolle ohne Zuſtimmung des deutſchen Kaiſers, und die deutſche
Zukunft auf dem Waſſer liege. Was hätte Bismarck wohl erreicht, wenn er in ähnlicher Weiſe
„Reichsgründungspolitik“ getrieben hätte? Die Saat, die er damals ſorgſam hütete, wäre nach
ſeinen Worten erſtickt worden unter dem Druck von ganz Europa, das unſeren Ehrgeiz zur Ruhe
verwiefen hätte.
Peters hatte inzwiſchen in London ſich niedergelaſſen, wo er erſt in Park lane und fpäter in
Buckingham Gate und Caſtelnau (Barnes) wohnte. Ein Riefenftern von Maſſaiſpeeren mit der
verwetterten Fahne der Emin-Pafha-Erpedition darüber und gewaltigen Maffaifchilden aus
Rinderhaut zur Seite erinnerte im Hausflur feiner Wohnung an die Zeit, wo er die deutſch⸗
oſtafrikaniſche Flagge uns aus dem Pfeil- und Speerhagel im afrikaniſchen Buſch errang. In
London überraſchte ihn auch der Ausbruch des Weltkriegs, den er mir bereits feit 1912 ver-
ſchiedentlich vorausgeſagt hatte. Erſt im September 1914 gelang es ihm, nebſt Gattin, nach
Deutſchland zurückzukehren und hier für die vaterländiſche Sache unermüdlich tätig zu fein.
Irgendeinen Einfluß auf die Kriegführung vermochte er nicht auszuüben. Ein gütiges Geſchick
aber hat ihm das Kriegsende erſpart. Seine im Kampfe für ſein Vaterland unter den Breiten
des Aquators geſchwächte Geſundheit konnte das rauhe nordiſche Klima nicht mehr ertragen.
Bereits in London hatte er unter ſchweren Anfällen von Luftröhrenkatarrh zu leiden, die eine
bedrohliche Herzſchwäche zuruͤckgelaſſen hatten. Aber friſch und wohlgemut ergab er ſich in fein
Schickſal und ſchrieb am 31. Mai 1916 aus Bad Harzburg der Schweſter Elli: „Oer Kuckuck
verurteilt mich eben zu zwei weiteren Jahren Leben. Eines wäre auch genug. 61 Jahre für
einen Afrikaner iſt ein hinreichendes Konverſationslexikonalter.“
Der Kuckuck hatte recht. In der Nacht zum 10. September 1918 erlöfte ein ſanfter Tod Karl
Peters in Woltorf bei Peine von allem Mühſal und Leid unſerer körperlichen Welt.
506 Baueennet
Am 19. September, nachmittags 5 Uhr, erfolgte die Beiſetzung auf dem Engeſohder Fried-
hofe in Hannover. Eine ungezählte Menge gab Deutſchlands großem Sohne das letzte Geleit.
Waldgrün war die Friedhofkapelle geſchmückt, der die Natur ihre ſchönſten Gaben geſpendet
hatte. Durch die Fächer der Palmen und die Herzen der Blattpflanzen drang der Flammen
ſchein mächtiger Kandelaber. Es ſchien, als ob in einer neu erſtandenen Natur eine überirdiſche
Welt in feurigen Zungen ihren Weihſpruch verkündete. An der Gruft aber wurden herrliche
Kränze im Auftrage des deutſchen Kaiſers, des Reichskanzlers, bes Staatsſekretärs des Reichs
kolonialamtes, der Schutztruppe, der deutſchoſtafrikaniſchen Geſellſchaft, der deutſchen Kolonial-
geſellſchaft, des Magiſtrats und Buͤrgervorſteherkollegiums der Stadt Hannover, des Alldeutſchen
Verbandes uſw. niedergelegt. Unbeachtet blieb auch nicht jener Kranz, deſſen Schleife die viel
ſagende Inſchrift trug: „In Dankbarkeit ſeinem Lebensretter E. Krone Leipzig.“ Feldmarſchall
Hindenburg, der deutſche Kronprinz, Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg und ſo viele andere
hatten gleich beim Bekanntwerden der Trauerkunde Beileidstelegramme geſandt.
Karl Peters hatte uns verlaſſen, als eben mit ſeiner ungebrochenen alten Zugendkraft 200
deutſche Oſtafrikaner und 1100 Farbige einen kühnen Einfall ins britiſche Rhodeſien unter
nahmen. Zwei Monate fpdter hißte man auf dem Schloſſe des alten Kaiſers die rote Flagge.
Ein Vademekum für jeden deutſchen Patrioten iſt fürwahr das Leben des tatkräftigen Nieder
ſachſen, der in fic) die Kraft beſaß, Deutſchland im friderizianiſchen Geiſte des alten Kurſes
mit geſinnungsgleichen Mitarbeitern zuſammen zur erſten Weltmacht mit dem Gewinn einet
überfeeifhen Kaiſerkrone emporzuheben, wenn das Volk noch das felſenfeſte Gottvertrauen und
den Idealismus ſeiner Ritterorden, Reformatoren und Glaubenskämpfer beſeſſen hätte. In
der Politik gibt es nach Bismarck Momente, die nicht wiederkehren. Deutſchland hat die ihm
gewährte Probezeit zur Heraufführung eines neuen großen Zeitalters erſter Weltgeltung in den
Wer Jahren nicht beſtanden. Dr. H. T. Schorn
Bauernnot
E⸗ iſt erſchütternd, mit welcher Gleichgültigkeit das deutſche Volk eine Entwicklung vor ſich
gehen ſieht, die verhängnisvoller ijt als ſelbſt der Friede von Verſailles. Durch die Partei-
bege verblendet, ſetzen wir den Kampf aller gegen alle fort und ſehen nicht, daß das Funda;
ment unter unſern Füßen weicht, daß der deutſche Nährſtand ſtirbt, naturnotwendig ſterben
muß, wenn es auch nur noch kurze Zeit ſo weitergeht.
Die Lage des Arbeiterſtandes iſt nicht glänzend; in der Induſtrie häufen ſich die Sufammen-
brüche; die Arbeitsloſigkeit wächſt; der Beamte klagt berechtigterweiſe darüber, daß er mit
ſeinem Gehalt nicht mehr auskommt; am furchtbarſten aber iſt die Lage des Bauern.
Wir ſtehen in einer Bauernnot, wie ſie gleich groß, abgeſehen von verheerenden Kriegen,
nie geweſen ijt. Wenn ſich das nach außen hin nicht in viel mehr Zuſammenbrüuͤchen bäuerlicher
Wirtſchaften deutlich macht, als es gegenwärtig der Fall iſt, ſo hat das ſeine Urſache in dreierlei.
Es ſind einmal Kredite gegeben worden zur Beſchaffung von Saatgut, Bergung der Ernte uſw.,
die die wirkliche Lage noch verſchleiern. Der Bauer legt ſich zweitens in ſeiner Lebensführung
Beſchränkungen auf, die über das Maß deſſen hinausgehen, was er fic ſelber und feiner Familie
gegenüber verantworten kann, es iſt drittens kein Käufer da, der es wagt, das Riſiko, das heute
mit dem Erwerb einer Bauernwirtſchaft verbunden iſt, auf ſich zu nehmen, ganz abgeſehen
davon, daß die Geldknappheit in allen Streifen die gleiche iſt.
Um bei dem letzten anzufangen: Die in faſt jeder Nummer der Deutſchen Tageszeitung
zum Verkauf angebotene landwirtſchaftlich genutzte Fläche ſchwankt zwiſchen hundert und
hundertfünfzigtauſend Morgen. Getätigt werden aus den oben angedeuteten Gründen fo gut
wie keine Verkäufe. Auch Zwangsverſteigerungen verlaufen ergebnislos aus den gleichen Grün
2
— mn m
VBauernnot 507
den. Es hat gar keinen Zweck, die Wechſel zu Proteſt gehen zu laſſen und auszuklagen. Die
Zwangsverſteigerung erbringt im guͤnſtigſten Falle die Koſten des Verfahrens, ohne an der
Sache ſelbſt etwas zu ändern. Roggen wurde nicht einmal zu 6—6, 50 der Zentner abgenommen.
Die Ernte war völlig eingefroren. Wer nicht unbedingt muß, bietet auch heute noch nicht
an; denn die Preiſe decken die Geſtehungskoſten nicht. Die Berliner Börſenpreiſe find völlig
belanglos, da ſie in Wirklichkeit faſt niemals gezahlt werden.
Zur Stillung des Kreditbedürfniſſes find kurzfriſtige Kredite ausgegeben worden. Dazu kam
in letzter Zeit der amerikaniſche 100-Millionen-Kredit. Er iſt zwar langfriſtig, aber die deutſche
Landwirtſchaft hat ihn nur in beſchränktem Maße aufgenommen und aufnehmen können.
Statt 10000 & werden durchſchnittlich nur 8600 & gegeben. In zehn Jahren ijt das Kapital
durch die Verzinſung weit überzahlt und muß dann noch als Ganzes zurüdgegeben werden.
Amerika aber kann warten. Die Zeit arbeitet für die amerikaniſche Hochfinanz. Wohl iſt der
erſte Berfud mißlungen, die Lage aber verſchlimmert ſich, und wer fid heute noch mit letzter
Kraft gegen die vernichtende Verſchuldung wehrt, greift, wenn er gar keinen Ausweg mehr
ſieht, ſchließlich doch nach dem trügerifhen Strohhalm. Der Überſee- Kredit ift mit dem wurm-
geſpickten Angelhaken verglichen worden, den der Fiſcher auswirft, nicht um die Fiſche zu füttern,
ſondern um fie zu fangen. Bei Fortbeſtehen der gegenwärtigen Verhältniſſe geht der deutſche
Grund und Boden nicht langſam, ſondern ſchließlich rapid in die Hände des internationalen
Großkapitals über, gerät auch der Nährſtand dem Ausland gegenüber in Zinsſklaverei.
Oie inländiſchen kurzfriſtigen Saatgut-, Erntebergungs- uſw. Kredite ſind aufgenommen
worden. Man kann vielleicht ſogar ſagen, ſie ſind zu raſch und zu leicht aufgenommen worden.
In der Hauptſache hat ſie der Landwirt wirtſchaftlich genutzt. Wenn es nicht durchweg geſchehen
ſein ſollte, ſo ſind das noch Inflationserſcheinungen, für die der Bauer bei der allgemeinen
Entmoraliſierung und der einmal durchaus verſtändlichen „Flucht in die Sachwerte“, die inner-
lich noch immer nicht ganz überwunden iſt, nicht voll verantwortlich gemacht werden darf. Daß
aber die Kredite in der Hauptſache wirtſchaftlich, d. h. produktionsfördernd, genutzt worden ſind,
beweiſt die eine Tatſache, daß die deutſche Landwirtſchaft im vergangenen Erntejahr allein für
500 Millionen Mark künſtliche Düngemittel aufnahm.
Nun find die Wechſel fällig, Deckung iſt nicht vorhanden. Wird die Einziehung ſchematiſch
und rüdjichtslos betrieben, dann geht die Landwirtſchaft zugrunde. Zur ſelben Zeit, da das
Bauerntum in feinen Schulden erſtickt, da ſeine Vertreter in ihrer Not bei dem Reichspräſidenten
Hindenburg ſelber vorſtellig werden, hält die Reichsbank Oeviſenreſerven in einer Höhe feſt,
daß ſich der Abgeordnete Dr. Quaatz veranlaßt ſieht, zur Begründung einer Anfrage im Reichs-
tage feſtzuſtellen: Zur Sicherung dieſer Kredite ſowie der Zahlung der Dawestribute iſt
bei der Reichsbank eine Oeviſenreſerve geſchaffen worden, die dem Vernehmen
nach einen außerordentlich hohen Wert darſtellen ſoll.
Das Erſchütterndſte jedoch ijt die Einſchränkung der Lebensführung im Bauernhauſe. Der
Bauer iſt niemals ein Verſchwender geweſen. Er hat ſich immer mit ſehr beſcheidenem Eſſen
begnügt. Wie es aber heute ſteht, dafür nur ein Beiſpiel. |
In der Hohen Rhön hat das Bauerntum immer beſonders ſchwer zu ringen gehabt. Das
Dorf Oberweid beiſpielsweiſe liegt 600 Meter hoch, die Felder klettern bis zu 7 und 800 Meter
Höhe hinan, die Wege zu ihnen haben Steigungen von 40—60 %. Abgeſehen von den un-
geheuren Schwierigkeiten der Bearbeitung, der raſchen Abnutzung des Viehes und der Acker-
geräte, find die Erträge auf dem ton- oder baſalthaltigen Boden überhaupt nicht nennenswert.
Der Ertrag von 2 Morgen Weizenacker belief ſich im Tale, d. h. am Fuße der Berge, an ſich
aber immer noch etwa 600 Meter hoch gelegen, auf zuſammen 4 Zentner.
Infolge dieſer Verhältniſſe, die durch Erbteilung verſchlimmert werden, hat ſich das Halb-
bauerntum beſonders ſtark entwickelt. Die Männer ſuchen in den benachbarten Großſtädten,
in Kaliſchächten und Vaſaltwerken Arbeit und kommen nur am Sonnabend heim. Die ganze
508 Bauernnet
Arbeit in der Wirtſchaft liegt auf den Schultern der Frau. Sie nimmt heute den Wecker mit
auf das Feld, um die Stunde nicht zu verpaffen, in der fie die Kinder zur Schule ſchicken
und ihnen das Eſſen herrichten muß. Von Familienleben iſt keine Rede mehr. War es fruher
moglich, den Arbeitsverdienſt des Mannes wenigftens zum Teil zu ſparen, um damit wirtſchaft ;
lich vorwärts zu kommen, fo reicht er heute nicht mehr aus zur Bezahlung der Zinſen und Ab-
gaben. In einem Falle hat ſich ſolch ein Halbbauer ein kleines Haus gebaut. Er iſt reſtlos ver;
ſchuldet. Um das Haus trotzdem zu erhalten, beſteht die Ernährung für Frau und Kinder pro
Woche in zwei trockenen Broten. Die Luxusausgabe eines halben Jahres, d. h. die Ausgabe,
die vielleicht noch hätte vermieden werden können, betrug 25 Pfennige. Und das Ergebnis?
Ein Kind iſt bereits geſtorben, die Frau liegt infolge Unterernährung ſchwer krank.
Zugegeben, daß der Fall beſonders kraß iſt — hundert ähnliche liegen vor —, ſo iſt es doch
ganz allgemein fo, daß der Bauer mit Recht die Naſe rümpft, wenn ihm Sparſamkeit gepredigt
wird. Er kann nicht mehr leben. Von Sparen iſt überhaupt keine Rede.
Ein zweites Beiſpiel: Ein kleiner Bauer aus der Schleizer Gegenb weiſt nuͤchtern zahlen;
mäßig nach, daß ſeine Wirtſchaft, die an ſich durchaus in Ordnung ift, automatiſch um mindeſtens
400 K jahrlich verſchuldet.
Steuern, Abgaben, Zinſen enteignen den Bauer.
Wer aber erfaßt den ſich vollziehenden Prozeß in ſeiner ganzen Furchtbarkeit?
Aus Kriegs und Inflationszeit her beſteht noch immer eine bauernfeindliche Stimmung.
Zugegeben, daß ſie heute nicht mehr ſo feindlich iſt wie vor zwei oder drei Jahren. In ihren
Auswirkungen aber erreichen Schadenfreude und Gleichgültigkeit, die an die Stelle der Feind
ſchaft getreten find, dasselbe. Man freut ſich, daß es dem Bauer, dem es angeblich lange genug
gut ging, nun auch einmal ſchlecht geht. Man ift gleichgültig gegen feine Not; denn einmal hat
man mit ſich felber genug zu tun, zum anderen wird es nicht fo ſchlimm fein. Der Bauer iſt ge-
wohnt zu klagen. Man überfieht, daß, was heute noch Bauernnot iſt, morgen Volksnot fein wird.
Es iſt völlig müßig, vor ertenfiver Wirtſchaft zu warnen. Sie iſt da, wird wachſen und wird
ſich auswirken in immer kläglicheren Ernten. Geht es fo weiter, dann wird es jedem zukuͤnf⸗
tigen Feinde noch viel leichter fein, Oeutſchland zur belagerten Feſtung zu machen und auszu-
hungern, als ihm das im Weltkrieg war.
Oer wirtſchaftliche Verfall beſchleunigt den moraliſchen. Die Tröſtungen der Religion ver-
fangen nicht mehr, die Mahnungen zu Fleiß und Treue werden in die Luft geſprochen. Wozu
noch ſich plagen, wenn der Zuſammenbruch doch nicht aufzuhalten iſt? Iſt ein raſches Genießen,
daure es ſolange wie es baure, nicht richtiger? Noch iſt es nicht zum alleräͤußerſten gekommen,
aber wir ſtehen dicht davor.
Und was dann, wenn die letzte Stake bricht? Es iſt raſch geſagt: Bolſchewismus, Zins-
ſklaverei, Herrſchaft des internationalen Großkapitals. Es ift ebenſo leicht gefagt als das Wort:
Krieg. Was Krieg bedeutet, haben wir furchtbar lernen müſſen. Bolſchewismus iſt ſchlimmer
als Krieg.
Wir ſtehen in allerernſteſten Schickſalsſtunden. Vor einiger Zeit habe ich an derſelben Stelle
über die „Schuld am deutſchen Bauerntum“ geſprochen. Die Schuld von damals iſt Kinder-
ſpiel gegen die von heute.
Soll Deutſchland tatſächlich nach fo kurzer Blütezeit den Weg Roms gehen?
Wir müßten und würden uns ſchweigend beugen, wäre Hilfe, Anderung, Rettung nicht
moglich. Sie find aber möglich und werden durchgefuhrt werden, ſobald eine Vorausſetzung er-
füllt iſt. Eine einzige nur, aber eine von grundlegender Bedeutung. Es gilt zu erkennen, daß
Bauernnot Volksnot und Bauernſchickſal Volksſchickſal iſt.
P Dies erkennen und die Brücke zwiſchen Stadt und Land iſt geſchlagen; es iſt dem Bauer
geholfen und dem Städter. Deutſchland rettet ſich ſelbſt, wenn es ſeinen Bauernſtand rettet;
es iſt verloren, wenn es ſeinen Nährſtand ſterben läßt. Guſtav Schröer
Deutſche Grenzbauern 5
rüaß di Gott!“ ertönte es aus kräftigen Männerkehlen hinaus in die frühe Morgen-
ſtunde. Es war unfern der Grenze des deutſchen Volkes an einem leuchtenden Sommer-
ſonntage. Die ſteiriſchen Männer in ihrer kleidſamen grünen Jade mit der dunkelgrünen Bafte-
lung, den Hirſchhornknöpfen und mit dem flotten grünen Hut ftanden vor dem Bahnhofsge⸗
bäude der Landſtation an der Grenze und brachten ein fröhliches Willkommenlied den reichs
deutſchen Gäſten dar, die eben mit dem Zuge der Kleinbahn eingetroffen waren. Schlichte,
kernige Worte rief der Sprecher den Ankommenden zu: „Reichsdeutſche Brüder, wir danken
euch, daß ihr uns nicht vergeßt, daß ihr zu uns gekommen ſeid, um zu ſehen und zu hören,
was wir an der ſuͤdlichen Grenzmark Oeutſchlands für unſer Deutſchtum leiden und zu leiden
bereit find.“
Wenige kurze, aber von dem warmen Gefühl des Empfanges durchdrungene Worte der eben
Angekommenen knüpften das herzliche Band, das ſich in dieſen Minuten entſpann, enger und
feſter. Unter den Klängen ſteiriſcher Sänge und altbekannter Marſchlieder zog man in ſchnell
gefundenen Gruppen durch den Wald und der Grenze näher. Und dabei wurde geplaudert.
Man ſah in das Herz jener Volksſtämme und Volksgenoſſen, denen das Schickſal eine Aufgabe
für ihr Volkstum geftellt und dafür reif gemacht hatte.
Za, ſo ſieht es an der Grenze aus! Es iſt gerade, als ob mit jedem Schritt, den man ſich von
der Mitte des Reiches der Grenze zu entfernt, die Weſenszuüge des Deutſchtums ſtärker und
kräftiger ausgeprägt werden. Es iſt, als ob der Kampf, der die Herzen bindet und die Glieder
geſchmeidig macht, auch alle Eigenarten ſchöner und umriſſener entwickelt, als die Verſchwom-
menheiten des alltäglichen Seins des großſtäͤdtiſchen Lebens im Innern des Reichs.
„Reichsdeutſche Brüder“ war das Wort des Em pfanges, und in dieſem Wort lag alle Sehnſucht
und alle Hoffnung jener OQeutiden, die fern dem Reich harren auf die Stunde, wo ihnen das
Recht auch zuteil wird, das aller Welt verkündet wurde, das Recht, dem Staate anzugehören,
der Ausdruck ihres Volkstums iſt, und zu der fie ſich nach Blut, Sprache und Kultur zugehörig
fühlen.
„Reichsdeutſche Brüder!“ In dieſen Worten lag der ganze verhaltene Schmerz, das nicht
haben zu können, was man erſehnte, noch nicht mit jener Gemeinſchaft in ſtaatlicher Bildung
zu ſein, mit der man ſich Bruder fühlt.
Dann ſahen wir die Orte, wo die Demarkationslinie lief, wohin die Feinde ihre Hand aus-
ſtreckten, die ſie beſitzen wollten, — bis irgendwo oben in den Bergen unbekannte Bauern, —
wer nannte ihre Namen vorher und wer nennt ihre Namen noch — aus dem Gefühl für die
Not ihres Landes, mit ihrem Herzblut bezahlend, zur Waffe griffen und Strich für Strich heimat;
lichen Bodens in harten Rämpfen wieder eroberten.
Durch grünende Wieſen, rauſchende Wälder, auf ſchmalen Pfaden, die große Straße kuͤrzend,
gelangten wir in das Grenzdorf. Fahnen, Blumen, Willkommensgrüße, und das Orcheſter des
Dorfes ſchmetterte den Gäſten feine Weiſen entgegen. Wieder nur ſchlichte Worte des Will-
kommens, ſchlichte Worte des Dankes, kräftige Händedrücke von Mann zu Mann; und tiefer
als große Reden in vollgefüllten Sälen, tiefer als alle modernſte, vollkommenſte Dialektik
wirkte dieſes lebendige Empfinden von Menſch zu Menſch mitten unter blauem Himmel, in
blühender, grünender, fruchttragender Natur.
„Gott zum Gruß, Ihr teuren Steirer,“ — „Gott zum Gruß, Ihr Brüder aus dem Reich!“
Nach kurzem Imbiß gingen wir den Weg an der Grenze entlang weiter. „Dort um dieſes
Kirchlein kämpften wir. Wir haben es beſeſſen, aber der Frieden hat es uns geraubt.“
Oer Friede, als ob das Gefühl des ganzen Haſſes eines ſeiner Rechte und Freiheit beraubten
Volkstums ſich empörte, ob der Männer am grünen Tiſch, die in Unkenntnis der wirklichen
Verteilung ſtammes verwandter Völker Grenzen aus Willkür und Machtinſtinkten gezogen
510 Deutſche Srengdavera
hatten. Dort ſtanden und ſtehen nod die Steine, weiße, granitene Quadern, rohbehauen, mit
dem Namen des furchtbaren Diktates von Saint Germain und der Jahreszahl 1919.
Mehr denn einmal haben in den erſten Jahren des Scheinfriedens die Grenzleute dieſe Steine
den Berg hinuntergeſtürzt, ihren Unmut über das unvollkommene Werk des Zwangs frieden
zum Ausdruck bringend. Aber allmählich hat die Wirklichkeit mit ihrer immer wieder auf die
umliegenden Gemeinden umgelegten Koſten für die Neuinſtandſetzung der Grenzen dazu ge-
führt, daß man ſeltener zu dieſem Ausdrucksmittel feines Unwillens über die künſtliche Grenze
griff. Aber noch zuckte es in den Fäuſten der jugendlichen Bauernburſchen, die ohne viele Worte,
aber allzuſchnell mit der Tat bereit waren, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, wenn man
an dieſen Steinen mit ihnen vorbeizog.
Wir ſtiegen eine Höhe hinunter, ſtiegen ziemlich tief und ſteil hinab in ein enges, geſchlaͤngeltes
Tal, durch das brauſend und giſchend über Steine und Felsblöcke die Waſſerfluten ſprangen.
Ein verfallener Steg ohne Schutz, ohne Geländer aus morſchem Holz führte uns hinüber anſtatt
der nun zerfallenen Brücke, die einſt zwei Fahrwege miteinander verband und mit ihren traurigen
Trümmer als Erinnerung an vergangene Zeiten und als Sinnbild des Zerſtörten wenige Meter
weiter uns vor Augen trat.
„Was iſt mit dem Haus los?“ fragte ich den Führer, mit der Hand auf ein zerfallenes Holz;
gebäude ſteiriſcher Bauart weiſend, das wenige Meter vor uns lag. „Hat man um dieſes Tal
gekämpft? — Sind die Bewohner gefallen? — Warum wächſt in dieſem Garten jetzt nur Un-
kraut, ſteigt aus der Eſſe kein Rauch, gähnen uns leere Fenſterhöhlen an, und find Stall und
geuſchober (hon zuſammengefallen?“ — Keine Nugelſpuren zeigten die Trümmer diefes Haufes.
Rein Brandſchwarz deutete auf ein Brandunglück. — „Warum iſt alles verlaffen, einſam, dd
und ſtill?“ fragte ich erſtaunt weiter. Langſam kam die Antwort und in den Worten des &-
fragten lag die ganze Trauer deſſen, was die neue Grenze im Volkstum vernichtete infolge ihrer
wirtſchaftlichen Unmöglichkeit. „Von dieſen Bergen ging dereinſt das Holz im Frühjahr mit den
Waſſerkräften hinunter, um im Flachland verarbeitet zu werden. Heut' gehört das Flachland
Fremden. Zölle verbieten, daß das Holz zu ihnen hinunterwandert, und auf der anderen Seite
ſtehen als unüberwindliche Schwierigkeiten die Höhe der Transportkoſten einer Nutzung der
Holzmengen entgegen. — Dieſer breite Pfad, der vor Jahren, als es noch ein Oſterreich gab,
viel gegangen wurde, iſt ſtill und verwaiſt, ſeitdem die Grenze hinter dieſem Berg liegt.“ Manch
bitteres, galliges Wort mußte ich hören, Die Inſaſſen der Häufer, Berg- und Waldbauern, die
ihre Milch- und landwirtſchaftlichen Produkte zu Tal fuhren, wurden brotlos, als die neue
Grenze ihnen die Lebensmöglichkeit nahm. Die armen Waldbauern, die im Holz arbeiteten,
mußten andere Siedlungsſtätten ſuchen, und darum lagen dieſe Häuſer verlaſſen da, beraubt
ihrer Bewohner. Nur der Garten erzählte noch, weil trotz allen Unkrauts ſich immer wieder
die einmal gepflanzten Blumen, Kräuter und ſonſtigen nützlichen Gewächſe vermehrten und
bezeugten, daß hier vor Jahren Menſchenfleiß und Sorgfalt glückliche Heimſtätten hatte. Go
ſind Dutzende von Familien, Hunderte bis Tauſende von Menſchen aus den umliegenden Orten
ausgewandert. Erſchreckend ſtand vor unſerem Auge, was ein unachtſamer Federſtrich für Un-
glid und Elend in der Welt anzurichten imſtande iſt.
Armes Heimatland, das ſolche Rächer ſtatt Richter fand!
Langſam nur löſte ſich das Auge von dieſem Blick ſchmerzenden Friedens. Der Pfad ging
wieder bergan. Tropfen für Tropfen tröpfelte von dem düſter grauen Himmel, und mühſam
ſtiegen wir den ſchlechten, verwahrloſten Grenzpfad hinan, mit achtſamen Füßen den Wafjer-
pfützen ausweichend, die die friſch ſprudelnden Quellen in dem lehmigen Boden bildeten. Ein
Schuß hallte ſchaurig durchs Tal, vielfältig Echo ſpendend; und während wir noch nach der
Herkunft des Schalles Ausſchau hielten, dröhnte und donnerte es zum zweiten und dritten
Wale.
Hitewinten, Willkommenrufe tönten uns entgegen.
Seutfde Grenzbauern 511
Die Waldbauernſchaft der Berge empfing ihre Gäſte nach wälderiſchem Brauch. Der Schieß-
meiſter nahm ſein Böllereiſen aus dem Holzfeuer, trocknete ſeine rußigen Hände an dem Tuch ab
und trat auf uns zu, allen die Hände mit einem herzlichen Willkomm und „Grüß Gott“ ſchuͤttelnd.
Und dann kam der Buͤrgermeiſter, begrüßte uns ebenſo kräftig, und weiter ging's den Berg hinan.
An einer der erſten Hütten zu halber Höhe des Berges netzte friſcher Apfelm oſt die ausge-
trockneten Kehlen. Noch wenige Minuten, und wir waren bei den Waldbauern bewillkommnet.
Dort war das Kirchlein, deſſen weißgekalkte, armſelige Mauerwand noch die Spuren der
Maſchinengewehrgarben, noch die breiten, durch abgeplatzten Mörtel gekennzeichneten Kugel
ſpuren zeigte. ö
„Bier war es,“ ſagte einer der Alteſten, „grade, als er über die Mauer flüchten wollte, traf
ihn die Kugel.“ „Er war einer unferer tüchtigſten Dörfler, Familienvater.“ Und er machte
eine lange Pauſe zwiſchen feinen Worten. „Und der andere fiel vor der Mauer juſt im Augen-
blick, als er fliehen wollte,“ er zögerte, als ob er das Wort „fliehen“ entſchuldigen müſſe, und
fuhr dann fort. „Weib und Kind und die anderen waren ſchon in Sicherheit gebracht. Nur einige
Männer waren noch zurückgeblieben, als die feindlichen Legionäre das Dorf überfielen. Auch
et war verheiratet und ließ drei Kinder zurück.“ „Als wir wiederkamen, haben wir fie dort be-
graben.“ Und er wies auf das Kreuz, das friſch den gemeinſamen Grabhügel zierte, wo die
Wald bauern lagen, die ihre Treu und Liebe zur Heimat mit dem Leben bũßten. Aber nach langer
Pauſe fuhr er wieder fort, und es leuchteten ſeine Augen, als wenn lebendigeres, friſches Blut
auf einmal feinen gekrümmten Rüden ſich wieder aufſtremmen ließ, als wenn die traurigen
Augen plötzlich Feuer bekommen hätten. „Dann, dann aber kam unſere Zungmannſchaft dort
unten unter dem Schutz des Waldes heran. Zwiſchen dieſen Schanzen lagen die Feinde mit
ihren Maſchinengewehren verſteckt. Aber wir kannten die Gegend beſſer, und unſere Kugeln
trafen. 20 gegen 300. Aber fie ließen uns das Feld, und ſeitdem iſt das Dörflein unfer geblieben
und nicht wie die anderen in Feindeshand geraten.“
Wir hatten alle bei den Worten des Mannes jene Stunden miterlebt, die hier eine Schar
Volksgenoſſen durchgemacht hatte. Wir hatten ihre Not und Angſt, ihre traurigen Nächte im
Walde, ihre Furcht und Sorge um die Heimat, die Angſt der Frauen und Mädchen um ihre
Burſchen und Männer und das „Nun danket alle Gott“ nach dem Sieg und das Zittern und
Zagen vor dem Diktat des Friedens mit- und nacherlebt.
Aber wir mußten eilen. Unſer Weg führte weiter. Wieder durch Wald, wieder über Höhen,
wieder durch Täler, immer dicht an der Grenze entlang.
Aus dem Walde tretend, auf einer mittleren Hochfläche, frei und klar von der wieder ſcheinen;
den Sonne beleuchtet, ſtand allein auf weiter Flur eine Holzkate, klein und unſcheinbar.
„Dieſes iſt unſere Schule,“ ſagte unſer Führer. „Der Bauer hat dem Lehrer eine Stube ab-
gegeben. Dort ſind die Kinder der Gemeinde drinnen.“
Trotz des Pfingſtfeiertages war der Schulraum voll, voll von großen und kleinen Mädeln
und Buben. Solche mit hellen, blauen Augen und blonden Haaren und dann die mit den tief
ſchwarzen Augen und dem dunklen, fettigen Haar, ſolche mit ſpitzen Naſen und Stumpfnäschen,
mit feinen weißen Schüͤrzchen und den grauen Leinenkitteln, alles durcheinander gemiſcht, paus-
badig, erwartungs froh. Ein tabler, weißgekalkter Raum, etwas eng für dieſe Menge, man mußte
vor- und nachmittags Schule geben, um die Kinder unterzubringen, die zu lernen wünſchten.
Ein junger Lehrer, eine männliche Erſcheinung, mit den Augen der Jugend voll gläubiger
Hingabe, gemiſcht mit den ernſten Linien trotzigen, gefaßten Mannesalters. Es war nicht leicht,
ohne Anſchauungsmittel unter dieſen engen Verhältniſſen jene Kinder der verſchiedenſten
Jahrgänge gemeinſam in den Elementarfächern zu unterrichten. Und dieſe Schulſtube hatte
nur ihre kahlen Wände und eine armſelige Tafel.
Von wie weit kamen dieſe kleinen Kinder her! Wieviel tauſend Schrittchen mußten ſie bergauf,
bergab durch Wind und Wetter, Regen und Sonnenſchein machen, ehe ſie von Haus zur Schule
512 Deutſche Grenzdauern
und von Schule zun Haus gelangten. Aber fie jagen da mit hellen, leuchtenden Kinderaugen,
als bie reichsdeutſche Tante ihnen Märchen erzählte, und als die Lieder friſch- fröhlicher Wander
vogeljugend ihnen die Weijen eines Volkes vorſpielten, deren Züͤngſte fie waren.
„Ja, dieſe Schulverhältniſſe verdanken wir der Grenze,“ ſagte der Lehrer zu uns. „Das Schul-
haus der Gemeinde ſprach man dem Gegner zu, und nun müffen die Kinder von drei Gemeinden
hier zuſammenkommen.“
Der junge Lehrer erzählte von ſeinen Nöten und Schwierigkeiten, aber er hegte die Hoffnung,
daß der deutſche Schulverein ihm für den Winter ein Haus bauen werde, das die Möglichkeit
bot, alle Kinder unterzubringen und zu unterrichten.
Wir trennten uns mit einem Händedruck, in der Gewißheit, einen Mann an der Grenze zu
wiſſen, der an ſeinem Platz ſeine Pflicht tat, in der großen Arbeits- und Lebensgemeinſchaft
eines Volkes.
Hell lachte die Sonne nach, denn es waren Junitage, und lange ſtand das ſtrahlende Geſtirn
am Himmel. Ein wunderbarer Tannenwald nahm uns auf, und über durchweichte Wege, die
mehr Sießbächen glichen, zogen wir wieder einige hundert Meter bergauf.
Auf der Spitze des Berges ſtand ein einſtöckiges, aus rohen Stämmen gezimmertes Haus.
Schon von weitem tönten uns luſtige Melodien entgegen. Ehe wir noch die Tür des Hauſes
erreicht hatten, brach die Muſik ab, und Arm in Arm traten in ſonntäglicher Tracht Bauern-
burſchen und Dirnen heraus. Nach kurzem Willkomm traten wir ein.
Eine beſondere Überraſchung wartete unſer.
Von jenſeits der Grenze waren Gäſte gekommen, treudeutſche Stammesgenoſſen, denen
ein feindliches Diktat die Zuſammengehörigkeit mit ihrem Volk und ihrer Heimat verbot.
Auf heimlichen Wegen durch die dichten Tannen und unter dem Dunkel der Nacht hatten
fie die Srenzwache umgangen, um ſich mit ihren ſtammes verwandten Freunden im ſicheren
Schutz des Grenzwirtshauſes hier oben am Pfingſtſonntage zu treffen.
Männer harter Arbeit, Leute aus Induſtrie und Handel, Vertreter des Volkes in Stadt-
und Landtag, Reichsdeutſche und Deutſch-Oſterreicher und die Muß- Angehörigen eines fremden
Staates, zufällig alle beieinander.
Und nun hörte man alle die Leiden um das Volkstum unter fremder Gewalt aus dem eigenen
Munde der Betroffenen. Leiden, die viel tauſendmal ſchlimmer waren, als fie je die Mär der
Zeitungen uns brachte. Herzliche Worte banden neu die alte Stammesverwandtſchaft. Tiefes
Mitfühlen und Miterleben gab gegenfeitig neue Kräfte. Man beſprach neue Pläne, während
roſiger Silcherwaſſergemiſch die trockene Kehle feuchtete, beredete hin und her. Über allem
ſtand der eine Wunſch und die eine Hoffnung auf den kommenden Tag.
Trotz des langen Tages wollte die Sonne doch zur Neige gehen, ſchon war ihr Strahl leicht
gelber getönt, und wir hatten noch einen weiten Weg vor uns.
Nirgends iſt uns die Trennung ſo ſchwer geworden wie hier.
Oie Jüngſten wollten nicht laſſen voneinander im wirbelnden Tanz, und die Alteren waren
warm geworden beim Geſpräch um Rampf und Leben für Volk und eigenes Daſein. Lang und
immer neu war das Händeſchuͤtteln. Immer wieder klang ein Lied von uns zu ihnen und von
ihnen zu uns, als ſchon Hunderte von Schritten uns trennten. Immer noch band ein Zodler
wieder die Scheidenden, bis der letzte Zauchzer echolos verhallte und die Strahlen der Sonne
ſchon ein lichtes Orange bekommen hatten. Und dann im Geſchwindmarſch zur Station.
In verſchloſſenem Wagen durch den Korridor ehemals deutſchen, nun fremden Landes.
Gebannt in dem Raum des Wagens, beaufſichtigt von den rotgezierten Legionären des fremden
Volkes. Eine Stunde, gefüllt mit langem Geplauder über den tiefen Ernſt des Erlebten. Und
dann winkten die deutſchen Alpen wieder und gaben eine ruhige Nacht in ihrem Schutz und
Tage tiefen Nachdenkens über die Not der Grenze ... taufend Meter hoch, unter ſternenklarem
Himmel.
PUIMAIUYIS pio JOOW we uaydızg
— See eee eee — ee ee eee —
Deutfche Grengdaueen 513
Die Grenzſteine lagen tief verborgen unter dem Schnee, und man wußte nicht, ob man die
Grenze des deutſchen Staates ſchon verlaſſen hatte.
Da tauchte in der Dämmerung des frühen Winterabends, kaum erkennbar in dem hohen
Schnee und der veränderten Geſtalt, die Baude auf.
Schnell die Bretter von den Füßen, die Windjacke vom Schnee befreit, die Bretter verſtaut,
dann hinein in die wärmende Gaſtſtube.
Eine ſtattliche Anzahl von Gäften war um die Tiſche verſammelt. Der Wirt drüdte die Hände
der Altbekannten. Aus dem zahnloſen Mund des Alten kamen nur wenige Worte des Dankes,
aber um ſo herzlicher war der Oruck ſeiner Haͤnde.
Wohl tat die Wärme nach dieſen Stunden durch Eis und Schnee.
Das Geſicht brannte wie Feuer, nachdem es die Eisnadeln zerpickt und gepeinigt hatten.
Nie hat die Erbſenſuppe ſo gut geſchmeckt wie an dieſem Abend. Und während alles, um die
Tiſche ſitzend, munter plauderte und aß, kamen immer neue Gäſte in die Stube hinein, mit blin-
zelnden Augen aus der Dämmerung, ſich langſam an das Licht gewöhnend, am warmen Ofen
ſich auftauend, um dann irgendwo einen freien Stuhl im Kreiſe von Bekannten und Freunden
zu finden.
An dieſer Stätte feierte man ſeit Jahr und Tag deutſche Silveſter, deutſche Lieder erklangen,
deutſche Reden wurden gehalten.
Nicht alles waren deutſche Laute, die man heute hörte.
Von zwei Tiſchen klangen monotone Laute im ſcharfen Rhythmus, etwas melancholiſch und
unverftändlich für uns in Melodie und Laut.
Unruhe entſtand an den deutſchen Tiſchen. Es ging einer von Tiſch zu Tiſch, nachdem er mit
dem Wirt geſprochen. Man ſagte ſich etwas leiſe, man gab ſich die Hände und verſtand. „Was
ſagt man?“ fragte es auch an unſerem Tiſch.
Es kann heute nichts fein mit der deutſchen Feier, obwohl fie alle da waren, die Gäfte vom
Reich und von den Grenzgebieten, die Unbefreiten und die Öfterreicher, vom Weſten, Often,
vom Süden und Norden, alle Stämme vereint.
Die feindliche Macht hat dem Wirt bei Strafe der Enteignung verboten, daß eine deutſche
Feier ſtattfand.
Es dürften keine Reden gehalten werden, nur Lieder dürften wir fingen, und er bäte uns
um Himmelswillen, jeden Streit zu vermeiden, denn die Aufpaſſer von der Grenze ſeien da.
Nun wußten wir Beſcheid.
Großgewachſene, ſchöne junge Menſchen aus deutſchen Turnbünden und deutſchen Univer-
ſitäten, alte Herren und junge Mädchen füllten den Saal.
Frohe Burſchen- und Turnerlieder erklangen, dann ab und zu wieder ein Lied der Weihnacht,
der ſtillen ernſten Zeit, ein Lied voll Schmerz und Trauer.
Und in den Pauſen klang laut, doch ſchwach begleitet, der Tſchechen Sang von den zwei
Aſchen durch den Raum
Kein Wort erklang dagegen. Gebändigte Kraft jagen Deutſchlands Jungmannen dabei.
Und dann nahte die Mitternachtsſtunde.
Die Kerzen des Weihnachtsbaumes leuchteten in fladerndem Glanz hell auf. Der Zither-
ſpieler hatte die luſtigen Weiſen vertauſcht mit ernſten Klängen, und das tiefe, ſtille heilige
Lied der Weihnacht durchklang, von ehrfurchtbebenden Lippen geſungen, durch den Raum.
Es war, als ob eine Spannung über allen lag, die ſich nicht löſen konnte und nicht löfen wollte
in der üblichen Weiſe der Silveſterfreude.
Mitternacht war vorbei.
Kein tſchechiſches Lied ertönte mehr. Die Tiſche waren leer geworden, von denen man
aufgepaßt hatte. Frei war der Raum, frei war die Luft, und nun klangen mit Stimmen-
gewalt, daß das Licht der Rerzen am Baum wild aufflackerte, klangen alle die e
Der Türmer X XVIII, 6
514 Germanentum und Aderbau
Vaterlandslieder, alle die Lieder von Volkesmut und Heimatſorge aus freigewordenen feffel-
tragenden Brüften in den Raum, drangen hinauf durch die geöffneten Pforten in die Neu-
jahrsnacht.
Es war ein Fühlen, daß dieſe Stunden über Mitternacht die Schar dort oben verband. Und
die Tränen traten dem Alten in die Augen, der die dritte Generation ſeines Stammes war,
die in dieſer Höhe lebten.
Ach, wie ſchwer war es ihm geworden, das Gebot zu halten. Doch ſollte er Weib und Kind
und ſich von der Scholle verbannen, auf der Vater, Großvater und Urgroßvater groß geworden
waren ?
Es war 5 Uhr morgens, daß wir drei nod Übriggebliebenen an dem warmen Herd in der
Küche zuſammen ſaßen und plauderten, plauderten über Völker- und Menſchenſchickſale.
Wer ahnt von denen im Flachlande, was Schickſal für den Mann in den Bergen bedeutet.
Tauſende von Metern weit von den anderen bewohnten Gebäuden, tagelang abgeſchnitten
von aller Welt, ausgeliefert den elementaren Mächten der Natur. Ergreifend war es, wie er
von dem Schneeſturm erzählte vor 30 Jahren, wie man den Spuren nachlief eines verloren
gegangenen Menſchen, wie 2 Pferde erfroren, wie der Bruder auf der Suche nach Hilfe für
einen Verirrten ſelbſt den Fuß erfror und zeitlebens Rrüppel wurde. Hier konnte man von
Schickſalen ſprechen. Hier waren Geſchicke erlebt. Hier wo man Menſchenleben fo ſchwer er-
kämpfte, da verſtand und fühlte man inniger und bewußter den Kampf um das Los eines
Volkes. |
Hier verband fid das harte Ringen um das Leben mit dem ſchweren Grenzſchickſal eines um
ſein Recht betrogenen Volkes.
„So iſt das Leben und Leiden an Oeutſchlands jetzigen Grenzen.“
Germanentum und Ackerbau
m Anſchluß an die beiden Aufſätze: Religion und Raſſe von Karl Bleibtreu ſowie die Er-
widerung von Wilhelm Emil Mühlmann im Oktober und Februarheft des Türmers mochte
ich auf die Arbeiten von Dr. R. Braungart, Profeſſor der Landwirtſchaft, hier hinweiſen, be-
ſonders, weil in dieſen Tagen (leider gekürzt) deſſen letztes Werk: Die Nordgermanen bei
Carl Winters Univerſitätsbuchhandlung, Heidelberg, überarbeitet von Geheimrat Profeſſor
Dr. Dettweiler (Univerfität Roſtock) erfchienen ijt. Bis auf Fachkreiſe iſt wenig über bie Arbeiten
und die Perſönlichkeit Braungarts bekannt. Nur einmal, vor bald fünfundzwanzig Jahren, ging
ſein Name durch alle Zeitungen, als eins ſeiner hervorragenden kulturhiſtoriſchen Werke: Der
Hopfen und die Brauerei in Geſchichte und Sprache (München bei R. Oldenbourg, 1901) auf
Gerichtsbeſchluß eingeſtampft werden mußte, weil Braungart ſich in dieſer Arbeit hatte hin-
reißen laſſen, ſich mit einer führenden Perſönlichkeit aus dem Brauereigewerbe auseinander-
zuſetzen, ſtatt die Zeitung hierzu zu benutzen.
Braungart wurde am 4. Dezember 1839 in Bad Kiſſingen geboren, beſuchte die Latein und
Realſchule zu Würzburg und hernach die landwirtſchaftliche Zentralſchule Weihenſtephan-Frei⸗-
ſing (heute landwirtſchaftliche Hochſchule); war hierauf mehrere Jahre in Böhmen auf den
Gütern des Grafen Thun-Hohenſtein und anderen tätig, wirkte hier zuletzt als Dozent für
Bodenkultur in Liebwerd Tetſchen und kam 1865 wieder als Direktorialaſſiſtent nach Weihen;
ſtephan-Freiſing. Am 1. Januar 1869 wurde er daſelbſt zum Profeſſor der Bodenkunde, all
gemeinen und ſpeziellen Pflanzenbaulehre und des landwirtſchaftlichen Maſchinen - und Geräte-
weſens ernannt. Zu dieſer Zeit breiteten ſich in unmittelbarer Nähe von Weihenſtephan gegen
Weſten auf der Münchener Hochebene noch in vielen hunderten von Hektar die ſtaunenswerten
Germanentum und Aderbau 515
Spuren ſehr breiter, langer, hochgewölbter, mit Gras und Wald bededter, wahrſcheinlich uralter
Aderbeete aus. Heute find fie zum größten Teil, darunter die ausgeprägteften, niedergepflügt.
In den ſiebziger Jahren wogte gerade wieder einmal der Streit der Meinungen, ob dieſe
merkwürdigen, jedem auffallenden, offenbar vorgeſchichtlichen Spuren eines hochentwickelten
Acker baues von den alten vorgeſchichtlichen Germanen herrühren könnten. Braungart, der
großen Anteil an der Klärung dieſer Frage nahm und fie gewiſſermaßen als Lebensaufgabe
betrachtete, ſchlug nun den Weg ein, zunächſt die Grundſätze, die zu der Anlage folder Hoch;
äderbeete führen konnten, klarzulegen, um dann an der Hand vergleichender Gelaͤndeforſchungen
— aud bei Nancy, Jever, Barby, in Belgien, Dänemark, Oſterreich, England und Spanien,
wahrſcheinlich auch noch anderwärts befinden oder befanden ſich ſolche Hochäderfelder — das
Volk, das fie angelegt und auch bebaut hat, zu ergründen. Dieſer Weg führte naturgemäß zur
Erforſchung der Entwicklungsgeſchichte der verſchiedenen Ackergeräte und Gebräuche bei der
Ackerbeſtellung der einzelnen Volksſtämme. Es war dies ein ſchwieriges Beginnen, da weder in
der alten noch neueren Literatur auf dieſem Gebiete vorgearbeitet war und die Beweisſtuͤcke
auf zwei, eigentlich drei Erdteile zerſtreut lagen, dazu noch in ſchnellem Verſchwinden, da Eifen-
bahn, Handel und Induſtrie unter den alten Geräten und Gebräuchen immer mehr und mehr
aufrdumten und moderne Induſtrieerzeugniſſe an deren Platz ſtellten.
Außerordentliche Beharrlichkeit, nie erlahmende Geduld, verbunden mit einer großen Sach-
kenntnis und einem ſehr ſicheren Blick für das, was wertvoll, eine hervorragende Rombinations-
gabe und dazu die rechte deutſche Gruͤndlichkeit, getragen von einer ſtets opferbereiten Liebe zur
Sache: haben R. Braungart in gut fünfzigjähriger Forſchungsarbeit eine Materialſammlung
ſchaffen, Tatſachen aufdecken und mit Irrtümern aufräumen laſſen, die von größtem Wert für
die Erforſchung der germaniſchen Frühzeit bleiben werden. Niedergelegt ſind die Ergebniſſe
feiner Arbeiten vor allem in dem 1881 erſchienenen und ſchon lange vergriffenen Werke: „Die
Adergeräte in ihren praktiſchen Beziehungen wie nach ihrer urgeſchichtlichen, ethnographiſchen
Bedeutung“, mit Atlas und 48 Tafeln. Dann folgten 1912 und 1914: „Die Urheimat der Land-
wirtſchaft aller indogermaniſchen Völker“ und „Die Südgermanen“. Das Werk „Die Nord-
germanen“ fand ſich bei ſeinem Tode 1916 für den Oruck fertig vor.
In dem Werk: Die Adergerdte, kommt Braungart unter Beibringung eines gewaltigen Tat-
ſachen materials zu dem Ergebnis, daß Mitteleuropa die Wiege des Ackerbaues geweſen iſt. Hier
wurde aus den verſchiedenen Handgeräten, wie Hacke, Schaufel, Spaten, Grabgabel auf einem
verhältnismäßig kleinen Raum der Pflug in einer Mannigfaltigkeit ausgebildet, wie ſie ſonſt
kein Land der Erde aufzuweiſen hat und dazu in einer Zweckmäßigkeit und Anpaſſung an Boden
und Kulturart, die den Kundigen in Staunen ſetzen muß. Die einzelnen Pflugtypen, die in ihren
primitivſten Formen über ganz Südeuropa und über das weſtliche und ſuͤdliche Alien zerſtreut
ſind und teilweiſe heute noch in der Hand der Bauern dort vorkommen, finden ſich bei uns in
Mitteleuropa nur noch foſſil im Schoß der Erde, in der Hand der Bauern nur noch in ſchwachen,
dem kundigen und geübteſten Auge erkennbaren Spuren.
Nach Braungart konnten jo zweckmäßig konſtruierte Adergeräte, wie fie von Mitteleuropa
aus verbreitet worden ſind (man denke nur an den Keilpflug, der durch kein anderes Prinzip
hat erſetzt werden können, weil keines ſich, was Einfachheit, geringe Zugkraft, leichte Hand-
babung uſw. betrifft, mit ihm meſſen kann, auch der moderne Dampf- wie auch Motorpflug
beruht auf demſelben Prinzip), nur von Menſchen erfunden und gebaut werden, die mit Leib
und Seele dem Ackerbau zugetan und keine Säufer und Nichtstuer waren, die den ganzen Tag
auf der Bärenhaut lagen, wie noch heute in Geſchichtsbüchern zu leſen iſt, ſondern ſehr fleißig
und ſeßhaft waren, wie jeder, der Ackerbau heute mit Erfolg betreiben will, es auch noch ſein muß.
In dem Werke „Die Urheimat der Landwirtſchaft“ vertieft Braungart dieſe Erkenntnis ſehr
gründlich und weiſt daneben vor allem nach, daß der Ackerbau der Germanen von Rom keine
Befruchtung empfangen hat, daß auch die Slawen, wie ſo vielfach geſchrieben, keinen Anteil an
516 Germanentum und Adabau
der Ausbildung verbefferter Aderbaumethoden gehabt haben, fondern alles, was fie befigen,
den Germanen, befonders den Oſtgoten, die mit den Alanen lange in Rußland ſeßhaft waren,
entlehnt haben. Gerade dieſem Kapitel ſind große Abſchnitte in dieſem umfangreichen Verke
gewidmet, und es iſt zu wünfchen, daß bei der Anmaßlichkeit der Polen und Tſchechen fie be
kannter wären.
Die Hauptſtärke dieſes wie auch der beiden ſpäteren Werke: Die Süd- und die (leider nicht
vollſtändig vorliegenden) Nordgermanen beruht aber darin, daß es Braungart unternommen hat,
an der Hand der in den verſchiedenen Gegenden vorkommenden ſpezifiſchen Adergeräte, jo vor
allem an den heut nur noch in der Erinnerung der alten Leute und in einzelnen Fällen wohl
auch auf den Böden noch vorhandenen Doppeljochen, den Eggenformen u. a. die Grenzen und
Wandergebiete der verſchiedenen germaniſchen Volksſtämme feſtzuſtellen. Die Adergeräte, die
bei den germaniſchen Volksſtämmen heilig gehalten wurden — auch heut behandelt man fie
auf dem Land mit ehrfurchtsvoller Scheu und das Fortnehmen oder Herausziehen eines in der
Furche ſtehen gebliebenen Pfluges gilt als ein fluchwürdiges Vergehen — haben fic in ihrer
Urſprünglichkeit bis zu der Zeit, wo die Eiſenbahnen ihren Siegeslauf über die Welt antraten,
beſſer erhalten als Sprache und Wort, die bisher in erſter Linie für derartige Forſchungen
herangezogen wurden. Braungart ſchreibt an einer Stelle: ,Ourdh Studium der Orts-, Per-
fonen-, Berg- und Flußnamen iſt hier (es handelt ſich ums Donautal) in die verworrenen Der-
hältniſſe keine Ordnung ohne Veridjidtigung der Geräte uſw. zu bringen. Die Slawen haben
überall in der Regel alle ſprachliche Erinnerungen voraufgegangener Bevölkerungen rüdfichts-
los beſeitigt, und obwohl fie leicht fremde Sprachen lernen, ihre eigene überall mit ſolcher Zähig-
keit feſtgehalten, daß fie ganze Volker flawifiert haben. Gerade im Süden der Oſtmark gibt es
ganze Gebiete, wo alles, Feldanlage, die Adergeräte, der Hausbau uſw. urdeutſch find, ſelbſt
viele Perſonennamen, aber die Bevölkerung ſpricht und denkt ſloweniſch. Es iſt bekannt, daß
die tſchechiſchen Slawen in der Huſſitenzeit alle deutſchen Ortsnamen bis an die Grenze aus-
loͤſchten und tſchechiſche an ihre Stelle ſetzten. Die Deutſchen haben aber trotz ihrer kulturellen
Aber legenheit von jeher jeden fremden Namen feſtgehalten, höchſtens ihn etwas mundgerecht
gemacht. Ja fie haben ſich ſogar ſlawiſche Perſonen- und Familiennamen gegeben.“ Man muß
heute dem voll beipflichten. nachdem der Weltkrieg getobt und den wahren Charakter der einzelnen
Völker ungeſchminkt gezeigt hat.
Wie ſtehen nun die Ergebniſſe Braungarts zu den Ausführungen in den beiden Aufſätzen Re-
ligion und Raſſe? Sunddft iſt Braungart der Anſicht, daß der Menſch aus der Piozärzeit ſtammt,
denn alle Verſuche, ein wildes Vorkommen von Weizen und Gerſte namentlich in Aſien zu finden,
find ergebnislos geblieben, da es ſich bei den entdeckten Arten hoͤchſtwahrſcheinlich um Kultur;
flüchtlinge handelt. Weizen und Gerſte machen vielmehr den Eindruck obertertiärer Arten, die
nur durch die Hand des Menſchen über die Eiszeit hinweg erhalten geblieben ſein können; und
Braungart ſchließt daraus, daß dieſe Menſchen, die uns dies durch enorme Zeitabschnitte auf
bewahrten, keine Übergangsmenfchen, ſondern Leute mit Geiſt waren. Menſchen, die, wenn
auch in primitiver Form, vielleicht nur mit Handgerdten ſchon Ackerbau da trieben, wo die Natur
nicht verſchwenderiſch ihre Gaben ohne heißes Mühen und Streben als Ernteſegen hergibt —
und das iſt in den Hochländern. Hier werden wohl auch zuerſt Tiere mit dem ausſchließlichen
Zweck, fie zur Verrichtung von Arbeitsleiſtungen zur Verbeſſerung der Lebensführung zu ver-
wenden, gezähmt worden ſein. War das Tier aber erſt mit in die Menſchenfamilie aufgenommen,
fo ergibt ſich nach meiner Überzeugung daraus zunächſt eine noch beſſere Verteilung in den Ver;
richtungen bei der Feldwirtſchaft, ſo daß Mann und Frau gegenſeitig noch mehr aufeinander in
einem Maße angewieſen waren, das ihren Wert immer mehr ausglich und fie auch körperlich
dementſprechend ſich entwickeln ließ. Ihre Intereſſen waren in folder Semeinſchaft derart mit
einander verknuͤpft, daß fie ſich als eins fühlten, danach handelten und auch vollftändig ineinander
zu einer Einheit einlebten.
Germanennun und Ackerbau 517
Nach den Forſchungen Braungarts unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß von den Ariern
die germaniſchen Stämme, von den Sraniern das Aveſtavolk, die Meder, alten Perſer und
Oſſeten — fie haben untereinander auch außerordentlich viel Berührungspunkte — reine Acker-
bauer waren. Beide führten den Ackerbau zu ſtaunenerregender Höhe. Dieſe, indem fie außer-
ordentlich zweckmäßige und den Bodenverhältniffen und Kulturarten angepaßt verſchi eden
artige Geräte ſchufen, jene, indem fie das Land aufs trefflichſte be- bzw. entwaͤſſerten. „Schöpfer
der Rörperwelt, du heiliger“, fo heißt es in der Zentaveſta, „Wo wird zum dritten die Erde am
meiſten erfreut? Wo man am meiſten, o Sohn des Spitama, Zarathuſtra, Getreide erzeuget und
Gras und fruchttragende Bäume, wo man dürres Land in bewaͤſſertes verwandelt und Sumpf
in trocknes Land!“ Da fie auch Obſtbau hatten, fo mußten fie ſeßhaft fein, denn diefer geht nur
auf weite Sicht zu treiben. Was der Vater pflanzt, davon hat oft erſt der Enkel den vollen Nutzen.
Dah Arier und Franier ein und derſelben Erde entſtammen, hat die Sprachwiſſenſchaft ein-
wandfrei nachgewieſen, daß fie von den Stammvätern der Germanenſtämme aber ſchon im
Neolithikum ſich getrennt haben müffen, dafür führt Braungart die Pfluggerätegleihheit nämlich
zwiſchen dem Fund bei Papau (Thorn), ODoftrup (Dänemark) und Oobergatz (Berlin) und den
heut noch vielerorts in Indien, Perſien und in dem Kaukaſus gebrauchten Pflügen und Anfpann-
geräten an. Fragt man, wie es kommt, daß gerade bei den einzelnen Stämmen der Sranier —
Braungart weift erſchöͤpfend nach, daß dieſe auch rein nichts von den Kuſchiten (Babyloniern)
fowohl was die Geräte als auch die Feldwirtſchaft betrifft angenommen haben — dies Haupt-
adergerät fo urſpruͤnglich ſich erhalten hat, fo muß gunddft geſagt werden, daß das Schwer-
gewicht im Feldbau dort in der Bewäſſerung liegt. Iſt die Waſſerfrage gelöft, dann läßt die
Natur in dieſen Ländern es ganz von ſelbſt ohne angeftrerigte Ackerbearbeitung, wie fie bei uns
nötig iſt, wachſen. Pie Adergeräte zu verbeſſern, dafür lag eben kein Bedürfnis vor, und da man
ſie als von den Göttern empfangen anſah, ſo hielt auch fromme Scheu davon ab, etwas an ihnen
zu ändern.
Ebenſo wie die indiſchen Pflüge und Anſpannvorrichtungen iſt der Heſiodſche Pflug (900 vor
Chriftus) und der der Göttin Kora eine direkte Nachbildung von dem zu Ooſtrup und Papau.
Die Adder (Graeco- Romanen) miffen demnach in derſelben Periode wie die Sranier gewandert
ſein.
Einen Hauptteil feiner Forſchungen hat Braungart auch der Klärung der heut noch offenen
Frage über die Herkunft und Kultur der Kelten zugewandt. Trotz eifrigſten Mühen hat er nur
wenig an typiſchen Adergeräten, Feldbearbeitungsmethoden, Feldeinteilung feſtſtellen können.
Immer wieder führen gefundene Eigenheiten auf die Frühgermanen zurück. Braungart kommt
daher zuletzt zu dem Schluß, daß die Kelten ein ähnliches Zwiſchenglied wie die Litauer und
Letten zwiſchen den Slawen und Germanen, fo dieſe zwiſchen den Graeeo- Romanen und Ger-
manen darſtellen. Auch bei den Slawen ſelbſtändig entwickelten Ackerbau nachzuweiſen, iſt er;
gebnislos geblieben. Es mag dies erſtaunlich fein. Man muß aber berüͤckſichtigen, daß, als die
Slawen aller Stämme ſich vom tatariſchen, tuͤrkiſchen und mongoliſchen Joch befreiten und
ernſtlich anfingen, Ackerbau zu betreiben, fie in allen Ländern, in die ſie eindrangen, bereits
indogermaniſche und germaniſche Adergeräte vorfanden. Dann wird ein Hauptgrund auch mit
darin liegen, daß beſonders der ruſſiſche Bauer erft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hunderts von der Leibeigenſchaft, dieſer halben Sklaverei, befreit wurde. Ein Leibeigener bringt
keine Initiative auf, Adergeräte für beſſeren Feldbau zu erfinden, und der Grundherr, der ruf-
ſiſche Latifundienbeſitzer, kümmerte ſich früher ſicher gar nicht um die Geräte, mit welchen feine
Leibe genen feinen Grund und Boden beſtellten.
Überblidt man die Forſchungsergebniſſe Braungarts in ihrer Gefamtheit und ruft ſich all die
Gegenden und Volksſtämme ins Gedächtnis zurück, wo Germanen einmal nach den heut dort
gebrauchlichſten Adergeräten, Feldbaumethoden und der Feldeinteilung geſeſſen haben und von
den zugewanderten oder früher unterjochten Voͤlkerſchaften vollſtändig aufgeſogen fein müffen,
518 Deutidh-Sddtieol und wi:
fo überkommt einen bittere Wehmut. Denn gerade die Völkerſchaften, die ihr Beſtes dem Ger-
manentum in der Hauptſache verdanken, ſtehen heut in Feindſchaft gegen uns.
Die Vorliebe zum Ackerbau war den Ariern angeboren. Von den Germanen wird dutch
römiſche Schriftſteller immer wieder berichtet, daß fie von ihren Herzögen Land zum Bebauen
nach fiegreihen Zügen verlangten. Ebenſo lag das Gefühl in ihnen, daß in der Reinhaltung der
Sitten ihre Kraft und Zukunft ruht. Was beſagt es anders, wenn in dem älteften uns gebliebenen
indogermaniſchen Schriftwerk, in der Zentaveſta, fo oft mit Abſcheu davon gesprochen wird,
daß in den Häuſern der Mazdaverehrer Töchter ungläubiger Stämme als Dienerinnen und
Nebenweiber lebten. Die Frau war im iranischen Altertum — bei den vediſchen Indern, Ger-
manen und bei den Griechen des homeriſchen Zeitalters — dem Mann gleichberechtigt. Der
Mann ſah in dem Weib nicht allein die Gefährtin feines Lebens, ſondern noch mehr die Ergän-
zung ſeines Gefühllebens; das Weib im Manne den Erweder ber reinen keuſchen Weiblichkeit,
mit dem ſie innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit als Einheit erſtrebt. Dort, wo ſich dies
Verhaltnis bei den ariſchen Stämmen verſchoben, tritt, wie die Geſchichte jo eindringlich vor
Augen führt, immer bald Verfall ein. Im geſunden Verhältnis der Geſchlechter und in dem
Sinn für Natur, für Feldbau und Vieh offenbart ſich am erſten reines Ariertum.
Bleiben dieſe beiden als wirkſame Kräfte wach, dann bleibt auch Europa das Kulturzentrum
der Welt. Georg Schäfer
Deutſch⸗Südtirol und wir
er furchtbare Druck, der ſeit Übernahme der Regierungsgewalt in Rom durch den Fascio
auf Südtirol laſtet, mußte im geſamten deutſchen Volke einen um fo größeren Gegen;
druck hervorrufen, als es ſich um urdeutſchen Volksboden handelt, der, vom Zauber des Südens
umſponnen, jedem Deutſchen ganz beſonders am Herzen liegt, möge er an der Waſſerkante
feine Heimat haben, am Rheine, an der polniſchen Grenze oder in den Alpen ländern.
Der nunmehr von vaterländifchen Verbänden im Reiche und in Oſterreich ausgehende Ver
ruf Staliens und feiner Erzeugniſſe für deutſche Reiſende und Bezieher ſtellt den Gradmeſſer
für die völkiſche Not dar, die Italien über unſeren wehrloſen ſüͤdlichſten Vorpoſten und deſſen
Heimat gebracht hat, von der es mit den Waffen in der Hand nicht einen Quadratzoll zu erobern
imftande war. Der Südtiroler Abgeordnete Dr. Reut-Nicoluſſi hatte in der denkwürdigen
Sitzung vom 6. September 1919, in der der öſterreichiſche Nationalrat den Staatsvertrag von
St. Germain genehmigte, in einer ergreifenden Abſchiedsrede von einem „entfeglihen Ringen“
geſprochen, das nun für die der italieniſchen Staatshoheit überantworteten Deutfchen anheben
würde. Er hat mit feiner Prophezeiung recht behalten.
Anfänglich kam wohl die welſche Herrſchaft ihren neuen Staatsgenoſſen deutſcher Zunge
halbwegs entgegen; dieſe Zeit, in der die Brennerdeutſchen durch Rom ſogar eine beſſere
Behandlung erfuhren, als unſere übrigen durch die Willkür der Friedensbeſtimmungen anderen
Fremdſtaaten angegliederten Volksgenoſſen, war kurz und bald dahin. Das Erwachen war
um fo grauſamer, als ſich ja immerhin breite Kreiſe Südtirols durch die bei der Übernahme
des Landes erfolgten und vielfach wiederholten Zuſagen des offiziellen Italiens in der Hoff-
nung wiegen ließen, daß die fremde Regierung ihre deutſche Väterart und Mutterſprache
achten werde.
Noch heute verkünden an den Wänden der Häuſer und in den Torbögen Bozens und anderer
Orte Südtirols Refte des Manifeſtes des italieniſchen Generalleutnants Pecori-Giraldi vom
18. November 1918 das Verſprechen der römiſchen Regierung, den deutſchen Güdtirolem
„die eigenen Schulen, die eigenen Einrichtungen und Vereine zu erhalten“. Alle weiteren
Oeutſch · Südtirol und wir 519
Kundgebungen waren auf diefen Ton geſtimmt, mit dem ſich das neue Regiment im Spät
herbſte 1918 in Tirol eingeführt hatte.
Vor allem verſicherten aber die in der Thronrede vom 1. Dezember 1919 gefallenen Worte
des Rönigs auch Suͤdtirol des Entſchluſſes des durch feine freiheitlichen Traditionen gewieſenen
Staliens, die lokalen und autonomen Einrichtungen und Gebräuche in den neuen Provinzen
beſtens zu beobachten. .
Alle dieſe Zuſicherungen find zerflattert im Winde; ärgeres Leid iſt über Südtirol getom-
men, als es felbft die Schwarzſeher für möglich gehalten hätten. Auch diesmal hat es fic er-
wieſen: Stalien hält feine Verſprechungen nicht. Weh demjenigen, der ihm Glauben
ſchenkt!
Das Ziel der gegenwärtigen Regierung iſt fraglos die völlige Unterdrückung des Deutſch⸗
tums in Südtirol. Die deutſche Sprache ſoll mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden in den
Talern der Etſch, des Eiſaks und der Rienz, die unſere bajuwariſchen Vorfahren vor mehr als
1200 Jahren befiedelt und beſittet hatten. Nur derjenige Deutſche ſoll auf feinem Südtiroler
Heimatboden ruhig leben dürfen, der ſich dem Entnationaliſierungsprogramm fügt, das mit
ſchrankenloſer Willkür durchgeführt wird. Die ſeitens Salandras im Sommer 1923 in der
rdmifden Kammer gefallenen Worte, „im Nationalftaate Italien beſtünden, juridifch geſprochen,
auf Grundlage der Verträge keine andersſprachigen Minderheiten“, ſollen wohl die Rechts-
grundlage für das barbariſche Vorgehen der heutigen italieniſchen Gewalthaber abgeben. Darf
man ſich daraufhin überhaupt noch über die Erwiderung des Unterrichtsminiſters Caſati auf
die Beſchwerde unſerer deutſchen Abgeordneten am Monte Citorio bezüglich der Unterdrückung
des deutſchen Schulweſens in Südtirol wundern? Nach Caſati „verfolgten die gegenjtänd-
lichen Verfügungen nur den Zweck, die Deutſchen zu entnationaliſieren“! Oieſe offenen Worte
bekräftigten nur das ſchon früher erfolgte zyniſche Eingeſtändnis eines hohen italieniſchen Ver-
waltungsbeamten: „Italien braucht keine deutſche Schulen, denn es braucht keine Deutſchen!“
Schon heute iſt das Land Walthers von der Vogelweide von deutſchen Schulen ſo viel wie
gefäubert. Die italieniſche Zwan gsſchule iſt das Hauptinſtrument, mittels welchen das Deutſch⸗
tum Südtirols ausgemerzt werden ſoll. Die italieniſche Schule muß — koſte es, was es koſte —
aus dem deutſchen Barbarenkinde einen nicht nur italieniſch ſprechenden, ſondern auch ita-
lieniſch fühlenden Kulturträger machen. Die Erfahrungen der bisherigen italieniſchen Schul-
jahre ſüdlich des Brenners find erſchreckend. Wie ſollen auch unſere Kinder von einem Unter-
richt irgendeinen Nutzen ziehen, der ihnen von Lehrern erteilt wird, die ſich ihnen ja nicht ein;
mal verſtändlich machen können? Die chaotiſchen Verhältniſſe auf dieſem Gebiete werden
draſtiſch durch folgende Tatſache gekennzeichnet. In einer deutſchen Landgemeinde wußte einer
der beſten Schüler am Ende des erſten Jahrganges nicht, ob 5 mehr ſei als 10 oder umgekehrt.
„Porco tedesco“ iſt der Lieblingsausdruck, mit dem der welſche Lehrer feine deutſchen Schüler
bezeichnet. Wäre die Sache nicht fo traurig, jo müßte man über dieſen Koſenamen gerade für
deutſche Kinder, die es an Reinlichkeit wohl mit den italieniſchen aufnehmen können, nur
lächeln.
Die Unterdrückung der deutſchen Sprache in den Amtern, ihre Zurückdrängung im gefamten
öffentlichen Leben Südtirols iſt bekannt. Vor kurzem erfolgte ſogar das Verbot an die füdlich
des Brenners noch geduldeten wenigen deutſchen oder der deutſchen Sprache mächtigen Richter,
Rechtsbelehrungen an die ihr Recht ſuchenden Deutſchen in deutſcher Sprache zu erteilen!
In einem Staate, der von heute auf morgen alle Namen, die an Tirol erinnern, wie „Süd-
tirol“, „Tiroler“ uſw., abſchafft und deren Gebrauch unter Sanktion der Strafgeſetze ſtellt, wie
es der allgewaltige Präfekt von Trient unter dem 7. Auguſt 1923 dekretierte, iſt eben alles
möglich.
Erinnerungen an alte, langverklungene Zeiten der Barbarei tauchen in uns auf, wenn wir das
gegenwärtige Schalten und Walten auch des offiziellen Italiens in den geſegneten Tälern
520 Seutſch Sũdtirol und wi
der Etſch, des Eiſacks und der Rienz beobachten. Daß in ſolchen von den Behöoͤrden ſelbſt be-
günftigten Verhältniffen ſich Gewalttaten Privater gegen deutſche Perſonen und deutſches
Eigentum häufen und — was das Traurigſte ift — faſt immer ungeſühnt bleiben, iſt nicht ver
wunderlich. Der Brennerdeutſche iſt der Willkür des erftbeiten Vertreters des Staats volles
ausgeliefert. Er iſt insbeſondere für die welſchtiroler Irredentiſten um Senator Tolomei herum
ein Objekt, an dem man ſich fein Mütchen kühlen und feinen eingefleiſchten Haß gegen alles,
was deutſch iſt, ungehemmt ftillen kann.
k. Vor kurzem erklang eines ſchönen Abends — wie fo oft — in einer Bozener Gaſtwirtſchaft
heller Zitherklang, der die bekannten Worte begleitete: „Tirol iſch lei van’s, iſch a Landl a
tloan’s, iſch a ſchian's, iſch a fein's und das Landl iſch meins!“ Weiter kam der Sänger nicht.
Von einem wuchtigen Hiebe eines zugereiſten Welſchen getroffen, ſinkt er zu Boden. Man
kennt den Verbrecher gut: er iſt der Mann, der im Jahre 1924 den greifen Altbürgermeifter
Perathoner angefallen und mißhandelt hatte.
Ein anderes Mal ſchloß in Kaſelrut ein italieniſcher Sommergaſt den dortigen Kirchturm
ab, deſſen Inneres der Türmer Tirler ſoeben einigen Damen zeigte. Als der mit Hilfe von
Nachbarn endlich wieder befreite Tiroler dem welſchen Tãter ſeinen Mutwillen vorhielt, wurde
er von dieſem mit einem Stocke derartig hergerichtet, daß er alſogleich in ärztliche Behandlung
abgegeben werden mußte. Als die Frau des Verletzten daraufhin den Helden jammernd zur
Rede ſtellte, bekam ſie nur die Worte an den Kopf geſchleudert: „Packe dich, wenn du nicht
erſchlagen werden willſt; ich vertrage deutſche Fratzen nicht!“ Unſere Geſichter, unſer
Außeres ſcheinen es den heutigen Stalienern überhaupt angetan zu haben. Hat doch ſelbſt ihr
von Größenwahn überquellender Führer Muffolini in einer der letzten Rammerſitzungen uns
die Ehre angetan, ſich mit dem Ausſehen der deutſchen Stalienfahrer zu befddftigen ...
Die angeführten Vorfälle genügen wohl zur Beleuchtung der grenzenloſen völkiſchen Not,
die gegenwärtig in Südtirol herrſcht und das frühere deutſche Paradies feinen unglücklichen
Bewohnern zur Hölle gemacht hat.
Lange genug hat ſich das deutſche Volk, deſſen Ehre durch die jedes Rechtsempfinden tief
verletzende Mißhandlung feiner Brüder am Suͤdabhange der Alpen ſchwerſtens getroffen iſt,
auf Worte beſchränkt und immer wieder Stalien ins Gewiſſen geredet, Südtirol gegenüber
von einer Politik abzulaſſen, die ihm von keinerlei Nutzen ſein kann.
Alle unfere freundſchaftlichen Verſuche, unſere ſüdlichen Nachbarn zur Beſinnung zu bringen,
waren vergeblich. Die Not der Südtiroler ſchreit zum Himmel.
Und fo mußte es zum Stalienverruf kommen. Das deutſche Volk erwacht aus der Ofn-
macht, die der Zuſammenbruch und ſeine Auswirkungen über es gebracht hatten; es wird ſich
feiner Kraft wieder bewußt und damit auch feiner Pflicht, fie in die Wagſchale zu werfen zu-
gunften feiner Armſten, der Südtiroler. Es greift gezwungenermaßen zu den wirtſchaft⸗
lichen Waffen gegen Stalien, deſſen Volkswohlfahrt in hervorragendem Maße gerade vom
Zuſtrom deutſcher Reifender und von der Ausfuhr feiner Waren, insbeſondere feiner Natur-
erzeugniſſe, nach den deutſchen Landen abhängig iſt.
Saß München in der Abwehrbewegung des Gefamtvoltes gegen welſchen Größenwahn und
Mutwillen führen werde, war vorauszuſehen. Iſt es ja doch der ſüblichſte Splitter des
banerifdhen Stammes, der auf feinem kerndeutſchen Heimatboden auf Leben und Tod ringt,
und dem Hilfe gebracht werden muß. Ganz Tirol, von Kufſtein bis zur Salurnerklauſe, wird
Bayern die ihm geleiſtete Schützenhilfe niemals vergeſſen und dankt aus treuem deutſchen
Herzen allen deutſchen Stämmen für ihr offenes Einſtehen für feine heiligen Belange.
Anterſtaatsſekretär des Außern a. D. Pflügl (Wien)
Literatur,
Run
Ludwig Finckh
Zu feinem 50. Geburtstag am 21. März 1926
n einem der verſteckteſten Winkel des deutſchen Vaterlandes, ein paar Steinwiirfe von der
Grenze, lebt ein Mann, der wie wenige den Ehrennamen eines deutſchen Oichters verdient.
Sein Leben als Dichter und Menſch ſtand und ſteht unter dem einen funkelnden Stern: „Oeutſch⸗
and, ich muß dich lieben“. So beginnt eines feiner ſchönſten Gedichte.
Ich ſpreche von Ludwig Finckh. Er lebt und ſchafft in Gaienhofen, einem Ooͤrſchen am
Südweſtzipfel des Bodenſees, zwei Stunden von Radolfzell, der naächſten Bahnſtation; vom jen-
ſeitigen Ufer des ſchmalen Seearms grüßen die Berge des Schweizer Thurgaus herüber. Über
Ludwig Finckh möchte ich, den zufälligen Anlaß feines 50. Geburtstages nützend, zu allen
ſprechen, die nod altmodiſch genug find, ſtolz auf ihr Oeutſchtum zu fein (fo ſchwer einem das
auch oft die Zeitumftände machen), die ein paar volle Verſe immerhin noch höher werten als
eine Aktie, und die ſelbſt rein und demuͤtig genug find, um vor allem Ehrwürdigen die Kniee zu
beugen: vor Gott, Heimat, Natur, Weib. Und ich ſpreche über Ludwig Finckh beſonders gern
an dieſer Stelle: iſt doch der „Zürmer“ der berufene Hüter deutſcher Kultur und metaphyſiſcher
Werte.
Ludwig Finckh iſt ein unverfälſchter Schwabe und, was den Fall verſtärkt, ein Sohn der
alten Reichsſtadt Reutlingen. Wollte man für künftige Jahrhunderte Typen deutſcher Volks
ſtämme in Spiritus aufbewahren — als Vertreter urwidfigen Schwabentums nahme man
zweckmäßig einen Reutlinger! Finckh vereinigt alſo in ſich alle Vorzüge und liebenswürdigen
Schwachen der alemanniſchen Erzähler — es ſind die Vorzüge und Schwächen ſeines Stammes.
Er hat zu allererſt die beglüdende Erzählergabe an ſich, wie fie vom alten Hebel und feinem
„Schatzkäſtlein“ her ſich auf alle Alemannendichter vererbt zu haben ſcheint (G. Keller, Federer,
Schaffner; Bf. Kurz, Schieber, Supper, Schuſſen, Heffe); er hat das Eigenwillig-Knorrige
ſowohl wie das Verträumt-Beſinnliche ſchwäbiſcher Landſchaft, ſchwäbiſchen Volkes (gerade die
Vereinigung von ausgeſprochenen Gegenfdgen iſt ja Reiz und Stärke des Schwabentums); er
hat die bodenſtändige, kernhafte Geſinnung, die in der Heimatſcholle wurzelt, die körnige Sprache,
bei ihm oft lyriſch⸗ weich abgetint, aber immer faftig; er weiß Ernſt und Humor barock zu mifchen;
ſein epiſches Schifflein hat weltanſchaulichen Tiefgang und doch auch die Wimpel fröhlichen
Schnurrantentums gehißt. Das iſt die eine Seite. Auf der andern ſtellen wir feſt: die meiſt etwas
züͤgelloſe Führung der Handlung mit der Vorliebe fürs Epiſodiſche, den Mangel an „Rompofi-
tionstechnik“, der einem an ſich berechtigten Abſcheu des Schwaben vor allem übertriebenen
Aſthetizismus entſpringt, oft aber zu einer Vernachläſſigung der „Form“ führt. And ſo ſind
denn unter Findhs geſtaltender Hand keine weithin überragenden Kunſtwerke entſtanden (dazu
fehlt der Hintergrund künſtleriſcher Odmonie), aber warmherzige, tiefinnerliche Gebilde, die —
jeder volkserzieheriſch Tätige weiß das — meiſt tiefer ins Volk dringen und ihm beglüdendere
und erhebendere Werte vermitteln als manche Erzeugniſſe ſcheinbarer „Höhenkunſt“, die viel
vorausſetzen. Womit nicht gejagt fein foll, daß Finckhs Schaffen jener „Heimatkunſt“ zuzuzählen
fei, die ohne künftlerifche Iönſtinkte arbeitet. Echte Heimatkunſt dringt immer über ein Stammes-
gebiet hinaus.
Ich habe in den letzten Wochen alle Bücher Finckhs, mir faſt durchweg aus früheren Jahren
bekannt, noch einmal überleſen, um mich ganz in feine Art einzuleben. Und mußte feſtſtellen,
522 Ludwig Find
daß fie mich heute wie einft bewegten, obgleich doch wahrlich keine welterſchütternden Schickſale
in ihnen geſtaltet werden, obgleich der Kritiker manches auszuſetzen hätte. Und ich weiß mich
in dieſer Ergriffenheit mit Tauſenden anderer Leſer verbunden.
Nun: das Geheimnis der Finckhſchen Kunſt liegt einfach in ihrer ſchlichten Gediegenheit, ihrer
lebensechten Miſchung von handfeſter Realiſtik und phantaſievoller Romantik, ihrer bezaubern;
den Helligkeit. Denn ein Zug zur Idylle geht durch alle feine Bücher — und deshalb werden
fie von jenen abgelehnt, die nur in pathologiſchen Verſtiegenheiten und pſychoanalytiſcher
Seelenwüͤhlerei echte Kunſt ſehen. Kein Zweifel: Handlung und Geſtalten feiner Schöpfungen
ähneln ſich ſtark. Überall wird die Entwicklung eines Lebens gegeben, das von der ſchwäbiſchen
Heimat aus in die nähere oder fernere Fremde vorſtößt, um ſchließlich, in engerer oder weiterer
Kurve, wieder auf ſchwäbiſche Erde zurüdzufinden. Wege der äußeren und inneren Läuterung,
oft augenſcheinlich ſtark autobiographiſch beſtimmt, werden aufgezeigt, das „Hörner-Abſtoßen“
junger Menſchen wird uns anſchaulich vorgeführt: ihr Ringen um das Glüd oder was fie dafür
halten, ihre Sehnſüchte nach Weltweite und Weltbeglückung und Weltweisheit, ihre Stationen
auf dem Ralvarienberg der Liebe, ihr Leiden und Siegen und Verzichten. Kurz: Bildungs und
Erziehungsromane im kleinen ſtellen ſeine Geſchichten dar. Denn „Romane“ ſind's eigentlich
nicht (und der Dichter vermeidet dieſe Bezeichnung auch auf allen Titelblättern) — zuviel lyriſche
Töne ſchwingen mit, zu locker gefügt iſt das Gerüſt des Aufbaus, zu viel Anekdotiſches ſpielt
herein.
Da iſt der Lehrersſohn im „Roſendoktor“, erſt Zurijt, dann Arzt geworden, weil er ein
Sucher nach dem in der Welt der Formeln und Paragraphen verſchuͤtteten wahren und ſchöͤnen
Menſchentum iſt, im Grunde ein Dichter und darum letzten Endes einſam. Da iſt der Genkinger
Wirtsſohn Auguſt Reiff in der „Reiſe nach Tripstrill“, den die ſchwäbiſche Wanderluſt in die
Welt treibt, der durch allerlei Landſchaften und Berufe zieht, bis nach Algerien hinein und von
da zurück zur verloren geglaubten Braut, mit der er am Geſtade des Schwäbiſchen Meeres fein
Reit baut. In dieſer beſchwingten Geſchichte lebt echt Eichendorffſche „Taugenichts“-Romantik.
Und da iſt in „Rapunzel“ der Konrad Vogelmiſt — in echter Schalkhaftigkeit trägt der Held
dieſes duftigen Buches dieſen „wüjten“ Namen — aus Holzelfingen, dem Albneſt, deſſen Lebens-
ſtationen vom Bauernbüblein bis zum duͤftelnden Mechanikus und Erfinder feſtgehalten find:
am engſten von Finckhs Helden ijt die Lebenskurve dieſes Sinnierers, der kaum über bas Reut-
linger Oberamt hinauskommt und doch alles Glad und Leid in feiner Enge erlebt. „Rapunzel“
iſt mir Findhs liebſtes Buch, eines der ſonnigſten Idyllen unſeres Schrifttums, in dem alle guten
Geiſter des Frohſinns und innigſter Naturverbundenheit ſpuken. Und da iſt Kaſpar Brucklacher
im „Bodenſeher“, der Schäfersjunge von der Achalm, an die ſich die Stadt Reutlingen wie
an eine Mutterbruſt gebettet hat, der neben den ſtudierenden Brüdern als einfacher Volksſchũler
aufwddft, Anſtreicherlehrling und -gejelle wird, bis ihn ſchließlich der Damon in der Bruſt zu
einer anderen Art Malerei treibt. Und ſchließlich ijt da in der „Jakobsleiter“ der Gutspächter-
john Martin Rodenftiel von der Alteburg bei Reutlingen, der ebenfalls aus ſeiner idealiſtiſchen
Hilfebereitſchaft heraus Arzt wird.
HDBieſe kurze Aberſicht über L. Finckhs Hauptwerke — von einer eingehenden Beſprechung
muß hier aus Raumgründen abgeſehen werden — zeigt alſo wohl, daß der Umkreis feines künft-
leriſchen Schaffens begrenzt iſt, aber dafür beherrſcht er ihn. Sagen wir's ruhig: die lichten Farben
überwiegen bei ihm. Ich erinnere mich nicht, daß bei ihm Leute ſich oder andere erſchießen oder
ertränken oder erdroſſeln, obgleich fie oft genug Grund dazu hätten. Denn bei aller Sonnen-
freudigkeit, bei allem Idealismus iſt Finckh kein ſeichter Optimiſt: er läßt ſeine Helden und
Heldinnen durch viel Trüͤbſal und Leid gehen, reicht ihnen den Becher vergifteter Liebe, [chüttelt
fie im Sturm böjer Gewiſſensbiſſe, erſpart ihnen nichts: läßt ſie an Gott und Welt zweifeln.
Aber nicht verzweifeln! Und ich glaube einfach deshalb, weil fie gute Mütter haben. Jedes
Buch Finckhs ijt ein hohes Lied der Frau, der Gattin, der Mutter, der Familie. Man leſe nur
—j— — —
Ludwig Finck 523
—
einmal das zweite Kapitel in „Rapunzel“! Oder das dreizehnte im „Roſendoktor“! Längft iſt
es den Einſichtigen klar, daß der vielberufene — faſt ſchämt man ſich, das abgegriffene Wort
auszuſprechen — „Wiederaufbau“ unſeres Vaterlandes nicht von Vereinen und Orden und
Parteien und Zeitungen ausgehen kann, ſondern in der Familie ſeine Keimzelle haben muß.
Und alle Familienkultur wiederum, als Grundlage der nationalen Kultur, gründet ſich auf die
Verehrung der Frau. Und wir wollen es Ludwig Finckh nicht vergeſſen, daß er durch ſeine Bücher
in dieſem Sinne wirkte.
Nur kurz verweiſen kann ich an dieſer Stelle auf Findhs Lyrik und kleinere Schriften.
„Roſen“ und „Mutter Erde“ find die bezeichnenden Titel feiner Verſe. O. 3. Bierbaum hat
einft von den „Rofen“ gejagt, daß hier „ein tüchtiger, ehrlicher, aus innerſter Ergriffenheit
liebevoll zum Schönen und Guten gewandter Menſch fic als Bekenner eines innigen und ſchoͤnen
Glaubens meiſterlich äußert“. Das kann man unterſchreiben. Und auch in „Mutter Erde“ —
„Mutter und Erde“ könnte der Band auch heißen — klingen neben harmloſeren Strophen die
Tone der epiſchen Werke in funkelnderer, reinerer Form auf: die Töne von. Heimat, von Weib
und Kind.
„Wir müfjen Herzen von Knaben
Bewahren und die Stirn von Stein.
Wir muͤſſen ſaubere Hände
Halten und am Ende
Größer als unſere Väter ſein.“
And:
„Steh ich in fremdem Schwarme,
O Oeutſchland, reck die Arme,
Nimm mich an deine Bruſt
Daß ich die Wurzeln hebe
In meines Vaters Grabe,
Das hab ich nicht gewußt.“
Von den übrigbleibenden Werken, Geſchichten, Skizzen, Plaudereien, erwähne ich hier nur
die Titel: „Biskra“, die feinſinnige, von leiſer Schwermut überhauchte Beſchreibung einer
Reife zu einer afrikaniſchen Oaſe, „Seekönig und Graspfeifer“, „Inſelfrühling“, „Sonne,
Mond und Sterne“. Der Freund der Finckhſchen Muſe wird auch hier viel Liebenswertes
finden, beſonders die Studien über Land und Leute am Bodenſee, dem „Auge Oeutſchlands“.
in gluͤcklichſtem Plauderton vorgetragen.
Wer das Schaffen von Ludwig Finckh aufmerkſam verfolgt hat, das ſo tief in der deutſchen
Familie wurzelt, den kann es nicht verwundern, daß der Dichter zu einer planmäßigen Fa-
milienforſchung kam und auf dieſem ſo lange vernachläſſigten Gebiet geradezu bahnbrechend
wirkte. In drei Büchlein hat er über Sinn und Wert der Ahnenforſchung geſprochen, und gerade
hier kommt ihm feine Gabe, witzig und populär zu ſchreiben, im liebenswüͤrdigſten Plauderton
die ernſteſten Dinge zu ſagen, beſonders zugute. Wer einmal fein „Ahnenbüchlein“, feinen
„Ahnengarten“ und ſeinen „Ahnenhorſt“ ſtudierte und auf ſich wirken ließ, und dann nicht
ſehr, ſehr nachdenklich wurde, dem iſt wahrlich nicht zu helfen! Endlich ſollte es auch der letzte
Deutſche wiſſen, daß es nicht gleichgültig iſt, von wem er abſtammt, daß im Blute jedes einzelnen
die Geiſter feiner Dorvdter und Vormütter wirklich und wahrhaftig ſpuken, daß das Blut eben
„ein ganz beſondrer Saft“. Und daß es auch keine Raſſenhygiene geben kann ohne plan-
mäßige Familienforſchung. Die berühmte Forderung des Philoſophen „Erkenne dich ſelbſt!“
hängt in ber Luft ohne die gleichzeitige Mahnung: „Steige zu den Quellen deines Geblüts
nieder!“ Alles ijt ja jetzt noch in den erſten Anfängen, und es eröffnen fic die reichſten Aus“
ſichten: wiſſenſchaftlich betriebene Ahnenfotſchung als Zweig der Anthropologie ift geradezu
524 Ludwig Finch
von ſtaatspolitiſcher Bedeutung. Und nicht zum wenigften aud Ausgangspunkt zu einer ver-
tieften Vaterlandsliebe.
Immer weiter wird der Ring: als Dichter hat Ludwig Finckh die Familie, als Urzelle aller
ſchönen Menſchlichkeit, aller Kultur, in den Mittelpunkt geſtellt, von da aus iſt er dem erhabenen
Geheimnis der Blutſäfte nachgegangen und zum Bahnbrecher für die Ahnenforſchung geworden.
Und auf dieſen Wegen konnte es ihm natürlich nicht entgehen, wie ſeit Jahrhunderten deutſches
Blut in alle Welt hinausſtrömte, einfloß in die Lebensadern anderer Völker, anderer Staaten.
Es iſt doch ſo: kaum gibt es irgendwo eine deutſche Familie, die nicht, und ſei es nur in Form
daͤmmeriger Sage, von Verwandten im Ausland wüßte. Und der Oichter und Ahnenforſcher
kannte auch den böfen Dämon, der uns Deutſchen im Blute geiftert: daß wir „draußen“, außer-
halb des Reiches, nur allzuſchnell in den anderen, in den Fremden aufgehen. „Glückliche Fabig-
keit der Aſſimilierung und Akklimatiſierung“ nennt das wohl gedankenloſer Optimismus, der
echte Patriot aber muß betroffen fein von der Tatſache, daß Amerikaner deutſchen Geblüts gegen
uns den Weltkrieg entſcheiden halfen; daß Spanien und Frankreich ihre Kriege in Marokko und
Syrien mit den vorwiegend deutſchblütigen Truppen ihrer Fremdenlegionen auskämpfen; daß
in Böhmen und Rumänien und Rußland und Tirol und im Elſaß, daß überall deutſche Männer,
deutſche Frauen, deutſche Kinder in Gefahr ſind, dem deutſchen Volkstum verloren zu gehen.
Klar und folgerichtig führte alſo Finckhs Weg vom Frauenlob und Ahnenforſcher zum Patron
des Auslanddeutſchtums. Deutſches Blut in fremden Ländern ſoll deutſch bleiben, heute
mehr denn je. Jeder Auslanddeutſche ſoll ein Vorpoſten des deutſchen Geiſtes, ein Pionier
deutſchen Volkstums ſein. Und die Erfahrung lehrt, daß unſere Brüder in der Fremde ſich gerne
von der Heimat aufrütteln laſſen, daß ſie ſich danach ſehnen, in geiſtiger Verbindung mit dem
Mutterland zu bleiben. Viel, ſehr viel wurde in dieſer Beziehung vor dem Krieg gefündigt, als
es doch noch leichter war, die kulturellen Zuſammenhänge zu pflegen. Man ſchlage beliebige
Memoirenwerke von alten Auslanddeutſchen auf und aus allen wird dieſelbe Klage tönen: die
Heimat — und zwar die offizielle: die Amtsſtellen, die Diplomatie und Bureaukratie ſo gut wie
die inoffizielle: die Angehörigen, die Vereine, die Vertreter des deutſchen Geiſtes —, die Heimat
alſo hat ſich nicht um die Ausgewanderten und die deutſchen Minderheiten in fremden Staaten
gekümmert, hat fie ihrem Schickſal überlaſſen, und dieſes Schickſal hieß in allguvielen Fallen:
Entdeutſchung. Wer irgendwie glaubt, daß der deutſche Geiſt eine Weltmiſſion habe, der muß
die Bedeutung gerade des Auslanddeutſchtums und gerade in unſerer Zeit anerkennen. Man
muß es Ludwig Finckh danken, daß er in Wort und Tat auf alle die damit verbundenen Pro-
bleme hinwies. „Bruder Oeutſcher“ nennt fid fein Büchlein, aus dem fic jeder unterrichten
kann, worum es eigentlich geht. Und er iſt auch ſelbſt viel umhergereiſt, hat Einblicke getan in
Leben und Treiben. Wünſche und Beſtrebungen unferer Auslanddeutſchen und hat fie durch
fein Wort geſtärkt. Und kaum gibt es heute einen Auslanddeutſchen in Tiflis oder Prag oder
Schanghai oder Chitago, der nicht um den Namen Ludwig Finckhs wüßte und feine zähe, opfer;
willige, hingebende Arbeit anerkennte.
Ich möchte in dieſen Zuſammenhang auch feine Erzählung „Der Vogel Rod“ ſtellen, in der
das Schickſal einiger vor dem Krieg nach Kolumbien ausgewanderter Schwaben und ihr Erleben
des großen Kriegs in der Fremde geſchildert wird. Vielleicht tritt hier die künſtleriſche Geſtaltung
gar zu ſehr zuruck hinter der „Tendenz“, ein Bild deutſcher Art im Ausland zu geben und die
Heimat aufzurütteln. Was er auf einer Reife durch die Tſchechoſlowakei ſah und hörte, davon
plaudert er in der „Sudetendeutſchen Streife“: ſpricht von dem, was deutſche Kultur
„draußen“ geleiſtet hat, deckt die bewußten Geſchichtsfälſchungen der amtlichen Tſchechei auf
und gibt den hoffnungsvollen Ausblick, wie in den deutſchſtämmigen Menſchen dort der Glaube
an ihr Volkstum und der nationale Wille der Selbſtbehauptung gerade jetzt lebendiger als je
find, feit fie durch das irrfinnige Friedensdiktat von Verſailles den „Segen“ des Minoritäten-
ſchutzes genießen. — — —
Sovlts, der Bottàmpfer eines voltstümlichen Nationaltheaters 525
Auf der Höhe von Gaienhofen fteht des „Roſendoktors“ Haus. Und in der Nacht auf den
21. März, in der der Frühling die Herrſchaft antritt, in der Helle und Dunkel „in gleichen Schalen
ruhn“ — in dieſer Nacht, fo ſtelle ich's mir vor, wird ein ſeltſamer Geſpenſterreigen fic um den
föhnumbrauſten Firſt und Giebel des Doktorhauſes bewegen: alle Geſtalten aus des Dichters
Büchern haben ſich zu dankbar-frohem Bunde geſellt, um ihrem Schöpfer zu huldigen. Voran
Rapunzel, das „Sonnenwirbele“ von Würtingen, ihren erblindenden Konrad an der Hand, und
das tapfere Rösle Kuraß von Genkingen, ihren ausreißeriſchen Springinsfeld Georg warm und
feſt haltend, und die Judit von der Achalm und das Ridele von der Alteburg, — viele, viele junge
Mädchen und junge und alte Mütter, und alle tragen ſie einen Kranz von Rofen im Haar und
achten nicht der Dornen, denn fie find Frauen ... Und alte Schäfer werden an Rofendottors
Haus vorbeiziehen und Mond und Sterne begucken und Weisheit raunen: der Vater Brucklacher
von der Achalm und der alte Chriſtoph Haller von Würtingen und der alte Luz, auf einem
Lindenblatt blafend, und auch der Großvater Michael Rockenſtiel hat ſich zugeſellt und.. und
und alle, die ein deutſcher Dichter ſchuf. Und grüßend wird ſich der geſpenſtiſche Reigen in dieſer
erſten Frühlingsnacht, da vor fünfzig Jahren ihr „Vater“ in der Reutlinger Apothekerswiege
lag, vor dem Roſenhaus neigen und in Sternennebel ſich auflöſen. Und nur ein zarter, füß-
würziger Duft von Rofen wird noch das Haus auf der Gaienhofer Anhöhe umjhmeideln ...
Dr. Karl Fuß
Savits, der Vorkämpfer eines volkstümlichen
Nationaltheaters
m Mai 1915 ſtarb in München Profeſſor Jocza Savits, der langjährige Oberregiſſeur des
Hof- und Nationaltheaters, ein Mann hoch in den Sechzigern, krank und vereinſamt. Als
Angehöriger der Bühne iſt er in dieſen Kreiſen bekannt, für die er, als Begründer der Genofjen-
{daft deutſcher Bühnen-Angehöriger, im hidften Sinne ſozial gewirkt hat. Als Schauſpieler
und Regiſſeur in Weimar unter Karl Alexander tätig, wo er am Hoftheater das Fach des jugend
lichen Liebhabers — den Romeo und andere Rollen — mit Glanz und Auszeichnung ſpielte,
ging er dann an das Hof- und Nationaltheater in Mannheim, um dort die leitende Stelle ein;
zunehmen; jedoch ſagten ihm die Verhältniſſe nicht zu, jo daß er nach einem Jahre zurüdtrat und
für das Amt des Intendanten Max Marterſteig empfahl. Er ſelber ging 1885 als Oberregiſſeur
nad München an das Hof- und Nationaltheater, wo er eine umfaſſende und ſegensreiche Tätig-
keit als Oberregiſſeur entfaltete. Insbeſondere verdankte man ihm die Einrichtung einer um;
gebildeten Szene, die als „Shakeſpeare- Bühne“ unter Mitwirkung und Förderung Rudolf
Genées und Paul Marſops vom Theatermeiſter Lautenſchläger hergeſtellt wurde und deren
Eigenart Savits in einem Einführungsheft auseinanderſetzte. Sie beſtand 1887—1905. Natur-
gemäß ſtellte fie, eingebaut in das alte Hoftheater und beengt durch die Rüdjichten auf Wünfche
des Intendanten, einen Zwitter vor; ſie war mehr ein Verſprechen als ein. Erfül ung; dennoch
aber muß man heut über die Verſtändnis loſigkeit, mit der hr zumal die weitere Kritik begegnete,
erſtaunt ſein. Die Zuſchauer gingen bei dieſer vereinfachten Bühne willig mit. Literariſch aber
war es doch kein geringes Ereignis, daß ein Dutzend der größten Werke Shakeſpeares in der
urfprünglichen Form, ohne Umſtellung, Kürzungen und Striche geſpielt wurde; bei blitzſchnellen
Verwandlungen ohne ftörende Pauſen; das oberflächliche Urteil vermag freilich die grundſaͤtzliche
Tragweite eines ſolchen künftlerifhen Exeigniſſes nicht zu verſtehen. Am Ende einer ehrenvollen
Bühnenwirkfamteit, die ſich der weiteſten Anerkennung aller kunſtſinnigen Kreiſe erfreute,
erhielt Savits vorzeitig den Abſchied. Es war dies unter Amtsführung des neuen General-
intendanten von Speidel, eines hohen Soldaten, der bis dahin wohl wenig Beziehungen zum
526 E avits, der Vorkämpfer eines voltstümlichen Nationaltheaters
Theater hatte. Um dieſe Verabſchiedung etwas zu beleuchten, ſei die bezeichnende kleine Anekdote
mitgeteilt, die ich aus Gavits’ eigenem Munde habe. Danach beſtellte der neue Intendant ſich
drei Regiſſeure in fein Zimmer und eröffnete ihnen, daß er militäriſche Pünktlichkeit liebe und
daher die Schauſpielvorſtellungen, wie ſie zu beſtimmter Stunde beginnen müßten, ſo auch
genau zu demſelben Zeitpunkt beendet fein müßten; die Länge der Stüde müjje man eben
danach einrichten. Während die beiden anderen Fachleute einen Widerſpruch gegen dieſe un-
geheuerliche Zumutung nicht erhoben, äußerte Savits ſich dahin: das wäre ebenſo, wie wenn
der Herr General- Intendant beföhle, man folle in der Pinakothek alle Bilder gleich groß machen.
— Kurze Zeit darauf hatte Savits ſeinen Abſchied.
Savits hat den ihm aufgezwungenen Rubeftand bitter empfunden. Erſt allmählich gewöhnte
er ſich daran, griff, alten Neigungen gemäß, zur Feder und ent altete auf Grund umfangreicher
Studien und umfaſſender Beleſenheit, eine höchſt bedeutende literariſche Tätigkeit. Sie iſt, trotz
mannigfacher empfehlender Anzeigen und Beſprechungen, der Leſewelt noch ſehr wenig be
kannt. Für die Bũhnenfachleute muß Savits als ein Einfpänner gelten, da er bie ausgetretenen
Pfade völlig verläßt und neue einſchlägt, auf denen ihm bisher niemand zu folgen vermochte;
für die Leſewelt aber iſt er nicht grade ein bequemer Schriftſteller, da er ernſte Verſenkung
und Hingabe an große Ziele fordert. Es ift ein höchſt merkwuͤrdiges Schaufpiel, zu ſehen, wie
dieſer Mann, der fein ganzes Leben ſelbſtlos der Bühne und den Idealen der dramatiſchen Kunſt
geweiht hat, auf Grund praktiſcher Tätigkeit zu kühnſten Schlüſſen und Ergebniſſen kommt, die,
wenn fie durchgeführt würden, nichts weniger als einen völligen Umſturz und eine Wieder-
geburt unſeres Bühnenweſens bedeuten würden. Dieſe Probleme ſind aber ſo wichtig
und einſchneidend nicht nur für das Theater, ſondern vor allem für die Poeſie, daß man nicht,
wie manche getan haben, an ihnen vorbeigehen oder ſie mit einigen leeren Worten abfertigen
darf.
Zunächſt eine kurze Aufzählung der wichtigſten Schriften von Savits. Er hat eine Reihe kleiner
verſtreuter Abhandlungen über den Schauſpieler und ſeine Kunſt geſchrieben; Molière, einem
ſeiner Lieblingsdichter, hat er viel Zeit und Studien gewidmet, die in der glänzend ſtiliſierten
kleinen Schrift „Die Erſtaufführung von Moliéres Tartüff in Paris“ wohl ihren bedeutendften
Niederſchlag erfuhren. Vielleicht im dunklen Gefühl, daß ſeine Lebensjahre gezählt ſeien und
ihm nur noch wenig Zeit übrig bliebe, um ſeine Gedanken der Welt mitzuteilen — keine Kraft
aber mehr, ſie zu verwirklichen —, ſammelte er mit Bienenfleiß und Eifer allen erreichbaren
Stoff, um das Gebäude, das ihm vorſchwebte, aufzuführen, feinen Grund feſt und unerfchütter-
lich zu machen und es gegen jeden Anſturm zu ſchützen. Dies iſt ihm auch in vollendeter Weife
gelungen. Zunächſt faßte er feine Unterſuchungen und Ergebniſſe zuſammen in dem Buche „Von
der Abſicht des Dramas“ (München, Etzold), indem er mit einer Oarſtellung des hiſtoriſchen
Urfprungs unſerer Prunk: und Ausſtattungs Bũhne deren Kritik verbindet und die Begründung
für eine grundlegende Bühnenreform vorträgt. Dann gab er in der kleinen Schrift „Das Natur-
Theater“ (München, Piper) eine Unterfudung über das Weſen, die Leiſtungen und Ausſichten
des Theaters unter freiem Himmel, wie er es aus eigener Anſchauung in Thale und Hertenſtein
kennengelernt hatte. Endlich faßte er feine geſammelten Anſichten in einem Hauptwerke zu
ſammen „Shakeſpeare und die Bühne des Oramas“ (Bonn, Cohen).
Ein tragiſches Geſchick verhinderte Savits, der nach dem Verluſt feiner treuen Lebens-
gefährtin ohne Kinder vereinſamt zurüdblieb, das Erſcheinen dieſes Werkes noch zu ſehen und
die Wirkungen zu erleben, die allmählich immer ſtärker, von Jüngern und Freunden verbreitet,
von ſeinen Schriften ausgingen; die reinſte Freude, die ſeinem hochſtrebenden Geiſte vergönnt
war. Bald nachdem er einen Verleger gefunden und über das Schickſal des Buches beruhigt
war, nahm der Tod ihm die Feder aus der Hand.
Verſuchen wir nunmehr auf knappem Raum einen Abriß der Savits' ſchen Lehre zu geben.
Auf Grund langjähriger Erfahrungen hatte ſich ihm allmählich die Überzeugung aufgedrängt,
* u
Savits, der Vorkämpfer eines volkstümlichen Nationaltheaters 527
daß das Syſtem unſerer Bühnenausſtattung dem Zwecke des Oramas gar nicht förderlich ſei,
vielmehr ihm widerſtreite. Mit Erfolg ſtrebte er danach, die Szene zu vereinfachen. Er machte
umfaſſende Studien, um ſich über die Entſtehung unſerer Theaterbauten und Gepflogenheiten,
den Urſprung unferer Ausſtattung und unſeres Dramas zu unterrichten. Die hergebrachte Alt-
einteilung, die das Drama in fünf Teile zerreißt und allgemein befolgt wird, erſchien ihm frag-
würdig. Noch fragwürdiger der Übelſtand, daß bei zahlreichen Verwandlungen, wie fie z. B.
Shakeſpeares Stücke und Goethes „Götz“ und „Fauſt“ verlangen, der Zwiſchenvorhang un-
zählige Male fällt und der Zuſchauer dadurch immer wieder rüdjichtslos aus der Illuſion heraus-
geriſſen wird, während doch die Aufführung eines Dramas „gleich einem holden erquickenden
Traum“ fein ſoll. Dieſen Übelftand beſeitigte zum Teil die moderne Drehbühne; aber fie iſt
überaus koſtſpielig und geſtattet die Möglichkeit raſcheſter Verwandlung für alle Stücke dennoch
nicht. Das Syſtem der Ausſtattung krankt offenbar an einem Fehler. Worin liegt er?
Mit dem hier vorliegenden Problem hat ſich eine Reihe bedeutender Männer beſchäftigt,
deren Forſchungen und Ergebniſſe Savits uns vorführt. Es handelt ſich, neben Leſſing, vor
allem um Tieck, IZmmermann, Anſelm Feuerbach, die Grafen Baudiſſin und Schack, Otto Lud-
wig, Wilhelm Jordan. Sie haben bereits klar erkannt, daß das Drama feinem Weſen nach Dich-
tung und Darſtellung ſei und nichts anderes, und ſie waren daher Gegner einer naturaliſtiſchen
Ausſtattung. Sie verlangten ſinnvolle Andeutungen für die Phantaſie, aber keine Nachahmung
der Wirklichkeit. In den Zeiten dürftiger Bühnenanlagen, in England und im alten Spanien,
wo man in hölzernen Scheunen ohne Ausſtattung, nur mit prächtigen Koſtümen bei Tageslicht
ſpielte, erreichte das Drama in Shakeſpeare, Lope de Vega und Calderon feine hidfte Blüte;
in Zeiten des Appigiten Prunkes und der ſinnfälligſten Bühnenausſtattung, wie bei dem Hof-
theater von Antiochia u. a., geriet das Drama völlig in Verfall. In ſolchen Zeiten, wie denen
des Beginns der welſchen Oper, hatte man große Maſſen von Statiſten, Tänzern und Tänze
rinnen, hatte tauſenderlei Künſte und Lichteffekte; alle Hilfsmittel der Muſik, des Geſanges
und der ausſchweifendſten Ausſtattung waren aufgeboten, und doch war das Ergebnis ein
höchſt klägliches. Umgekehrt wirkte das nationale Drama Alt-Englands und Spaniens wie das
der Griechen bei höͤchſter Erhebung des Geiſtes durch die Einfachheit der Mittel. Auch in
Alt- Griechenland ſpielte man unter freiem Himmel; der Schauplatz war nur angedeutet, und
man mutete alles der Einbildungskraft der Zuſchauer zu, während man ihr heut nichts zu-
mutet. ,
Dieje Tatſachen geben zu denken. Savits ward immer mehr deutlich, daß der Weg, den unſer
Theater, namentlich ſeit der Vorherrſchaft der Oper — auch in der Kunſtform Richard Wag-
ners — eingeſchlagen hat, uns immer mehr in die Feſſeln des Ausſtattungsweſens ver-
ſtricken muͤſſe; kurz geſagt, daß er ein Irrweg fei. Der Aufwand an Mitteln, den man treibe,
ftebe in keinem Verhältnis zum Werte des Gebotenen. Gleichwohl glaube alle Welt, man müſſe,
um dem darniederliegenden Drama aufzuhelfen, immer mehr Ausſtattungsprunk, Muſik, Tanz,
maleriſche und bildende Kunſt, Lichteffekte und Maſchinen aufs Theater bringen, ſo daß die
moderne Bühne nachgerade ein Maſchinenraum wird, auf dem der Schauſpieler ein beengtes
und keineswegs ungefdbrdetes Daſein führt. Es iſt ſogar eine Theorie vom Zuſammenwirken
aller Kuͤnſte aufgeſtellt worden, die in dem ſogenannten muſikaliſchen Drama ihren Ausdruck
gefunden hat. Aber dieſe Theorie iſt falſch. Das Drama beſteht nur aus Dichtung und Dar-
ſtellung. Neben ein Drama eine Malerei oder eine Muſik als gleichberechtigt ſtellen zu wollen,
iſt genau fo ſinnwidrig, als ob man eine Beethovenſche Symphonie durch ein daneben geſtelltes
Gemälde von Böcklin erläutern wolle. Grade dieſes Unfinns aber machen wir uns ſchuldig, wenn
wir neben die Aufführung eines Dramas einen gemalten Hintergrund, plaſtiſche Gegenftdnde
und dergleichen ſtellen: das iſt unkünſtleriſch und gradezu barbariſch; denn, wie die Griechen,
Briten und Spanier zurzeit der Blüte ihres Dramas deutlich fühlten: das Drama iſt eine
Illuſion, die ſich in ununterbrochener Folge durch das Spiel der Oarſteller in den Köpfen
— — — — 2
528 Gavits, ber Vorkämpfer eines voltstümlichen Nationaltheater
der Zuſchauer vollzieht. Daher denn bei dieſen Völkern die Darſtellung bei Tageslicht inmitten
der Zuſchauermenge ſtattfand; ihre Einbildungskraft war ſtark genug, ſich in den Traumzuſtand
zu verſetzen.
Dieſe große Wahrheit iſt es, die uns verloren gegangen iſt und die Savits neu entdeckt hat.
Es iſt das hohe, nicht genug zu würdigende Verdienſt dieſes Mannes, mit dem er das Werk
ſeiner Vorgänger abſchließt und krönt. Die Mitwelt hat trotz vielfacher vereinzelter Zuftim-
mungen, ſeine Leiſtung noch nicht begriffen, geſchweige denn ſie ſich zu eigen gemacht. Sie wird
dies aber tun mijfen, wenn anders fie einen Fortſchritt des Theaters herbeiführen will,
Die Entwickelung, die unſer Bühnenweſen genommen hat, erweiſt ſich alfo, bei näherem Zu⸗
feben, als ein Irrweg. Dieſe Erkenntnis auszuſprechen, dazu gehört kein geringer Mut; denn
die Richtung der Gegenwart geht darauf aus, uns immer ſtärker in das Ausſtattungsweſen zu
verſtricken. Wie aber ſind wir dazu gekommen? Savits antwortet, daß ſchon bei Goethe, in den
Anfängen unſeres neueren Theaters, der Irrtum beginne. Goethe habe nämlich wohl in ſeiner
Jugend den raſcheſten Wechſel des Schauplatzes und den raſcheſten Wechſel der Phantaſie als
eine Grundbedingung der Shakeſpeariſchen Kunſt erkannt, aber als Bühnenleiter ſei er doch
dem herkommen der franzöfifchen, der klaſſiziſtiſchen Bühne erlegen. Statt den Weg des indivi-
dualiſtiſchen Charakterdramas, wie es die Briten und Spanier entwickelt hatten, auch hinſicht⸗
lich der Zuruͤſtung der Szene zu beſchreiten, wählte er den konventionellen Weg der Frangofen.
Wie er deren Werke heruͤberholte und aufführte, um „den Spielpan zu bereichern“, fo „richtete
er den Shakeſpeare ein“, das heißt, man hielt es für unmöglich, Shakeſpeare in unverfälichter
Form aufzuführen: man ſtrich und kürzte, ſtellte um und dichtete ſogar um — wie denn „Romeo
und Julia“ und „Macbeth“ von Goethe und Schiller höchſt bedenklichen Maßnahmen unter
worfen wurden; kurz, man ſcheute ſich keineswegs vor einem Eingriff in den großen Oramatiker,
der mit dem Weſen feiner Werke ſchlechterdings nicht mehr vereinbar iſt. An dieſen auf mangel-
hafter Erkenntnis beruhenden Mißgriffen hat nun das ganze folgende Jahrhundert leider feſt⸗
gehalten. Jeder Dramaturg, Bühnenleiter und Regiſſeur glaubt ſich berufen, Shakeſpeare für
das Theater zu verbeſſern — da er, wie man vorgibt, — ſo nicht aufführbar ſei; er wird
gekürzt, beſchnitten, Szenen werden vor- oder zurüdgejchoben, zuſammengeſchoben ober
. umgeitellt, vor allem damit die Unzahl der Verwandlungen auf ein kleines Maß, etwa ein
Dutzend, herabgemindert und dadurch die Mühe der Ausſtattung verkleinert werde. Daß dem
Theatermeiſter zuliebe das innere Gefüge des Gedichts völlig zerſtört wird, kümmert dieſe
Bearbeiter gar nicht. Savits iſt der erſte, der eindringlich gegen dieſen Frevel ſeine Stimme
erhoben hat.
Er hat auch gezeigt, daß es ſehr wohl anders geht. Denn das Verdienſt eben feiner Auf-
führungen Shakeſpeares — und an Stelle dieſes Genius könnte man jeden anderen ſetzen —
beſtand ja eben darin, daß er durch die Tat zeigte, wie man die Werke eines Dramatikers un-
verkuͤrzt und unverftümmelt, wie fie gedacht waren, auf der Bühne der Gegenwart zur Dar-
ſtellung bringt.
Man darf alſo den Namen „Shakeſpeare Bühne“ nicht mißverſtehen. Savits wählte Shake
ſpeare nur als das große Beiſpiel, an dem er feine Lehre erläuterte. Man könnte ſtatt des Aus
drucks „Shakeſpeare Bühne“ auch ſagen: ſchlichte und volkstümliche Bühne. Aber, wird man
einwenden, mißt denn Savits nicht, in den Spuren gleichgeſinnter Vorgänger wandelnd, der
Geſtaltung der Szene eine zu große Wichtigkeit bei? Iſt es wirklich für die Dichtung fo wichtig,
ob das Bühnenbild ſo oder anders zurechtgemacht wird?
Da iſt nun zu antworten: daß die Herrichtung der Szene, des Bühnengerüjtes, ſchlechterdings
ausſchlaggebend iſt für die Anlage und Geſtaltung des Dramas: für feine Form. Savits hält
mit Recht deshalb die Geftaltung des Schauplatzes für fo wichtig, weil von ihr die geſamte
dramatiſche Kunſt und Didtung abhängt: ein Punkt, über den ſich die Aſthetik der Gegenwart
keineswegs klar geworden iſt.
Savlts, der Dortdmpfer eines volkstümlichen Nationaltpeaters 529
Bekanntlich geht das Streben der neuern Buͤhnenſchriftſteller dahin, einen Wechſel des Schau-
platzes innerhalb der Akte moͤglichſt zu vermeiden und ſich mit fünf verſchiedenen Schauplätzen
für das ganze Stüd zu begnügen. Ja, am bequemſten find dem Theatermeiſter Stüde, wo die
Szene drei oder vier Akte hindurch dieſelbe bleibt: wie bei den beliebten Pariſer Zimmer; oder
Konverſationsſtücken. Dieſe Technik der Franzoſen, die den Bedingungen des Fabel; und
Phantaſiedramas grade entgegengeſetzt iſt, hat der reifere Ibſen in ſeinen Geſellſchaftsſtücken
übernommen und damit für Europa Schule gemacht. Will man, auf Grund einer irrigen Lehr-
meinung, das „Bühnenbild plaſtiſch geſtalten“, fo muß man richtige Türen, Türklinken, Hausrat,
Uhren, Bäume uſw. verwenden; und dieſe Nachahmung der Natur unterſcheidet fid in nichts
von dem üblen Brauch alter fahrender Komödianten, die beim Sterben aus einer verſteckten
Schweinsblaſe Blut hervorquellen ließen. Will man nun die Erforderniſſe einer Szene durch
moͤglichſt naturgetreue Nachahmung darſtellen, fo find, bei häufigem Szenenwechſel, umſtänd⸗
liche und zeitraubende Umbauten oder koſtſpielige OrehbAbnen und dergleichen notwendig; und
der Bühnenleiter wird für die Aufführung Stücke bevorzugen, die ihm moͤglichſt wenig Um-
ftände und Koſten machen. Er wird alſo, da er glaubt, ohne Ausſtattung nicht auskommen zu
können, ſolche Stücke zurüdweijen, die mannigfachen Wechſel des Schauplatzes erfordern, d. h.
alle Werke, die ſich vornehmlich an die Phantaſie wenden. Mit anderem Wort: in unſerem
Bühnenwefen herrſcht eine ſtarre Pariſer Konvention, und von dem wahren Geiſte Shake
ſpeares, der uns befreien wuͤrde, ſind wir durch einen Abgrund getrennt.
Dies iſt der Grund, warum Savits eine vereinfachte Bühne fordert: nicht in der Art Shake;
ſpeares als eine altertümelnde Spielerei, aber in feinem Geiſte. Mit dieſer Forderung befindet
er ſich im Einklang mit den beſten Kennern der Nation, mit Tieck und mit Anſelm Feuerbach,
der da betont: „es bedarf beſcheidener Andeutungen, nicht ſinnverwirrender Effekte“. Es iſt ein
Unding und eine Unmöglichkeit, während zweier Stunden ſechzig verſchiedene Schauplätze durch
naturaliſtiſche Bühnenbilder vor das Auge bringen zu wollen; aber es iſt notwendig, daß der
Dichter die unbeſchränkteſte Bewegungsfreiheit hat, uns während zweier Stunden mittels der
Einbildungskraft auf ſechzig und mehr Schauplätze zu entführen: über Zeit und Raum hinweg.
Erſt wenn unſere Bühne dies wieder erringt, was die primitive Bühne Spaniens und Alt-
Englands vermochten, ijt die Vorbedingung für eine dramat ſche Entfaltung gegeben, die gegen-
wärtig gebunden und gefeſſelt ift durch die Schranken eines konventionellen Theaters. Hierin
alſo liegt die bedeutendſte Erkenntnis von Savits: daß eine wahre Blüte unferer dramatiſchen
Dichtung erſt möglich fei durch eine grundſätzliche Veränderung und Umbildung unſerer Bühnen-
zuruͤſtung. Wir können niemals hoffen, zu einem wahren Nationaltheater, wie es andere Völker
beſitzen, zu kommen, wenn wir uns nicht eine Szene ſchaffen, die den innerſten Bedürfnifjen
des Genius unſerer Nation entſpricht.
Aber auch für die Schauſpielkunſt iſt das Problem von entſcheidender Bedeutung: die Prunk
und Ausſtattungsbuͤhne begünftigt den redneriſchen Stil; eine weit in den Zuſchauerraum vor-
ſpringende Bühne dagegen, die den Schauſpieler von wenigſtens drei Seiten zeigt, ihn mitten
unter die Zuſchauer verſetzt, ihn völlig von jedem Bühnenbilde loslöſt und ganz auf ſich ſelbſt
ſtellt, verlangt von feiner Kunſt das Höchſte, wofern er die Zuhörer in die Illuſion, in den
Traumzuſtand verſetzen will, ſo daß ſie beim Anblick des Spieles der Darſteller das Drama
erleben. Dies und nichts anderes ijt dramatiſche Kunſt. Alles andere find nur ablenkende, ver-
wirrende und ſtörende Beihilfen. Erſt, wenn wir das natürliche Verhältnis wieder hergeſtellt
haben, haben wir den Dichter und die freie ſchöͤpferiſche Phantaſie wieder zum Herrn des
Theaters gemacht. So, und nur ſo, werden wir durch das Mittel der volkstümlichen Bühne
eine Dichtung der Volksgeſamtheit erlangen.
Dr. Ernſt Wachler
Der Türmer X XVIII, 6 35
530
Gerd Schniewind
Zu unfren Bilderbeilagen
Sy techniſcher Vollendung geben unfere Bildtafeln Aquarell-Land{daften Gerd Sdnie-
winds wieder, des Künſtlers, von dem wir in früheren Heften bereits Holzſchnitte ver⸗
öffentlicht haben. Im Holzſchnitt und im Aquarell ragt diefer prächtige Niederſachſe hinaus
über andere Meifter feiner Zunft. Es wird Aufgabe der Völkerpſychologie fein, nachzuweiſen,
daß dem deutſchen Maler wegen feiner aus der Überlieferung des Handwerks ſtammenden Ge-
diegenheit die Holzſchneidekunſt, wegen feiner ins Große und Weite greifenden Weſensart
aber die für die Nähe nicht verwendbare Waſſerfarbe beſonders gemäß iſt. Jedenfalls beweiſt
Schniewinds Entwicklungsgang, der ihn zwangsläufig von dem großartigen Körpermaler
Saſcha Schneider, deſſen Meifterfchüler er war, zur norddeutſchen Landſchaft und zu Mackenſen
führte, daß er ein wurzelechter deutſcher Kuͤnſtler iſt. Alljährlich reift Schniewind in die nieder
ſaͤchſiſchen Moore, in jene weitgedehnten Räume, die trotz ihrer Anſpruchsloſigkeit einen Reich;
tum an Farben beſitzen, wie ihn nur die durchſichtige Luft der Küftenlandichaft erklärt. Der
Grundton aller dieſer Farben iſt das helle Blau des Himmels im eigentlichen und im Spiegel-
bild des Waſſers: der Kanäle, Flüffe, Brühe und Lachen; ihm entgegen tritt das branſtige
Braun der Heiden, Torfſtiche, Ackerfurchen und Sandgruben. Schniewinds typifche Bilder haben
ſaͤmtlich dieſe beiden Farben als Grundakkord. Sofort erkennbar und charakteriſtiſch find die
Arbeiten Schn.s auch an den eigenartigen Baumſilhouetten, mag es ſich um ſturmgepeitſchte
Birken handeln oder um Erlen, Weiden und Eichen. In mächtigen Kurven feines breiten
Pinſelſtrichs wird er auch der windgeballten Wolkenphänomene Herr, wie im hauchzarten Auf-
trag der feuchtklaren Ferne nachgewitterlicher Himmel.
Es iſt begreiflich, daß ein Maler von dieſem Weltgefühl und dieſer Verklärungskraft auch
im Holzſchnitt über das rein Handwerkliche hinaus nach höheren kuͤnſtleriſchen Werten ftrebt.
In Vorwürfen, wie fie ihm alte Kirchen und Märkte, der Hamburger Hafen, ein bunter
Papagei, das genieblitzende Antlitz Regers bieten, mag ihm das leicht gelingen. Die Stichprobe
für feine Meiſterſchaft auf dieſem Gebiete ftellen aber die Induſ tri eholzſchnitte dar, die
Bruͤckenförderwerke, Kohlenkrane und Kühlwerke der Leuna-Werke, der Eiſenbahnhof einer
Großſtadt uff. Trotz aller verſtandesmäßigen Sachlichkeit ſchwingt dennoch in dieſen Blättern
etwas Irrationales mit, jener unerklärbare Geiſt der modernen Technik, den eben nur der
echte Kuͤnſtler ſichtbar machen kann. —
Schniewind ſteht im 40. Lebensjahr, in der Vollkraft ſeines Schaffens. Man wird noch
manche gute Arbeit von ihm erwarten dürfen. Dr. Konrad Dürre
Joſeph Haas, ein deutſcher Künſtler
Zu unſrer Muſikbeilage
nter den ſüddeutſchen Tonkuͤnſtlern der Gegenwart ſteht Fofeph Haas wohl mit in vorderſter
Reihe. Mehr und mehr haben die letzten Fabre feinen Namen in die Offentlidteit getragen
mit ſteigendem Erfolg und wachſender Anerkennung. Er gilt als einer unſerer Beſten und
Sympathiſchſten, und nicht mit Anrecht. So dürfte ein Wort der Einführung am Platze fein,
denn mehr noch als in der Öffentlichkeit verdient er vor allem mit feiner intimen Kunſt in den
Kreiſen häuslicher und geſelliger Muſikpflege Eingang und Beachtung. Und wenn die vitale
Forderung unjerer künſtleriſchen Zukunft die Wiedergeburt muſikaliſcher Kultur aus dem Geiſt
einer ernſten Haus muſikerneuerung erheiſcht, dann dürfen wir in Haas einen unfrer beſten
Jofeph Haas, ein beutfher Rünftiee 531
Freunde und Helfer erkennen. Die glüdlihe Verſchmelzung verfchiedenartiger Vorzüge läßt
ihn dem Einfachen wie dem Anſpruchsvollen gleich anziehend erſcheinen; es iſt die Geſtaltung
feiner Kunſt aus modernem Empfinden und höͤchſtentwickelter Kuͤnſtlerſchaft, zugleich aber auch
die feſte, breite Verwurzelung im Boden der Volksſeele, aus dem die tiefſten und reichſten
Quellen feines Schaffens fließen. Da herrſcht kein eigenwilliger Zwang erkluüͤgelnder Reflexion.
Es iſtſüd deutſches Weſen, ſüͤddeutſche Art n reinfter Spiegelung, in glüdlichfter Geſtalt, über-
ſtrahlt von warmer Herzlichkeit und ungeſchminkter Natürlichkeit.
Unweit Dinkelsbühl, in Maihingen (Mittelfranken), einem Ort von kaum fünfhundert See
len, erblickte er am 19. März 1878 das Erdenlicht. Wie beſcheiden auch hier die äußeren Ver-
bdltniffe, die den heranwachſenden Knaben umgaben — das Glück war täglicher Gaſt, war die
ungetrübte, unberührte Welt von Familie, Natur und Muſik. Inmitten dieſer Oreiheit verlebte
er die denkbar glidlidfte Jugend, deren Wiederſchein fo oft die [päteren Werke mit einem ſtillen,
heimlichen Leuchten durchgluͤht. Früh zeigte fic feine muſikaliſche Begabung und die erſten An-
regungen verdankte er dem Elternhaus, wo allezeit eine ernſte, ausgedehnte Muſikpflege in
Ehren ſtand. Alban Haas, von vortrefflicher muſikaliſcher Bildung und überdies in feiner Kantor
ſchaft auch zum Organiſtendienſt verpflichtet, ſpielte mit Gewandtheit mehrere Inſtrumente,
während Mutter Thereſe eine ſympathiſche Stimme beſaß, die fie dem Knaben vererbte und
ihn als Achtzehnjaährigen unter Begleitung feines Vaters allein das Choralrequiem fingen ließ.
Oennoch trotz früher Begabung war Haas nichts weniger als ein Wunderkind, er wuchs in nor;
maler geſunder Entwicklung heran und fand mit ſeinem Talent bei den Eltern eine verftändige
Unterſtützung. — Mehr wohl der Not gehorchend als der eignen Neigung ward Joſeph zum
Lehrerberuf beftimmt; demgemäß fügte ſich der Gang feiner Studien: über Volksſchule und
Spmnaſium zur Präparandenanftalt und Lehrerſeminar, überall zugleich auf die Fortbildung
ſeiner muſikaliſchen Anlagen bedacht. Es folgten die erſten praktiſchen Lehrjahre, die Zeit der
erſten Anſtellungen, oft nur von kurzer Dauer, von einem zum anderen Ort ihn verſchlagend,
ſchließlich nach Augsburg (1898), wo er ein Jahr verweilend, gleichzeitig die ſtädtiſche Mufit-
ſchule beſuchte und alle dienſtfreie Zeit benutzte, die perſönliche Neigung zu pflegen, um bald
darauf nach München verſetzt, auch hier wieder das muſikaliſche Lernen fortzuſetzen und nebenher
durch mehrere Semeſter hindurch muſikgeſchichtliche Vorleſungen an der Univerfität zu be-
legen. Natürlich regte ſich auch der Komponiſt; mit der Begeiſterung des Schülers und An-
fängers ließ er ein Werk dem anderen folgen, doch ohne Oruck und ohne Verleger, ſchnell wieder
vergeſſen und wohl von keinem anderen Wert als dem der nützlichen Übung. So ging der erſte
Abſchnitt feines Lebens zur Neige, die Zeit des Suchens, Ordngens und Strebens. Denn ohne
die Schulpflichten zu vernachläffigen, fühlte er, wie allmählich der muſikaliſche Trieb die Über-
macht in ihm gewann und ihn verlockte, die Laſt einer aufgezwungenen Lebensführung abzu-
ſtreifen. Aber dazu genügte ihm das Erlernte noch nicht; er empfand das Un vollkommene und
Züdenbafte einer Bildung, die in ihrer vielfach unterbrochenen, ungeregelten Aufnahme nur
ein zerſplittertes Wiſſen vermitteln konnte, das notwendig des einheitlichen Ausgleichs und
Abſchluſſes bedurfte. So drängte es ihn zunächſt, ſich der Zügel eines angeſehenen, erprobten
Lehrers zu unterwerfen.
Nach wiederholt vergeblichen Verſuchen gelang es ihm endlich, die perfönlide Bekanntſchaft
Max Regers zu gewinnen, der ſchnell die Begabung des Volksſchu llehrers erkannte und ſich
feiner annahm, um ihn hinfort in die feſte Zucht eines methodiſchen, tiefer dringenden Stu-
diums (freilich von vorne beginnend) einzuführen. Damit nicht genug, folgte Haas bei Regers
Leipziger Aderfiedlung ihm nach, um weiterhin den bereits als Wohltat empfundenen Einfluß
und Unterricht zu genießen, wobei er zugleich als Schüler des dortigen Konſervatoriums fein
muſikaliſches Weltbild verbreiterte und ſyſtematijch entwickelte. Preisgekrönt mit dem Nitifch-
Stipendium (für beſte Kompoſitionsleiſtung) verließ er 1908 die Stadt und kehrte an den
Münchner Volkskatheder zuruck, im alten Geleiſe der Pflichten, doch als ein anderer wie er ge-
532 Sofeph Haas, ein deutſcher Flünftier
gangen, ein Neuer und Hoffnungsvoller an der Schwelle höherer Künſtlerweihe. Und er über-
ſchritt fie, als Max Pauer ihn 1911 auf Grund der erfolgreichen Uraufführung einer Violin
ſonate (durch Profeſſor Wendling auf dem Stuttgarter Tonkuͤnſtlerfeſt) an das Württembergiſche
Landeskonſervatorium berief. Das war der Tag der Erfüllung, der eigenen Freiheit und Be⸗
freiung aus unerträglich werdenden Banden. Ein neuer Lebenslauf begann.
Gerade zehn Jahre war er in Stuttgart tätig, Namen und Anſehn begründend, dann rief ihn
das bayriſche Mutterland an hervorragende Stelle der Münchner Staatsakademie und Hoch-
ſchule für Muſik, wo er ſich in kurzer Zeit Verehrung und Hochachtung erwarb. Und jüngftens
erſt, wohl nicht zuletzt dank feiner außergewöhnlichen Klarheit und Sicherheit feines Urteils,
zog ihn die bayriſche Staatsregierung als Ratgeber heran, um ſich feine Kräfte auch in Dingen
des ſtaatlichen Muſikweſens und der Kirchenmuſikpflege beider Konfeſſionen in weiteſtem Um-
fange zu ſichern.
Das find die äußeren Staffeln und Stufen ſeines Werdeganges, in denen der Künftler und
Menſch zum Charakter reifte, um ſich in eigener Haltung zu bewähren. Es war ein beſonnenes,
zielbewußtes Schreiten, nicht ſtürmiſch-ſprunghaft von nervös überreizter Haft. Und innerhalb
dieſer Bahnen entfaltete ſich ſein Wachstum ſicher und feſt, weder wunderdinglich noch altklug,
weder im Eigendünkel der Überhebung noch in ſtolzer Selbſtgenügſamkeit, ohne indes des
ringenden, gärenden Kampfes zu entbehren, den jeder um Läuterung und Tiefe willen beſtehen
muß. Stand er anfangs ganz im Banne von Richard Strauß. jo war es eine Gefolgſchaft,
die mehr der Naivität jugendlicher Begeiſterung und Eroberungsluſt als techniſchem Können und
innerer Befähigung oder gar tieferer Verwandtſchaft entſprang. Unvollkommen war ſeine
muſikaliſche Bildung; es fehlte ihr noch die tiefere Durchdringung und höhere Einheit, folglich
auch der lebendige Atem perſönlicher Eigenkraͤfte. Was er in dieſer Entwicklungsſpanne an Lie
dern, Klavierſtücken, Motetten, Singſpielen, ja ſelbſt Symphoniſchen Dichtungen ſchuf, waren
Verſuche, durch Nachahmung und Anlehnung beſchränkt, bald mehr, bald weniger glücklich,
ſicherlich auch hie und da eine achtbare Talentprobe.
Auch die zweite Entwicklungszeit ſteht noch im Zeichen eines anderen, nun freilich in ernſterer,
befinnlicherer Weiſe. Haas wird Regerianer, und dieſe Gefolgſchaft follte für ihn Ausgangs-
punkt der Entdeckung feines eigenſten Ich werden. Als Regerianer findet er, was ihm an höherer
Reife und Vollendung bislang gebrach. Langſam löſen fic ſchlummernde, ungeahnte Kräfte,
bis am Ende der Schüler die letzte Hülle durchbricht. So zeigen die erſten Werke dieſes Ab-
ſchnittes naturgemäß des Lehrers Geiſt und Sprache, aber ſie ſind ſauber, beſtimmter und
ſtraffer, klar und konſequent in der Durchführung eines einmal aufgenommenen Gedankens,
nicht mehr abſchweifend, flüchtig und formlos. Allmähliche Verſuche einer Selbſtbefreiung
tauchen auf, und wie aus unſcheinbaren Keimen heraus wächſt die Haasſche Natur, Ring um
Ring, deutlich verfolgbar, um ſchließlich mit Glück den Bann zu ſprengen als Meiſter auf eignen
Füßen. So verhalf die Studienzeit unter Reger zur eigentlichen Prägung feines Künftler-
tums, Reger verdankte er den Gebrauch der Sprache, in der allein ſein Fühlen und Erleben
den rechten, vollendeten Ausdruck finden konnte. Vielleicht kein anderer feiner Zeit hätte ihm
das zu geben und lehren vermocht. Sein innerſtes Weſen, eben ſeine Muſikantennatur, verlangte
nach der abſoluten Muſik, und gerade der von Reger beſchrittene Weg ihrer Erneuerung führte
ihn dorthin.
So zeigt ſich bei ihm das Regerſche Gut in eigner Weiſe wirkſam, ja erſcheint als organiſche
Weiterführung in glüdlichfter Verſchmelzung mit Haasſcher Eigentümlichkeit. Denn bei aller
Gemeinſamkeit beſteht ein unverkennbarer Gegenſatz, der durch grundlegende Verſchiedenheit
ihres Weſens und Empfindens bedingt war. Reger haftet eine innere Problematik und YZwie-
ſpältigkeit an, die zeitlebens nicht mehr von ihm wich oder doch fpät erſt einem Ausgleich
nähertam,
Haas dagegen ftebt jeder Zwieſpältigkeit fern; ungebrochen, durch keine Feſſeln der Skepſis
Zoſeph Haas, ein deutſcher Rünftler 583
und des Perfimismus beengt, erſcheint feine Muſikantennatur in unverwüſtlicher Kraft und
Friſche, frei und froh bis zum Übermut, aber auch wieder ernſt, tief ernſt in unverſtellter, ebr-
licher Empfindung. Das macht ſeine Kunſt ſo liebenswert und warm. Hier lacht eine goldne
Lebensfreude, ein herzhaft-ſonniger Humor, eine ſinnenfrohe Weltbejahung mit jener naiven,
echten Urwüchſigkeit, die Heimat und heimatliche Volksart getreulich widerſpiegelt, bald derb
und kräftig, bald ſchalkhaft und ſchelmiſch oder verſonnen und verträumt wie ein Blick aus der
ſelig blauen Tiefe eines Kinderauges, wie ein Lockruf aus deutſchem Märchenwald mit all ſeinen
ſpukenden Geſtalten, Kobolden und Geiſtern. Es bleibt eines der ſchönſten Eigenmale Haasſcher
Kunſt, daß ſo bei all ihrer abſoluten, kammermuſikaliſchen Erleſenheit und Edelkultur doch ſtets
ein ſchlichter, volkstümlicher Grundton mitſchwingt, der fie auch dem Einfachſten verſtändlich und
zuganglich macht. Dieſer lebendig quellende Strom eines tief und reich veranlagten Gemütes
bewahrt vor äjthetifcher Spielerei und abwegigen Launen. Bei allem Reichtum an Witz und
Geiſt, an Mannigfaltigkeit und Vielgeſtaltigkeit atmet dieſe Kunſt ihrer innerſten Seele nach
Einfachheit, Beſcheidenheit und Natürlichkeit. Mit den kleinſten Mitteln weiß Haas Lichter auf-
zuſetzen, die in ungetrübter, warm durchleuchteter Helle funkeln. Erſtaunlich die Sicherheit der
Geſtaltung, die in der Fülle überfprudelnder Gedanken und Einfälle ſich nicht mit flüchtiger
Verkittung begnügt, aber auch nicht im Detail unterliegt, ſondern maßvoll mit ebenſo großer
Hingabe als Selbſtzucht waltet ſtets in Unterordnung und Rückſicht auf das Ganze. Nichts aber
foll nur billiges Füllwerk und ſtumpfe, reizloſe Nebenſächlichkeit fein. Wer einmal die oft · un-
ſcheinbaren Schlüͤſſe (etwa der unübertroffenen „Hausmärchen“, „Geſpenſter“ und „Wichtel
mannchen“ oder der Zyklen „Deutſche Reigen und Romanzen“, „Schwänte und Zdyllen“ für
Klavier) aufmerkſam verfolgt, der wird ſtaunen, wie da in wenigen Takten auf kleinſtem Raum
ein eignes Leben erblũht und nicht in einem konventionellen Schlußakkord erſtarrt. Das iſt Poeſie,
muſikaliſche Oichtkunſt, die ihren Reiz weniger von der Farbe als vor allem von der Linie und
Zeichnung empfängt.
So vermag dieſe Kunſt auch in ihrer Wirkung Geift und Gemüt zu feſſeln; fie läßt das eine
nicht auf Koſten des anderen leer verkümmern. Darin liegt ein Hauptreiz der Haasſchen Kam-
mer- und Hausmuſik, die immer mehr gewinnt, je tiefer man ſich in ſie verſenkt; je intimer
und unmittelbarer ihre Aufnahme, deſto reicher die Entfaltung ihrer Feinheit und lebendigen
Kraft! Diefe Kunſt ſchielt und lauert nicht auf rauſchenden Beifall, auf Effekt und Erfolg; fie
verlangt Liebe und liebevolle Hingabe, da aber wird ſie ein Born der Freude, der Erhebung
und Erholung ſein, urgeſunde, urdeutſche Muſik!
Haas hat uns eine ſtattliche Fülle dieſer köſtlichen Gaben geſchenkt, dennoch wäre es durchaus
verfehlt, wollte man in ihm nur einen Meiſter der intimen Kunſt, einen Kammermuſiker und
„Hauspoeten à la Spitzweg“ erkennen. Gerade der letzte Vergleich iſt nicht ſehr glücklich gewählt
und hat vielfach ſchiefe Anſchauungen erweckt. Der intimen, kammermuſikaliſchen Kunſt gehört
nur eine, wenn auch bislang die überragende Hälfte ſeines Schaffens. Wir haben ſie hier in
den Vordergrund geſtellt, einmal ihrer Verbreitung wegen, dann aber insbeſondere, weil die
fünftlerifch-ernfte Erneuerung unferer Hausmuſikpflege alle anderen Fragen muſikaliſcher Kultur
an Bedeutung und entſcheidender Tragweite für unſre Zukunft übertrifft, und darum das, was
dieſem Geiſte dient, in bevorzugtem Maße unſere Beachtung beanſprucht. Schließlich wird der
Künftler, der durch feine intime Kunſt in Kammer- und Hausmuſik unſre Liebe und Zuneigung
genießt, auch mit ſeinen großen Schöpfungen ein weitaus leichteres Verſtändnis und ernſteres
Intereſſe finden, als es lediglich durch vereinzelte Konzertaufführungen möglich iſt. Haas aber
bat in größerem und großem Rahmen nicht minder Hervorragendes geleiſtet, ja feine neuere
Entwicklung ſcheint ihn ſtärker als zuvor nach dieſer Seite hinzudrängen. Fiel ſchon vor Jahren
ein Werk wie die Konzertſonate in A-Moll (für Klavier) durch die unerhörte Wucht und Kühn⸗
beit feiner Sprache auf, fo zeigt jetzt eben auch die jüngſte Schöpfung, eine Variationen Suite
über ein altes Rokoko Thema, wie ſehr diefer Künftler als ſicherer Beherrſcher und Geſtalter
— — — — —— —w—4
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— — — mn
536 Turmers Tagebuch
Immerhin iſt England die einzige Feindesmacht, die einen Hauch des vielge-
rühmten Locarnogeiſtes verſpüren läßt. Wer traut hingegen einem Briand über
den Weg, trotz feiner Liebenswürdigkeiten in der Weinlaube von Ascona? Jit es
wirklich fo, daß er perſönlich die Belegziffern der zweiten und dritten Zone gerne
verringern möchte, allein an dem Starrſinn der Generale ſcheitert? Es könnte ſein,
daß er ſich nur allzu gerne hindern läßt. Seine Gentlemans-Zuſagen haben von
vornherein einen wenig gentlemaniſchen Doppelſinn und Doppelboden beſeſſen.
Locarno hat die Franzoſen gegen unſren Angriff geſichert. Was behält die Be-
ſetzung dann noch für einen logiſchen Sinn? Im vorigen Tagebuch verglich ich
unſren Eintritt in den Völkerbund demjenigen Frankreichs in die heilige Allianz.
Damals gaben die ruſſiſchen, öſterreichiſchen und preußiſchen Truppen die beſetzten
Gebiete ſofort frei. Nichts war folgerichtiger. Wenn man einander in die Rechte
verſpricht, Frieden zu halten, dann iſt's Tücke, wenn die Linke derweil in der Rock
taſche heimlich die Piſtole entſichert.
General Walch, der Vorſitzende der Überwahungstommiffion, in den Klein-
ſeherkünſten des Federchenſuchens und Härchenſammelns feit Jahren bis zur
Meiſterſchaft bewandert, hat wieder einen dicken Bericht eingeſandt, wonach Deutſch⸗
land mit feiner Abrüftung im ſtärkſten Rückſtand fei. Das bedinge eine beträchtliche
Verlängerung ſeines und ſeiner Mitarbeiter Berliner Aufenthaltes. Dieſe Herren
von der Kommiſſion werden hoch bezahlt und ſehen daher dem Erlöſchen ihrer
Obliegenheit mit geſchäftsmänniſchen Schmerzen entgegen. Von welchen Nidtig-
keiten doch unſer Schickſal heutzutage abhängt! Man hat geſagt, die Weltgeſchichte
wäre anders gelaufen, wenn Kleopatra eine Warze im Geſicht gehabt hätte: denn
dann hätte bei Actium mutmaßlich Mare Anton gefiegt. Vielleicht würde auch uns
der gute Wille endlich befcheinigt, wenn man die Gehälter dieſer Nutznießer unfres
vorgeblich böſen Willens friſchweg auf die Hälfte verminderte.
Noch ſchwerer als die Kontrollkommiſſion werden wir natürlich die Beſatzungen
der zweiten und dritten Zone los. Und doch wäre dies, wie auch der Lord Parmoor
in der Pariſer „Volonté“ anerkennt, nach Locarno nicht weniger als ſelbſtver⸗
ſtändlich. Sogar in Verſailles, wenige Tage, bevor man uns den Schmachfrieden
aufzwang, am 16. Juni 1919 nämlich, unterſchrieben Wilſon, Lloyd George und
Clemenceau eine gemeinſame Erklärung zum Artikel 431 des Friedensvertrages,
daß, wenn Deutſchland guten Willen zeige, brav erfülle und Bürgfchaften gebe,
die Beſatzungen früher zurückgezogen werden könnten. Heute ſchweigt man dieſes
Aktenſtück tot und will ſich auf nichts einlaſſen. Auf welcher Seite lauert denn da
der böſe Wille?
Der bayeriſche Miniſterpräſident Held verweiſt darauf, daß die zähe franzöſiſche
Rheinlandpolitik ſich jetzt auf die Pfalz verlegt. Es werden dort die Belegſchaften
vermehrt; in Diedenhofen und Hinterbronn aber harrt das erkaufte Separatiſten-
geſindel neuer Winke. Offenbar hofft man, wenn nicht mehr auf den ganzen Rhein,
ſo doch immer noch wenigſtens auf das Vorgelände Elſaß Lothringens. Je deutlicher
dies wird, deſto mehr muß aber jedes Vertrauen auf redliche Abſichten Frankreichs
ſchwinden. Nicht nur bei uns. Parmoor nannte bereits Locarno einen neuen Betrug
in der langen Kette von Täuſchungen, die mit Wilſons vierzehn Punkten begannen.
Zürmers Tagebuch 537
Wie eine Vogelſcheuche mutet es an, daß neben England als Bürge für unfre
Rheinbelange und für den Locarno-Geiſt auch Benito Muſſolini unterſchrieben hat.
Der Mann wird immer merkwürdiger; beim Studium ſeines Weſens treffen ſich
der Politiker, der Geſchichtsforſcher und der Nervenarzt. Den einen intereſſiert der
Charakter an ſich, der offenbar zwiſchen Genie und ZIrrſinn pendelt, wobei noch
zweifelhaft, bei welchem von beiden er endet. Die anderen ſeine Wirkung auf die
Seele des Volkes, die gerade wegen des pathologiſchen Einſchlags deſto ſtärker
ift und daher verhängnisvoll werden kann für die Zukunft Europas. Dadurch ge-
winnt man neue Geſichtspunkte, ſowohl für die Geſchichte, die nichts iſt als ge-
ronnene Politik, wie auch für die Politik, dieſes Gefäß voll flüſſiger Geſchichte.
Ich bekenne herzhaft, daß ich Muſſolinis Auftreten begrüße. Es iſt durchaus zum
Beſten der armen Südtiroler. Hätte er dort ſtill aber zäh gearbeitet, deren Hilfe-
rufe wären wie zwiſchen Polſterwänden erſtickt. Ganz wie damals, als man
jie, ohne ihren Willen zu hören, an Italien gab. Jetzt aber ſchaut die ganze Welt
nach dem Brenner, und die engliſche Preſſe tobt. Sie nennt Muſſolini einen tollen
Hund und einen hyſteriſchen Feuerfreſſer. Das wird zwar niemals den Völker-
bund bewegen, ſeine ſatzungsgemäße Pflicht zugunſten der Minderheiten zu tun.
Denn England braucht Italien zu nötig gegen die Türken, und Frankreich freut ſich
über alles, was gegen das Deutſchtum geht. Aber in Amerika droht der Senat
mit der Ablehnung des ſehr günftigen italieniſchen Schuldenabkommens, das der
ſchlaue Volpi in Waſhington erſchlich. So könnte der moraliſche Druck auf Rom
gleichwohl ſo hoch werden, daß er die Gepeinigten doch noch entlaſtet.
Italien war es, das in Cäſar, den Renaiſſancegeprägen und Napoleon die Muſter
zum Übermenſchen jenfeits von Gut und Böfe entwickelte. Muſſolini hielt fi offen-
bar für den Mann, der dieſe Lifte zu vergrößern beſtimmt fei. Durch feine un-
geheure Willenskraft, die zu raſchen Erfolgen führte, geblendet, konnten auch andere
es glauben. Aber gerade die letzten Wochen haben ſchwer enttäuſcht. Nichts an ihm
erinnert an jene Borgia Naturen, in denen der Böſewicht ſich fo geiſtvoll, jo ge-
pflegt, ſo durchgebildet und anmutig zu geben verſtand, daß man nicht weiß, ob
man bewundern oder ſchaudern ſoll. Muſſolini iſt von alledem nur ein Zerrbild.
Die Grazien ſind völlig ausgeblieben. Der Duce iſt immer noch der Proletarier, als
welcher er in das politiſche Leben eintrat; er ſcheint Plumpheit für politiſche Me-
thode zu halten, und wenn er fo herauspoltert, was Italien erſtrebe und von jedem
Nachbarn fordern miiffe, dann denkt man an jenes Wort, das in den Tagen zwiſchen
Tilſit und Leipzig, als Napoleon auf ſeiner Höhe ſtand, Blücher zu ſagen pflegte,
ſo oft er von einem neuen Erfolg des Korſen hörte: „Ein dummer Kerl iſt er doch.“
„Nicht Cäſar, nur Caligula“, jo wurde er jüngft im Reichstage genannt. Vielleicht
wäre der Gerber Kleon die befte Vergleichsfigur aus der Geſchichte. Der gewaltige
demagogiſche Einſchlag ſeines Weſens iſt es, der ihn ſo gefährlich macht. Bei dem
leicht entflammten, phantaſiereichen Volke führt er, ſofern nicht beizeiten abgeſtoppt
wird, Italien und, falls dieſes darüber einen Amoklauf antreten follte, noch allerlei
Nachbarländer obendrein, unter Umſtänden vielleicht ganz Europa in den Abgrund.
Schaut und lernt! Zieht Schlüſſe aus dem, was ihr ſeht und berichtigt euer
Denken nach der Erfahrung! Muſſolini iſt für ſich allein ſchon ein vollſtändiger
— — —— — ä —— —g— — 2 — — rn —— — — — — — — — — —
540 Türmers Tagebuch
Matroſen taten, hat es in den Abgrund geſtürzt. Dante würde die Täter in ſeine
Eishölle ſtoßen; in jene Giudecca, wo Satan den Judas Ffchariot für den Verrat
am Heiland in ſeinem fürchterlichen Maule ewig aufs neue zerfleiſcht!
Hinter dem Reichstag will das Preußenhaus nicht zurückbleiben. Es hat daher
eine Femekammer aufgemacht, oder wie es amtlich heißt, einen „Unterfuhungsaus-
ſchuß zur Aufklärung der Beziehungen zwiſchen Fememorden, deutſchnationalen
Abgeordneten und Arbeitgeberverbänden“. Hier iſt Kuttner Berichterſtatter, einſt
der Führer der revolutionären Soldateska Berlins, alſo gleichfalls eine höchſt finn-
voll auserkorene Perſönlichkeit; und worauf es hinaus will, das verrät der be-
zeichnende Name. Dieſe Fememorde, die jetzt aufgedeckt werden, ſind wahrlich
ein ſchauderhaftes Zeichen deutſcher Seelen verwilderung in der Nachkriegszeit. Es
erſchüttert um fo tiefer, weil es ſittliche Zerſetzung auch dort verrät, wo man bis-
her noch den guten alten geſunden deutſchen Geiſt vorausſetzte. Ein Teil der Fälle
hat bereits ſeine Sühne gefunden; die anderen abzuurteilen, iſt Sache der Gerichte,
und zwar der Gerichte ganz allein. Dieſes Richterſpielenwollen von gänzlich Un-
berufenen hingegen iſt eine furchtbare Gefahr, wogegen jeder Einſpruch erheben
muß, der es wohl meint mit dem Vaterlande. Denn es führt zur Konventsherr-
ſchaft und durch ſie in den Abgrund.
Die deutſche Seele iſt krank. Viel kränker, als wir glaubten. Vor unſren Augen
entſchleiern ſich erſchreckende Beweiſe. Es iſt wie nach dem Dreißigjährigen Krieg;
aus gleicher Urſache entſpringt gleiche Wirkung. Und wie damals können unſre
Paſtoren beten: „Herr, komme herab, ehe denn dein Volk ſterbe“. F. H.
(Abgeſchloſſen am 19. Februar)
Zürmers Tagebuch 537
Wie eine Vogelſcheuche mutet es an, daß neben England als Bürge für unfre
Rheinbelange und für den Locarno-Geiſt auch Benito Muſſolini unterſchrieben hat.
Der Mann wird immer merkwürdiger; beim Studium ſeines Weſens treffen ſich
der Politiker, der Geſchichtsforſcher und der Nervenarzt. Den einen intereſſiert der
Charakter an ſich, der offenbar zwiſchen Genie und Irrſinn pendelt, wobei noch
zweifelhaft, bei welchem von beiden er endet. Die anderen ſeine Wirkung auf die
Seele des Volkes, die gerade wegen des pathologiſchen Einſchlags deſto ſtärker
iſt und daher verhängnisvoll werden kann für die Zukunft Europas. Dadurch ge-
winnt man neue Geſichtspunkte, ſowohl für die Geſchichte, die nichts iſt als ge-
ronnene Politik, wie auch für die Politik, dieſes Gefäß voll flüſſiger Geſchichte.
Ich bekenne herzhaft, daß ich Muſſolinis Auftreten begrüße. Es iſt durchaus zum
Beſten der armen Südtiroler. Hätte er dort ſtill aber zäh gearbeitet, deren Hilfe-
rufe wären wie zwiſchen Polſterwänden erſtickt. Ganz wie damals, als man
jie, ohne ihren Willen zu hören, an Italien gab. Jetzt aber ſchaut die ganze Welt
nach dem Brenner, und die engliſche Preſſe tobt. Sie nennt Muſſolini einen tollen
Hund und einen hyſteriſchen Feuerfreſſer. Das wird zwar niemals den Völker-
bund bewegen, feine ſatzungsgemäße Pflicht zugunſten der Minderheiten zu tun.
Denn England braucht Italien zu nötig gegen die Türken, und Frankreich freut ſich
über alles, was gegen das Deutſchtum geht. Aber in Amerika droht der Senat
mit der Ablehnung des ſehr günſtigen italieniſchen Schuldenabkommens, das der
ſchlaue Volpi in Waſhington erſchlich. So könnte der moraliſche Druck auf Rom
gleichwohl ſo hoch werden, daß er die Gepeinigten doch noch entlaſtet.
Italien war es, das in Cäſar, den Renaiſſancegeprägen und Napoleon die Muſter
zum Übermenſchen jenfeits von Gut und Böſe entwickelte. Muſſolini hielt ſich offen-
bar für den Mann, der dieſe Lifte zu vergrößern beſtimmt fei. Durch feine un-
geheure Willenskraft, die zu raſchen Erfolgen führte, geblendet, konnten auch andere
es glauben. Aber gerade die letzten Wochen haben ſchwer enttäuſcht. Nichts an ihm
erinnert an jene Borgia Naturen, in denen der Böſewicht ſich fo geiſtvoll, fo ge-
pflegt, ſo durchgebildet und anmutig zu geben verſtand, daß man nicht weiß, ob
man bewundern oder ſchaudern ſoll. Muſſolini iſt von alledem nur ein Zerrbild.
Die Grazien ſind völlig ausgeblieben. Der Duce iſt immer noch der Proletarier, als
welcher er in das politiſche Leben eintrat; er ſcheint Plumpheit für politiſche Me-
thode zu halten, und wenn er fo herauspoltert, was Stalien erſtrebe und von jedem
Nachbarn fordern miiffe, dann denkt man an jenes Wort, das in den Tagen zwiſchen
Tilſit und Leipzig, als Napoleon auf ſeiner Höhe ſtand, Blücher zu ſagen pflegte,
ſo oft er von einem neuen Erfolg des Korſen hörte: „Ein dummer Kerl iſt er doch.“
„Nicht Cäſar, nur Caligula“, ſo wurde er jüngſt im Reichstage genannt. Vielleicht
wäre der Gerber Kleon die beſte Vergleichsfigur aus der Geſchichte. Der gewaltige
demagogiſche Einſchlag ſeines Weſens iſt es, der ihn ſo gefährlich macht. Bei dem
leicht entflammten, phantaſiereichen Volke führt er, ſofern nicht beizeiten abgeſtoppt
wird, Italien und, falls dieſes darüber einen Amoklauf antreten ſollte, noch allerlei
Nachbarländer obendrein, unter Umständen vielleicht ganz Europa in den Abgrund.
Schaut und lernt! Zieht Schlüſſe aus dem, was ihr ſeht und berichtigt euer
Denken nach der Erfahrung! Muſſolini iſt für ſich allein ſchon ein vollſtändiger
538 Ctirmers Tagedud
Lehrgang praktiſcher Politik. Unſere Völkiſchen hatten vergeſſen, wie frevelhaft
dieſer Mann im Fabre 1915 fein Volk in Treubruch und Krieg gegen uns gehetzt;
ſie träumten ſich in ihm einen verſtohlenen Helfer zurecht. Nun ſehen ſie, daß Fuchs
auch dann Fuchs bleibt, wenn ſein Balg die Haare wechſelt. Kann es anders ſein?
Nationalismus iſt jedem Nationalismus feind; wo der Welſchfaſziſt auf den Deutſch⸗
faſziſten ſtößt, da ballen ſich die Fäuſte, und ſie ringen um das Recht des ſtärkeren
Volkstums.
Noch ſchlimmer werden freilich die Sozialdemokraten enttäuſcht. Schon lange
haſſen ſie in Muſſolini den abtrünnigen Genoſſen; daher ihr grenzenloſes Mitleid
mit den ſonſt fo weſensfremden Südtirolern. Dieſer lombardiſche Gewaltwiiterid
ſchlägt aber auch alle ihre Sehnſuchtsbilder ſchonungslos in Scherben. Parlamen-
tarismus und Demokratie liegen bereits zertrümmert; nun muß man auch noch
am Pazifismus verzweifeln.
Erweiſt nicht Muſſolinis ſchreihälſiges Quos ego, daß auch der Frömmſte nicht
kann in Frieden bleiben, wenn es dem böſen Nachbar nicht gefällt? Hat die Kuh
den Schwanz verloren, dann merkt fie erſt, wozu er gut war. Wir wurden an-
geraunzt, nicht trotzdem, ſondern weil wir abgerüftet find.
Und endlich der Völkerbund! Muſſolini hat für Genf nichts als Götz von Ber-
lichingenſche Anſinnen, gleichwohl empfängt er regelmäßig die höfliche Gegen-
einladung in einen von den feds fo begehrten Ratsfeffeln. Er hat den Satzungen
ins Geſicht geſpien, aber der römiſche Senat jubelte ihm zu; die Prinzen, Annun-
ziatenritter, Präfekten, Biſchöfe und Geiſtesgrößen desſelben Italiens, das doch
auch ein Genfer Gründerſtaat ift..,
Womit der eine gekocht iſt, damit iſt der andere gebrüht. Zettelt nicht zugleich
Frankreich die nichtswürdigſten Bündeleien? Mehr übel als wohl hat es uns
einen Ratsſitz zugeſagt. Nun will es hintenherum wieder nehmen, was es vorn
gab. Damit unſer Einfluß den ſeinigen nicht ſchwächt, ſollen Polen, Spanien,
Braſilien auch in den Rat.
Abermals dreht es uns damit ein Locarno-Wort im Munde herum und aber-
mals erkennt man einen der berüchtigten Advokatenkniffe jenes Herrn Briand,
deſſen Vorname Ariſtide dem atheniſchen Vorgänger ſo ſchreiende Unehre macht.
Was wir vollwichtig erkauften, ſoll uns auf die Hälfte entwertet, was wir in Gold-
franken erwarten durften, in Inflationsſcheinen bezahlt werden.
Das ſchafft eine verteufelt ernſte Lage. Wir werden deutſch zu reden haben in
Genf. Aber auch lateiniſch in Berufung auf die Treu und den Glauben des „rebus
sic stantibus“ aus dem römiſchen Rechte. Dringt dies nicht durch, dann ziehen
wir unfer Wort zurück und bleiben dieſer G. m. b. H. fern, die ſich wieder einmal
als die Geſellſchaft mit böſen Hintergedanken bloßſtellt. Wo Diplomaten, da Ranke;
man weiß es nicht anders. Allein nirgends werden mehr Hintertreppen beſchlichen,
mehr Gruben gegraben und mehr Fallen geſtellt, als gerade in dieſem Völkerbunds⸗
rat, gegründet „zur Pflege gegenſeitigen Verſtändniſſes“.
Solche immer neuen Erfahrungen machen illuſionslos. Nichts ſchwerer über-
haupt, als Politiker zu fein und Idealiſt zu bleiben. Unfere beſten Staatsmänner
packte zuzeiten die Berufskrankheit kalter Weltverachtung. Bitter ſagte Bismarck,
Zürmers Tagebuch 539
wir alle ſeien Menſchen nur bis übers Knie, dann aber fange gleich das Luder an;
Friedrich der Große mahnte in ſeinem politiſchen Teſtamente den Nachfolger, nie
zu vergeſſen, welcher gottverfluchten Raſſe wir angehörten.
Draußen ſucht Volk dem Volke zu ſchaden, drinnen nicht minder böſe, ja boshaft,
Partei der Partei.
Gegen den Unfug der parlamentariſchen Unterſuchungsausſchüſſe hat der „Tür-
mer“ ſchon früher ſein Mahnwort eingeſetzt. Sie behaupten, klären zu wollen,
allein fie verdunkeln nur; fie legen nicht bei, ſondern verhetzen die Öffentlichkeit
im ſchnöden Parteiintereſſe. Sie ſind Wahlmachenſchaften auf Reichskoſten; ſonſt
nichts.
So wurden jüngſt die Verhältniſſe in unſerer Kampfflotte kurz vor dem Um-
ſturz auf den Tiſch des Hauſes gebreitet. Einſtimmig hatte der Ausſchuß den Ge-
noſſen Dittmann zum Berichterſtatter beſtellt. Die beteiligten Vertreter der Rechts-
parteien müffen kindlichen Gemütes fein. Denn Dittmann war zum mindeſten
Mitwiffer, wenn nicht Mitanftifter und Mitſchuldiger an den Meutereien, worüber
er ein unbefangenes Bild geben ſollte. War das nicht, als ob Poincaré nach Genf
berufen würde zu einem Gutachten über die Schuld am Kriege?
Was dabei herausſprang, das war naturgemäß die einſeitigſte Parteigehäſſig-
keit, die überdies noch den dreiſten Verſuch machte, als amtliche Denkſchrift zu
laufen. Eine Woche lang ſchrie die ſozialdemokratiſche Preſſe Zeter über entſetz⸗
liche Juſtizmorde an zwei „ſtandrechtgemeuchelten“ Opfern eines irrſinnigen Mili-
tarismus. Großberliner Stadtväter von zinnoberroter Wollfärbung beſchloſſen eine
Reidpiefd- und eine Sachſe- Straße. Aus der Matrofenmeuterei wurde unter un-
flätigen Beſchimpfungen unfrer Seeoffiziere mit behender Taſchenſpielerkunſt eine
„Meuterei der Abmirale“.
Prinz Max von Vaden, der letzte kaiſerliche Reichskanzler, hatte nämlich erklärt,
ihm ſei der Oktoberplan eines verzweifelten, großen Flottenſtoßes gegen die engliſche
Küſte nicht bekannt geweſen. Alſo, ſo folgert Dittmann, waren unſre Seeſtrategen
Verbrecher, die Heizer aber, die ſich weigerten und die Feuer aus den Keſſeln
riſſen, Retter des Vaterlandes. Vierzehn Tage ſpäter machten ſie freilich nach der
kleinen Revolution gegen die Admirale die große gegen denſelben Reichskanzler;
aber daran denken die Herren Splitterrichter in ihrem bewußten Phariſäertume
lieber nicht.
Prinz Max hat übrigens noch mehr geſagt. Nämlich, daß er, wäre er gefragt
worden, den Angriff gutgeheißen hätte. Es wäre allerdings ein Wagnis geweſen,
allein ein Sieg hätte dem deutſchen Volke einen gewaltigen Auftrieb zum Durch-
halten gebracht. Dies alles habe die Matroſenmeuterei durchkreuzt und dadurch
„ber nationalen Verteidigung das Rückgrat gebrochen“.
Damit erhebt ſich aufs neue der furchtbare Vorwurf vom Dolchſtoß, und zwar
aus dem Munde des damals maßgebenden Kanzlers. Allein die Schreier, die jenes
andere Wort von ihm zu Tode hetzen, indem ſie eine Formfrage zur Schandtat
ſtempeln, werfen dieſes unter den Tiſch und machen den dümmſten Frevel der
Weltgeſchichte zu einem preislichen Verdienſt. Was die Admirale wollten, war
eine Yorktat, wie die von Tauroggen, und konnte das Vaterland retten; was die
540 Zlirmers Tagebuch
Matrofen taten, hat es in den Abgrund geſtürzt. Dante würde die Täter in feine
Eishölle ſtoßen; in jene Giudecca, wo Satan den Judas Fſchariot für den Verrat
am Heiland in ſeinem fürchterlichen Maule ewig aufs neue zerfleiſcht!
Hinter dem Reichstag will das Preußenhaus nicht zurückbleiben. Es hat daher
eine Femekammer aufgemacht, oder wie es amtlich heißt, einen „Unterfuchungsaus-
ſchuß zur Aufklärung der Beziehungen zwiſchen Fememorden, deutſchnationalen
Abgeordneten und Arbeitgeberverbänden“. Hier iſt Kuttner Berichterſtatter, einſt
der Führer der revolutionären Soldateska Berlins, alſo gleichfalls eine höchſt finn-
voll auserkorene Perſönlichkeit; und worauf es hinaus will, das verrät der be-
zeichnende Name. Dieſe Fememorde, die jetzt aufgedeckt werden, ſind wahrlich
ein ſchauderhaftes Zeichen deutſcher Seelenverwilderung in der Nachkriegszeit. Es
erſchüttert um fo tiefer, weil es ſittliche Zerſetzung auch dort verrät, wo man bis
her noch den guten alten geſunden deutſchen Geiſt vorausſetzte. Ein Teil der Fälle
hat bereits ſeine Sühne gefunden; die anderen abzuurteilen, iſt Sache der Gerichte,
und zwar der Gerichte ganz allein. Dieſes Richterfpielenwollen von gänzlich Un-
berufenen hingegen iſt eine furchtbare Gefahr, wogegen jeder Einſpruch erheben
muß, der es wohl meint mit dem Vaterlande. Denn es führt zur Konventsherr-
ſchaft und durch ſie in den Abgrund.
Die deutſche Seele iſt krank. Viel kränker, als wir glaubten. Vor unſren Augen
entſchleiern ſich erſchreckende Beweiſe. Es iſt wie nach dem Dreißigjährigen Krieg;
aus gleicher Urſache entſpringt gleiche Wirkung. Und wie damals können unſre
Paſtoren beten: „Herr, komme herab, ehe denn dein Volk ſterbe“. F. H.
(Abgeſchloſſen am 19. Februar)
Auf der Warte
Waſſermann fagt nun zu der Plagiat-An-
ſchuldigung: „Ich habe dieſe Arbeit als Stu-
die für einen großen Kulturroman unter-
nommen, hatte aber den Plan dann aufge-
geben und dieſe Studie als ſolche in der dichte
riſchen Form einer fiktiven Chronik veröffent-
licht. Ich konnte mir um ſo weniger denken,
daß die Benutzung Prescotts unbemerkt blei-
ben würde, als dieſes Werk die klaſſiſche, ja
faſt einzige Darſtellung jener Epoche iſt. —
Wäre es nicht eine Trivialität, würde ich mich
auf Goethe berufen und feine Äußerungen
über Plagiatſchnuͤffelei und Plagiatbezichti-
gung . . ich wollte einen bereits mit ſicherer
Hand gezeichneten hiſtoriſchen Vorgang ein-
fach nachzeichnen.“
Zu gleicher Zeit deckt der „Magdeb. Gen.
Anz.“ in feiner Nummer vom 3. Januar eine
andere lehrreiche „Benutzung“ auf. Der Ora-
maturg der Magdeburger Städtiſchen Bühne,
Dr. Harald Güthe, zeichnet in Heft 7 der
Theaterbläͤtter einen Aufſatz „Strindberg“ mit
ſeinem Namen, vergißt aber hinzuzufügen,
daß — wie im Falle Waſſermann mit ge-
ringen Stilverſchwulſtungen — Wort für Wort
bereits Albert Soergel in ſeiner neuen Folge
der „Dichtung und Dichter der Zeit“ ge-
ſchrieben hat.
Der Theaterbeſucher ſchleppt natürlich nicht
den dicken Soergel in der Taſche herum, und
ein Waſſermannſcher Novellenleſer kennt nicht
die amerikaniſchen Geſchichtsſchreiber, am
wenigſten im Urtext. Es iſt alſo 99 zu 100 zu
wetten, daß man getroſt plündern kann, ohne
Gefahr, entdeckt zu werden. Und da dieſe Ge-
fahr nicht beſteht, wozu ſoll man den eigent-
tichen Urheber der huͤbſchen Idee, des präd-
ligen Stoffes nennen! Der eigene Name tut's
beſſer.
„In meinem Fall galt es nicht, eine Armut
zu verſchleiern, daran wird niemand zweifeln,
der meine Schriften kennt, noch weniger war
die Lockung vorhanden, mich mit fremden
Federn zu ſchmücken, noch dazu ſo leicht
erkennbaren“ — ſagt Waſſermann mit dem
ganzen Bruſtton der Entrüſtung und in An-
erkennung ſeines eigenen literariſchen Wertes.
Nein, Herr Jakob Waſſermann, ſo ſteht's
denn doch nicht! Diefer Diebſtahl iſt eben für
Der Tlirmer X XVIII, 6
545
deutſche Leſer nicht leicht erkennbar. Weshalb
gaben Sie denn nicht dem Vorgaͤnger die
Ehre, zum mindeſten in einer Fußnote auf
die Quelle hinzuweiſen? Aber — und das iſt
das traurige Symptom unſerer Zeit: Dieb-
ſtahl in jeglicher Art wird als unanſtändig im
neuen Deutſchland gar nicht empfunden.
Worte wie Anſtand oder Würde oder Ehr-
furcht find ein unbekannter Begriff ge-
worden. Die aufgeſtochene Barmat-Kutisker-
Beule, die politiſchen Skandale ſtinken zum
Himmel; bis in das kleinſte Neſt ſpülen die
unſauberen Wogen einer heuchleriſchen, durch
und durch verlogenen Zeit, an der nichts mehr
geſund iſt. |
Für Verleger und Schriftleitungen, die noch
Wert darauf legen, zu der alten guten Garde
zu gehören, bei der das Wort von Treu und
Redlichkeit noch Geltung hat, ſollten dieſe
„Benutzer“ fremden Gutes ein für allemal
erledigt ſein. Als ich vor 25 Jahren als junger
Dachs in meiner Schrift zum Gudermann-
Harden-Streit „Das Elend der Kritik“ die
Forderung für den Kritiker aufftellte: „Ehr⸗
lichkeit, Beſcheidenheit, Freundlichkeit iſt die
Vorausſetzung jeder echten Kritik und — auch
jeder echten Kunſt“, rief mir Julius Hart zu:
„Warte nur, in zehn Jahren wollen wir uns
wieder ſprechen, ob du dann noch deinen
Idealismus behalten haſt!“
Es find nun zweieinhalb Jahrzehnte dabin-
gegangen, und ich habe mir mit vielen andern,
Gott ſei Dank, dieſen Idealismus trotz all der
Niedertracht, der Vergiftung, der Verlodde
rung der Nachkriegszeit bewahrt. Und wit
müſſen dieſen Idealismus als Keim—
zelle der Geſundung, eines neuen Auf-
ſtiegs hochhalten und reinhalten. Und darum
müſſen wir jeden, der ſich ſo unanſtändig —
um den mildeſten Ausdruck zu gebrauchen —
benimmt, fremdes Gut für eigenes auszu-
geben, ſo energiſch auf die Finger klopfen, daß
er ſich künftig nicht mehr „vergreift“. NB. Da
wir übrigens von Waſſermann ſprechen: er
nennt einen ſeiner neueren Romane ganz
gelaſſen „Oberlins drei Stufen“, meint aber
mit dieſem immerhin ſeltenen Namen nicht
den hiſtoriſchen Oberlin, ſondern irgendeinen
obſkuren Bürger. Unſer jüdifcher Mitbürger
36
542
Dom Reichsehrenmal
u Ehren und zum Gedächtnis der Toten
des Weltkrieges werden in allen Gauen
deutſcher Lande Denkſteine und Ehrenmäler
errichtet oder Eichen und Haine gepflanzt. In
Kirchen und Schulen, in Stadt und Land ge-
denken deutſche Männer und Frauen ihrer ge-
fallenen Söhne und Brüder,
Eine allgemeine Bewegung hat das deutfche
Volk ergriffen, die ein herrliches Zeugnis ab-
legt von feiner inneren Geſundung und Ve-
ſeelung. Aus dieſer Erkenntnis heraus ift ber
große Gedanke geboren, ein einzigartiges
Oenkmal zu ſchaffen, welches allen Volks-
genoſſen ein gemeinſames Heiligtum bedeutet:
Das Reichs ehrenmal.
} Mannigfaltig find die Vorſchläge, die über
Art und Ort dieſes deutſchen Kriegerehren-
males bekannt wurden. Ein Beſchluß des
„Reichsratausſchuſſes zur Errichtung des Na-
tionaldenkmals für die im Weltkriege Ge-
fallenen“ ſtellt zwei Pläne in den Mittelpunkt
des öffentlichen Intereſſes:
Die Schaffung einer Weiheſtätte in der
Reichs hauptſtadt oder die Errichtung eines
Heiligen Haines im Herzen Oeutſch—
lands.
Bedenklich erſcheint gegenwärtig der Bau
eines prunkhaften Monumentalwerkes, wel-
ches unermeßliche Summen Geldes koſten
würde und vielleicht in einem Kunſtſtil Ge-
ſtaltung fände, der weiten Kreiſen unſeres
Volkes unverftändlich, ja geradezu befremdend
bliebe. Die Zeit iſt noch nicht gekommen, in der
unfere Künſtler den angemeſſenen künft-
leriſchen Ausdruck erkennen und offenbaren
können, den ein monumentales Reichsehren-
mal darſtellen muß, um dem gefamten deut-
ſchen Volke ein erhabenes Heiligtum zu ſein,
welches nicht nur die Erinnerung an die blu-
tigen Opfer und Schlachten des Weltkrieges
wachruft, ſondern auch eine Weiheſtaͤtte be-
deutet, die den Gottesfuͤrchtigen zum Gebete
tuft und den Spotter zur Beſinnung mahnt.
Als das Völkerſchlachtdenkmal in Leipzig
erbaut wurde, waren hundert Jahre ſeit jenem
furchtbaren Ringen der europäiſchen Mächte
vergangen; und nahezu zweitauſend Jahre
Auf der Werte
nach der Schlacht im Teutoburger Walde ent;
ſtand das Hermannsdenkmal auf der Groten-
burg.
Die Aufgabe unſerer Zeit iſt es, ein Ehren;
mal zu ſchaffen, an dem Kinder und Kindes-
kinder weiterbauen, wenn fie ben gefdidt-
lichen Abſtand gewonnen haben, der die
tieferen Zuſammenhänge im Weltenſchickſal
erkennen läßt. So wollen wir zu dem eigent-
lichen Denkmal nur den Grundſtein legen,
deſſen Inſchrift der Opfer des Krieges gedenkt.
Dieſe heilige Stätte muß in einer ſtill en
Landſchaft inmitten des deutſchen Rei-
ches begründet werden, nicht aber in Berlin,
wo fie vom Gewühle der Weltſtadt, von Po-
litik und Parteikampf umgeben ift.
Unfern Vätern und Ahnen war der
deutſche Wald zu allen Zeiten ein geweihter
Boden, eine geheiligte Stätte des Schweigens
und das Symbol des göttlich Erhabenen.
Darum ſchlug Ernſt Moritz Arndt im ver
gangenen Jahrhundert vor, zu Ehren der
gefallenen Helden einen Heiligen Hain zu
pflanzen. Dichter und Maler haben dieſen Ge-
danken weitergeſponnen, und die gegen-
wärtige Zeit iſt reif, ihn zu verwirklichen.
Ein lebendiges Ehrenmal“, wie Come
lius Gurlitt in Wort und Schrift empfohlen
hat, einen Heiligen Hain muß das deutſche
Volk ſchaffen, in deſſen Mitte der Grundſtein
für das ſpätere Denkmal liegt. Die Wächter
ſind Frontſoldaten, denen eine Siedlung als
Heimſtatt dient.
Oeutſchlands Jugend wird ſich an dieſer
Stelle verſammeln und um berufene Führer
ſcharen, die ihr von den großen Taten und
Opfern des Krieges erzählen, um Ehrfurcht
und Begeiſterung in ihre Herzen zu fäen.
Dieſe Saat wird zu blühendem Leben er-
wachen und die Geſundung und den Wieder
aufbau unſeres Vaterlandes bezeugen. Das
Grünen und Wachſen der Eichen des Heiligen
Haines, der das Reidsehrenmal umgibt, be
deutet ein Gleichnis von dieſem unverfieg-
baren Leben, das der unſterbliche Geiſt unſerer
gefallenen Krieger beſeelt.
Karl Auguft Walther
Nachwort. Oer Verfaſſer gibt im Verlag
Georg D. W. Callwey in Münden eine
Auf der Warte
ſcheint, das Treiben der Kunſthändler, die uns
mit dem bunten billigen Schund aus ita-
lieniſchen Bilderfabriken überſchwemmen, be-
deutet eine ernſte Gefahr. Wenn man noch die
guten Rinjtler zu uns brächte, aber dieſe
ekligen Schmarren !“
„Gurlitt importiert Zitronen und Apfel-
ſinen, womit er den Markt für einheimiſche
Birnen und Apfel verdirbt.“
„Was früher der Prieſter, der Füͤrſt, der Pa⸗
trizier dem Künſtler war, Beſchützer, Brot-
berr, geiſtiger Leiter, das iſt heute der Runft-
händler, unter Umftänden fogar der Beſitzer
des Künſtlers im Sinne des Sklavenhalters.
Der Kunſthandel wurde oberſter Gebieter.
Gurlitt hat den Böcklin durchgedrüdt und
monopolifiert, Pächter den Menzel an ſich
gebracht. Das iſt das Endergebnis der künftle-
riſchen Entwicklungen im Zeitalter des Bour-
geois im 19. Jahrhundert.“
Oieſe Außerungen des kunſtverſtändigen
und mdrftetundigen Hamburger Galeriediret-
tors Alfred Lichtwark ſind wertvolle Beiträge
zur Kenntnis des Treibens auf dem Berliner
Bildermarkt und follen hiermit der Dergeffen-
heit entriſſen werden. P. O.
Der Voͤlkerroman
Is Karl Anton Poſtl, bekannt unter dem
Namen Charles Sealsfield, feine be
rühmten amerikaniſchen Romane ſchrieb, hob
eine neue Art von Romanſchriften an. Nicht
mehr ein einzelner Menſch war der „Held“
des Romans, ſondern ein ganzes Volk, ja
ganze Völker. Sealsfield erſetzt den Charakter
und die Schickſale eines einzelnen Menſchen
durch „unmittelbare Wiedergabe großer fo-
zialer und hiſtoriſcher Bewegungen“. Ja, er
nannte eines feiner berühmteſten Werke: „Das
Kajüͤtenbuch“ im Untertitel geradezu: „Na-
tionale Charakteriſtiken“.
Unter Sealsfields Nachfolgern ragen be-
merkenswert hervor Willibald Alexis mit
feinen Romanen aus der Geſchichte Branden-
burgs und Freytag mit ſeinen „Ahnen“. Dann
trat eine Pauſe ein. Die bedeutenderen Schrift;
ſteller ſchienen Sealsfields großes und an-
regendes Beiſpiel vergeſſen zu haben und
547
wandten ſich wieder im weſentlichen der
Schilderung des Charakters und der Sdid-
ſale eines einzelnen Menſchen zu. (Man könnte
allenfalls Goedſche- Retcliffe erwähnen, deſſen
vierbändiger Roman „Biarritz“ ſoeben neu er-
ſchienen iſt [geb. 22 K, Oeutſcher Vollsver-
lag, München ]. Diefer Roman enthält das be-
rühmte Kapitel „Auf dem Zudenkirchhof zu
Prag“ S. 126 ff.], nach dem mutmaßlich die
„Protokolle der Weiſen von Zion“ gefertigt
ſind. Hermann Ottomar Friedrich Goedſche,
der unter dem Namen Sir John Retcliffe
ſchrieb, iſt unſtreitig großzügig und packend,
aber in künitlerifcher Beziehung oft bedenklich
und gehört literarhiſtoriſch in die Nähe von
Eugen Sue. D. T.)
Die Fülle des Problems, die Wucht des
Gegenſtandes, die Weite und Höhe des Zieles
finden wir nun neueſtens in den Romanen
der Gräfin Edith Salburg aus Öfterreich.
Dieſe bedeutende Frau vereinigt viele un-
erläßlihe Vorausſetzungen für das Gelingen
der großen Aufgabe. Sie erlebt unmittelbar
das Vöoͤlkerringen um Freiheit und nationale
Kultur; ſie ſteht mitten drin in dieſem Kampfe,
fie ift mit ihm perſönlich verknüpft, und doch
ſteht ſie wieder auf einer ſolchen Höhe, daß
fie das geſamte Blachfeld klar und leiden
ſchaftslos überſchauen kann. Ihre hohe Ge
burt und geſellſchaftliche Stellung, ihre Bluts-
verwandtſchaft mit den hervorragendſten Man;
nern und Frauen aus deutſchem, flaviſchem,
magyariſchem, italieniſchem Geſchlecht läßt fie
blutsmäßig, inſtinktſicher mit feinem Kultur-
gefühl und vollendeter Formbeherrſchung
Kunde geben von der Fülle der Geſichte, Ge-
ftalten, Charaktere, dem unlöslichen Zuſam-
menhange und doch auch wiederum naturnot-
wendigen, furchtbaren Zuſammenprall eng
benachbarter und ſchickſals verbundener, aber
ihrem Weſen nach grundverſchiedener Raſſen
und Völker.
In ihrer Kinderſtube erhielt fie bereits be-
deutende Anregungen, die Irrungen und Wir-
rungen des Vöolkerchaos der öſterreichiſch⸗
ungariſchen Monarchie aus nächfter Mabe zu
betrachten und zu ergründen. Sie lebte im
heimatlichen Steiermark, in Wien, in Böh-
men, in Ungarn, in Rumänien, in der Slo-
548
wakei, in Italien. Sie lernte die öſterreichiſchen
Alpen und die ungariſch-ſiebenbürgiſch- rumã-
niſchen Karpathen kennen. Sie lernte die
Sprachen und damit die Seelen dieſer Natio-
nen, ihre blutige Geſchichte ſeit der Nibe-
lungenzeit; fie erfuhr die Anſichten der be-
deutendſten Männer und Frauen dieſer Döl-
ker über ihr eigenes und das feindliche, aufs
Meſſer bekämpfte Volk. Sie beobachtete den
furchtbaren Völkerkampf aus zentralem Ge-
ſichtspunkt, aus der kaiſerlichen Wiener Hof-
burg, gleichſam aus dem ſtrategiſchen Rnoten-
punkt heraus. Sie erkannte, daß das Haus
Ojterreid) aus habsburgiſchem Blute, getreu
ſeinen Ahnen, gar nicht anders handeln konnte,
als es handelte, nämlich die an Oſterreich ge-
ketteten, angeheirateten Länder und Völker
beamtenmäßig, national geſchlechtslos und
widernational zu „regieren“. zum eigenen Un-
heil und zum Unheil aller „regierten“ Völker
am ſchickſalsreichen Nibelungenſtrom. Sie war
aber auch wiederum ſtändig Zeuge der Wir-
kungen dieſes „Regierens“ auf die unterjochten
Völker. Sie konnte mit eigenen Augen wahr-
nehmen, wie die verfehlte habsburgiſche Poli-
tik trotz aller zentripetalen Abſichten ſchließlich
reichszertrümmernd wirken mußte. Als Nichte
des Feldzeugmeiſters Benedek erhielt fie Ein-
blick in die Geheimniſſe des Konflikts zwiſchen
Oſterreich und Preußen.
Ihr eignet ein ſcharfer Blick für das wefent-
lich Völkiſche, aber auch für das Perſönliche,
Individuelle. Sie iſt in ſtändiger Fühlung mit
den großen, alten, geſchichtemachenden Fa-
milien der Metternich, Lobkowitz, Starhem-
berg, Khevenhüller, Martinitz, Slavata, Ko-
lowrat, Pronay, Wejfelénni, Széchenyi, Zichy,
Eſterhazy, Batthyanyi, Andraſſy, Rarolyi,
Koſſuth und fo fort. Sie verkehrte am Kaifer-
hof und berichtet uns vieles, was uns feſſelt,
in großer Anſchaulichkeit und Farbenglut. Ihre
geſellſchaftliche Stellung bewirkte, daß inner-
halb der von ihr geſchilderten Salons jede
trennende Scheidewand zwiſchen ihr und den
Magnaten und ihren Frauen fiel, ſo daß wir
hineinſehen können in die von der Gräfin ge-
ſchilderten Seelenregungen und Kämpfe der
Raſſen, Völker und Einzelmenſchen.
Zu alledem kommt das Wichtigſte: echtes
Auf der Warte
Künſtlertum! Die Form, der innere Rhyth-
mus, als notwendiger Ausfluß göttlicher
Schöpfungsgeſetze, wird von ihr inſtinktſicher
beherrſcht und der jeweiligen Frage und Lage
organiſch angepaßt. Die Dialekte und Mund-
arten der Völker, Stämme, Gejellichafts-
ſchichten handhabt ſie meiſterlich. Nirgends
erleben wir blutloſe Konſtruktion, ſondern
überall den Pulsſchlag des Lebens.
Man hat fie eine „politiſche“ Dichterin ge-
nannt. Verdient fie dieſen Namen? Nein und
ja; je nachdem wir Politik als etwas Triviales
oder Schickſalsmäßiges betrachten. Tendenz
im kleinlichen Sinne eignet dieſen, politiſchen“
Romanen nichk. Aber glühende, adlige Liebe
zum Vaterlande, zur vaterländiſchen, völfi-
ſchen Kultur, ſtaatsmänniſcher Sinn, klarer,
entſchloſſener Wille.
Unter den Werken dieſer beachtenswerten
Frau ragen am bedeutendſten hervor: „Böh-
miſche Herren“, ,Hofadel in Ofter-
reich“, „Reaktion“ und „Revolution“
(„Hammerverlag“, Leipzig). Sie bilden ein
Ganzes, das ſich „Dynaſten und Stände“
nennt. In dieſen vier Romanen handelt es
ſich im weſentlichen um innere Kämpfe. Den
Zuſammenſtoß mit Preußen ſchildert der Ro-
man: „Wilhelm Friedhoff“. Unter dieſem
Namen verbirgt ſich der Seeheld Tegetthof,
der Sieger in der Seeſchlacht bei Liſſa gegen
Italien. Aber auch der hochſinnige Feldherr
Benedek, der für die Sünden der Wiener Hof-
kamarilla büßen muß, wird hier erfchütternd
geſchildert. Wer nun etwa glauben ſollte, daß
die ſeltene Frau nur „Politik“, wenn auch
im hohen Sinne, in ihren Romanen ſchildert,
der wird ſofort eines Beſſeren belehrt, wenn
er ſich in den Roman: „Judas im Herrn“
vertieft. Er findet hier ein ergreifendes Seelen
gemälde des völkiſchen Kampfes und Wider-
ſtreites zwiſchen deutſchböhmiſchen Chriſten
und ihrem zum Chriſtentum übergetretenen
Biſchof aus jüdifhem Blute. Auch hier ſehen
wir, daß der tiefblickenden Dichterin das ganze
Volk über dem Einzelmenſchen ſteht. Mit feiner
Seelenanalptit wird hier der Unterſchied von
Religion und Raſſe in erſchũtternder Tragik ge-
zeigt. Einen ähnlichen Stoff, aus der Gegen-
wart, behandelt ihr neueſtes Buch, Hochfinanz“.
Auf der Warte
Überblidt man das Ganze dieſer Gefell-
ſchaftsromane, dann könnte man bei ober-
flächlicher Betrachtung zu düſterem Schluſſe
kommen und das Schickſal unſeres deutſchen
Volkes hoffnungslos anſehen. Aber, wer tiefer
ſchaut, der legt dieſe Bücher zwar erſchüttert,
aber doch hochgemut aus der Hand; denn eine
innere Reinigung hat ſich in feinem Geifte
vollzogen, eine Läuterung in dem Chaos von
Anſichten, Lehrmeinungen und Gefühlen. Die
Erkenntnis nämlich, daß es ſich hier um eine
biologiſche Revolution handelt: Wir ſehen in
Flammenſchrift, daß wir verhaftet ſind auf
Gedeih und Verderb in das Schickſal der
Nationen; daß aber das Schickſal der Natio-
nen nur dann ſich harmoniſch und glüdhaft
geſtalten kann, wenn die Völker eine ihrer
Eigenart nach Form und Inhalt entſprechende
nationale Kultur auskriſtalliſieren und feit-
halten in allen Stürmen der Zeit und des
Schickſals. Dr. A. S.
Briefe des Koͤnigs von Uganda
an Karl Peters mögen hier im Anſchluß an
Dr. Schorns Aufſatz über den deutſchen Ro-
lonialpionier mitgeteilt werden. Die Über-
ſetzung aus der Suaheliſprache verdanken wir
dem Miſſionar Paſtor Roehl, Muſau. Der In-
halt der Briefe wird durch die Ausführungen
Dr. Schorns verſtändlich.
1.
Mwanga, König von Buganda, entbietet
Dr. Karl Peters ſeinen Gruß und wünſcht ihm
mitzuteilen, daß er ſoeben einen Brief vom
7. Februar erhalten hat, worin erwähnt iſt,
daß ſich eine Expedition auf der Suche nach
Se. Exzelleng Emin Paſcha in unmittelbarer
Nähe befindet. Mwanga wünſcht ebenſo
Dr. Karl Peters zu benachrichtigen, daß
Dr. Emin von Mr. H. M. Stanley befreit
worden iſt und daß er und alle ſeine Offiziere
und Beamte ſich nach Sanſibar über Ufutuma
und Ugogo begeben haben. Wenn indeſſen
Dr. Peters hierher kommt, wird der König
von Buganda ihn willkommen heißen. Es gibt
hier ſechs europäifhe Miſſionare, zwei Eng-
länder und vier Franzosen, von denen Dr. Pe-
549
ters weitere Nachrichten von der Küſte und
Europa erfahren könnte.
In Buganda hat es Krieg zwiſchen den von
Arabern geführten Mohammedanern und den
zum Chriſtentum Bekehrten gegeben, aber mit
Mr. Stokes Hilfe find die Chriſten ſiegreich ge-
weſen.
2,
An Dr. Karl Beters.
März 24. 1890
Ich begrüße Dich ſehr. Nach dem Gruße ſage
ich Dir: Gehe jetzt nicht weg, warte hier ein
wenig! Kalema iſt jetzt nahe, vielleicht wird er
morgen eintreffen. Und wenn Du fort gehſt,
werden meine Leute von Furcht ergriffen
werden. Sie werden ſagen: Der Deutſche
ſieht Kalema kommen, um zu kämpfen, da
fürchtet er ſich und flieht. So bleibe nun hier
zuſammen mit mir, damit meine Soldaten
hingehen, um jetzt zu kämpfen.
Ich bin Dein Freund
König Mwanga.
Grundeigentum
igentum iſt ein Urgefühl, kein Begriff,
. . . Eigentum im eigentlichſten Sinne ift
immer Grundeigentum, und der Trieb, Er-
worbenes in Grund und Boden zu verwan-
deln, immer das Zeugnis für Menſchen von
gutem Schlage. Die Pflanze beſitzt den Boden,
in dem ſie wurzelt. Es iſt ihr Eigentum, das
fie mit Verzweiflung ihr ganzes Daſein hin-
durch verteidigt“ ... fagt Spengler. Das
platzt in unſere Zeit wie ein Quaderſtein zwi-
ſchen Mauerſteine. Der tiefe wurzelfeſte
Charakter des Grundeigentums iſt bei den
Menſchen der Ziviliſation aufgelöft und in fein
Gegenteil verkehrt. Denn Spekulation iſt
eigentlich das, was dem Grundeigentum
extrem entgegengeſetzt iſt. Das können die
Menſchen der Großſtadt nicht verſtehen. Sie,
die nicht mit der Scholle aufgewachſen ſind,
nehmen zum Grund und Boden eine ebenſo
verſtandesmäßig begriffliche Stellung ein wie
zu allen andern Dingen ihrer Umgebung.
Darum iſt es auch ein Irrtum, zu glauben,
dieſe Menſchen könnten glidlid werden durch
neue Geſetzesparagraphen, wie Art. 155 un-
546
weiß wohl nichts vom gefeierten Pfarrer des
Steintals Johann Friedrich Oberlin, weiß auch
nichts oder will nichts wiſſen von Lienhards
Roman „Oberlin“, der in 150 Auflagen vor-
liegt. Was würde man wohl fagen, wenn je-
mand Peſtalozzis oder Fröbels oder Lavaters
„Drei Stufen“ einen Roman widmete — und
gar nicht die hiſtoriſchen Perſönlichkeiten
meinte, ſondern erfundene Bürger mit fol-
chen Namen belegte? Auch dies eine Frage
des Taktes! Friedrich Dietert —
Berliner Handel mit Kunſt
m 11. Januar ſtarb in Berlin der Runft-
händler Paul Caſſirer durch Selbſtmord
infolge ehelichen Zwiſtes. Die Berliner Preſſe,
ſoweit fie mehr international gerichtet iſt, er-
ſchöpfte ſich in Lobpreiſungen des Derftorbe-
nen und ſeiner Verdienſte um die Künſte,
konnte doch aber nicht ganz die Tatſache unter
drüden, daß er „als echter Geſchäftsmann mit
der ausländiſchen Bildereinfuhr, die fein Lager
und feine Ausſtellungen füllte, viel Geld ver-
diente“, ließ es ſogar zweifelhaft, ob er durch
fein eifriges Eintreten für die Werke fran
zöfifcher Maler und für den Impreſſionismus
eine Entwicklung der feinen, innerlichen, indi-
viduell geſtalteten deutſchen Art nicht für lange
Zeit erdroſſelte.
Scharf über dieſen Kunſthändler urteilte ein
anerkannter Sachverſtändiger, Alfred Licht-
wart (1852—1914), zuletzt Direktor der Ham-
burger Kunſthalle, in ſeinen Briefen an den
Senatsausſchuß. Ein Teil dieſer Briefe wurde
von ſeinem Nachfolger veröffentlicht, ein
anderer Teil aber nur in zwanzig Exemplaren
gedruckt und ijt nur in der Bücherei der Ham-
burger Kunſthalle zugänglich.
Wiederholt kennzeichnete Lichtwark die
Tätigkeit gewiſſer Kunſthändler. So ſchrieb er
am 10. Februar 1904: „Caſſirer hatte uns
weſentlich nur als Einfallstor für franzöſiſche
Kunſt gedient. Wo er auftritt, ſucht er gegen
die deutſche Mißtrauen zu erwecken mit Aus-
nahme feiner Haustinftler.* Am 14. Mai 1904
Hagt er: „Oer Kunſthandel iſt wieder friſch
dabei, die ganze deutſche Kunſt als zweiten
Ranges zu ſtempeln, und es ſieht aus, als
Auf der Warte
ſollte es im zwanzigſten Jahrhundert noch
unter demſelben Fluch weitergehen. Ein Voll,
das ſich nicht ſchätzt, kann feine tinftlerifde
Erzeugung nicht auf der hidften Stufe hal;
ten.“ Noch am 20. April 1912 berichtet er:
„Caſſirer brachte die impreſſioniſtiſchen Haupt-
werke nach Deutſchland. In Paris hatten ſie
keinen Markt. Gegen die Preiſe guter deut-
ſcher Meiſter waren ſie billig.“ Am 1. Februar
1912 äußert er: „Man kauft alles, was nach
noch nicht Dageweſenem wittert. In Paris
weiß man's und nutzt es aus. „De la merde
(Orech, mais assez bon pour les allemands.“
„Wo was Gutes in der deutſchen Malerei des
19. Jahrhunderts auftaucht, heißt es jetzt fo-
fort: das iſt Corot, das iſt Conſtable, das iſt
Courbet! (Meier-Graefe.) Leider trifft es oft
genug zu. Aber mit dieſen Formeln uns alle
Eigenheit abſtreiten zu wollen, das iſt doch um
einen Koller zu bekommen.“ Wie Lihtwart
damals erwähnte, nannte man Herrn Meier-
Graefe ſpöttiſch den Velasqueztöter und
Grecoapoftel, kurzweg Meier - Greco.
Wie Lichtwark am 1. Oktober 1904 berich-
tete, klagte ihm Uhde, „das deutſche Kunſt⸗
leben fei von einer Verſchwörung des Kunſt-
handels bedroht oder ſchon geknechtet. Eine
Gruppe kapitalskräftiger Handler mit Caſſirer
in Berlin an der Spitze als Vollſtrecker der
Pariſ er Gruppe Durand -Ruel ſucht den deut;
ſchen Markt allen deutſchen Künſtlern mit
Ausnahme Liebermanns zu ſperren, hat ein-
flußreiche Zeitſchriften gegründet, hält die
Tagespreſſe unter dem Daumen, läßt Bücher
ſchreiben und Prachtwerke drucken, die gegen
alles Oeutſche Stimmung machen und für eine
kleine Gruppe gewinnen ſollen, mit denen ſie
gerade ſpekuliert.“
„An den Ausſtellungen hat ſich der Kunſt⸗
handel entwickelt, der heute der Herr unenb-
licher Erzeugungsgebiete und zahlloſer Be-
gabungen iſt.“
Schon in einem Briefe vom 19. Dezember
1891 hatte Lichtwark gemeldet: „Schulte iſt in
das Parterre des Redernſchen Palais (in
Berlin) gezogen, wo er aus dem Gewinn an
ſchlechten Bildern ſiebzigtauſend Mark Miete
zahlen kann. Hauptmaſſe italieniſche Einfuhr,
dazwiſchen einige wenige gute Sachen. Mir
Auf der Warte
ſcheint, das Treiben der Kunſthändler, die uns
mit dem bunten billigen Schund aus ita-
lieniſchen Bilderfabriken überſchwemmen, be-
deutet eine ernſte Gefahr. Wenn man noch die
guten Künſtler zu uns brächte, aber dieſe
ekligen Schmarren!“
„Gurlitt importiert Zitronen und Apfel-
finen, womit er den Markt für einheimiſche
Birnen und Apfel verdirbt.“
„Was früher der Prieſter, der Fürſt, der Pa-
trizier dem Künſtler war, Beſchüͤtzer, Brot-
berr, geiſtiger Leiter, das iſt heute der Kunſt⸗
händler, unter Umftänden ſogar der Beſitzer
des Künſtlers im Sinne des Sklavenhalters.
Der Kunſthandel wurde oberſter Gebieter.
Gurlitt hat den Böcklin durchgedrückt und
monopoliſiert, Pächter den Menzel an ſich
gebracht. Das iſt das Endergebnis der küͤnſtle⸗
riſchen Entwicklungen im Zeitalter des Bour-
geois im 19. Jahrhundert.“
Diefe Außerungen des kunſtverſtändigen
und märktekundigen Hamburger Galeriediret-
tors Alfred Lichtwark find wertvolle Beiträge
zur Kenntnis des Treibens auf dem Berliner
Bildermarkt und follen hiermit der Bergeffen-
heit entriſſen werden. P. O.
Der Bölkerroman
Is Karl Anton Poſtl, bekannt unter dem
Namen Charles Sealsfield, feine be-
rühmten amerikaniſchen Romane ſchrieb, hob
eine neue Art von Romanſchriften an. Nicht
mehr ein einzelner Menſch war der „Held“
des Romans, ſondern ein ganzes Volk, ja
ganze Völker. Sealsfield erſetzt den Charakter
und die Schickſale eines einzelnen Menſchen
durch „unmittelbare Wiedergabe großer fo-
zialer und hiſtoriſcher Bewegungen“. Ja, er
nannte eines feiner berühmteſten Werke: „Das
Kajuͤtenbuch“ im Untertitel geradezu: „Na-
tionale Charakteriſtiken“.
Unter Sealsfields Nachfolgern ragen be-
merkenswert hervor Willibald Alexis mit
ſeinen Romanen aus der Geſchichte Branden-
burgs und Freytag mit ſeinen „Ahnen“. Dann
trat eine Pauſe ein. Die bedeutenderen Schrift;
ſteller ſchienen Sealsfields großes und an-
tegendes Beiſpiel vergeſſen zu haben und
547
wandten fi wieder im wefentliden der
Schilderung des Charakters und der Sdid-
fale eines einzelnen Menſchen zu. (Man konnte
allenfalls Goedfhe-Retcliffe erwähnen, deſſen
vierbändiger Roman, Biarritz“ ſoeben neu er-
ſchienen iſt [geb. 22 K, Oeutſcher VDollsver-
lag, München]. Diefer Roman enthält das be-
rühmte Kapitel „Auf dem ZJudenkirchhof zu
Prag“ S. 126 ff.], nach dem mutmaßlich die
„Protokolle der Weiſen von Zion“ gefertigt
ſind. Hermann Ottomar Friedrich Goedſche,
der unter dem Namen Sir John NReteliffe
ſchrieb, iſt unſtreitig großzügig und packend,
aber in kuͤnſtleriſcher Beziehung oft bedenklich
und gehört literarhiſtoriſch in die Nähe von
Eugen Sue. D. T.)
Die Fülle des Problems, die Wucht des
Gegenſtandes, die Weite und Höhe des Zieles
finden wir nun neueſtens in den Romanen
der Gräfin Edith Salburg aus Ofterreid.
Dieſe bedeutende Frau vereinigt viele un-
erlaßliche Vorausſetzungen für das Gelingen
der großen Aufgabe. Sie erlebt unmittelbar
das Völkerringen um Freiheit und nationale
Kultur; ſie ſteht mitten drin in dieſem Kampfe,
fie ift mit ihm perſönlich verknüpft, und doch
ſteht fie wieder auf einer ſolchen Höhe, daß
fie das geſamte Blachfeld klar und leiden
ſchaftslos überſchauen kann. Ihre hohe Ge-
burt und geſellſchaftliche Stellung, ihre Bluts-
verwandtſchaft mit den hervorragendſten Män-
nern und Frauen aus deutſchem, flaviſchem,
magyariſchem, italieniſchem Geſchlecht läßt ſie
blutsmäßig, inſtinktſicher mit feinem Kultur-
gefühl und vollendeter Formbeherrſchung
Kunde geben von der Fülle der Geſichte, Ge-
ſtalten, Charaktere, dem unlöslichen Zuſam-
menhange und doch auch wiederum naturnot-
wendigen, furchtbaren Zuſammenprall eng
benachbarter und ſchickſals verbundener, aber
ihrem Weſen nach grundverſchiedener Raſſen
und Délfer.
In ihrer Kinderſtube erhielt fie bereits be-
deutende Anregungen, die Irrungen und Wir-
rungen des Vöͤlkerchaos der öſterreichiſch⸗
ungariſchen Monarchie aus nächſter Nähe zu
betrachten und zu ergründen. Sie lebte im
heimatlichen Steiermark, in Wien, in Böh-
men, in Ungarn, in Rumänien, in der Slo-
548
wakei, in Italien. Sie lernte die öſterreichiſchen
Alpen und die ungarifch-[iebenbürgifch-rumä-
niſchen Karpathen kennen. Sie lernte die
Sprachen und damit die Seelen dieſer Natio-
nen, ihre blutige Geſchichte ſeit der Nibe-
lungenzeit; fie erfuhr die Anſichten der be-
deutendſten Männer und Frauen dieſer Völ-
ker über ihr eigenes und das feindliche, aufs
Meſſer bekämpfte Volk. Sie beobachtete den
furchtbaren Völkerkampf aus zentralem Ge-
ſichtspunkt, aus der kaiſerlichen Wiener Hof-
burg, gleichſam aus dem ſtrategiſchen Knoten
punkt heraus. Sie erkannte, daß das Haus
Oſterreich aus habsburgiſchem Blute, getreu
ſeinen Ahnen, gar nicht anders handeln konnte,
als es handelte, nämlich die an Öfterreich ge-
ketteten, angeheirateten Länder und Völker
beamtenmäßig, national geſchlechtslos und
widernational zu „regieren“. zum eigenen Un-
heil und zum Unheil aller „regierten“ Völker
am ſchickſalsreichen Nibelungenſtrom. Sie war
aber auch wiederum ftändig Zeuge der Wir-
kungen dieſes „Regierens“ auf die unterjochten
Völker. Sie konnte mit eigenen Augen wahr-
nehmen, wie die verfehlte habsburgiſche Poli-
tik trotz aller zentripetalen Abſichten ſchließlich
reichszertrümmernd wirken mußte. Als Nichte
des Feldzeugmeiſters Benedek erhielt fie Ein-
blick in die Geheimniſſe des Konflikts zwiſchen
Oſterreich und Preußen.
Ihr eignet ein ſcharfer Blick für das wejent-
lich Voͤlkiſche, aber auch für das Perſönliche,
Individuelle. Sie iſt in ſtändiger Fühlung mit
den großen, alten, geſchichtemachenden Fa-
milien der Metternich, Lobkowitz, Starhem-
berg, Khevenhüller, Martinitz, Slavata, Ko-
lowrat, Pronay, Weſſelényi, Szͤchenyi, Zichy,
Eſterhazy, Batthyanyi, Andraſſy, Karol pi,
Koſſuth und fo fort. Sie verkehrte am Kaifer-
hof und berichtet uns vieles, was uns feſſelt,
in großer Anſchaulichkeit und Farbenglut. Ihre
geſellſchaftliche Stellung bewirkte, daß inner-
halb der von ihr geſchilderten Salons jede
trennende Scheidewand zwiſchen ihr und den
Magnaten und ihren Frauen fiel, ſo daß wir
hineinſehen können in die von der Gräfin ge-
ſchilderten Seelenregungen und Kämpfe der
Raſſen, Völker und Einzelmenſchen.
Zu alledem kommt das Wichtigſte: echtes
Auf der Warte
Künſtlertum! Die Form, der innere Xhyth⸗
mus, als notwendiger Ausfluß gsttlicher
Schöpfungsgeſetze, wird von ihr inſtinktſicher
beherrſcht und der jeweiligen Frage und Lage
organiſch angepaßt. Die Dialekte und Mund-
arten der Volker, Stämme, SGeſellſchafts⸗
ſchichten handhabt ſie meiſterlich. Nirgends
erleben wir blutloſe Konſtruktion, ſondern
überall den Pulsſchlag des Lebens.
Man hat fie eine „politiſche“ Dichterin ge-
nannt. Verdient ſie dieſen Namen? Nein und
ja; je nachdem wir Politik als etwas Triviales
oder Schickſalsmäßiges betrachten. Tendenz
im kleinlichen Sinne eignet dieſen, politiſchen“
Romanen nichk. Aber gluͤhende, adlige Liebe
zum Vaterlande, zur vaterländiſchen, voͤlki⸗
ſchen Kultur, ſtaatsmänniſcher Sinn, klarer,
entſchloſſener Wille.
Unter den Werken dieſer beachtenswerten
Frau ragen am bedeutendſten hervor: „Böh⸗
miſche Herren“, „Hofadel in Ofter-
reich“, „Reaktion“ und „Revolution“
(„Hammerverlag“, Leipzig). Sie bilden ein
Ganzes, das ſich „Dynaſten und Stände“
nennt. In dieſen vier Romanen handelt es
ſich im weſentlichen um innere Kämpfe. Den
Zuſammenſtoß mit Preußen ſchildert der Ro-
man: „Wilhelm Friedhoff“. Unter dieſem
Namen verbirgt ſich der Seeheld Tegetthof,
der Sieger in der Seeſchlacht bei Liſſa gegen
Italien. Aber auch der hochſinnige Feldherr
Benedek, der für die Sünden der Wiener Hof-
kamarilla büßen muß, wird hier erſchũtternd
geſchildert. Wer nun etwa glauben ſollte, daß
die ſeltene Frau nur „Politik“, wenn auch
im hohen Sinne, in ihren Romanen ſchildert,
der wird ſofort eines Beſſeren belehrt, wenn
er ſich in den Roman: „Judas im Herrn“
vertieft. Er findet hier ein ergreifendes Seelen;
gemälde des völkiſchen Kampfes und Wider-
ſtreites zwiſchen deutſchböhmiſchen Chriſten
und ihrem zum Chriſtentum übergetretenen
Biſchof aus jüdiſchem Blute. Auch hier ſehen
wir, daß der tiefblickenden Dichterin das ganze
Volk über dem Einzelmenſchen ſteht. Mit feiner
Seelenanalytik wird hier der Unterſchied von
Religion und Raſſe in erſchůtternder Tragik ge-
zeigt. Einen ähnlichen Stoff, aus der Gegen-
wart, behandelt ihr neueſtes Buch, Hochfinanz“.
Auf der Warte
Überblidt man das Ganze dieſer Gefell-
ſchaftsromane, dann könnte man bei ober-
flächlicher Betrachtung zu duͤſterem Schluſſe
kommen und das Schickſal unſeres deutſchen
Volkes hoffnungslos anſehen. Aber, wer tiefer
ſchaut, der legt dieſe Bücher zwar erſchüttert,
aber doch hochgemut aus der Hand; denn eine
innere Reinigung hat ſich in ſeinem Geiſte
vollzogen, eine Läuterung in dem Chaos von
Anſichten, Lehrmeinungen und Gefühlen. Die
Erkenntnis nämlich, daß es ſich hier um eine
biologiſche Revolution handelt: Wir ſehen in
Flammenſchrift, daß wir verhaftet ſind auf
Gedeih und Verderb in das Schickſal der
Nationen; daß aber das Schickſal der Natio-
nen nur dann ſich harmoniſch und glüdhaft
geſtalten kann, wenn die Völker eine ihrer
Eigenart nach Form und Inhalt entſprechende
nationale Kultur austriftallifieren und feft-
halten in allen Stürmen der Zeit und des
Schickſals. Dr. A. S.
Briefe des Königs von Uganda
an Karl Peters mögen hier im Anſchluß an
Dr. Schorns Aufſatz über den deutſchen Ko-
lonialpionier mitgeteilt werden. Die Über-
ſetzung aus der Suaheliſprache verdanken wir
dem Miſſionar Paſtor Roehl, Muſau. Der In-
halt der Briefe wird durch die Ausführungen
Dr. Schorns verſtändlich.
1.
Mwanga, König von Buganda, entbietet
Dr. Karl Peters feinen Gruß und wünfcht ihm
mitzuteilen, daß er ſoeben einen Brief vom
7. Februar erhalten hat, worin erwähnt iſt,
daß ſich eine Expedition auf der Suche nach
Se. Exzellenz Emin Paſcha in unmittelbarer
Nähe befindet. Mwanga wünſcht ebenſo
Dr. Karl Peters zu benachrichtigen, daß
Dr. Emin von Mr. H. M. Stanley befreit
worden iſt und daß er und alle ſeine Offiziere
und Beamte ſich nach Sanſibar über Ufutuma
und Ugogo begeben haben. Wenn indeſſen
Dr. Peters hierher kommt, wird der König
von Buganda ihn willkommen heißen. Es gibt
hier ſechs europaiſche Miſſionare, zwei Eng-
länder und vier Franzoſen, von denen Dr. Pe-
549
ters weitere Nachrichten von der Küfte und
Europa erfahren könnte.
In Buganda hat es Krieg zwiſchen den von
Arabern geführten Mohammedanern und den
zum Chriſtentum Bekehrten gegeben, aber mit
Mr. Stokes Hilfe find die Chriſten ſiegreich ge-
weſen.
2:
An Dr. Karl Peters.
März 24. 1890
Ich begrüße Dich ſehr. Nach dem Gruße fage
ich Dir: Gehe jetzt nicht weg, warte hier ein
wenig! Kalema iſt jetzt nahe, vielleicht wird er
morgen eintreffen. Und wenn Du fort gehſt,
werden meine Leute von Furcht ergriffen
werden. Sie werden ſagen: Der Deutſche
ſieht Kalema kommen, um zu kämpfen, da
fürchtet er ſich und flieht. So bleibe nun hier
zuſammen mit mir, damit meine Soldaten
hingehen, um jetzt zu kämpfen.
Ich bin Dein Freund
König Mwanga.
Grundeigentum
igentum iſt ein Urgefühl, kein Begriff,
. . . Eigentum im eigentlichſten Sinne ift
immer Grundeigentum, und der Trieb, Er-
worbenes in Grund und Boden zu verwan-
deln, immer das Zeugnis für Menſchen von
gutem Schlage. Die Pflanze beſitzt den Boden,
in dem ſie wurzelt. Es iſt ihr Eigentum, das
fie mit Verzweiflung ihr ganzes Daſein hin-
durch verteidigt“ ... fagt Spengler. Das
platzt in unſere Zeit wie ein Quaderſtein zwi-
ſchen Mauerſteine. Der tiefe wurzelfeſte
Charakter des Grundeigentums iſt bei den
Menſchen der Ziviliſation aufgelöſt und in ſein
Gegenteil verkehrt. Denn Spekulation iſt
eigentlich das, was dem Grundeigentum
extrem entgegengeſetzt iſt. Das können die
Menſchen der Großſtadt nicht verſtehen. Sie,
die nicht mit der Scholle aufgewachſen ſind,
nehmen zum Grund und Boden eine ebenſo
verſtandesmäßig begriffliche Stellung ein wie
zu allen andern Dingen ihrer Umgebung.
Darum iſt es auch ein Irrtum, zu glauben,
dieſe Menſchen könnten glüdlich werden durch
neue Geſetzesparagraphen, wie Art. 155 un-
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Sehr zurückgehalten J. 66
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Mit Genehmigung des Derlaaes B. Schott's Söhne, Mainz
DEL Curie
März; 1926
Heft 6
Joſeph Haas
änke und Idyllen“ (Op. 55, 9)
(Ein Zyklus von Fantaſietten für Klavier)
XXVIII. Jahrg.
Aus: „Sch w
Ruhig und zart, ſehr ausdrucksvoll (2 76 « 80)
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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SGenebmiaunqa des Derlaars B. Schott Söhne. Main:
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